Performances zur Sprache bringen: Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst [1. Aufl.] 9783839428054

Performances create experiences of the intangible. Denis Leifeld provides an approach to articulating and analyzing thes

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Performances zur Sprache bringen: Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst [1. Aufl.]
 9783839428054

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Theorie
II. Methodik
III. Analyse von Performern
IV. Resümee
Danksagung
Literatur

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Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen

Theater | Band 67

2014-10-22 13-22-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380388384506|(S.

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4) TIT2805.p 380388384514

Denis Leifeld (Dr. phil.), Theaterwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg.

2014-10-22 13-22-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380388384506|(S.

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Denis Leifeld

Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst

2014-10-22 13-22-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380388384506|(S.

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Inaugural-Dissertation in der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg unter dem ursprünglichen Titel »Das Unbegreifbare beschreiben. Zur Analyse von Performern im Theater, in Kunst und Kultur« (2013) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ilse und Dr. Alexander MayerStiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: schiffner / photocase.de Lektorat & Satz: Denis Leifeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2805-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2805-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

V ORWORT | 9 E INLEITUNG | 11 Ein Beschreibungsversuch | 11 Das Unbegreifbare in Performances | 14 Das Unbegreifbare zur Sprache bringen | 22 Theorien zu ›Performance‹ und ›Performer‹ | 27 Struktur der Arbeit | 41 I. THEORIE | 43 1. Unbegreifbares als Gegenstand | 46 Temporales Überlappen von unbegreifbaren Momenten | 53 Das Nachwirken der Performance | 55 Grenzen des Schreibens | 60 2. Ansätze der Theaterwissenschaft | 61 Liminale Situationen | 62 Markante Momente | 67 Intensivierte Erfahrungen | 72 3. Unbegreifbares als Erhabenes | 77 Erhabenes als ›Zwischen‹ | 83 Gefühle der Attraktion und Repulsion | 84 Plötzliche Augenblicke der Intensität | 87 Facetten des Ereignishaften | 90 Sprachohnmacht | 97 4. Ästhetik des Unbegreifbaren | 99 Unbegreifbares als Ästhetisches | 101 Ästhetik gesteigerter Ereignishaftigkeit | 108 Forderung einer anderen Sprache | 115 Das Unbegreifbare berühren | 118

II. METHODIK | 121 1. Cosplay-Performer in Japan und methodische Fragen | 123 Ein Beschreibungsversuch | 123 Nach dem Schreiben | 130 Eine Fülle methodischer Fragen an die Aufführungsanalyse | 134 2. Aufführungen schreiben | 138 Aufführungsbeschreibungen als Defizit | 138 Ekphrasis und Praxis des Beschreibens | 144 Nahes Beschreiben als Re-Inszenieren | 150 Assoziative Textfragmente | 156 Analytisches Schreiben in Distanz | 158 Relationen von Beschreibung und Analyse | 162 Nachschreiben erinnerter Spuren | 163 3. Unbegreifbares schreiben | 172 Paradox des Versprachlichens von Unbegreifbarem | 172 Performancebeschreibung | 174 Besondere Notwendigkeit des Re-Inszenierens | 175 Stockendes Schreiben in Bewegung | 178 Suchende Schreibweise | 184 Schwebende Schreibweise | 186 Unbegreifbares rückwärts schreiben | 188 Unbegreifbares analysieren | 192 4. Schreiben als Bewegung und Performative Writing | 195 III. ANALYSE VON PERFORMERN | 203 1. Vor dem Schreiben | 203 Schauspieler schreiben | 206 Schwierigkeiten des Schreibens über Schauspieler | 212 Performer schreiben als Probe | 218 2. Silvia Costa performt in ›H EY GIRL!‹ (Regie: Romeo Castellucci) | 219 3. Zwischen dem Schreiben | 239 Bewegungen des Wahrnehmens, Erinnerns und Schreibens | 239 Performer gleichschwebend schreiben | 245 Performer und Schauspieltheorie | 248

4. Der Performancekünstler Steven Cohen in ›T HE CRADLE OF H UMANKIND ‹ | 253 5. Nach dem Schreiben | 267 Schreiben zwischen Moment und Spur | 271 Andersdenken schauspieltheoretischer Begriffe | 277 Schreibend in Lücken stürzen | 279 Nach dem Ende: ein produktiver Widerstand | 282

IV. RESÜMEE | 283 Das Nachwirkende als neue Perspektive | 283 Die sich abhebende Intensität als Herausforderung | 285 Neuperspektivierung des erinnernden Beschreibens | 287 Das nahe Beschreiben als neue Schreibweise | 289 Das gleichschwebende Schreiben als neue Schreibweise | 291 Nachwirkungen | 293 DANKSAGUNG | 295 LITERATUR | 297

Vorwort

Der Begriff des Performers begleitet mich in Forschung und Lehre schon seit mehreren Jahren. Er ist mehr als nur eine neue sprachliche Wendung für ›Akteur‹, ›Schauspieler‹ oder ›Darsteller‹. Vielmehr zeigt er sich als ein schillernder Begriff, an dem sich zahlreiche Probleme und Fragen der Theaterwissenschaft kristallisieren. Zunächst sieht man sich durch seine Nähe zum Performancebegriff mit einem weiten Terrain konfrontiert, dem auch das breite Untersuchungsfeld dieser Arbeit geschuldet ist: Es geht um die Beschreibung und Analyse von Performern im Theater, in Kunst und Kultur. Mit dieser scheinbar unüberschaubaren Öffnung des Anwendungsbereichs korrespondiert jedoch auch eine Einengung: Nicht selten werden Performer in Diskursen der Theaterwissenschaft und Performance Studies mit Abweichendem, Subversivem, Irritierendem und Verstörendem in Verbindung gebracht. Sie werden mit Begegnungen assoziiert, die erwartbare Erfahrens- und Verstehensmuster überschreiten: Performer überwältigen, faszinieren und machen sprachlos. Hierfür wählt die vorliegende Arbeit den Begriff des Unbegreifbaren. Sie wendet sich demnach einer in Performativitätsdebatten bzw. performancetheoretischen Diskursen häufig auftauchenden Idee zu – der Idee des Unbegreifbaren, die mit Praktiken und Erfahrungen verknüpft wird, in denen Irritation und begriffloses Staunen, Faszination und Verunsicherung zusammenkommen. Somit geht es hier um diejenigen Performer, die sich als unbegreifbar zeigen – um unbegreifbare Performer. Gerade die Frage nach der Reflexion von Erfahrungen und Praktiken, die im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos machen, entpuppt sich als eine der problematischsten, aber zugleich fruchtbarsten der Untersuchung. Sie stellt geradezu eine Herausforderung für die Aufführungsanalyse dar. Wie

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können Praktiken, die sprachlos machen, zur Sprache gebracht werden? Wie lassen sich unbegreifbare Performer beschreiben und analysieren? Rückt man diese Fragen ins Zentrum theaterwissenschaftlichen Arbeitens, wird deutlich, inwiefern die hier im Mittelpunkt stehenden Performer allgemeine Probleme der Aufführungsanalyse und generelle Schwierigkeiten des Analysierens von Schauspielern auf die Spitze treiben. Insofern versteht sich die Untersuchung auch als ein kritisches Befragen und Weiterdenken aufführungsanalytischen Arbeitens. Wird das Phänomen des Unbegreifbaren in Performances thematisiert, müssen phänomenologische Analysen, die sich zumeist ausschließlich auf das Momentane beziehen, um die Perspektive des Danachs, des Nachwirkens bzw. des erinnernden Neu- und Anderserlebens erweitert werden. Denn Unbegreifbares hinterlässt rätselhafte Spuren, denen man durch nachträgliches, imaginatives Hineinversetzen erinnernd, beschreibend und analysierend nachgeht. Hierbei wird es geradezu nötig, der für die Aufführungsanalyse so zentralen Frage der Beschreibbarkeit eine besondere Gewichtung zu verleihen. Denn nur durch ein nachträgliches Versprachlichen, so die These, lassen sich unbegreifbare Performer überhaupt erst annähernd berühren und analysieren. Erinnerndes Beschreiben wird als ein zentrales Verfahren vorgeschlagen, das nicht im Verborgenen des Erinnerungsprotokolls zurückbleibt, sondern in den Kern aufführungsanalytischen und auch theaterwissenschaftlichen Arbeitens trifft. Hierfür wird der Begriff ›Aufführungsbeschreibung‹ bzw. ›Performancebeschreibung‹ vorgeschlagen, um das neue und andere Verhältnis von Beschreibung und Analyse sichtbar zu machen. Im Fall des Unbegreifbaren zeigt sich Beschreiben als eine Herausforderung, zugleich jedoch auch als eine Aufforderung, sich dem problematischen Prozess des Versprachlichens zu stellen. Um die Erfahrungen des Unbegreifbaren in der Schreibweise aufscheinen zu lassen, so die These, müssen Strategien des Versprachlichens gefunden werden, die etablierte Normen überschreiten. Hierfür entwickelt die vorliegende Arbeit Schreibweisen, die als ›nahes Beschreiben‹ bzw. ›Performative Describing‹ bezeichnet werden; sie stellen Möglichkeiten des Zur-Sprache-Bringens von Unbegreifbarem dar. Diese Arbeit wendet die Praxis des nahen Beschreibens auf unbegreifbare Performer an; sie wird jedoch übergreifend als eine zentrale Schreibweise für Aufführungsanalysen entwickelt, die eine Alternative zu bisherigen Formen des Beschreibens bietet.

Einleitung

Ein Beschreibungsversuch Seltsam – es beginnt seltsam. Nichts geschieht. Gestalten sitzen in einem weißen Kleinwagen auf der Bühne. Schräge Gestalten im weißen Citroën. Licht im Inneren des Autos. Darin Männer mit langen, braunen Haaren – jeder hat diese Frisur, ungepflegt herunterhängende, lange Haare – und ärmellose Jeansjacken, Lederhosen, Lederjacken. Aber die Haare wie Rockerhaare. Jeder in Rockerfrisur. AC/DC-Musik im Hintergrund. Immer noch nichts. Sie sitzen nur herum, essen Chips, trinken Bier aus Dosen, blättern in Zeitschriften, drehen am Autoradio. Wechselnde Musiktitel füllen das Schauspielhaus – AC/DC, Queen, sanfte Gitarrenzupfmusik, Filmmusik und Klassisches. Nichts weiter. Nur das. Das soll es sein? Die Bühne voller Kunstschnee, im Hintergrund Gebüsch, ebenfalls weiß überzogen, Scheinwerfer wie Straßenlaternen von der Seite, als wäre es Nacht. Der Kleinwagen mitten auf der Bühne mit einem weißen Anhänger, zimmerhoch, quadratisch. Seltsam – aber auch irgendwie lustig – vielleicht. Eine Autotür geht auf. Langsam geht einer der Gestalten zum Kofferraum, lässig, Schultern locker runter, Kopf runter, seine Jacke wirft er sich um – alles in diesem Tempo, unerträglich langsamen, nicht gespielt langsamen, nur einfach lässig langsamen Tempo. Das kann doch nicht – passiert da noch etwas? Jetzt vielleicht. Aus dem Kofferraum holt er etwas heraus, langsam, behäbig, überruhig, viel zu bedächtig. Es ist ein rotes Stoffetwas. Zurück im Auto zeigt er es kurz herum. Ist es – ja – es ist ein Drachenstofftier in Rot. Und was ist jetzt damit? Wo ist es jetzt? Wahrscheinlich hat er es weggelegt. Einfach wieder weg und nichts. Einfach

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überhaupt nichts sonst. Ein neues Lied. Queen. Ein großer schwarzer Hund sitzt ebenfalls im Auto – kein Stofftier, echt. Und jetzt – nein – jetzt schlafen sie auch noch, Köpfe im Nacken und zur Seite geneigt schlafen sie im Auto. Wie lange denn noch – und überhaupt immer noch unerträglich – nichts, nur getragene Queenmusik. Ich knicke an meiner Eintrittskarte. LA MÉLANCOLIE DES DRAGONS von Philippe Quesne/Vivarium Studio (Paris), Uraufführung, Wiener Festwochen, 20:00 Uhr, 02.06.2008. Gestrandete Rocker – müde im Schnee? Was ist in dem Anhänger? Jetzt muss doch mal etwas passieren muss etwas unbedingt. Endlich kommt jemand auf die Bühne, von links stakst gemütlich eine Frau in blauer, offener Winterjacke in Richtung Auto, klopft an die Windschutzscheibe und wieder – genauso wie vorhin – in einer ewig lahmen Bewegung steigen die Gestalten aus – endlich alle hinaus, in einer quälend behäbig, lockeren Art langsam, lässig, antimäßig hinaus. Unerträglich ist das. Das kann doch nicht – kann das sein? Irgendwie seltsam, aber auch lustig streichen sie sich die langen Haare aus dem Gesicht, in einer fast weiblich, weichen Bewegung. Jeder begrüßt die Frau, Küsschen auf die Wange, und dann stehen sie herum, verschränkte Arme, und haben wieder nichts zu tun, Hände in den Hosentaschen, überhaupt nichts Interessantes zu tun, außer Dosenbier trinken, Chips essen, Haare aus dem Gesicht streichen. Weibliches Haarestreichen der langen Rockerhaare. Ein paar haben braune Vollbärte. Ermattet beschnuppert der Hund den Kunstschnee. Sonst nichts, überhaupt nichts passiert jetzt. Doch – beim Anhänger – da – das gibt es nicht – noch mehr von denen. Noch drei oder vier steigen aus dem Anhänger – irgendwie lustig, absurd, seltsam das alles – die gleichen langen braunen Rockerhaare, Jeans, Lederjacken, auch in dieser lockerlahmen Antihaltung. Einfach cool, übercool, regelrecht ausgekühlt. Rocker im Schnee. Weiblich wirkende Männerlanghaarrocker behäbig im Schnee. Irgendwie so. Lustig, absurd, grotesk, komisch vielleicht. Das Tempo, die Haltung – hat etwas, irgendwie hat es was, das ist – ja – Chips und Bier auf der Bühne haben etwas irgendwie. Neugierig blickt die Frau auf den Anhänger. C’est quoi, ca? Und ein Rocker als wäre es normal so C’est la premiere attraction du parc d’attraction. Ein anderer Il y a beaucoup de material de dans. Und wieder ein anderer nach einem Schluck Bier wie selbstverständlich C’est une installation. Sie will es – endlich – sie will es sehen. Viel-

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leicht jetzt – ganz bestimmt passiert jetzt etwas. Die Männer machen die weiße Vorderfront des Anhängers ab und – das gibt es nicht – da hängen sechs oder sieben Langhaarperücken darin. Ah oui. Die Frau erstaunt, irritiert, fasziniert. Braune Haare hinter einer Glasfront im Inneren. Et alors, fragt sie. Es wirkt wie eine Kunstinstallation, wie ein Galerieschaufenster, aber mitten im Wald im Schnee. Ah oui. Sie will hinein, geht hinein, neugierig, will es genauer sehen. Die Gestalten hinterher. Sie erklären durcheinander irgendetwas – so etwas wie On peut faire rouge on peut faire blanche. Und tatsächlich: am Boden des Anhängers im Inneren ist ein Scheinwerfer, mal rot, dann bläulich weiß. Das Innere wechselt die Farben. C’est geniale. C’est incroyable. Zusätzlich auch noch ein Ventilator von der Seite – c’est une attraction – die Perrückenhaare wehen im Wind. Noch mehr, auch noch eine Nebelmaschine von unten, sie bläst das Innere zu. C’est une cabine que pour ca? fragt sie neugierig und fasziniert und aber auch irgendwie in einem nüchtern faszinierten Ton. Und die Gestalten wieder locker lässig am Durcheinander-Plappern Non, non, non, c’est aussi la bibliotheque, la bar. Und immer weiter durcheinander. Installation, Bibliothek, Bar und noch mehr. Weiß nicht mehr was mehr. C’est magnifique. Und jetzt? Was machen sie jetzt schon wieder? Zwei Gestalten fummeln behäbig an einem Ventilator herum und – da liegt doch etwas – da liegt eine riesige, weiße Plastikplane auf dem Kunstschnee, sicher zweimal so groß wie das Auto. Sie rufen die Frau zu sich. Bestimmt wollen sie – ja – sie wollen ihr zeigen, was man mit diesem Objekt alles machen kann. Die Frau steht und blickt, betrachtet die gigantische Plane. Der Ventilator pustet Luft hinein. Das Plastikobjekt wächst und wächst wie ein riesiges Falten schlagendes Luftkissen vielleicht. Klaviermusik im Hintergrund. Jetzt wird die Frau erhöht auf ein Reifenschutzblech des Anhängers gestellt, damit sie – natürlich – damit die Attraktion besser auf sie wirkt. Bewundernd blickt sie auf das Gebilde. C’est étrange. Und wie ein Museumsgast oder eine Kunstliebhaberin assoziiert sie, vergleicht das Luftkissen mit einem Tier. Ja, es atmet, versichert ihr einer der Gestalten in einem ruhigen, aber ernsten Ton. Mystérieux. Das ist total – ich weiß auch nicht – was ist da los? Dann heben sie dieses riesige Luftkissengebilde hoch. Über ihren Köpfen mit ausgestreckten Armen wollen sie ihr – absurd – une petite choréographie zeigen. Und was machen sie? Das gibt es nicht. Doch sie tragen das Ding einfach nur einmal im Kreis herum, über ihren Köpfen einmal im Kreis, rhythmisch gehend zu der langsamen Klaviermusik. Une petite at-

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traction. Die Frau kommt dazu, schreitet ebenfalls über die Bühne, das Objekt über den Köpfen zu nun dynamischer Trommelmusik. Nebelmaschine dazu. Ein Mann im Auto hupt rhythmisch. Absurd – das ist irgendwie seltsam und lustig und anders. Jetzt stellen sie in aller Ruhe das riesige weiße Luftkissen hochkant auf den Boden. Musik aus. Aber man kann – sagen sie, erklären sie – natürlich noch mehr damit machen. Eine Gestalt schaltet einen Projektor an und projiziert ein Bild mit Strand und Palme auf das Kissen. Ah, oui. Und darauf die Aufschrift: Ici prochainement Parc D’Attractions. Jetzt legen sie das Riesenkissen auf das Auto. Oui, c’est magnifique. Die Frau macht eine Fotografie. Geniale. C’est incroyable. Das Unbegreifbare in Performances Von den Beobachtungen der staunenden und erstaunten Frau nimmt meine Arbeit ihren Ausgang. Sie bewegt sich in die ebengleiche Position wie die faszinierte, befremdete, überraschte und neugierige Frau in LA MÉLANCOLIE DES DRAGONS des französischen Regisseurs Philippe Quesne. Die Akteurin wird von einer ›Attraktion‹ zur nächsten geführt. Neugierig fragt sie nach, was diese seltsamen Handlungen und Aktionen bedeuten sollen, ohne jedoch eine eindeutige Antwort zu bekommen. Die Praktiken der Gestalten bleiben für sie undurchdringbar, was jedoch ihren Drang des Nachfragens und Nachdenkens nicht stillstellt, sondern ganz im Gegenteil geradezu steigert. In dieser Situation kommen Neugierde und Faszination, Befremden und Überraschung, Sprachlosigkeit und Nachfragen zusammen. Nicht selten sind Ausrufe wie ›c’est incroyable‹, ›ah, regarde‹ oder ›c’est magnifique‹ zu vernehmen. Sie verbalisieren die Situation, in der sich wohl auch viele Zuschauer der Performance befinden. Immer wieder finden sich Kommentare und Reaktionen der Akteurin auf der Bühne, die stellvertretend für die Erfahrungswelt der Zuschauer stehen können. Denn nicht nur die Akteurin, sondern auch die Zuschauer sehen sich mit einer Folge rätselhafter ›Attraktionen‹ konfrontiert, die sie nicht verstehen. Durch die zahlreichen vorsprachlichen Laute der Frau – ›ah‹, ›oh‹, ›ui‹ – wird einerseits die Sprachlosigkeit, andererseits auch die Überwältigung und Faszination deutlich. Es sind Reaktionen, die leicht abgewandelt in der Stille des Zuschauerraums auch den Zuschauern widerfahren. Als Zuschauer der Performance werde ich aufgefordert, den Performern in der Erinnerung nachzugehen, sie begreifen zu wollen. Ähnlich wie es die Akteurin laut aus-

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spricht, versuche ich den seltsam anmutenden Performern durch erinnerndes Versprachlichen und analytisches Nachdenken auf die Schliche zu kommen, wobei es nicht gelingt, sie in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Lediglich ein Annähern, ein nur ansatzweises Berühren, ist möglich. Vielleicht müde Rocker oder eher intellektuell reflektierende Künstler? Zauberer oder doch Projektplaner eines Freizeitparkes? Choreografen, Veranstaltungstechniker oder sogar verspielte und naive Kinder? Oder vielleicht Performancekünstler, die sich gegen die Erwartungshaltung auflehnen, Aktionen in einer gesteigerten Bühnenpräsenz zu zeigen, und deshalb eher in einer behäbigen Antipräsenz performen? Gerade die Formulierung ›Ici prochainement Parc D’Attractions‹, die mehrmals in leichten Variationen von den Performern auf der Bühne formuliert und auch am Ende der Performance projiziert wurde, lässt die Vermutung aufkommen, dass die Performance eben die im Begriff der Attraktion verborgene Bewegung zwischen Faszination und Irritation bewusst thematisiert. Orientiert man sich an der phänomenologischen Philosophie, in der der Begriff der Attraktion zumeist in einem Atemzug mit dem der Repulsion auftaucht, wird die Bewegung der Erfahrung zwischen Faszination (frz. attraction) und Irritation (frz. répulsion) deutlich. Nach Bernhard Waldenfels unterliege die Erfahrung einer Spannung von »Attraktion und Repulsion«, die eine »Bewegung der Zuwendung oder Abwendung [Herv. i.O.]«1 hervorrufe. In eben jenes ›Zwischen‹ von Faszination und Irritation begibt man sich als Zuschauer der Performance. Das Markante dieser Performance ist, dass die Erfahrung der Zuschauer durch die staunende und erstaunte Akteurin auf der Bühne aufgegriffen wird. So bleibt man als Zuschauer mit ihr am Ende ratlos zurück. Die vorliegende Untersuchung geht von der Beobachtung aus, dass Zuschauer in der gegenwärtigen Theater- und Kunstpraxis nicht selten mit Situationen konfrontiert sind, die derjenigen der Frau in Philippe Quesnes Performance täuschend ähneln. Sie begegnen Handlungen und Körperlichkeiten, Atmosphären und Räumen, Präsenzen und Materialitäten, die sie in eine zutiefst unsichere Situation stürzen können: Sie sind fasziniert, erstaunt, irritiert, ratlos, sprachlos und überrascht. Für diese vielgestaltigen Praktiken und Erfahrungen schlägt die vorliegende Arbeit den Begriff des

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Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 244.

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Unbegreifbaren vor – ein Unbegreifbares als ein zugleich Faszinierendes und Irritierendes, das mit dem Moment der Sprachlosigkeit verbunden ist und im Nachhinein ein Nachfragen, ein Nachdenken auslöst. Auch wenn die Erfahrung zu begrifflosem Staunen führt, ist es geradezu notwendig, ihr im Nachhinein fragend, beschreibend und analysierend nachzugehen. Dabei stellt sich die Frage: Was ist dieses Unbegreifbare in Performances? Isa Wortelkamp spricht explizit vom »Un(be)greifbare[n]«2 im zeitgenössischen Theater- und Tanzgeschehen. Sie geht sogar von einer Potenzierung des Unbegreifbaren in der gegenwärtigen Aufführungspraxis aus, das sie auch als eine Intensivierung des Transitorischen umschreibt.3 Nicht selten komme es zu ästhetischen Erfahrungen, die »laut oder stumm, manchmal wort- und sprachlos«4 machten. Gerade »greifbare[...] Sinnzuweisungen und buchstäbliche Festschreibungen«5 würden indes unmöglich. Bezug nehmend auf Hans-Thies Lehmanns Begriff des Postdramatischen geht sie von Wahrnehmungen der Störung und von »Differenz-Erfahrung[en]«6 aus, die die gegenwärtige Theaterpraxis prägten. Lehmann verknüpft das postdramatische Theater mit dem Rätselhaften und spricht vom »unbestimmten Möglichen« und der »Ungewissheit«7, die das ästhetische Erleben prägten. Erika Fischer-Lichte geht in ihren Untersuchungen davon aus, dass durch die Dominantenverschiebung in den Künsten der 1960er Jahre – dem performative turn – andere und »neue Bedingungen für das Zuschauen«8 geschaffen worden seien. Sie spricht mitunter von liminalen Situationen, in die sich Zuschauer begeben würden. Sie seien in einen Zustand der Desta-

2

Wortelkamp, Isa: Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg i.Br./Berlin: Rombach 2006, S. 39.

3

Vgl. dazu ebd., S. 167.

4

Ebd.

5

Ebd., S. 14.

6

Ebd., S. 175.

7

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 1999, S. 446 und 442.

8

Fischer-Lichte, Erika: »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur«, in: Dies./Friedemann Kreuder/Isabel Pflug (Hg.), Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde, Tübingen/Basel: A. Francke 1998, S. 4.

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bilität versetzt, in dem »völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen«9 gemacht würden. Jens Roselt hebt gleichfalls den Moment der Verstörung in der gegenwärtigen Theater- und Kunstpraxis hervor, indem er von markanten Momenten spricht, in denen vertraute Rezeptionsstrategien fraglich würden und »das sinnhafte Verstehen ins Stocken«10 gerate. Auch Dieter Mersch reklamiert für die gegenwärtige Kunstpraxis eine »alternative Ästhetik«, die mit Erfahrensdimensionen des »Unverständlichen« und »Ungreifbare[n]«11 arbeite. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Erfahrungen der Faszination und Irritation, Verstörung und Sprachlosigkeit, des Nichtverstehens und Rätselhaften. Sie erschließt insofern eine der intensivsten Wirkungen im zeitgenössischen Theater und der Gegenwartskunst. Der Begriff des Unbegreifbaren sei hierbei nicht als ein Begriff zu verstehen, der bestehende Konzepte von Fischer-Lichte, Lehmann oder Roselt in Frage zu stellen sucht. Vielmehr wird sich zeigen, dass die Idee des Unbegreifbaren schon in diesen Theorien angelegt ist. Mit dieser Arbeit wird sie ins Zentrum theaterwissenschaftlichen Interesses gerückt, als Analysegegenstand entwickelt und methodisch erörtert. Jedoch wird nicht nur nach dem Unbegreifbaren im Kontext von Theater- und Performancekunst gefragt, sondern auch der Bereich der Lebenswelt Berücksichtigung finden, in der – so wird behauptet – ebenfalls verstörende Begegnungen auftreten können. In den Blick rücken insofern Performances im Theater, in Kunst und Kultur. Die hier vorliegende Untersuchung orientiert sich an weit gefassten Performancebegriffen, die gleichfalls Künstlerisches wie Kulturelles thematisieren. Mit Erika FischerLichte, Marvin Carlson und Peggy Phelan entwickelt die vorliegende Arbeit einen Performancebegriff, der sich auf eine ko-präsente Begegnung mit Performern bezieht und das Abweichende, Irritierende und Subversive in den Vordergrund rückt. Zusätzlich wird diese Untersuchung den Performancebegriff mit dem Nachwirkenden und Weiterwirkenden verbinden. Denn das Unbegreifbare zeigt sich nicht nur als eine intensive Erfahrung

9

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 305.

10 Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters, München: Wilhelm Fink 2009, S. 16. 11 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 19 und 181.

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im ko-präsenten Vollzug der Performance, sondern auch als eine intensive Erinnerung nach der Performance. Mit Rebecca Schneider und HansFriedrich Bormann wird diese erweiterte Perspektive entwickelt, die Performances nicht vom Verlust her denkt, sondern ganz im Gegenteil vom Bleibenden – vom In-Erinnerung-Bleibenden. Performances, die die Zuschauer mit Unbegreifbarem konfrontieren, so die Annahme, müssen in einer doppelten temporalen Struktur betrachtet werden, die den Moment des Erfahrens und das Nach- und Weiterwirken der Performance aufgreift. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den in diesen abweichenden Performances hervortretenden Akteuren, die nicht selten als ›Performer‹ bezeichnet werden. Es wird sich zeigen, dass gerade der Begriff des Performers mit dem Abweichenden verbunden ist und sich anbietet, die unbegreifbar erscheinenden Gestalten – wie diejenigen in Philippe Quesnes Performance – analytisch zu betrachten. Bevorzugter Gegenstand der Analyse sind Praktiken von Performern im Theater, in Kunst und Kultur, die in der Begegnung und durch die Begegnung Erfahrungen des Unbegreifbaren zeitigen, schon durch ihr Erscheinen oder ihre fremdartigen Aktionen zu irritieren in der Lage sind, zu nicht zu entziffernden Rätseln werden, die vom Verstehen und Begreifen uneinholbar sind. Es wird somit nicht ganz allgemein um Performer gehen, sondern um diejenigen Performer, die sich als unbegreifbar zeigen. Hierfür wird die Bezeichnung ›unbegreifbare Performer‹ gewählt, um den Analysegegenstand anzudeuten. Die vorliegende Arbeit verortet das Phänomen des Unbegreifbaren in ein ›Zwischen‹ von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem. Gleichfalls fragt sie nach dem Subjekt-Pol und dem Objekt-Pol, die gemäß der phänomenologischen Annahme der Bedingtheit von Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt immer gemeinsam betrachtet werden müssen. Im Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses steht insofern eine Beziehung. Das Unbegreifbare zeigt sich als ein Zwischenphänomen, das gleichfalls durch performative Praktiken und die Erfahrungen derselben zu bestimmen ist. Es wird in einer und durch eine Begegnung überhaupt erst erzeugt. Die Verortung des Unbegreifbaren in ein ›Zwischen‹ von inszenatorischer Setzung und Erfahrung orientiert sich an theaterwissenschaftlichen Untersuchungen phänomenologischer Prägung. Jens Roselt geht in seiner Phänomenologie des Theaters von Aufführungen als »Zwischengesche-

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hen«12 aus, die Akteure und Zuschauer in Beziehung setzen. Aufführungen phänomenologisch zu betrachten, hieße, das Motiv der Tatsächlichkeit einerseits und das Motiv des Erlebens andererseits »tatsächlich von ihrer Verbindung her zu verstehen und zu beschreiben, d.h. als Verflechtung oder Verschränkung, als Zwischengeschehen oder Ereignis und eben nicht als Gegenüberstellung oder Konfrontation vorgegebener Instanzen«13. Die Verbindung von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem versteht Roselt ausdrücklich nicht als ein unproblematisches Verhältnis, wie es der von Erika Fischer-Lichte geprägte Begriff der Feedback-Schleife suggeriere, der nach einer kontinuierlichen, geregelten und harmonischen Wechselbeziehung von Akteuren und Zuschauern klinge. Vielmehr hebt Roselt mit dem Begriff des Zwischengeschehens den »Riss oder Spalt«14 hervor. Gerade die Möglichkeit des Problematischwerdens der wechselseitigen Beziehung ist für das hier zu untersuchende Phänomen von besonderer Relevanz. Denn die vorliegende Arbeit setzt bei Performances an, die mit dem Unbegreifbaren arbeiten und Wahrnehmende in eine unsichere Situation versetzen, sie regelrecht mit Momenten der Irritation, Überforderung, Faszination und des Erstaunens konfrontieren. Ein Problematischwerden der Beziehung ist grundlegender Ausgangspunkt der Arbeit. Das Unbegreifbare wird in dieser Untersuchung mit Momenten der Sprachlosigkeit verbunden, mit Erfahrungen der Sprachohnmacht, der Störung und Beunruhigung. Insofern rückt es in die Nähe eines in der Kunstwissenschaft zentralen Topos – dem des Erhabenen, den Lehmann als analytisch und theoretisch grundlegende Begrifflichkeit für die »erlebbare Erfahrungswirklichkeit«15 des postdramatischen Theaters versteht. Der Begriff des Erhabenen bietet sich an, um das Unbegreifbare als Analysegegenstand zu präzisieren. Es wird sich herausstellen, dass das Erhabene eine wesentliche theoretische Wurzel darstellt, auf der zahlreiche theaterwissenschaftliche Diskurse um Begriffe wie ›Liminalität‹ (Fischer-Lichte), ›mar-

12 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 195. 13 Ebd., S. 148. 14 Ebd., S. 195. 15 Lehmann, Hans-Thies: »Die Gegenwart des Theaters«, in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 14.

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kanter Moment‹ (Roselt) oder ›intensivierte Erfahrung bzw. Präsenz‹ (Lehmann) mehr oder weniger explizit aufbauen. Das Phänomen des Unbegreifbaren wird im Rahmen der Arbeit aus einer neuen Perspektive betrachtet. Es wird nicht nur in der temporalen Perspektive des Moments verortet, nicht nur als ein momenthaftes ›Zwischen‹ von inszenatorischer Setzung und Erfahrung verstanden, wie es die Orientierung an phänomenologischen Annahmen suggeriert. Gerade das Unbegreifbare wirft einen Augenmerk auf eine in theaterwissenschaftlichen Diskursen zumeist vernachlässigte Perspektive: die des Danachs, des Nachund Weiterwirkens, des Wiederauftauchens im Modus des erinnernden Versprachlichens. Anhand von theaterwissenschaftlichen und auch philosophischen Positionen wird das Unbegreifbare als ein Phänomen entwickelt, das auch und gerade als Nachwirkung statthat, dessen Erfahrungshorizont sich nicht nur auf den Moment der Begegnung bezieht, sondern gerade auch im Nachhinein Wirkungen entfaltet. Weil es sich im Moment als derart unbegreifbar zeigt, regt es ein nachträgliches Nachdenken geradezu an. Mersch spricht davon, dass es im Moment nicht reflexiv zum Vorschein komme, aber nachträglich geradezu »zu denken«16 gebe. Das Unbegreifbare wird als ein Phänomen entwickelt, das ein nachträgliches Beschäftigenmüssen herausfordert, ein Nachdenken ankurbelt, ein wieder und wieder stattfindendes imaginatives Hineinversetzen in den vergangenen Moment auslöst, durch das es überhaupt erst möglich ist, es zumindest annähernd berühren zu können. Weil es sich im Moment als unsagbar zeigt, fordert es dazu auf, sich erneut erinnernd, beschreibend und analysierend in den Moment zu begeben. Das Unbegreifbare zeigt sich demnach als ein Moment, der einem ›Zwischen‹ von inszenatorischer Setzung und Erfahrung entspringt, jedoch aber erst im Nachhinein im Modus des Erinnerns realisierend erfahren wird. Mit dieser Annahme geht jedoch nicht einher, das Unbegreifbare könne nachträglich in ein Begreifbares umgewandelt werden. Vielmehr ist dasjenige Unbegreifbare Gegenstand wissenschaftlichen Interesses, das auch durch nachträgliche Anstrengungen der Erinnerung, Versprachlichung und Analyse nicht vom Verstehen eingeholt werden kann. Immer bleibt ein Rätselhaftes, das jedoch zumindest ansatzweise zu berühren ist.

16 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 13.

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Die momentorientierte Perspektive wird folglich um die des Nach- und Weiterwirkens erweitert. Performances werden somit hier nicht vom Verlust her gedacht, wie es beispielsweise bei Peggy Phelan der Fall ist, sondern das Bleibende, das Wiederkehrende wird akzentuiert. Diese Perspektive wird anhand von performancetheoretischen Überlegungen Rebecca Schneiders und aufführungsanalytischen Überlegungen Hans-Friedrich Bormanns entwickelt.17 Die These, durch die Bewegung der Erinnerung könnten Aufführungen immer wieder zu neuer und anderer Gegenwart kommen, ist im Kontext der hier vorliegenden Untersuchung von zentraler Bedeutung. Denn gerade das Unbegreifbare hinterlässt einen bleibenden Eindruck, der durch den Akt des Erinnerns immer wieder wachgerufen wird, weiterwirkt, durch Versuche des erinnernden Versprachlichens immer neu und anders erscheint. Der Begriff des Unbegreifbaren, so wird sich zeigen, bietet sich an, um die Erfahrungen und Praktiken zu umschreiben, um die es in der vorliegenden Arbeit geht. Er ermöglicht es, lebensweltliche und künstlerische Erscheinungen gemeinsam in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig schwingt in ihm die besondere, sich abhebende Intensität mit. Er bezieht sich auf Erfahrungen und Erinnerungen im Theater, in der Kunst und Kultur, die eher selten sind. Mit Martin Seel werden sie als ästhetische Erfahrungen entwickelt, die eine sich von üblichen ästhetischen Wahrnehmungsformen abheben – also eine besondere Radikalität besitzen. Das Unbegreifbare kann zwar überall und jederzeit erscheinen wie beispielsweise im Theater, im Museum, im Park oder beim Schlendern durch eine Fußgängerzone. Jedoch hebt es sich von alltäglichen und auch herkömmlichen Formen ästhetischen Wahrnehmens deutlich ab. Es wird als eine »umstürzende Veränderung[...]«18 im Erfahren und Erinnern entwickelt, als ein unübliches und eher seltenes Phänomen.

17 Vgl. dazu Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and war in times of theatrical reenactment, New York/London: Routledge 2011; Bormann, HansFriedrich: »Bewegung der Aufzeichnung. Über Aufführungs-Analyse«, in: Isa Wortelkamp (Hg.), Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, Berlin: Revolver 2012. 18 Seel, Martin: Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2006, S. 15.

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Die Behandlung des Unbegreifbaren im Theater, in der Kunst und Kultur wirft natürlich die Frage auf, inwiefern sich die Begegnung mit dem Unbegreifbaren in den jeweiligen Kontexten unterscheidet. Die vorliegende Arbeit schlägt jedoch nicht den Weg ein, Differenzkriterien zu erarbeiten, um die jeweiligen Kontexte voneinander zu unterscheiden – Kriterien, die ohnehin problematisch wären. Vielmehr wird die These vertreten, dass eine Beschreibung und Analyse immer vom jeweiligen Moment der Begegnung ausgehen muss; das je Eigene der Begegnung muss als Ausgangspunkt dienen. Diese Forderung berücksichtigt auch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Kontexte der Begegnung. Denn wenn vom je spezifischen Gegenstand ausgegangen wird, schwingt auch der je spezifische Kontext mit, was wiederum je spezifische Folgen für die Beschreibung und Analyse mit sich bringt. Das Unbegreifbare, so sei hier betont, stellt nicht einen Analysebegriff dar, um die hier im Zentrum stehenden Performer methodisch untersuchen zu können, sondern es bezeichnet lediglich den Analysegegenstand. Es umschreibt Praktiken und Erfahrungsweisen, die in Diskursen der Performance Studies, Kunst- und Theaterwissenschaft auftauchen und mit der hier vorliegenden Arbeit theoretisch, methodisch und analytisch erschlossen werden. Das Unbegreifbare zur Sprache bringen Es stellt sich die übergreifende Frage, wie das Unbegreifbare der theaterwissenschaftlichen Betrachtung von Aufführungen und Performances zugänglich gemacht werden kann. Die Aufführungsanalyse steht hierbei vor nicht einfach zu lösenden Problemen. Nicht nur die bisher kaum gestellte Frage, welche Auswirkungen die Dimension des Nachwirkens für die bisher momentorientierte Aufführungsanalyse hat, sondern auch die viel grundlegendere Frage, wie etwas, das im Moment sprachlos macht, im Nachhinein überhaupt in Worte gefasst werden könnte. Mersch geht davon aus, dass das Unbegreifbare immer »die Frage seiner Beschreibbarkeit«19 aufwerfe, weshalb sie auch in den Kern der hier vorliegenden Untersuchung rückt.

19 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 248.

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Kaum ist das Problem des Beschreibens von Unbegreifbarem formuliert, kommt ein Bündel an Fragen auf, das sich zu generellen Fragen an die Methodik der Aufführungsanalyse öffnet: Inwiefern kann etwas im Moment Unbegreifbares überhaupt im Nachhinein beschrieben werden? Ist ein erinnerndes Beschreiben zum Scheitern verurteilt? Oder wäre ein Übergang zu anderen Schreibweisen nötig? Wie könnte eine andere Beschreibungssprache aussehen? Was müsste sie leisten, um dem unbegreifbaren Geschehen nahe zu kommen? Oder verlöre die Irritation durch die sprachliche Festschreibung ihren verstörenden Gehalt? Durch welche sprachlichen Strategien könnte der Stillstellung der Erfahrung des Unbegreifbaren im Beschreibungstext entgegen gewirkt werden? Wie könnte das Fremdwerden der Erfahrung im Beschreibungstext aufscheinen? Müsste das Versprachlichen eher einem Stottern, Stammeln und Staunen gleichen? Oder sollte es gänzlich aufgegeben werden? Wie ließe sich Unbegreifbares analysieren? Vor welchen besonderen Herausforderungen steht die Methodik der Analyse? Wie ließe sich das Verhältnis von Beschreibung und Analyse charakterisieren? Welchen vielleicht neuen und anderen Stellenwert bekäme ein Erinnerungsprotokoll? Gäbe es eine Aufführungsanalyse, die den Moment des Unbegreifbaren stehen lässt und ihn nicht glättet? Welche Möglichkeiten des analytischen Schreibens über Aufführungen könnte es geben? Allgemeine Probleme der Aufführungsanalyse, so deutet es sich schon hier an, werden unverkennbar gesteigert. Ziel der Arbeit ist es, das problematische ›Wie‹ des Beschreibens und Analysierens von Unbegreifbarem zu erörtern. Methoden der Beschreibung und Analyse unbegreifbarer Performer werden entwickelt und angewandt. Hierbei wird die für die Theaterwissenschaft grundlegende, aber zumeist vernachlässigte Frage nach dem ›Wie‹ des Beschreibens von Aufführungen diskutiert.20 Dabei erhebt sich die Frage, warum in theaterwissenschaftlichen Texten selten ein Fokus auf Aufführungsbeschreibungen gelegt wird. In ihrer Erörterung wird dem erinnernden Verschriftlichen eine neue Gewichtung verliehen und auf diesem Weg der Schreibform des Erinnerungsprotokolls bzw. der Aufführungsbeschreibung eine neue Sichtbarkeit zugesprochen und aus dem Terrain zumeist nur vorwissenschaftlicher Relevanz heraus bewegt. Auch das Verhältnis von Beschreibung und Analyse bekommt eine neue Gewichtung.

20 Vgl. dazu I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 14.

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Mit Seitenblicken auf den in der Kunstwissenschaft zentralen Begriff der ›Ekphrasis‹ (griech. Beschreibung) und das seit dem Aufkommen der Performance Studies diskutierte Konzept des ›Performative Writing‹ soll weiterhin erörtert werden, wie ein Schreiben über Aufführungen und Performances aussehen könnte – insbesondere ein Schreiben, das versucht, die je spezifische Sinnlichkeit des zu beschreibenden Moments in die Sprachlichkeit aufzunehmen. Diese Schreibweise wird als ›nahes Beschreiben‹ bzw. ›Performative Describing‹ bezeichnet, in der es um ein plastisches Darstellen des Vergangenen geht. Schreiben wird als eine Praxis entwickelt, die mit der des Inszenierens zu vergleichen ist und durch Strategien des Gestaltens die Wirkung der Nähe zu dem nicht zu stellenden Vergangenen hervorzubringen versucht. In gewisser Weise versucht es, die zu beschreibenden Momente einer Re-Inszenierung gleich zur Erscheinung zu bringen. Das nahe Beschreiben wird als eine neue theaterwissenschaftliche Schreibweise entwickelt, die für Aufführungsanalysen von besonderer Relevanz ist. Sie ersetzt nicht bestehende Schreibweisen, sondern erweitert sie um neue und andere Strategien des Zur-Sprache-Bringens von Aufführungen und Performances. Die vorliegende Arbeit versprachlicht Erfahrungen des Unbegreifbaren mit der Schreibweise des nahen Beschreibens. Dies hat besondere Folgen für das Schreiben: Einer in theaterwissenschaftlichen und philosophischen Debatten gestellten Forderung nach einer anderen Sprachlichkeit wird nachgegangen, die die vorliegende Arbeit zu Formen des Schreibens führt, die Grenzen wissenschaftlichen Schreibens überschreiten und sich von künstlerischen Verfahren inspiriert sehen. Dies wird die Frage aufwerfen, ob in einer wissenschaftlichen Arbeit Schreibweisen Anwendung finden dürfen, die sich den eher künstlerischen Verfahren des Gestaltens und Inszenierens bedienen. Die Gedanken Isa Wortelkamps in Sehen mit dem Stift in der Hand sind in diesem methodischen Zusammenhang von besonderer Relevanz, beschäftigen sie sich doch mit Fragen der Aufzeichnung von Aufführungen. Wortelkamp rückt die Praxis des Beschreibens ins Licht, die im theaterwissenschaftlichen Diskurs zumeist vernachlässigt wird. Mit dem gesetzten Ziel, die Sinnlichkeit der Aufführung müsse im Schriftzug der Aufzeichnung aufscheinen, schlägt sie eine Richtung ein, die sich für die hier statt-

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findenden Überlegungen als grundlegend erweisen.21 Weiterhin greift sie auch das Phänomen des Unbegreifbaren auf, das sie jedoch eher als Flüchtiges umschreibt. Während die vorliegende Untersuchung am Unbegeifbaren ansetzt, ist es bei Wortelkamp nur ein Phänomen, das die generelle Flüchtigkeit der Aufführung hervortreten lässt.22 Wenn Wortelkamp also die Aufführung im Allgemeinen im Blick hat und das Unbegreifbare als eine Steigerungsform der generellen Flüchtigkeit versteht, wird hier genau der umgekehrte Weg eingeschlagen: Ausgangspunkt und Mittelpunkt ist das Unbegreifbare, das die Aufführungsanalyse mit grundlegenden Problemen konfrontiert. Wortelkamp beschäftigt sich primär mit der Notation, dem Schreiben im Moment der Aufführung; demgegenüber hebt die vorliegende Arbeit die Nachträglichkeit des Schreibens hervor. Nicht ein Schreiben während des Vollzugs der Aufführung, sondern ein erinnerndes Schreiben sei hier in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses gerückt. Insofern wird es immer auch um die Betonung der Perspektive des Danachs gehen – verknüpft jedoch mit der von Wortelkamp formulierten Forderung nach einem anderen Schreiben.23 Einleitend wurde schon ein Beschreibungsversuch unternommen, der das Stocken, Stammeln und Suchen in die Sprachlichkeit aufnimmt, um dem Moment des Unbegreifbaren zumindest ansatzweise nahe zu kommen. Nicht nur durch theoretisch-methodische Erörterung erarbeitet die vorliegende Arbeit Schreibweisen, sondern auch durch die Praxis des Schreibens selbst, durch das Testen, Versuchen und Probieren von beschreibenden Bezugnahmen auf unbegreifbare Performer. Schreiben wird hierbei immer zur Herausforderung, werden doch Phänomene zu beschreiben versucht, die sprachlos machen, überwältigen, irritieren oder auch überfordern. Natürlich stellt sich die Frage, warum Unbegreifbares überhaupt beschrieben und analysiert werden muss. Kann es nicht auch für sich stehen gelassen werden? Wofür muss es überhaupt aufführungsanalytisch betrachtet werden? Diese Fragen werden in der hier vorliegenden Arbeit umgedreht und aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet: Warum regt das Unbegreifbare geradezu zum Beschreiben und Nachdenken an? Beschreiben und Analysieren werden im Rahmen dieser Arbeit als Impulse

21 Vgl. dazu I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 14. 22 Vgl. dazu ebd., S. 167. 23 Vgl. dazu ebd., S. 215.

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verstanden, die unmittelbar aus dem Unbegreifbaren erwachsen. Zur Erfahrung des Unbegreifbaren gehört regelrecht das versprachlichende Nachdenken. Insofern erscheint aufführungsanalytisches Schreiben als eine notwendige Praxis: Einerseits können Erfahrungen re-inszeniert werden; es kann nachgespürt werden, was überhaupt geschah; ein Unbegreifbares kann zumindest ansatzweise berührt werden. Andererseits können andere Anteil an den Prozessen des Beschreibens und Nachdenkens haben; die gemachte Erfahrung des Unbegreifbaren, wie auch die daraus erwachsenden theaterwissenschaftlichen Fragen und Probleme können geteilt werden. Einer der wichtigsten Gründe für die besondere Notwendigkeit erinnernden Schreibens, so wird sich herausstellen, ist die Annahme, dass das Versprachlichen Dreh- und Angelpunkt ist, um unbegreifbare Performer überhaupt analysieren zu können. Weil die vorliegende Arbeit das Problem des Versprachlichens als ein zentrales Thema betrachtet, bekommen Beschreibungsversuche von Performern im Theater, in Kunst und Kultur einen besonderen Stellenwert. Begegnungen mit Performern werden betrachtet, in denen das Unbegreifbare je spezifische Anforderungen an die Beschreibung und Analyse stellt. Es wird daher versucht, von der jeweils gewählten Performance auszugehen und sowohl Schreibweisen als auch analytische Begrifflichkeiten von ihr abzuleiten und nicht Schreibweisen oder auch theoretische Begriffe als vorgängig vorauszusetzen. Diese Praxis wird als ›gleichschwebendes Schreiben‹ bezeichnet. Nicht ein Instrumentarium wird erarbeitet, das es ermögliche, unbegreifbare Performer problemlos zu beschreiben und zu analysieren – ganz im Gegenteil wird immer davon ausgegangen, dass eine problemlose Beschäftigung mit Unbegreifbarem nicht möglich ist, dass das Problematischwerden des Versprachlichens und Bezugnehmens geradezu der grundlegende Ausgangspunkt ist, von dem ein Schreiben seinen Ausgang nehmen muss. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Performerin Silvia Costa in Romeo Castelluccis Performance HEY GIRL! beschrieben und analysiert. Uraufgeführt wurde HEY GIRL! 2007. Die besuchte Performance fand jedoch zwei Jahre später im Rahmen des internationalen Theaterfestivals Tokyo Arts Festival im Frühjahr 2009 statt, auf die sich die Beschreibungen und Analysen beziehen. Kurz wurden schon die Performer von LA MÉLANCOLIE DES DRAGONS der von Philippe Quesne inszenierten Performance angeschnitten, die 2008 im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand. Es wurde hier als ein nur skizzenhaft bleibendes, einleitendes Beispiel heran-

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gezogen, um die Stoßrichtung der hier vorliegenden Arbeit anzudeuten. Weiterhin wird der Performancekünstler und Bildende Künstler Steven Cohen behandelt. Die Beschreibungen und Analysen beziehen sich auf die Performance THE CRADLE OF HUMANKIND, die beim Festival d’Avignon 2012 aufgeführt wurde. Als Beispiele für unbegreifbare Performer im kulturellen Kontext werden zwei japanische Cosplayer herangezogen, die auf unterschiedliche Weise mit dem Unbegreifbaren arbeiten. Die Begegnung mit den Performern fand zufällig im Frühjahr 2009 im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes in Tokyo statt. Von vorrangiger Relevanz scheinen die Erörterungen dieser Untersuchung vor allem für aufführungsanalytische Arbeiten zu sein, die sich mit gegenwärtigen Phänomenen im Theater, in Kunst und Kultur auseinandersetzen und sich mit Fragen und Problemen des Beschreibens und Analysierens von Aufführungen und Performances beschäftigen oder auch Besonderheiten der Analyse von Akteuren zu thematisieren suchen. Denn das Thema der vorliegenden Arbeit macht es notwendig, die aufführungsanalytische Theorie und Praxis fortzuentwickeln. Insbesondere ist die Frage des Beschreibens gerade in der gegenwärtigen Theater- und Kunstpraxis – und, wie sich vermuten lässt, auch Kulturpraxis – nicht zu unterschätzen, kristallisieren sich doch an ihr umfangreiche Probleme heraus, die in der hier vorliegenden Arbeit untersucht werden. Theorien zu ›Performance‹ und ›Performer‹ Zunächst ist es nötig, das theoretische Fundament der Arbeit zu legen, um dem Ausruf ›c’est incroyable‹ der Performerin in LA MÉLANCOLIE DES DRAGONS umfassend nachgehen und das Unbegreifbare nicht nur im Theater und in der Kunst, sondern auch in der alltäglichen Lebenswelt erörtern zu können. Hierfür ist es grundlegend, sich auf einen weiten Begriff von Performance zu beziehen. Dieser drängt sich als theoretischer Ausgangspunkt auf, ist man doch dazu geneigt, ihn in der Theaterwissenschaft und den Performance Studies nicht nur mit Praktiken im Theater, in der Kunst und Kultur zu verbinden, sondern auch mit dem Abweichenden zu konnotieren. Auch der Begriff des Performers, so wird sich zeigen, wird häufig mit dem Fremden und Anderen assoziiert. Die Idee des Unbegreifbaren als eine wesentliche Form der Abweichung in Performances spielt in diesen Diskursen eine wesentliche Rolle. Ein genauerer Blick auf die miteinander

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verknüpften Begrifflichkeiten ›Performance‹, ›Performer‹ und ›Abweichung‹ ist somit im Folgenden nötig, um den Grundstein der Arbeit zu legen. Marvin Carlson zeigt in Performance. A critical introduction inwiefern der Begriff ›Performance‹ nahezu grenzenlose Anwendbarkeit besitzt. »On the larger cultural level, ›performance‹ has continued to develop as central metaphor and critical tool for a bewildering variety of studies, covering almost every aspect of human activity.«24 Performance sei ein allgemein menschliches Konzept, das bis ins alltägliche Leben reiche und dieses grundlegend strukturiere. Carlson schränkt den Anwendungsbereich nicht auf künstlerische Formen ein, wie es beispielsweise bei RoseLee Goldberg der Fall ist, die Performance ausschließlich als »art form«25 betrachtet. Vielmehr geht es Carlson darum, Performance als ein umfassendes Konzept zu begreifen, das gleichfalls im Theater, in der Kunst und Kultur zu finden ist. Hierbei bezieht er sich auf Richard Schechners weites Performanceverständnis – auf dessen »broad spectrum of performing«26 – und teilt mit ihm die Ansicht, Performance als ein universelles, menschliches Verhalten zu verstehen, das nicht nur im Theater, Tanz oder in der Performancekunst angesiedelt ist, sondern in alle Bereiche menschlicher Aktivitäten reicht. »Performing onstage, performing in special social situations (public ceremonies, for example), and performing in everyday life are a continuum. These various kinds of performing occur in widely divergent circumstances, from private solo shows before the mirror to large-scale public events and rituals, from shaman healing rituals to identity-changing trances, from theatre and dance to the great and small roles of everyday life.«27

Obwohl sich Performance als eine flexibel dehn- und wandelbare Bezeichnung für heterogene Erscheinungen zeigt, geht es Carlson trotz allem um

24 Carlson, Marvin: Performance. A critical introduction, New York/London: Routledge 2004, S. IX. 25 Goldberg, RoseLee: Performance Art. From Futurism to the Present, New York/London: Thames & Hudson 2006, S. 7. 26 Schechner, Richard: Performance Studies. An Introduction, New York/London: Routledge 2006, S. 143. 27 Ebd.

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eine theoretische Umkreisung des Begriffs. Hierfür bezieht er sich erneut auf Schechner und dessen Verständnis von Performance als »restored behavior«28. Carlson greift diesen Begriff auf, wandelt ihn aber um, indem er von »patterned behavior«29 spricht. Damit möchte er die »doubled, repeated, or restored quality of the action«30 betonen, also die Annahme, dass Performance nicht nur mit Handeln, sondern mit wiederholtem Handeln zu verbinden sei. Es werde auf etwas Vorausliegendes, ein Muster, ein Pattern – ein »›original‹ behavior«31 – Bezug genommen, das im Prozess der Performance bestätigt oder verändert werde. »The fact that performance is associated not just with doing but also with re-doing is important – its embodiment of the tension between a given form or content from the past and the inevitable adjustments of an ever-changing present make it an operation of particular interest at a time of widespread interest in cultural negotiations – how human patterns of activity are reinforced or changed within a culture and how they are adjusted when various different cultures interact.«32

Unser Leben sei durch diese Wiederholung oder Veränderung vorgängiger Verhaltensmuster strukturiert, sodass prinzipiell jegliche menschliche Aktivität als Performance betrachtet werden könne.33 Jedoch macht Carlson Einschränkungen, die den grenzenlos erscheinenden Bereich der Performance enger umkreisen. Zunächst markiert er einen Unterschied zwischen »doing« und »performing«, der in einer gewissen Haltung – einer »attitude«34 – liege. »Finally, performance implies not just doing or even redoing, but a self-consciousness about doing and re-doing on part of both performers and spectators.«35 Performance sei ein bewusstes und ausgestelltes Handeln – »we may do actions unthinkingly, but when we think about them, this brings in a consciousness that gives them the quality of

28 M. Carlson: Performance, S. 47. 29 Ebd., S. 3. 30 Ebd., S. 4. 31 Ebd., S. 47. 32 Ebd., S. 212. 33 Ebd., S. 4. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 212.

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performance«36. Insofern versteht Carlson nicht jegliche erdenkliche Handlung als Performance, sondern nur diejenige, die mit einer bewussten Setzung verbunden ist: »all activity carried out with a consciousness of itself«37. Weiterhin verbindet er Performance mit einer bewussten Ausrichtung auf Zuschauer. Sie seien es, die die Performance als Performance erkennen würden. »Performance is always performance for someone [Herv. i.O.], some audience that recognizes and validates it as performance even when, as occasionally the case, that audience is the self.«38 Insofern verknüpft Carlson den bewussten Setzungscharakter der Performance und die Ausrichtung auf ein Gesehenwerden miteinander, sodass Performance als eine Praktik des bewussten Zeigens, Vorführens oder Ausstellens verstanden werden könnte. Carlson geht jedoch noch weiter, indem er den Gedanken des ›patterned behavior‹ auf die Zuschauer überträgt und zu dem Schluss kommt: »[A]ll performance involves a consciousness of doubleness, according to which the actual execution of an action is placed in mental comparison with a potential, an ideal, or a remembered original model of that action. Normally this comparison is made by an observer of the action.«39

Nicht nur über die in der Performance handelnden Performer, sondern vielmehr über den Zuschauer werde der Bezug auf ein vorgängiges Muster, ein Pattern, ein Ideal, ein ursprüngliches Verhalten, eine Norm aufgebaut, die innerhalb der Performance bestätigt oder eben subversiv verändert werde. Somit sind es die Zuschauenden, die eine bewusst gesetzte Praxis des Zeigens, Vorführens oder Ausstellens zur Performance machen, indem sie das momentan Sichzeigende in einem mentalen Prozess mit schon Bestehendem in Zusammenhang bringen und Bestätigendes oder Abweichendes wahrnehmen. Auch Erika Fischer-Lichte hebt in ihren Publikationen zum Begriff der Performance die Zuschauerorientierung hervor. Sie versteht »Aufführung/Performance [Herv. i.O.] […] als Vorgang der Darstellung durch

36 Ebd., S. 4. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 5. 39 Ebd.

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Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern«40. Performance sei durch »das ambivalente Zusammenspiel« von Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung gefasst, wobei sich letzteres auf »den Zuschauer, seine Beobachtungsfunktion und -perspektive«41 bezieht. Gerade das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern und die dort stattfindenden, wechselseitigen Austauschprozesse, die sie als sich selbst organisierende »Feedback-Schleife«42 versteht, rücken ins Zentrum ihres Performancebegriffs. Performance könnte so als ein Verhältnis, eine Relation zwischen Wahrnehmenden und Akteuren oder auch wie von Roselt als ein »Zwischengeschehen«43 gefasst werden, das beide Positionen in Beziehung setzt. Diese Akzentuierung des ›Zwischen‹ von Akteur und Zuschauer fußt in ihrer Annahme, Performance und Aufführung zusammenzudenken. Mit der Verbindung »Aufführung/Performance [Herv. i.O.]«44 öffnet sie den Anwendungsbereich des Performancebegriffs für gleichfalls künstlerische wie lebensweltliche Situationen, in denen eine leibliche Ko-Präsenz von Wahrnehmenden und Akteuren gegeben ist. Hierbei bezieht sie sich auf Milton Singers Begriff der cultural performance, der es ermöglicht »particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts etc.«45 zu beschreiben. In Folge des performative turns in den Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren und der damit einhergehenden Entdeckung des Performativen in der Theaterwissenschaft entwickelt Fischer-Lichte den Begriff der Performance als ei-

40 Fischer-Lichte, Erika: »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 299. 41 Ebd. 42 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 101. 43 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 195. 44 E. Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel«, S. 299. 45 Singer, Milton (Hg.): Traditional India. Structure and Change, Philadelphia: University of Texas Press 1959, S. XII f. – Vgl. dazu E. Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel«, S. 289.

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nen »umbrella term [Herv. i.O.]«46 für unterschiedliche künstlerische und lebensweltliche Erscheinungen. Gemeinsam mit Carlson spricht sie sich gegen eine grundsätzliche Trennung von Performances im Theater, in der Kunst und Kultur aus. Mit Gabriele Klein und Wolfgang Sting kann Performance als eine soziale und ästhetische Praxis beschrieben werden, die ganz im Sinn FischerLichtes »Gemeinschaften des Augenblicks« herstellen, in denen »nicht die Akteure allein, sondern die Zuschauer [...] die Performance als solche legitimieren«47. Indem Fischer-Lichte die leibliche Gegenwärtigkeit von Zuschauern und Akteuren in den Mittelpunkt ihres Performancebegriffs rückt, wendet sie sich von Performancebegriffen ab, die auch »inanimate«48, also unbelebte Ausdrucksformen wie Fotografien oder Filme als Performance betrachten. Peggy Phelan beschäftigt sich in Unmarked. The Politics of Performance mit der Beziehung zwischen »self and other as it is represented in photographs, paintings, films, theatre, political protests, and performance art«49. Ähnlich wie Fischer-Lichte interessiert sie sich zwar auch für eine Relation zwischen Wahrnehmendem (»self«) und Wahrgenommenem (»other«), jedoch bindet sie dieses Verhältnis nicht ausschließlich an Formen leiblicher Ko-Präsenz. »While the notion of the potential reciprocal gaze has been considered part of the ›unique‹ province of live performance, the desire to be seen is also activated by looking at inanimate art. Examining the politics of the exchange of gaze across these diverse representational mediums [photographs, paintings, films, theatre, political

46 Wirth, Uwe: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: Ders. (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 10. 47 Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang: »Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld: transcript 2005, S. 10. 48 Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, New York/London: Routledge 1993, S. 4. 49 Ebd.

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protests, and performance art] leads to an extended definition of the field of performance.«50

Durch die Thematisierung von Performances im Theater, in der Kunst und Kultur bewegt sich die vorliegende Arbeit in das extended field of performance; jedoch mit der Beschränkung auf den von Fischer-Lichte betonten Moment der ko-präsenten Begegnung mit Performern. Gerade weil die Arbeit Momente der Verstörung, Überraschung und Überwältigung thematisiert, soll der von Phelan betonte Bereich der inanimate art, wie Foto- oder Videoperformances, ausgeschlossen werden. Gerade der Bereich der Irritation, wie er hier erörtert wird, ist eine bevorzugte Erfahrung leiblicher KoPräsenz. In dem ›Zwischen‹ von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem tauchen Widerstände auf, die verunsichern und faszinieren, verstören und erstaunen. Mit Carlson werden nur diejenigen Begegnungen als Performance zu betrachten sein, die mit einer bewussten Setzung arbeiten. Anhand der nur exemplarisch diskutierten Performancetheorien von Carlson und Fischer-Lichte zeigt sich, inwiefern Performance ein vielgestaltiges Konzept mit unterschiedlichen Bedeutungen und Verwendungskontexten ist. »›Performing‹ and ›performance‹ are terms so often encountered in such varied contexts that little if any common semantic ground seems to exist among them«51. Bezug nehmend auf Joseph Roach bezeichnet Carlson es sogar als eine Antidisziplin, eine Art Gegenkonzept, das gegenläufige und abweichende Verwendungsweisen eben nicht bekämpfe.52 Performance könne eher im Sinne eines »fluid territory«53 zu verstehen sein. Nicht Einheitlichkeit, sondern Widerständigkeit sei die Essenz dieses umstrittenen Konzeptes, das nicht auf einen Begriff, auf eine Definition zu bringen sei. Nicht umsonst beschreibt Uwe Wirth in Rekurs auf John L. Austin, dass »[d]ie vielgestaltige Verwendbarkeit des Performanzbegriffs ebenso wie seine Mehrdeutigkeit […] maßgeblich zur akademischen Breitenwirkung des ›garstigen Wortes‹ beigetragen«54 hätten.

50 Ebd. 51 M. Carlson: Performance, S. 2. 52 Ebd., S. 206 und 1. 53 Ebd., S. 205. 54 W. Wirth: »Der Performanzbegriff«, S. 9.

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Während Wirth Performance im akademischen Bereich als ein widerständiges theoretisches Konzept versteht, wendet sich Goldberg ›nur‹ den künstlerischen Performancephänomenen zu. Dort zeige sich der Performancebegriff ebenfalls als eine anarchische und permissive Bezeichnung, die sich einer strengen Definition entziehe. Performance sei »a permissive, open-ended medium with endless variables«55. Wissenschaftliche Definitionen, die das Signum der Eindeutigkeit tragen, würden den vielfältigen Ausdrucksformen von Performance nicht entsprechen. Durchaus verallgemeinerbar kann mit Hans-Friedrich Bormann und Gabrielle Brandstetter behauptet werden: »›Performance‹ bewegt sich – als Performance – stets und immer schon zwischen unterschiedlichen Kontexten und trägt ein subversives Potential noch in die beschreibend-eindeutige Zuordnung«56. In der Performance finde »eine Erfahrung der Grenzüberschreitung statt, die nicht in der Affirmation begrifflicher oder methodischer Sicherheiten mündet, sondern durch ihren unsicheren Status unser Sprechen selbst dauerhaft infiziert.«57 Wahrnehmende würden mit einer Schwellenerfahrung konfrontiert, die sie geradezu herausfordere. Sie vergleichen Performance mit einer »Leerstelle«58 und einer Erfahrung des Verlusts. Auch bei Mersch findet der Begriff der »Grenzerfahrung«59 Anwendung. In seinen Untersuchungen zur performativen Wende verknüpft er den Performancebegriff mit dem Anderen und Abweichenden. Er verknüpft Performances, indem er sie vom »Vorrang der Alterität her« denkt, mit Begriffen der »Andersheit« und dem »Anderen« sowie mit dem »elementaren Entzug« und sprachlich »Unverfügbaren«60. Mersch geht davon aus, dass bei einer »Performance oder eine[r] Aktion [...] ein grundlegender Riss [Herv. i.O.]« entstehe, der auf der Tatsache beruhe, dass mit dem Akt der Setzung etwas »in die Welt gebracht ist«, das durch seine Bindung an eine Materialität zugleich als »Ent-

55 R. Goldberg: Performance Art, S. 9. 56 Bormann, Hans-Friedrich/Brandstetter, Gabriele: »An der Schwelle. Performance als Forschungslabor«, in: Hanne Seitz (Hg.), Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Essen: Klartext 1999, S. 48. 57 Ebd., S. 46. 58 Ebd. 59 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 43. 60 Ebd., S. 9.

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Setzung [Herv. i.O.]« zu verstehen sei und somit immer schon ein »Unverständliches«61 mit sich bringe. Mersch erklärt, dass der Ausdruck ›EntSetzung‹ »die buchstäbliche Zerschneidung der Situation, ihre TransPosition [Herv. i.O.] oder Kippung [andeutet], mit der die performativen Künste bevorzugt arbeiten, etwa wenn [...] Erwartungen plötzlich vereitelt oder umgestürzt werden«62. Mersch schreibt diesen Widerfahrnischarakter jeder »ästhetischen Arbeit, jedem Projekt, sogar jedem Werk«63 zu. Jedoch in Performances bzw. bei einer Ästhetik des Performativen würden eben die Momente der Andersheit betont; das Brechen, Verschieben und Heraustreten aus bestehenden Kontexten werde thematisch und rücke in den Vordergrund. Das Ereignen der Kunst und ihr widerständiger Charakter, das in gewisser Weise die »Grundierungen« darstellten, würden nicht »verhüllt« wie es »besonders im Rahmen des Werkhaften, durch die Ideale der Vollendung und der geschlossenen Form« geschehe, sondern »ausdrücklich [...] zu Bewusstsein«64 gebracht. Performative Kunst trete aus dem Gefüge einer klassischen Ästhetik heraus und stürze »die Gültigkeit der Kategorien um und etabliert eine alternative Ästhetik, wie sie vor allem für Happening und Fluxus, die zeitgenössische Performance-Art, den Event, aber auch die Konzept- und zeitlich terminierte Installationskunst«65 gelte. Auch Amelia Jones, die künstlerische und kulturelle Performances unter dem Gesichtspunkt subjekttheoretischer Überlegungen betrachtet, wendet sich marginalisierten, »nonnormative bodies/selves« zu, die in einer »exaggeration of [...] otherness« Wahrnehmende verstören und mit »embedded conceptions«66 brechen. Mithilfe von phänomenologischen, psychoanalytischen, poststrukturalistischen und postmodernen Subjekt- und

61 Mersch, Dieter: »Life-Acts. Die Kunst des Performativen und die Performativität der Künste«, in: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld: transcript 2005, S. 43, 41, 42 und 43 62 Ebd., S. 42. 63 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 290. 64 Ebd., S. 291 und 290. 65 Ebd., S. 19. 66 Jones, Amelia: Body Art. Performing the Subject, Minnesota: University of Minnesota Press 1998, S. 8.

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Körpertheorien erörtert sie performative Praktiken, die die »assumption of normativity« herausfordern und »radically dislocating effects«67 auf Zuschauer haben. Die Liste der Themen und Autoren, die Performance mit dem Abweichenden verknüpfen, könnte hier noch erweitert werden. Jedoch kann schon jetzt in Anschluss an Schechner die Behauptung aufgestellt werden, dass in Performancediskursen Motive des Anarchischen, Subversiven und Anderen häufig auftreten: »As a field, performance studies is sympathetic to the avant-garde, the marginal, the offbeat, the minoritarian, the subversive, the twisted, the queer, people of color, and the formerly colonized.«68

Performance als Begriff hat einen Hang zum Anderen. Nicht selten wird er mit Abweichendem verbunden. Der Begriff der Performance bietet sich insofern als Grundlage an, um dem Erkenntnisinteresse der hier vorliegenden Arbeit zu folgen. Mit dem Phänomen des Unbegreifbaren steht eine wesentliche Form der Abweichung in Performances im Zentrum wissenschaftlichen Interesses. Die Idee des Unbegreifbaren, in der Faszination und Irritation, Staunen und Sprachlosigkeit, Überwältigung und Verunsicherung zusammenkommen, taucht häufig in Performancediskursen auf. Diese Annahme wird sich insbesondere im nächsten Kapitel erhärten, das entlang zentraler Positionen der Theaterwissenschaft den Analysegegenstand theoretisch erschließt. Die vorliegende Arbeit setzt an den in Performances auftretenden Akteuren an. Die Literatur ist geneigt, die Akteure der Performance als Performer zu bezeichnen. Carlson spricht von »the performers who ›do‹ these events«69 und wendet den Begriff auf jegliche performative Praktiken im Theater, in der Kunst und Kultur an. Auch Schechner bezeichnet umfassend die in der Performance hervortretenden Akteure als »Performer« – egal ob »Hirschtänzer«, »balinesische Trancetänzer« in der Lebenswelt oder

67 Ebd., S. 9. 68 R. Schechner: Performance Studies, S. 3. 69 M. Carlson: Performance, S. 47.

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»Schauspieler«70 im Theater. »A performer in ordinary life, in a ritual, at play, or in the performing arts does/shows something – performs an action.«71 Auffallend ist, dass die Literatur dazu tendiert, Performer – ähnlich wie Performances – mit dem Abweichenden zu verbinden. Insbesondere im Bereich der Künste werden sie mit dem Anderen verknüpft, was aus der Nähe des Performerbegriffs zu dem des Performancekünstlers herrühren könnte – einer Kunstform, die laut Goldberg anarchisch und permissiv sei. Ausdrücklich wird in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht nur der Performancekünstler im Zentrum des Interesses stehen, sondern die umfassend gedachte Bezeichnung ›Performer‹. Performer werden nicht nur auf die Formulierung – »the performer is the artist«72 – reduziert, die sich lediglich auf die Performancekunst bezieht: »Unlike theatre, the performer is the artist [Herv. i.O.], seldom a character like an actor, and the content rarely follows a traditional plot or narrative.«73 Der kontrapunktischen Auslegung der Begriffe Theater und Performancekunst wird in dieser Untersuchung mit Fischer-Lichte widersprochen, die nicht von einem »grundsätzliche[n] Gegensatz zwischen Theater und Performance-Kunst« ausgeht, gleichwohl »Performance-Kunst in den sechziger Jahren aus einer radikalen Negation nicht nur des kommerziellen, produktorientierten Kunstbetriebs, sondern auch des damals zeitgenössischen Theaters entstanden ist«74. Roselt betont ebenfalls, dass angesichts »der Bandbreite des zeitgenössischen Theaters« eine »kategoriale Trennung von Theater und Performancekunst wenig sinnvoll«75 sei. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb nicht nur vom »perfor-

70 Schechner, Richard: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 12 und 18. 71 R. Schechner: Performance Studies, S. 24. 72 R. Goldberg: Performance Art, S. 8. 73 Ebd. 74 Fischer-Lichte, Erika: »Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen«, in: Dies./Friedemann Kreuder/ Isabel Pflug (Hg.), Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der NeoAvantgarde, Tübingen/Basel: A. Francke 1998, S. 85. 75 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 39.

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mance artist«76 die Rede sein, sondern vielmehr von Performern im Theater, in der Kunst und Kultur. Im Bereich der Künste werden sie nicht selten als diejenigen angedeutet, die schauspielerische Normen subversiv unterlaufen und auf diesem Weg Wahrnehmende irritieren können. Lehmann setzt den Begriff des Performers ein, um den im postdramatischen Theater entdeckten »neue[n] Kontinent der Performanz« und die »neuartige Präsenz der ›Performer‹, zu denen die ›Actors‹ mutieren«77 zu umschreiben. Hierbei versteht er die Praxis des Performens als eine besondere Spielweise, die »›unterhalb‹ des klassischen Schauspielens«78 angesiedelt sei. Performen zeige sich als »eine Spielweise, die mehr auf der Achse des Kommunizierens als des Verkörperns situiert ist, also das Abbilden einer anderen Identität zurücktreten lässt zugunsten der Etablierung eines gemeinsamen Sprach- und Wahrnehmungsraums von Spielerpersönlichkeit und Zuschauern«79. Performen deutet er als eine Spielform des Schauspielers an, die in einem Atemzug mit »[p]ostdramatische[m] Spiel«80 genannt werden kann. Im postdramatischen Theater verlagere sich »das Gewicht von der Verkörperung zur Kommunikation«, was bedeute, dass »sich das Energiezentrum des Theaterspiels verschoben hat, mehr in die Sphäre zwischen Spieler und Zuschauer [...], weg von den dramatisch-szenischen immanenten Spannungen«81. An anderer Stelle betont er, dass »an die Stelle der vereinigenden und schließenden Perzeption eine offene und zersplitterte«82 Wahrnehmung trete. Bei Lehmann wird der Performerbegriff verwendet, um das Anderswerden des Agierens von Schauspielern, aber auch das Anderswerden des Wahrnehmens von Zuschauern zu umschreiben.

76 R. Goldberg: Performance Art, S. 8. 77 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 93. 78 Ebd., S. 242. 79 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 20. 80 Lehmann, Hans-Thies: »Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik«, in: Klaus Bachler/Klaus Dermutz (Hg.), Next Generation, Edition Burgtheater, Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag 2009, S. 22. 81 Ebd., S. 17. 82 Ebd., S. 140.

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»Doch vom Schauspieler (actor) ist in diesem Theater nicht mehr die Rede. Hier soll keine Illusion vorgespielt und sollen auch keine fiktiven Figuren repräsentiert werden, sondern es geht darum, Handlungen auszuführen, reale Körper zu präsentieren und neue Erfahrungsräume mit dem Zuschauer zu kreieren. Aus dem Schauspieler ist der Performer geworden.«83

Roselt verbindet ebenfalls Performer mit Momenten der Abweichung, wenn Schauspieler auf eine je spezifische Art und Weise ›anders‹ handeln. Gleichsam verbindet er sie mit Ästhetiken des postdramatischen Theaters, in denen Zuschauer mit »einer Andersartigkeit und Fremdheit«84 konfrontiert würden. »Performern läge nichts ferner, als eine Figur zu verkörpern oder auch nur in die Nähe einer solch stabilen theatralen Repräsentation zu gelangen«85, so formuliert Bettina Brandl-Risi den abweichenden Charakter der Akteure im Theater René Polleschs. Philipp Auslander und Patrice Pavis assoziieren Performer ebenfalls mit einer bisherige schauspielerische Normen subversiv unterlaufenden Position. »Unlike actors, performers do not play roles [Herv. i.O.]; they act in their own names.«86 Geprägt durch eine »progressive redefinition of theatrical mimesis away from ›character‹«87, die von der historischen Avantgarde über das Theater der 1960er Jahre bis hin zur Postmoderne reiche, entwickle sich eine tiefgreifende Veränderung der Funktion des Schauspielens. Der neue »performance style« werde zu »something other than

83 Roselt, Jens (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin: Alexander 2005, S. 329. 84 Roselt, Jens: »In Ausnahmezuständen. Schauspieler im postdramatischen Theater«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Theater fürs 21. Jahrhundert, München: edition text + kritik 2004, S. 175. – Vgl. dazu ebd., S. 168. 85 Brandl-Risi, Bettina: »›Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir.‹ Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch«, in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 138. 86 Pavis, Patrice: Analyzing Performance. Theater, Dance, and Film, Michigan: University of Michigan Press 2003, S. 62. 87 Auslander, Philip: From Acting to Performance. Essays in Modernism and Postmodernism, New York/London: Routledge 1997, S. 6.

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acting«88. In diesen Überlegungen, in denen der »term performer, as opposed to actor [Herv. i.O.]« gesetzt wird, erscheinen Performer als diejenigen, die nicht mehr die traditionelle Aufgabe des Verkörperns einer Rolle verfolgten, sondern »their own inadequacies, absences, and multiplicities«89 performten. Innerhalb des zeitgenössischen Tanzes erscheint der Begriff des Performers, um das »Andere des Tanzes« anzudeuten, wenn plötzlich Tanzstücke auftauchen, in denen, wie Gerald Siegmund betont, »nach landläufigem Verständnis nicht mehr getanzt«90 werde. An Stelle dessen tauchen im Kontext der Diskussion der Arbeiten von William Forsythe, Xavier Le Roy, Sarah Michelson, Thomas Plischke/B.D.C. oder Raimund Hoghe Begriffe wie »Tanz-Performance«, »Performance«, »Performen« und »Performer«91 auf, um das Unterlaufen von Erwartungshaltungen zu skizzieren. Wortelkamp greift ebenfalls den Begriff des Performers auf, um Abweichungen von normierten Vorstellungen des Tanzens sprachlich zu markieren. In ihrer Beschreibung der Inszenierung ALIBI von Meg Stuart und Damaged Goods spricht sie ähnlich wie Siegmund davon, dass »die Performer […] weniger Tänzer als Spieler« seien, »die ihre Körper vor den Augen des Publikums an ihre Grenzen führen«92. Der Performerbegriff wird sowohl bei Siegmund als auch bei Wortelkamp als eine alternative Bezeichnung zu der des Tänzers verwendet, um dem Aspekt der »Störung«93 normierter Wahrnehmungsformen der Zuschauer zu unterstreichen. Friedemann Kreuder beschreibt ihn als eine »Ergänzung des exklusiven Begriffs«94 des Schauspielers, um den künstlerischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden.

88 Ebd. 89 P. Pavis: Analyzing Performance, S. 58 und 62. 90 Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006, S. 207 und 9. 91 Ebd., S. 189, 195, 315 und 187. 92 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 28. 93 Ebd., S. 174. 94 Kreuder, Friedemann: »Schauspieler«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 284.

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Wenn im Bereich der Künste auf eine Abweichung verwiesen wird, die von einem Akteur herrührt, ist man dazu geneigt, sie als Performer zu bezeichnen, um das Andere, Fremde und Irritierende sprachlich hervorzuheben. In der Weise wie Performance in zahlreichen Konzeptionen von der Alterität her gedacht wird, wird auch in zahlreichen analytischen und theoretischen Arbeiten der Performerbegriff verwendet – als ein zumeist schauspieltheoretischer und -analytischer Begriff, der subversive Praktiken und Erfahrungen andeutet. Performer, so lässt sich festhalten, werden in der Literatur häufig mit einem Anderswerden verkörpernder Praktiken und auch einem Anderswerden des Erfahrens verbunden. Häufig werden sie mit Begegnungen verbunden, die theatrale Erfahrens- und Verstehensmuster überschreiten. Das Unbegreifbare deutet sich hierbei als eine wesentliche Wirkungsweise an, die mit Performern verknüpft wird. Performer überwältigen, faszinieren und sind in der Lage, sprachlos zu machen. Deshalb bezieht sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit auf den Begriff ›Performer‹ und nicht auf ›Schauspieler‹ oder ›Darsteller‹. Es wird sich jedoch zeigen, dass trotzdem schauspieltheoretische und -analytische Begrifflichkeiten in der Analyse von Performern nützlich sein können. Es wird sich herausstellen, dass die hier im Zentrum stehenden Performer schauspieltheoretische und -analytische Probleme regelrecht zuspitzen. Ihnen wird trotz allem nicht mit einem noch ausgefeilteren schauspielanalytischem Instrumentarium begegnet. Für eine Untersuchung derjenigen Praktiken und Erfahrungen, die mit dem Begriff des Unbegreifbaren verknüpft werden, müssen neue und andere Wege eingeschlagen werden. Struktur der Arbeit Ziel ist es, sich der methodischen Herausforderung zu stellen, das problematische ›Wie‹ des Beschreibens und Analysierens von Unbegreifbarem zu erörtern. Bevor dies geleistet werden kann, muss jedoch das ›Was‹ des Unbegreifbaren theoretisch angegangen werden. Aus diesem Gedanken ergibt sich die Struktur der Arbeit. Um die Begegnungen mit unbegreifbaren Performern umfassend thematisieren zu können, gilt es zunächst im ersten Kapitel ›Theorie‹ den Begriff des Unbegreifbaren zu erörtern. Hierbei muss zum einen der Moment der Erfahrung, zum anderen aber auch das Nachwirken thematisiert werden. In der Erörterung wird deutlich, inwiefern zentrale theaterwissen-

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schaftliche Positionen auf einer gemeinsamen theoretischen Wurzel aufbauen, die aus dem in der Philosophie zentralen Begriff des Erhabenen erwächst. Das Unbegreifbare soll vor der Folie des Erhabenen Konturen bekommen, ohne jedoch mit ihm gleichgesetzt zu werden. Vielmehr wird es als ein Ästhetisches entwickelt, das eine besondere Intensität aufweist, die sich von ›typischen‹ Formen des Erlebens im Theater, in der Kunst und Kultur deutlich abhebt. Hierbei wird sich zeigen, inwiefern das Unbegreifbare die Frage des Beschreibens ins Zentrum rückt. Im zweiten Kapitel ›Methodik‹ ist das Problematische des Schreibens Ausgangspunkt. Die Schwierigkeit, unbegreifbare Performer in Worte zu fassen, wird einleitend an einem ausführlichen Beschreibungsversuch zu Performern in Tokyo – sogenannten ›Cosplayern‹ – deutlich, mündet doch das Schreiben in eine Fülle methodischer Fragen an die Aufführungsanalyse, deren Theorie und Praxis durch unbegreifbare Performer regelrecht hinterfragt werden muss. Es soll somit zunächst das Schreiben von Aufführungen diskutiert werden; daraus werden neue und andere Ansätze der Aufführungsanalyse entwickelt. Insbesondere die Notwendigkeit, ein größeres Augenmerk auf das erinnernde Beschreiben zu legen, sei hier schon hervorgehoben, wie auch die bisher vernachlässigte Perspektive des Nachwirkens und Weiterwirkens von Aufführungen. In einem nächsten Schritt werden Möglichkeiten des Schreibens von Unbegreifbarem erörtert und letztendlich mit der Stoßrichtung des insbesondere im angloamerikanischen Raum entwickelten und rezipierten Konzepts des ›Performative Writing‹ verglichen. Im dritten Kapitel ›Analyse von Performern‹ wendet sich die Untersuchung der Beschreibung und Analyse ausgesuchter Performerinnen und Performer zu. Die Performerin Silvia Costa in der von Romeo Castellucci inszenierten Performance HEY GIRL! und der Performancekünstler Steven Cohen in THE CRADLE OF HUMANKIND stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels, in dem Möglichkeiten und Besonderheiten des Analysierens unbegreifbarer Performer – auch in Rekurs auf bestehende Schreibweisen über Schauspieler und schauspieltheoretische Begrifflichkeiten – erörtert werden und die entwickelten Schreibweisen angewandt, ausprobiert und kritisch reflektiert werden.

I. Theorie

Theaterwissenschaftliche und philosophische Diskussionen, die sich mit gegenwärtigen Ästhetiken des Theaters, der Kunst und Kultur auseinandersetzen, beziehen sich oft auf Praktiken und Erfahrungen, die sich um den hier vorgeschlagenen und noch zu erörternden Begriff des Unbegreifbaren ranken. Sie behandeln Erfahrensdimensionen, die mit einem möglichen Zusammentreffen von Faszination und Irritation, mit Sprachlosigkeit und begrifflosem Staunen sowie auch einer Dimension des Nachwirkens konfrontieren, in der man versucht, dem unbegreifbaren Phänomen erinnernd, beschreibend und analysierend nachzugehen. Bei Isa Wortelkamp taucht das Unbegreifbare in einer sprachlichen Variation – das »Un(be)greifbare« – auf, um einerseits die »sinnliche Erfahrung« einer Aufführung zu thematisieren, aber auch gleichzeitig auf ein Problematischwerden »greifbare[r] Sinnzuweisungen«1 hinzuweisen. Bei Letzterem erfahre das Flüchtige einer Aufführung noch eine Steigerung, indem es regelrecht »sprachlos«2 machen könne. Hans-Thies Lehmann verbindet in zahlreichen Publikationen die gegenwärtige Theaterpraxis mit dem »Refus des Verstehens« und dem in Rekurs auf Adorno »unbegreifliche[n] Grauen«3, mit dem die Künste arbeiteten. Auch Dieter Mersch rückt 1

I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 39 und 14.

2

Ebd., S. 167.

3

Lehmann, Hans-Thies: »Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«, in: Merkur 5 (1994), S. 428 und 426. – Vgl. dazu auch Lehmann, HansThies: »Das Erhabene ist das Unheimliche. Zur Theorie einer Kunst des Ereignisses«, in: Merkur 9 (1989); H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater; H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«; Lehmann, Hans-Thies: Das politische

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den Begriff des »Ungreifbare[n]«4 in den Fokus philosophischer und performancetheoretischer Betrachtungen und diskutiert Aus- und Nachwirkungen tiefgehender Prozesse der Irritation und Faszination, des begrifflosen Staunens und der Fassungslosigkeit. Die Idee des Unbegreifbaren ist in wesentlichen Positionen der gegenwärtigen Theaterwissenschaft angelegt. In diesem Kapitel geht es nicht darum, einen historischen Abriss unterschiedlicher Positionen oder gar ein theoretisches Panorama des Unbegreifbaren zu entwerfen. Vielmehr werden unterschiedliche theoretische Positionen diskutiert, in denen die Idee des Unbegreifbaren verhandelt wird. Dies ermöglicht, den Begriff des Unbegreifbaren als Analysegegenstand für die vorliegende Arbeit zu erschließen und eine ›Ästhetik des Unbegreifbaren‹ zu entwerfen. Insofern geht es in diesem Kapitel um eine genaue Lektüre bestehender Ansätze und Theorien, um das Unbegreifbare zu entwickeln und folgende Fragen beantworten zu können: Was ist das Unbegreifbare? Wie gestalten sich die Erfahrung des Unbegreifbaren und die Erinnerung an das Unbegreifbare? Wo lässt es sich verorten? Welche Intensität hat es? Wie kann es von anderen Formen des Erfahrens abgegrenzt werden? Mit dem Begriff des Unbegreifbaren wird nicht ein Alternativbegriff zu bestehenden Konzepten der Theater- und Kunstwissenschaft eingeführt, sondern vielmehr eine in diesen Konzepten immer wieder auftauchende Idee erörtert. Nicht die allgemeine Flüchtigkeit des Theaters wird behandelt, sondern diejenigen Momente, in denen ein Flüchtiges begegnet, das Prozesse des Begreifens nicht nur problematisiert, sondern grundlegend erschüttert. Es wird somit eine der intensivsten Wirkungen im zeitgenössischen Theater und der Gegenwartskunst erschlossen. Ziel dieses Kapitels ist es, durch die theoretische Erörterung des Unbegreifbaren die Praktiken und Erfahrungen zu umschreiben, die häufig mit Performern verbunden werden. Mit dem Begriff des Unbegreifbaren können Performer sowohl im künstlerischen als auch lebensweltlichen Kontext thematisiert werden. Er bietet sich an, um Performances im Theater, in der

Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin: Theater der Zeit 2002; H.-T. Lehmann: »Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik«; Lehmann, HansThies: »Das Denken der Tragödie«, in: Arno Böhler/Susanne Granzer (Hg.), Ereignis Denken. TheatRealität – Performanz – Ereignis, Wien: Passagen 2009. 4

D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 181.

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Kunst und Kultur zu betrachten. Zudem dient er dazu, der besonderen Intensität der Begegnung Ausdruck zu verleihen. Der Begriff des Unbegreifbaren stellt somit nicht einen Analysebegriff dar, durch dessen Erörterung es möglich wäre, diejenigen Performer, um die es in der vorliegenden Arbeit geht, analysieren zu können. Es wird sich herausstellen, dass sie nicht durch die Vorgängigkeit eines theoretischen Begriffs zu erörtern sind, sondern andere Ansätze gewählt werden müssen, um sie überhaupt einer Analyse zugänglich machen zu können. Damit das Unbegreifbare nicht als ein Analysebegriff missverstanden wird, der den Anschein erweckt, man könne mit dessen Hilfe die hier im Zentrum stehenden Performer analysieren, wird in diesem Kapitel von einer Engführung des Begriffs des Performers mit dem Unbegreifbaren Abstand genommen. Als Ausgangspunkt des Kapitels dienen die Überlegungen Merschs (Kap. 1.1). In seiner phänomenologisch geprägten Untersuchung Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen rückt er reflexive Prozesse in den Mittelpunkt, die gestört, unterbrochen und mitunter zum Verstummen gebracht werden. Mehrfach spricht er vom »Unverständlichen«5, dem sich Wahrnehmende stellen müssten. Die phänomenologische Perspektive der Ausrichtung auf Momente wird mit Isa Wortelkamp, Hans-Friedrich Bormann und Rebecca Schneider um die temporale Dimension des Danachs erweitert. Hierbei zeigt sich das Unbegreifbare als ein Phänomen, das gerade auch im Nachwirken statthat. Dies macht es auch notwendig, die Begriffe ›Aufführung‹ bzw. ›Performance‹ zu erweitern, sie nicht nur mit dem momenthaften Erfahren zu verbinden, sondern ebenfalls mit dem Nach- und Weiterwirken. In einem zweiten Schritt werden die Gedanken Merschs mit theaterwissenschaftlichen Begriffen und Diskursen von Fischer-Lichte, Roselt und Lehmann verglichen, in denen die Idee des Unbegreifbaren ebenfalls auftaucht (Kap. 1.2). Die Diskussion stößt auf den Begriff des Erhabenen, sodass Aspekte des Unbegreifbaren vor der Folie des Erhabenen präzisiert werden können (Kap. 1.3). Schlussendlich lässt sich eine Ästhetik des Unbegreifbaren entwickeln, in der die Art und Intensität der Erfahrung deutlich wird (Kap. 1.4).

5

Ebd.

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1. U NBEGREIFBARES

ALS

G EGENSTAND

Mersch denkt Ästhetik als ›Aisthesis‹, als eine Theorie der Wahrnehmung, die sich dem Verhältnis von Wahrnehmung zu Wahrnehmungsobjekt zuwendet.6 Diese Beziehung bestimmt er primär hinsichtlich mentaler Dimensionen, die das Verstehen, Begreifen, Interpretieren und Denken betreffen. Ähnlich wie Roselt geht auch er von einem »Riss inmitten der Wahrnehmung«7 aus. Wahrnehmen vollziehe sich nicht als ein Erfassen oder Begreifen, sondern vielmehr bringe es die Kognition ins Wanken oder sogar gänzlich zum Aussetzen.8 Es sperre sich regelrecht »gegen Erkenntnis und Verstehen«9. Die allgemeine Grundstruktur des Wahrnehmens bringt er mit einer »ursprünglichen Erfahrung eines ›Entzugs‹«10 in Verbindung – einem Entzug, dem auch eine Anziehung anhafte. Das sich in der Wahrnehmung Zeigende vergleicht er mit einem Widerfahrnis, das »gänzlich unbestimmt«11 bleibe und in den Bann ziehe. Der allgemeine sich entziehende Charakter des Wahrnehmens trete in einer Ästhetik des Performativen besonders bewusst in Erscheinung und werde insofern intensiviert. Gerade bei einer Ästhetik des Performativen würde bewusst mit dem Widerfahrnischarakter des Wahrnehmens gearbeitet und insofern mit dem Auftauchen von Augenblicken, die »noch kein ›Als‹ oder ›Was‹ bei sich«12 trügen. Das Wahrnehmungsobjekt rücke »unerklärlich ins Blickfeld« und schlage dabei »in Bann«13. Es zeige sich »in Form einer Fassungslosigkeit, einer Beunruhigung, die auf die Entgrenzung durch eine Alterität«14 verweise. Das Sichzeigende versteht er hierbei als eine Materialität, ein ›Daß‹, das »nicht reflexiv zum Vorschein« komme, sondern lediglich »als Störung, der Plötzlichkeit eines Anderen«15, die unvermittelt und verwirrend

6

Ebd., S. 10.

7

Ebd., S. 43.

8

Vgl. dazu ebd., S. 44.

9

Ebd., S. 15.

10 Ebd., S. 27. 11 Ebd., S. 28. 12 Ebd., S. 19. 13 Ebd., S. 45. 14 Ebd., S. 47. 15 Ebd., S. 44.

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auftauche. »Die Wahrnehmung konfrontiert mit dem Schock des Ungemachten, des Unverfügbaren.«16 Wahrnehmen verbindet er hierbei mit »grundlegenden Erfahrungen des Verwunderns (thaumazein) und Schrecklichen (tremendum) [Herv. i.O.]«17. Diese Erfahrung künde von einem Rätsel, das »die Wahrnehmung nicht minder zu verwirren vermag«18. Durch seinen Fokus auf auffallende und herausfallende Augenblicke geht es Mersch darum, »am Prozess der Wahrnehmung die Signatur des AugenBlicks, gleichsam die Ekstatik des Nichts, den Zauber des Sichentziehenden und damit die Unverfügbarkeit irreduzibler Präsenzen«19 hervorzuheben. Mit Mersch wird das hier zu entwickelnde Unbegreifbare im Sinn eines plötzlich auftauchenden und sich herausschälenden Augenblicks verstanden. Dabei wird in besonderem Maß das ›Andere‹ des Denkens betont: »Die ›Sache‹ aber, die nicht eigentlich als eine ›Sache‹ bezeichnet werden kann, ist das ›Andere‹ des Denkens, das, was sich nicht seinen Kategorien und Zeichen fügt: das ›Entgegenkommende‹, das in die Wahrnehmung hineinsteht, die ›Einzigartigkeit des Augenblicks‹, die sprachlos macht, oder die ›Differenz‹, die keinen Namen duldet, vielmehr aus der Fassung bringt und entsprechend Begriff und Zugriff entmächtigt.«20

Der Begriff des Unbegreifbaren folgt dieser Annahme und wird nicht als ein allgemeines Phänomen zu betrachten sein, das sich in jedem Erfahrensprozess zeigt, sondern er bezieht sich in Anlehnung an Mersch auf besondere, ekstatische und heraustretende Momente.21 In der vorliegenden Arbeit werden jene Momente analytisch und theoretisch untersucht, die sich in einer besonderen Intensität zeigen. Es geht um Wahrnehmungsobjekte, die bewusst mit dem Unbegreifbaren arbeiten und den generellen Widerfahrnischarakter von Erscheinungen steigern, indem sie ihn durch performative Strategien des Inszenierens ins Zentrum des Erfahrens rücken. Die

16 Ebd., S. 33. 17 Ebd., S. 27. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 30. 20 Ebd., S. 11. 21 Vgl. dazu ebd., S. 290.

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Analyse wendet sich somit denjenigen Performern zu, die durch Prozesse inszenatorischer Setzungen unbegreifbar erscheinen. Mit Mersch lässt sich das Unbegreifbare in einem Spannungsfeld, einem ›Zwischen‹, von inszenatorischer Setzung und Erfahrung verorten: »Mal wird so die Seite der actio [Herv. i.O.], der Inszenierung betont, die die performative Kraft, den Eingriff, den Akt der Störung und Transformation gleichwie die Arbeit des Rhetorischen, die Strategien der ›Dislozierung‹ (Derrida) der Zeichen und Orte in den Vordergrund rückt, oder aber die Seite der passio [Herv. i.O.], der Widerfahrung, die das Aisthetische, die Aura berührt. Dabei handelt es sich nicht um Gegensätze oder Alternativen, sondern um Tendenzen.«22

Die Betrachtung von Unbegreifbarem zwischen Performern und Wahrnehmenden folgt somit einer »doppelten Bewegung«23: einerseits der actio, die sich in dem hier vorliegenden Fall den Performern zuwendet und nach den dort stattfindenden Inszenierungsstrategien fragt, andererseits der passio, die sich aus der Perspektive des Widerfahrnisses anzunähern versucht und nach den entstehenden Wahrnehmungen und Erfahrungen fragt. Nach Mersch können beide Seiten nie getrennt voneinander betrachtet werden, sondern die Beschreibung und Analyse tendiert eher einmal in die eine oder andere Richtung. In der Analyse des Unbegreifbaren zwischen actio und passio darf jedoch nicht das Umfeld vergessen werden. Vielmehr müsse berücksichtigt werden, dass das Unbegreifbare »aus einem Kontext heraus«24 geschehe. Auch das Umfeld der Begegnung von Wahrnehmenden und Performern kann somit analytisch wichtig werden. Performer und Wahrnehmende sind gleichfalls als Bestandteile eines sie umgebenden Raumes Umliegendem offen ausgesetzt, sodass sie nicht unabhängig und alleinstehend zu analysieren sind, sondern immer im Kontext vorherrschender Normen oder Muster.25 Beschäftigt man sich mit den Momenten des Unbegreifbaren scheint gerade das Mentale im Erfahrungsprozess fokussiert werden zu müssen, da

22 Ebd., S. 248. 23 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 148. 24 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 291. 25 Vgl. dazu Nancy, Jean-Luc: Corpus, Zürich/Berlin: diaphanes 2003, S. 18.

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durch die sich zeigende Intensität Prozesse des Erkennens, Verstehens und Interpretierens herausgefordert, gestört und unterbrochen werden. Indes betont Arno Böhler, dass gerade »die leibliche Verfasstheit des Denkakts dem denkenden Subjekt [...] erst dort zur elementaren Gewissheit [wird], wo es beim Denken des Gedankens auf elementare Widerstände stößt [Herv. i.O.], die es ihm schwer machen, den Gedanken augenblicklich vorzustellen, um ihn aktuell zu denken«26. Die Erlebenden bekämen regelrecht »die Trägheit, Zähigkeit und Schwerfälligkeit der elementaren Verhältnisse leibhaftig zu spüren«, sodass »die physiologische Verfassung des denkenden Subjekts als solche auffällig [Herv. i.O.]«27 werde. In dieser Formulierung Böhlers sind nicht die mentalen, sondern gerade die körperlichen Dimensionen im Erleben akzentuiert. In der Theaterwissenschaft wird mitunter jene Leibgebundenheit des Erlebens bevorzugt behandelt. Wie sich noch zeigen wird, verbindet Fischer-Lichte den Begriff des Erlebens zuallererst mit leiblich-physischen Transformationen. Mithilfe des Begriffs des Liminalen versteht sie ihn »vor allem als eine Veränderung des somatischen Zustands«28. Mentales sei zwar Bestandteil der Erfahrung, jedoch könne es »ohne den Körper nicht zu denken und zu haben«29 sein. Natürlich soll in der vorliegenden Arbeit nicht behauptet werden, das Unbegreifbare würde keine körperlichen Reaktionen zeitigen oder zu keinen Veränderungen von »Körperzuständen«30 der Erfahrenden führen können. Der Leibgebundenheit des Denkens, Verstehens und Interpretierens wird hier nicht widersprochen, jedoch werden körperliche Transformationen der Erlebenden im Konzept des Unbegreifbaren zugunsten mentaler Prozesse vernachlässigt. Unbegreifbares wird nicht als eine primär körperliche Angelegenheit

26 Böhler, Arno: »Vorwort. TheatReales Denken«, in: Ders./Susanne Granzer (Hg.), Ereignis Denken. TheatRealität – Performanz – Ereignis, Wien: Passagen 2009, S. 17. 27 Ebd., S. 18. 28 Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel: A. Francke 2010, S. 63. 29 Fischer-Lichte, Erika: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 151. 30 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 63.

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gefasst, erscheint doch gerade die Bewegung und Bewegtheit der Kognition zentral für das Erleben zu sein. Eng mit dem Problematischwerden kognitiver Vorgänge ist jedoch eine andere Erfahrensdimension verknüpft. Es handelt sich um starke Affekte, die immer auch das Geschehen begleiten, prägen und beeinflussen. Mersch lässt die intensiven Gefühlswelten im Erleben in seinem primär auf reflexive Dimensionen gerichteten Erfahrungsbegriff anklingen. Immer wieder spricht er von Gefühlen der Faszination und Überwältigung, des Erstaunens und Schocks, der Verwunderung und Beunruhigung. Gerade diese Gefühle, so wird in Anlehnung an Mersch behauptet, prägen das Erleben des eher auf Mentales bezogenen Unbegreifbaren maßgeblich mit. Mentales, so lässt sich schlussfolgern, ist nicht unabhängig von Gefühlen zu verstehen; sie sind mit Prozessen des Verstehens unmittelbar verschränkt. Eine Analyse des Unbegreifbaren muss dieser Verbindung von Affektion und Kognition im Erleben gerecht werden, wenn sie nach dem Problematischwerden von Prozessen des Denkens, Begreifens und Interpretierens fragt. Gegenstand der Betrachtung sind somit Momente des Unbegreifbaren, die insbesondere kognitive, aber auch affektive Erfahrensdimensionen betreffen. Ein Zeitraum kürzester Dauer rückt ins analytische Zentrum. Der Begriff des Moments (lat. momentum) gemeinsam mit dem äquivalenten Begriff ›Augenblick‹, der ebenfalls mit dem Lateinischen ›momentum‹ übersetzt wird, umschreibt eine kurze Zeitspanne.31 Mersch geht es darum, am Prozess der Wahrnehmung die Signatur des Augenblicks herauszuarbeiten, also die auffallende und herausfallende Ekstatik des Moments. Er bricht innerhalb einer Sukzession heraus und wird auffällig. Insofern ist er ekstatisch, da er aus Ordnungen herausfällt.32 Im Rahmen dieser Arbeit gilt es, plötzlich herausschälende Momente des Unbegreifbaren analytisch zu betrachten. Jedoch sehen sich Wahrnehmende auch länger anhaltenden Performances des Unbegreifbaren konfrontiert. Es sind nicht immer nur punktuelle Momente unbegreifbarer Intensität, sondern es kann auch ein Fortdauern des Unbegreifbaren sein, das mitunter die ganze Zeitspanne einer Performance andauert. Dennoch scheint auch hier der analytische Kernge-

31 Vgl. dazu Wolf, Norbert Christian: »Augenblick«, in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 42. 32 Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 30.

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genstand ein Augenblick zu sein. Jens Roselt versteht Augenblicke im Sinn von kleinsten Erinnerungseinheiten.33 Erinnert man sich an eine länger andauernde Performance des Unbegreifbaren, hat man es trotz allem mit Erinnerungsmomenten zu tun, die beschrieben und analysiert werden. Es sind Augenblicke, die derart markant waren, dass sie in besonderer Weise in Erinnerung bleiben. Später wird dieser Aspekt mit Roselts markanten Momenten zu vergleichen sein. Performances des Unbegreifbaren sind somit eine Sukzession von unbegreifbaren Momenten, wobei einige besonders in der Erinnerung nachhängen. Bisher hat es den Anschein, als würde das Unbegreifbare lediglich in der temporalen Perspektive des Moments zu verorten sein. Jedoch zeigt sich diese Sichtweise als nicht ausreichend für eine umfassende Erörterung des Phänomens. Da die Aufmerksamkeit auf ein Unbegreifbares gelenkt wird, kann es im Moment, wie schon betont, nicht erfasst werden, sondern vielmehr »erst nachträglich zur ›Spur‹«34 werden. So kann behauptet werden, dass das Unbegreifbare als Unbegreifbares überhaupt erst im Nachhinein, beim Heraustreten aus dem Moment, manifest wird; im Moment selbst ist es eher eine Leerstelle, ein Blitz, ein sich radikal Entziehendes. Es ist im Moment derart unbegreifbar, dass es Erfahrende erst im Nachhinein als Unbegreifbares realisieren können. Insofern zeigt sich Unbegreifbares überhaupt erst aus einer nachträglichen Perspektive, wenn es das Nachdenken ankurbelt und dazu auffordert, sich erneut erinnernd, beschreibend und analysierend in den unbegreifbaren Moment zu begeben. Im Nachhinein wird es überhaupt erst möglich, zu realisieren, was einem widerfahren ist. Mersch spricht davon, dass das Sichzeigende im Moment nicht reflexiv zum Vorschein komme, aber nachträglich geradezu »zu denken«35 geben würde. Es würden Bemühungen folgen, die sich mit der »Entzifferung der ›Spur‹«36 beschäftigten:

33 Vgl. dazu Roselt, Jens: »Erfahrung im Verzug«, in: Erika Fischer-Lichte/Clemens Risi/Ders. (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 34. 34 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 13. 35 Ebd. – Vgl. dazu ebd., S. 18. 36 Ebd., S. 19.

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»Solche Entzifferungsarbeit entspringt [Herv. i.O.] vornehmlich einer Differenzerfahrung, dem Riss oder der Lücke, die zwischen Zeichen klafft und sich der Bezeichnung oder der Sagbarkeit sperrt. Im Wahrnehmungsgeschehen wird also nicht nur ein Sichentziehendes ausgemacht, vielmehr wird die Wahrnehmung umgekehrt von einem Sichentziehenden her erschlossen.«37

Aus dem Moment heraus entspringe regelrecht ein unbedingtes Bedürfnis, die unsagbare Differenzerfahrung im Nachhinein entziffern zu wollen. Mersch unterstreicht diesen Gedanken mit der von Wittgenstein stammenden Verbindung des Sichzeigenden mit einem Enigmatischen, Rätselhaften. Das Rätsel komme von einem Anderen her und zwinge in seiner Gewahrung regelrecht zum Antworten, zum Nachdenken und Reflektieren.38 In diesem Sinn kann behauptet werden, dass ein sich momentan entziehendes Rätsel zu einer nachträglichen Enträtselung auffordert, auch oder gerade wenn das Rätsel derart unbegreifbar ist, dass es nie zu lösen ist. Mit Wittgenstein umschreibt Mersch ein Rätsel als etwas, das keine Lösung kenne, denn sonst wäre es keines mehr.39 In diesem Sinn wird hier auch das Unbegreifbare gefasst, als ein Phänomen, das auch im Danach nicht in ein Greifbares umgewandelt werden kann. Eine nachträgliche Analyse ist nie in der Lage, das Unbegreifbare in ein Begreifbares umzuwandeln. Wie auch das Rätselhafte wird es nie vom Verstehen eingeholt. Die einsetzende Entzifferungsarbeit, die Analyse, wird dadurch nicht negiert, sondern geradezu aufgefordert und herausgefordert, jedoch immer in dem Wissen, dass es das Unbegreifbare nie zu greifen bekommt, sondern nur ansatzweise zu berühren in der Lage ist. Lediglich ansatzweise, so soll hier behauptet werden, kann das Unbegreifbare durch die Bewegung der Erinnerung, Beschreibung und Analyse berührt werden. Ausdrücklich verknüpft Mersch Kunstwerke mit dem Rätselhaften, wobei er Bezug auf Adorno nimmt: »Kunstwerke sind nicht von der Ästhetik als hermeneutische Objekte zu begreifen; zu begreifen wäre [...] ihre Unbegreiflichkeit.«40 Mersch betont, dass es künstlerische Formen gebe, die

37 Ebd. 38 Vgl. dazu ebd., S. 27, 29 und 33. 39 Vgl. dazu ebd., S. 139. 40 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 179. – Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 144.

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das Rätselhafte noch intensivierten und auf diesem Wege zu einem nachträglichen Beschäftigenmüssen geradezu aufforderten. Inszenierungen, die eben nicht »ein Naheliegendes« präsentierten oder »alles bereitwillig«41 zeigten, würden auf besondere Weise ergreifen. Denn ein »Ungreifbares« bliebe bestehen, »woran sich die Interpretation herausgefordert fühlte und woran sie sich verlöre«42. Diese Inszenierungen fänden Strategien, die »die Interpretation heraus[...]fordert«43 und somit zur nachträglichen Reflexion anregten. Eine anschließende Reflexion, eine Analyse, drängt sich geradezu auf. Sie gehört zur Erfahrung des Unbegreifbaren dazu. Einer vom Verstehen nicht erfassten Spur wird im Danach reflexiv nachgegangen. Die Analyse widmet sich einer vergangenen Wahrnehmungssituation und versucht sich ihr erinnernd, beschreibend und analysierend anzunähern. Temporales Überlappen von unbegreifbaren Momenten Erweitert man die Erörterung des Unbegreifbaren um die temporale Dimension des Danachs, wird damit nicht automatisch die momentane Sichtweise negiert. Ganz im Gegenteil hat sich bei Mersch gezeigt, dass das momentane Widerfahren als ursprünglicher Ausgangspunkt des Unbegreifbaren mit einem Nachwirken einhergeht. Trotz der temporalen Verschiebung ins Nachhinein entspringt das Unbegreifbare trotz allem dem momentanen ›Zwischen‹; es geht von einer flüchtigen Begegnung aus, die derart unbegreifbar ist, dass sie erst beim Heraustreten als diese in voller Kraft in Erscheinung tritt. Als Nachdenkender begibt man sich nun im Modus des Erinnerns in den vergangenen und vergänglichen Moment. Die Bewegung der Nachwirkung richtet sich somit wiederum in die Vergangenheit und versucht das unbegreifbare Rätsel zu enträtseln. Der Moment und das Danach verschränken sich, Vorher und Nachher werden aufeinander bezogen. Dies geht mit einer temporalen Überlappung einher: Im Danach wird man eines vergangenen Moments gewahr. Ein Vergangenes wird durch die Bewegung der Erinnerung und das imaginative Hineinversetzen gegenwärtig.

41 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 181. 42 Ebd. 43 Ebd.

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Gegenstände der Analyse sind somit einerseits das momentane Unbegreifbare, andererseits das Nachwirken des Unbegreifbaren. Das Unbegreifbare zeigt sich als ein Phänomen, das nicht nur einem ›Zwischen‹ aus momentaner Erfahrung und inszenatorischer Setzung entspringt, sondern sich auch und gerade als Nachwirkung manifestiert. Mit diesem Gedanken müssen phänomenologische Analysen, die sich zumeist nur dem Momentanen zuwenden, um die temporale Perspektive des Danachs erweitert werden. Die Phänomenologie geht bevorzugt von momentanen und augenblickhaften »Wahrnehmungssituation[en]«44 aus, die sich zwischen Wahrnehmungsobjekt und -subjekt abspielen. So schreibt Martin Seel: »Diese Konzentration auf das momentane Erscheinen der Dinge aber ist stets zugleich eine Aufmerksamkeit für die Situation der Wahrnehmung ihres Erscheinens – und damit eine Rückbesinnung auf die unmittelbare Gegenwart [Herv. i.O.], in der sie sich vollzieht.«45

Seel kommt es auf »die momentane, individuelle Präsenz der jeweils wahrgenommenen Erscheinungen«46 an; es geht ihm um die Betrachtung des »Augenblick[s] hier und jetzt«47. Der Privilegierung des momenthaften ›Zwischen‹ folgt auch weitgehend die aufführungsanalytische Theorie und Praxis, die Aufführungen oft auch in direkter Anlehnung an Martin Seel als ein Zwischengeschehen verstehen.48 Geht man aber vom Unbegreifbaren aus, sieht man sich gezwungen, die rein momentorientierte Sichtweise um die Perspektive des Danachs zu erweitern. An der doppelten temporalen Perspektive des Unbegreifbaren muss sich die Analyse orientieren. Die temporale Überlappung wird jedoch noch komplexer. Wenn sich ein Moment aus einer Performance herausschält, erfahrbar wird und sich im Nachhinein als ein Moment des Unbegreifbaren manifestiert, bewegt sich

44 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 45. 45 Ebd., S. 38. 46 Seel, Martin: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 266. 47 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 39. 48 Vgl. dazu exemplarisch J. Roselt: Phänomenologie des Theaters.

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die Performance danach trotz allem weiter. Das Erinnern und reflexive Nachwirken legt sich folglich über das gegenwärtige Weitergehen der Performance. Unter Umständen vollzieht sich im Moment des Nachwirkens des zuvor Unbegreifbaren ein gegenwärtig neuer Moment des Unbegreifbaren, sodass es das Erleben des noch in der Erinnerung präsenten Unbegreifbaren verändert, konterkariert, ergänzt oder sogar potenziert. Das Unbegreifbare könnte sich demnach durch das vielschichtige Überlagern verschiedener Zeiten ins Extrem steigern. Einerseits wirkt ein Unbegreifbares nach, während andererseits ein gegenwärtiges Unbegreifbares gerade statthat. Dieses zeitliche Überlagern kann prinzipiell ins Unendliche – je nach Dauer der Performance – potenziert werden. Mit dem Gedanken des zeitlichen Überlappens geht eine weitere Annahme einher: Das Unbegreifbare kann nicht als ein Verlust gedacht werden. Vielmehr wäre es ein Bleibendes, Weiterwirkendes und Fortdauerndes, das jederzeit wieder in der Erinnerung aufscheinen kann und das aktuell Gegebene zu beeinflussen vermag. Das Unbegreifbare nötigt sogar zu einem zeitlichen Überlagern, da es ein Nachdenken anregt, sodass man sich gezwungen fühlt, sich des vergangenen Moments erneut erinnernd, beschreibend, analysierend imaginativ gewahr zu werden. Das Nachwirken der Performance Die Perspektive des Nachwirkens und Weiterwirkens und die damit einhergehende Möglichkeit der temporalen Überlappung von Unbegreifbarem bezieht sich auf Gedanken Hans-Friedrich Bormanns, Isa Wortelkamps und Rebecca Schneiders. Sie wenden sich gegen die in Diskursen der Performance Studies und Theaterwissenschaft vorherrschenden Annahme, das momentane und flüchtige Hier und Jetzt der Aufführung als einen Verlust zu denken. Vielmehr gehen sie von einem Fortdauern aus, einem Bleiben, das über die Dauer der Aufführung bzw. Performance hinausreicht. Man könne der Aufführung gerade in der Erinnerung immer wieder neu und anders gewahr werden.49 Gerade für das erinnernde, nachträgliche Beschreiben und Analysieren drängt sich diese Verschiebung und Erweiterung der Perspektive regelrecht auf.

49 Vgl. dazu H.-F. Bormann: »Bewegung der Aufzeichnung«, S. 26.

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Der noch kaum gestellten Frage nach dem möglichen Einbezug des Danachs in Aufführungsanalysen, die mit einer Überlappung verschiedener temporaler Ebenen einhergeht, wird in dieser Arbeit nachgegangen. Welche Auswirkungen hat die Dimension des Nachwirkens und Manifestwerdens des Unbegreifbaren für die bisher eher momentorientierte Aufführungsanalyse? Bormann entwickelt in seinem Aufsatz »Bewegungen der Aufzeichnung. Über Aufführungsanalyse« eine theaterwissenschaftliche Perspektive auf Aufführungen, die vom Gedanken des Nachwirkens, Fortdauerns und Sistierens von Aufführungen ausgeht. Damit entwickelt er ein Aufführungsverständnis, »welche[s] die Ereignishaftigkeit der Aufführung«50 und die momentorientierte Wahrnehmungsperspektive übersteigt. In der Geschichte der Theaterwissenschaft, so betont auch Wortelkamp, werde das Flüchtige »weitestgehend als Verlust« dargestellt, im Sinn eines »verlorenen Ereignisses«51. Im Gegensatz dazu denkt Bormann das Flüchtige als ein Fortdauerndes und Weiterwirkendes. »Aufführung erscheint dann nicht mehr als ein prinzipiell abwesender [...] Gegenstand, [...] sondern als ein in Bewegung befindlicher, und das heißt: prinzipiell unabgeschlossener, zur Zukunft hin offener Prozess.«52 Eine Aufführung sei demnach nicht verloren oder abwesend, sondern »sie hört nicht auf, sich zu vollziehen [Herv. i.O.]«53. Gehe man vom Begriff der Erfahrung aus, der seinerseits ein »prozesshaftes und kontinuierliches (und das heißt: sich kontinuierlich veränderndes) Geschehen ist, das einer Analyse nur insofern zugänglich ist, wie es sich in ihr fortschreibt«54, sei eine Aufführung nie stillzustellen und insofern sistiere sie, wirke sie nach und weiter. »[M]it jedem individuellen Akt des Erinnerns« oder durch jeden »Versuch der nachträglichen Vergewisserung, in und mit jeder medialen Aufzeichnung und nicht zuletzt in und mit den Projekten ihrer Versprachlichung«55 werde die Aufführung verändert und bleibe in Bewegung, sodass sie nicht als abgeschlossen verstanden werden könne. Durch das Erinnern werde man erneut mit dem »Moment

50 Ebd., S. 23. 51 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 39. 52 H.-F. Bormann: »Bewegung der Aufzeichnung«, S. 24. 53 Ebd., S. 26. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 5.

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des Entzugs konfrontiert«, der jedoch »nicht die Aufführung, sondern unser Gedächtnis«56 betreffe. Im Gedächtnis der Wahrnehmenden transformiert sich die Aufführung ständig weiter. Bormann spricht von einem »Entzug zweiter Ordnung«57. Analysiert man Aufführungen, begebe man sich in diese »unaufhörliche[...] Bewegtheit«58. Auch Wortelkamp spricht sich dafür aus, »das Transitorische nicht länger als Verlust zu begreifen«59. Durch das nachträgliche Verschriftlichen werde die einst gegenwärtige Aufführung neu und anders gegenwärtig und sie sei deshalb nicht als Verlust zu denken. »Das einstmals Gegenwärtige wird aus dem Blick des Erinnernden Vergangenheit, die aber im Augenblick der Erinnerung als Erinnerung eine wiederum eigene Gegenwart erhält. Eine Gegenwart, die in der Aufzeichnung lesbar und mit der Lesung schließlich erneut und anders gegenwärtig wird.«60

Schneider entwirft in ihrem Buch Performing Remains einen ähnlichen gedanklichen Grundgestus. Bisher werde die Theater- und Performancekunst der 1960er und 1970er als »non-reproducable« verstanden, als existiere sie nur »as one-time events«: »Such work was considered completely contingent, lost to an irretrievable ›then‹ that was only fleeting ›now‹ at the time of its singular articulation.«61 Schneider besteht jedoch darauf, dass »to the contrary, the live is a vehicle for recurrence«62. Sie wendet den Gedanken des Wieder- und Neuerscheinens auf Reenactments an, bei denen, paradox gesprochen, das Vergangene nicht vergangen ist, sondern in der Gegenwart wiederkehrt, nicht verloren ist, da es zu einer Verflechtung von »then and now«63 komme: »I ask after the possibility of temporal recurrence and explore the theatrical claim lodged in the logic of reenactment that the past is

56 Ebd., S. 8. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 22. 59 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 14. 60 Ebd., S. 133. 61 R. Schneider: Performing Remains, S. 28. 62 Ebd., S. 29. 63 Ebd., S. 19.

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not (entirely) dead, that it can be accessed live [Herv. i.O.]«64. »The zillion details of the act of interpretation in an act of live repetition make the pastness of the past both palpable and a very present matter [Herv. i.O.].«65 Schneider bezieht die Gedanken des Wiederkehrens eines Vergangenen und die Möglichkeit des Berührens einer vergangenen Zeit in der Gegenwart nicht nur auf Reenactments, sondern überträgt sie auch auf eine allgemeine theoretische Ebene.66 Performance soll eben nicht nur über die Fetischierung des vergangenen und verlorenen Moments gefasst werden, sondern eben auch über das Bleibende, Weiterwirkende und Wiederauftauchende.67 Hiermit hinterfragt sie die in den amerikanischen Performance Studies vorherrschende Profilierung des Momentanismus. Das Flüchtige und das Verschwinden – »disappearance-as-loss«68 – stehe im methodischen Zentrum der Performance Studies. Schneider geht es jedoch darum, das Wiederkehren zu thematisieren und Performance eben nicht vom Verschwinden her zu denken, sondern umgekehrt vom Akt des Bleibens (»act of remaining [Herv. i.O.]«) und Wiederauftauchens (»re-appearance«69). »This book, then, troubles the prevalence of presentism, immediacy, and linear time in most thinking about live performance.«70 Sie untersucht »the warp and draw of one time in another time«71. Mit ihrer Annahme, Vergangenes könne in der Gegenwart wieder auftauchen und berührbar werden, negiert sie das lineare Verständnis von Zeit und spricht stattdessen in Anlehnung an Gertrude Stein von »syncopated time«, einer aufgebrochenen oder verschobenen Zeit, von der »theatricality of time [Herv. i.O.]«72: »ti-

64 Ebd., S. 17. 65 Ebd., S. 30. 66 Vgl. dazu auch Roselt, Jens/Otto, Ulf: »Nicht hier, nicht jetzt. Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript 2012. 67 Vgl. dazu R. Schneider: Performing Remains, S. 102. 68 Ebd., S. 96. 69 Ebd., S. 101. 70 Ebd., S. 6. 71 Ebd. 72 Ebd.

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me plays forward and backward and sideways«73. Performances seien nicht verloren, sondern im Gegenteil sei es möglich, ihnen in einer »re-vision«, »rememory«, »re-gesture«, »re-affect«, »re-sensation«74 erneut gewahr zu werden. Die Aufführung bzw. Performance wird insofern nicht als abgeschlossen verstanden, wenn man als Zuschauer den ko-präsenten Vollzug verlässt, sondern als weiterwirkend. In der Weiterwirkung vermag sich die Aufführung oder Performance durch Prozesse des Erinnerns und Versprachlichens zu verändern. Dieses Neudenken des Aufführungs- bzw. Performancebegriffs impliziert, dass es möglich ist, den vergangenen Moment der Erfahrung als ein Neues und Anderes, als ein In-VeränderungBegriffenes, erneut gewahr zu werden. Das Unbegreifbare, das in einer doppelten temporalen Perspektivität gedacht wird, macht es notwendig, den bisher primär momentorientierten Aufführungs- bzw. Performancebegriff um die Perspektive des Danachs zu erweitern. Denn gerade im Danach finden wesentliche Prozesse statt: Das Unbegreifbare, das im Moment, im ›Zwischen‹ von Performern und Wahrnehmenden, wegen seines unsagbaren Charakters nicht manifest werden kann, sondern sich vielleicht nur als ein begriffloses Stottern, Stammeln und Staunen zeigt, manifestiert sich erst danach als ein ständig nachwirkender und weiterwirkender Eindruck. Im Nachhinein nimmt das Unbegreifbare durch die Arbeit des nachträglichen Beschäftigens überhaupt erst gestalthafte Umrisse an. Im Danach erhält das Unbegreifbare eine fragile und bewegliche Existenz – oder besser: ›Exsistenz‹. Mersch wendet ebenfalls den von Schelling entlehnten Begriff der »Ex-sistenz«75 an. Mersch betont damit jedoch eher das Ekstatische, das Heraustreten aus Ordnungen und insofern den Widerfahrnischarakter. In dieser Arbeit soll damit das Fortdauern und Nachwirken – der sistierende Charakter des Unbegreiflichen – akzentuiert werden und die Annahme, dass sich das Unbegreifbare im Nachhinein manifestiert. Erst im Danach lässt sich das momentan Unbegreifbare ansatzweise berühren. Generell geht es um jenes Unbegreifbare, das im Nachhinein nicht vom Verstehen wieder geglättet werden kann. Es wird von einem Sistieren des Unerklärlichen ausgegangen, das zu einem gewalthaften Nachspüren nach den Ursa-

73 Ebd. 74 Ebd. 75 Vgl. beispielsweise D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 15 und 134.

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chen des Unbegreifbaren führt, diese aber nie auf den Punkt zu bringen vermag. Grenzen des Schreibens Die übergreifende Frage stellt sich nun: Wie könnte das Unbegreifbare der theaterwissenschaftlichen Betrachtung von Performances zugänglich gemacht werden? Die Analyse steht hierbei vor nicht einfach zu lösenden Aufgaben, wirft das Unbegreifbare doch regelrecht das Problem der Beschreibbarkeit auf. Mersch verbindet das Unbegreifbare mit dem Begriff des Anderen – »einem Anderen als einem Unaussprechlichen«76. Das Andere gerate so »rasch an den Rand des Ausdrückbaren« und werfe immer »die Frage seiner Beschreibbarkeit«77 auf. Wahrnehmende seien mit einem Unsagbaren konfrontiert, das den Ordnungen der Schrift entgegenstehe und sich der Usurpation durch sie widersetze.78 Dies führe zu einer »Inadäquanz einer Beschreibung«, die »vor den unverständlich gewordenen Manifestationen fassungslos«79 werde. Ein »Nullpunkt« entstehe, »an dem die bisherigen Kategorien sinnlos«80 würden. Mersch geht davon aus, dass dies »eine Umgestaltung nahezu sämtlicher Kategorien der Beschreibung«81 impliziere. Eine Sprache müsse gefunden werden, die »die Erfahrung eines Fremden oder vielmehr: das Fremdwerden der Erfahrung selbst«82 betone. Es scheint, als sei hierfür ein »Übergang zu einer anderen Sprache«83 notwendig, deren Schreibweise Mersch offen hält. Nicht nur der Moment, sondern auch das Nachwirken des unbegreifbaren Moments werden für die erinnernde Beschreibung und Analyse schwerwiegende Herausforderungen sein. Nicht nur das Problem, dass Un-

76 Ebd., S. 182. 77 Ebd., S. 11 und 248. 78 Vgl. dazu ebd., S. 140. 79 Ebd., S. 170. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 19. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 170.

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begreifbares generell ein Beschreiben und Analysieren an ihre Grenzen führt, auch noch zusätzlich die Erkenntnis, dass sich ein Schreiben angesichts der temporalen Überlappung, der Verschmelzung unterschiedlicher Zeitpunkte, noch verkompliziert. Die Beschreibung muss demnach das Unbegreifbare im Moment selbst nachspüren und auch im Nachwirken das Nachdenken über den vergangenen Augenblick deutlich machen, während eventuell gegenwärtig zusätzlich etwas geschieht.

2. ANSÄTZE

DER

T HEATERWISSENSCHAFT

In der Theaterwissenschaft zeigt sich das Unbegreifbare zumeist als das Ungreifbare der Aufführung. Weitestgehend wird es im Sinn eines Flüchtigen und Transitorischen gesehen. Wortelkamp greift diesen Gedanken auf und wählt hierfür die Bezeichnung: das »Un(be)greifbare«84. Es wird als Ephemeres, Flüchtiges und Ereignishaftes mit den »spezifischen Eigenschaften«85 des Theaterereignisses verknüpft. Insofern versteht sie es als die für Aufführungen spezifische »sinnliche Erfahrung«86. Jedoch das Unbegreifbare, um das es in der hier vorliegenden Arbeit geht, ist im Gegensatz dazu etwas anderes; es ist mehr. Indem es über die allgemeine Flüchtigkeit noch hinausreicht, charakterisiert es nicht jede Aufführung. Vielmehr ermöglicht es sinnliche Erfahrungen, die nicht in jeder Aufführung zu machen sind, wie es schon bei Mersch deutlich wurde. Wortelkamp deutet diesen Charakter des Unbergeifbaren an, der die allgemeine Flüchtigkeit übersteigt. Es gebe in der gegenwärtigen Theaterpraxis Inszenierungen, die »das Transitorische potenzieren, indem sie die Wahrnehmung in den Prozess des Entstehens und Vergehens von Bewegung einbinden und nach ihrem Erscheinen sich selbst überlassen«87. Sie entzögen sich »greifbaren Sinnzuweisungen und buchstäblichen Festschreibungen«, sodass »das Flüchtige eine Steigerung«88 erfahre. Auch HansThies Lehmann betont ähnlich wie Mersch, dass das postdramatische Thea-

84 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 39. 85 Ebd., S. 117. 86 Ebd., S. 129. 87 Ebd., S. 167. 88 Ebd., S. 14.

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ter »noch einmal die pragmatische Wirklichkeit des ephemeren Charakters, der dem Theater als solchem eignet«89, überbiete, steigere und insofern ausdrücklich ausstelle. Ausgehend von dieser Behauptung kann das Unbegreifbare als ein Phänomen entwickelt werden, das sich zwar auf die allgemeine Flüchtigkeit der Aufführung bezieht, sie aber auch gleichzeitig übersteigt, indem es sich nur in besonderen Momenten zeigt. Das Ungreifbare der Aufführung erhält als Unbegreifbares eine Steigerung; das ungreifbare Geschehen erscheint zusätzlich unbegreifbar. Insofern wird im folgenden Abschnitt das Phänomen des Unbegreifbaren als ein die Flüchtigkeit der Aufführung Übersteigendes und Intensivierendes zu erörtern sein. Hierfür gibt es in der Theaterwissenschaft Begriffe und Modelle, die durchaus in die Nähe des bisher entwickelten Unbegreifbaren rücken, jedoch zum Teil auch in eine andere Richtung tendieren. In der vorliegenden Untersuchung wurde es bisher in einer doppelten Bewegung grob verortet: Das Unbegreifbare zeigt sich in einem ›Zwischen‹ von Erfahrung und inszenatorischer Setzung sowie als Nachwirkung, bei der es als Unbegreifbares manifest wird und in diesem Sinn weiterwirkt. Diese doppelte Bewegung soll in den folgenden Abschnitten weiterhin mithilfe folgender Fragen präzisiert werden: Wie lässt sich die Erfahrung des momenthaft-situativen ›Zwischens‹ theoretisch umkreisen? Was lösen Momente des Unbegreifbaren im unmittelbaren Danach aus? Wie könnte das Nachwirken, Sistieren und Manifestwerden des Unbegreifbaren im Danach theoretisch gefasst werden? Das Unbegreifbare soll im Folgenden mit Denkmodellen aus der Theaterwissenschaft von Fischer-Lichte, Roselt und Lehmann verglichen und theoretisch erörtert werden. Das Kapitel wird über die Diskussion theaterwissenschaftlicher Modelle auf den philosophischen Begriff des Erhabenen überleiten, der theaterwissenschaftlichen Konzeptionen direkt oder indirekt zugrunde liegt. Liminale Situationen Der Begriff des Liminalen wird in der Theaterwissenschaft für Schwellenerfahrungen, Prozesse der Grenzüberschreitung und Zustände des ›Zwi-

89 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 26.

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schen‹ verwendet. Eine liminale Erfahrung lässt Vertrautes hinter sich, sodass man sich in einem labilen Zwischenzustand befindet, in dem nichts sicher zu sein scheint. Fischer-Lichte verbindet das Liminale mit Erfahrungen der »Instabilität«, »Irritation« und »Destabilisierung von Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung«90. Wer eine liminale Erfahrung mache, müsse »vorübergehend ohne feste Position, ohne verlässliche Beziehungen, ohne vertraute Umgebung, ohne klare Regeln und eindeutig definierte Aufgaben auskommen«91. Der Begriff des Liminalen wird von Fischer-Lichte im Kontext des Aufführungsbegriffs angesiedelt. Hierbei ermögliche er, so Matthias Warstat, insbesondere »den Wirkungen performativer Prozesse bzw. den Erfahrungen ihrer Teilnehmer nachzugehen«92. Insofern drängt sich eine Erörterung des Unbegreifbaren in Performances aus dem Blickwinkel des Liminalen auf. Ursprünglich stammt der Liminalitätsbegriff weder aus der Kunsttheorie noch der philosophischen Ästhetik, sondern aus der Ritualtheorie. Victor Turner und auch Richard Schechner haben ihn maßgeblich geprägt und anhand des von Arnold van Genneps in Les rites de passages (1909) erarbeiteten Konzepts der Übergangsriten entwickelt. Übergangsriten besäßen eine Schwellen- oder Transformationsphase, in denen die Teilnehmenden in einen Zustand der Liminalität, der Schwellenerfahrung, versetzt würden.93 In dieser Transformationsphase, die nach der Trennungsphase und vor der Inkorporationsphase einen labilen Zwischenzustand umschreibe, »wird/werden der/die zu Transformierende(n) in einen Zustand ›zwischen‹ allen möglichen Bereichen versetzt, der ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen«94 ermögliche. Fischer-Lichte überträgt diese liminale Situation in Riten umfassend auf die Erfahrung von Aufführungen und Performances. Grundsätzlich sei das Erleben jeglicher Formen von Aufführungen und Performances als liminal zu verstehen.

90 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 60 und 63. 91 Warstat, Matthias: »Liminalität«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Ders. (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 188. 92 Ebd. 93 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 305. 94 Ebd.

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»Immer wieder hat sich gezeigt, dass die ästhetische Erfahrung, die Aufführungen ermöglichen, sich zuallererst als eine Schwellenerfahrung beschreiben lässt, die für den, der sie durchläuft, eine Transformation herbeizuführen vermag. Für eine Ästhetik des Performativen ist diese Art der ästhetischen Erfahrung offensichtlich von großer Bedeutung. Denn sie ist unmittelbar auf die Ereignishaftigkeit der Aufführung bezogen.«95

Liminalität bestimmt Fischer-Lichte als eine besondere Form der ästhetischen Erfahrung, der Schwellenerfahrung, die jegliche Aufführungssituationen kennzeichne. Hierbei setzt sie körperliche Veränderungen der Erlebenden in den Mittelpunkt der liminalen Erfahrung. Sie gehe »häufig mit starken Empfindungen und Gefühlen einher, mit Veränderungen des physiologischen, energetischen, affektiven und motorischen Zustands«96. »Der Zustand der Liminalität wird zuallererst als eine leibliche Transformation erfahren.«97 Die mental-kognitiven Aspekte im liminalen Erleben bestreitet sie zwar nicht, jedoch rückt sie die Veränderung des körperlichen Zustands ins Zentrum. Liminalität werde hierbei »nicht nur als eine kognitive Irritation, sondern auch und vor allem als eine Veränderung des somatischen Zustands bewusst und erlebbar«98. Obwohl das Liminale im Gegensatz zum insbesondere mithilfe von Mersch entwickelten Unbegreifbaren primär körperlich verstanden wird, auf jegliche Aufführungssituationen Anwendung findet und eher nicht besondere Momente der Abweichung umschreibt, besteht trotz allem eine Nähe zum Phänomen des Unbegreifbaren. Insbesondere bei Fischer-Lichtes theoretischen Umschreibungen der Destabilisierung des Bedeutungssystems der Rezipienten, also ihrer Erörterung der mentalen Seite des Liminalen, die ihren Ausgang von leiblichen Veränderungen nehme, lassen sich für das Phänomen des Unbegreifbaren wichtige Beobachtungen ableiten.99 Im momentanen Erfahren des Liminalen komme es zu einem »bewusst probeweisen Einsetzen der eigenen Bedeutungen, das im weiteren Verlauf

95 Ebd. 96 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 62. 97 Ebd., S. 63. 98 Ebd. 99 Vgl. dazu E. Fischer-Lichte: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, S. 150f.

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der Rezeption immer wieder korrigiert werden«100 müsse. Rezipienten müssten tentativ »verschiedene Interpretationsrahmen«101 setzen und sie immer wieder durch andere zu ersetzen suchen. Dieser mentale Prozess befinde sich in einer ständigen Veränderung, die sich »in einer ungeheuren Verdichtung, Intensität und Beschleunigung vollzieht«102. Der Prozess des Verstehens und Interpretierens gestaltet sich, so lässt sich schlussfolgernd behaupten, als ein ständiges Suchen, Verwerfen und Neuansetzen. In der Phase der Destabilisierung befindet er sich in einer ständigen Bewegung, Veränderung und Transformation – Annahmen also, die dem Phänomen des Unbegreifbaren, wie es bisher erörtert wurde, nahe kommen. Im Moment des Erlebens greift kein Interpretationsrahmen, sodass tentativ neu und anders gedacht werden muss. Die Kognition gerät in eine intensivierte Bewegtheit, in der ein Begreifen gestört, unterbrochen und verhindert wird. Fischer-Lichte untersucht das Liminale fast ausschließlich für die momentan-situative Wahrnehmung. Die Frage nach dem Nachwirken liminaler Erfahrungen stünde nicht im Fokus der Betrachtung, sondern »nur diejenigen Transformationen, die im Prozess der Wahrnehmung durchlaufen werden, nicht aber solche, die sich erst nach dem Ende der Aufführung einstellen«103. Doch trotzdem deutet sie Auswirkungen an, die gerade für die Erörterung des Nachwirkens von Unbegreifbarem interessant sind. Ein liminales Erleben könne beispielsweise »Auswirkungen auf die künftige Wahrnehmung und Praxis des rezipierenden Subjekts haben«104. Nur »im jeweiligen Einzelfall« lasse sich entscheiden, ob die Erfahrung der Liminalität »tatsächlich zu einer Neuorientierung des betreffenden Subjekts, seiner Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung führt und in diesem Fall zu einer andauernden Transformation«105. Es scheint, als münde die Destabilisierung in eine neue, wiedergefundene Stabilität. Fischer-Lichte deutet die Stabilitätsfindung mit ihrer Annahme einer Umstrukturierung des Bedeutungssystem an.

100 Ebd., S. 142. 101 Ebd., S. 139. – Vgl. dazu auch S. 142. 102 Ebd., S. 143. 103 Ebd., S. 150. 104 Ebd., S. 143. 105 Ebd., S. 150.

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»Wenn die Veränderungen des körperlichen Zustands, die als Destabilisierung erlebt werden, den Ausgangspunkt für die Umstrukturierung des Bedeutungssystems darstellen, dann lässt sich eine gelungene Umstrukturierung als geglückte Neuorientie106

rung, als Ermöglichung einer neuen Selbst- und Weltwahrnehmung bestimmen.«

Die Auswirkung bzw. die geglückte Nachwirkung wäre demnach gemäß der abschließenden Inkorporationsphase des Übergangsrituals ein zwar veränderter, jedoch aber relativ stabiler Status bzw. eine neuorientierte Identität. Das Finden einer neuen und anderen Identität finde jedoch gerade bei künstlerischen Aufführungen eher selten statt.107 Fischer-Lichte deutet das Spektrum möglicher Nachwirkungen des Liminalen an: »Es kann ebenso der Fall eintreten, dass der Zuschauer nach dem Ende der Aufführung seine vorübergehende Destabilisierung als unsinnig und unbegründet abtut und zu seiner vorherigen Selbst-, Fremd-, und Weltwahrnehmung zurückzukehren sucht oder aber, dass er auch lange Zeit nach der Aufführung im Zustand der Desorientierung verbleibt und erst sehr viel später aufgrund von Reflexionen zu einer Neuorientierung gelangt oder aber seinen alten Wertorientierungen und Verhaltensmustern zurückfindet.«108

Zwei mögliche Nachwirkungen deutet Fischer-Lichte an: einerseits die direkt anschließende Wiedergewinnung einer Stabilität, andererseits das Andauern der Desorientierung, das in eine gewissermaßen ›verspätete‹ Stabilität mündet. Ersteres scheint dem Unbegreifbaren, das sich im Danach überhaupt erst manifestiert, nicht zu entsprechen. Ein Manifestwerden des Unbegreifbaren wird in der vorliegenden Arbeit nicht mit einer Stabilität umschrieben. Es kann nicht mit einer Stillstellung gleichgesetzt werden oder der Annahme, das hier zu untersuchende Unbegreifbare könne im Nachhinein seinen unbegreifbaren Charakter verlieren. Ganz im Gegenteil wird behauptet, dass es nach dem unmittelbaren Heraustreten aus dem unbegreifbaren Moment seine Kraft als Unbegreifbares entfaltet. Insofern wird die Möglichkeit einer ›verspäteten‹ Stabilität im Kontext des Unbegreifbaren

106 Ebd., S. 151. 107 Vgl. dazu E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 307. 108 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 64.

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angezweifelt. Hier zeigt sich die Herkunft des Liminalitätsbegriffs aus der Ritualforschung und der damit einhergehende Unterschied zu dem Begriff des Unbegreifbaren, der eher einer ästhetischen Tradition zu entspringen scheint. Die vorliegende Arbeit rückt somit jenes Unbegreifbare ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses, das auch nicht im Nachhinein durch analytisches Tun in ein Begreifbares umgewandelt werden kann. Auch durch die anschließende reflexive Arbeit kann es nicht still- oder festgestellt werden. Markante Momente Jens Roselts Phänomenologie des Theaters nimmt von dem »Erlebnis markanter Momente«109 ihren Ausgang. Markante Momente werden als besondere Augenblicksstrukturen innerhalb der Aufführung gefasst, momenthafte Intensitäten, die auffallen, weil sie herausfallen. Im Gegensatz zu FischerLichtes Liminalitätsbegriffs, der eher die Aufführungssituation insgesamt beschreibt, geht es Roselt um besondere, aus dem Arrangement der Inszenierung herausfallende Momente, die störend in Erscheinung treten. Sie irritieren nicht nur die Wahrnehmung der Zuschauer, sondern lassen auch das Verstehen zum Problem werden. Mit dem Unbegreifbaren, wie es bisher angedeutet wurde, scheinen markante Momente gemein zu haben, dass sie sich einerseits auf herausfallende Augenblicke, andererseits auf ein Problematischwerden des Begreifens beziehen. Wahrnehmen und Erkennen verbindet Roselt gemäß Edmund Husserls phänomenologischer Annahme, Verstehen von Sinn sei nicht losgelöst vom Erfahren zu betrachten. In und mit der Wahrnehmung könne überhaupt erst Sinn entstehen.110 Der prozessual gedachte Vorgang des Verstehens zeigt sich insofern wie der der Wahrnehmung in einer fragilen und provisorischen Bewegung, die jeden Augenblick in Frage gestellt werden kann.111 Und eben das geschehe in markanten Momenten, »bei denen Vorgänge der

109 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 20. 110 Ebd., S. 147. 111 Vgl. dazu Roselt, Jens: »Feedback der Zeichen«, in: Christel Weiler/Ders./ Clemens Risi (Hg.), Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Berlin: Theater der Zeit 2008, S. 52.

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Wahrnehmung und Interpretation ihrer Selbstverständlichkeit enthoben«112 würden. Vertraute Rezeptionsstrategien würden fraglich und gleichzeitig gerate auch »das sinnhafte Verstehen ins Stocken«113. Insofern muss sich eine Analyse des Unbegreifbaren in die Verschränkung von Wahrnehmen und Verstehen begeben und sie als miteinander verbundene Phänomene betrachten. Sie können nie unabhängig voneinander betrachtet werden. Das Problematischwerden des Verstehens, wie es das Unbegreifbare erzwingt, führt automatisch zu einem Problematischwerden des Wahrnehmens – und umgekehrt. Markante Momente zeigen sich somit als auffallende und herausfallende Augenblicke in Aufführungen und Performances, die gleichfalls das Wahrnehmen und Erkennen betreffen. Die Ereignishaftigkeit dieser Prozesse, also die ständige Bewegtheit des Wahrnehmens und Verstehens, gerät in besonderer Weise in den Blick. Roselt schenkt der mentalen Dimension ein besonderes Augenmerk. Markante Momente hätten »mit Fragen der Erkenntnis bzw. mit dem Erkennen zu tun«, da »der Vorgang des Erkennens [...] in eigentümlicher Weise verzögert, entfaltet und erfahrbar«114 werde. »Es handelt sich um einen Moment des Innehaltens und Verzögerns, der erkenntnismäßigen Enthaltsamkeit, in dem Logik und Kausalität augenblicklich unwirksam zu sein scheinen. Das Urteil über den Sachverhalt wird aufgeschoben und zugleich wird fraglich, was hier und jetzt überhaupt Sache ist. Gewohnte Wahrnehmungsweisen und Erklärungsmuster werden dabei auf die Probe gestellt.«115

Gerade im zeitgenössischen Theater trete »mitunter notorisch«116 das Ausfallen des Verstehens auf. Indem Aufführungen bewusst tradierte Codes unterwanderten und Erwartungen der Zuschauer enttäuschten und irritierten, werde das Erkennen und Verstehen zum Problem. Mit dieser Annahme hat Roselt die postdramatische Theaterpraxis im Blick, bei der es häufig zu markanten Momenten komme; so sieht er bei den Inszenierungen Frank Castorfs oder René Polleschs Zuschauer mit markanten Wahrnehmungser-

112 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 16. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 15 und 16. 115 Ebd., S. 12. 116 J. Roselt: »Feedback der Zeichen«, S. 51.

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fahrungen konfrontiert, gelinge es ihnen doch nicht, die einzelnen szenischen Elemente zu einem Gesamteindruck zu verschmelzen, da durch Übertreibungen, exzessives Wiederholen oder auch durch Untertreibungen eine Synthese gestört oder ganz unterbrochen werde.117 Roselt bindet markante Momente jedoch nicht nur an postdramatische Ästhetiken. Vielmehr geht er von der umfassenden Überlegung aus, dass »das Erlebnis markanter Momente als zentraler Aspekt der ästhetischen Erfahrung im Theater gelten«118 könne. Beispielsweise könne schon das Gesicht der Schauspielerin Edith Clever zu einem markanten Theatermoment führen. In ihrem ersten Auftritt in einer Monologfassung von Einar Schleefs GERTRUD. EIN TOTENFEST in einer Aufführung des Berliner Ensembles im Jahre 2002 erscheine ihr Gesicht »unscharf«119. Die Zuschauer werden durch einen heruntergelassenen, lichtdurchlässigen und somit ›unsichtbaren‹ Gazevorhang irritiert, der zwischen Bühne und Zuschauerraum befestigt ist, sodass der Effekt der Unschärfe entsteht. Markante Momente stellt Roselt zwar als besondere, sich abhebende Augenblicke dar, die jedoch aber, so scheint es, in jeder Aufführung erlebbar seien. Es stellt sich nun die Frage, ab welcher Intensität sich ein Augenblick herausschält, auffällig wird und folglich als markanter Moment zu bezeichnen wäre. Um eine Antwort anzudeuten, vergleicht Roselt die markanten Momente mit dem Phänomen des Staunens. Hierbei arbeitet er körperliche, affektive und kognitive Dimensionen heraus. Ähnlich wie Fischer-Lichtes Annahme der Verbindung von Körperlichem und Mentalen geht auch er von einer Verbindung von Körperlichkeit, Affektivität und Kognition aus, die beim staunenden Erleben »ungeschieden voneinander«120 seien. Er setzt das Körperliche jedoch nicht vor die kognitive Dimension, sondern betrachtet letzteres als nur einen Aspekt neben der »für Staunende typischen paralysierten Körperhaltung« und der »affektive[n] Betroffenheit«121. Jedoch scheint sich in der Ausarbeitung des Markanten eine leichte Akzentuierung im Mentalen und Intellektuellen anzudeuten, was es nicht zuletzt mit den

117 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 110. 118 Ebd., S. 20. 119 Ebd., S. 11. 120 Ebd., S. 19. 121 Ebd., S. 18.

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Gedanken Merschs vergleichbar macht, der auch von Augenblicksstrukturen ausgeht, die im wahrsten Sinne des Wortes ›zu denken geben‹. Gerade das Eingenommensein vom unbegreifbaren Objekt, die Tatsache, dass das Unbegreifbare staunend in den Bann zieht, fasziniert und überwältigt, muss jedoch in Beschreibungen und Analysen gleichfalls Berücksichtigung finden. Damit prägen neben dem Mentalen auch affektive Dimensionen das Erleben. Die Faszination, die von dem Unbegreifbaren ausgeht, äußert sich zum Teil in heftigen Gefühlen, beispielsweise im schon genannten staunend-faszinierten Gebanntsein, aber auch in Affekten wie Überwältigung und Überraschung. Diese Gefühle prägen, beeinflussen und verändern das Erleben und die damit verbundenen Prozesse des Verstehenwollens bzw. Nichtverstehens. Sie können regelrecht zu einem Versagen des Verstehens führen, zu einem begrifflosen Staunen, das vor einem Unbegreifbaren verstummt. Roselt umschreibt das Staunen als eine Praxis, in der sich die ganze Aufmerksamkeit auf das Wahrgenommene richte, »das jedoch nicht verstehend oder begreifend aufgenommen, sondern auf Distanz gehalten«122 werde. Man werde regelrecht von dem staunenswerten Objekt eingenommen und in eine Situation der Sprachlosigkeit versetzt. »Man wird etwas gewahr, doch für dieses Etwas gibt es noch keine Worte und keine Konzepte.«123 Es vollziehe sich als »ein Feststellen ohne Definition und Begriff«124. Im Staunen finde eine »Konfrontation mit etwas Neuem, Unbekannten, Fremden« statt, das, so stellt er mit Waldenfels fest, »gängige Kategorien«125 sprenge. Bezug nehmend auf Lorraine Dastons Verständnis des Staunens als einer kognitiven Leidenschaft betont Roselt die kognitive Seite des Staunens: »[A]ls ›beunruhigendes (und daher idealerweise nur kurz anhaltendes) Innewerden des Nichtwissens‹ stellt sich durch das Staunen auch der Anspruch auf Erklärung, Verstehen und Wissensgewinn ein.«126 Mit dieser Formulierung ist auch das Nachwirken des Markanten indirekt angedeutet: Es regt das Nachdenken an und löst einen Anspruch aus, das Fremde verstehen zu wollen. Nicht umsonst bezieht Roselt das Staunen auf

122 Ebd. 123 Ebd., S. 19. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd.

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die Philosophie und behauptet mit Renate Schlesier: »Das Staunen endet, wenn die Philosophie beginnt.«127 Ist der staunenswerte Moment beendet, so kann nun geschlussfolgert werden, setzt das Nachdenken über den vergangenen Moment ein. Das Liminale akzentuiert eher körperliche Reaktionen, wohingegen das Markante insbesondere über den Begriff des Staunens tendenziell eher mit »Intellektualität«128 zu tun hat und kognitive Momente im Erfahren anspricht. Man kann die Merkmale der markanten Momente in der Tat mit der Erfahrung des Unbegreifbaren vergleichen. Eine Analyse des Unbegreifbaren muss Wahrnehmen und Verstehen wie Roselt von ihrer Verbindung her denken. Sie können nie unabhängig voneinander betrachtet werden. Das Problematischwerden des Verstehens, wie es das Unbegreifbare erzwingt, führt automatisch zu einem Problematischwerden des Wahrnehmens – und umgekehrt. Es gilt somit, sich analytisch in das ›Zwischen‹ von Wahrnehmung und Wahrnehmungsobjekt zu begeben, bei dem in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen Körperliches, Affektives und Kognitives im Wahrnehmungsprozess angesprochen wird. Beim Unbegreifbaren ist gerade das Kognitive von besonderer Bedeutung, sodass eine Analyse Fragen nach dem Verstehen, Erkennen und Interpretieren fokussieren muss. Eine Nähe des Markanten zum bisher erörterten Phänomen des Unbegreifbaren ist offensichtlich. Roselt geht von einem Erstaunenden aus, das im Moment derart fremd ist, dass es aufmerken lässt und auch im Danach Wirkungen zeitigt, indem es ein Nachdenken auslöst. Man wird von einem fremd erscheinenden Objekt eingenommen, das gleichsam das Wahrnehmen und Verstehen verkompliziert, stört, unterbricht und auf diesem Weg sprachlos macht. Das Unbegreifbare kann weder verstanden noch auf den Punkt gebracht werden. Es widersteht einer feststellenden und einordnenden Kategorisierung. Jedoch hat das Markante Roselts auch einen gravierenden Unterschied zu dem bisher erarbeiteten Unbegreifbaren: Das Unbegreifbare bleibt als Unbegreifbares rätselhaft und lässt sich auch im Danach nicht erfassen – eine Annahme, die das Unbegreifbare zu einem weitaus selteneren Augenblick macht als der Moment des Markanten, der nach Roselt für das ästhetische Erleben von Aufführungen insgesamt Geltung besitze.

127 Ebd. 128 Ebd.

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In Anschluss an diesen Gedanken drängt sich die Frage nach dem Grad der Abweichung auf. Wie intensiv muss ein Wahrnehmungsgeschehen wirken, dass es als unbegreifbar im bisher erarbeiteten Sinne bezeichnet werden könnte? Diese Frage greift das Kapitel an späterer Stelle wieder auf, wenn eine Ästhetik des Unbegreifbaren entwickelt wird. Intensivierte Erfahrungen Hans-Thies Lehmann verbindet Erfahrungen, die im postdramatischen Theater erlebbar werden, mit dem Rätselhaften, Unerklärlichen und Unbestimmten. Der Blick der Zuschauer würde nur ein »Rätsel« wahrnehmen, das mit einem »Gefühl des Mangels«129 einhergehe. Eine Lösung des Rätsels oder eine erfüllende Erklärung bleibe aus, sodass Lehmann vom »Entzug der Darstellung [Herv. i.O.]« im Theater spricht, die in eine Erfahrung münde, die er mit Bernhard Waldenfels als eine »Erfahrung einer unüberwindlichen Verfügungsohnmacht«130 umschreibt. In einem Zustand »unruhige[r] Spannung« blickten Zuschauer mit »Neu-Gier auf eine bevorstehende (und ausbleibende) Erklärung«131. Sie seien regelrecht mit einem »unbestimmten Möglichen«, mit einer »Ungewissheit« konfrontiert, »die das Wahrnehmen in einer Suchbewegung«132 halte und die, so kann behauptet werden, nie in ein Begreifbares transformiert werden kann. Eine Untersuchung der Nähe des Erfahrungsbegriffs Lehmanns zu dem Erleben des Unbegreifbaren drängt sich auf. Unter ästhetischer Erfahrung versteht Lehmann »ganz allgemein gesteigerte, verdichtete Gegenwart«133. Sie sei eine Form »intensivierter Erfahrung«, die sich in Aufführungen aus dem »Jetzt der Begegnung«134, also der leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren, ergebe. In Anlehnung an Karl Heinz Bohrers Begriff der ästhetischen Erfahrung rückt Lehmann neben der Qualität der Intensität auch die des Rätsels ins Zentrum ästhetischen Erlebens. Ästhetisches Erleben vollziehe sich als eine Erfahrung ei-

129 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 443. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 442. 132 Ebd., S. 446 und 442. 133 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 13. 134 Ebd.

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nes Rätselhaften, das in Anlehnung an Bohrers Ästhetik des Schreckens einen schockhaften Charakter annehme.135 Die theaterästhetische Dimension ästhetischen Erlebens vergleicht Lehmann mit dem Aufschrecken: »Es wäre näherungsweise an der psychologischen Erfahrung des Aufschreckens [Herv. i.O.] zu demonstrieren, das einem widerfährt, wenn man etwas, man weiß nicht was, nicht weiß, nicht hat und dieses Nichthaben, Nichtwissen ›plötzlich‹ als Leere ins Erleben tritt. Ein Signal, das man nicht deuten kann und das einen trifft.«136

Intensität und Rätselhaftigkeit äußerten sich als Widerfahrnisse, die unbegreifbar erscheinen und insofern eine »Erfahrung des Versäumens [Herv. i.O.]«137 seien. Die sich im Moment zeigende Gegenwart müsse folglich als eine zugleich schwebende und schwindende Anwesenheit gedacht werden, die »als Schon-Weggehen in die Erfahrung«138 trete. Der Vorgang des Zuschauens gestalte sich als problematisch, gelingt es doch nicht die präsentische Intensität im Erleben erfassend zu deuten oder zu (be)greifen.139 Vielmehr erfahre er eine »Störung«140. Die Erfahrung einer Gegenwart im Theater entstehe nicht durch eine Erfahrung der Fülle, sondern vielmehr durch Stockung, Entzug und Abweichung. »Eigentümlich an der ästhetischen Erfahrung ist es, dass darin Gegenwart gerade nicht einfach ›Fülle der Zeit‹ heißt – wie etwas im nunc stans der mystischen Erfahrung. Vielmehr wird präsentische Intensität erfahren als Abwesenheit, Bruch und Entzug, als Verlust, Vergehen, Nichtverstehen, Mangel, Schrecken.«141

Mit dieser Aussage wendet sich Lehmann gegen jene theoretischen Positionen, die ästhetisches Erleben mit Augenblicken der Fülle vergleichen, wie es beispielsweise bei Martin Seel zu finden ist, der davon ausgeht, dass ein

135 Vgl. dazu H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 256. 136 Ebd., S. 259. 137 Ebd. 138 Ebd., S. 260. 139 Vgl. dazu ebd., S. 259. 140 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 18. 141 Ebd., S. 13.

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Wahrnehmungsobjekt im ästhetischen Gewahrwerden »in der Fülle seiner Erscheinungen gegenwärtig«142 sei. »Gegenwart ist immer auch Abweichung von Gegenwart. Gegenwartserzeugung ist immer auch Gegenwartsentzug, Bruch der Kontinuität, Schock. Faktoren wie Verlangsamung oder der im Wortsinn ›enorme‹, aus der Norm fallende Körper, die Einziehung der mentalen Distanz, die Konfrontation mit einem Moment, der nicht schon durch Verstehen beruhigt und geglättet ist, all dies weist darauf hin, dass Gegenwart des Theaters sich wesentlich durch ihre Störung, Verdoppelung, Verzögerung produziert.«143

Während Fischer-Lichte ihr Augenmerk auf das Körperliche des Erfahrens legt, Roselt zudem insbesondere das Affektive und Kognitive betont, rückt Lehmann wie auch Mersch ausdrücklich das Mentale ins Zentrum des Gegenwarts- und damit des Erfahrungsbegriffs. Gegenwart sei »ein überhaupt nicht primär real-körperliches, sondern mentales Phänomen [Herv. i.O.], eine Tatsache des Bewusstseins«144. Das Kognitive, der »Bewusstseins-Prozess«145, werde so im ästhetischen Erleben besonders relevant. Im Moment zeitige die ästhetische Erfahrung tiefgehende Auswirkungen auf Prozesse der Reflexion, des Verstehens und Begreifens. Das gegenwärtige Wahrnehmungsobjekt könne »nicht Gegenstand denkender Erkenntnis im Sinne einer durch Einbildungskraft und Verstand vollbrachten Synthesis«146 sein. Die »mentale Synthesis« gestalte sich als konflikthaft, werde das Geschehen doch »nicht Gegenstand des Verstehens«147. Es finde regelrecht ein »Innehalten im Gang des Verstehens«148 statt. Ästhetische Erfahrung im Theater spreche primär Mentales an, sei jedoch »nur im nachgeordneten Sinn Reflexion«149. Dieses paradoxe Verständnis, dass das Erleben primär mental sei, jedoch aber nur nachgeordnet mit Reflexion zu tun habe, be-

142 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 56. 143 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 18f. 144 Ebd., S. 13. 145 Ebd. 146 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 259. 147 Ebd. 148 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 21. 149 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 256.

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zieht sich auf die jeweilige zeitliche Perspektive – die des Moments oder die der Nachwirkung. In folgender Passage deutet er diese doppelte Perspektivität ästhetischer Erfahrung an, die »nur im nachgeordneten Sinn Reflexion [ist]. Diese findet eher ex post statt und würde gar nicht motiviert werden, wenn nicht durch das vorgängige Innewerden einer Gegebenheit, die nicht zu denken [Herv. i.O.], zu reflektieren ist und insofern den Charakter des Schockhaften aufweist. Alle ästhetische Erfahrung kennt diese Zweipoligkeit: Konfrontation mit einer Präsenz, ›plötzlich‹ und dem Prinzip nach diesseits (oder jenseits) der brechenden, doppelnden Reflexion; denkende, nachträglich erinnernde, reflektierende Verarbeitung dieser Erfahrung.«150

Im Moment stört oder unterbricht ästhetische Erfahrung als mentales Phänomen Prozesse des Interpretierens, Verstehens und Begreifens. Im Nachhinein, als Nachwirkung, werde jedoch eine Reflexion geradezu motiviert. Der momentane Entzug werde im Nachhinein zu einer »Triebkraft der Imagination«151. Diese doppelte Perspektive, die das Mentale einerseits im Moment und im Danach betrachtet, kann mit der Formulierung der »(produktiven) Enttäuschung [Herv. i.O.]«152 in Verbindung gebracht werden: Eine momentane Erfahrung der Enttäuschung, des Nichtverstehens löst im Nachhinein etwas Produktives aus, eine nachträgliche Reflexion, die sich erinnernd erneut in das intensive und rätselhafte Erleben begibt. Es kann behauptet werden, dass in dem Sichentziehenden etwas Sichankündigendes steckt. Übertragen auf das Unbegreifbare wird geschlussfolgert, dass es die von Lehmann betonte Zweipoligkeit besitzt und auf zwei temporale Perspektiven verweist: auf den Moment und das Nachwirken des Moments, das beim unmittelbaren Heraustreten einsetzt. In Anschluss an Lehmann wird behauptet, dass das Unbegreifbare im Moment »als unlesbares Zeichen«153 nicht begriffen wird, nicht zu denken und zu erfassen ist, als Rätselhaftes im Nachhinein jedoch zu einem Nachdenken auffordert und eine

150 Ebd. 151 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 25. 152 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 441. 153 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 25.

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Reflexion auslöst. Man möchte dem denkend nachgehen, was man nicht denken konnte. Lehmann rückt auch das Aufschrecken, den plötzlichen Einbruch des Nichtverstehens, die Störung ins Zentrum der Betrachtung – Momente also, die gerade das bisher erarbeitete Unbegreifbare betreffen. Damit wird der unerwartete Riss im Verstehen betont, der zuallererst das Problematischwerden des Wahrnehmens und Verstehens auslöst. Insbesondere muss mit Lehmann im Unbegreifbaren auch das Nachwirken des Schockhaften, das sich als Einbruch des Nichtverstehens zeigt, betrachtet werden. Eine Beschreibung und Analyse muss sich somit auch der anschließend einsetzenden Suche nach Interpretationen und Sinn widmen, dem nachträglichen Verstehenwollen – jedoch mit dem Wissen, nie zu einem gänzlichen Verständnis kommen zu können. Die Bemühungen, nachträglich berühren zu wollen, was einem im Moment widerfuhr, rückt in den Kern des Unbegreifbaren. Mit Lehmanns Aufgreifen von Positionen und Begriffen der ästhetischen Philosophie wie »›absolutes Präsens‹, ›Plötzlichkeit‹, ästhetischer ›Augenblick‹, ›Epiphanie‹, das ›Jetzt‹ des von Lyotard neu gelesenen Erhabenen«154 bezieht er sich wie Mersch und auch Roselt auf herausfallende Momente. Lehmann führt Bohrers Theorie der Epiphanie an, mit der er eine momentorientierte Sichtweise andeutet. »Gemeint ist die gesteigerte Erscheinung eines dekontextualisierten Realen, das gerade durch die Unterbrechung des Sinnzusammenhangs die Intensität von Lebensmomenten erzeugt, den Anblick eines Alltagsmoments zur ›Vision‹ macht, ihm durch eine gewisse Isolierung eine Leuchtkraft und überfallartige Prägnanz verleiht, die – im Unterschied zum Sinnverstehen, dem kontemplative Dauer innewohnt – von Bohrer als das Proprium der ästhetischen Erfahrung herausgestellt wird. Er insistiert auf den Qualitäten der Intensität und des Rätsels, die ihm als die konstitutiven Momente einer ›ästhetischen Erfahrung‹ gelten und die er mit den Formeln ›plötzliche Erscheinung‹ und ›selbstreferentielle Epiphanie‹ beschreibt.«155

Gegen die momentorientierte Auslegung würde aber Lehmanns Annahme sprechen, dass diese Form ästhetischen Erlebens »der Theaterpraxis als sol-

154 Ebd., S. 14. 155 Ebd., S. 22.

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cher strukturell«156 innewohne. Insofern wäre es nicht nur »eine Pointe des neueren Theaters«, sondern eine generelle aufführungsbezogene »Erfahrungswirklichkeit«157. Dieser generelle Charakter des ästhetischen Erlebens trete jedoch im postdramatischen Theater bzw. im Kontext einer Ästhetik des Performativen besonders zutage.158 Lehmann bezieht seinen Begriff des ästhetischen Erlebens auf das generelle Erleben im Theater, das jedoch bei manchen Ästhetiken insgesamt intensiviert wird und auch zu besonderen Augenblicken innerhalb dieses insgesamt intensivierten Erlebens führen kann. Diese Augenblicke treten wegen ihres unsagbaren Charakters heraus, fallen besonders auf und bekommen einen epiphanischen Charakter. Eben jene Perspektive nimmt die hier vorliegende Arbeit mithilfe des Begriffs des Unbegreifbaren ein. Bisher konnte insbesondere die mentale, aber auch die affektive Dimension des Unbegreifbaren erörtert werden. Hierbei wurde die doppelte Perspektive des momenthaft-augenblicklichen Sichzeigens und des Nach- und Weiterwirkens deutlich. Weiterhin müssen jedoch die besondere Verbindung von Attraktion und Repulsion wie auch die Sprachlosigkeit angesichts eines Unbegreifbaren noch ausführlicher thematisiert werden. Auch hier bietet sich wieder ein Vergleichsbegriff an, um das Unbegreifbare als Gegenstand aufscheinen zu lassen. Der von Lehmann unter Rekurs auf Bohrer verwendete Begriff des Epiphanischen verweist auf einen Topos der ästhetischen Philosophie, der den hier diskutierten Positionen direkt, wie bei Lehmann oder eher indirekt wie bei Fischer-Lichte oder Roselt, zu Grunde zu liegen scheint – der des Erhabenen. Dieser wird im folgenden Abschnitt mit dem des Unbegreifbaren eng geführt, um in einer vergleichenden Annäherung Facetten des Unbegreifbaren vertiefen und erweitern zu können.

3. U NBEGREIFBARES

ALS

E RHABENES

Lehmann entwickelt seine Gedanken anhand ästhetischer Positionen der Philosophie. Auf diesem Weg verbindet er die »erlebbare Erfahrungswirk-

156 Ebd. 157 Ebd., S. 22 und 14. 158 Vgl. dazu ebd., S. 40 und 26.

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lichkeit«159 des postdramatischen Theaters mit Umschreibungen, die sich ausdrücklich auf den Topos des Erhabenen beziehen: »Präsenz, (gerade auch im Licht der Dekonstruktion der Präsenzmetaphysik), ›absolutes Präsens‹, ›Plötzlichkeit‹, ästhetischer ›Augenblick‹, ›Epiphanie‹, das ›Jetzt‹ des von Lyotard neu gelesenen Erhabenen, sind Themen, die auch die Theorie des Theaters verändert haben und weiter verändern müssen.«160

In Anlehnung an Lehmann wird das Erhabene als ästhetische Umschreibungskategorie für das im Rahmen dieser Arbeit im Zentrum stehende Unbegreifbare dienen, scheint es ihm doch sehr nahe zu kommen. Begriffe wie ›ästhetische Erfahrung‹, ›Intensität‹, ›Augenblick‹ oder ›Sprachohnmächtigkeit‹ sind hier wie dort wesentliche Charakteristika. Es scheint, als wurzle das bisher erörterte Unbegreifbare in dem ästhetisch geprägten Erhabenheitsbegriff. Das Erhabene verspricht gerade die temporale Dimension des momenthaften ›Zwischens‹ von Performern und Wahrnehmenden theoretisch zu entwickeln. Die theoretische Erörterung des Unbegreifbaren mündet folglich in eine notwendige Beschäftigung mit dem Topos des Erhabenen. Zunächst wird der Begriff bedeutungsgeschichtlich erörtert; in den darauf folgenden Abschnitten werden verschiedene Facetten des Erhabenen aufgefächert und vertieft, die für den hier vorliegenden Kontext besondere Relevanz besitzen. Der bedeutungsgeschichtlich weit zurückreichende Begriff des Erhabenen lässt sich im weitesten Sinne als Figur der Überschreitung beschreiben.161 Ursprünglich entstammt er der antiken Rhetorik, wo sich das Erhabene auf eine Wirkung des Sprechens bezieht. In der Abhandlung Vom Erhabenen des Pseudo-Longinos aus dem 1. Jahrhundert nach Christus wird das Erhabene auf die Rhetorik bezogen und als »Höhepunkt und Gipfel der

159 Ebd., S. 14. 160 Ebd. 161 Vgl. dazu Weinberg, Manfred: »Erhabenes/Erhaben«, in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 97.

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Rede«162 gefasst. Es sei ein Übergewaltiges, das die Hörer »zur Ekstase« bringe, sie »erstaunt und erschüttert«163. Vom Redner gehe eine »unwiderstehliche Macht und Gewalt auf jeden Zuhörer aus«164. Pseudo-Longinos entwirft es als eine Kategorie, die einerseits als eine besondere Eigenschaft eines Redners – als der »Widerhall einer großen Seele«165 – zu verstehen ist, andererseits als eine Wirkung, die sich bei den Hörern einstellt, die sich angesichts einer erhebenden und erhabenen Rede regelrecht überwältigt zeigen. »Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.«166 Im 18. Jahrhundert hält das Erhabene umfassend Einzug in die ästhetische Theorie und wird nicht mehr ausschließlich rhetorisch verstanden, sondern auch auf äußere Gegenstände, vornehmlich der Natur, bezogen.167 So finden sich bei Edmund Burke in seinem 1757 erschienen Band Vom Erhabenen und Schönen zahlreiche Beispiele, die die Wirkung des Erhabenen erzeugen könnten: die »Aussicht auf den Ozean« und dessen unendliche Weite oder auch das »Geräusch gewaltiger Wasserfälle oder tosender Stürme, das Dröhnen von Gewittern oder Geschützen«168. Hierbei wird das Erhabene jedoch nicht ausschließlich den Gegenständen zugeschrieben, sondern tendenziell eher dem Subjekt als ein Gemütszustand, ein Gefühl oder allgemeiner: eine Erfahrung. Bei Burke wird das Erhabene eine ästhetische Erfahrung der Erschütterung des Subjekts, das angesichts eines unbegreifbaren Großen in das Gefühl des Erhabenen versetzt werde. Das Erhabene wird als »die stärkste Bewegung« konzipiert, »die zu fühlen das Gemüt fähig ist«169. Verschiedenartige Phänomene besonderer Intensität

162 Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966, S. 29. 163 Ebd. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 43. 166 Ebd., S. 31. 167 Vgl. dazu M. Weinberg: »Erhabenes/Erhaben«, S. 97. 168 Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg: Felix Meiner 1989, S. 92 und 121. 169 Ebd., S. 72.

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könnten diese Erfahrung vermitteln, die zwischen Erschauern und Bewundern, Furcht und Ehrfurcht, Staunen und Erschrecken changiere.170 Nicht selten wird das Erhabene im Kontext eines von Schiller betonten »gemischte[n] Gefühl[s]«171 verstanden, das widersprechende Empfindungen verbinde, wie Angst und Lust, Staunen und Ehrfurcht. 1793 betont er in der Abhandlung Vom Erhabenen das Zusammenkommen der Gefühle des Schauers und Entzückens, des Wehseins und Frohseins: »Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von Wehsein [Herv. i.O.], das sich in seinem höchsten Grad als ein Schauer äußert, und von Frohsein [Herv. i.O.], das bis zum Entzücken steigen kann und ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von feinen Seelen aller Lust doch weit vorgezogen wird.«172

Schiller bezieht sich hierbei auf Kant, der das Erhabene als eine Wirkung umschreibt, die durch zugleich furchterregende und anziehende Erscheinungen entstehe, durch das »Gefühl der Unlust [...] und dabei zugleich erweckte[n] Lust«173. »Kühne, überhängende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung versetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses«174 – all diese übergroßen oder übermächtigen Erscheinungen der Natur überstiegen das Fassungsvermögen menschlicher Einbildungskraft und bewirkten zunächst ein Gefühl der Unlust, das jedoch in ein Lustgefühl münde. Schiller bezieht das Erhabene nicht nur auf Phänomene der Natur, sondern insbesondere auf die

170 Vgl. dazu ebd., S. 92. 171 Schiller, Friedrich: »Vom Erhabenen«, in: Ders.: Vom Pathetischen und Erhabenen. Ausgewählte Schriften zur Dramentheorie, hrsg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam 1984, S. 89. 172 Ebd. 173 Kant, Immanuel: »Kritik der Urteilskraft«, in: Ders., Werke (= Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Band 3), hrsg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 591f. (§27). 174 Ebd., S. 596 (§28).

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Kunst und bietet insofern den Grundstein für eine Engführung des Erhabenen mit dem Ästhetischen.175 Vergleichbar ist die im 18. Jahrhundert geführte Debatte um das Erhabene mit der ästhetikgeschichtlichen Diskussion um den ›fruchtbaren Augenblick‹ bzw. den ›prägnanten Moment‹. Für Lessing ist ein fruchtbarer Augenblick jener Zeitpunkt einer Handlung eines Kunstwerkes, der die größte Wirkungsmöglichkeit sichere und deshalb müsse der Künstler den prägnantesten für seine künstlerische Darstellung auswählen. »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, [...] so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick [...] nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Jemehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.«176

Der in einem Seufzen angedeutete Schrei in der Plastik des Laokoon sei ein fruchtbarer Augenblick, da er dem Auge nicht »das Äußerste«177 zeige, sondern der Einbildungskraft freies Spiel gewähre und auf diesem Weg die größtmöglichste Wirkung auf den Rezipienten ausübe. Goethe überträgt Lessings Gedanken von der Bildenden Kunst in die Poesie. In Anlehnung an Diderot und Herder versteht er unter einem prägnanten Moment den »Gipfel des vorgestellten Augenblicks« und den »höchsten darzustellenden Moment«178 – also ebenfalls Momente besonderer Intensität. Speziell im 20. Jahrhundert wird der Begriff des Erhabenen als ein kunstbezogener entwickelt, so u.a. von Adorno, Lyotard, Bohrer und

175 Vgl. dazu Schiller, Friedrich: Vom Erhabenen, Leipzig: Reclam 1900. 176 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke (= Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, Band 6), hrsg. von Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 1974, S. 25f. 177 Ebd., S. 26. 178 Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (= Wirkungen der Französischen Revolution, Band 4.2), hrsg. von. Karl Richter, München/Wien: Carl Hanser 1986, S. 85 und 74.

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Welsch. Er wird zum ästhetisch Erhabenen und findet als ein analytischer und theoretischer Begriff Verwendung, um radikale Formen der Infragestellung und Überschreitung traditioneller Ästhetiken der Kunst zu umschreiben.179 Die genannten Positionen werden bezüglich des hier im Zentrum stehenden Unbegreifbaren mit dem Erhabenen zu thematisieren sein. Auf den hier dargestellten Verwendungshorizont des Erhabenheitsbegriffs beziehen sich indirekt Fischer-Lichte und Roselt. Sie erörtern einerseits die erschütternde Wirkung des Liminalen, das »ebenso als lustvoll wie als quälend empfunden werden«180 könne, andererseits das begrifflose Staunen in markanten Momenten, das einer »Konfrontation mit etwas Neue[m], Unbekannte[m], Fremden«181 jenseits gängiger Kategorien entspringe. Fischer-Lichte und Roselt greifen den Erhabenheitsdiskurs nur indirekt auf, wohingegen Mersch den Begriff des Erhabenen ausdrücklich wählt, um die sich als Augenblick zeigende Gegenwärtigkeit eines Fremden und Anderen zu umschreiben, das wie ein Blitz einzuschlagen vermag. Hierbei trete das Erhabene im Ereignis plötzlich hervor und nutze die überwältigende Wirkung des Plötzlichen aus. Ausdrücklich verschränkt er das Erhabene mit dem Performativen, was gerade im Kontext der in dieser Arbeit gestellten Frage nach dem Unbegreifbaren in Performances besondere Relevanz besitzt.182 Lehmann vergleicht das Erleben intensiver Gegenwärtigkeit mit einer Formulierung, die sich an das Erhabene anlehnt: »Fasziniert, also mit einer Mischung aus Attraktion und Repulsion nimmt man Anwesenheit wahr.«183 Nicht umsonst stellt er seinen ursprünglich 1989 publizierten Essay »Das Erhabene ist das Unheimliche. Zur Theorie einer Kunst des Ereignisses« in seiner 2002 erschienen Aufsatzsammlung Das politische Schreiben in unmittelbaren Kontext des postdramatischen Theaters.184 In dem Essay ist in Rekurs auf den Begriff des Erhabenen sein späterer Entwurf des ästhetischen Erlebens im postdramatischen Theater vorweggenommen, was eine

179 Vgl. dazu M. Weinberg: »Erhabenes/Erhaben«, S. 97. 180 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 63. 181 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 19. 182 Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 118. 183 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 19. 184 Vgl. dazu H.-T. Lehmann: Das politische Schreiben; H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«.

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vertiefte Betrachtung des Essays hinsichtlich der Charakteristik des Unbegreifbaren rechtfertigt. Mit dem schon erwähnten Artikel Lehmanns, den Überlegungen Merschs und Seitenblicken auf die diesen Überlegungen zugrundeliegenden Positionen aus dem Erhabenheitsdiskurs wird insbesondere die temporale Perspektive des momentanen ›Zwischens‹ des Unbegreifbaren vor der Folie des Erhabenheitsbegriffs präzisiert. Eine besondere Relevanz in dem hier vorliegenden Kontext besitzen insbesondere die Aspekte der Bezogenheit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem, des Zusammenkommens von Attraktion und Repulsion, der besonderen Intensität und Ereignishaftigkeit wie auch der Sprachohnmacht. Diese werden im Folgenden erörtert. Erhabenes als ›Zwischen‹ In Anlehnung an Kants Analysen, in denen das Erhabene in das »Gemüte des Urteilenden«185 verortet wird, denkt Lehmann es als eine Gemütsverfassung, die streng genommen nicht den Gegenständen zukomme, sondern eher dem Subjekt als hervorgerufene Wirkung. »Im Unterschied zum Schönen kommt die Eigenschaft des Erhabenen streng genommen den Gegenständen selbst überhaupt nicht zu, sondern nur einer bestimmten Gemütsverfassung. Erhaben werden demnach Erscheinungen nur uneigentlich genannt, insofern sie ›tauglich‹ sind, diese Wirkung im Subjekt hervorzurufen.«186

Das Erhabene wird zu einer Form ästhetischer Erfahrung, die zugleich affektive wie kognitive Aspekte umfasst. Häufig spricht er vom Gefühl der Überwältigung, Erschütterung, Erhebung, Schwärmerei oder des Schreckens; oder von der eher mentale Vorgänge betreffenden Erfahrensdimension der Suspension der begrifflichen Ordnung, des Versagens der Einbildungskraft, des Aussetzens des Begreifens und des Nichtverstehens. Trotz dieser Verortung des Erhabenen in das subjektive Erleben scheint es sich noch immer »[a]ngesichts bestimmter Erscheinungen«187 zu vollziehen. Gerade bei Kant, so schildert Lehmann, benötige es eine Erscheinung

185 I. Kant: »Kritik der Urteilskraft«, S. 590 (§26). 186 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 752. 187 Ebd.

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der Natur, eine Begegnung mit etwas Übermächtigem, das Wahrnehmende in die Erfahrung der Ohnmacht stürze. Es sei als ein Aisthetisches, also ein Phänomen der Wahrnehmung, nicht von der Präsenz eines Wahrnehmungsobjekts zu trennen, so argumentiert Mersch. Wahrnehmende seien mit einer Materialität, einem ›Daß‹, konfrontiert, das »in der Störung, der Plötzlichkeit eines Anderen«188 auftauche. Auf diese Weise könne eben das Erhabene »nicht als Merkmal[...] von Gegenständen«189 aufgefasst werden, jedoch aber auch zugleich nicht unabhängig von ihnen zu denken sein. Dieses Verständnis setzt das Erhabene in ein ›Zwischen‹ einer Begegnung, das gleichsam Wahrnehmungen, Wirkungen und Erfahrungen sowie auch Charakteristika und inszenatorische Strategien von Objekten der Wahrnehmung betrifft. Wie das sich bisher zeigende Unbegreifbare entspringt es einem ›Zwischen‹ von inszenatorischer Setzung und Erfahrung. Möchte man das Unbegreifbare vor der Folie des Erhabenen analytisch betrachten, sind demnach sowohl Strategien der Inszenierung als auch Wahrnehmungsvorgänge zu untersuchen. Gerade die Dimension des Erfahrens, in der sich affektive wie kognitive Aspekte durchdringen, muss betrachtet werden. Gleichwohl es den Anschein hat, der Gegenstand gerate aus dem Blickfeld, werden über die Perspektive des Erlebens Strategien am Gegenstand zu beschreiben und analysieren sein. Insofern handelt es sich noch immer um eine gegenstandsorientierte Betrachtung, die die inszenatorische Setzung analytisch zu berühren sucht. Gefühle der Attraktion und Repulsion Neben den schon diskutierten kognitiven Aspekten, die Lehmann im Zentrum ästhetischen Erlebens sieht, zeichnen sich ebenso affektive Facetten ab. Hierbei hat man es nicht mit eindeutigen Gefühlen zu tun, sondern vielmehr mischen sich getrennte oder vermeintlich gegensätzliche Gemütsverfassungen. Attraktion und Repulsion, Anziehung und Abstoßung verbinden sich im das Erhabene begleitenden Gefühl. Lehmann arbeitet den zweideutigen Charakter des Erhabenen heraus, bei dem »zwei konträre Gestimmtheiten« zusammen kämen, die in den für

188 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 44. 189 Ebd., S. 43.

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das Erhabene berühmten Neologismus der »Angstlust«190 münden. Hierbei handelt es sich ausdrücklich um die affektiven Dimensionen der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen. »Jetzt stößt man auf das kaum verbalisierbare Aufwallen einer überwältigenden Emotion, Schrecken vermischt mit erlösender Entgrenzung, jubilatorische, aber zugleich als gefährlich geahnte Affektivität.«191 Eng orientiert sich diese Bipolarität des Erhabenen an Kant, der von einem schnellen Abwechseln von »Abstoßen und Anziehen«192 ausgeht und auch an Burke, der die paradox anmutende Formulierung des »frohen Schrecken[s]«193 wählt. Friedrich Theodor Vischers Abhandlung Über das Erhabene und Komische (1837) zitierend, beschreibt Lehmann das Zusammenkommen von gegensätzlichen Emotionen: »Angst, dass ›wir ins Grenzenlose aufgelöst werden‹ als ›Schauer des kreatürlichen Lebens‹; zugleich eine unheimliche Lust an jener Erfahrung, verwandt dem ›seltsamen Gefühl des Schwindels, der Art von wollüstiger Begierde, sein Leben in die unabsehbaren Gründe herabzustürzen, mit sich führt‹.«194

Faszination zeige sich angesichts einer »neuen unheimlichen Erfahrung von Bodenlosigkeit«, jedoch aber sei es nicht ausschließlich das faszinierte Gefühl, sondern gemäß der doppelten Verfasstheit des Gefühls des Erhabenen auch mit der Repulsion, die sich als »Schock einer Sprachlosigkeit«195 zeige. Gerade das Nichtverstehen, die Unmöglichkeit des begreifenden Durchdringens wie auch die entstehende Sprachlosigkeit rücken ins Zentrum des Repulsiven, das wiederum zu faszinieren vermag. Attraktion und Repulsion gehen ineinander, lassen sich nicht eindeutig voneinander trennen und machen aus dem Erhabenen wie auch dem bisher erarbeiteten Unbegreifbaren eine fragile und unsichere Erfahrungswirklichkeit, in der nicht

190 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 752 und 753. 191 Ebd., S. 752. 192 I. Kant: »Kritik der Urteilskraft«, S. 592 (§27). 193 E. Burke: Ideen vom Erhabenen und Schönen, S. 110. 194 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 752. – Vgl. dazu Vischer, Friedrich Theodor: Über das Erhabene und Komische, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967. 195 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 752.

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einmal ein klar konturiertes Gefühl aufscheint, sondern sogar das Gegenteil immer mitzuschwingen scheint. »Das Erhabene erweist sich als schwindelerregende Gratwanderung, bei der Denkvorgänge und Wahrnehmungen die Plätze tauschen können, der gute und gesunde Enthusiasmus sich zweideutig vermengt mit der wahnähnlichen Schwärmerei und Entgrenzung.«196

Das entstehende Gefühl, das plötzlich zu überwältigen vermag, kann insofern nicht eindeutig gefasst werden, sondern mischt sich immer mit einem vermeintlich Gegensätzlichen und wird zur Angstlust, zur anziehenden Abstoßung, zum Wunderbar-Schrecklichen. Eine Beschreibung und Analyse des Unbegreifbaren darf demnach bei der Betrachtung eines vermeintlich sicheren Gefühls nicht Halt machen, sondern immer auch andere und vielleicht auch gegensätzliche Gestimmtheiten aufspüren und nachverfolgen. Nicht umsonst verbindet Mersch das Erhabene mit Grenzerfahrungen, die sich als sperrig und widerständig zeigen, weil sie Gegensätzliches verbinden. Er arbeitet eine gegenläufige Doppelstruktur des Erfahrens heraus, indem er das Erhabene mit »Grenzerfahrungen [umschreibt], denen wiederum die Faszination des Wunderbaren (thaumaton) ebenso korrespondieren wie das tremendum von Furcht und Zittern [Herv. i.O.]«197. Gemeinsam mit dem Erhabenen verdankt das Unbegreifbare seinen Charakter maßgeblich diesem Zusammenkommen konfligierender affektiver Intensitäten. Es zeigt sich nicht als ein Begreifbares, da sich ein vermeintlich Eindeutiges mit einem Gegensätzlichen mischt, sondern als eine Grenzerfahrung, die nicht das Signum der Eindeutigkeit trägt. In diesem Sinn wirken auch die Objekte der Wahrnehmung: widerständig, sperrig, abstoßend und zugleich faszinierend. Die affektive Doppelstruktur spiegelt sich auch im Kognitiven, wie es schon insbesondere anhand von Mersch, Roselt und auch Fischer-Lichte herausgearbeitet wurde. Weil sich das Wahrnehmungsobjekt der verstehenden Bezugnahme versperrt, löst es den unbedingten Drang des Verstehenwollens regelrecht aus, der zumeist erst im Nachwirken einsetzt. Wegen des unbegreifbaren Gefühls gerät die Kognition auch in eine intensivierte Be-

196 Ebd., S. 756. 197 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 43.

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wegung. In einem faszinierten Verstehenwollen versucht sie der Erscheinung habhaft zu werden, ohne sie jemals zu erreichen. Plötzliche Augenblicke der Intensität Lehmann und Mersch weisen dem Erhabenen eine Augenblicksstruktur nach. Es tauche plötzlich auf, schäle sich auffallend heraus und verwirre nachhaltig. Das ästhetische Erleben gestalte sich im Sinne einer »irrationale[n] Hingebung an den Augenblick«198. Lehmann denkt das Erhabene als einen Moment, der strukturell mit einer »Blitzartigkeit«199 zu vergleichen sei und plötzlich auffalle. Der erhabene Moment sei »das plötzliche ›Ereignis‹ eines Schocks«200. Das Movens des Erhabenen sei Plötzlichkeit, so Mersch, das einer Störung gleich »unerklärlich ins Blickfeld« rücke und dabei »in den Bann«201 schlage. Die Formulierung Pseudo-Longinos aufgreifend, in der das Erhabene mit dem vielfach zu findenden Motiv des Blitzes verglichen wird, schreibt Mersch: »Es bricht ›im rechten Moment hervor‹ und ›zersprengt‹ die Dinge ›wie ein Blitz‹.«202 Bezug nehmend auf Nietzsches Herleitung des Erhabenen aus dem Dionysischen umschreibt es Mersch als einen »›kurzen Augenblick‹ rauschhafter Ankunft«, die nur in »der Plötzlichkeit einer Transition«203 erfahrbar werde. Der Blitzcharakter sowie der Bezug auf einen plötzlichen Augenblick sind den Überlegungen Lyotards entnommen, der diese zwei zentralen Motive des Erhabenen am Beispiel der abstrakten Malerei Newmans theoretisch entwickelt. »Das ›Thema‹ der Malerei ist der Augenblick, der Blitz, der das Auge blind macht, eine Epiphanie.«204 Insofern sie Wahrnehmende mit einer Augenblicklichkeit, einem Jetzt, konfrontiert, das wie ein Vorkommnis unvorhersehbar geschehe, sei die abstrakte Malerei unmittelbar

198 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 754. 199 Ebd., S. 751. 200 Ebd., S. 757. 201 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 45. 202 Ebd., S. 117. – Vgl. dazu Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, S. 31. 203 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 137. 204 Lyotard, Jean-François: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien: Passagen 1989, S. 142.

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auf das Erhabene bezogen.205 Das Werk Newmans gehöre zur »Ästhetik des Erhabenen«206. Mersch schreibt über Lyotard: »Eindringlicher als Kant verweist Lyotard auf den Moment der Ankunft selbst, das Ereignis im Sinne von Ekstasis [Herv. i.O.] hin, das ebenso aus sich heraussteht, wie es in die Wahrnehmung hineinsteht und mit einem gleichermaßen Unfüglichen wie Unverfüglichen konfrontiert.«207

Lehmann und Mersch beziehen sich nicht nur auf Lyotard, sondern sie erarbeiten ihr Konzept des Erhabenen auch in Rekurs auf Bohrers Begriff des Epiphanischen. Bohrer weist dem Erhabenen, das er als Epiphanie umschreibt, ebenfalls eine Augenblicksstruktur nach. Beim Epiphanischen finde eine »Konzentration des Zeitbewusstseins auf einen ›gefährlichen Augenblick‹« statt, der »eine Absage an die Kontinuität des Zeitbewusstseins«208 erteile. Anstelle der Umschreibung des Erhabenen bzw. Epiphanischen mit einem unvermittelt einschlagenden Blitz bevorzugt Bohrer den Begriff der Plötzlichkeit, der auch schon bei Burke auftaucht.209 Bohrer versteht ihn im Sinn einer »temporale[n] Struktur«, die sich »als Ausdruck und Zeichen von Diskontinuität«210 artikuliere. Das Phänomen der Plötzlichkeit sei ein »ästhetische[r] Wahrnehmungsmodus«211, der etwas hervorbringe, das sich der ästhetischen Integration versperre und insofern als ein aus Ordnungen und Normen heraustretender Augenblick auffalle. Im Modus der Plötzlichkeit zeige sich die Epiphanie als ein »ekstatischer Augenblick«212, den Bohrer ausdrücklich auch in Bezug auf Lyotard mit dem Erhabenen verknüpft.213

205 Vgl. dazu ebd., S. 144 und 147. 206 Ebd., S. 150. 207 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 140. 208 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 43. 209 Vgl. dazu E. Burke: Ideen vom Erhabenen und Schönen, S. 121. 210 K.H. Bohrer: Plötzlichkeit, S. 43 und 7. 211 Ebd., S. 21. – Vgl. dazu auch S. 7 und 68. 212 Ebd., S. 54. 213 Vgl. dazu ebd., S. 84.

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In Anlehnung an Lyotard und Bohrer kann mit Lehmann das Erhabene als ein plötzlicher Augenblick verstanden werden, der sich aus einem herkömmlichen Zeitverlauf herausschält und auffällig wird. Er umschreibt ihn mit Begriffen wie »Überwältigung«, »Erschütterung« oder auch mit Anklängen an Nietzsche mit »Rausch«214. Damit deutet er eine besondere Intensität an, die mit der Erfahrung verbunden ist. Er spricht von einem »offene[n] Kraftfeld« oder in erneuter Anlehnung an Lyotard von »Intensitäten [Herv. i.O.]«215. Es handelt sich um besonders intensive Formen ästhetischen Gewahrwerdens, um eine Erfahrung einer akzentuierten Intensität, die nicht jeder Performance zuzuordnen ist. Vielmehr muss sich das Erhabene in der Verschränkung mit dem Unbegreifbaren auf Momente innerhalb von Performances beziehen, die auf einem besonderen Intensitätslevel Affektionen und Kognitionen durcheinander bringen. Vergleichbar wird die Annahme der gesteigerten Intensität mit Hans Ulrich Gumbrechts »Augenblicke[n] der Intensität«, die er »als ein besonders hohes Aktivitätsniveau einiger unserer angeborenen kognitiven, emotionalen und vielleicht sogar physiologischen Vermögen«216 fasst. Gumbrecht hebt jedoch mehr die attraktiven denn repulsiven Eigenschaften des intensiven Augenblicks hervor – die »überströmende Süße« und »eigentümliche Attraktivität, die solche Augenblicke für uns bereithalten«217. Bei Lehmann und Mersch wird immer und gerade auch das Schockhafte und Erschütternde betont, die als »Orte des Skandalösen«218 in Erscheinung treten würden – Momente, die unerlässlich für den hier vertretenen Begriff des Unbegreifbaren sind. Die Intensität weist ein besonderes Niveau auf, sodass das Unbegreifbare nicht im Nachhinein problemlos erfasst werden kann. Vielmehr bleibt es als Unbegreifbares auch noch nach dessen Erscheinen bestehen und wird als dieses überhaupt erst im Danach manifest. Deshalb hebt es sich vom generel-

214 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 753 und 754. – Vgl. dazu auch Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, Stuttgart: Reclam 1993. 215 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 761. 216 Gumbrecht, Hans Ulrich: »Epiphanien«, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 204f. 217 Ebd., S. 204 und 205. 218 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 43.

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len, schon betonten Entzugscharakter des Erfahrens ab. Das Unbegreifbare weist augenscheinlich eine gesteigerte Intensität auf, die später mit Überlegungen Martin Seels und Bernhard Waldenfels’ noch präzisiert wird. Facetten des Ereignishaften Die Intensität des Erhabenen koppelt Lehmann an das Ereignishafte, welches er wiederum im Gegensatz zum Werkhaften entwickelt. Erhabenes ließe sich nicht mehr mit hergebrachten Begriffen, die sich am Werk orientieren, umschreiben. »Nicht mehr die Struktur, die Dauer, die Repräsentation, der Sinn – nicht mehr das eminent sinn- und bedeutungshaltige literarische Werk also – paradigmatisch wird vielmehr das Ereignis, das Punktuelle, der Augenblick einer Szene, die Aufmerksamkeit.«219

Von dieser Aussage ausgehend, lassen sich mehrere Aspekte des Erhabenheitsbegriffs ableiten, der als ereignishaft gedachten wird. Sie beziehen sich auf den jeweils neuartigen und anderen Umgang mit den Begriffen ›Struktur‹, ›Dauer‹, ›Repräsentation‹ und ›Sinn‹. Das Erhabene wende sich als Ereignis gegen das Strukturierte. Es finde regelrecht ein »Innehalten, Aussetzen, Stummwerden der strukturierenden [...] Rasterung« statt; die einzig bestehende Struktur sei »die Struktur des strikt unvorhersehbaren und unableitbaren Ereignisses«220. Das Strukturierte verknüpft Lehmann mit dem Werkbegriff, bei dem es um eine strukturierte Einheit gehe, eine »harmonische Vereinigung von Signifikant und Signifikat«221, mit dem das Ereignis breche. Vielmehr gehe es um das Bewusstsein der Inkongruenz von Signifikant und Signifikat. Die Unmöglichkeit, ein Ganzes zu synthetisieren, leitet Lehmann von Kant ab, der das Erhabene als ein Phänomen denkt, das »das Vermögen der Einbildungskraft überschreitet, die progressive Auffassung in ein Ganzes der Anschauung zu begreifen«222.

219 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 761. 220 Ebd., S. 760 und 761. 221 Ebd., S. 760. 222 I. Kant: »Kritik der Urteilskraft«, S. 589 (§26).

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Das Ereignis zeige sich nicht mehr »in seiner Ganzheit als Werk«, sondern vielmehr, wie oben schon angedeutet, als »ein offenes Kraftfeld«223 einer akzentuierten Intensität des Erlebens. Das Sichzeigende, so könnte im Sinn Lehmanns gesagt werden, kann nicht zu einem Ganzheitlichen synthetisiert werden, sodass die Erfahrung und insofern auch das Wahrnehmungsobjekt ereignishaft würden. Der Ereignisbegriff umschriebe dann nicht nur die Charakteristik des Objekts, sondern auch die der Erfahrung. Das Strukturierte und Werkhafte vergleicht Lehmann auch mit dem Schönen, bei dem eine harmonische Vereinigung von Signifikant und Signifikat vorzufinden sei. Das Erhabene entwickelt Lehmann im deutlichen Kontrast zu dem als harmonische Ganzheit und Einheit gedachten Schönen. »Mit Duchamp spätestens begann die Uhr einer Ästhetik des Werks und des (Vor-) Scheins abzulaufen, schob sich die subjektive Erfahrung der Unangemessenheit, gar Unmöglichkeit von Darstellung – also des Erhabenen – vor die variationsreichen Formen des schönen Gegenstands.«224

Mersch entwickelt ebenfalls das Erhabene im radikalen Gegensatz zum Schönen. Nicht der Begriff der Struktur taucht bei Mersch auf, sondern der durchaus vergleichbare Begriff der Form. Das Schöne gehorche der Form, so Mersch, nicht jedoch aber das Erhabene.225 Das Erhabene denkt er nicht wie das Schöne hinsichtlich des »Vorrang[s] des Formalen«226, sondern er rechnet es dem Ereignis zu, das eine Wirkung zeitige. Es begegne als ein »Ungemachtes«227, das nicht einer logischen und einheitlichen Gestalt folge. »Dabei gründet Schönheit, soweit sie dem Geschehen entspringt, im Aussehen (eidos), das heißt in der Form; das Erhabene hingegen im Bruch, im Ereignis [Herv. i.O.]: Sie beutet die Plötzlichkeit einer Wirkung aus.«228

223 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 761. 224 Ebd., S. 762. 225 Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 43. 226 Ebd., S. 118. 227 Ebd., S. 134. 228 Ebd., S. 118.

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Ähnlich wie Lehmann geht Mersch von einem im Ereignis und als Ereignis stattfindenden Bruch der »Strukturen der Signifikanz«229 aus. Ereignis wird hier im Sinne eines Einschnitts verstanden, einem Bruch, einer Zäsur. »Das Ereignis setzt; erst dann ›ist‹ etwas ge-setzt; es trennt, schneidet [Herv. i.O.], und anschließend ist etwas gespalten oder ge-schnitten.«230 Mersch denkt Ereignisse als einschneidende Brüche, die nicht formalen Strukturen folgten, sondern diese vielmehr störten. Die Wahrnehmung sei mit dem Einbruch des Ungemachten konfrontiert, das plötzlich widerfährt.231 Wahrnehmende seien nur mit der »Unverfügbarkeit des Daß, der Andersheit«232 konfrontiert, die Mersch im Gegensatz zum Schönen mit einem Nichtkonstruierten, Unbeherrschten und Unbeherrschbaren umschreibt. Insofern geht er von einer plötzlichen temporalen Zäsur aus, die unvermittelt eintritt, verwirrt und das Verstehen radikal stört.233 Die sich als Brüche herausschälenden Augenblicke entmächtigten Wahrnehmende des verstehenden Zugriffs und lassen sich folglich mit dem Ereignis verbinden. Dieses Verständnis vom Ereignishaften koppelt Mersch an den Begriff des Erhabenen. Das Erhabene denkt er als einen temporalen Bruch, eine ekstatische Plötzlichkeit, wie es Bohrer formulieren würde, die zu »einem anderen Sehen«234 führe. Vorgänge des Verstehens, Interpretierens und Erkennens würden radikal gestört. Erhabenes verknüpft er unmittelbar mit dem Performativen, das eben diese ereignishafte Wirkung des Bruchs zeitige und nicht reflexiv zum Vorschein komme, sondern vielmehr das Verstehen unterbreche, störe und zum Verstummen bringe.235 Unbegreifbares vor der Folie des Erhabenen zeigt sich insofern als ein Disharmonisches. Es verweigert eine Synthese und lässt sich von der Imagination nicht zu einem Ganzen, einer in sich schlüssigen Gestalt, einer harmonischen Form verbinden. Vielmehr zeigt es sich als Bruch, das Harmonisches durchschneidet. Ereignishaft ist das Unbegreifbare insofern, als

229 Ebd., S. 140. 230 Mersch, Dieter: »Das Ereignis der Setzung«, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel: A. Francke 2003, S. 54. 231 Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 33. 232 Ebd., S. 43. 233 Vgl. dazu ebd., S. 44. 234 Ebd., S. 138. 235 Vgl. dazu ebd., S. 118.

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dass es sich einem Werkhaft-Ganzen entzieht, als Disharmonisches herausfällt und dadurch eine Zäsur markiert. Der Ereignisbegriff wird bei Lehmann nicht nur hinsichtlich seines einschneidenden Charakters als Setzung einer radikalen Zäsur verstanden, sondern auch bezüglich seiner zumeist im theaterwissenschaftlichen Kontext betonten Flüchtigkeit angedeutet. Ereignis wird hierbei im Sinn einer Prozesshaftigkeit gebraucht und der Aufführung an sich zugeschrieben, wie es beispielsweise bei Fischer-Lichte in dem Sammelband Performativität und Ereignis formuliert ist: »Aufführungen sind immer Ereignisse, insofern sie einmalig und unwiederholbar sind.«236 Lehmann gebraucht den Ereignisbegriff in diesem allgemeinen Sinn, um das Erhabene im Gegensatz zu der auf Dauer und Festigkeit ausgerichteten Werkästhetik zu entwickeln. Hierbei wird das Werk nicht nur hinsichtlich seiner Materialität als fest umschrieben, sondern auch bezüglich seines Festigkeit suggerierenden sinnund bedeutungshaltigen Charakters. Durch die strukturierte und harmonische Vereinigung von Signifikant und Signifikat suspendiere das Werk nicht irrationalistisch ein Begreifen.237 Das flüchtige Ereignis, so kann mit Lehmann behauptet werden, tritt vor die Interpretation und konfrontiert mit einer stummen und überwältigenden Erfahrung, die zunächst nicht und in gewisser Weise auch niemals zu begreifen ist.238 Wie Adorno bindet er das Ereignishafte an die Flüchtigkeit, die sich einerseits als die flüchtige Materialität der Performance und andererseits als die Flüchtigkeit der Erfahrung begreifen lässt. »Dem Ideal des Dauerns schwört eine Ästhetik der momentanen Erfahrung ab, die als ein feuerwerkartiges Aufblitzen von Adornos ›apparition‹ besser beschrieben ist denn als Kunstwerk.«239

Lehmann gebraucht den Erhabenheitsbegriff nicht für jedwede flüchtigen Ereignisse. Vielmehr zeichnet sich ab, dass er das Erhabene im Sinn einer gesteigerten Ereignishaftigkeit, einer gesteigerten Flüchtigkeit und damit

236 Fischer-Lichte, Erika: »Performativität und Ereignis«, in: Dies. et al. (Hg.), Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel: A. Francke 2003, S. 15. 237 Vgl. dazu H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 761. 238 Vgl. dazu ebd., S. 760. 239 Ebd., S. 762.

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als Unbegreifbarkeit des Wahrnehmungsobjekts und des Erlebens sieht. In Anlehnung an Adorno bringt Lehmann das Erhabene mit einer »Ästhetik der momentanen Erfahrung«240 in Verbindung, die dem Ideal des Dauerns abschwöre. Die »neue Zeitlichkeit des szenischen Ereignisses«, also der von Adorno bevorzugt am Phänomen des Feuerwerks erörterte Charakter des Flüchtigen, sei gerade bei Performances und Happenings sowie auch bei abstrakten Bildern »materialiter«241 mitgesetzt. Die Materialität ziele regelrecht auf ein »Jetzt der Erfahrung«242 und in diesem Sinne auf eine Intensivierung der Flüchtigkeit der Erfahrung des sich entziehenden Objekts. Hier deutet sich seine spätere Theorie des Postdramatischen an und die dort entworfene Auffassung von intensivierten Momenten ästhetischer Erfahrung, die sich durch eine intensivierte Flüchtigkeit auszeichnen. Während Mersch im Ereignisbegriff weniger das Flüchtige als den »Bruch«243 akzentuiert, geht es Lehmann somit ausdrücklich um beides: um den plötzlichen Einschnitt und die intensivierte Flüchtigkeit, die den Begriff des Erhabenen prägten. Beides führe dazu, dass ein »Begreifen« suspendiert werde und Wahrnehmende in eine Situation des »Nichtverstehen[s]«244 verstrickt seien. Hiermit gelangt die Erörterung des Ereignisbegriffs zu den Aspekten der Repräsentation und des Sinns, die im Kontext des Erhabenen zu einem »Irrepräsentablen«245 würden. Das Erhabene führe letztendlich zu einer »zeichentheoretischen Problematisierung der Repräsentation«246, indem, wie schon betont, der Signifikant und das Signifikat in ihrer Inkongruenz bewusst würden. Der Akzent des Erhabenen liege auf dem »Insinuieren des Undarstellbaren«247. Ähnlich wie Lehmann verbindet Lyotard das Erhabene mit intensiven Wirkungen – dem Schockhaften, Überraschenden und Unbegreifbaren.

240 Ebd. 241 Ebd. 242 Ebd. 243 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 118. 244 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 761. 245 Ebd. 246 Ebd., S. 760. 247 Ebd., S. 761.

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»Angespornt durch die Ästhetik des Erhabenen, können und müssen die Künste, welches auch immer ihre Materialien sind, auf der Suche nach intensiven Wirkungen von der Nachahmung lediglich schöner Vorbilder absehen und sich an überraschenden, ungewöhnlichen und schockierenden Kombinationen versuchen.«248

Lyotard findet für diesen Erfahrungshorizont des Erhabenen Umschreibungen, an die sich Lehmann in seiner Konzeption des Erhabenen stark anlehnt. Lyotard geht davon aus, dass »das Objekt, das wir im Blick haben, nie vollständig werden und nie vollständig erfasst werden«249 könne. Lyotard spricht von einem »Leiden im Wahrnehmen und im Denken«250, das empfunden werde, weil ein Objekt nie erfasst werden könne. Es löse ein andersartiges Denken aus, das während des Erfahrens statthat. »Dieses Denken hat nichts mit einem regelgeleiteten Kombinieren von Symbolen zu tun.«251 Vielmehr müsse von einem »Schmerz des Denkens«252 gesprochen werden, verflüchtigt sich das Jetzt doch unaufhörlich. Diese allgemeine, auf jegliches Wahrnehmen bezogene Annahme wird im Kontext einer Ästhetik des Erhabenen, wie schon angedeutet, besonders bewusst. Denn hierbei treffe man auf Objekte oder Handlungen, die, so Lyotard, »das Undarstellbare«253 ausdrücklich suchten. Es gehe regelrecht um das »Hervorrufen des Undarstellbaren«254. Lyotard geht sogar soweit, eine Hervorbringung einer Ästhetik des Erhabenen als Aufgabe von Kunst zu fassen. Das generelle »immanent Erhabene«255 der Kunst, so fordert Lyotard, müsse direkt auf ein Undarstellbares anspielen, sodass es als Erhabenes ausdrücklich und in voller Wirkung entfaltet werden könne. Es kommt, so kann mit Lehmann und Lyotard gesagt werden, zu einem Wahrnehmen und Denken, das in radikaler Weise mit einem Undarstellbaren konfrontiert und deshalb nicht nur im Sinn des französischen Wortes ›sublime‹ Erstaunen und Bewunderung

248 J.-F. Lyotard: Das Inhumane, S. 177. 249 Ebd., S. 46. 250 Ebd. 251 Ebd., S. 42. 252 Ebd. 253 Ebd., S. 219. 254 Ebd., S. 220. 255 Ebd., S. 222.

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auslöst, sondern gerade auch eine erschütternde Wirkung zeitigt, die das Wahrnehmen und Denken in Krisen stürzt und im mentalen Sinn Schmerzen bereitet.256 Nicht umsonst behauptet Lyotard, dass das erhabene Gefühl »eine Mischung aus Lust und Schmerz« sei, bei dem es zu einem »Eindringen von Leiden in die ästhetische Empfindung«257 komme. Der erhabene oder auch unbegreifbare Gegenstand erscheine derart groß und gewaltig, dass ihn die Einbildungskraft nicht zu einer greifbaren Einheit synthetisieren und in der Anschauung vergegenwärtigen könne.258 »Meinen soeben gemachten Ausführungen gemäß ist es möglich, eine seltsame Ästhetik zu entwerfen, in der nicht mehr, wie bisher beschrieben, die freie Synthesis von Formen durch die Einbildungskraft die ästhetische Empfindung bewirkt, sondern die Unmöglichkeit zu synthetisieren. Diesem Mangel an Synthesis, der das Vermögen betrifft, entsprechen, was den Gegenstand betrifft, Bezeichnungen wie ›die Unform‹, oder ›die Formlosigkeit‹ [Herv. i.O.].«259

Hierbei würden Wahrnehmende mit einem »Augenblick der Intensität«260 konfrontiert, der eben nicht in semiotischen Kategorien des Verstehens zu fassen sei. Vielmehr seien sie mit einem »Unbekannten«, »Unvorhersehbaren« und »Unsagbaren«261 konfrontiert. Mit Lyotard zeigen sich erneut die für das Unbegreifbare zentralen mentalen und affektiven Dimensionen. Insbesondere das Problematischwerden des Wahrnehmens und Denkens werden markiert, denen es auf radikale Weise unmöglich wird, ein Ganzes hervorzubringen, zu unbekannt und unsagbar erscheint der ästhetische Gegenstand. Lyotard spricht mit der Betonung des Undarstellbaren und Unsagbaren das von Lehmann ebenfalls im Zentrum stehende Phänomen der Sprachohnmacht als entscheidendes Motiv des Erhabenen an.

256 Vgl. dazu ebd., S. 164. 257 Lyotard, Jean-François: Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien: Passagen 1989, S. 81. 258 Ebd., S. 82. 259 Ebd. 260 Lyotard, Jean-François: Libidonöse Ökonomie, Zürich/Berlin: diaphanes 2007, S. 84. 261 Lyotard, Jean-François: Das Elend der Philosophie, Wien: Passagen 2004, S. 86.

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Sprachohnmacht In der Faszination der intensiven Erfahrung schwinge »zugleich der Schock einer Sprachlosigkeit«262 mit. Angesichts bestimmter Erscheinungen, die Lehmann mit dem Erhabenen verknüpft, setze die Bezeichnungsfunktion aus; die begriffliche Verarbeitung und Orientierung seien suspendiert.263 Die Momente ästhetischen Erfahrens eines Erhabenen gestalteten sich in Form eines »sprachohnmächtigen Aufschreckens«264. Man stoße auf eine überwältigende Emotion, die kaum zu verbalisieren sei. Lehmann geht sogar so weit, das kaum in Worte zu fassende Erhabene als Bedrohung zu verstehen: »Zur latenten Bedrohung wird das Erhabene im Aussetzen der Sprachzeichen [Herv. i.O.], im Versagen der Sprache, weil es sogar das Wahrgenommene zweifel- und rätselhaft werden lässt.«265

Die Überwältigung, die Wahrnehmenden widerfahre, könne »zunächst nicht und in gewisser Weise auch niemals vollständig verbalisier[t]«266 werden. Das Erhabene als Ereignishaftes und Ungemachtes verweigere eine »begriffliche Wiederaneignung«, da es die begriffliche Strukturierung überwältige und sich als »Lücke, Nichtverstehen, Sprachohnmacht«267 zeige. Mersch verbindet die Erfahrung des Erhabenen ebenfalls mit Sprachlosigkeit. Es sei eine Erfahrung, in der etwas in Erscheinung trete, »wo die Sprache schweigt«268. In diesem Sinn verwehre sich die Erscheinung ihrer Bestimmbarkeit, da sie »unerklärlich ins Blickfeld« rücke und sich als »Gegenwärtigkeit eines Fremden oder Anderen«269 zeige. Bezug nehmend

262 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 752. 263 Vgl. dazu H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 752 und 757. 264 Ebd., S. 752. 265 Ebd., S. 756. 266 Ebd., S. 760. 267 Ebd., S. 762 und 761. 268 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 44. 269 Ebd., S. 45.

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auf Lyotard verknüpft er das Erhabene mit dem »Unausdrückbaren«270. In Form einer »Entmächtigung« breche es mit »den Ordnungen des Symbolischen und der Schrift«271 und widersetze sich einer Aneignung durch sie. In diesem Zusammenhang drängt sich geradezu die Frage nach der Beschreibbarkeit des Unbegreifbaren auf. Wie lässt sich eine Erscheinung nachträglich beschreiben, die im Moment sprachlos macht? Bohrer, auf den sich sowohl Lehmann als auch Mersch beziehen, verbindet seine Überlegungen zum Erhabenen als Epiphanischem und Plötzlichem ebenfalls mit der Sprachlosigkeit. Im ekstatischen Augenblick agiere »nicht mehr der Begriff«272. Er vergleicht das Erfahren des Augenblicks der Plötzlichkeit mit der berühmten Lord-Chandos-Krise. Die Erfahrenden befänden sich in einer Situation, die mit dem Zustand des Lord Chandos in einem von Hofmannsthal verfassten fingierten Brief vergleichbar sei, der »etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares«273 an den Erscheinungen wahrnehme. Hofmannsthal beschreibe in dem Brief eine »Entfremdung in der Sprache«274; eine Kluft werde aufgerissen zwischen der Sprache und dem, was sie bezeichnen soll. Die Worte, so betont Bohrer, gehorchten nicht mehr. Es komme angesichts eines Unbekannten zu einem »Einbruch des Unverständlichen«275. Schon bei Burke finden sich Überlegungen, die das Moment der Sprachlosigkeit andeuten. Das Erhabene versteht er als eine Wirkung, die das Subjekt »ausschließlich von einem Objekt erfüllt«, sodass es »in folgerichtiger Weise über jenes, das ihn beschäftigt, [nicht] räsonieren kann«276. Burke verknüpft es mit einer Erfahrung, die ein verstehendes Durchdringen des Objektes unmöglich machen lässt, das Subjekt überwältigt und regelrecht sprachlos macht. »Daher kommt die große Macht des Erhabenen: daß es nämlich, weit davon entfernt, von unserem Räsonnement hervorgerufen

270 Ebd., S. 134. 271 Ebd., S. 140. 272 K.H. Bohrer: Plötzlichkeit, S. 54. 273 Hofmannsthal, Hugo von: »Ein Brief«, in: Ders., Gesammelte Werke (= Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, Band 7), hrsg. von Bernd Schoeller, Frankfurt/M.: Fischer 1979, S. 467. 274 K.H. Bohrer: Plötzlichkeit, S. 55. 275 Ebd., S. 61. 276 E. Burke: Ideen vom Erhabenen und Schönen, S. 91.

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zu sein, diesem vielmehr zuvorkommt und uns mit unwiderstehlicher Kraft fortreißt.«277 Das Unbegreifbare, so kann in Anlehnung an den Topos des Erhabenen gesagt werden, macht regelrecht sprachlos. Die Sprachlosigkeit gründet in all den bisher erörterten Aspekten des Unbegreifbaren: im überwältigenden Charakter, der nie eindeutigen Gefühlswelt zwischen Attraktion und Repulsion, dem Problematischwerden des Verstehens, der Unmöglichkeit einer Synthesis, dem sich plötzlich herausschälenden Augenblick gesteigerter Intensität und den damit verbundenen Facetten des Ereignishaften.

4. ÄSTHETIK

DES

U NBEGREIFBAREN

Trotz des vermeintlichen Gleichklangs wird der Begriff des Unbegreifbaren nicht zugunsten des Erhabenen aufgegeben – zumal die bisherigen Erörterungen nur Gemeinsamkeiten, nicht aber Abweichungen fokussiert haben. Es ging darum, vor der Folie des Erhabenen das Unbegreifbare zu präzisieren. Das Erhabene weist eine weitreichende Bedeutungsgeschichte auf, die nur ansatzweise nachvollzogen wurde. Innerhalb des weit gefächerten Bedeutungshorizonts gibt es zahlreiche Positionen, die dem hier entwickelten Unbegreifbaren nicht entsprechen und deshalb eine Gleichsetzung des Unbegreifbaren mit dem Erhabenen problematisch erscheinen lassen. Die Kantische »Geste der Umkehrung der Ohnmachtserfahrung in Selbstaffirmation«278 wäre ein solches Beispiel. Die Nachwirkung des Gefühls des Erhabenen führe zu einer Selbstbestätigung des Subjekts, einer Überlegenheit gegenüber der erhabenen Erscheinung, da es das Bewusstsein der Besonderheit des Menschen wecke. Martin Seel arbeitet ein Dilemma heraus, in das sich Kant mit diesem Verständnis des Erhabenen begibt. Es führe zu dem Paradox, dass die überwältigende Erscheinung die Erfahrenden überhaupt nicht treffe, scheinen sie doch in ihrer Selbstbestätigung dem Erhabenen überlegen zu sein.

277 Ebd. 278 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 760.

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»Obwohl von unfasslichen Phänomenen sinnlich berührt, bleibt unser übersinnliches Selbst ganz unberührt. Diese Lösung aber erzeugt ein Dilemma. Ihre Antwort schafft die Erschütterung des Erhabenen aus der Welt. Die Betroffenheit durchs inkommensurable Phänomen soll darin bestehen, dass wir uns als nicht eigentlich betroffen erfahren. Kants Ästhetik des Erhabenen ist über das Erhabene – erhaben.«279

Dieses von Seel beschriebene Dilemma basiert auf der Überlegung Kants, das Erhabene ausschließlich im »Gemüte des Urteilenden« anzusiedeln, das sich »in seiner eigenen Beurteilung gehoben«280 fühle. Auch Schiller folgt dieser Annahme der Überlegenheit des »Vernunftwesens«281 angesichts einer erhabenen Erscheinung. Vielmehr müsste von einer subversiven Dynamik der Kantischen und Schillerschen Theorie ausgegangen werden, wie sie Lyotard entwirft, die das Subjekt nicht zu einer Gewissheit seiner Selbst bringe, sondern diese Gewissheit vielmehr untergrabe.282 Weiterhin würde der Begriff des Erhabenen in philosophische Diskurse münden, deren Erörterung nicht gewinnbringend für die hier im Zentrum stehenden Phänomene erscheinen, wie beispielsweise die Diskussionen um die Begriffe der Vernunft oder der Moral, wie sie bei Schiller eng mit dem Begriff des Erhabenen verknüpft werden. Schiller geht es um eine moralische Erhebung, die das Erhabene auslöse.283 Um diese sowie auch angrenzende Debatten um Metaphysik und Transzendenz soll es beim hier zu entwickelnden Begriff des Unbegreifbaren nicht gehen. Stattdessen wird der Begriff des Unbegreifbaren vorgezogen und im folgenden Abschnitt als ein ästhetischer entwickelt – erneut ein Grund, den im Gegensatz dazu breiter angelegten Begriff des Erhabenen in den Hintergrund zu rücken. Erhabenes ist keineswegs eine ästhetische Erfahrung allein, vielmehr könne es daneben auch eine »Kultur des Erhabenen«284 geben, die das individuelle und soziale Leben hinsichtlich des Nicht-Übereinstimmenden gesellschaft-

279 Seel, Martin: »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen? Ein neuer Sammelband über das Erhabene«, in: Merkur 9 (1989), S. 917. 280 I. Kant: »Kritik der Urteilskraft«, S. 590 (§26). 281 F. Schiller: Vom Erhabenen, S. 9. 282 M. Seel: »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?«, S. 919. 283 Vgl. dazu F. Schiller: Vom Erhabenen, S. 9. 284 M. Seel: »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?«, S. 916.

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lich betrachten würde oder – in Anlehnung an Seel formuliert – eine ›Politik des Erhabenen‹ wie es beispielsweise Michael Hardt und Antonio Negri in ihrer Studie Multitude. Krieg und Demokratie im Empire oder auch Wolfgang Welsch in Unsere postmoderne Moderne andeuten, die gesellschaftspolitische Entwicklungen hinsichtlich der Aufrechterhaltung von Differenz und Vielfalt zu betrachten suchen.285 Auch hat sich angedeutet, dass der Begriff des Erhabenen verstärkt auf das momentane ›Zwischen‹ abhebt und weniger das Nach- und Weiterwirken zu untersuchen scheint, das sich jedoch als zentral für das bisher entwickelte Unbegreifbare erweist. Als Begriff wird deshalb das Unbegreifbare dem Erhabenen vorgezogen. Trotzdem kann er weiterhin dazu dienen, zentrale Facetten des hier vertretenen Unbegreifbaren sichtbar werden zu lassen wie beispielsweise die noch genauer zu behandelnde Frage nach der spezifischen Intensität des Unbegreifbaren: Ab wann kann vom Unbegreifbaren gesprochen werden? Anhand ausgewählter gegenwärtiger philosophischer Positionen, die sich auf den Topos des Erhabenen beziehen, soll in den nächsten Abschnitten eine Typologie des Unbegreifbaren entwickelt werden, die sich für eine Analyse des Phänomens gewinnbringend erweisen kann. Hierbei wird insbesonders auf die Gedanken Seels und Waldenfels Bezug genommen, um auch der Frage nachzugehen, inwiefern das hier vertretene Unbegreifbare als ein Ästhetisches zu verstehen wäre. Desweiteren wird in diesen Ausführungen immer wieder das entstehende Problem des Versprachlichens von Unbegreifbarem auftauchen, das in das anschließende Kapitel hineinreicht, in dem methodische Überlegungen angestellt werden. Unbegreifbares als Ästhetisches Bisher wurde das Unbegreifbare als ein Ästhetisches nur angedeutet, jedoch noch nicht konsequent herausgearbeitet. Fischer-Lichte spricht von ästhetischer Erfahrung, obgleich sie sich nicht auf die ästhetische Theorie, sondern auf die Ritualforschung bezieht. Insbesondere Lehmann und Mersch

285 Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/M./New York: Campus 2004; Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: Oldenbourg Akademieverlag 1987.

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orientieren sich an der ästhetischen Philosophie. Sie beziehen sich auf Bohrer, der von ästhetischen Augenblicken ausgeht und sie einem ästhetischen Erscheinungsvorgang zuordnet; oder auf Lyotard, der eine Ästhetik des Erhabenen entwickelt; oder auf Adornos Ästhetische Theorie. Unbegreifbares wurde gefasst als ein Zwischenphänomen, das gleichfalls inszenatorische Setzungen und Erfahrungen betrifft sowie auch im Danach insbesondere mentale Wirkungen des Nachdenkens zeitigt. Im Moment zieht es als ein Phänomen gesteigerter Intensität plötzlich in den Bann und vermag Gefühle der Überwältigung, des Schocks, aber auch der Faszination auszulösen. Vorgänge des Verstehens, Begreifens und Interpretierens werden gestört, unterbrochen oder sogar angehalten, sodass Erfahrende sprachlos werden – überwältigt angesichts eines Phänomens, das sich nicht in Worte kleiden lässt. Im Danach kurbelt es jedoch eine nachträgliche Reflexion geradezu an. Die Bewegung des Nachdenkens versucht dem vergangenen Moment erinnernd, beschreibend und analysierend nachzugehen, ohne es jemals zu erfassen, sondern vielleicht nur ansatzweise zu berühren. Kognitive und affektive Dimensionen, Attraktion und Repulsion bedingen sich. Ästhetik bezieht sich hier ganz offensichtlich auf Aisthetik, also auf Wahrnehmungen, Objekte der Wahrnehmung und auf das nachträgliche in Beschreibungen und Analysen stattfindende Erinnern von Wahrnehmungsgeschehen. Eine Ästhetik des Unbegreifbaren bezieht sich auf aisthetische Vorgänge, die in ihrem Vollzug irritiert werden, zu einem Problematischwerden kognitiven Begreifens führen und Gefühle der Überwältigung, Faszination und des Schocks auslösen. Wahrnehmen, das durch seinen flüchtigen Charakter per se ereignishaft ist, steigert sich zu einer intensivierten Form des Gewahrwerdens, das geradezu seinen ereignishaftflüchtigen Charakter bewusst werden lässt wie auch die zweite Bedeutungsfacette des Ereignisses – den einschneidenden Bruch bestehender Ordnungen. Ästhetik mit Aisthetik zu verbinden, mündet hier in die Beschreibung und Analyse subversiver Wahrnehmungsprozesse, die insbesondere das Verstehen, aber gleichfalls Gefühls- und Erinnerungswelten betreffen. Unbegreifbares bezieht sich auf eine ästhetische Form, die zu Wahrnehmungs-, Verstehens- und auch Gefühlsirritationen führt. Keinesfalls bezieht es sich auf Irritationen aller Art: So muss beispielsweise eine irritierende Erfahrung in einer fremden Kultur nicht automatisch mit ästhetischer Fremdheit verbunden werden, sondern vielleicht eher mit Fragen der Inter-

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kulturalität oder des Vergleichs von Eigenem mit Fremden; oder auch die Konfrontation mit körperlichen Deviationen kann andere Erfahrungen zeitigen als sie eine Ästhetik des Unbegreifbaren im Blick hat. Jedoch wird nicht ausgeschlossen, dass durch inszenatorische Setzungen kulturelle oder auch körperliche Fremdheiten in ästhetische Erfahrungswelten des Unbegreifbaren münden können. Die Ästhetik des Unbegreifbaren soll Möglichkeiten des Beschreibens und Analysierens von Performern im Theater, in Kunst und Kultur bieten. Ein Begriff des Ästhetischen von Lyotard, der seine Ästhetik des Erhabenen für nur künstlerische Formen entwickelt, reicht ihr nicht aus. Vielmehr muss ein weiter Begriff des Ästhetischen zugrunde gelegt werden, der sich gleichsam auf Kunst und Kultur beziehen lässt. Sowohl Wolfgang Welsch als auch Martin Seel beziehen sich auf das Begriffspaar ›Ästhetik‹ und ›Aisthetik‹ – beide in Anlehnung an Alexander Gottlieb Baumgarten, dem Gründungsvater der Ästhetik im Jahr 1750. Ästhetik sei ein Phänomen, das die Wahrnehmung betreffe und gleichfalls in Kunst und Kultur zu begegnen sei, so lässt sich die Perspektive der beiden zusammendenken. Jedoch gehen Welsch und Seel von konträren Beziehungen aus, was in zwei divergierende Ästhetikbegriffe mündet. Welsch setzt Ästhetik mit Aisthetik gleich, wohingegen Seel das Ästhetische als nur eine Variante des Wahrnehmens dem Aisthetischen unterordnet. Diese nur geringe Verschiebung der Beziehung führt in radikal gegensätzliche Perspektiven. Mit den Positionen von Welsch und Seel, die sich beide auf den ästhetisch gefassten Erhabenheitsdiskurs beziehen, lässt sich im Folgenden ein Begriff des Ästhetischen diskutieren und entwickeln, der dem Unbegreifbaren im Theater, in Kunst und Kultur zu Grunde gelegt werden kann. »Ich möchte Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art [Herv. i.O.], sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen.«286

In seiner Verschränkung von Wahrnehmung und Ästhetik geht Welsch von einer Erweiterung des Gegenstandsbereichs des Ästhetischen aus. Ästhetik handle nicht nur von der Kunst, sondern sei umfassend in der Lebenswelt

286 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 2003, S. 10.

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zu finden.287 Er geht sogar soweit, die Wirklichkeit generell ästhetisch zu verstehen. »Wir sehen keine ersten oder letzten Fundamente mehr, sondern Wirklichkeit nimmt für uns eine Verfassung an, wie wir sie bislang nur von der Kunst her kannten – einer Verfassung des Produziertseins, der Veränderbarkeit, der Unverbindlichkeit, des Schwebens usw. Im einzelnen erfolgt die Ästhetisierung auf unterschiedliche Weise, zusammengenommen aber ergibt sich ein Generalbefund von Ästhetisierung.«288

Angesichts der umfassenden »Ästhetisierung des Realen«289, von der auch Gernot Böhme ausgeht, müsse die Wirklichkeit als ästhetisch konstituiert zu betrachten sein. Wirklichkeit sei »im ganzen als ästhetisches Konstrukt«290 zu begreifen. Im Zusammenhang mit der universalen Setzung des Ästhetischen spricht Welsch von einer Grundsätzlichkeit ästhetischen Denkens für die Kunst- und Lebenswelt. Es sei »heute das eigentlich realistische«291 Denken. Dieses verbindet er über den Begriff des Ästhetischen als Aisthetischem eng mit dem Wahrnehmen. »Ästhetisches muss, damit von ›ästhetischem Denken‹ gesprochen werden kann, nicht bloß Gegenstand der Reflexion sein, sondern den Kern des Denkens selbst betreffen. Das Denken muss als solches eine ästhetische Signatur aufweisen, muss ästhetischen Zuschnitts sein. Das heißt vor allem: Es muss in besonderer Weise mit Wahrnehmung – aisthesis [Herv. i.O.] – im Bunde sein. Ästhetisches Denken ist eines, für das Wahrnehmungen ausschlaggebend sind.«292

Welschs Ästhetikbegriff zeigt sich als ein grundsätzlicher und universeller. Er bezieht sich umfassend auf Kunst und Kultur, die beide grundsätzlich ästhetisch seien und insofern ein ästhetisches Wahrnehmen und Denken er-

287 Vgl. dazu Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart: Reclam 1996, S. 5. 288 Ebd., S. 21. 289 Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Fink 2001, S. 20. 290 W. Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, S. 10. 291 W. Welsch: Ästhetisches Denken, S. 110. 292 Ebd., S. 46.

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möglichten. Ästhetisches Wahrnehmen sei das einzig mögliche in einer Wirklichkeit, die sich durch »hochgradige Pluralität«, der »Koexistenz des Heterogenen« und des »radikal Verschiedenen«293 auszeichne. Ästhetik könne demnach mit dem Begriff der »Andersheit«294 verbunden werden: »Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit wären für sie Grundkategorien. Gegen das Kontinuum des Kommunizierbaren und gegen die schöne Konsumption setzt sie auf Divergenz und Heterogenität.«295

In dieser Passage wird eine Nähe der als ästhetisch gedachten Wirklichkeit zum Topos des Erhabenen augenscheinlich. Kein Wunder also, dass Welsch insbesondere in Anlehnung an Lyotard und Adorno Ästhetik immer wieder mit dem Erhabenen umschreibt. Er geht sogar so weit, Ästhetik generell als Erbe des Erhabenen zu setzen, welches »in die Poren unseres Bewusstseins«296, unserer Zeit und unserer Weltsicht gedrungen sei. Insofern gebe die ästhetische Philosophie des Erhabenen einer Welt- und Wirklichkeitssicht Ausdruck, die selbst erhaben sei. Das Erhabene erlange dadurch eine »neue Aktualität«, insofern es sich »als Anwalt des Ganzen«297 umfassend auf die Wirklichkeit beziehe und diese als ein universelles Ästhetisch-Erhabenes beschreibt, in der Heterogenität, Fremdheit und Pluralität vorherrsche. Diese Perspektive des umfassend gedachten Ästhetischen bewahre »vor der dekretorischen Verengung des Ästhetischen auf nur einen Typus«298. Mit dieser Formulierung deutet Welsch die Kritik an seiner Theorie an, die insbesondere von Seel in seinem Aufsatz »Wider ästhetisches Denken« formuliert wird. »Eine Aisthetik, die zugleich Ästhetik sein will, ist keines von beiden. Sie klärt weder über allgemeine Bedingungen menschlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit, noch über den besonderen ästhetischen Gebrauch dieser Fähigkeit auf an-

293 Ebd., S. 62 und 69. 294 Ebd., S. 39. 295 Ebd. 296 Ebd., S. 156. 297 Ebd., S. 143 und 155. 298 W. Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, S. 6.

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gemessene Weise auf. Wer Wahrnehmung und Wirklichkeit selbst ästhetisch fasst, verliert alle Möglichkeit, den besonderen Spielraum [Herv. i.O.] ästhetischer Wahrnehmung zu fassen.«299

Seel entwirft einen Ästhetikbegriff der ausdrücklich nicht allumfassend in der Wirklichkeit aufzufinden und als Wirklichkeit zu betrachten ist. Vielmehr entwickelt er ihn im Sinn eines besonderen Wahrnehmungsmodus, einer ästhetischen Form des Wahrnehmens, die zwar jederzeit und überall möglich sei, jedoch aber nicht immer und grundlegend stattfinde. »Wir können auf alles und jedes, das irgendwie sinnlich gegenwärtig ist, ästhetisch reagieren – oder nicht.«300 Insofern geht Seel im Gegensatz zu Welsch von einem eindeutigen »Unterschied [Herv. i.O.] zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Wahrnehmung und Wirklichkeit«301 aus. Welschs entgrenzte Ästhetik verfehle »die Wirklichkeit des Ästhetischen innerhalb und außerhalb der Kunst«302. In Opposition zu Welsch kommt Seel zu dem Schluss: »Ästhetik kann nur ein begrenzter Teil des stolzen Projekts einer Aisthetik sein.«303 Mit dieser Annahme wendet er sich auch gegen das allumfassende Verständnis des Erhabenen: »Wer sich wirklich an den Wider-Sinn, an die unterbrechende Zeit des Erhabenen hielte, dürfte kein Erhabenes Zeitalter ins Auge fassen, dürfte nicht wie Welsch versuchen, ›das Ganze‹ der Gegenwart oder des Seins auf den Begriff zu bringen. Ist doch das erhabene Bewusstsein – bei Kant wie bei Lyotard – die Erfahrung, außerhalb jedes Ganzen zu stehen. Ist doch die erhabene Erfahrung gerade die einer unaufhebbaren Fremdheit gegen über allem, was dem Menschen als Ganzes fasslich sein kann.«304

Mit seiner Theorie ästhetischen Wahrnehmens entwickelt er das Erhabene nicht als einen Begriff, der das Ganze der Wirklichkeit zu umschreiben

299 Seel, Martin: »Wider das ästhetische Denken«, in: Akzente 6 (1993), S. 570. – Siehe auch M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 46. 300 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 64. 301 M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 37. 302 M. Seel: »Wider das ästhetische Denken«, S. 564. 303 Ebd., S. 570. 304 M. Seel: »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?«, S. 921.

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sucht, sondern sich nur auf besondere, plötzlich herausschälende Momente bezieht, auf Erfahrungen des Bruchs. »Nur als Gegen- oder Grenzbegriff, nicht hingegen als Zentralbegriff hat der Begriff des Erhabenen Sinn.«305 Folglich wird sich eine Ästhetik des Unbegreifbaren an dem Ästhetikbegriff Seels orientieren müssen, um den oben genannten Charakteristiken des Bruchs, der Plötzlichkeit und Augenblicklichkeit theoretischen Ausdruck verleihen zu können. Zunächst wird in Anschluss an Seel von der Annahme ausgegangen, dass sich Ästhetik auf eine besondere Form des Wahrnehmens bezieht, ein ästhetisches Wahrnehmen, das sich von alltäglichen Modi des Gewahrwerdens abhebt. Während sich nicht-ästhetisches Wahrnehmen »durch die Möglichkeit der bewussten und begreifenden Erfahrung« auszeichne, hebe sich das ästhetische Wahrnehmen von dem Begreifen ab und achte auf dasjenige, »was in den Dingen unbestimmbar«306 sei. Nicht zuletzt weil Seel das Ästhetische mit dem Unbestimmbaren in Verbindung bringt, rücken seine Gedanken in die Nähe einer Ästhetik des Unbegreifbaren, sondern auch wegen seiner Erarbeitung verschiedener Intensitätsniveaus innerhalb des Ästhetischen. Seel deutet in seiner ästhetischen Wahrnehmungstheorie Steigerungsformen ästhetischen Wahrnehmens an, Erlebensformen, die ästhetisches Wahrnehmen noch einmal intensivieren. Eine besondere, sich innerhalb des Ästhetischen abhebende Intensität des Unbegreifbaren wurde schon angedeutet. Mersch spricht von ekstatisch heraustretenden Momenten innerhalb einer Ästhetik des Performativen und Lehmann von epiphanischen Augenblicken, die er mit Lyotard an den Intensitätsbegriff knüpft. Eine Erörterung mit Seel bietet sich im folgenden Abschnitt an, um die Frage nach dem Intensitätsgrad des Unbegreifbaren zu behandeln. Die besondere Stellung des Unbegreifbaren innerhalb des Ästhetischen, die sich deutlich abhebende Position, verspricht in Anlehnung an Seels Theorie deutlicher hervorzutreten. Ab welcher Intensität kann vom Unbegreifbaren gesprochen werden? Weiterhin ist auch zu diskutieren, wie sich der bisher erarbeitete Begriff des Unbegreifbaren zu Seels Verständnis des Unbestimmbaren positioniert.

305 Ebd., S. 922. 306 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 50 und 38.

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Ästhetik gesteigerter Ereignishaftigkeit Seel verbindet seinen an Lyotard orientierten Begriff des Erhabenen nicht nur mit dem einschneidenden Bruch, sondern insbesondere mit einer besonderen Radikalität. Der Leitgedanke Lyotards sei, »das extreme Kunstwerk als ein Ereignis aufzufassen, das die Verständlichkeit und Kontinuität alles Vorhandenen, allen Geschehens unterbricht«307. Hierbei bringe es etwas zur Geltung, »was sich dem Verstehen entzieht«308. In folgender Aussage deutet Seel sein theoretisches Verständnis des Erhabenen an: »Man könnte das, freilich in Abweichung von der üblichen Terminologie, eine radikal kontemplative Theorie des Erhabenen nennen. Radikal ist sie, weil sie die sinnliche Anschauung von aller theoretischen Erfassung trennt. Diese Anschauung bringt die Welt in einer puren und zeitgebundenen Phänomenalität zum Vorschein, die von keiner rationalen Ordnung begriffen werden kann. Jedoch ist das nicht die Offenbarung einer neuen, höheren, eigentlichen Sphäre des Seins, es ist ein Vorkommnis, das allein inmitten der gedeuteten Welt – und in unaufhebbarem Kontrast zu ihr – eintreten kann.«309

Das Erhabene umschreibe eine radikale Form kontemplativen Gewahrwerdens, das sich von jeglicher theoretischen Erfassung trenne. Theoretische Kontemplation verbindet Seel mit reflexivem Erkennen, mit einer Wahrnehmungsform, die sich insbesondere als »eine Tätigkeit des Erkennens, Verstehens und Begreifens«310 vollziehe. Eben dieses nicht-ästhetische oder auch sinnliche Wahrnehmen werde im Kontext des Erhabenen nicht einfach nur überschritten, sondern radikal suspendiert. Es deutet sich eine besonders radikale Form des Wahrnehmens an, die Seel in späteren Publikationen mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung umschreibt. Ästhetische Erfahrung versteht er im Sinn einer »Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung«311. Mithilfe des Ereignisbegriffes leitet er seinen Begriff

307 M. Seel: »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?«, S. 917. 308 Ebd. 309 Ebd., S. 918. 310 M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 265. 311 Seel, Martin: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung. Fünf Thesen«, in: Gerd Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung

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der ästhetischen Erfahrung her, der sich deutlich von alltäglichen und auch ästhetischen Wahrnehmungen abhebt. »Von diesen überall möglichen und überall üblichen Episoden ästhetischer Wahrnehmung, so möchte ich sagen, unterscheidet sich ästhetische Erfahrung dadurch, dass sie für diejenigen, die sie durchleben, zum Ereignis wird. Ästhetische Erfahrung, mit einem Wort, ist ästhetische Wahrnehmung mit Ereignischarakter [Herv. i.O.].«312

Mit Seel lassen sich somit drei Modi des Wahrnehmens differenzieren: sinnliches Wahrnehmen, ästhetisches Wahrnehmen und ästhetisches Erfahren. Letzteres kommt einer Ästhetik des Unbegreifbaren besonders nah, verknüpft Seel es doch mit Ereignishaftigkeit, besonderer Intensität und, wie sich noch zeigen wird, Unbestimmbarkeit. Die bisher mit Mersch und Lehmann nur angedeutete Intensität des Unbegreifbaren kann mit Seel noch genauer ausgearbeitet werden. Von Ereignissen solle dann die Rede sein, wenn ein bestimmtes Vorkommnis bedeutsam werde, wenn etwas möglich werde, das »bis dahin nicht möglich war oder schien«313. In diesem Sinn könnten sie als »Unterbrechungen« oder »Risse in der gedeuteten Welt« verstanden werden, da sie »etwas plötzlich und unausweichlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken«314. Sein Verständnis des Ereignisbegriffs ist durchaus mit Merschs und Lehmanns Annahmen vereinbar, Ereignisse als plötzlich auftretende, radikale Zäsuren zu verstehen, die eine Sukzession durchschneiden. Seel denkt sie als »umstürzende Veränderungen«315, zu denen immer auch die Irritation und Störung gehöre. Wie Mersch schreibt er Ereignissen einen Widerfahrnischarakter zu. Eine »Umstellung unserer Orientierung«316 sei die Folge, tritt doch etwas in Erscheinung, mit dem man so nicht rechnen konnte. Als ein auffällig werdendes Widerfahrnis sei es »nicht ohne

der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg: Felix Meiner 2004, S. 73. 312 Ebd., S. 75. 313 Ebd. 314 Ebd. 315 M. Seel: Paradoxien der Erfüllung, S. 15. 316 Ebd., S. 14.

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weiteres in den Gang der Dinge einzuordnen«317 und irritiere, störe und durchbreche die Kontinuität des Erwartbaren. Seel überträgt die Gedanken der Auffälligkeit, Veränderung und Irritation des Ereignishaften auf seinen Begriff der ästhetischen Erfahrung. Im Modus ästhetischen Erfahrens werde man mit Phänomenen konfrontiert, die als einschneidende Veränderung »auf bis dahin ungeahnte Weise«318 das ästhetisch Erwartbare überschreiten. Auf diese Weise besäße die ästhetische Erfahrung eine besondere Intensität, die »uns sehr viel seltener widerfährt«319 als die ästhetische Wahrnehmung. Insofern lasse sie sich auch »nicht abrufen wie unspektakuläre Formen der ästhetischen Wahrnehmung«320. Wie das bisher erarbeitete Unbegreifbare verweist die ästhetische Erfahrung innerhalb des Ästhetischen auf eine intensivierte Erfahrensdimension, die das ästhetisch Erwartbare radikal überschreitet. Sie ist wie das Erleben von Unbegreifbarem mit einer radikalen Intensität verbunden, die sich von herkömmlichen Formen ästhetischen Wahrnehmens zusätzlich abhebt und sie dementsprechend steigert. »Das ruhige Verweilen in der Bewegung eines Augenblicks, das für die einfache ästhetische Wahrnehmung charakteristisch ist, steigert sich hier zu einer bewegenden Anschauung bewegter Gegenwart.«321

Die Ästhetik des Unbegreifbaren folgt Seel in diesem Punkt und verbindet das ästhetische Vernehmen mit einer Steigerung ästhetischen Wahrnehmens. Im Sinn einer Radikalisierung gerät die Erfahrung in eine intensivierte Bewegtheit, sodass die erscheinende Gegenwart als »ein Aufstand der Gegenwart gegen die übrige Zeit«322 verstanden wird, ein Phänomen, das dem Begreifen nicht nur kurzzeitig widersteht, sondern sich ihm radikal widersetzt, sodass es auch im Nachhinein nicht in ein Begreifbares überführt werden kann. Es bleibt als Unbegreifbares bestehen, da es das ästhetisch Erwartbare um ein Vielfaches überschreitet. Augenblicke ästhetischen

317 Ebd. 318 M. Seel: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, S. 76. 319 Ebd. 320 Ebd. 321 Ebd. 322 Ebd., S. 75.

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Erfahrens widerfahren insofern viel seltener und können demnach als einschneidende Ereignisse besonderer Intensität gefasst werden. Sie sind somit keine Paradoxien, die noch nicht vom Verstehen eingeholt sind, sondern Phänomene, die sich radikal dem Begreifen widersetzen. Innerhalb des Ästhetischen zeigen sich Augenblicke, die eine gesteigerte ästhetische Radikalität besitzen, weil sie das ästhetisch Erwartbare überschreiten. Nicht umsonst verknüpft Seel diese auffallenden und herausfallenden Intensitäten innerhalb des Ästhetischen mit dem Erhabenen. Das Ästhetisch-Erhabene könne »von keiner rationalen Ordnung begriffen werden«323, weshalb es sich zusätzlich zu einfachen Formen ästhetischen Wahrnehmens radikal abhebt. Ähnlich wie das Erhabene bei Seel eine Sonderstellung innerhalb des Ästhetischen einnimmt, soll auch das Unbegreifbare eine radikale Form ästhetischen Wahrnehmens umschreiben, die nicht mehr mit einem ruhigen, kontemplativen Verweilen in Verbindung gebracht werden kann. Da es im Gegensatz zum ästhetischen Wahrnehmen Erwartbares radikal übersteigt, zeigt sich das Erscheinende im Kontext einer Ästhetik des Unbegreifbaren in einer unruhigen und gesteigerten Bewegtheit. Es ist insofern bewegt, als dass es auch noch im Nachhinein seine rätselhafte Gestalt nicht verliert. Es zeigt sich als ein einschneidendes Ereignis des Unbegreifbaren. Ästhetische Wahrnehmung hebt sich von alltäglicher ab, bleibt aber im Rahmen des ästhetisch Erwartbaren, es bleibt eine charakteristische und innerhalb des Typischen stattfindende Wahrnehmung. Roselt spricht zwar von markanten Momenten, die aus Ordnungen herausfallen und auffallen. Jedoch scheinen sie nicht das von Seel herausgearbeitete Intensitätslevel zu meinen, da Roselt das Erleben von markanten Momenten als typisch und charakteristisch für jegliche Aufführungen ansieht. In Seels Modell wären sie eher dem ästhetischen Wahrnehmen und weniger der Radikalität ästhetischer Erfahrungen zuzuordnen. In Rekurs auf Seels Begriff der ästhetischen Erfahrung verbindet die hier vorliegende Arbeit das Unbegreifbare mit eher seltenen Wahrnehmungen innerhalb des Ästhetischen, die sich nicht als typisch und charakteristisch innerhalb des Erwartbaren zeigen, sondern sich deutlich außerhalb des Erwartbaren bewegen. Unbegreifbares entwickelt eine Intensitätsdynamik, die das ästhetisch Erwartbare derart überschreitet, dass es auch im Nachhinein unbegreifbar bleibt.

323 M. Seel: »Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen?«, S. 918.

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Vergleichbar ist die entwickelte Intensitätstypologie mit Gedanken Waldenfels’, der ebenfalls verschiedene Intensitätsniveaus mithilfe des Ereignisbegriffs differenziert. In seinen Forschungen zur Phänomenologie des Fremden entwickelt er wie Seel drei verschiedene »Intensitätsgrade«324. Zunächst gebe es die Möglichkeit, »etwas als etwas [Herv. i.O.]«325 wahrzunehmen, etwas in einem bestimmten Sinn zu verstehen und zu deuten. Ein unbestimmtes Objekt werde »zu etwas [Herv. i.O.], indem es einen Sinn empfängt und damit sagbar, traktierbar, wiederholbar wird«326. Vergleichbar ist diese Annahme mit Seels feststellendem Wahrnehmen, bei dem an sich unbestimmte Objekte oder Wahrnehmungen durch reflexive Arbeit zu bestimmten werden. Mit dem Ereignisbegriff entwickelt Waldenfels nun zwei sich davon abhebende Intensitätsgrade. Einerseits spricht er von Ereignissen, die »auf dem Boden der jeweiligen Ordnungen stattfinden«327; andererseits von »Schlüsselereignissen [Herv. i.O.]« bzw. von »Ereignissen im radikalen Sinne«328, die diesen Boden verließen und veränderten. Erstere zeigten sich zwar als Ereignisse und überraschten, indem sie eine Ordnung erschütterten. Jedoch, »wenn alsbald die gewohnten Verarbeitungs- und Abwehrmaßnahmen einsetzen«, würden sie von der Ordnung wieder eingeholt und rückten in diese wieder hinein, indem das Ereignis »benannt, klassifiziert, datiert, lokalisiert und Erklärungen unterworfen wird«329. Hierbei sei erlebbar, »wie das Ereignis hinter den ›Sinneskleidern‹ verschwindet und allmählich einen Sinn gewinnt«330. Im Gegensatz dazu zeigten sich Schlüsselereignisse oder »[e]inschneidende Ereignisse«331 als uneinholbar vom Verstehen. Sie bewegten sich nicht nur temporär außerhalb des Erwartbaren, sondern permanent. Ein Schlüsselereignis zeige sich als etwas, das »uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen übersteigt und sich unserem Zugriff

324 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 43. 325 Ebd., S. 34. 326 Ebd., S. 38. 327 Ebd., S. 35. 328 Ebd., S. 36 und 35. 329 Ebd., S. 46 und 51. 330 Ebd. 331 Ebd., S. 48.

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entzieht«332. Es könnte nicht »ins Allgemeine aufgehoben«333 werden. Vielmehr trete es uns entgegen »als nie völlig zu verwertender Überschuss, als etwas, das als sinn- und ziellos zu bezeichnen ist, sofern es die Sinnesnetze zerreißt, das Regelwerk unterbricht und auf diese Weise das Ereignis dekontextualisiert«334. Im Gegensatz zu schwächeren Ereignissen ließen sich radikale Ereignisse »niemals dingfest und sinnfest machen«335. Ähnlich wie Seel entwickelt Waldenfels drei Intensitätsstufen, die in die Nähe der Begriffe des sinnlichen Wahrnehmens, ästhetischen Wahrnehmens und schlussendlich ästhetischen Erfahrens rücken. Während jedoch Seels Typologie ausschließlich ans Ästhetische gekoppelt ist, bleibt Waldenfels allgemeiner. Er knüpft den Ereignisbegriff an »wissenschaftliche Entdeckungen, künstlerische Neuerungen, politische und religiöse Reformen oder Umbrüche im philosophischen Denken«336. Obwohl das Unbegreifbare in der vorliegenden Arbeit ausschließlich als ein Ästhetisches betrachtet wird und sich nicht explizit auf kulturelle, religiöse, politische oder körperliche Fremdheiten beziehen soll, wie es bei Waldenfels der Fall ist, kann trotz allem der sich abhebende Charakter des Ästhetisch-Unbegreifbaren mit Waldenfels augenscheinlich werden. Ausdrücklich geht es um diejenigen einschneidenden Ereignisse, die radikal wirken und insofern niemals von verstehenden oder begreifenden Bezugnahmen stillgestellt werden können. Sie bleiben auch im Nachhinein, wenn ein »fragendes Wissen- und Verstehenwollen«337 einsetzt, als unbegreifbare Ereignisse bestehen. Obgleich die dreigliedrige Typologie vielleicht schematisch erscheint, vermag sie die Intensität des hier im Zentrum stehenden Unbegreifbaren anzudeuten. Folgt man der Typologie Seels, könnte der Eindruck entstehen, dass das Unbegreifbare gerade aus dem Blickpunkt des Alltäglichen einen besonders radikal abhebenden Charakter entfalte, da es nicht nur die sinnliche Wahrnehmung übersteigt, sondern auch zusätzlich die ästhetische Wahrnehmung. Aus der Perspektive des Künstlerischen, dem schon von

332 Ebd., S. 7f. 333 Ebd., S. 57. 334 Ebd., S. 51. 335 Ebd., S. 54. 336 Ebd., S. 48. 337 Ebd., S. 58.

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Grund her im Modus des Ästhetischen begegnet wird, entwickelte die Abweichung des Unbegreifbaren eine nicht derart intensive Wirkung, übersteigt sie doch ›nur‹ das ästhetisch Erwartbare. Dieses Denken in Stufen in Korrelation mit dem Grad der Intensität ist natürlich dem Schematischen dieses Modells geschuldet. Hier soll nicht von der Annahme ausgegangen werden, dass Begegnungen mit dem Unbegreifbaren in der Lebenswelt eine grundsätzlich höhere Intensität haben als Begegnungen im Theater oder in der Kunst. Auch und gerade in künstlerischen Kontexten kann es zu Abweichungen kommen, die nicht nur das Alltägliche, sondern vielleicht auch bisher gesetzte theatrale und künstlerische Normen übersteigen können. Dies zeigt, dass nicht nur in der Lebenswelt, sondern auch im Theater und in der Kunst mit heftigen Irritationen zu rechnen ist. Das Unbegreifbare wird als Topos häufig mit Performern und Performances verbunden. Dennoch lässt es sich nicht als ein alltägliches bzw. immer und überall anzutreffendes Phänomen verstehen, denn sonst wäre es kein sich abhebendes Unbegreifbares mehr. Vielmehr ist es ein Moment besonderer Intensität, der nicht per se in jeder Performance, sondern eher selten zu erleben ist. Wurde nun Seels ästhetische Wahrnehmungstheorie mit Seitenblicken auf Waldenfels zur Herleitung des Intensitätsniveaus des Unbegreifbaren herangezogen, wird nicht automatisch davon ausgegangen, der bisher insbesondere mit Mersch und Lehmann entwickelte Begriff des Unbegreifbaren ist mit Seels Verständnis des Unbestimmbaren problemlos zu vereinen. Das Unbestimmbare leitet Seel nicht wie Mersch und Lehmann vom sich entziehenden Charakter des Sichzeigenden ab, sondern ganz im Gegenteil von einer sich zeigenden Fülle, einer im ästhetischen Modus erscheinenden »Merkmalsvielfalt« der Objekte, »die sich begrifflich nicht ausschöpfen«338 lasse. Obwohl Seel gleichfalls von einer im ästhetischen Vernehmen phänomenologisch gedachten »begriffliche[n] Inkommensurabilität«339 ausgeht, hat er doch ein anderes Verständnis der erscheinenden Unfassbarkeit. Die Diskussion der verschiedenen Annahmen bietet sich an, um das Ästhetisch-Unbegreifbare theoretisch zu denken und es auf das Problem des Versprachlichens zu beziehen, das schon mehrfach angesprochen wurde.

338 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 54. 339 Ebd.

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Forderung einer anderen Sprache Seel knüpft das Abhebende des Ästhetischen an den Begriff des »Unbestimmbaren«340. Im ästhetischen Wahrnehmen und auf besonders radikale Weise beim ästhetischen Erfahren zeige sich die Erscheinung in einer Unbestimmbarkeit und Unfassbarkeit. Es liege eine mehr oder weniger radikale »begriffliche[...] Unbestimmbarkeit«341 vor. In einem kontemplativen Verweilen bei den Gegenständen beachte man ein Spiel der Erscheinungen, bei dem es nicht um ein Erkennen gehe, sondern vielmehr nur um das Wahrnehmen selbst, um die Beachtung der sich zeigenden »unübersehbaren Fülle seiner Aspekte«342. Fülle versteht Seel als erscheinende Merkmalsfülle, die sich in gewisser Weise unerschöpflich beschreiben lasse – nie natürlich in Gänze, zeigen sich doch immer neue und andere Merkmale im »Spiel der ästhetischen Wahrnehmung«343. In der Fülle werde »ein Raum von Möglichkeiten des Erkennens«344 erfahrbar. Das von Mersch und Lehmann behauptete Problem der Beschreibbarkeit, das beide aus dem Entzug herleiten, stellt sich bei Seel in einer ganz anderen Weise. Es ist nicht das Sichentziehende, sondern die sich aufdrängende Fülle, die zu einer Unmöglichkeit des erschöpfenden Erfassens führe. Das Konzept der Fülle koppelt das Problem des Beschreibens nicht an die Unmöglichkeit, überhaupt Merkmale fassen zu können, sondern ganz im Gegenteil an das ›Zuviel‹ möglichen Erfassens. Es suggeriert die Möglichkeit eines unerschöpflichen Beschreibenkönnens und nicht wie die von Mersch und Lehmann im Begriff des Entzugs angedeutete grundlegende Frage der Beschreibbarkeit, die eher von einem Schweigen oder Versagen der Sprache gedacht wird und weniger von einer unerschöpflichen Möglichkeit des Versprachlichens.345 Seel geht vielmehr davon aus, dass sich an ästhetischen Erscheinungen immer noch mehr beschreiben ließe.

340 Ebd., S. 38. 341 Seel, Martin: Theorien, Frankfurt/M.: S. Fischer 2009, S. 85. 342 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 52. 343 Ebd., S. 20. 344 Ebd. 345 Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 44; H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 756.

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»Immer weitere Eigenschaften können oder könnten an ihnen diskriminiert werden; immer weitere Arten der Ansicht und der Beschreibung können oder könnten ihnen gewidmet werden. Auf immer Weiteres könnte ich achten; immer weitere Arten der wahrnehmenden Beachtung könnte ich hervorbringen.«346

Aus der erscheinenden Fülle, die eine unerschöpfliche Beschreibbarkeit biete, leitet nun Seel das Problem der Unmöglichkeit einer »deskriptiven Erfassung«347 ab. »Sosehr jeder Zug am Gegenstand, der hierbei auffällig wird, mit begrifflichen Mitteln beschreibbar ist: Das Zusammenbestehen dieser Züge spottet jeder Beschreibung. Die phänomenale Präsenz von Objekten und Ereignissen übersteigt das Vermögen ihrer deskriptiven Erfassung. Aber ein Bewusstsein dieser phänomenalen Fülle gibt es nur zusammen mit der Möglichkeit einer begrifflichen Musterung, die in ihrer Gegenwart an eine Grenze des eigenen Fassungsvermögens gelangt.«348

Nie könne das Ästhetische erschöpfend beschrieben werden. Eine Ästhetik des Unbegreifbaren, die von Sprachohnmächtigkeit und Sprachlosigkeit ausgeht, spricht sich gegen den Gedanken der Unbestimmbarkeit als Fülle aus. Unbegreifbares geht nicht von der grundsätzlichen Möglichkeit aus, der sich zeigende Gegenstand sei »mit begrifflichen Mitteln beschreibbar«349. Vielmehr wird mit Mersch immer die »Frage seiner Beschreibbarkeit« aufgeworfen, die sich nicht als ein unerschöpfliches ›Zuviel‹ beschreibender Möglichkeiten zeigt, sondern sich im Sinne seiner Akzentuierung des Sichentziehenden »der Sagbarkeit«350 sperrt. Gleichfalls spricht Lehmann vom »Versagen der Sprache«351. Das Problem des Beschreibens angesichts eines Unbegreifbaren stellt sich bei Mersch und Lehmann als viel grundsätzlicher dar. Die Bezeichnungsfunktion und die begriffliche Verarbeitung setzen im Moment des Erfahrens des Unbegreifbaren aus und konfrontieren mit einer Sprachlosigkeit anstatt einer Fülle an Beschrei-

346 M. Seel: Theorien, S. 84. 347 Ebd. 348 Ebd. 349 Ebd. 350 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 248 und 19. 351 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 756.

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bungsmöglichkeiten. Vielmehr werden die Grenzen des Beschreibbaren überschritten. Die hier entwickelte Ästhetik des Unbegreifbaren geht somit nicht von einer unüberschaubaren Merkmalsfülle aus, die das Problem des Beschreibens nur auf die Möglichkeit unerschöpflichen Beschreibens bezieht. Der Begriff des Merkmals suggeriert eine Greifbarkeit, die radikal angezweifelt wird. Das Erfahren des Moments des Unbegreifbaren wird daher mit einer einschneidenden »Entmächtigung«352 des Versprachlichens verbunden. Dies scheint zu der Folgerung zu führen, eine Analyse stehe vor der grundsätzlichen Unmöglichkeit des Beschreibens. Rückt man jedoch die Perspektive des Nachwirkens des Unbegreifbaren ins Licht, lässt sich diese Behauptung kaum stützen. Wie schon erkannt, setzt im Nachhinein, wenn das Unbegreifbare als Unbegreifbares überhaupt erst manifest wird, ein Verstehenwollen ein. Bormann, der die Perspektive des Nach- und Weiterwirkens thematisiert, formuliert den Drang des Verstehenwollens, der insbesondere in ein Beschreibenmüssen münden kann: »Eindrücke müssen einen Ausdruck finden [Herv. i.O.], sie müssen ihrerseits be-schrieben, und das heißt nichts anderes als: über-schrieben, fort-geschrieben, neu geschrieben werden [...].«353 Das Schweigen der Sprache im Moment des Erfahrens von Unbegeifbarem wirkt im Nachhinein wie eine Aufforderung, den nie zu erfassenden Moment beschreibend einzuholen. Hierbei sind Sprechende oder Schreibende einmal mehr, einmal weniger ihrer Unmöglichkeit bewusst, den Moment sprachlich einholen zu können. Eine Aufforderung zum nachträglichen verbalisierenden Realisieren, was überhaupt im Moment widerfuhr, ist grundlegend für die Erfahrung des Unbegreifbaren. Es kann niemals darum gehen, das Unbegreifbare sprachlich zu greifen. Vielmehr ist es ein Berührenwollen, das jedoch nie zu fassen vermag. Schreiben kann nur im Sinn eines ansatzweisen Berührens verstanden werden. Beschreibungen und Analysen stehen somit vor schwerwiegenden Herausforderungen, wollen sie die erarbeitete Charakteristik des Unbegreifbaren aufnehmen. Mit Wortelkamp verfolgt die Arbeit das Ziel, »die spezifischen Eigenschaften eines ästhetischen Phänomens nicht auszugrenzen und wissenschaftlichen Verfahrensweisen anzupassen, sondern im Gegenteil,

352 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 140. 353 H.-F. Bormann: »Bewegung der Aufzeichnung«, S. 29.

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Möglichkeiten zu suchen, die dem Gegenstand [...] entsprechen«354. Es gilt, »eine Sprache zu finden, die das Un(be)greifbare bewahrt; eine Sprache, die nicht versucht, das Ereignis auf den Begriff zu bringen«355. Dieses Ziel ziehe die »Frage nach einer eigensinnigen Beschreibung«356 nach sich, die die Erfahrung des Unbegreifbaren nicht stillzustellen versucht, sondern aufgreift. Eine andere Sprache wird notwendig, die schon mit Mersch angedeutet wurde, der davon ausgeht, dass nahezu sämtliche Kategorien des Beschreibens umgestaltet werden müssten.357 Waldenfels greift diesen Gedanken auf. Auch er stellt sich die Frage, wie man auf Fremdes eingehen könnte, ohne es »zu neutralisieren oder zu verleugnen«358. Ähnlich wie Wortelkamp und Mersch fordert auch Waldenfels eine andere Sprache: »Doch eine Erfahrung, die mit Widerfahrnissen anhebt, verlangt nach einer anderen Sprache, auch nach einer anderen Logik.«359 Das Schreiben über Unbegreifbares wird zu einer Notwendigkeit, zu einem Schreibenmüssen, das immer auch die Unmöglichkeit mitschreibt, das Unbegreifbare zu erfassen. Dabei müssen neue und andere Wege des Schreibens eingeschlagen werden, um es überhaupt ansatzweise berührbar zu machen. Das Unbegreifbare berühren Das Unbegreifbare, so lässt sich abschließend behaupten, ist ein besonderes Phänomen, das insbesondere Fragen nach seiner temporalen Verfasstheit, Beschreibbarkeit und Intensität aufwirft. Diese wurden in den vorherigen Abschnitten ausführlich diskutiert. Die folgende Übersicht greift Ergebnisse des Kapitels auf. Hierbei wird zudem der Begriff des Berührens präzisiert, der mehrfach in der Formulierung ›das Unbegreifbare berühren‹ auftauchte. Das Unbegreifbare zeigt sich in einer doppelten temporalen Perspektivität – in einem ›Zwischen‹ von Erfahrung und inszenatorischer Setzung sowie als Nachwirkung, bei dem es als Unbegreifbares manifest wird; erst im

354 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 117. 355 Ebd., S. 39. 356 Ebd. 357 Vgl. dazu D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 19. 358 B. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 9. 359 Ebd., S. 50.

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Nachhinein realisieren Erfahrende, was überhaupt geschah. In diesem Sinne ist es ein Bleibendes, Weiterwirkendes und Fortdauerndes, das in nachträglichen Prozessen des Erinnerns und Schreibens zur Gegenwart kommt und sich in diesen Prozessen zu verändern vermag. Eine Ästhetik des Unbegreifbaren geht in Anlehnung an Seel von einem weit gefassten Ästhetikbegriff aus: Ästhetische Wahrnehmungen sind jederzeit und überall möglich. Eine Ästhetik des Unbegreifbaren bezieht sich ausdrücklich auf Erfahrungen im Theater, in der Kunst und Kultur. Der weit gefasste Ästhetikbegriff ermöglicht es, das Unbegreifbare als ein Ästhetisch-Unbegreifbares in all diesen Bereichen zu entwickeln. Auf die Frage, inwiefern sich die Erfahrung des Unbegreifbarem im Theater von der in der Kunst oder Kultur unterscheidet, könnten Antworten folgen, die sich auf den je spezifischen Kontext beziehen, um Unterschiede hervorzuheben. Die vorliegende Arbeit schlägt jedoch einen anderen Weg ein. Sie behauptet, dass eine Betrachtung des Unbegreifbaren von dem je spezifischen Gegenstand ausgehen muss, das je Eigene und Besondere der Begegnung aufgreifen muss. Hierbei schwingen die unterschiedlichen Kontexte der Begegnungen immer auch mit. Die Forderung, vom jeweiligen Gegenstand auszugehen, vermeidet somit eine vorab gesetzte, ohnehin problematische theoretische Trennung zwischen Erfahrungen im Theater, in der Kunst oder Kultur. Sie berücksichtigt aber gleichzeitig den je spezifischen, sich unterscheidenden Kontext. Das Unbegreifbare kann also jederzeit und überall statthaben. Jedoch wird es nicht mit häufig vorkommenden, unspektakulären Formen ästhetischen Wahrnehmens gleichgesetzt, die im Rahmen des Erwartbaren bleiben und sich als ruhiges und kontemplatives Gewahrwerden zeigen. Beim Unbegreifbaren geht es ausdrücklich nicht um diese ästhetischen Wahrnehmungen, sondern um besondere, sich abhebende ästhetische Erfahrungen, die eher selten widerfahren. Sie erschüttern Erfahrende derart einschneidend, dass sich die Erfahrung des Unbegreifbaren als ein unruhiges und radikal bewegtes Gewahrwerden zeigt, das auch im Danach nicht beruhigt werden kann, sich einer Begreifbarkeit entzieht, sich ständig von Sicherheiten oder Stabilitäten wegbewegt, widerständig ist, nie stillzustellen ist. Nie lässt es sich in ein Begreifbares verwandeln. Auch im Danach schreibt sich die im Moment erfahrene gesteigerte Intensität fort, in der Gefühle der Überwältigung, des Schocks, aber auch der Faszination zusammenkommen. Das Unbegreifbare entwickelt eine Intensitätsdynamik, die ihm eine beson-

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dere Position innerhalb des Ästhetischen verleiht. Es macht bisher Unmögliches möglich.360 Es ist folglich ein eher selten widerfahrendes ästhetisches Phänomen, das als eine transgressive und bewegte Erfahrung begegnet, in der bestehende Erwartungen, was möglich und unmöglich ist, radikal überschritten werden. Ein annäherndes Berühren des Unbegreifbaren ist nur möglich, so die These, wenn das Unbegreifbare als Unbegreifbares in die Versuche des Zur-Sprache-Bringens aufgenommen werden. Berühren ist keinesfalls als ein Enthüllen oder sogar Begreifen zu verstehen, sondern vielmehr als ein partielles, temporäres Annähern. Im Versprachlichen kommt man dem Unbegreifbaren näher, überwindet partiell die Distanz. In Anlehnung an JeanLuc Nancy, der die Berührung dem Begreifen und Erfassen gegenüberstellt, sei auch hier davon ausgegangen, dass in der Berührung »der Fremde […] fremd bleibt«361. Sie kann nicht enthüllen, dechiffrieren oder entziffern, sondern die Distanz zu dem Fremdbleibenden nur »lokal, modal, fraktal«362 temporär aufheben. Der Begriff des Berührens als ein körperlicher Begriff sei hier metaphorisch verwendet, um die Unmöglichkeit des Begreifens, Ergreifens und Erfassens, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit einer aspekthaften Annäherung an das Unbegreifbare zu akzentuieren. Beschreibungen und Analysen setzen ebendort an: an dem Versuch des Berührenwollens. Denn das nachträgliche Beschäftigenmüssen, so hat sich gezeigt, rückt in den Kern des Unbegreifbaren. Turbulente Bewegungen des Berührenwollens setzen sich in Gang – Bewegungen des Erinnerns, Beschreibens und Analysierens. Beschreibungen und Analysen, die sich zum Ziel setzen, das Unbegreifbare zu berühren, müssen das Unbegreifbare als Unbegreifbares belassen. Nur in dieser Unmöglichkeit des Begreifens liegt die Möglichkeit des Berührens: Nimmt man das Unbegreifbare in die Praktiken des Zur-SpracheBringens auf, kann man sich ihm annähern, es aspekthaft berühren, es einer Beschreibung und Analyse zugänglich machen.

360 Vgl. dazu M. Seel: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, S. 75. 361 J.-L. Nancy: Corpus, S. 20. 362 Ebd., S. 76.

II. Methodik

Das Unbegreifbare stellt Beschreibungen und Analysen vor schwerwiegende Herausforderungen. Es wirft die grundlegende Frage seiner Beschreibbarkeit auf, entzieht es sich doch dem problemlosen Beschreibenkönnen. Gleichzeitig führt es jedoch im Nachhhinein zu einem Beschreibenmüssen, zu dem Drang, Worte für das Sichentziehende zu finden. In diese Spannung begibt sich dieses Kapitel und stellt die folgende Frage: Wie können Erfahrungen des Unbegreifbaren nach der Performance zur Sprache gebracht werden? Um diese Frage zu erörtern, entwickelt das Kapitel eine Schreibweise, die als ›nahes Beschreiben‹ bezeichnet wird – eine Schreibweise, die die in der Erinnerung gegenwärtig werdenden Erfahrungen in die Sprachlichkeit aufnimmt. Nur durch diese Praxis des Schreibens, so die grundlegende These, kann das Unbegreifbare als Unbegreifbares der Analyse überhaupt erst zugänglich gemacht werden. Weil das Unbegreifbare die Frage seiner Beschreibbarkeit aufwirft, muss der Praxis des Schreibens eine besondere Gewichtung verliehen werden. Am Anfang dieses Kapitels steht demnach ein Beschreibungsversuch – ein Versuch, sich unbegreifbaren Performern schreibend zu nähern. Er wendet sich einem Phänomen aus der japanischen Kultur zu. Erstmals begegnete ich ihm zufällig im Frühjahr 2009 während eines Forschungsaufenthalts in Tokyo. Beim Schlendern durch die belebten Straßen wurde ich davon regelrecht überrascht und überwältigt – kurz: Ich sah mich plötzlich mit einer Erfahrung des Unbegreifbaren konfrontiert. Ich war fasziniert, verunsichert und sprachlos. Die Erfahrung brannte sich regelrecht ein, sodass sie in der Erinnerung immer wieder auftauchte. Es handelt sich um eine in der japanischen Subkultur und Jugendkultur populären Selbstinszenie-

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rungspraktik, die unter der Umschreibung ›Cosplay‹ gefasst wird. Hinter dem schillernden Begriff, der vom Englischen ›costume play‹ abgeleitet ist, verstecken sich die unterschiedlichsten performativen Praktiken des Zeigens, Vorführens und Ausstellens, die mir bis dahin noch unbekannt waren. Anhand der Praxis des Schreibens über diese Performer deutet sich der Problemhorizont des Kapitels an. Denn aus dem Schreibversuch erwachsen eine Fülle methodischer Fragen an die Theorie und Praxis der Aufführungsanalyse, die die in diesem Kapitel stattfindende theoretisch-methodische Diskussion vorbereiten. Sie rückt allgemeine Probleme der Aufführungsbeschreibung und -analyse in den Mittelpunkt. Hierbei werden bestehende Methoden und Ansätze um neue Perspektiven erweitert. Neben der Erörterung allgemeiner Probleme der Aufführungsbeschreibung und -analyse geht es in diesem Kapitel auch um die Erarbeitung und Diskussion von Möglichkeiten des Beschreibens und Analysierens von Unbegreifbarem. Es hat sich schon angedeutet, dass es hierfür einer ›anderen‹ Sprache bedarf – ›anderer‹ Schreibweisen, die das Unbegreifbare in ihre Sprachlichkeit aufzugreifen suchen. Sie machen Grenzen, zugleich aber auch Möglichkeiten der Fortentwicklung bestehender Ansätze und Methoden der Aufführungsanalyse deutlich. Insgesamt wählt die hier vorliegende Arbeit zwei Ansätze, um sich der Frage nach dem Schreiben zu widmen – einerseits die am Beispiel der japanischen Performer versuchte Praxis des (Be-)Schreibens, andererseits die anschließend stattfindende Erörterung der Theorie des (Be-)Schreibens. Die theoretische Diskussion versucht hier nicht wie beim Untersuchen des Phänomens des Unbegreifbaren, dieses so facettenreich und detailliert wie möglich zu umschreiben, vielmehr sollen auch gegensätzliche Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Unbegreifbarem besprochen werden. Insofern werden Möglichkeiten ›anderen‹ Schreibens thematisiert. Um die Stoßrichtung der vorliegenden Arbeit zu unterstreichen, die Performer gleichfalls im Theater, in der Kunst und Kultur analysiert, werden als erstes zentrales Beispiel Performer in kulturellen Situationen beschrieben. Keinesfalls soll durch das hier gewählte Beispiel aus der japanischen Kultur der Eindruck entstehen, das Unbegreifbare sei lediglich ein Kulturell-Unbegreifbares. Weiterhin wird es als ein Ästhetisches zu erörtern sein, das natürlich auch und gerade in dem hier gewählten Beispiel durch kulturelle Fremdheit mitgeprägt werden kann. Trotz allem wird es als ein ästhetisches Phänomen betrachtet, das durch plötzlich auftauchende Praktiken

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des Performens eine Zäsur markiert, bestehende Logiken des Verstehens und Wahrnehmens unterläuft, gleichfalls Affektives wie Kognitives betrifft und im Danach regelrecht zum Nachdenken anregt. Ebenso werden durch die Beschreibung zweier Cosplayer verschiedene Intensitätsgrade und Möglichkeiten des Nachwirkens der Begegnung mit unbegreifbaren Performern angedeutet. Von besonderer Bedeutung ist die fortdauernde und weiterwirkende Unbegreifbarkeit im Danach, wirft sie doch zentrale methodische Fragen auf, die die Theorie und Praxis der Aufführungsanalyse vor grundlegende Probleme stellt.

1. C OSPLAY -P ERFORMER IN J APAN UND METHODISCHE F RAGEN Ein Beschreibungsversuch Vor mir öffnet sich die Takeshita-dōri, diese überfüllte Fußgängerzone im belebten Stadtviertel Harajuku. Wie in einem Jahrmarkt herrscht ein wuseliges Gedränge. Eine eng anmutende Einkaufsstraße. Junge Menschen strömen hinein, kommen auf mich zu, gehen an mir vorbei. Von einer kleinen Anhöhe aus blicke ich über die Köpfe unzähliger Japanerinnen und Japaner. Köpfe mit schwarzen Haaren bilden einen unruhigen Menschenstrom, der an grellen Reklametafeln, Plakaten mit japanischen Schriftzeichen, blinkenden Lichttafeln und Hinweisschildern vorbeifließt. Bunte Leuchtreklamen an und über den kleinen Geschäften, Fast-Food-Restaurants, Cafés und Modeboutiquen stechen ins Auge. Sie heben sich von dem dunkel wirkenden Menschenstrom deutlich ab. Seit wenigen Tagen erst bin ich in Tokyo, schlendere durch die Straßen und fotografiere. Die japanische Kultur ist mir noch sehr fremd. Rituell betende Verhaltensweisen vor Opferschreinen, High-Tech-Toiletten mit künstlichen Sounds und beheizten Klobrillen, Straßen und Geschäfte voller Lärm, fremde Schriftzeichen, Bildchen unbekannter Speisen, ein undurchdringbarer Moloch an verschiedenen U-Bahnlinien, bunt beleuchtete und beheizte Getränkedosenautomaten an allen Ecken, Fotoshootingautomaten für fingerkuppengroße Fotografien mit kitschigen Verzierungsmustern, Handys mit bunten Glitzersteinen und farbigen Kettchen daran. Neugierig durchstreife ich die verschiedenen Viertel der Stadt. Heute bin ich in Hara-

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juku. Angeblich eine hippe Gegend für junge Mode und japanische Jugendkultur mit verrückten Boutiquen, Second-Hand-Läden und modisch ausgeflippten Personen. Langsam begebe ich mich in das Gedränge. Der kalte Februarwind lässt meine Hände in den Manteltaschen versinken. Es ist laut, eng und überall gibt es etwas zu sehen. Mein Blick richtet sich auf die wenigen für mich lesbaren Wortfetzen: live love eat – Wolfgang Puck express. Unzählige Körper schieben sich vorbei, mit Einkaufstaschen in den Händen, Handys am Ohr, dunklen Winterjacken und Schildmützen gegen den kalten Wind, aber auch japanische Schuluniformen mit blauem Rock und Kniestrümpfen. Noa cafe – happy one – 2000 Yen. An den Eingängen mancher Läden stehen Ausruferinnen oder Ausrufer: Ein Mann mit Nietenlederjacke winkt mit einem grellgelben 1050-Yen-Schild, eine in schwarz gekleidete junge Frau in lilafarbenen Schnürstiefeln und blauer Seemannskappe zeigt laut rufend und wild gestikulierend auf eine bunte Boutique mit kostümartigen Outfits, ein in schwarzem Anzug gekleideter junger Mann in hellen Turnschuhen brüllt in einen roten Sprechtrichter und scheint auf einen SecondHand-Laden hinter sich hinweisen zu wollen. Immer mehr Menschen kommen auf mich zu, drängen sich schnellen Schrittes an mir vorbei. Laut sprechend, lachend, telefonierend. No smoking, no littering, no shoplifting – sweet box – L.♥chance outlet. Ich bin langsamer, schlendere, blicke umher. Lip Hip – 190 Yen – Sale – Harajuku Jeunesse. Gerüche von süßen Crêpes. Die angebotene Ware wird in Schaufenstern oder direkt am Straßenrand präsentiert. Kitschiger Schmuck, Socken mit Zeichentrickfiguren, helle Sommerkleider, Gürtel in allen nur erdenklichen Farben, seltsame Lederoutfits, T-Shirts. Immer wieder bleibe ich stehen, fotografiere und versuche die Vielgestaltigkeit dieser Straße bruchstückhaft einzufangen. Auf einmal geschieht es: – – – im Gedränge. Da ist – was ist – da ist eine Person da, so irgendwie anders ist sie – ich weiß nicht – schält sich aus der Masse, direkt auf mich zu. Diese – ja – Gestalt, ganz anders, unerwartet. Pink, überall alles hier bei ihr so in Pink an ihr dran, wie aus einer – ich weiß nicht – so einer – da gibt es doch was? Keine Ahnung. – – Pink hebt sich ab, total über diese dunklen Winterjacken so am Drüberstrahlen, total auffällig diese pink gekleidete Barbiepuppe, ja Barbie wie eine kitschige Puppe, künstlich grell angezogen. Oder doch anders? Ihre langen Haare – nein, keine Haare – so ein rosa Perückenteil ist das oder vielleicht nur Haar-

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teile? Alles puppenmäßig, Handtasche in Pink mit Schleifchen, auf dem Kopf ein rosa Schleifchen, so girlymäßig, wie in einer – ich weiß nicht – in so einer Geschichte oder einem Märchen oder Comic oder Zeichentrickfilm. Ihre Handtasche geschultert, als würde sie shoppen – das macht sie vielleicht auch – shoppen – eine dunkelrosa Einkaufstüte geschultert, ihr Blick ernst, starr – wie eine Maske – konzentriert nach vorn. Wie selbstverständlich blickt sie durch die langen Wimpern durch, ihr Gesicht ist zwar girlymäßig, aber auch irgendwie anders ist es. Eine alterslose Maske, ihr Gesicht ohne Alter, ohne Kontur, rosa Lippen, rosa Wangen, rosa Lidschatten. Fast unheimlich wie tot so seltsam und weiß, fahles Weiß neben dem Pink. Oder – nein – vielleicht – ja – eher wie Schneewittchen mit einem rosa Kleidchen, mit einem rosa Jäckchen und diese pinken kleinen Schleifchenschuhe. Rosa Schneewittchen? Nein, nicht das. – – Anders ist es. Nicht Schneewittchen – es ist eher wie, es ist erwachsener – nicht so schüchtern, klein, klein girly – aber irgendwie doch auch das – aber auch eine Provokation, eine erotische Provokation. Pinke Kniestrümpfe, Teile der Oberschenkel blitzen hervor und ihr Blick so erwachsen stark, ernst, klar nach vorn mit diesem künstlichen, diesem Fake-Outfit, unschuldig wirkend. Aber auch extrovertiert – natürlich auch das – Blicke auf ihr. Sie spürt die zahlreichen Blicke der Passanten, dieses Grinsen, dieses irritierte, verstohlene Hingucken – das prallt alles an ihr ab. Stärker ist sie. Blicke hinter ihr her – und sie ist weg, verschwunden, eingetaucht in den Strom der dunklen Wintermäntel. Immer noch Blicke nach hinten – aber sie ist weg. Was war denn das für eine Gestalt? – – – Meine Hände angespannt in den Manteltaschen. Meine Finger knüllen alte Papierfetzen zu kleinen Kugeln. War das – das hatte ich doch gehört? Oder gelesen? War das dieser alternative Look der Jugendkultur? Jedoch als ›alternativ‹ kann man es nicht bezeichnen. Diese Erscheinung hat doch keinerlei Ecken und Kanten. Wobei die Tatsache an sich, also das Wagnis, überhaupt in diesem Look durch die Fußgängerzone zu schlendern, schon alternative Züge hat. Kaffeegeruch steigt mir in die Nase. Er dringt aus dem Noa Cafe zu mir herüber. Einkaufstüten schieben sich an mir vorbei. – Unglaublich. Das gibt es doch nicht? Wer geht denn so einkaufen? In diesem übertriebenen, künstlichen und kitschigen Outfit. Und nimmt sich dabei ernst. In dieser ruhigen Art geht sie an mir vorbei, als wäre es ganz selbstverständlich. Erneut blicke ich hinter mich, um vielleicht doch noch einen Blick auf diese Gestalt zu erhaschen. Sie bleibt jedoch verschwunden. Stattdessen fällt mir eine

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Gruppe junger Japanerinnen auf, die belustigt lacht. Ein kurzer versichernder Blickkontakt: Dies war wirklich geschehen. Und ich schlendere weiter. Meine Fingerkuppen glänzen silbrig. Es war wohl eine silbrige Schrift auf den alten Papierfetzen in meinen Manteltaschen. – Die Gestalt wirkte erwachsen und jugendlich zugleich, aber auch schüchtern und selbstbewusst, unschuldig und erotisch provozierend. Plötzlich war sie da, veränderte und verschwand wieder. Ich steige enge Treppen hinunter, vorbei an Schaufensterpuppen mit grünen Perücken und bin in einem völlig überladenen Second-Hand-Laden mit schrillen Klamotten. Langsam streife ich an den Regalen entlang. Seltsam. Wirklich seltsam. Was war das? Sie tauchte auf, fiel aus dem Strom an Menschen heraus. Meine Finger berühren ausliegende TShirts. Ich habe davon gehört. Da war etwas. Irgendetwas war da. Ich gehe die Treppe wieder nach oben. Vorbei an den Puppen mit grellbunten Perücken. Wieder zurück in der Einkaufsstraße lese ich eine riesige, weiß-pinke Aufschrift an einem Fenster in einem zweiten Stockwerk: Gothic & Lolita – Vivienne Westwood – Emily Temple – Jane Marpre. Es muss sich wohl um eine Modeerscheinung handeln? Wenn sogar Vivienne Westwood dafür designt. Lolita als Mode? Lolitamode. Der Lolita-Style – war es das? Ich schlendere weiter. Eine Schaufensterpuppe mit riesigem Hasenkopf beansprucht kurz meine Aufmerksamkeit. Der kalte Wind hat sich gelegt. Die enge Straße öffnet sich zu einer großen Einkaufstraße, in deren Mitte zahlreiche Autos fahren. Langsam gehe ich zur U-Bahn-Station. Auch noch Tage später lässt mich die Person nicht los. In Gesprächen mit Japanern oder schon länger hier lebenden Zuwanderern aus Europa oder Amerika erfahre ich, dass es sich anscheinend um eine für Tokyo typische Erscheinung handele: den in der Subkultur schon fast klassisch gewordenen Lolita-Look, der in der Jugendkultur und bei den so genannten ›Cosplayern‹ zahlreich zu finden sei. ›Cosplayer‹ beziehe sich auf ›costume play‹. Die Teilnehmenden würden sich hauptsächlich auf reale oder virtuelle Quellen, wie J-Pop und J-Rock-Stars, Charaktere aus Comics, ›graphic novels‹, Science-Fictionfilmen oder -literatur, Computerspielen oder Figuren aus Manga, Hentai und Anime beziehen. Angeblich hätten sich sogar Stile herausgebildet, nämlich der Lolita-Style oder auch der eher subversive Gothic-Lolita-Style, bei dem der mädchenhafte Look bewusst mit GothicElementen gebrochen werde. Es sei also nichts Außergewöhnliches, diesen abweichenden Gestalten in den Straßen Tokyos zu begegnen.

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Und tatsächlich: Bei meinem Aufenthalt in Tokyo treffe ich noch mehrfach auf sie. Gezielt gehe ich zu deren Treffpunkten, um die ausgefeilten und ins Auge springenden Outfits zu sehen. Jedoch irritieren sie mich bald nicht mehr in dieser einschneidenden Weise. Beinahe geht es nur noch darum, interessante Fotografien anzufertigen, die diesen Moment der Abweichung festzuhalten vermögen. Besonders auf einer breiten Brücke in der Nähe des U-Bahnhofs Harajuku bietet sich hierfür eine gute Gelegenheit. Die Brücke führt vom Bahnhof über die Gleise zu dem beliebten YoyogiPark. Nicht nur Touristen überqueren die Brücke, auf der sich die Cosplayer insbesondere sonntags treffen, sondern auch zahlreiche Schaulustige tummeln sich dort, um die ausgeflippten Outfits von Handykameras bis hin zu professionellen Spiegelreflexkameras zu fotografieren. Auch diesen Sonntag sammeln sich auf der Brücke wieder zahlreiche Cosplayer. Vor den brusthohen, grauen Steinmauern stehen sie. – Die unter der Brücke verlaufenden U-Bahn-Gleise geraten hinter den Mauern beinahe in Vergessenheit. Nur das Vibrieren der Züge dringt regelmäßig nach oben. – Oder sie sitzen in kleinen Gruppen auf dem Boden. Um sie herum Taschen und kleine Trolleys, in denen sie die Utensilien für ihre Outfits verstecken. Sie unterhalten sich, telefonieren, fotografieren sich gegenseitig, springen immer wieder auf, um für die zahlreich auftauchenden Schaulustigen zu posieren. Neugierige Blicke von allen Seiten. Eine Frau mit Trolley geht an mir vorbei. Sie scheint ihre Freunde zu sehen und eilt lachend auf sie zu. Ein Tourist zückt seine Spiegelreflexkamera. Ein junger Mann mit schwarzem Lederoutfit steht an der Ecke. Silberne Gürtel, unzählige Ringe, aufgenähte kleine Stofffetzen mit japanischen Schriftzeichen, eine kleine schwarze Pistole in der Hand. Am auffälligsten ist der typisch japanische Mundschutz, der hier jedoch nicht weiß, sondern schwarz ist und ebenfalls silberne Nieten und Kanten hat. Bereitwillig posiert er für eine Fotografie. Ich meine ihn schon einmal hier gesehen zu haben. Ich schaue mich um, gehe ein paar Schritte. Die Nachmittagssonne scheint von vorn. Ein sympathisch wirkender Mann in einfachen Jeans und Jacke hält ein Schild vor sich: Free Hugs – All you need. Daneben sitzt, beinahe unscheinbar, ein Mann am Boden, in schwarzer Kutte und mit weißem Mundschutz. Darauf ein schreiender, roter Monstermund mit scharfen, weißen Zähnen. Er scheint konzentriert Notizen in einen geöffneten Block zu schreiben. Auf der anderen Brückenseite fragt ein Fotograf, ob er eine Vierergruppe bunter Gestalten ablichten dürfe. Bereitwillig und blitzschnell bilden sie eine For-

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mation. Die aufeinander abgestimmten lila-schwarzen Outfits und die lilaweiß-schwarzen Haare kommen voll zur Geltung. Ich gehe weiter in Richtung Yoyogi-Park. Unter mir rasen U-Bahnen. Ich sehe sie nicht. Nur der Klang in meinen Ohren. Ich gehe an Teenagergruppen vorbei in schrillen Kostümen, schiebe mich an Schaulustigen vorbei, höre Gelächter und Gerede. Ein Handy klingelt. Loli lutschend sitzen zwei Teenager grinsend am Boden und fotografieren sich mit ihren Handys. Die Sonne blendet ein wenig. Ich blicke auf den Boden. Graue und rote Pflastersteine. Rosafarbene Schuhe mit rosa Schleifchen fallen auf. Bestimmt eine ›Lolita‹. Und tatsächlich: Vor einem der großen Brückensockel versteckt sich eine ›Lolita‹. Ihr Rücken zu mir gedreht. Rosa Plüsch- und Schleifchenkleid, weißes Rüschchenhemd, zwei schwarze Zöpfe, rosa Handtasche, rosa Schleifchenkopfbedeckung. Ich gehe weiter. – Stopp. – Irgendetwas ist anders. Mein Blick zurück. – Wie ein rosa Geschenkpaket ist sie. Kniekehlen über den weißen Socken. Sie ist – irgendetwas stimmt nicht. Sie ist schüchtern weggedreht. Ihre Hände an der Mauer. Sie versteckt sich, will sich nicht zeigen. Sonst wollen alle gesehen werden. Hier ist es anders. Soll ich ein Foto machen? Ich weiß nicht. Von einem LolitaOutfit habe ich noch kein gutes. Aber das ist es nicht. Irgendetwas ist da. Anders ist es. Also soll ich? – Schüchtern dreht sie den Kopf. Ihr Gesicht in Richtung Sonne gerichtet. Sie ist – nein – es ist – jetzt wirklich? – ein Mann ist das oder? Nein. Nur – das kann doch nicht – ja, doch, ja. Ungeschminkt, die Stirn von einem schwarzen Pony verdeckt. Aber nein – sie ist doch weiblich – die Statur ist doch weiblich – das Gesicht aber männlich. – Ein erwachsenes Gesicht von einem Mann. Der macht das wirklich. Und jetzt wieder schüchtern am Wegdrehen. Soll ich? Mach schon. Ich frage jetzt. »Can I take a picture of you?« Der Kopf nur so leicht zu mir. Kein Blickkontakt. »No, please.« In diesem zittrigen Ton, so eine schwache, hauchende Stimme. Eine hohe Stimme. Der ist doch hier – um – der will gesehen werden – sonst wäre er – deswegen ist der doch hier. Soll ich? Das wäre schon – also ja – oder? Der Rücken zu mir. Aber – und – jetzt geht sie mit der Hand – nein er – jetzt geht er mit seiner rechten Hand zu einem Rockzipfel, ganz langsam macht er das, schüchtern, aber anders, auch so einstudiert, in einer klaren Bewegung und – tatsächlich – er zupft die Rüschchen mit den Fingern zurecht und streckt die ganze Hand danach deutlich zur Seite – so übertrieben so überspannt, gespielt zur Seite. So klischeemäßig. Aber so Klischee, dass es – dass es schon wieder too much ist, aber so was

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von drüber. Die Füße überkreuzt, so girlymäßig, unschuldig oder frech – weiß nicht wie. Ich höre mich lachen. Das ist – also – er spielt, tut so, als wäre er ein lolitamäßiges Mädchen, süß, schüchtern, unsichere Stimme. Diese Stimme. Mein Fotoapparat schon lange auf ihn gerichtet. Jetzt blickt er um den Sockel herum, seine rechte Seite zu mir, schaut auf die Brücke – als würde er etwas suchen oder auf jemanden warten. Sein Gesicht ungeschminkt. Unter dem schwarzen Pony direkt die schwarzen Augen. Mal dieses unsicher gespielte Gesicht – dann dieser feste Blick – männlich, die Unterlippe leicht nach vorn. Die Lolitasilhouette als Schatten auf der Mauer dahinter. Unangenehm ist das – was ich hier mache – dieses Beobachten. Sollte ich? Ich meine – es ist schon unverschämt, dass ich hier fotografiere – obwohl er – aber sonst wäre er doch nicht hier – besser ich gehe – soll ich? Peinlich ist das. Wieso peinlich? Macht doch jeder hier. Da fotografieren alle. Niemand neben mir. Ich allein vor der Gestalt. Vielleicht sollte ich vielleicht – Nervös meine Fingernägel aneinander reibend gehe ich. Einmal noch ein Blick zurück. Der Weg führt zum Yoyogi-Park. Überall grün um mich herum. Meine Schritte knirschen auf einem breiten Kiesweg. Der Fotoapparat baumelt an einer Schnur an der rechten Hand. Ich muss innerlich lachen. Kopfschütteln. Verrückt. Völlig verrückt ist das. Aber so total, so überaus völlig total verrückt ist das. Ich krame meine Wasserflasche aus der Schultertasche und trinke einen Schluck. Schön kühl ist das Wasser. Und noch diese zittrige, weiche Fistelstimme, dieser schwache, schüchterne Stimmhauch: »No, please.« Sonst zeigen sie sich, stellen sich hin für eine Fotografie, aber er versteckt sich, zeigt sich und versteckt sich, tut so, als würde er sich verstecken, schüchtern verstecken, aber eigentlich will er gesehen werden beim Verstecken. Der Weg schlängelt sich durch einen dichten Wald. Ich gehe auf den Meiji-Schrein zu. Diese provozierende Geste – diese Zupfgeste am rosa Kleidchen ist so genau gesetzt: es wirkt zwar schüchtern, ist aber mehr, es ist irgendwie anders noch. Nicht nur schüchtern, auch eine – ich weiß nicht – so eine, ja Provokation – das auch – aber irgendwie ausgestellt, spielend, eine ausgestellte Schüchternheit mit berechnendem, messerscharfem Kalkül. So vielleicht. Ich gehe durch ein riesiges, traditionelles Holztor mitten im Wald. Bald erreiche ich wohl den Schreinkomplex. – Das ungeschminkte Gesicht ist fast brutal. Sonst das Kleid in sanftem Rosa mit weißen Verzierungen, das ärmellange Hemd unter dem Kleid in strahlend hellem Weiß mit Stickereien überall, eine weiße Perlenkette als

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Halterung seiner rosa Handtasche mit weißen Punkten darauf. Alles zuckersüß, nur das Gesicht sticht heraus. Unverziert, ohne künstlich rotem Mund, ohne rosa Wangen ist es einfach da. Es wirkt fast böse. Vielleicht wegen mir und meiner Fotografien? Weil ich ihn trotzdem einfach so abgelichtet habe? Hätte ich vielleicht doch nicht – – jetzt ist es vorbei. Ich schlendere über das Gelände des Meiji-Schreins. Der Fotoapparat baumelt an meiner Hand. Darüber muss ich – das geht nicht anders – schreiben muss ich darüber. Unbedingt. Nach dem Schreiben Nach dem Schreiben steht noch immer die Frage nach dem ›Wie‹ des Schreibens im Raum. In keinem Fall lässt sich diese Schreibweise als Blaupause heranziehen, um jeglichen unbegreifbaren Performern beschreibend zu begegnen. So muss die Frage gestellt werden, ob die eben praktizierte Schreibweise überhaupt unbegreifbaren Performern entgegenkommt. Eine Wirkungsweise beim Lesen ist wohl ein Gefühl der Nähe – die Illusion, Lesende wären teilnehmende Beobachter eines gerade ablaufenden Vollzugs. Es kommen zahlreiche sprachliche Strategien zum Einsatz, die den Eindruck zu vermitteln suchen, die Lesenden wären ›dabei‹; so beispielsweise das chronologische Schreiben in Präsens. Dieser Stil der Nähe scheint dem Ziel des Beschreibens, eine Erfahrung durch sprachliche Strategien plastisch aufscheinen zu lassen, entgegenzukommen. Jedoch erwächst daraus das Problem, dass die für das Unbegreifbare zentrale Erfahrensdimension des Danachs beinahe gänzlich ausgeblendet wird. Denn Schreiben findet in diesem Versuch nicht im Modus des Nachdenkens statt, sondern fast ausschließlich im Modus des imaginativen Hineinversetzens. Das Nachdenken wird nur durch das punktuelle Weiterschreiben nach dem Moment der Begegnung mit den Performern aufgegriffen, nicht jedoch als Ausgangspunkt des Schreibens gewählt. Nicht das Erinnern wird deutlich thematisiert, sondern lediglich die Illusion der Unmittelbarkeit der vergangenen Erfahrung. Die gewählte Schreibweise hat möglicherweise den Nachteil, den Modus des erinnernden Beschreibens nicht deutlich genug zu markieren. Lediglich werden zwei Begegnungen mit Performern chronologisch vergegenwärtigt. Bekämen das Erinnern und die Nachträglichkeit des Schreibens einen größeren Stellenwert, wären auch Sprünge und Verflechtungen von

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Gedanken möglich, was sich in diesem Versuch als so gut wie unmöglich darstellt. Durch das imaginative Hineinversetzen in das Geschehen könnte die Wirkung entstehen, der Text sei ein inszeniertes Konstrukt und deshalb eher als ein literarischer Text anzusehen. Der Text stellt sich nicht als geordnet, final und nüchtern dar, sondern weist eher den Charakter einer erlebten Rede auf und vermittelt den Eindruck, Lesende verfolgten einen Prozess des brüchigen Verfertigens von Gedanken, bei dem auch Sätze abbrechen können. Die Schreibweise könnte sogar den Anschein erwecken, als hätte man es nicht mit einem wissenschaftlichen Text, sondern vielmehr mit einem Stottern und Stammeln zu tun, als folge man einem Sprechenden, der von einer vergangenen Erfahrung affiziert ist. Mitunter könnte der Text auch als ein fiktiver missverstanden werden – ein Text, der keine Berechtigung hat, Bestandteil einer wissenschaftlichen Arbeit zu sein. Oder ist das hier praktizierte Schreiben, das mitunter den Eindruck von Mündlichkeit erweckt, ein für das theaterwissenschaftliche Arbeiten grundlegend nötiges? Vergangene Erfahrungen werden regelrecht vergegenwärtigt, nicht im Modus der Nachträglichkeit geglättet und in eine sprachlich distanzierte Perspektive überführt. Ein vergangenes und unbegreifbares Geschehen wird geradezu verlebendigt und erhält so eine Schärfe, die ein detailliertes, analytisches Betrachten überhaupt erst ermöglicht. Problematisch könnte jedoch sein, dass in der gewählten Schreibweise nachträgliche Reflexionen zu den Performern nur mittelbar einfließen und analytische Gedanken nahezu hinter dem Versuch der Verlebendigung verschwinden. Dies könnte durch das Verwenden einer Schreibweise, die auf das Nachdenken abhebt, vermieden werden. So finden sich im Beschreibungstext eher nur implizit Fragen nach Sexualität, Gender, des Begehrens, nach kultureller Fremdheit oder der Irritation angesichts eines unbekannten Phänomens aus der japanischen Jugendkultur. Auf der anderen Seite lässt sich jedoch auch behaupten, dass gerade durch die Abwesenheit punktgenauer, analytischer Überlegungen die Unbegreifbarkeit des Geschehens deutlich wird und diese nur durch den Versuch der Verlebendigung überhaupt erst eine zumindest ansatzweise analytische Berührbarkeit erlangt. Diese hier nur kurz angerissenen Probleme gilt es, in diesem Kapitel noch zu erweitern und ausführlich zu diskutieren. Zuvor werden jedoch mögliche Analyseperspektiven auf die Cosplayer skizzenhaft diskutiert, um die sich vielleicht nur implizit in der Schreibweise zeigenden Reflexionen

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anzudeuten. Ein umfangreiches Erörtern soll vor den in diesem Kapitel noch anzustellenden methodischen Überlegungen nicht stattfinden. Es ließe sich behaupten, die beiden Cosplayer in der Takeshita-dōri und auf der Harajuku-Brücke thematisierten die Rolle der Frau – das Frauenbild – in der japanischen Gesellschaft. Durch den Einsatz klischierter Erscheinungs- und Bewegungsweisen scheinen sie normierte Muster von Weiblichkeit aufzugreifen. Die Performerin in der Takeshita-dōri bringt eine Erscheinung hervor, die sich zwischen Barbiepuppe, Schneewittchen, Lolita und shoppender Frau bewegt, in der jedoch noch weitere Facetten mitschwingen, die sich schwierig in Worte fassen lassen: Vielleicht hat sie durch den fast maskenhaften und starren Ausdruck im Gesicht etwas Altersloses, das unheimliche Wirkungen zu zeitigen vermag, oder sogar etwas Totes, das in eine ebenso unheimliche Richtung tendiert. Das Maskenhafte scheint der bisher eingeschlagenen Analyseperspektive zu widersprechen, die beide Performer als Rebellen stilisiert, die aus den Zwängen einer patriarchalischen Gesellschaft auszubrechen suchen. Trotzdem scheint auch der Cross-Dress-Performer auf der Harajuku-Brücke mit klischierten Vorstellungen von Weiblichkeit zu spielen und sie durch seine gegengeschlechtliche Performance und die überintuitive und überausgestellte Spielweise subversiv zu unterwandern. Vielleicht stellt es sich jedoch als zu einseitig dar, das Phänomen ›Cosplay‹ in diesem Beispiel nur auf Fragen nach der Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft zu reduzieren. Es mag mehr oder auch komplett anders sein. Es könnte auch auf ein Streben nach Individualität in einer auf Konformität getrimmten Gesellschaft hinweisen – auf den Versuch, aus der Masse herauszustechen. Eine These ließe sich vorsichtig formulieren: Könnte in den individuellen Präsenzen dieser Performer das westliche Streben nach Individualität verborgen sein? Lässt sich daran ein in Japan stattfindender gesellschaftlicher Wandel abzeichnen? Eine Abkehr von konformistischen Werten? Wäre es ein egoistisches Zur-Schau-Stellen? Ein Markieren des Individuellen? Oder wäre auch die Mutmaßung eines Wandels nur eine oberflächliche Annahme eines Kulturunterschieds? Eine weitere Analyserichtung ließe sich skizzieren – nämlich diejenige, die beide Cosplayer hinsichtlich der Performance eines von der (japanischen) Gesellschaft auferlegten Zwanges sieht, einem Bild gerecht zu werden, einer Rolle, einer Maske, die man zwanghaft aufrecht erhalten muss. Nach diesem Ansatz zeigte die Cosplayerin in der Fußgängerzone durch ih-

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re Performance wie Bildern hinterher geeifert wird, wie Masken aufgebaut werden und wie man sich einem in der Gesellschaft vorherrschenden Inszenierungs- und Performancezwang unterwirft – nach dem von Jon McKenzie formulierten Motto: ›Perform or else...‹.1 Diese Analyserichtung würde der Annahme der zur Schau gestellten Individualität gegenüberstehen und eher ein Sich-Zurücknehmen implizieren: den Zwang, Kontrolle bewahren zu müssen, eine Maske aufrechterhalten zu müssen. Dies sind durchaus Themen, die, soweit es mir bekannt ist, die japanische Kultur zu prägen scheinen. Aber es könnte in eine noch ganz andere Richtung analytisch betrachtet werden: Insbesondere beim Cross-Dresser scheint es um ein Thematisieren eines populärkulturellen Phänomens zu gehen. Es werden Darstellungsweisen der Cosplayer selbst thematisiert, indem sie aufgegriffen und sichtbar gemacht werden. Im Zuge dessen ließe sich das zitierte Phänomen des Lolita-Styles untersuchen oder das Phänomen der Cross-Gender-Performance selbst diskutieren, das auf markante Weise die Frage nach der normierten Kategorisierung in weiblich und männlich aufwirft. Der normierte Blick wird durch Performances der Störung thematisiert – der Blick, der sofort einzuordnen, in Muster zu zwängen sucht. Auf diese Weise werden durch den Cross-Dresser, aber auch die Performerin in der Fußgängerzone, Fragen nach der Geschlechtsidentität an die Erfahrenden selbst zurückgespielt. Die individuelle Sexualität wie auch Mechanismen des Begehrens rücken auf diese Weise ins Zentrum analytischen Nachdenkens. Privates und Persönliches wird so im ›Zwischen‹ von Performern und Erfahrenden thematisch. Auch hier ließe sich eine vage Vermutung formulieren: Vielleicht weil es ein lebensweltliches Phänomen ist und die Performances nicht im künstlerischen Kontext stattfinden, dringen sie schneller und eventuell auch tiefer in intime Schichten ein. Das hier wirksame Unbegreifbare wäre in der Erfahrensdimension und auch im Modus des Nachwirkens auf besondere Weise mit Intimem verknüpft, jedoch nicht lediglich auf dieses zu reduzieren, wie es im Prozess dieses skizzenhaften Nachdenkens deutlich wurde. Nach dem Schreiben, so lässt es sich wiederholen, ist die Frage nach dem ›Wie‹ des Schreibens keinesfalls geklärt, sondern ganz im Gegenteil fächern sich eine Fülle methodischer Fragen an die Aufführungsanalyse

1

Vgl. dazu McKenzie, Jon: Perform or Else: From Discipline to Performance, London/New York: Routledge 2001.

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auf, die die in diesem Kapitel zu erörternden methodischen Probleme aufscheinen lassen. Eine Fülle methodischer Fragen an die Aufführungsanalyse Warum überhaupt beschreiben? Ist der Beschreibungsversuch überhaupt gerechtfertigt? Muss das Unbegreifbare unbedingt versprachlicht werden? Verliert es nicht dadurch seinen unbegreifbaren Charakter? Wird nicht schon allein durch den Akt des Beschreibens eine Überlegenheit über das Unbegreifbare suggeriert? Ein Gefühl für die Lesenden, der Schreibende könnte problemlos über das Unbegreifbare sprachlich verfügen? Müsste demnach eine Beschreibung gänzlich aufgegeben werden, um dem Unbegreifbaren entsprechen zu können? Müsste die hier vorliegende Arbeit hier ein sofortiges Ende nehmen? Müsste das Schreiben aussetzen? Aber kann nicht auch vom Gegenteil ausgegangen werden? Hat sich nicht gerade das nachträgliche Gefühl des Versprachlichenmüssens als grundlegender Bestandteil des Unbegreifbaren herausgestellt? Müssten demnach nicht die immer wieder einsetzenden Versuche des Beschreibens im Zentrum stehen? Ist nicht gerade die Praxis des Schreibens von grundsätzlicher Notwendigkeit bei der Betrachtung unbegreifbarer Phänomene? Oder hätte die Betrachtung der Performance der japanischen Cosplayer doch auf ein Beschreiben verzichten können? Wie können weiterwirkende Performances beschrieben werden? Kann grundsätzlich ein noch während des Schreibens fortwirkendes Nachwirken einer Begegnung mit Unbegreifbarem überhaupt beschrieben werden? Ist es unmöglich, etwas Weiterwirkendes und sich somit ständig Veränderndes zu beschreiben? Oder ist es vielleicht eine völlig normale Situation, die jedes erinnernde Beschreiben betrifft? Müsste vielleicht eher die Perspektive des Danachs als Ausgangspunkt gewählt werden und nicht die momentorientierte Schreibweise? Oder sind es zwei Möglichkeiten, die je nach Art und Weise des zu untersuchenden Phänomens Anwendung finden und vielleicht sogar kombiniert werden können?

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Was passiert mit den Lesenden? Wird durch den Akt des Beschreibens der bewegte und bewegende Moment für die Lesenden stillgestellt? Hätte eher auf eine Beschreibung verzichtet werden sollen, um nur analytischen Annäherungen Raum zu gewähren? Oder muss eher von der umgekehrten Annahme ausgegangen werden? Wird nicht die vergangene Erfahrung für die Lesenden gerade durch den Akt des Beschreibens in eine Bewegung versetzt? Wird sie nicht durch das genaue und plastische Beschreiben überhaupt erst teilbar und auf diese Weise in den Gedanken der Lesenden in eine intensive Bewegtheit versetzt? Müsste nicht behauptet werden, die Beschreibung sei unabdingbar für eine Aufführungsanalyse? Könnte vielleicht sogar so weit gegangen werden, zu sagen, dass beim Unbegreifbaren sogar auf eine analytische Metaebene verzichtet werden könnte, weil es gerade in der Praxis des Beschreibens sichtbar werde? Würde das Unbegreifbare nicht durch feingliedriges Analysieren zerstört? Lässt es sich überhaupt analysieren? Oder müsste nicht wiederum das Gegenteil, die Notwendigkeit des Analysierens, behauptet werden? Ist die Analyse nicht gleichfalls grundlegender Bestandteil des Unbegreifbaren, möchte man ihm doch im Nachhinein zumindest ansatzweise auf die Spur kommen? Müssen hierfür neue und andere analytische Schreibweisen entwickelt werden? Was geschieht mit den Schreibenden? Welche Rolle spielt die Beschreibung für die Erinnernden? Findet durch den Prozess des Schreibens eine Festschreibung des weiterwirkenden Phänomens statt? Oder wird dadurch vielmehr eine schreibende Bewegung des Nachdenkens initiiert? Wird nicht gerade durch die Prozesse des Schreibens und Erinnerns die Bewegung des Weiterwirkens intensiviert? Kann Schreiben demnach überhaupt als ein Festschreiben angesehen werden? Wird nicht immer eine Bewegung angekurbelt, die nie zu stoppen ist, die bei jedem Nachlesen ein Redigieren erzwingt, ein immer wieder ansetzendes Neu-, Anders- und Weiterschreiben initiiert? Welchen Nutzen hat erinnerndes Beschreiben? Wofür werden Erinnerungsprotokolle benötigt? Sind sie lediglich für den privaten Gebrauch? Nehmen sie nur einen vorwissenschaftlichen Charakter ein? Oder können sie auch eine zentrale Rolle im theaterwissenschaftlichen Arbeiten einnehmen? Haben sie nur didaktische Funktion in der Lehre zur

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Schulung der Wahrnehmung und Sensibilisierung des Schreibens und Sprechens über Aufführungen? Oder finden sich nicht gerade im Prozess des erinnernden Beschreibens und an der Schnittstelle von Beschreibung und Analyse zahlreiche entscheidende theaterwissenschaftliche Fragen? Welche Schreibweise wird einem flüchtigen Phänomen gerecht? Kann ihm eine Schreibweise überhaupt jemals nahe kommen? Welche Möglichkeiten des Versprachlichens von Flüchtigem kann es geben? Was passiert mit der Sprache, möchte sie Unbegreifbares beschreiben? Warum wird so selten beschrieben? Warum legen theaterwissenschaftliche Texte selten ein Fokus auf das Beschreiben? Führt nur das Unbegreifbare zum Bedürfnis des nachträglichen Beschäftigen- und Verstehenwollens? Oder gibt es auch andere Performances, die ein Beschreibenmüssen auslösen? Warum findet man nahezu kaum ausführliche Beschreibungen von Aufführungen? Ist ein genaues Beschreiben nicht als ein Wertschätzen des Gegenstandes zu verstehen? Oder stellt sich Beschreiben nur als eine Fingerübung in theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyseseminaren dar? Wäre es für eine Analyse nicht von großem Nutzen? Oder sollte das Versprachlichen von Aufführungen vielleicht doch einen noch zentraleren Stellenwert in der Theaterwissenschaft einnehmen? Ist Schreiben eine Inszenierung? Hat die im Beschreibungsversuch der japanischen Cosplayer gewählte Sprache zu starken inszenatorischen Charakter? Nähert sie sich eher einer künstlerischen oder fiktiven Erzählung? Oder kann umgekehrt gesagt werden, dass sich die Sprache angesichts des Phänomens des Unbegreifbaren regelrecht dazu aufgefordert sieht, zu inszenieren? Muss nicht gerade durch den Akt des Inszenierens im Prozess des Beschreibens das nicht zu fassende Phänomen durch Strategien des Gestaltens zur Erscheinung gebracht werden? Ist nicht gerade das Inszenatorische des Schreibens beim Unbegreifbaren von zentraler Relevanz? Ist der Inszenierungscharakter der Sprache nur beim Unbegreifbaren augenscheinlich? Oder könnte auch behauptet werden, jedes Beschreiben sei ein Inszenieren? Oder wurde im Beschreibungsversuch der Performer eine unpassende Sprachlichkeit gewählt? Entspricht sie vielleicht nicht dem Untersuchungsgegenstand? Ist sie zu formuliert? Sollte sie eher bruchstückhaft bleiben,

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unfertig und unzusammenhängend, um dem Unbegreifbaren nahe zu kommen? Oder kann nicht auch gegenteilig argumentiert werden, dass das Unbegreifbare nur durch das ausgewählte, bewusst gesetzte und eben inszenierte Formulieren für die Lesenden annähernd berührbar wird und nur dadurch in eine Bewegung gerät? Oder muss das Inszenieren im Kontext wissenschaftlichen Arbeitens grundsätzlich ausgeschlossen werden? Ist es in einer wissenschaftlichen Praxis überhaupt erlaubt? Oder ist es ein vielleicht auch grundlegender Bestandteil wissenschaftlichen Tuns? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Beschreibung und Analyse? Ist es im Beschreibungsversuch der japanischen Cosplayer überhaupt gerechtfertigt, an der gewählten Textstelle aufzuhören? Müsste nicht eine feingliedrige Analyse folgen? Oder haben die Beschreibungen vielleicht selbst schon analytischen Charakter? Setzen sie nicht einen genauen Fokus auf einen ausgewählten Gegenstand und umkreisen diesen sprachlich? Sind nicht in den Beschreibungen schon indirekte und direkte Analysen enthalten? Was ist überhaupt der grundsätzliche Unterschied zwischen Beschreibung und Analyse? Gibt es vielleicht mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede? Sind es vielleicht zwei verschiedene Schreibweisen, die immer auch das andere beinhalten? Welche Gewichtung müssten Beschreibung und Analyse jeweils in Aufführungsuntersuchungen einnehmen? Die gestellten Fragen führen die Arbeit zu grundlegenden, methodischen Überlegungen, die in den Kern der Theorie und Praxis der Aufführungsanalyse treffen. Sie deuten den Fragehorizont an, den dieses Kapitel thematisiert. Hierbei behandeln die folgenden Abschnitte natürlich nicht alle Fragen in der gleichen Ausführlichkeit. Insbesondere die Fragen nach dem Beschreiben in Aufführungsanalysen und dem Beschreiben von Unbegreifbarem gilt es zu erörtern. Hierbei werden Möglichkeiten des erinnernden Beschreibens entwickelt. Es geht nicht darum, Methoden für Modellbeschreibungen oder Modellanalysen zu entwerfen, sondern vielmehr vom je spezifischen Moment auszugehen und die Frage nach dem ›Wie‹ des Schreibens immer wieder neu zu stellen, um die Charakteristik des Moments in das Schreiben aufzunehmen. In diesem Sinn wird auch hier der Begriff ›Methodik‹ verstanden. Er soll nicht eine finale, für alle Beispiele anwendbare

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Modellhaftigkeit suggerieren, sondern nur Möglichkeiten aufscheinen lassen, die durch Prozesse des Diskutierens und Fragens entwickelt werden. Keinesfalls schwingt in dem hier zugrundegelegten Methodikbegriff eine Tendenz zur Verallgemeinerung mit. Die zu entwickelnden Möglichkeiten der schreibenden Beschäftigung mit Unbegreifbarem geben nur Hinweise, wie sich jeweils individuell Beschreibungs- und Analysegegenständen genähert werden könnte. Die Fragen an die Aufführungsanalyse werden im Folgenden in drei Schritten untersucht: Zunächst wird im Abschnitt ›Aufführungen schreiben‹ die Aufführungsanalyse hinsichtlich des Aspektes der Beschreibung befragt, neue Perspektiven bezüglich der Rolle der Beschreibung entwickelt und eine für die Aufführungsanalyse zentrale Schreibweise, das nahe Beschreiben, erarbeitet (Kap. 2.2); im nächsten Abschnitt ›Unbegreifbares schreiben‹ werden diese übergreifenden Überlegungen auf das hier im Zentrum stehende Unbegreifbare übertragen und Möglichkeiten des Schreibens erarbeitet (Kap. 2.3); im abschließenden Abschnitt wird die Stoßrichtung des Schreibens mit dem im angloamerikanischen Diskurs entwickelten Konzept des Performative Writing verglichen und so präzisiert (Kap. 2.4).

2. AUFFÜHRUNGEN

SCHREIBEN

Aufführungsbeschreibungen als Defizit Eine Arbeit, die einen Augenmerk auf die Praxis des Beschreibens legt, muss zunächst von einem Negativbefund ausgehen: In theaterwissenschaftlichen Publikationen finden sich kaum wissenschaftliche Texte, in denen ein Fokus auf dem Beschreiben liegt. Wortelkamp betont ebenfalls, dass in theaterwissenschaftlichen Diskursen die Frage der Aufzeichnung von Wahrnehmungen weitestgehend vernachlässigt werde.2 Sucht man für die Lehre aufführungsanalytische Beispiele mit einem Fokus auf erinnerndem Schreiben, wird man kaum fündig. Zumeist findet man nur kurze, beschreibende Passagen, die auf eine These hinführen oder diese exemplifizieren wollen; oder Beschreibungen werden punktuell neben allgemeinen, die

2

I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 14.

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Aufführung eher aus einer analytischen Distanz betrachtenden Perspektive eingestreut. Warum finden ausführliche und genaue Beschreibungen selten Eingang in theaterwissenschaftliche Texte? Mögliche Antworten setzen hier an der Diskussion um den Stellenwert und die Funktion des Erinnerungsprotokolls an. In der gegenwärtigen, theaterwissenschaftlichen Praxis werden Beschreibungen zumeist mit dem Erinnerungsprotokoll verknüpft – so beispielswiese bei methodischen Überlegungen zur Aufführungsanalyse von Fischer-Lichte, Roselt und Warstat.3 Das Erinnerungsprotokoll zeigt sich als der bevorzugte Ort, sich beschreibend einem Erinnerten anzunähern. Hierbei wird es eher als Diener der darauf aufbauenden Analyse verstanden. Insofern wird die Praxis des erinnernden Verschriftlichens als eine der Analyse Vorgängige betrachtet, als »die Basis für eine von anderen nachvollziehbare Analyse«4, als »Ausgangspunkt für weitere analytische Reflexionen«5. Das Beschreiben wird in diesem Verständnis beinahe vom Analysieren getrennt, sodass erst nach Phasen des Überarbeitens und Redigierens des Erinnerungstextes ausgewählte, beschreibende Elemente in eine Aufführungsanalyse Eingang finden. Hierbei wird das erinnernde Beschreiben aus einer noch distanzierteren Perspektive betrachtet – mit einem »analytische[n], distanzierte[n] Blick«6. Das Erinnerungsprotokoll selbst nimmt hierbei einen eher vorwissenschaftlichen Charakter ein und bleibt deshalb im Verborgenen: Nur die systematische Analyse, meist von theoretischen Begriffen geleitet, gilt der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit. »Der wissenschaftliche Zweck dieser Textform besteht vielmehr darin, Ausgangspunkt für Reflexionen und Analysen zu sein. Es ist meist nicht das Erinnerungspro-

3

Vgl. dazu E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft; Roselt, Jens: »Kreatives Zuschauen. Zur Phänomenologie von Erfahrung im Theater«, in: Der Deutschunterricht 2 (2004); Warstat, Matthias: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse. Thesen zu einer theaterwissenschaftlichen Methode im Unterricht«, in: Marion Bönnighausen/Gabriela Paule (Hg.), Wege ins Theater: Spielen, Zuschauen, Urteilen, Berlin: Lit 2011.

4 5

E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 79. M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 59.

6

Ebd., S. 57.

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tokoll selbst, sondern es sind dann diese Reflexionen und Analysen, die in […] theaterwissenschaftliche Schriften einfließen.«7

Das Erinnerungsprotokoll diene, so Warstat, »eher der Selbstverständigung in bestimmten Phasen eines Forschungsprozesses« und richte sich eben deshalb nicht »schon an ein breites Publikum«8. Der vorwissenschaftliche Charakter wird auch dahingehend begründet, als dass es in einem Erinnerungsprotokoll nicht um eine strukturierte Untersuchung von Aufführungen gehe. In ihm würden »ganz unsystematisch alle Erinnerungen an das in der Aufführung Wahrgenommene festgehalten«9. Insofern sei es eher als ein unsystematisches »Experiment«, eine Art »Selbstversuch«10 zu verstehen, in dem es um die nachträgliche Verschriftlichung subjektiver Wahrnehmungen, Assoziationen und Wirkungen während der Aufführung gehe. Obwohl die beschreibenden Texte zumeist nicht selbst »in Theoriestudien und andere[n] theaterwissenschaftliche[n] Schriften einfließen«11, hebt Warstat die Relevanz dieser beschreibenden Textform hervor: »Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt jeder Aufführungsanalyse ist das so genannte Erinnerungsprotokoll.«12 Für die Protokollierenden habe es eine zentrale Funktion, könnten sie doch im Prozess des erinnernden Schreibens »unabhängig von vorgefertigten Interpretationen in Erfahrung bringen, wie eine Aufführung auf sie gewirkt hat«13. Hierbei werde im Moment des Aufschreibens »die eigene Haltung distanziert in den Blick«14 genommen. Dies ermögliche es, »nachzufragen, auf Grund welcher Beobachtung«15 bestimmte Aussagen getroffen werden. Gerade die »möglichst genaue Beschreibung der erinnerten Wahrnehmungen«16 sei nach Fischer-Lichte eine zentrale Funk-

7

Ebd., S. 61.

8

Ebd.

9

E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 76.

10 J. Roselt: »Kreatives Zuschauen«, S. 50. 11 M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 61. 12 Ebd., S. 56. 13 J. Roselt: »Kreatives Zuschauen«, S. 50. 14 Ebd., S. 49. 15 Ebd., S. 50. 16 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 79.

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tion des Erinnerungsprotokolls. In ihm komme es zu einem »vergegenwärtigenden Ausdruck von Wahrnehmungsmomenten«17, wie es Roselt in Rekurs auf Marie Peters hervorhebt. In diesem Sinn versteht auch Warstat das Erinnerungsprotokoll als einen »beschreibende[n] Text«, der der »genauen Beschreibung seines Gegenstands«18 verpflichtet sei. In dem Bemühen, »das Gesehene und Gehörte möglichst genau zu beschreiben« und »in der Beschreibung wirklich bei dem zu bleiben [Herv. i.O.]«, was man wahrgenommen habe, entstünden so »gegenstandsbezogene Texte«, bei denen »die Subjektivität des Schreibenden gleichwohl deutlich zum Tragen«19 komme. Vielleicht wird dem Erinnerungsprotokoll wegen dieses subjektiven Charakters eine der Analyse vorgängige Position zugesprochen, sodass die Schlussfolgerung naheliegt, es sei eine Schreibpraxis, die lediglich für den privaten Nutzen der Schreibenden gedacht ist und folglich nur zum Selbstverständnis diene, lediglich um zu erinnern, wie etwas wahrgenommen wurde. Gleichzeitig schwingt in den Diskursen zum Erinnerungsprotokoll immer auch die insbesondere für Studierende betonte didaktische Funktion zur Schulung der Wahrnehmung mit. Warstat betont die didaktischen Potentiale der Textform, in der es Raum gebe, die »eigene Wahrnehmung genau zu betrachten und zu reflektieren«20. »[W]as man [...] an der Textform Erinnerungsprotokoll aber auch sehr gut lernen kann [Herv. i.O.], ist eine sorgfältige und wahrheitsliebende Beschreibungssprache.«21 In diesen Annahmen spiegelt sich die gegenwärtige, theaterwissenschaftliche Praxis wieder, in der das Erinnerungsprotokoll und das sorgfältige, ausführliche und detaillierte Beschreiben eher als Fingerübung für Studierende angese-

17 Peters, Marie: Blick, Wort, Berührung. Differenzen als ästhetisches Potential in der Rezeption plastischer Werke von Arp, Maillol und F.E. Walther, München: W. Fink 1996, S. 39. – Vgl. dazu Roselt, Jens: »Aufführungsparalyse«, in: Christopher Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen/Basel: Francke 2003, S. 152. 18 M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 61. 19 Ebd., S. 59. 20 Ebd., S. 55. 21 Ebd., S. 58.

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hen wird, als ein didaktisches Mittel zur Professionalisierung des Schreibens und Sprechens über Aufführungen. Es hat den Eindruck, als sei nur die Analyse mit ihrem erörternden und systematischen Charakter und ihrem Ansatz, ausgewählten Aspekten und Fragen nachzugehen, für die wissenschaftliche Öffentlichkeit von Relevanz; das erinnernde Beschreiben könnte demnach vernachlässigt werden. Dass diese Schlussfolgerung vorschnell ist und das erinnernde Beschreiben durchaus der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann, wird im Folgenden durch das Aufzeigen von Ähnlichkeiten der unterschiedlich anmutenden Praktiken des Beschreibens und Analysierens herausgearbeitet. Warstat unterstreicht, dass die »Übergänge zwischen Erinnerungsprotokoll und Aufführungsanalyse« fließend seien, denn »schon das durchdachte Beschreiben stellt analytische Anforderungen«22. Geht man von diesem Gedanken aus, fallen augenscheinliche Ähnlichkeiten zwischen Beschreibung und Analyse auf. Obwohl es den Anschein hat, nur die Analyse gehe »von einer bestimmten Fragestellung«23 aus, untersuche nur Aspekte des Gegenstandes und thematisiere nie das ›Ganze‹, können diese vermeintlich nur für die Analyse geltenden Charakteristika auch beim Beschreiben wiedergefunden werden: Von Anfang an, so wird behauptet, wird beim Beschreiben im Prozess des Findens und Anordnens von Wörtern, Sätzen und Satzzeichen das ›Ganze‹ zergliedert, nur Aspekte beschrieben, eine Auswahl getroffen, aspekthafte Fragestellungen verfolgt. Einzelne Gesichtspunkte werden bewusst oder unbewusst ausgewählt und andere fallen gelassen; zumal auch Studierenden oft der Hinweis für das Verfassen eines Erinnerungsprotokolls auf den Weg gegeben wird, nur einige wenige, ausgesuchte Aspekte zu thematisieren und nie den unmöglichen Versuch zu starten, das ›Ganze‹ der Aufführung beschreibend einzuholen.24

22 Ebd., S. 59. 23 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 80. 24 Vgl. dazu M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 58; Leifeld, Denis: »Ein Erinnerungsprotokoll schreiben«, in: Leopold Klepacki et al. (Hg.), Schultheater. Wahrnehmung, Gestaltung, Spiel 10 (2012), S. 10.

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Insofern sei hier die Behauptung aufgestellt, dass das Erinnerungsprotokoll auch einen ganz anderen Stellenwert bekommen kann, nicht mehr nur als der Analyse vorausgehend zu betrachten ist, sondern schon als Teil dieser verstanden werden kann. In ihm baut sich eine Spannung zwischen Beschreibung und Analyse auf. Vielleicht kann sogar von einer ›beschreibenden Analyse‹ gesprochen werden, um die Nähe beider Begriffe zu markieren. Analysieren, so wird dieser These folgend behauptet, fängt schon beim Beschreiben an – ein Argument, das sich für die mögliche Sichtbarkeit des erinnernden Beschreibens ausspricht. Der vorwissenschaftliche Charakter wird deshalb angezweifelt und die wissenschaftliche Relevanz des Erinnerungsprotokolls betont. In ihm finden schon zahlreiche analytische Prozesse statt, die in beschreibender Form über den untersuchten Gegenstand vielleicht manchmal mehr aussagen können, da in einer ganz anderen, eher beschreibend-einfühlsamen Weise Facetten des Gegenstandes behandelt werden können. Zudem können gerade im beschreibenden Text zahlreiche analytische Fragen aufgeworfen, gestellt und mitunter auch schon beantwortet werden. »Denn anhand einer solchen genauen Beschreibung«, so Warstat in Bezug auf die Präsenz einer Schauspielerin, »lässt sich mehr darüber herausfinden, worin die eigene Faszination für die Darstellerin begründet ist«25. An dieser Stelle sei zunächst nur auf die Ähnlichkeiten beider Praktiken hingewiesen, um den bisher vorwissenschaftlichen Status des erinnernden Beschreibens anzuzweifeln. Hierbei folgt die Argumentation der von der analytischen Philosophie und Phänomenologie ausgesprochenen Stoßrichtung, einen Schwerpunkt auf das Beschreiben zu legen. Denn in dieser Devise, so die Annahme, verbirgt sich ein besonderes Interesse an den Phänomenen, das durch den Prozess des Beschreibens zum Ausdruck kommt. In diesem Sinn kann das hier zu akzentuierende Beschreiben, das noch zu entwickelnde ›nahe Beschreiben‹, auch als eine Wertschätzung des zu betrachtenden Gegenstandes verstanden werden: Es wird der Versuch unternommen, dessen Eigenheiten im Beschreibungstext sichtbar werden zu lassen.26

25 M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 59. 26 Vgl. dazu Angehrn, Emil: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, in: Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbe-

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Ekphrasis und Praxis des Beschreibens Weil die vorliegende Arbeit einen Augenmerk auf die Praxis des Beschreibens legt, ist es notwendig, das Problem und die Ziele des Beschreibens zu diskutieren. Hierfür bietet sich der in der Kunstphilosophie bis in die Antike zurückreichende Begriff der Ekphrasis an. Gerade für die »mit der materiellen Kultur befassten Kunstwissenschaften«27 sei die Frage nach der Beschreibung ein »hochrangiges Problem«28. Für Gottfried Boehm ist die sprachliche Erfassung des zu untersuchenden Phänomens gewissermaßen das »Nadelöhr«29 ihres wissenschaftlichen Arbeitens. Ekphrasis wird von Boehm im engeren Sinn als Kunstbeschreibung und im weiteren als literarische Beschreibungskunst verstanden. Einerseits zeigt sie sich als eine rhetorische Disziplin, die Kunstgegenstände – vornehmlich Bilder – zu beschreiben sucht. Andererseits stellt sie eine literarische Gattung dar, eine literarische Beschreibungskunst, in der fiktive oder auch reale Bilder in Romanen, Novellen, Gedichten oder Theaterstücken beschrieben werden. Hier sei insbesondere ersteres, die Kunstbeschreibung, zu erörtern, bietet sie doch Vergleichs- und Orientierungspunkte zur Frage des Beschreibens von Aufführungen. Wichtig erscheint, dass Boehm das Beschreiben nicht nur auf künstlerische Bilder beschränkt, sondern auch ausdrücklich die Beschreibung kultureller Praktiken mit einbezieht. Ersichtlich wird dies durch seine explizite Thematisierung der Ethnologie, die methodisch der Theaterwissenschaft nicht fern liegt.30

schreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Wilhelm Fink 1995, S. 62. 27 Boehm, Gottfried: »Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache«, in: Ders./Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Wilhelm Fink 1995, S. 24. 28 Boehm, Gottfried: »Einleitung: Wege der Beschreibung«, in: Ders./Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Wilhelm Fink 1995, S. 10. 29 G. Boehm: »Bildbeschreibung«, S. 24. 30 Vgl. dazu G. Boehm: »Wege der Beschreibung«, S. 11; Schuster, Meinhard: »Probleme des Beschreibens fremder Kulturen«, in: Gottfried Boehm/Helmut

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Boehm arbeitet die Ziele der Ekphrasis insbesondere in Rekurs auf den im 16. Jahrhundert wirkenden italienischen Kunsthistoriker und Biograf Giorgio Vasari heraus. »Ekphrasis, so zeigt die Rückwendung vor allem zu Vasari, sollte Unmittelbarkeit erzeugen durch narrative Vergegenwärtigung. Nicht Form- und Strukturanalyse waren gefragt, sondern Anschaulichkeit und Lebendigkeit in der rhetorischen Vergegenwärtigung des bildlichen Vorganges.«31

Es gehe nicht um die in der Kunstgeschichte zentrale Kompositionsanalyse, sondern ausdrücklich um eine »Erzeugung von Lebendigkeit«32 als hervortretende Wirkung bei Lesenden. Keinesfalls gehe es um Vollständigkeit oder um die Auflistung von Fakten. Vielmehr komme es auf die veranschaulichende Wirkung durch »ein Gefälle zwischen Fakten und Affekten«33 an; eine Verschränkung beider stelle sich für das Gelingen der Ekphrasis als unverzichtbar heraus. Ekphrasen stellen sich nicht als schlichte Texte dar, die nur ein sorgfältiges Verzeichnis aller Details des zu beschreibenden Gegenstandes aufführen, sondern es gehe insbesondere um das Hervortreten einer »wohldosierte[n] Wirkung«, um Erfahrungen »hoher Intensität, in denen der Leser mit dem geschilderten Sachverhalt dicht zusammenrückt«34. Die damit einhergehende persuasive Intention der Ekphrasis macht ihre Verwurzelung in der Rhetorik deutlich. Hier wie dort gehe es um die »Erzeugung emotionaler Wirkungen, das Überzeugen mit den Mitteln der Rede« und »die Erweckung der Lebendigkeit«35. Boehm verknüpft das ekphrasische Ziel der Vergegenwärtigung mit einem Leitbegriff aus der Rhetorik – dem der energeia. Als rhetorisches Mittel bildhafter Verlebendigung meine energeia »Klarheit, Deutlichkeit, Anschaulichkeit, auch im Sinne

Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Wilhelm Fink 1995. 31 G. Boehm: »Wege der Beschreibung«, S. 11. 32 G. Boehm: »Bildbeschreibung«, S. 32. 33 Ebd., S. 34. 34 Ebd., S. 33 und 35. 35 Ebd.

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des Durchblicks«36. Ausdrücklich gehe es um eine Evidenzproduktion, das lebendige Vor-Augen-Stellen – eine Wirkung, die sich nach Quintilian als eine Erfahrung äußere, als wäre man »bei den Dingen (oder Vorgängen) selbst zugegen«37. Boehm vergleicht die Beschreibung mit dem Zeigen, das einen Erkenntnisraum schaffe. »Die Erkenntnis öffnende Kraft der Deixis wird am deutlichsten daran, dass der gezeigte Gegenstand sich zeigt [Herv. i.O.].«38 Durch das erkenntnisschaffende Zeigen werde auf etwas gezielt, dem Blick eine neue Bahn verschafft, Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt gelenkt und auf diese Weise etwas verdeutlicht, vor Augen gestellt und anschaulich. Insbesondere dieser Aspekt rückt Beschreiben auch in die schon oben betonte Nähe zur Analyse. Sowohl die Beschreibung als auch die Analyse versuchen durch Strategien sprachlichen Zeigens die Aufmerksamkeit der Lesenden auf ausgewählte Aspekte zu lenken, um auf diesem Weg etwas zu verdeutlichen. Die Wesensverwandtschaft von Beschreibung und Analyse lässt die nicht zu unterschätzende Bedeutung des Beschreibens umso deutlicher hervortreten. Ausführliche Aufführungsbeschreibungen, so lässt sich erneut schlussfolgern, müssen nicht außerhalb der Verzahnung von Analyse und Theorie stehen, sondern können einen gleichwertigen Stellenwert erhalten. Erinnerungsprotokolle bzw. die Praxis des erinnernden Beschreibens können durchaus einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sofern in ihnen ein möglichst genaues Beschreiben im Sinne eines gegenstandsbezogenen Schreibens stattfindet. Für die Ekphrasis ist die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Beschreibungsgegenstand und Beschreibung von besonderer Relevanz. Durch den Akt des Zeigens verweisen Beschreibungen auf einen Gegenstand, den sie zu veranschaulichen versuchen. Ein Trugschluss wäre jedoch, Beschreibungen mit einem unmittelbaren Abbilden oder Wiedergeben zu vergleichen.39

36 Ebd. 37 Vgl. dazu ebd. 38 Ebd., S. 39. 39 Vgl. dazu ebd., S. 27.

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Emil Angehrn räumt in dem von Boehm herausgegebenen Band die »Grundillusion [...] des Immediatismus des Beschreibens«40 aus dem Weg: »Es ist das Zerrbild reiner Objektivität, die Illusion, Wirklichkeit, wie sie an sich selber ist, zur Sprache bringen zu können.«41 Eine rein abbildende Beschreibung sei schon allein wegen der Selektivität jeder Darstellung unmöglich. Angehrn sieht die Illusion des Abbildens jedoch nicht als Mangel an. Vielmehr sei es das konstitutive Prinzip des Beschreibens, durch Festlegung bestimmter Perspektiven wiederzugeben und dabei nie alles erschöpfend zu beschreiben, sondern nur ausschnitthaft, partikular und begrenzt darzustellen. Keinesfalls kann hieraus der Schluss gezogen werden, das Beschreiben sei dem Gegenstand gegenüber als defizitär zu betrachten, als sei es eine zu vernachlässigende Praxis. Trotz alledem sei die Beschreibung nach Boehm imstande, »die Elemente, die Ausgangsbedingungen, die Tempi, die Rhythmen und Richtungen zu kennzeichnen, die sich für den Betrachter«42 ergeben. Angehrn geht sogar noch weiter, indem er von der »Mächtigkeit des Sprechens« ausgeht und der Beschreibung die Fähigkeit zuweist, durch das sprachliche Hervorbringen von »Stimmungen, Ereignissen, Geschichten«43 auch über den Gegenstand hinaus gehen zu können. Ekphrasis wird nicht nur mit der Illusion des Abbildens theoretisch erörtert, sondern zudem mit dem gestaltenden Akt der Konstitution. Da sie niemals eine unmittelbare Wiedergabe ist, muss die beschreibende Praxis als Schöpfung betrachtet werden. Angehrn diskutiert, inwieweit Schreibende nicht nur einen Text gestaltend hervorbringen, sondern auch an der Konstitution des Gegenstandes beteiligt sind. Da die Beschreibung nicht unmittelbar abbilde, sondern selektiert und nicht »ohne subjektives Apriori«44 der Schreibenden auskomme, müsse sie als ein den Gegenstand Hervorbringendes verstanden werden. Die Praxis des Beschreibens, so seine These, sei »weder äußerlich konstatierend noch bloßer Nachvollzug gegebener intentionaler Besetzungen, sondern selber ein Hervorbringen sinnhafter Bezüge und darin ein Moment

40 E. Angehrn: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, S. 65. 41 Ebd. 42 G. Boehm: »Bildbeschreibung«, S. 27. 43 E. Angehrn: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, S. 60. 44 Ebd., S. 70.

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der Gegenstandskonstitution«45. Indem Angehrn Beschreibungen insbesondere auf ihre performative Dimension hin beleuchtet und ihren Objektivitätsanspruch suspendiert, bezieht er sich auf die Phänomenologie. Sie akzentuiere, dass jedes Vergegenwärtigen zugleich ein Umbilden, Gestalten und Hervorbringen sei. Es gehe der Phänomenologie eben nicht mit Husserls Devise ›Zu den Sachen selbst!‹ um eine unmittelbare Zuwendung zu den Gegenständen. Diese suggerierte Unmittelbarkeit sei ein Zerrbild, denn beschrieben werden solle das Objekt in seinem »erlebnismäßigen Gegebensein«46, was bedeutet, dass in der Beschreibung des Gegenstandes auch die Beschreibenden selbst teilhaben. Der Subjekt-Objekt-Bezug wird gerade im Beschreiben deutlich: »Den Gegenstand beschreiben heißt auch sich selber beschreiben […].«47 Angehrn argumentiert im Sinn des philosophischen Konstruktivismus, der gleichsam die Idee des Abbildes dekonstruiert und davon ausgeht, dass die Betrachtenden durch jedes Erkennen den Gegenstand konstruierten. Beschreibungen fasst er folglich mit dem Begriff der Konstruktivität; sie seien schöpferische »Akt[e] der Welterzeugung«48. Diese Idee kann im Sinne des konsequenten Konstruktivismus noch radikaler formuliert werden, indem Beschreibung nicht nur als Mitgestaltung betrachtet wird – als ein »[S]ich-Einschalten in einen Prozess der Selbstgestaltung und Selbstäußerung« –, sondern in gewisser Weise »in eigener Kompetenz als Hervorbringung«49 aufgefasst wird. Der Bezug zur Wirklichkeit scheint hier verloren zu sein, wird Beschreiben ausschließlich als Konstruktion betrachtet. Doch gegen diese These wendet sich Angehrn, indem er argumentiert, dass es notwendig sei, beides zusammenzudenken, »den konstruktiven Aspekt des Sprechakts und den darin sich artikulierenden Bezug auf Wirklichkeit«50. Beschreiben interessiere gerade als Akt der Aneignung, Gestaltung und Schöpfung und eben nicht »als angesammeltes

45 Ebd. 46 Ebd., S. 69. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 72. 49 Ebd., S. 71. 50 Ebd., S. 72.

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Wissen und Darstellungsbestand«51. Er geht von einer »Doppelseitigkeit von Abbild und Konstruktion, von Weltbezug und Entwurf«52 aus. Bisher hat es den Eindruck, als lasse sich die Stoßrichtung der Ekphrasis problemlos auf die Theaterwissenschaft übertragen. Es geht hier wie dort um ein Beschreiben, das Wirkungen bei den Lesenden hervorzurufen und durch sprachliche Strategien eine Nähe – eine Anschaulichkeit, eine Lebendigkeit – zu dem zu beschreibenden Gegenstand zu erzeugen sucht. Jedoch lassen sich durchaus Unterschiede markieren. Während der Begriff der Ekphrasis bevorzugt auf die Bildbeschreibung abhebt, bezieht sich die Theaterwissenschaft auf die Beschreibung und Analyse von Prozessen. Die von Boehm formulierte Forderung nach lebendiger Beschreibung muss, theaterwissenschaftlich betrachtet, relativiert werden. Denn angesichts der Flüchtigkeit von Aufführungen ist gerade die Nachträglichkeit des Beschreibens – der Modus des Erinnerns im Schreiben – von besonderer Relevanz. Die von Boehm akzentuierte Schreibweise betont eher die Verlebendigung einer Erfahrung, die Wirkung, als wäre man beim Vollzug der Erfahrung zugegen. Möchte man den grundlegenden Modus des Erinnerns im Schreiben über Aufführungen aufgreifen, muss hingegen die Nachträglichkeit markiert werden. Schreiben müsste, so scheint es, als ein Nachdenken stattfinden und nicht im Sinne eines imaginativen Hineinversetzens. Es müsste eher die Distanz zum Geschehen betont werden. Wäre es also für Aufführungen vielmehr nötig, den Modus des Nachträglichen zu betonen? Oder aber wäre durch die Betonung der Nachträglichkeit die Beschreibung nicht schon zu analytisch? Würde in einer zu distanzierten Schreibweise die Erfahrung im Text überhaupt sichtbar werden? Die Erfahrung wäre ›geglättet‹ und die Flüchtigkeit des Wahrnehmens nur eine Behauptung, die sich nicht in der Schreibpraxis niederschlägt. Oder gibt es doch Möglichkeiten des Beschreibens, die die Nachträglichkeit aufgreifen, trotzdem aber die Erfahrung gegenwärtig werden lassen? Kann eine Form des Beschreibens entwickelt werden, das die Begriffe der Erinnerung und der Erfahrung aufeinander bezieht und beide im Schreibversuch aufscheinen lässt? Diese Fragen gilt es später in diesem Kapitel aufzugreifen. Trotz des Unterschieds zwischen dem eher anhand der Bildbeschreibung entwickelten Begriffs der Ekphrasis zur theaterwissenschaftlichen

51 Ebd., S. 74. 52 Ebd., S. 73.

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Thematisierung von Aufführungen soll die Relevanz der Ziele der Ekphrasis hervorgehoben werden. Die Überlegungen zur Ekphrasis bieten die Möglichkeit, die momentane Erfahrung einer Aufführung auch in der Schreibweise sichtbar werden zu lassen. Hieraus wird eine Form des Beschreibens für die Theaterwissenschaft entwickelt, die zwar weniger auf ein distanziertes und analytisches Beschreiben abhebt, jedoch aber den zentralen Moment der Erfahrung herausarbeitet. Es ist eine Schreibweise, die eine weitere Möglichkeit zu bisherigen Formen des Beschreibens in Analysen darstellt. Sie wird im folgenden Abschnitt als ›nahes Beschreiben‹ bzw. ›Schreiben in Nähe‹ gefasst und als eine zentrale Schreibweise für die Betrachtung von Aufführungen entwickelt. Hierbei wird die nun folgende Erörterung des nahen Beschreibens auf den Begriff der Inszenierung stoßen, der sich als grundlegend für ein Schreiben über Aufführungen erweist. Nahes Beschreiben als Re-Inszenieren Bisher wurden insbesondere die Ähnlichkeiten von Beschreibungen und Analysen fokussiert. Trotzdem wird in der hier vorliegenden Arbeit von einem Unterschied zwischen Beschreibung und Analyse ausgegangen, jedoch nicht im Sinn eines absoluten Unterschieds, sondern sie werden eher als zwei Schreibrichtungen verstanden, die ähnliche Voraussetzungen haben, aber in zwei Richtungen tendieren – ein Schreiben in Nähe und ein Schreiben in Distanz. Beschreiben und Analysieren werden als zwei Schreibpraktiken verstanden, die beide den gleichen Stellenwert für die Untersuchung von Aufführungen besitzen. Beschreiben wird hierbei nicht als Hilfsmittel oder Diener der Analyse verstanden, als zu vernachlässigende Größe, die nur im Erinnerungsprotokoll im Verborgenen zurückbleibt, sondern als zentraler Ort des Beleuchtens, Untersuchens und Erforschens des Gegenstandes in den Mittelpunkt gerückt. Eine Sichtbarkeit erweist sich als unabdingbar für die Theaterwissenschaft, wirft letztere doch immer die Frage nach der Beschreibbarkeit ihrer Gegenstände auf. Die für die Ekphrasis erörterten Annahmen der Herstellung von Nähe, der Illusion des Abbildens und der Konstruktivität des Schreibens treffen auch auf die schreibende Betrachtung von Aufführungen zu. Auch theaterwissenschaftliche Positionen heben das ekphrasische Ziel der anschaulichen Darstellung durch Sprache hervor. Es müsse eine beschreibende Sprache gefunden werden, die »die Eigenschaften der Auffüh-

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rung aufzugreifen und nicht auszugrenzen«53 vermag. Wie sich schon gezeigt hat, stellen auch Fischer-Lichte, Roselt und Warstat die Forderung an das Beschreiben, dass es »möglichst genau«54 sein solle. Ziel des Beschreibens ist, dem vergangenen Geschehen so nah wie möglich zu kommen. Ihm soll sich die beschreibende Sprache mit allen erdenklichen Mitteln annähern, um es plastisch darzustellen. Hierbei wird in Anlehnung an die Ziele der Ekphrasis von einem ›Schreiben in Nähe‹ gesprochen. In dieser Arbeit wird es als eine für die Theaterwissenschaft zentrale Schreibweise entwickelt. Im Prozess des Schreibens und auch Lesens geht es dem ›nahen Beschreiben‹ um ein plastisches Einfühlen in ein vergangenes Geschehen, aus dem sich zahlreiche Fragen an den zu beschreibenden Gegenstand ergeben, die vielleicht einem zu distanzierten Schreiben entgangen wären. Trotz alledem wird das nahe Beschreiben als nur eine mögliche Schreibweise, eine mögliche Schreibrichtung unter anderen, zu thematisieren sein. Nahes Beschreiben heißt, aus der Perspektive des Danachs zu beschreiben, jedoch aber immer den Anschein zu erwecken, diese Distanz bestünde nicht. Sie soll regelrecht in Vergessenheit geraten. Laut Pavis folge die Praxis des erinnernden Beschreibens einer Illusion, nämlich der »illusion of bringing a past event back to life through writing in the present«55. Beschreiben versucht eine Illusion von Nähe aufzubauen, die so nicht gegeben ist. Die nahe Schreibpraxis, so wird behauptet, basiert auf einer Täuschung: Eine Nähe wird suggeriert, die eigentlich keine Nähe ist. Die Distanz zum Geschehen – die Unmöglichkeit, es sprachlich greifen zu können – wird zu leugnen versucht, obwohl sie nie verleugnet werden kann. Das nahe Beschreiben zielt darauf ab, die spezifische Sinnlichkeit der in der Erinnerung gegenwärtig werdenden Erfahrung in die Sprachlichkeit aufzunehmen. Schreiben gleicht hier einem Vorgang, in dem durch Prozesse des Auswählens, Strukturierens und Anordnens von Wörtern etwas hervorgebracht wird, das vorher nicht so da war; kurz: es gleicht dem Prozess des Inszenierens. Durch sprachliche Mittel soll das vergangene Geschehen so nah wie möglich zur Erscheinung gebracht werden. Um das Beschreiben

53 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 39. 54 M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 59. 55 P. Pavis: Analyzing Performance, S. 34.

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im theaterwissenschaftlichen Kontext zu erörtern, bietet sich der Begriff der Inszenierung an. Wie der Begriff der Konstruktivität deckt er die Illusion des Abbildens auf und vermag zugleich den konstituierenden, schöpfenden und gestaltenden Akt des Beschreibens zu fassen. Demnach wird im Folgenden der Vorgang des Beschreibens mit der Praxis des Inszenierens verbunden. Nicht nur die Illusion von Nähe wird inszeniert; gewissermaßen wird ein vergangenes Geschehen durch den Versuch des Beschreibens reinszeniert. In dieser beschreibenden Re-Inszenierung werden vergangene Wahrnehmungen wieder zur Erscheinung gebracht, erneut entworfen, gestaltet und hervorgebracht. Diese zwei Facetten – Inszenieren von Nähe und Re-Inszenieren eines Vergangenen – rücken ins Zentrum der hier als nahes Beschreiben bezeichneten Schreibweise. Inszenieren bzw. Re-Inszenieren sind im Kontext einer wissenschaftlichen Praxis keine unproblematischen Unterfangen; sie werfen grundlegende, erkenntnistheoretische Fragen auf: Kann etwas künstlich Erzeugtes als gleichfalls Grundlage und Bestandteil einer wissenschaftlichen Analyse dienen? Wird durch den Inszenierungscharakter nicht das wissenschaftliche Verfahren selbst verfälscht? Kann Inszenieren als Bezugspunkt einer Analyse in der Wissenschaft Anwendung finden? Bezieht man diese Fragen auf das Problem des Beschreibens, stellen sich weitere Fragen bzw. Gegenfragen, die die so unterschiedlich anmutenden Praktiken des Schreibens und Inszenierens eng aufeinander beziehen: Ist nicht jede plastische Beschreibung von Aufführungen und Performances eine Re-Inszenierung von Wahrnehmungen durch Sprache? Ist nicht jede Beschreibung etwas (Re-)Konstruiertes, Künstliches und neu In-Szene-Gesetztes? Heißt Beschreiben nicht grundsätzlich Inszenieren, etwas Inszeniertes hervorzubringen? Anhand der Erörterung der Ekphrasis hat sich gezeigt, inwiefern Beschreibungen trotz ihrer Konstruktivität als wissenschaftliches Verfahren zum Einsatz kommen können. Schon allein durch ihren der Analyse ähnelnden Charakter der Evidenzproduktion, des Veranschaulichens und Zeigens, erscheinen sie als grundlegende Notwendigkeit wissenschaftlichen Schreibens. Denn gerade erst durch die Inszenierung, durch die Konstruktivität des Beschreibens, wird der zu untersuchende Gegenstand sprachlich anschaulich.

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Guido Hiß baut in seiner Einführung in die Aufführungsanalyse auf diesen Annahmen auf. Die Aspekte des Inszenierens und Re-Inszenierens hebt er durch den von Roland Barthes entlehnten Begriff des Simulacrums hervor. »Das Ergebnis einer Analyse steht niemals in einem deckungsgleichen Verhältnis zum analysierten Objekt, z.B. den Bühnenereignissen, sondern ›rekonstruiert‹ es [...].«56 Das Geschehen werde nicht »beschreibungssprachlich« abgebildet, vielmehr entstehe schon allein durch »die Vorgänge des Auswählens, des Gliederns und des Arrangierens«57 etwas Neues. »Im Simulacrum prägt sich etwas Neues ein, etwas Eigenes.«58 Dieses Neue, das er als Simulacrum bezeichnet, kann als das Re-Inszenierte angesehen werden, das durch Beschreiben zuallererst gestaltet wird. Beschreibungen und Analysen schafften »sich ihren Gegenstand (mit)«59. Im Modus des Beschreibens wird das zu analysierende Phänomen schon verändert. Schon allein durch die Tatsache des erinnernden Beschreibens selbst findet regelrecht ein verändernder Eingriff statt, der etwas Anderes hervorbringt, ein Inszeniertes, eine sprachliche Gestaltung, die geradezu vor das ursprüngliche Phänomen tritt, um – paradox zu sprechen – im Vorgang des Überdeckens etwas aufzudecken versucht. Das Simulacrum verspreche, so Hiß, »etwas zum Vorschein [zu bringen], was im ersten Augenschein des Objekts unverständlich bliebe«60. Die Inszeniertheit der Beschreibung zeigt sich bei Hiß nicht als Mangel, sondern ganz im Gegenteil als Stärke: Nur über ihren inszenierten Charakter kann die Beschreibung überhaupt Aspekte ihres Gegenstandes aufzeigen. Die Argumente, dass in ein Vorgängiges verändernd eingegriffen und etwas zum Vorschein gebracht wird, das vorher so nicht da war, rücken die Diskussion um das Simulacrum augenscheinlich in die Nähe des Inszenierungsbegriffs, wie er beispielsweise von dem in theaterwissenschaftlichen Debatten um den Inszenierungsbegriff vielfach zitierten Wolfgang Iser verwendet wird. Iser spricht von dem der Inszenierung »Vorausliegende[n]«, welches als ein »Abwesende[s]« durch den Prozess des Inszenie-

56 Hiß, Guido: Der Theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse, Berlin: Reimer 1993, S. 14. 57 Ebd., S. 13 und 12. 58 Ebd., S. 14. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 14.

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rens »zur Erscheinung«61 komme. Josef Früchtl und Jörg Zimmermann, die in ihrem Band Ästhetik der Inszenierung gesellschaftliche, individuelle und kulturelle Dimensionen des Inszenierungsbegriffs erörtern, insistieren auf Isers »logisch-semantisch[en]« Fassung, »dass der Inszenierung etwas vorausliegen«62 müsse. »Denn würde das Vorausliegende, das ›Substrat‹, die notwendig zu unterstellende, aber nie zu ›stellende‹ Substanz, vollkommen in die Inszenierung eingehen, wäre sie selbst das ihr Vorausliegende.«63 Inszenieren wird im Anschluss an Iser als ein »Zur-Erscheinung-Bringen«64 eines Vorausliegenden verstanden, das es aber im Prozess des Inszenierens nicht einfach vergegenwärtigen kann. Vielmehr sei es als eine »Konstruktion«65 aufzufassen, die nicht mit dem Vorausliegenden, dem Abwesenden, gleichzusetzen ist. Mit Iser betonen Früchtl und Zimmermann, dass »jede Inszenierung aus dem lebt, was sie nicht ist. Denn alles, was sich in ihr materialisiert, steht im Dienste eines Abwesenden, das durch Anwesendes zwar vergegenwärtigt wird, nicht aber selbst zur Geltung kommen darf.«66

Das Vorausliegende wird somit durch den Prozess des Inszenierens in ein Anwesendes transformiert. So kommen die Autoren zu ähnlichen Formulierungen wie Hiß: »Jede Inszenierung ist als ein Zur-Erscheinung-Bringen eine Konstruktion […].«67 Ebenfalls Bezug nehmend auf Iser bestimmt Fischer-Lichte Inszenierung als »einen Vorgang […], der durch eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Materialien/Personen etwas zur Erscheinung

61 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 511. 62 Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg: »Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens«, in: Dies. (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 20. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 21. 65 Ebd. 66 W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 511. – Vgl. dazu J. Früchtl/J. Zimmermann: »Ästhetik der Inszenierung«, S. 21. 67 J. Früchtl/J. Zimmermann: »Ästhetik der Inszenierung«, S. 21.

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bringt«68. Auch die Praxis des Veränderns eines Vorausliegenden findet Berücksichtigung, indem sie Inszenieren als »kreativen und transformierenden Umgang[...] des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt«69 fasst. Hierbei wird Inszenieren ausdrücklich nicht nur mit der Theaterinszenierung verknüpft, sondern vielmehr umfassender als eine kulturelle Praxis verstanden, die in den unterschiedlichsten Bereichen zu finden sei – »in Kunst, Religion, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, sozialer Interaktion etc.«70. Wie selbstverständlich nennt Fischer-Lichte das Feld der Wissenschaft als einen nicht unüblichen Ort des Inszenierens. Trotz allem bleibt die Frage, welcher Wissenschaftsbegriff dem hier zu entwickelnden Schreiben zugrunde liegt. Denn eine Besonderheit dieses Schreibens ist seine Nähe zu künstlerischen Verfahren. Es geht um ein kreatives Hervorbringen, ein Gestalten und gezielt gesetzte Wirkungen. Mit dem Ziel, zu vergegenwärtigen, ist es als eine »Inszenierung von Gegenwart«71 zu verstehen, als eine Praxis, die nicht nur den Künsten nahe steht, sondern sich auch ihrer zentralen Mittel bedient. Die im Rahmen dieser Arbeit praktizierte Beschreibung impliziert ein Wissenschaftverständnis, das nicht in strenger Opposition Kunst und Wissenschaft trennt, sondern vielmehr ihre gegenseitige Nähe betont. Es lässt sich als ein wissenschaftliches Schreiben denken, das Strategien künstlerischen Arbeitens verwendet, den Künsten nahe steht und von ihnen inspiriert ist. Das in dieser Untersuchung praktizierte Schreiben kann ein Beispiel sein, das sich in die gegenwärtig geführte Debatte um Kunst als Forschung einfügt, bei der wissenschaftliches und künstlerisches Arbeiten nicht als stereotype Dichotomien verstanden werden, sondern kritisch eng geführt werden. Das hier erörterte Schreiben wird somit als ein durchaus für die Wissenschaft anwendbares Verfahren entwickelt, auch wenn und gerade weil es mit der Praxis des Inszenierens zu vergleichen ist. Beschreiben ist einerseits

68 Fischer-Lichte, Erika: »Theatralität und Inszenierung«, in: Dies. et al. (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel: A. Francke 2000, S. 21. 69 Ebd., S. 22. 70 Ebd. 71 Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 53.

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als eine Inszenierung von Nähe zu verstehen, die verloren gegangen ist, andererseits als ein Re-Inszenieren im Sinne eines sprachlichen Wieder-ZurErscheinung-Bringens eines nicht einzuholenden, vorausliegenden Geschehens, das eben nur als ein Verändertes, ein Inszeniertes, berührbar wird. Etwas Nicht-zu-Stellendes, etwas Unerreichbares, wird wieder zur Erscheinung gebracht, re-inszeniert, ohne dass dabei das Unerreichbare erreichbar würde. Vielmehr wird ein Beschreibungstext hervorgebracht, konstruiert, mit der eigenen Kreativität gebildet, der das Unerreichbare annähernd berührbar zu machen verspricht, ohne es erfassen zu können. Assoziative Textfragmente Beschreiben scheint grundlegend auf Inszenieren angewiesen zu sein. Aber könnte es auch eine Beschreibungssprache geben, die dem inszenatorischen Grundgestus entkommt? Eine Beschreibung, die nicht inszeniert? Orientiert man sich am Inszenierungsbegriff, drängt sich der Begriff des Vorausliegenden als Substrat, Substanz oder Material auf.72 Überträgt man ihn auf die Praxis des Beschreibens, kann er zunächst den zu beschreibenden Gegenstand meinen, der sprachlich re-inszeniert werden soll. Andererseits kann er auch auf das Schreiben selbst übertragen werden, sodass sich die Frage aufdrängt: Gibt es eine Textform, die als Material der Inszenierung dient und dieser insofern vorausliegt? Es müsste eine Textform sein, die nicht schon beschreibende Züge trüge und insofern schon inszenatorischen Charakter annähme. Vielleicht kann das assoziative und ungeordnete Sammeln subjektiver Eindrücke vor der eigentlichen gestaltenden Schreibarbeit noch außerhalb des Inszenierten stehen. Damit sei nicht das Erinnerungsprotokoll gemeint, das zumeist eine ausformulierte und eben gestaltete Textform ist und die Wirkung der Anschaulichkeit und Nähe suggeriert. Vielmehr ist eine Schreibform angesprochen, die oft vor der verknüpfenden Schreibarbeit liegt und sich vielleicht mit dem ›freien Assoziieren‹ vergleichen lässt. Unstrukturiert und vielleicht noch nicht nachvollziehbar, unausgereift und unfertig werden Assoziationen notiert. In sie wurde noch nicht formend und verändernd eingegriffen, sie wurden noch nicht geordnet oder zu Sätzen und Satzfolgen verarbeitet. Sie haben vielleicht einen Status, der noch am

72 J. Früchtl/J. Zimmermann: »Ästhetik der Inszenierung«, S. 20.

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wenigsten festgelegt ist, der Festschreibung und Stillstellung noch am entferntesten ist. Es sind sprachliche Versatz- und Bruchstücke, Satzfragmente, lose Wörter, assoziative Notizen, unsortierte Assoziationen und Erinnerungsstücke, die auf den ersten Blick vielleicht keinen Sinn zu haben scheinen. Durchaus kann diese Textform einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, jedoch ohne die Notwendigkeit, anschaulich, plastisch und nachvollziehbar zu erscheinen. Die Lesenden könnten keinesfalls dem Gegenstand nahe kommen, wie es beim Beschreiben und auch beim Analysieren der Fall ist, vielmehr wären sie mit kurzen, bruchstückhaften, regellosen Textfragmenten konfrontiert, die auch die Logik der Grammatik übersteigen können. Wissenschaftlich relevante Fragen können trotz allem daran ansetzen: Was wird zuallererst erinnert und warum? Könnten die Assoziationen Ausgangspunkte für mögliche Analyserichtungen bilden? Inwiefern bestätigt sich der ›erste Eindruck‹ nach tieferer Betrachtung? Die Schreibform kann mit der im Kontext des Surrealismus entwickelten ›écriture automatique‹ verglichen und als ein Schreiben ohne Hindernisse verstanden werden. Schreibfehler, Grammatikfehler, fehlerhafte Interpunktion, fehlende Anschaulichkeit, Zusammenhangslosigkeit – all diese Aspekte, die sonst als Defizit wahrgenommen werden, können hierbei erwünscht und Bestandteil dieser schnellen, spontanen und regellosen Schreibform sein. André Breton, der die Schreibform als wesentliches Prinzip des Surrealismus deklarierte, zielte darauf ab, der Phantasie freien Lauf zu lassen, sie zu befreien, um die rationalistische Kontrolle der Vernunft zu durchbrechen. Ein Text sollte entstehen, in dem Heterogenes unvereinbar nebeneinander steht.73 Durch Zufall werden unvereinbare Aspekte miteinander verknüpft, ohne den logischen Wert der Verknüpfung zu berücksichtigen. Lyotard umschreibt das freie Assoziieren als eine Schreib- und Sprechweise, die auf die Psychologie zurückgeht, in der man der »Rhetorik des Unbewussten« folge und »allen ›Ideen‹, Gestalten, Szenen, Namen, Sätzen freien Lauf lasse, wie sie [...] in den Sinn« kommen, sodass sie

73 Brohm, Holger: »Surrealismus«, in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 374.

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schlussendlich ungeordnet »und ohne Auswahl und Unterdrückung«74 geäußert würden. Ist es eine Textform, die der Inszenierung entkommt? Oder ist sie selbst schon ein Gestaltungsprinzip, das schon alleine durch das Wählen dieser Form Inszenierungscharakter besitzt? Die Auswahl der Schreibform als inszenatorische Setzung? Wie auch immer man sich entscheiden möge, ist es augenscheinlich, dass diese Schreibweise nicht mehrere redigierende Phasen des Umschreibens, Überschreibens, Neuschreibens, Andersschreibens und Weiterschreibens durchläuft, wie es beim nahen Beschreiben der Fall sein kann. Eben deshalb könnte das freie Assoziieren als Material des inszenatorischen Prozesses des Schreibens dienen, das ausgewählt, geordnet, neu verknüpft, verändert, erweitert, durchgestrichen und ergänzt werden kann. Analytisches Schreiben in Distanz Bisher wurde der »fließende Übergang«75 sowie die funktionelle Ähnlichkeit von Beschreibung und Analyse beleuchtet. Beschreibung und Analyse seien in der vorliegenden Arbeit jedoch als zwei Schreibpraktiken verstanden, die trotz ihrer Ähnlichkeit in verschiedene Richtungen tendieren und andere Mittel verwenden. Deshalb sei im Folgenden der nahen Schreibpraxis ein Schreiben in Distanz gegenübergestellt. Die Analyse bewege sich, so Hiß, auf einem »metasprachlichen Niveau«76. Sie folge einer »metasprachlichen Syntagmatik«77, also einer sprachlichen Wortfolge und -struktur, die auf einer allgemeinen bzw. übergeordneten Ebene bleibe. Das Beschreiben sucht die Distanz zum Geschehen zu überwinden, wohingegen die Analyse regelrecht die Distanz ausstellt, indem sie sie durch sprachliche Mittel markiert – beispielsweise durch erklärende Worte wie ›weil‹, ›da‹ oder ›deshalb‹; durch strukturierende Passagen, die den Lesenden Halt zu geben versuchen; oder durch die Darlegung theoretischer Gedanken. Zumeist werden Vorgänge des Selektierens, Auswählens und Ordnens bewusst betont und nicht selten auch be-

74 J.-F. Lyotard: Das Inhumane, S. 64 und 61. 75 E. Angehrn: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, S. 64. 76 G. Hiß: Der Theatralische Blick, S. 14. 77 Ebd., S. 15.

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gründet. Kann die Fragestellung beim Beschreiben eher implizit und vielleicht nur erahnbar im Hintergrund bleiben, ist sie beim Analysieren explizit und zumeist theoretisch fundiert. Nicht umsonst stellt Fischer-Lichte die unabdingbare Forderung, jede Analyse folge einer Fragestellung.78 Die Analyse bewegt sich so auf einer Metaebene, die aus einer Distanz heraus auf den Gegenstand blickt. Auch dieses Schreiben in Distanz dient in gewisser Weise einer Herstellung von Nähe zum analysierten Geschehen. Jedoch nicht durch das in die Situation erneut einfühlende nahe Beschreiben, sondern vielmehr durch das bewusste Aufbauen eines Abstands, der das zu analysierende Geschehen zerlegt und neu arrangiert. Paradox gesprochen wird durch die Betonung der Distanz versucht, eine Nähe herzustellen. Es darf somit nicht der Eindruck entstehen, Schreiben in Distanz sei der einfache Gegenpart zur Beschreibung. So wie das Schreiben in Nähe schon analytische Züge aufweist und mit dem Danach in einem spannungsvollen Verhältnis steht, so steht auch das Schreiben in Distanz in einer engen Beziehung zum Beschreiben. In der Analyse werden verschiedene Praktiken des Zeigens, Vorführens oder Ausstellens explizit hinsichtlich ihrer Strategien befragt. Beim Beschreiben werden diese nicht derart direkt aufgezeigt, sondern können auch nur implizit mitschwingen, derart, dass Lesende sie vielleicht noch selbst erschließen müssen oder nur zu erahnen vermögen. Das analytische Schreiben versucht somit viel stärker als die Beschreibung, die hinter einem Gegenstand liegenden ›Gedanken‹ herauszuarbeiten, zu fassen und aus dem Verborgenen oder dem noch Unbestimmten ›hervorzuholen‹ und mit Bestimmungen zu versehen. Der Analytiker versuche, so Fischer-Lichte, das Geschehen »nachträglich auf den Begriff zu bringen«79. Während im Beschreiben und insbesondere im nahen Beschreiben Momente des Unbestimmten Platz haben können, sind sie in der Analyse eher weniger zu finden. Die Analyse kann die Distanz zum Gegenstand sogar noch zusätzlich erhöhen. Sie vermag auch auf weitergehende Erkenntnisse zu zielen, die vom Gegenstand ausgehen, ihn aber auch übersteigen und zu übergreifen-

78 Vgl. dazu E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 80. 79 Ebd., S. 79.

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den theoretischen Fragen führen können. Nicht umsonst behauptet Hiß, Analyse sei schwer von Theatertheorie zu trennen.80 Mit dieser Betonung der Distanz in der Praxis des Analysierens korrespondiert auch eine Form der Beschreibung, die sich der bisher erörterten Schreibweise des nahen Beschreibens gegenüberstellen lässt. Sie wird als ›analytisches Beschreiben‹ bezeichnet und im Folgenden erörtert. Analytische Beschreibungen dienen zumeist als kurze Veranschaulichungen und Begründungen von analytischen und theoretischen Gedanken. In der Analyse wird plötzlich in ein Beschreiben gewechselt, um Argumente mit Beispielen zu versehen. Die Beschreibungen werden hierbei jedoch wieder auf eine sprachlich-analytische Metaebene zurückgeführt. Im kurzzeitigen Ausführen von Beschreibungen wird somit der Modus des distanzierten Schreibens nicht verlassen, sondern vielmehr in dessen temporärer Aufhebung als dessen Bestandteil verstärkt. Vorsichtig sei hier die These aufgestellt, dass gegenwärtig die meisten theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalysen auf dieser Logik basieren, in der Beschreibungen zumeist nur als kurze Unterbrechungen zur Veranschaulichung analytischer und theoretischer Annahmen dienen. Es sind im wahrsten Sinne des Wortes analytische Beschreibungen. Diese in theaterwissenschaftlichen Analysen häufig aufzufindende Form des Beschreibens sei hier nicht mit der Praxis des nahen Beschreibens gleichgesetzt. Die nahe Beschreibung sieht sich demgegenüber einer ausführlichen, plastischen und mitfühlenden Schreibweise verpflichtet und versucht, Merkmale des Gegenstandes bzw. Merkmale der Erfahrung des Gegenstandes in ihre Schreibweise aufzunehmen. Trotz dieses Unterschieds versucht das analytische Beschreiben ebenfalls eine veranschaulichende Wirkung zu erzeugen, jedoch nicht durch das imaginative Hineinversetzen, sondern die Markierung von Distanz. Es wird als eine Schreibweise verstanden, die nicht durch Einfühlung Nähe zu erzeugen sucht, sondern durch das geordnete, geglättete und distanzierte Beschreiben. Auf diese Weise ist es möglich, den für die Betrachtung von Aufführungen zentralen Aspekt der Nachträglichkeit aufscheinen zu lassen. Im Nachhinein ist es möglich, Gedanken in eine Form zu bringen, sie zu ordnen, sie zuzuspitzen. Die Distanz zum Geschehen wird als solche markiert. Im Gegensatz zum bisher erörterten nahen Beschreiben könnte es eine Schreibweise sein, die auf die

80 Vgl. dazu G. Hiß: Der Theatralische Blick, S. 16.

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Nachträglichkeit, das Nachdenken, das Erinnern abhebt. Jedoch scheint hierbei das analytische Beschreiben durch seine fast metasprachliche Distanz die momentane Erfahrung nicht in die Schreibweise aufnehmen zu können. Das analytische Beschreiben lässt sich als thesenbezogenes oder begründendes Beschreiben bezeichnen. Beim nahen Beschreiben ist es hingegen möglich, in der Schwebe zu bleiben und nicht sofort auf Thesen und metasprachliche Beobachtungen hinzielen zu müssen. Vielmehr verweist es hauptsächlich auf den zu vergegenwärtigenden Gegenstand. Es wird deshalb als eine Schreibform verstanden, die sich zunächst nur mit der »Gegenstandspräsentation« begnügt und sich nicht zielstrebig auf die »Gegenstandserklärung«81 zubewegt. Thesen, Fragestellungen, Analysebegriffe sind eher versteckt, vielleicht sprachlich angedeutet, bleiben vage und stehen insgesamt nicht derart im Mittelpunkt wie beim analytischen Beschreiben. Beim nahen Beschreiben können zwar durchaus im Vorfeld die zu beschreibenden Aspekte genannt werden oder auch die analytische Perspektive geschildert werden; jedoch können sie im beschreibenden Text selbst noch in der Schwebe bleiben, sodass die sprachlich inszenierte Gegenstandspräsentation im Vordergrund steht. Der Grad der Festlegung ist deutlich geringer als beim analytischen Beschreiben. Die nahe Beschreibung zeigt sich offen für mögliche daran anschließende Analyserichtungen, die durchaus unterschiedliche Wege einschlagen können. Sie ist eine zur Zukunft hin offene Praxis, offen für weitere Lektüren und Anknüpfungen und nicht nur für die Lesenden, sondern auch für die Schreibenden, die darin immer wieder Neues und Anderes zu erkennen vermögen. Das nahe Beschreiben ist folglich eine Schreibweise, die versucht, sich der analytischen Tendenz des Festschreibens zu widersetzen. Keinesfalls möchte sich diese Arbeit gegen die analytische Beschreibung aussprechen. Vielmehr möchte sie mit der Hervorhebung des nahen Beschreibens eine weitere Möglichkeit des Beschreibens in den Raum stellen. Keine dieser beiden Schreibweisen sei idealerweise zu verwenden, sondern sie müssen hinsichtlich ihres sprachlichen Passens zum Gegenstand und des Ziels des eigenen Schreibens befragt werden.

81 E. Angehrn: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, S. 64.

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Relationen von Beschreibung und Analyse Werden nun Beschreibung und Analyse in Relation zueinander gesetzt, zeichnen sich vor allem drei verschiedene Möglichkeiten des Zusammenspiels zwischen Beschreibung und Analyse ab, in dem sie je nach zu untersuchendem Gegenstand jeweils unterschiedliche Gewichtungen einnehmen können. Bei der ersten Möglichkeit steht die Beschreibung für sich und die Analyse wird sprachlich vom Beschreibungstext getrennt. Die Lesenden bekommen hierbei die Aufgabe, die nebeneinander stehenden Schreibformen gedanklich miteinander zu verknüpfen, das gegenstandsorientierte Beschreiben und die thesenorientierte Analyse in Relation zu setzen. Die analytischen Annahmen werden hierbei als Vorannahmen formuliert, sodass die Lesenden mit klar gesetzten Fragen und Aspekten auf den Beschreibungstext treffen; oder umgekehrt, steht zunächst der Beschreibungstext für sich, sodass er auf diese Weise seine Kraft der Unbestimmtheit und Offenheit voll entfaltet und erst im Nachhinein werden metasprachliche Analysen, Beobachtungen und Thesen formuliert. In beiden Fällen liegt jedoch eine klare Trennung beider Schreibrichtungen vor. Die schon diskutierte und übliche Verflechtung von Analyse und Beschreibung stellt eine weitere Variante dar. Beschreibung ist hierbei zunächst nicht als ein nahes Beschreiben anzusehen, sondern als ein analytisches, das zur Veranschaulichung analytischer Aspekte dient. Der Fokus liegt hierbei auf der Analyse. Das Verhältnis zwischen Beschreibung und Analyse ist deutlich in Richtung Analyse verschoben. Fraglich ist, ob es eine Variante gibt, die die Analyse mit dem nahen Beschreiben verknüpft, ohne dass Letzteres zur analytischen Beschreibung werden muss. Müsste vielleicht einfach das Verhältnis von Beschreibung und Analyse ausgewogener sein? Wäre es vielleicht eine Textform, in der das Verhältnis eben nicht zugunsten analytischer Passagen ausfällt, sondern gerade auch die Praxis des Beschreibens einen gleichwertigen Stellenwert bekommt oder sogar im Zentrum steht? Oder wären sprachliche Mittel wie das des sogenannten ›szenischen Einstiegs‹ eine Möglichkeit, das nahe Beschreiben hervorzuheben? Zu Beginn eines analytischen Textes stünde eine ausführliche, beschreibende Passage, die die Lesenden sofort in die Sinnlichkeit der Aufführungen taucht, sie zunächst noch in der Schwebe hält, da noch keine analytischen

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Vorannahmen getroffen sind. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden diese Fragen aufgegriffen. Es werden sich Schreibweisen abzeichnen, die die neue und sichtbare Position des Beschreibens betonen und gleichzeitig mit analytischen Überlegungen verwoben sind. Der dritte Ansatz besteht darin, das Verhältnis von Beschreibung und Analyse komplett aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem das Beschreiben in Nähe für sich steht, ohne dass analytische Annahmen unmittelbar folgen oder vorliegen. Denn vielleicht gibt es Fälle, in denen sich eine Analyse erübrigt. Eine Beschreibung könnte in diesem Fall im Kontext einer längeren Arbeit als eigenständiges Kapitel stehen. Hierbei wären die Lesenden aufgefordert, die angedeuteten Aspekte selbst herauszufinden und eigene Überlegungen anzustellen. Dies ist eine radikale Variante des Schreibens, die gegen den Gedanken des Festschreibens und Auf-denPunkt-Bringens wirkt. In der Beschreibung sind Möglichkeiten zukünftigen Bezugnehmens verborgen, die jedoch nicht explizit formuliert werden. Es ist eine Variante, die die weiterwirkende und nachwirkende Kraft eines Aufführungsmoments ausnutzt und thematisiert. Es wird sich hier für keine Variante entschieden, sondern davon ausgegangen, dass sich eine je spezifische Beziehung zwischen Beschreibung und Analyse aus dem jeweils zu betrachtenden Gegenstand ergibt. Die drei Varianten stellen Möglichkeiten dar, innerhalb derer sich ein Schreiben bewegen kann. Nachschreiben erinnerter Spuren Der Status und die Funktion des Beschreibens und Analysierens wurde bisher primär hinsichtlich der Blickrichtung des Moments betrachtet – mit der Frage: Wie können vergangene und erinnerte Aufführungsmomente in Beschreibungen und Analysen sprachlich Eingang finden? Diese Vorgehensweise folgt der gängigen aufführungsanalytischen Theorie und Praxis, Aufführungen momentorientiert zu betrachten und das momenthafte Zwischengeschehen, die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren, als ihren privilegierten Gegenstand zu reklamieren. Angesichts des flüchtigen Charakters von Aufführungen drängt sich jedoch eine erweiterte Perspektive auf, die gerade für das Schreiben von Belang ist: die Perspektive des Danachs. Diese erweiterte Perspektive gilt es nun zu erarbeiten. Zunächst werden die dieser Perspektive zugrunde liegenden Gedanken insbesondere

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um die Begriffe der Erfahrung und Erinnerung entwickelt. Darauf werden Schreibweisen diskutiert, die den Modus des Danachs aufzugreifen versuchen. Wie lässt sich also das in den vorherigen Abschnitten eher momentorientierte nahe Beschreiben um die Dimension des Nachwirkens erweitern? Schreiben über Aufführungen findet zumeist nach der momenthaften Begegnung statt, ihr zeitlicher Modus ist der der Nachträglichkeit. Beschreiben und Analysieren heißt nach dem Heraustreten aus der Aufführungssituation überhaupt erst mit der Schreibarbeit zu beginnen. Ein beschreibender Text könne, so Warstat, keinesfalls während der Aufführung angefertigt werden – ganz zu schweigen von analytischen Texten, die geradezu eine Distanznahme, eine Metaebene erfordern. »Setzt man sich mit einem Schreibblock und der festen Absicht des fleißigen Analysierens in die Aufführung, dann läuft man Gefahr, die Theatererfahrung selbst komplett zu verpassen.«82 Ein Beschreiben während der Aufführung würde die Wahrnehmungshaltung deutlich verändern. Fischer-Lichte betont, dass der Zuschauer gezwungen wäre, »ununterbrochen versuchsweise Hypothesen zu entwerfen, aus denen er ableiten kann, was für ihn relevant ist« und weiterhin unterstreicht sie, dass »nicht alles, was wahrgenommen wird, gleich notiert werden kann«83. Schreiben über Aufführungen bekommt demzufolge den Charakter eines sprachlichen Nachzeichnens subjektiver Erinnerungen. Eine Aufführung hat Spuren hinterlassen und diesen wird schreibend nachgespürt. Durch die erweiterte Perspektive muss neben der Thematisierung der momenthaften Erfahrung auch der Begriff der Erinnerung eine zentrale Rolle im Schreiben spielen. Bormann spricht von »Erinnerungs-Spuren, die über die Aufführung hinaus (zumindest für eine gewisse Zeit) im Gedächtnis des Zuschauers erhalten«84 bleiben. Er vergleicht in Rekurs auf Lessing den Zuschauer als »Empfänger von Eindrücken« und diese Eindrücke müssten »einen Ausdruck finden, sie müssen ihrerseits be-schrieben«85 werden. Sprache sei ihrerseits das Instrument die Erinnerungsspuren zu

82 M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 57. 83 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 76. 84 H.-F. Bormann: »Bewegung der Aufzeichnung«, S. 29. 85 Ebd., S. 28 und 29.

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vermitteln. Die Praxis des Beschreibens von Prozessen im Theater, in der Kunst und Kultur müssen demnach als ein Nachzeichnen, ein Nachschreiben erinnerter Spuren, betrachtet werden. Lenkt man den Blick der aufführungsanalytischen Theorie und Praxis auf die Nachträglichkeit des Schreibens, gehen damit weiterführende Annahmen und Fragen einher, die sich insbesondere um die Begriffe ›Erinnerung‹ und ›Erfahrung‹ drehen. Diese Begriffe sind augenscheinlich eng miteinander verknüpft. Jedes Erinnern bringt etwas in Erfahrung – jedoch nicht als ein wiederholendes Wiedererfahren, sondern vielmehr als ein Neuund Anderserfahren. Bevor diese Annahme näher erörtert wird, muss zunächst davon ausgegangen werden, dass die Begriffe der Erinnerung und Erfahrung als dynamisch zu denken sind. Keinesfalls können Erinnerungsspuren als stabil betrachtet werden, die bloß in Sprache umgesetzt werden müssten. Bormann geht von einer »kontinuierliche[n] Transformation der Erfahrung«86 aus, die eben nicht nur im Moment der Aufführung prozessual zu denken sei, sondern sich auch im Danach beständig verändere. Er geht davon aus, dass »die Erfahrung ihrerseits ein prozessuales und kontinuierliches (und das heißt: sich kontinuierlich veränderndes) Geschehen ist, das einer Analyse nur insofern zugänglich ist, wie es sich in ihr fortschreibt«87. Versucht man demnach Aufführungsmomente zu beschreiben, sieht man sich mit einer »unaufhörlichen Bewegtheit«88 konfrontiert. In Anknüpfung an diese Annahmen lässt sich der Erinnerungsbegriff mit Friedemann Kreuder noch spezifizieren. Auch er geht von einem Fortleben der Erfahrung in der Erinnerung aus. In Bezug auf L. Schacter hebt er hervor, »dass Erinnerungen keine passiven oder wortwörtlichen Aufzeichnungen der Wirklichkeit sind«, sondern sie seien »äußerst kontingent«, nie als eine »Wiedergabe, Wieder-Holung oder gar Rekonstruktion«89 der Erfahrung zu verstehen.

86 Ebd., S. 30. 87 Ebd., S. 26. 88 Ebd., S. 48. 89 Kreuder, Friedemann: Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers, Berlin: Alexander 2002, S. 11 und 13.

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»Dabei halten Erinnerungen fest, wie wir Ereignisse erlebt haben [Herv. i.O.]. Sie sind keine Kopien dieser Ereignisse, vielmehr komplexe subjektive Konstruktionen aus eingespeicherten Erfahrungsbruchstücken, die in Natur und Textur, Quantität und Qualität von den Ereignissen differieren, auf die sie sich beziehen.«90

Wie auch Bormann stuft er das Beschreiben von Erinnerungen als eine fragmentarische »Fortschreibung des in der Aufführung Wahrgenommenen«91 ein. Die hier vorliegende Untersuchung geht von einer fortwährenden und nie stillzustellenden Dynamik des Erinnerns und Erfahrens aus. Durch das ständige Wieder-und-Wieder-Hineinversetzen im Prozess des Schreibens verändern sich die Erinnerungen an das vergangene und weiterwirkende Geschehen, neue Erfahrungen werden gemacht, Dinge springen ins Auge, die vorher nicht aufgefallen sind, Verbindungen werden geknüpft, die vorher nicht da waren. Der Prozess des erinnernden Schreibens zeigt, wie das Geschehen durch das imaginierende Hineinversetzen selbst in Bewegung gerät und sich einer Stillstellung, die vielleicht ein Notat suggeriert, entgegenwirkt. Während der Arbeit des Schreibens wird Neues und Anderes erinnert, Details werden klarer, verschwimmen oder werden sogar durchgestrichen. Durch die Bewegung des Schreibens – das ständige Verändern, Umschreiben und Überschreiben – bleiben die Erinnerungen an die ursprünglichen Phänomene in ständiger Veränderung begriffen. Bormann folgert, dass gemeinsam mit den Begriffen des Erfahrens und Erinnerns auch der Begriff der Aufführung über ihren aktuellen kopräsenten Vollzug hinaus prozessual gedacht werden müsse. Die Aufführung könne nicht als abgeschlossen gedacht werden, sondern müsse vielmehr als ein sich auch im Danach ständig Weiterwirkendes und Veränderndes verstanden werden. Mit Bormann, Wortelkamp und Schneider konnte diese veränderte Sichtweise auf den Aufführungsbegriff schon entwickelt werden. Das Flüchtige des Aufführungsmoments wird bei ihnen nicht als Verlust begriffen. Vielmehr könne das einstmals Gegenwärtige »im Augenblick der Erinnerung als Erinnerung eine wiederum eigene Gegenwart« erhalten und gerade im und durch den Prozess des Schreibens »erneut und

90 Ebd., S. 11. 91 Ebd.

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anders gegenwärtig«92 werden. Die Aufführung bzw. die Erfahrung der Aufführung kann demnach nicht als stillgestellt betrachtet werden. Die veränderte Sichtweise des Aufführungsbegriffs hat Auswirkungen auf den Status der geschriebenen, aufführungsanalytischen Texte. Sie können gleichsam nicht als abgeschlossen oder stabil gedacht werden. Um diese Sichtweise zu begründen, differenziert Bormann zwei Blickrichtungen auf das Schreiben über Aufführungen. Die eine Perspektive gehe davon aus, dass der flüchtige und sich entziehende Charakter der Aufführung »im Prozess des Schreibens einholbar, also begrenzbar bzw. fest- und stillstellbar«93 sei. Dieser Vorstellung entspräche, dass »die Bedeutung [...] bereits existiert und durch die Strategien der Analyse nur verstärkt [Herv. i.O.]«94 werden müssten. Augenscheinlich ist, dass diese Annahmen der ekphrasischen Vorstellung widersprechen. Insbesondere mit der radikal konstruktivistischen Perspektive der Ekphrasis wird davon ausgegangen, dass das Schreiben überhaupt erst den Gegenstand hervorbringt und nicht einfach die im und am Gegenstand scheinbar sichtbaren Bedeutungen abbildet. Kein Wunder also, dass sich Bormann gegen diese Sichtweise auf die Theorie und Praxis des Schreibens wendet und ihr eine andere gegenüberstellt. In Rekurs auf Phelans Konzept des Performative Writing geht Bormann von einer grundlegenden Dynamik des Schreibens aus, das nie stillstellen könne, sondern vielmehr die Aufführung und die Erinnerung an sie in Bewegung halte. Die zweite Perspektive stelle das »dynamische, transformative Potential des Schreibens ins Zentrum«95. Grundlegend sei die eng mit der Ekphrasis verbundene Annahme, jeder Schreibprozess gehe mit einer Veränderung und damit auch einer Verzerrung einher. Schreiben sei eben als keine Stillstellung des Sinns oder als eine Festschreibung des entziehenden Charakters der Aufführung zu betrachten, sondern vielmehr als eine »Fort-Schreibung des Entzugs« und »kontinuierliche Fort-Bewegung des Sinns«96. Vielmehr würden die Dimensionen

92 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 133. 93 H.-F. Bormann: »Bewegung der Aufzeichnung«, S. 33. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd.

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des Sinns und des Entzugs der Aufführung im Prozess des Schreibens »in ihrer wesentlichen Bewegtheit [Herv. i.O.]«97 sichtbar. Folglich muss der aufführungsanalytische Text als eine bewegliche Momentaufnahme eines vergangenen und nicht stillzustellenden Geschehens betrachtet werden, in dem immer die Möglichkeit des Weiterschreibens, Umschreibens, Neuschreibens und Andersschreibens mitschwingt. Die Wirkung der Abgeschlossenheit eines Textes ist als Schein zu entlarven. Nur scheinbar entsteht ein abgeschlossenes Textgebilde, dem die Phasen des beweglichen und flüchtigen Schreibens, die Arbeitsphasen des Überschreibens, Umschreibens und Weiterschreibens vielleicht nicht anzusehen sind. Keinesfalls kann der entstandene Text als ein fertiges Produkt angesehen werden; er hat zwar den Status eines Produzierten, Hervorgebrachten und Inszenierten, aber niemals eines Fertigen. Der Prozess des Gestaltens, Schöpfens und Inszenierens kann niemals als abgeschlossen betrachtet werden. Immer besteht die Möglichkeit, dass Schreibende und auch Lesende den Text verändern können – durch das dynamische Weiterwirken der Aufführung und dem damit einhergehenden Neu- und Anderserinnern, dem Neu- und Anderserfahren. Für die Theorie und Praxis der Aufführungsanalyse stellt sich nun die Frage, ob dieser bewegte Status des Textes in die analytischen Schriften aufgenommen werden muss. Durchaus wären Schreibweisen denkbar, die die Prozesshaftigkeit des Schreibens und den damit einhergehenden dynamischen Status des Textes ausstellen. Eine Möglichkeit könnte die Gegenüberstellung verschiedener Varianten des Schreibens sein. Jede bezöge sich auf ein und denselben Aufführungsmoment, jedoch könnte jede Variante neue und andere Aspekte beleuchten oder eine jeweils andere Sprachlichkeit verwenden. Zudem könnten verschiedene Stadien des Prozesses des Überarbeitens und Umschreibens sichtbar gemacht werden, um auf diesem Weg die Prozesshaftigkeit des Erinnerns und auch des Schreibens selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Demnach wäre nicht nur eine Textfassung vorhanden, sondern mehrere, die in ihrer Differenz nicht nur die Bewegung des Schreibens hervorheben, sondern auch die des Lesens. Der Schein der Endgültigkeit eines Textes wäre durchbrochen und gleichzeitig auch die Bewegung der Erinnerung und das Fort- und Nach-

97 Ebd.

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wirken der Aufführung thematisiert. Nebenbei wäre der Inszenierungscharakter des Schreibens bzw. der Status des Textes als einem Inszenierten thematisiert, werden doch die Prozesse des Gestaltens ausgestellt. Jedoch sind diese Schreibweisen nur von theoretischem Belang und haben einen nur theoretisch-methodischen Stellenwert, betreffen sie doch primär den Text; die Aufführung bliebe eher im Hintergrund zurück. Daher ist der Mehrwert dieser Schreibweisen für die Erörterung einer Aufführung fraglich. In der hier vorliegenden Arbeit reicht es folglich aus, nur auf die Unabgeschlossenheit und Bewegtheit des entstehenden Textes hinzuweisen, sie aber nicht zusätzlich auch in der Praxis des Schreibens primär zu behandeln. Das Augenmerk liegt auf der Aufführung, deren spezifische Sinnlichkeit im entstehenden Text sichtbar werden soll. Im Gegensatz dazu ist es sinnvoll, die Bewegtheit der Erinnerung und Erfahrung in der Praxis des Schreibens aufscheinen zu lassen. Rückt man also nicht den Text an sich, sondern die Begriffe der Erinnerung und Erfahrung in den Mittelpunkt des Interesses, setzen Schreibende an der je spezifischen Sinnlichkeit des vergangenen Aufführungsmoments an. Was wird erinnert und warum? Wie gestaltet sich das Erinnern nach dem Heraustreten aus der Aufführungssituation? Welche neuen und anderen Erfahrungen werden gemacht? Was sagt das Erinnerte über die Aufführung aus? Diese Fragen bilden den Dreh- und Angelpunkt erinnernden Schreibens. Über ihre Thematisierung können Schreibende etwas über Aufführungsmomente in Erfahrung bringen. Findet man Schreibweisen, die die Beweglichkeit des Erinnerns und Erfahrens im und nach dem Aufführungsmoment thematisierten, ist damit auch indirekt der bewegte und performative Status des Textes angedeutet, ohne die Sinnlichkeit der Aufführung aus dem Blick zu verlieren. Bisher hat es den Eindruck, als würde das nahe Beschreiben lediglich auf den Moment der Erfahrung abheben können. Es wurde bisher als eine Schreibrichtung entwickelt, die lediglich die Strategie des imaginativen Hineinversetzens anwendet, um Nähe zu erzeugen. Es ist notwendig, diese bisher an der Erfahrung orientierte Schreibweise um den Aspekt der Erinnerung zu erweitern. Es müssen Schreibweisen gefunden werden, die die eng miteinander verschränkten Prozesse des Erinnerns und Erfahrens sichtbar werden lassen. Welche Schreibweisen wären hierfür denkbar?

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Erörtert man diese Frage, wird deutlich, dass mit der Thematisierung des Prozessualen des Erfahrens und Erinnerns die Möglichkeit des Aufeinanderprallens verschiedener Zeitebenen in einem Beschreibungstext besteht. Schneiders Grundgedanke des Überlappens der Zeiten in Reenactments scheint gleichfalls für die Praxis des erinnernden Beschreibens zu gelten: Hier wie dort kommt es zu einer Verflechtung von »then and now«98. Eben diese Verflechtung soll hier hinsichtlich möglicher Schreibweisen erörtert werden. Erinnern an die Aufführung beginnt nicht erst beim Heraustreten aus der Aufführungssituation, sondern schon in der Aufführung selbst. Es ist integraler Bestandteil der bisher in der Literatur eher unter der momenthaften Perspektive beleuchteten Aufführung. Das Erleben von Aufführungen ist auch immer an ein Erinnern gebunden. Im Prozess des momenthaften Erlebens treten immer auch Erinnerungen an schon zuvor wahrgenommene Aspekte auf, die wiederum den aktuellen Vollzug des Erlebens verändern, ergänzen oder konterkarieren können. Dieses Erinnern schafft wiederum einen neuen und anderen Erfahrungshorizont, der sich über das Weitergehen der Aufführung legen kann. Unterschiedliche zeitliche Ebenen verflechten sich, legen sich übereinander, sodass von einer Simultaneität von Erinnerung als Neu- und Anderserfahren und aktuell sich vollziehendem Erfahren ausgegangen werden muss. Während die Aufführung weitergeht, verknüpft man vielleicht blitzschnell ein schon zuvor Erfahrenes, das gegenwärtig wieder neu und anders in die Erinnerung tritt und das Gegebene verändert. Gerade auf derartige Bewegungen des Erinnerns im Spannungsfeld von Gegenwart und Erinnerung muss eine beschreibende Sprache achten, die nicht von einer stabilen Erinnerung ausgeht, sondern Erinnern und Erfahren dynamisch denkt. Die Beschreibung muss diese Grundsituation in ihre Schreibweise aufnehmen oder sie zumindest andeuten. Eine Beschreibung, die sich um die Perspektive des Danachs erweitern möchte, muss mit Möglichkeiten spielen, wie die Überlappung verschiedener zeitlicher Ebenen sichtbar gemacht werden könnte. Hierfür wäre ein changierendes, erinnerndes Beschreiben zwischen sich vollziehender Gegenwart und gegenwärtig erinnerten Erfahrungsschichten denkbar, das als ›mehrzeitliches Beschreiben‹ bezeichnet wird. Die erinnernde Sprache wechselt zwischen der Beschreibung des gerade Erfahrba-

98 R. Schneider: Performing Remains, S. 19.

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ren und verschiedenen Erinnerungsschichten, sodass sich Erfahrung und Erinnerung mehrfach überlagern kann und auch Wechselwirkungen mitgeschrieben werden können. Durchaus könnte dies noch durch die Verwendung verschiedener Tempi – Gegenwart und Vergangenheitsformen – markiert werden, wobei bestimmt auch andere Möglichkeiten denkbar wären, um das Springen zwischen Erfahrung und verschiedenen Erinnerungsspuren deutlich zu machen – wie beispielsweise klar gesetzte Rückblenden. Diese sprachliche Strategie akzentuiert, dass man sich erinnert, während die Aufführung weitergeht. Gleichzeitig zeigt sich, dass manches erst im Nachhinein realisiert wird, indem man erinnernd darüber nachdenkt. Hierbei besteht die Möglichkeit, in der Beschreibung Erinnertes mit Gegenwärtigem in direkten Bezug zu setzen. Um das Erinnern auch im nahen Beschreiben aufscheinen zu lassen, könnte bewusst das Beschreiben nicht mit dem Beginn der Aufführung einsetzen, sondern auch an einem besonders nachhängenden Moment ansetzen, wie es Roselt mit dem markanten Moment andeutet. Ausgehend von der Beschreibung dieses Moments könnten Erinnerungen in einem achronologisch springenden Schreiben mit dem Moment verknüpft werden. Auf diese Weise würden Erinnerungen, die den nachhängenden Moment mitprägen, mitgeschrieben werden. Mehrere Zeitebenen stünden im Sinne des mehrzeitlichen Beschreibens nebeneinander. Eine weitere Möglichkeit, das Erinnern zu betonen, aber gleichfalls eine Nähe zu erzeugen, stellt das ›Weiterschreiben‹ dar: Die Beschreibung endet nicht mit dem Heraustreten aus der Aufführungssituation; vielmehr gilt es weiterzuschreiben, um auf diese Weise das Nachdenken und das Nachwirken zu thematisieren. Erste dominante Erinnerungen an die Situation werden in die Beschreibung aufgenommen und es findet ein rückwärtsgewandtes Nachschreiben erinnerter Spuren statt. Das Erinnern und die Nachträglichkeit des Schreibens zu thematisieren, muss demzufolge nicht automatisch wie beim analytischen Beschreiben zu einer zunehmenden Distanzierung zum Geschehen führen. Ganz im Gegenteil kann es auch im Sinne des Schreibens in Nähe zu einer Vergegenwärtigung und Verlebendigung führen, wie es die beiden entwickelten Schreibweisen des mehrzeitlichen Beschreibens und Weiterschreibens zeigen. Es wird deutlich, dass das nahe Beschreiben mehrere Schreibweisen zulässt, in denen auf je verschiedene Art und Weise Erfahrungen und Erinnerungen in

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Bezug zueinander gesetzt werden können. Keinesfalls bezieht es sich nur auf momenthafte Erfahrungen.

3. U NBEGREIFBARES

SCHREIBEN

Nachdem Möglichkeiten des Schreibens über Aufführungen thematisiert wurden, werden nun diese Gedanken auf das Unbegreifbare bezogen. Wie gestaltet sich das nahe Beschreiben im Fall des Unbegreifbaren? Bevor Schreibweisen erörtert werden, müssen die zugrunde liegenden Annahmen dargelegt werden, auf denen die Möglichkeiten des Versprachlichens des Unbegreifbaren aufbauen. Das Paradox des Versprachlichens von Unbegreifbarem sowie die besondere Notwendigkeit des Inszenierens im Schreiben werden herausgestellt. Darauf folgt die Entwicklung von Schreibweisen, die zunächst auf das imaginative Hineinversetzen abheben, in einem nächsten Schritt aber auch auf die erweiterte Perspektive des Danachs eingehen. Paradox des Versprachlichens von Unbegreifbarem Zunächst muss von einer paradoxen Beziehung des Unbegreifbaren zum Versprachlichen ausgegangen werden; einerseits führt es zu dem nachträglichen Drang des Versprachlichenmüssens; andererseits bäumt es sich regelrecht gegen das Versprachlichen auf. Zum einen fordert das Unbegreifbare zu einem nachträglichen, beschreibenden Wieder-und-Wieder-Hineinversetzenmüssens auf. Denn während des momentanen Erfahrens scheint es keine sprachlichen Bezugnahmen zu geben, die es fassen könnten. Überhaupt erst im Danach, durch das sich aufdrängende Nachspürenmüssen, wird das Unbegreifbare als Unbegreifbares manifest. Erst nach dem Heraustreten aus dem Moment besteht überhaupt die Möglichkeit, zumindest ansatzweise zu realisieren, was als Unbegreifbares begegnete. Die Praxis des Beschreibens bekommt hierbei eine grundlegende und notwendige Rolle zugesprochen. Sie bewegt sich in die rätselhafte und nicht zu erfassende Spur, spürt ihr nach und versucht dem nicht zu stellenden Unbegreifbaren im Modus der Nachträglichkeit näher zu kommen. Erinnerndes Beschreiben ist ein naheliegender und notwendiger Schritt, um das Unbegreifbare überhaupt ansatzweise berühren, es

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in Versprachlichungsversuchen nachvollziehen, es analysieren zu können. Nur über den Versuch des nahen Beschreibens, so die These, kann das Unbegreifbare der Analyse zugänglich gemacht werden. Zum anderen stellt sich jedoch die Beziehung des Unbegreifbaren zum Versprachlichen als grundlegend problematisch dar. Denn das nachträgliche Versprachlichen stößt auf Widerstände. Keinesfalls lässt sich der vergangene Moment einfach ›abschreiben‹ und problemlos in Worte kleiden. Vielmehr sieht sich das Schreiben trotz des sich aufdrängenden Versprachlichenmüssens mit deutlichen Hindernissen konfrontiert. Keine Formulierungen scheinen dem unbegreifbaren Phänomen entsprechen zu wollen. Es bleibt auch im Nachhinein ein sprachlich Nicht-zu-Erfassendes. Die Paradoxie führt zu einem Konflikt, der sich zwischen dem Drang des Schreibenmüssens und der Unmöglichkeit problemlosen Schreibenkönnens aufspannt. Die von Bormann und Schneider formulierten Gedanken des Bleibens und beweglichen Weiterwirkens von Aufführungen rücken in die Mitte der Paradoxie des Versprachlichens. Die Annahme, Aufführungen nicht als Verlust, sondern als ein Fortdauern zu denken, wird beim Unbegreifbaren besonders offensichtlich. Weil es einen rätselhaften Charakter besitzt, taucht es im Danach in Gedanken wieder und wieder auf. Versprachlichungsversuche bewegen sich in die nicht zu erfassenden Spuren. Unbeantwortete Fragen werden aufgeworfen, denen nachgegangen werden muss. Der von Bormann formulierte Gedanke der unaufhörlichen Bewegtheit und Veränderbarkeit der Aufführung auch über ihren ko-präsenten Vollzug hinaus spielt beim Unbegreifbaren eine zentrale Rolle. Nicht nur im momentanen Vollzug weist das Unbegreifbare eine Bewegtheit auf, die ein Erfassen der Situation unmöglich erscheinen lässt, sondern auch im Danach verändert es sich weiter. Gerade durch seinen einschneidenden und eindrücklichen Charakter ist der Moment des Unbegreifbaren auch nach dem leiblichen Heraustreten aus dem ko-präsenten Vollzug in einer intensiven Bewegtheit. Der Moment der leiblichen Konfrontation ist zwar vorbei, jedoch die Möglichkeit des wieder und wieder gedanklich-erinnernden Gewahrwerdens des Moments kann ihn immer neu und anders erscheinen lassen. Das Versprachlichen bewegt sich in eben jene bewegliche Position. Wie könnte ein sich derart radikal Bewegliches zur Sprache gebracht werden?

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Das Zusammentreffen konfligierender Kräfte scheint in den Versprachlichungsversuchen sichtbar werden zu müssen. Schreibweisen müssen probiert werden, die den Drang des Schreibens, aber auch die sich aufbauenden Widerstände aufnehmen, das hartnäckige Bleiben und bewegte Weiterwirken der Performance thematisieren, gleichfalls aber auch die radikale Bewegtheit als Bewegtheit im Text aufscheinen lassen. Die Grundzüge einer anderen Sprachlichkeit zeichnen sich hier ab. Schreibweisen sollen in diesem Abschnitt erörtert werden, die dem Unbegreifbaren zumindest ansatzweise nahe kommen. Sie werden wegen des sich abhebenden Charakters des Unbegreifbaren als ›andere Sprache‹ bezeichnet, die von Mersch, Waldenfels und auch Wortelkamp im Kontext des Unbegreifbaren gefordert wird. Es ist eine Suche nach einer Sprache der Sprachlosigkeit, die berührt, was im jeweiligen Moment nicht in Worte zu fassen war. Performancebeschreibung Die schon formulierte Forderung, die Theaterwissenschaft müsse sich stärker der Aufführungsbeschreibung zuwenden, wird in besonderem Maße augenscheinlich: Erinnerndes Beschreiben ist die Bedingung der Möglichkeit, sich Unbegreifbarem überhaupt theaterwissenschaftlich annähern zu können. Die Aufführungsbeschreibung bzw. die hier ›Performancebeschreibung‹ zu nennende Schreibpraxis ist für die theaterwissenschaftliche Beschäftigung von grundsätzlicher Notwendigkeit. Denn die beim Beschreiben ablaufenden Prozesse, nämlich die Schwierigkeit unbegreifbare Geschehnisse in Worte zu fassen, dürfen nicht vernachlässigt werden, sondern müssen in die wissenschaftliche Praxis Eingang finden und machen sogar ihren Grundgedanken aus. Eine Sichtbarkeit erinnernden Beschreibens erweist sich demnach als unabdingbar für die Betrachtung von Unbegreifbarem. Denn nur über den Versuch des nahen Beschreibens kann das Unbegreifbare als Unbegreifbares zur Sprache gebracht und einer Analyse zugänglich gemacht werden. Es hat sich in den vorherigen Abschnitten gezeigt, dass der vorwissenschaftliche Charakter des erinnernden Beschreibens angezweifelt wird. Jedoch bedeutet dies nicht, dass das Erinnerungsprotokoll bei der Analyse jeglicher Gegenstände sichtbar gemacht werden muss. Wenn das erinnernde Verschriftlichen ohne schwerwiegende Hindernisse abläuft, muss es vielleicht nicht einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Wenn

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jedoch das Versprachlichen problematisch wird und die Sprache ins Stocken gerät, wird es notwendig, diese sonst verborgene Praxis erinnernden Beschreibens offen zu thematisieren und sie auch als sichtbaren Bestandteil zu verstehen. Sofern im Erinnerungsprotokoll ein nahes Beschreiben praktiziert wird, ist es demnach grundlegend, das Erinnerungsprotokoll nicht als vorwissenschaftlich, sondern als wesentliche Schreibform im wissenschaftlichen Arbeiten anzusehen. Im Begriff ›Performancebeschreibung‹ kommt die Bedeutung des nahen Beschreibens für die Betrachtung von Performances zum Ausdruck. Das nahe Beschreiben lässt das nicht zu stellende Erfahrene im Prozess des versprachlichenden Erinnerns zu einer neuen und anderen Gegenwart kommen. So kann die vergangene Erfahrung einer Analyse zugänglich gemacht werden, sodass sie »im Schreiben lesbar«99 wird. In Performancebeschreibungen werden demnach die Schwierigkeiten des Zur-SpracheBringens als sichtbarer Bestandteil angesehen und der Schreibweise des nahen Beschreibens eine besondere Gewichtung gegeben. Im Fall des Unbegreifbaren, so die Annahme, ist es unumgänglich, die nahe Beschreibung nicht nur als Instrument der Selbstverständigung der Schreibenden anzusehen, sondern als notwendiges Instrument der Verständigung an sich, geschehen doch gerade dort wesentliche Prozesse, die in den Kern theaterwissenschaftlichen Untersuchens des Unbegreifbaren treffen. Besondere Notwendigkeit des Re-Inszenierens Die Frage des Inszenierens stellt sich beim Unbegreifbaren in besonderer Weise – und zwar auf zwei miteinander verwobenen Ebenen: einerseits das Inszenieren von Nähe zu dem unbegreifbaren Moment, andererseits das sprachliche Re-Inszenieren eines vergangenen, nicht zu stellenden Geschehens. Besonders bei einem Phänomen, das im Moment sprachlos zu machen in der Lage ist und auch im Nachhinein das Versprachlichen vor Hindernisse stellt, wird der im Prozess des Beschreibens stattfindende Vorgang des sprachlichen Re-Inszenierens offensichtlich. Das der Inszenierung Vorausliegende, der Moment des Unbegreifbaren, sperrt sich in einer radikalen

99 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 17. – Vgl. dazu auch ebd., S. 88.

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Weise dem problemlosen beschreibenden Zugriff. Gerade deshalb kann die Beschreibung gar nicht umhin, ihren re-inszenierenden Charakter, ihre massiven, verändernden und hervorbringenden Eingriffe, hervortreten lassen zu müssen. Ihr insbesondere von Boehm, Angehrn, aber auch Hiß betonter rekonstruierender, konstruktiver und formender Charakter wird geradezu ausgestellt. Beschreiben bekommt hier die von Angehrn unterstrichene performative Aufgabe zugesprochen, den erinnernden Moment überhaupt erst hervorzubringen. Insofern kann die Beschreibung des Unbegreifbaren als »Welterzeugung«100 betrachtet werden. Eben in jener schöpferischen Rolle als Akt der Gestaltung interessiert die Beschreibung; und es kann hier erweitert werden, dass sie gerade durch inszenierende Akte überhaupt erst ihre Kraft entwickelt, Unbegreifbares zumindest ansatzweise berührbar zu machen, im Sinne der ekphrasischen energeia den Schein von Lebendigkeit und Anschaulichkeit zu vermitteln. Gerade als ein ReInszeniertes, also als ein Neu- und Anders-zur-Erscheinung-Bringen, ist hier die Beschreibung von besonderem Interesse. Das Unbegreifbare kann derart unbegreifbar erscheinen, dass es vielleicht nur durch radikale sprachliche Setzungen, die auch die Normen wissenschaftlichen Beschreibens überschreiten können, gewalthaft zur Erscheinung gebracht werden kann – und dennoch nur gestalthafte Umrisse annimmt. Nicht selten durchläuft ein Beschreibungstext mehrere Arbeitsschritte; immer wieder muss im Prozess des Schreibens von Neuem begonnen, umgeschrieben, neu geschrieben, anders geschrieben werden. Das schreibende Inszenieren zeigt sich regelrecht als Arbeit. Es kann dazu führen, dass der vielleicht sonst eher verschleierte Vorgang des Inszenierens den Lesenden regelrecht auffällt. Dies kann den Eindruck erwecken, als hätte man es mit einem fiktiven oder sogar künstlerischen Text zu tun, der nur um seiner selbst willen existiert. Es hat zur Folge, dass besonders »die Art und Weise des Schreibens in den Blick«101 rückt und durch die Notwendigkeit des Inszenierens die Schreibenden in ihrer je spezifischen Art und Weise des Schreibens – in ihrer individuellen Schreibweise – zur Schau gestellt werden. Das hier praktizierte Schreiben führt zwangsläufig dazu, die Subjektgebundenheit des Schreibens zu akzentuieren und je eigene Schreibweisen zur Anwendung kommen zu lassen. An dieser Stelle tritt

100 E. Angehrn: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, S. 71. 101 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 246.

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die Nähe zu künstlerischen Formen des Schreibens wieder besonders deutlich hervor. Die Prozesse des Gestaltens, Schöpfens und Vergegenwärtigens bekommen eine Sichtbarkeit, die in wissenschaftlichen Texten eher unüblich ist. Ein derartiges Forschen durch Schreiben bekommt Züge künstlerischen Schreibens. Trotz allem wird es als ein wissenschaftliches Schreiben verstanden, da es nicht um die Produktion eines fiktiven Textes geht, sondern um ein schreibendes Aufsuchen des Gegenstandes, um ihn überhaupt neu und anders vergegenwärtigen und einen Prozess des analytischen Nachgehens und Nachdenkens ermöglichen zu können. Keinesfalls geht es darum, die Schreibenden ins alleinige Zentrum zu rücken. Sie werden lediglich in ihrer Schreibweise sichtbar, die am zu beschreibenden Ereignis ansetzt und nicht der Selbstdarstellung der Schreibenden dient.102 Mit dem Begriff der Schreibweise wird sich hier auch gegen jegliche Formen normativen Schreibens gewendet, die das Signum der Objektivität zu tragen suchen. Mit Roland Barthes betont Wortelkamp, dass die Schreibweise nicht einem operativen Instrument gleiche, sondern die Wörter »werden hinausgeschleudert, wie Projektionen, Explosionen, Vibrationen, Maschinerien, Reize: die Schreibweise macht aus dem Wissen ein Fest«103. Das hier zu entwickelnde Schreiben sucht somit den wissenschaftlichen Praktiken des Fixierens und Etikettierens zu widersprechen und sich im gleichen Atemzug selbst als eine notwendige wissenschaftliche Praxis zu verstehen. Im Begriff der Schreibweise bündelt sich das Eigene, die Prinzipien des Gestaltens und Inszenierens. Keinesfalls sollen die Schreibweisen endgültig, final oder sogar richtig wirken. In ihnen schwingen immer auch Unzulänglichkeiten mit, die Tatsache, das unbegreifbare Phänomen niemals begreifen, es lediglich annähernd berühren zu können. In Rekurs auf Barthes betont Wortelkamp deshalb, dass in der Schreibweise sowohl ihre Energie als auch ihre Mängel sichtbar werden, da sie sich jenseits einer »kodifizierten und systematisierenden Sprache«104 bewege. Neben dem Re-Inszenieren eines Erinnerten ist insbesondere auch die zweite Ebene der sprachlichen Inszenierung von Relevanz: die Inszenierung von Nähe durch nahes Beschreiben. Diese Facette mündet in die zent-

102 Vgl. dazu ebd., S. 249. 103 Barthes, Roland: Leçon/Lektion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 31. – Vgl. dazu I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 247. 104 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 247.

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rale Frage, durch welche Schreibweisen das Unbegreifbare anschaulich gemacht werden könnte. Stockendes Schreiben in Bewegung Obwohl Wortelkamp ihre Überlegungen zu einem ›anderen‹ Schreiben primär anhand der generellen Flüchtigkeit des Theaters anstellt, können ihre Erörterungen trotz allem als Ausgangspunkt dienen und auf das von ihr nur angedeutete Unbegreifbare übertragen werden.105 Übergreifendes Ziel ist es, »eine Sprache zu finden, die das Un(be)greifbare bewahrt«106. Hierfür bedarf es neuer und anderer Schreibweisen, die in den folgenden Abschnitten entwickelt und diskutiert werden. Es sei von immenser Bedeutung, der Tendenz des Festschreibens im Schreiben entgegenzuwirken. Es dürfe keine Sprache sein, die versucht, das Phänomen nachträglich auf den Begriff zu bringen. Eben deshalb sei die theatersemiotische Schreibweise nicht ausreichend. Bezug nehmend auf Lehmann unterstreicht Wortelkamp, dass die semiotische Aufführungsanalyse den »Kern des Bedeutens«107 herausarbeiten wolle. Der fixierende Duktus der Schrift werde regelrecht hervorgehoben und entspreche nicht dem flüchtigen, beweglichen und sich entziehenden Phänomen der Aufführung. Eben deshalb müssten Schreibweisen gefunden werden, die sich jenseits der »Festschreibung von Bedeutung«108 ansiedelten. Demnach sieht sich das andere Schreiben geradezu aufgefordert, zu gestalten, den inszenatorischen Grundgestus hervorzuheben; Schreibweisen müssen folglich erarbeitet werden, die versuchen, die Bewegung der Aufführung aufzugreifen und nicht stillzustellen. Gerade auch im Kontext von Performances und eben dem abweichenden Phänomen des Unbegreifbaren, das mit einer radikalen Bewegtheit des momentanen und nachwirkenden Erfahrens verbunden ist, drängt sich diese Aufforderung regelrecht auf. Die Theaterwissenschaft, so Wortelkamp, bleibe »dennoch in ihren eigenen Strategien zur Fixierung und Objektivierung ihres transitorischen

105 Vgl. dazu ebd., S. 215. 106 Ebd., S. 39. 107 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 140. 108 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 16.

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Phänomens verhaftet«109, was insbesondere bei der Theatersemiotik sichtbar werde. Die ›andere‹ Sprache müsse ganz im Gegensatz zur Semiotik durch die Integration der sinnlichen Erfahrung auch Momente des Nichtverstehens, des Stockens und der Unsicherheit thematisieren. Die phänomenologische Aufführungsanalyse rücke im Gegensatz zur semiotischen die Ereignishaftigkeit der Aufführung sowie auch die Dimensionen der Wirkung in den Mittelpunkt. Sie erweitere die Betrachtungsweise vom semiotischen ›Was‹ auf das phänomenologische ›Wie‹. Es gehe nicht primär darum, mögliche Zeichenfunktionen der Geschehnisse zu fokussieren, sondern das ›Wie‹ des Vollzugs hinsichtlich seiner Auswirkungen zu befragen. Durch den Wechsel der Blickrichtung greife die Phänomenologie die spezifische Sinnlichkeit einer Aufführung auf, indem sie von der Flüchtigkeit der Aufführung ausgeht und auf diese Weise gerade auch »das Einmalige, Unwiederholbare und Unvorhersehbare«110 ins Zentrum rückt, das sich während der Aufführung zwischen den Darstellern und Zuschauern ereignet. Mit dem phänomenologischen Ansatz rücken die für das Unbegreifbare zentralen affektiven und kognitiven Reaktionen in den Mittelpunkt. Die intensiven Gefühle der Attraktion und Repulsion, Gefühle der Überraschung sowie assoziative und imaginative Denkbilder können individuell betrachtet werden. Wichtig ist hierbei jedoch, die momentorientierte Methodik der Phänomenologie auch auf das Nachwirken auszuweiten, denn auch und gerade im Modus des Danachs finden affektive und kognitive Reaktionen statt, die das Unbegreifbare ausmachen und phänomenologisch betrachtet werden können. Mit der phänomenologischen Aufführungsanalyse rückt ein Vollzug als Vollzug ins Zentrum. Boehm schwebt eine an phänomenologischen Überlegungen angelehnte Ekphrasis vor, die nicht feststelle, sondern »die dem Bild eigentümliche Form des Vollzugs«111 thematisiere. Die vollzugsorientierte Schreibweise müsse gerade auch angesichts abstrakter Bildphänomene akzentuiert werden – eine bildtheoretische Überlegung, die durchaus auf die hier im Zentrum stehenden Praktiken im Theater, in der Kunst und Kultur übertragbar ist. Wahrnehmende seien mit einer »Fremdheit«, einem

109 Ebd., S. 85. 110 Ebd., S. 129. 111 G. Boehm: »Bildbeschreibung«, S. 30.

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»Verlust an Wiedererkennbarkeit« konfrontiert und würden in eine »sprachfern[e]«112 Position gerückt. Durch die Vermeidung von Wiedererkennbarem finde geradezu eine »Distanzierung des Wortes vom Bild«113 statt, wie es Boehm anhand der Kunst Beckmanns verdeutlicht. Jedoch folge daraus nicht, die Bilder seien völlig unbeschreibbar. Vielmehr favorisierten sie eine andere Sprache, die sich ihrer Grenzen und der Unmöglichkeit, ein stabiles sprachliches Äquivalent zu schaffen, sehr viel bewusster sei. Kein Wunder, dass Boehm »einen anderen Typ sprachlicher Zuwendung«114 fordert, der auf den Vollzugscharakter eingeht, Festschreibungen vermeidet und eben die Sprachferne problematisierend aufnimmt. Wortelkamp tendiert in ihrer Untersuchung der Aufführungsanalyse in eine ähnliche, von Boehm nur angedeutete Richtung. Ihr geht es gleichfalls um eine andere und eigensinnige Sprachlichkeit, die angesichts gegenwärtiger Theater- und Kunstpraktiken notwendig erscheine. Jedoch seien Möglichkeiten einer anderen sprachlichen Zuwendung noch kaum erörtert worden. Mit der phänomenologischen Aufführungsanalyse könne zwar die Flüchtigkeit und die spezifische Sinnlichkeit der Aufführung thematisiert werden, so Wortelkamp, jedoch bleibe aber die Frage nach möglichen Schreibweisen in der Theaterwissenschaft weitestgehend ausgeschlossen. »Das Augenmerk auf das ›Wie‹ der Aufführung zu lenken, bedeutet hier weniger, auch das ›Wie‹ einer möglichen Aufzeichnung zu betrachten.«115 Eine »eigensinnige Beschreibung«116 müsse entwickelt werden, die diesem Defizit Rechnung trage. Überträgt man diese Forderung auf eine Verschriftlichung des Unbegreifbaren, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten. Grundlegend ist jedoch, den problematischen Charakter des Erfahrens aufscheinen zu lassen – die Lücken, die Momente des Unverständnisses, der Losigkeit der Gedanken. Zunächst wird eine ›stockende‹ und ›stammelnde‹ Schreibweise entworfen, die an eben jenem Problematischwerden des Erfahrens ansetzt. Denkbar wären Sätze, die abrupt abbrechen, sich revidieren, neu ansetzen,

112 Ebd., S. 27. 113 Ebd., S. 28. 114 Ebd., S. 27. 115 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 129. 116 Ebd.

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weiterschreiben, ohne wirklich das Geschehen abschließend zu fassen. Zudem könnte der stockende Charakter durch den Einsatz von Gedankenstrichen verstärkt werden. Damit wäre die unsichere und stockende Position des Wahrnehmenden hervorgehoben. Die Gedankenstriche könnten als Zögern und Stocken verstanden werden oder auch als Leerstellen, die nicht mit Begriffen zu füllen sind. Es wird sichtbar, dass auch noch im Danach des Beschreibens die Sprache an ihre Grenzen stößt. Um die stockende und sprunghafte Erfahrungshaltung sprachlich wiederzugeben, wäre auch ein Springen zwischen verschiedenen, heterogenen Beobachtungen denkbar, die neben Gedankenstrichen auch mit Kommata voneinander getrennt werden: kurze Beobachtungsketten, fragmentarisch anmutende Textpassagen, assoziative und heterogene Passagen, die durch Kommata getrennt, isoliert und zerfurcht werden. Durchaus wären auch Aneinanderreihungen und Häufungen von Adjektiven, Verben und Substantiven möglich, die sich auch widersprechen können. Diese sprachliche Strategie zeigt folglich, dass es sich als schwierig und unmöglich erweist, nur eine passende Bezeichnung zu finden. Weiterhin könnte auch das Stocken sowie die Konfrontation mit Leerstellen durch ein sofortiges Rutschen in die nächste Schriftzeile verdeutlicht werden. Ein Gedanke ist beendet oder bricht ab und der nächste wird nicht direkt anschließend formuliert, sondern deutlich durch den Sprung in die darunter liegende Zeile markiert. Schon im Schriftbild ist es demzufolge möglich, zwischen harmonisch sich zusammenfügenden Gedanken und eben dem Stocken und Stammeln zu trennen. Die stockende und stammelnde Schreibweise könnte jedoch die Gefahr in sich bergen, dass das Lesen gleichfalls ins Stocken gerät und Lesende nicht eine Nähe, sondern eine Distanz zum Gegenstand der Beschreibung entwickeln. Dieses Problem stellt sich in dieser Arbeit als durchaus erwünscht dar. Denn gerade Brüche, Lücken und Rätselhaftigkeiten rücken in den Kern des Unbegreifbaren und müssen folglich in den Beschreibungstext Eingang finden. Dem scheinbaren Optimum eines flüssigen Lesens muss hier nicht gerecht werden, wobei auch nicht ausgeschlossen wird, dass durch das formal und sprachlich angedeutete Stocken und Stammeln auch die Möglichkeit besteht, das Lesen in einen rasanten und sprunghaften Lesefluss zu steigern. Die Schreibweisen des Stockens und Stammelns erweisen sich für die Betrachtung von Unbegreifbarem als grundlegend. Sie machen Lücken,

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Probleme des Begreifens, sichtbar und vermögen die Lesenden in eine Unsicherheit zu stürzen, die sich gerade für die hier im Zentrum stehende Erfahrungswelt unabbdingbar zeigt. Widerstände dürfen folglich nicht überschrieben und damit geglättet werden, sondern müssen im gestaltenden Prozess des Schreibens noch einen besonderen Akzent verliehen bekommen. In diesem Ansatz des Schreibens sind die Probleme des Versprachlichens sowie die vorherrschende Sprachlosigkeit angedeutet. Neben dem stockenden Schreiben muss insbesondere auch die intensive Bewegtheit des Geschehens sprachlich erzeugt werden – durch ein ›bewegtes‹ und ›bewegendes‹ Beschreiben. Hierbei soll in Beschreibungen nicht eine Bedeutung vorbereitet und schlussendlich aufgefunden werden; oder umgekehrt eine zentrale Bedeutung gesetzt und anschließend beschreibend erklärt werden. Vielmehr geht es in dieser Möglichkeit des Beschreibens darum, von Bestimmungen und Festlegungen immer auch absehen zu können, am zu beschreibenden Gegenstand immer auch wieder Neues und Anderes zu beschreiben versuchen, das in eine unerwartet-andere Richtung tendieren kann. Vergleichbar ist das bewegte und bewegende Versprachlichen mit Seels Schreibweise, die er angesichts ästhetischer Phänomene praktiziert. Er schlägt vor, in einer »Verschränkung von Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit«117 zu schreiben. Hierbei gehe es zunächst darum, nach begrifflichen Bestimmungen zu suchen, die eine Greifbarkeit des Gegenstandes suggerieren, nur aber um im nächsten und entscheidenden Schritt von dieser Bestimmung wieder abzusehen, sie zu hinterfragen, neue und andere Möglichkeiten zu berücksichtigen, um auf diese Weise »von der Fixierung [Herv. i.O.] auf dieses Bestimmen auch absehen«118 zu können. Es sei von grundlegender Notwendigkeit, »aspekthaft« und eben nicht »aspektverhaftet [Herv. i.O.]«119 zu versprachlichen. Nie dürfe das Geschehen auf ausschließlich einen Begriff, eine Bedeutung, eine Möglichkeit festgelegt werden. In Anschluss an das aspekthafte Schreiben Seels wäre für das bewegte und bewegende Beschreiben denkbar, im Text formulierte gedankliche Festschreibungen wieder zu revidieren, zu erweitern oder zu verändern.

117 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 95. 118 Ebd., S. 51f. 119 Ebd., S. 54.

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Gleichfalls wäre es möglich, zwischen unterschiedlichen, sich auch widersprechenden Beobachtungen zu wechseln, die aber beide Berechtigung haben, im Beschreibungstext aufzutauchen. Ein Versprachlichen im Wechselspiel von Bestimmen und dem Auflösen des Bestimmens birgt die Möglichkeit, die Bewegtheit im Erfahren des Moments und auch im fortlaufenden Prozess des Nachwirkens zu thematisieren. Gerade hinsichtlich des Phänomens des Unbegreifbaren drängt sich diese Schreibweise auf. Sprachliche Setzungen werden gelockert; einem Aspekt wird ein Gegenaspekt entgegengeschleudert, einer These eine Gegenthese; ein schlüssig wirkender Gedankengang wird mit Gegenteiligem konfrontiert, eine offensichtlich anmutende Beobachtung mit neuen Ansichten hinterfragt. Der Grad der Festschreibung ist gering und kommt deshalb dem momentanen und weiterwirkenden Erfahren des Unbegreifbaren nahe. Ebenfalls greift die Schreibweise des bewegten und bewegenden Beschreibens die Sprachlosigkeit auf, zeigt sie doch immer auch die Zäsur, das Durchstreichen, das Revidieren, das Hinterfragen und somit die Unzulänglichkeit des sprachlichen Erfassens auf. Aber auch umgekehrt artikuliert sich darin der Drang des Versprachlichenmüssens. Die Notwendigkeit weiterzuschreiben schlägt sich nieder – die Notwendigkeit, immer wieder neu anzusetzen und anderes zu akzentuieren, wie auch die Unmöglichkeit, sich auf dem schon Geschriebenen auszuruhen; immer wieder muss es hinterfragt, immer wieder von neuem begonnen werden. Weiterhin ermöglicht der abrupte Wechsel von der Bestimmbarkeit zur Unbestimmbarkeit, die einschneidende Zäsur zu markieren, die entsteht, wenn plötzlich das Phänomen des Unbegreifbaren einbricht und den Horizont des Erwartbaren durchschneidet. Ist es der beschreibenden Sprache zunächst möglich, das Geschehen zielgerichtet bestimmen zu können, wird dies nach diesem Bruch unmöglich; das Schreiben wechselt in ein aspekthaftes Springen, ohne Festlegungen finden zu können. Dieser Schreibweise könnte kritisch entgegengehalten werden, dass es doch ausreichen würde, nur die Ergebnisse des bewegten Beschreibens der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Warum muss das prozesshafte Finden gezeigt werden? Dem kann geantwortet werden, dass es eben nicht eine Liste an Ergebnissen und fertig gedachten Beschreibungen gibt, sondern dass es gerade die Bewegung ist, die interessiert, die den Kern des Unbegreifbaren trifft. Eine Sichtbarkeit dieser Bewegung ist von

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grundlegender Notwendigkeit für den in dieser Arbeit zu entwickelnden Ansatz der Betrachtung von Unbegreifbarem. Suchende Schreibweise Beim Phänomen des Unbegreifbaren stellt sich die Frage nach der gestaltenden Bewegung des Wahrnehmens, Denkens und Nachdenkens in besonderem Maße. Sie äußert sich insbesonders in der Bewegung des Suchens, in die sich Erfahrende und Schreibende begeben. Ein Auffinden von Gewissheiten wird problematisch und man wird regelrecht aufgefordert, eigene ›ungewisse Gewissheiten‹ temporär-flüchtig hervorzubringen. Eine ›suchende‹ Schreibweise bietet die Möglichkeit, in einem tastenden Prozess scheinbare Gewissheiten aufzubauen, wieder im suchenden Weiterschreiben zu hinterfragen und sich gestaltend und zerbrechend weiterzubewegen. Eine Thematisierung des Suchprozesses, wie es Wortelkamp vorschlägt, bringt die Möglichkeit mit sich, »[n]icht de[n] aufzufindende[n] Gegenstand« in den Vordergrund zu rücken, sondern eben die »Geste des Suchens«120. Suchen verweise auf eine Bewegung und wirke als Suchbewegung dem Festschreiben entgegen. Die Geste des Suchens wäre mit Vilém Flusser als eine »tastende Geste«121 zu bezeichnen. Jedoch dürfe dieses Suchen nicht schon ein festes Ziel vor Augen haben, das das »Sichtfeld zu begrenzen droht«122, sondern müsse immer den Blick offen halten, sodass sich das Finden eher als eine zufällige Geste darstellt. Suchen betone zwar die Bewegung, berge jedoch aber auch die Gefahr in sich, auf einen Aspekt fixiert zu sein. Eben in diese Fixiertheit dürfe die Schreibweise nicht verfallen, sondern müsse offen bleiben. Paradox gesprochen wäre es ein Suchen, ohne zu wissen, was Ziel der Suche ist. Die suchend Schreibenden wären in einer »gesteigerten Aufmerksamkeit, jederzeit bereit anzuhalten oder weiterzugehen, nichtwissend, wann [sie] was finde[n]«123. Auf diese Weise wird »die Bewegung des Schreibens als Be-

120 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 236 und 235. 121 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/Bensheim: Bollmann 1991, S. 254. 122 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 236. 123 Ebd.

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wegung sichtbar« und nimmt den Charakter eines »fließende[n]«124 Schreibens an, das mit Seels Gedanken des nicht aspektverhafteten Versprachlichens vergleichbar ist. Immer muss eine Offenheit bestehen, Neues und Anderes zu thematisieren, das ein aspektverhaftetes Schreiben aus den Augen verlieren würde. Problematisch könnte sein, dass ein solcher Text keinem roten Faden folgt und den Eindruck vermitteln mag, ziellos umherzuschweben. Jedoch ist es auch möglich, dass der Gegenstand durch die Bewegung, das fragile Suchen und vorsichtige Abtasten, in einer besonderen Nähe erscheint. Ein Strukturprinzip des suchenden Schreibens ist die ekphrasische Forderung nach Lebendigkeit. Um diese zu erzeugen, könnte es geradezu hilfreich sein, scheinbar nebensächliche Begebenheiten in der streifend, suchenden Bewegung mitzuschreiben, könnten diese doch für eine Erzeugung einer plastischen und lebendigen Atmosphäre ausschlaggebend sein. Darüber hinaus könnten sie sich auch als noch verborgene Facetten einer darauf aufbauenden analytischen Beobachtung erweisen. Diesem Schreibmodus widerspricht die Annahme, an den Anfang eines beschreibenden Textes eine These zu setzen. Denn diese würde den Blick aspektverhaftet einengen. Vielmehr ist der umgekehrte Weg einzuschlagen, der eine ausschließliche Vorrangigkeit des Beschreibens postuliert. Fragile Thesen und analytisch-theoretische Überlegungen sind überhaupt erst aus den Beschreibungen zu schließen. In dieser offenen und ziellosen Suche könnte natürlich der Eindruck entstehen, die im Text formulierten Beobachtungen seien beliebig, unzusammenhängend und strukturlos. Jedoch ist gerade die Suchbewegung wichtig, in der Heterogenes und Widersprüchliches zusammenkommen kann und scheinbar unwichtige Beobachtungen in den Text aufgenommen werden können, um dem Unbegreifbaren überhaupt näher zu kommen. Nur durch die Ausstellung des suchenden Charakters im Beschreiben kann es auch zu stichhaltigen analytischen Überlegungen kommen. Erneut wird deutlich, dass gerade ein Schwerpunkt der Betrachtung des Unbegreifbaren auf der Gegenstandspräsentation liegen muss. Über das suchende Beschreiben kann der Gegenstand in seinem Vollzug schreibend erspürt werden. Die Beschreibung erweist sich folglich im Vergleich zur Ge-

124 Ebd., S. 238.

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genstandserklärung als gleichwertiger, wenn nicht sogar noch als zentralerer Bestandteil der Betrachtung des Unbegreifbaren. Schwebende Schreibweise Wortelkamp spricht sich in Anlehnung an Roland Barthes für eine Schreibweise aus, die nicht versucht, den Sinn zu durchdringen und »in ihn einbrechen zu wollen, sondern ihn zu erschüttern und die Sprache in der Schwebe zu halten«125. Sie deutet eine Schreibweise an, die dazu anregt, selbst Sinne zu bewegen und nicht sofort eindeutig sinnhaft bedeuten zu wollen. Mit dem suchenden und auch stockenden Schreiben wurden diese Stoßrichtungen bezüglich des Phänomens des Unbegreifbaren bereits erörtert. Jedoch verdient der Aspekt des In-der-Schwebe-Haltens eine gesonderte Betrachtung, suggeriert er doch eine Schreibweise, die zwar von den bisherigen ausgeht, diese aber noch übersteigt. Er konfrontiert Lesende mit einem rätselhaft wirkenden Text, der zum Nachdenken und Nachfragen, zu eigenen Imaginationen und Assoziationen, zum gedanklichen Weiterschreiben anregt. Diese Wirkung bei Lesenden inszenatorisch hervorzubringen, erweist sich als eine der schwierigsten Aufgaben, die sich an die Methodik des Schreibens über Unbegreifbaren stellt. Das ›schwebende‹ Schreiben, wie es in der hier vorliegenden Arbeit gefasst wird, zielt nicht primär auf die Geste des Suchens ab, sondern übersteigt diese, geht von Momenten der bewusst gesetzten Unbestimmtheit aus, der Vagheit, in der etwas bruchstückhaft angedeutet wird und von Lesenden mit eigenen Assoziationen und Imaginationen ergänzt werden könnte. Denkbar wäre ein Mitschreiben scheinbarer Nebensächlichkeiten, die zunächst und vielleicht auch immer im Hintergrund bleiben, jedoch aber stets mitschwingen, nur angedeutet werden durch kurze bruchstückhafte Beschreibungen. Es könnten hierbei Beobachtungen Eingang finden, die sich nicht sofort den Lesenden erschließen, warum sie gewählt wurden. Wichtig ist hierbei generell, dass Beobachtungen eben nicht sofort – aspektverhaftet – aufgelöst werden, sondern in ihnen immer noch neue und andere Möglichkeiten, ob sie nun formuliert werden oder nicht, mitschwingen können.

125 Ebd., S. 244.

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Weiterhin wäre die Verwendung bildkräftiger Formulierungen möglich, die zu Assoziationen anregen. Die schwebende Schreibweise könnte eine von Metaphern geprägte sein. Ein an einen Begriff gebundener Vorstellungsinhalt wird hierbei gelockert und auf einen anderen, ihm irgend ähnlichen übertragen, sodass der Begriff seine Vertrautheit und auch gleichzeitig seine Bestimmtheit verlieren kann. Eine Sprache, die mit Metaphern arbeitet, verknüpft einen zu beschreibenden Aspekt mit einer anderen Bildwelt, die ähnlich erscheint. Da sie nicht genau zutrifft, bleibt ein Unbestimmtes zurück, das Lesende dazu auffordert, gedanklich-imaginierend mitzuschreiben. Ein Schreiben in Analogien ist folglich eine Möglichkeit, den Eindruck eines schwebenden Textes hervorzurufen. Beim Arbeiten mit Metaphern wären zwei Richtungen denkbar: die Wahl ›schräger‹ oder vertrauter Bilder. Zum einen könnten bildkräftige Begriffe und Formulierungen gefunden werden, die nicht sofort eingängig und vertraut sein müssen. Im Sinne eines Schreibens in assoziativen Bildern wären überraschende, ›schräge‹ Bilder wählbar, die gewohnte Bahnen des Denkens verlassen. So würde die Rätselhaftigkeit des Unbegreifbaren akzentuiert und auch die Lesenden zu eigenem nachdenkenden Nachfragen angeregt werden. Weit hergeholte und vielleicht absurde Vergleiche würden die Schwierigkeit, das Unbegreifbare in Worte zu fassen, hervortreten lassen. Natürlich besteht hierbei die Gefahr, dass sich die Metaphern als derart ›schräg‹ darstellen, dass sie gegen das ekphrasische Ziel der Anschaulichkeit und Lebendigkeit wirken würden. Diese Bedenken führen zu der zweiten Möglichkeit, Metaphern zu finden – nämlich genau im umgekehrten Sinn. Nicht ›schräge‹ Bilder würden gesucht werden, sondern man würde versuchen, die vielleicht unvertrauten Geschehnisse mit der Brille vertrauter Aspekte zu betrachten. Die unbegreifbare Erscheinung würde insofern ergründet werden, als dass teilweise und vielleicht scheinbare Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit Bekanntem gefunden werden. Jedoch könnte diese Möglichkeit auch den Eindruck erwecken, ein Auffinden von sprachlichen Bildern sei unproblematisch. Lesende nähmen vielleicht an, das Problem des Ringens nach Wörtern sei nicht gegeben. Werden aber auch die Differenz des Unbegreifbaren zur gewählten Metapher mitgedacht und das Unpassende der Metapher berücksichtigt, kann diese Schreibweise durchaus das Problematischwerden des Beschreibens aufscheinen lassen. Ein Raum des Unbestimmten bleibt

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demnach bestehen, ist es doch offensichtlich, dass keiner der Vergleiche mit dem zu beschreibenden Gegenstand begreifend aufgeht. Die schwebende Schreibweise gibt den Lesenden Hinweise, legt Spuren, deutet Möglichkeiten an und lässt sie in der Schwebe. Momente des Unbestimmten wirken der Festschreibung radikal entgegen. Lesende würden sie gedanklich weiterschreiben, sie neu und anders lesen, Neues und Anderes darin erlesen. Der Begriff des Schwebens trifft durchaus in den Kern des Unbegreifbaren. Er umschreibt die Dynamik, Unsicherheit und Bodenlosigkeit des Erfahrens. Sowohl während des momentanen Erfahrens als auch beim nachträglich-erinnernden Erfahren erscheinen eindeutige Erklärungen und Bedeutungszuweisungen als vorläufig. Die Möglichkeiten schwebenden Beschreibens haben eine besondere Bedeutung, regen sie doch Lesende und Schreibende dazu an, nachzudenken, das rätselhafte Geschehen wegen seiner Unbegreifbarkeit nachträglich imaginativ zu erforschen. Wie das unbegreifbare Geschehen vermag auch der gestaltete Text eine Bewegung auszulösen, die sich weiterschreibt. Unbegreifbares rückwärts schreiben Bisher drehte sich die Erörterung von Schreibweisen des Unbegreifbaren primär um das imaginative Hineinversetzen in den Moment, das die Wirkung hervorruft, das Danach bestünde nicht. Lesende sollten den Eindruck bekommen, als wären sie ›dabei‹, als wären sie teilnehmende Beobachter eines gerade ablaufenden Vollzugs. Problematisch hierbei ist, dass die Schreibweisen suggerieren, man könnte noch im Moment selbst dem Unbegreifbaren näher rücken, es zumindest ansatzweise realisieren. Bezieht man sich auf die Annahme, dass sich Unbegreifbares auch und gerade erst im Nachhinein manifestiert, bekommt die generelle aufführungsanalytische Frage nach der Sichtbarkeit des Erinnerns im Schreiben besondere Relevanz. Dass das Erleben von Aufführungen auch immer an ein Erinnern gebunden ist, konnte schon für die Theorie und Praxis der Aufführungsanalayse erörtert werden. Ebenfalls wurden Schreibweisen skizziert, die im Modus des nahen Beschreibens auch das Erinnern aufgreifen – wie das mehrzeitliche Beschreiben und das Weiterschreiben. In Anbetracht des Unbegreifbaren stellt sich die Frage des Erinnerns in besonderem Maße. Denn

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das Unbegreifbare entzieht sich während des Moments selbst auf radikale Weise, sodass es überhaupt erst im Nachhinein realisierend erfahren werden kann. Das Nachwirken äußert sich als ein Nachdenken über das momenthaft Unbegreifbare, das im Nachdenken als ein Neues und Anderes wieder in Erscheinung tritt. Es wurde schon erkannt, dass die Erfahrungswelt des Unbegreifbaren mit einem temporalen Überlappen einhergehen kann, in dem sich momentane Erfahrungen und Erinnerungen, die sich wiederum als neue und andere Erfahrung zeigen, aufeinander beziehen können. Deshalb müssen Schreibweisen entwickelt werden, die sich diesem Phänomen widmen und es in ihre beschreibende Sprache aufnehmen. Verschiedene Möglichkeiten des Schreibens sind denkbar. Die konsequenteste Variante wäre das Beschreiben als ein ausschließliches Nachdenken zu verstehen. Der unbegreifbare Moment wird nicht durch eine den Lesenden suggerierende Schreibweise des Hineinversetzens behandelt, sondern sie rollt den unbegreifbaren Moment im wahrsten Sinne des Wortes komplett von hinten auf. Das Beschreiben setzt erst nach dem Heraustreten aus der Situation an, thematisiert die Nachwirkungen, versucht diese in Worte zu fassen und begibt sich aus der betonten Perspektive des Danachs aspekthaft erinnernd in das Geschehen. Das Danach ist als Ausgangspunkt gewählt, um sich achronologisch rückwärtsgewandt springend in das vergangene Geschehen zu bewegen, ihm imaginativ erinnernd zu begegnen. Hierbei könnte wild gesprungen werden. Den Gedanken könnte wirr nachgegangen werden und dieses Nachgehen würde ins sprachliche Zentrum dieser Schreibpraxis rücken. Dadurch ist dies im wahrsten Sinne des Wortes eine ›rückwärtsschreibende‹ Schreibweise. Hierbei werden die Perspektive des Nachwirkens sowie das Manifestwerden des Unbegreifbaren im Danach in die Beschreibungssprache aufgenommen. Die rekonstruierende Tätigkeit, das inszenatorische, rückwärtsgewandte Hervorbringen eines nicht zu begreifenden Moments wird akzentuiert. Lesende wären mit einem Textgebilde konfrontiert, das die radikale Bewegtheit des Erinnerns und des damit verbundenen Neu- und Anderserlebens aufgreift und vielleicht über diese Rückwärtsgewandtheit auch das momenthaft Unbegreifbare aufscheinen lassen könnte, durch das nachträgliche Hineinversetzen in Erinnerungsspuren, denen imaginativ nachgegangen wird. Das rückwärtsschreibende Schreiben baut eine paradoxe Beziehung zum nahen Beschreiben auf. Einerseits betont es die Nachträglichkeit und

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die Unmöglichkeit eines problemlosen imaginativen Hineinversetzens, andererseits begibt es sich immer wieder erinnernd in die Erfahrung des Moments und baut insofern eine Nähe auf. Über die Betonung des Danachs kann trotzdem eine Nähe zum Moment der Erfahrung aufgebaut werden. Das Danach wird zum Ausgangspunkt genommen, in das die Erfahrung des Moments immer hineinspielt. Insofern steht es nicht im Gegensatz zum nahen Beschreiben. Vielmehr stellt es eine weitere Variante dar, um Nähe zu erzeugen. Jedoch besteht bei der rückwärtsgewandten Schreibweise die Gefahr, dass sie bei Lesenden nicht anschaulich erscheint, wären sie doch unter Umständen mit einem assoziativen, nur lose zusammenhängenden und achronologischen Schreiben konfrontiert, das zwar das je besondere Nachwirken, nicht aber über den Moment selbst das Unbegreifbare thematisiert. Trotz dieses Problems vermag diese Schreibweise dem Unbegreifbaren hinsichtlich des temporalen Aspekts des Nachwirkens und nachträglichen Manifestwerdens am nähesten zu kommen. Obwohl die ausschließlich rückwärtsgewandte Schreibweise zwar dem Phänomen nahe kommt, sind jedoch auch Schreibweisen von gleichwertiger Bedeutung, die auf das Momenthaft-Unbegreifbare achten. Denn das nachträgliche Nachdenken setzt nur deshalb ein, um den unbegreifbaren Momenten nahe zu kommen. Durchaus sind Schreibweisen denkbar, die sowohl das Momenthafte als auch das Nachwirken aufgreifen. Sie verschleiern zwar teilweise die im Nachhinein stattfindende, den Moment rekonstruierende Bewegung, betonen aber den hier im wissenschaftlichen Zentrum stehenden Gegenstand: den Moment des Unbegreifbaren. Die nun zu erörternde Schreibpraxis geht vom Hineinversetzen in den Moment aus, greift jedoch aber auch die rückwärtsgewandte Schreibweise partiell auf. Dies wird als ›vorwärts-rückwärts-Schreibweise‹ bezeichnet. Im Sinne des nahen Beschreibens versetzt sie sich zunächst in den Moment imaginativ hinein und erweckt den Anschein, das Danach gäbe es nicht. Entscheidend ist jedoch, nicht nach dem Ende der Performance oder nach dem Ende des unbegreifbaren Moments mit dem Schreiben aufzuhören, sondern weiterzuschreiben. Im Modus des Weiterschreibens nach dem Heraustreten setzt das rückwärtsgewandte Schreiben ein und legt sich über das chronologische Weiterschreiben der Performance. Vorwärts- und Rückwärtsgewandtheit überlagern sich. Das einsetzende Rückwärtsschreiben

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stellt die Notwendigkeit dar, sich erneut in das unbegreifbare Geschehen erinnernd begeben zu müssen, um überhaupt annähernd nachzuvollziehen, was geschehen ist. Es greift das Nachdenken auf, das einem achronologischen, rückwärtsgewandten Springen gleichen kann. Dieses Springen legt sich über das vorwärtsgerichtete Weiterschreiben, konterkariert, erweitert oder verändert es. Ein Problem des rückwärtsgewandten erinnernden Springens könnte sein, dass die Lesenden durch das hineinversetzende Vorwärtsschreiben schon wissen, was geschehen ist und somit eine Art Erkenntnisvorsprung gegenüber dem im Text thematisierten Erlebenden – dem Schreibenden – haben. Einem Moment würden Lesende im Text sowohl beim vorwärts- als auch beim rückwärtsgewandten Schreiben begegnen. Jedoch akzentuiert eben diese Möglichkeit des Schreibens das Wiederkehren, Nach- und Weiterwirken – das Wiederkehren als ein Neues und Anderes. Dadurch bekommt das Unbegreifbare einen hohen Grad an Anschaulichkeit, denn sowohl die momenthafte als auch die nachwirkende Perspektive sind thematisiert. Das achronologische Springen findet erst statt, wenn die Lesenden einen ersten Eindruck bekommen haben. Ein umfassendes Bild könnte bei Lesenden entstehen, die durch den Modus des Weiterschreibens durch Rückblenden und Momente des Nachdenkens das zuvor Gelesene damit in Verbindung bringen und sich nicht derart den Schreibenden ausgesetzt fühlen wie im ausschließlich rückwärtsgewandten Schreiben. Jedoch bekommt in der sowohl vorwärts- als auch rückwärtsgewandten Schreibweise das nachträgliche Manifestwerden nicht einen so großen Akzent wie in der ausschließlich rückwärtsgewandten Schreibweise, aber trotzdem ist dem Nachdenken Raum gegeben. Ist man mit einer Performance konfrontiert, in der mehrere Momente des Unbegreifbaren auftauchen, ist eine weitere Variante der vorwärts- und rückwärtsgewandten Schreibweise denkbar. Hierbei spürt die Beschreibung dem Unbegreifbaren im Moment selbst nach, macht auch im Nachwirken das Nachdenken über vergangene Augenblicke deutlich und schreibt gleichzeitig über sich gegenwärtig vollziehende Geschehnisse. Das Schreiben begibt sich in einen neuen Moment des Unbegreifbaren und zugleich widmet es sich rückwärtsgewandt dem vorherigen Moment. In dieser Variante des vorwärts- und rückwärtsgewandten Schreibens ist gleichfalls das Hineinversetzen in den Moment wie auch das Erinnern an den Moment akzentuiert. Es ist ein temporal überlappendes Schreiben:

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Während die Performance weitergeht, werden Erinnerungen gegenwärtig, in denen vielleicht das Vorherige erst realisierend erfahren wird. Natürlich könnte hierbei auch der Fall eintreten, dass das Nachdenken aufgeschoben, nach hinten verlegt wird, denn Erfahrende sind vielleicht von einem neuen Moment des Unbegreifbaren ergriffen, der ein Nachdenken aufschiebt. Jedoch besteht durchaus die Möglichkeit des Überlappens von Weiterschreiben und Rückwärtsschreiben. Denkbar wäre, mögliche Erinnerungsassoziationen an schon zeitlich zuvor liegende Momente aufzugreifen und in die Beschreibung des sich momentan Vollziehenden aufzunehmen. Dies könnte in Form von kurzen Assoziationen geschehen, die sich neben die Beschreibung des Moments legen, in Form von längeren Rückblenden, die das momentane Erleben in den Hintergrund drängen oder es mit dem Erinnerten in eine Beziehung setzen. Dadurch wird in besonderem Maße das beständige Komplexerwerden einer Performance aufgegriffen. Es kann gezeigt werden, dass, je öfter man innerhalb einer Performance mit unbegreifbaren Momenten konfrontiert wird, die Erinnerungsarbeit zunehmend komplexer und unüberschaubarer wird, in ein Gefühl der Überforderung mündet, da sich die Intensität des Unbegreifbaren erhöht. Durch das Folgen einer Chronologie birgt es die Möglichkeit, anschaulich zu wirken. Gleichzeitig werden auch das Wiederkehren und Nachwirken von vorherigen Momenten in die Schreibweise aufgenommen. Insgesamt betonen die Varianten der vorwärts-rückwärts-Schreibweise die für das Unbegreifbare zentrale Dimension des Überlappens verschiedener Zeitschichten, von momentanem Erfahren und Erinnern. Unbegreifbares analysieren Gerade die Perspektive des Nachwirkens verweist auf analytische Schreibweisen, stellt sich doch der Vorgang des Analysierens immer als ein nachträglicher dar, der versucht, das Geschehene zerlegend, umstrukturierend zu begreifen. Es stellt sich die Frage, wie Unbegreifbarem analytisch begegnet werden kann. Die Analyse steht vor dem schwerwiegenden Problem, das Unbegreifbare nie in ein Begreifbares umwandeln zu können. Keine noch so feingliedrige Analyse vermag das Unbegreifbare endgültig verstehend zu

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durchdringen. Bezieht man das Ziel eines Analytikers, ein Geschehen »nachträglich auf den Begriff zu bringen«126 auf das Phänomen des Unbegreifbaren steht eine Analyse vor scheinbar unüberwindbaren Problemen. Sie scheint geradezu aufgegeben werden zu müssen. Folgte man dieser Annahme, würde das Beschreiben von Unbegreifbarem in einer wissenschaftlichen Arbeit völlig ausreichen. Eine »Gegenstandserklärung«127 könnte nicht stattfinden. Jedoch greift die Schlussfolgerung, die Analyse aufzugeben, zu kurz. Denn ganz im Gegenteil hat sich schon gezeigt, dass das Nachdenken regelrecht Bestandteil der Erfahrung des Unbegreifbaren ist. Es lohnt sich also, die Frage zu erörtern, wie Unbegreifbares analysiert werden kann. Um diese Frage zu thematisieren, können bisherige Überlegungen zu Schreibweisen des Unbegreifbaren aufgegriffen und übertragen werden. Wie die nahe Beschreibung muss auch das Schreiben in Distanz, das analytische Schreiben, der ihr inhärenten Versuchung widerstehen, vermeintlich feststehende und endgültige Aussagen zu treffen. Wie es für das Beschreiben deutlich wurde, zeigt es sich nun auch für das Analysieren: Immer muss von der Festlegung abgesehen werden, nie darf etwas als eindeutig bestimmt verstanden werden. Bestehende und vielleicht auch gut begründete Gedanken müssen wieder durchgestrichen werden, um neue Facetten zur Geltung zu bringen, die in eine ganz andere Richtung tendieren können. Ähnlich wie beim suchenden Beschreiben muss demnach die Analyse einem Suchen gleichen, das nicht endgültig zu finden verspricht, sondern sich nach dem Verfolgen einer These von ihr auch wieder zu entfernen vermag. Der These muss regelrecht die Gegenthese präsentiert werden oder, falls diese nicht parat ist, muss zumindest vom noch plausibel erscheinenden Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes ›weggeschrieben‹ werden, sich schreibend wegbewegt werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, man hätte ein Unbegreifbares in ein Begreifbares transformiert. Analysieren bekommt ähnlich wie die Beschreibung den Charakter eines Suchens, Findens, Verwerfens, Neuansetzens und Andersdenkens. In dieser kursorischen Bewegung, so die Annahme der hier vorliegenden Untersuchung, lässt sich zwar nichts Definitives über das Unbegreifbare aussagen, jedoch besteht die Möglichkeit, das Unbegreifbare zumindest ansatzweise zu be-

126 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 79. 127 E. Angehrn: »Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung«, S. 64.

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rühren. Es ist dadurch möglich, verschiedene Facetten in ihrer Rätselhaftigkeit aufscheinen zu lassen. Analyse kann hier nicht verstanden werden als ein Zerlegen des Gegenstandes mit dem Ziel der Einsichtbarmachung, der Erkenntnis. Dies würde suggerieren, man könnte das dahinterliegende Prinzip, die dahinterliegenden Gedanken problemlos finden. Weniger kann es um das Ziel des Findens, sondern vielmehr muss es um den Prozess des Suchens im Vorgang des Analysierens gehen. Der analytische Text muss verstanden werden als eine Momentaufnahme eines sich beständig Verändernden, das jederzeit neu und anders geschrieben werden kann, das nie als ein fertiges, endgültiges Ergebnis da steht, sondern in dem immer die Möglichkeit mitschwingt, weitergeschrieben zu werden. Hierbei erscheint es notwendig, die Ungereimtheiten mitzuschreiben, die zu den bestehenden Gedanken nicht passen wollen. Es darf nicht darum gehen, das Unbegreifbare in der Analyse zu glätten. Gerade auch die rückwärtsschreibende und rückwärts und vorwärts springende Schreibweise zeigt sich für den Vorgang des Analysierens als sinnvoll. Es können Verknüpfungen hergestellt werden. Zwischen den Szenen kann gesprungen werden. Jedoch ist es gerade beim Analysieren wichtig, dass die Verknüpfungen zumindest ansatzweise nachvollziehbar sind und nicht, wie beim Beschreiben, lose, wirr und eben völlig schwebend bleiben können. Bei der Analyse muss zumindest ein vager Gedanke angedeutet werden, der die Sprünge, die Verknüpfungen zumindest kurzzeitig verbindet. Gerade die Beschreibung, so deutet es sich auch hier noch einmal an, kommt der Betrachtung des Unbegreifbaren nahe. Die Analyse, die auf ein Nachdenken, auf Erklärungen und Klarheiten abhebt, mag zwar ein wichtiger Bestandteil der Erfahrung des Unbegreifbaren sein, ist jedoch in dessen Erforschung nicht der primäre Ansatzpunkt. Dennoch werden die Besonderheiten des Analysierens im nächsten Kapitel – ›Analyse von Performern‹ – ausführlich herausgestellt. Zuvor wird jedoch im folgenden Abschnitt das hier zu entwickelnde Schreiben hinsichtlich des im angloamerikanischen Diskurs entstandenen Konzeptes des Performative Writing untersucht. Dadurch werden übergreifende Gedanken des Kapitels abschließend aufgegriffen und das zu entwickelnde Schreiben sowie auch der Status der entstehenden Texte genauer verortet.

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4. S CHREIBEN ALS B EWEGUNG UND P ERFORMATIVE W RITING Im amerikanischen Raum existieren Überlegungen, die in unmittelbarem Kontext des hier angedeuteten Schreibens stehen und demnach die Möglichkeit bieten, letzteres noch deutlicher zu explizieren. Die Debatte kreist um das Konzept des Performative Writing. Es entstand im Kontext der Performance Studies in den 1990er Jahren als ein offen gedachtes Konzept, das nach neuen und anderen Wegen des Schreibens über Performances nachdenkt. Diese Richtung des Schreibens wird insbesondere von Peggy Phelan und Della Pollock geprägt. Gerade für die Betrachtung des Unbegreifbaren kann es vielversprechende Impulse geben, beleuchtet es doch die in deutschsprachigen Diskursen der Theaterwissenschaft vernachlässigte Frage, was Wörter machen oder besser: performen. In Anlehnung an Austins Sprechakttheorie wird der Akzent auf »writing as doing [Herv. i.O.]« gelegt und nicht auf »writing as meaning«128. In Phelans und Pollocks Überlegungen deuten sich ähnliche Grundannahmen an, die sich durchaus mit den bisher erörterten Positionen zur Ekphrasis und mit den bisher erarbeiteten Schreibweisen verbinden lassen. Jedoch werden sich in der folgenden vergleichenden Erörterung auch Unterschiede zu dem hier zu entwickelnden Schreiben auftun. Phelan deutet in ihrer Studie Mourning Sex. Performing Public Memories Grundzüge des Konzeptes des Performative Writing an. Grundlegender Ausgangspunkt sei, das Schreiben über Performances nicht als ein Konservierenwollen zu verstehen. »The desire to preserve and represent the performance event is a desire we should resist.«129 Hinter der Annahme steckt die auch in der Ekphrasis vertretene Position, eine direkte Abbildung des zu beschreibenden Gegenstandes im Beschreibungstext sei unmöglich. Phelan umschreibt es als ein »task I believe to be impossible and not terrifically interesting«130. Wie auch die Ekphrasis geht das Performative Writing von

128 Pollock, Della: »Performing Writing«, in: Peggy Phelan/Jill Lane (Hg.), The ends of performance, New York/London: New York University Press 1998, S. 75. 129 Phelan, Peggy: Mourning Sex. Performing Public Memories, London/New York: Routledge 1997, S. 3. 130 Ebd., S. 11f.

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der Unmöglichkeit aus, das zu beschreibende Objekt unmittelbar darzustellen. Vielmehr sei es interessanter und auch sinnvoller, nicht auf eine objektiv anmutende Schreibweise abzuzielen, sondern vielmehr von affektiven Erfahrungen auszugehen, die in direktem Bezug zur Performance stehen. »My hunch is that the affective outline of what we’ve lost might bring us closer to the bodies we want still to touch than the restored illustration can.«131 Wie auch bei der Ekphrasis gehe es nicht um eine vollständige Auflistung von Fakten, sondern – wie es Boehm formuliert – um die »Erzeugung von Lebendigkeit«132. Phelan betont, dass es nur durch ein Schreiben gelänge, das von Affekten und Erfahrungen des zu beschreibenden Moments ausgeht. Es gehe um ein Abstandnehmen von »conservative and conserving methods«133. Wie auch die Ekphrasis fordert das Performative Writing eine andere Sprache, ein anderes Schreiben, das ausdrücklich von der subjektiven Erfahrung ihren Ausgang nimmt. »Rather than describing the performance event in ›direct signification‹, a task I believe to be impossible and not terrifically interesting, I want this writing to enact the affective force of the performance event again, as it plays itself out in an ongoing temporality made vivid by the psychic process of distortion [...].«134

Weiterhin sei im Performative Writing auch das Moment der Verformung (»distortion«) als grundlegend anzunehmen. Schreiben dürfe – wie auch bei den Annahmen zur Ekphrasis – den Prozess des Veränderns und Hervorbringens des Gegenstandes nicht durch vermeintlich objektive Schreibweisen zu verschleiern versuchen. Phelan spricht davon, dass das Schreiben manipulativ sei. Es müsse regelrecht die gefühlsmäßige Kraft der Performance zur Aufführung kommen lassen (»enact«). Phelan unterstreicht, dass das performative Hervorbringen eines Neuen und Anderen natürlich für jegliches Schreiben über Aufführungen Geltung besitze, jedoch werde der generative und transformative Moment im Performative Writing ausdrücklich hervorgehoben – eine Annahme, die es hier auch ausdrücklich auf das

131 Ebd., S. 3. 132 G. Boehm: »Bildbeschreibung«, S. 32. 133 P. Phelan: Mourning Sex, S. 3. 134 Ebd., S. 11f.

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Unbegreifbare anzuwenden gilt, bei dem die Notwendigkeit des Inszenierens und Re-Inszenierens in besonderer Weise Relevanz besitzt. Weil es ein von Gefühlen und Erfahrungen ausgehendes Schreiben ist, könne es eben auch nicht als ein zielgerichtetes Schreiben verstanden werden. »Despite the extensive attempt to revise, to suture, to replace the holes with something whole, much of the writing here functions as gravestone marking, in gray pallor and chiseled syllables, the ruins of brave, fuller, stronger, livelier words.«135

Das Schreiben widerspreche der »ideology of knowledge as a progressive movement forever approaching a completed end-point«136. Ausdrücklich sei es kein teleologisches Schreiben, das von der »cool violence of (my own) rationality«137 geprägt, sondern vielmehr von affektiven und subjektiven Kräften geleitet sei. Mary Poovey betont, dass es Phelan um ein Widersprechen kritischer Objektivität gehe und um eine Betonung, dass »reading/writing/understanding occurs in time«138. Schreiben wäre als eine flüchtige Bewegung zu verstehen, die immer im »process of flux«139 sei. Das Performative Writing zeige sich als »precarious, tentative, unstable«140 – eine Formulierung, die der schon entwickelten Annahme der Beweglichkeit des Schreibens entspricht: Schreiben als ein immer mögliches Verändern. Während Phelan Performances als Verlust denkt und daraus die eben genannten Annahmen ableitet, werden sie in der hier vorliegenden Arbeit hingegen mit Schneider vom Bleiben her entwickelt. Gerade durch das rätselhafte Bleiben, Nach- und Weiterwirken des Unbegreifbaren stellt sich die Notwendigkeit, Schreiben als eine Bewegung zu verstehen – eine Bewegung des Fortschreibens, Weiterschreibens, Umschreibens, Wi(e)der-

135 Ebd., S. 8. 136 Ebd., S. 17. 137 Ebd. 138 Poovey, Mary: »Creative Criticism: Adaption, Performative Writing, and the Problem of Objectivity«, in: Narrative, Vol. 8, No. 2, Narrative and Performance, Columbus: Ohio State University Press 2000, S. 124. 139 Ebd. 140 P. Phelan: Mourning Sex, S. 21.

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schreibens und Andersschreibens. Einerseits schreibt sich in jeden Text die Potentialität des Neu- und Andersschreibens ein, andererseits spiegelt sich im Text eine Bewegung wieder, ein unaufhörliches Abtasten von Spuren, die jedoch nicht auf ein Ganzes zielen, sondern in unterschiedliche, auch widersprechende Richtungen streben können. Insofern betont das Konzept des Performative Writing gleichfalls die Annahme, dass das Schreiben als Bewegung sichtbar gemacht werden muss – eine Bewegung, die als Bewegung bestehen bleibt. Wie auch in Beschreibungen und Analysen des Unbegreifbaren muss der Tendenz des Festschreibens entgegengewirkt werden.141 Das Schreiben über Unbegreifbares muss die Bewegtheit der Erfahrung und Erinnerung in einer bewussten Weiterführung des Bewegens im Prozess des Schreibens thematisieren. Würde man das Phänomen der intensiven Bewegung nicht in der je spezifischen Schreibweise über unbegreifbare Performer aufscheinen lassen, würde man ihre Unbegreifbarkeit in eine scheinbare Begreifbarkeit umwandeln und sie verfehlen. Möchte man sie zumindest ansatzweise berühren, ist es unumgänglich, die bewegte und bewegende Begegnung mit Unbegreifbarem in ein bewegtes und bewegendes Schreiben zu transformieren. In Formulierungen zur Erläuterung des offenen Konzepts des Performative Writing deutet sich punktuell eine Richtung des Schreibens an, die die Gefahr birgt, dass nicht die Gegenstände, sondern die Schreibenden in den Mittelpunkt rücken. Ein Unterschied zum Schreiben, wie es in der hier vorliegenden Untersuchung praktiziert wird, kristallisiert sich heraus. Im Folgenden gilt es, diesen Unterschied herauszuarbeiten. Das Performative Writing verweise sowohl auf die Subjektivität der Schreibenden als auch auf die Momente, die die subjektiven Erfahrungen motivierten. »Performative writing is different from personal criticism or autobiographical essay, although it owes a lot to both genres.«142 Es bewege sich in einem ›Zwischen‹, es sei eine »mixture of facts and phantasms«143. Den Begriff des Phantasmas rückt Phelan auch in die Nähe des Begriffs der Fiktion. Es befinde sich in einem ›Zwischen‹ aus »critical fictions and

141 Vgl. dazu Wortelkamp, Isa: »Bewegung der Bewegung. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben, Berlin: Revolver 2012. 142 P. Phelan: Mourning Sex, S. 11. 143 Ebd., S. 18.

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factual phantasms«144. Poovey kommt zu dem Schluss, dass es bei Phelans Umschreibung des Performative Writing um ein »staging of the writing subject«145 gehe: »In performative writing, the writer makes no pretense at absenting herself from the process of criticism. Instead, gestures that are at least ›autobiographical‹, in the sense of simulating self-reference, provide shadow commentaries that keep the writing subject in the reader’s peripheral vision – when she does not assume center stage.«146

Insbesondere durch den Begriff der Autobiografie und der der Fiktion entsteht an manchen Stellen der Eindruck, das Performative Writing verweise immer auch explizit auf die schreibenden Subjekte, ihre autobiografischen Befindlichkeiten, die drohen, den Gegenstand in den Hintergrund rücken zu lassen. Hier deutet sich ein Unterschied zur Stoßrichtung der Ekphrasis und zu dem im Rahmen der Arbeit entwickelten Schreiben an. Während es der Ekphrasis explizit um die Präsentation von Gegenständen mit jeglichen erdenklichen sprachlichen Strategien geht, scheint das Performative Writing sich von Anfang an auch vom Gegenstand wegzubewegen und auch die Subjektivität der Schreibenden thematisch fokussieren zu wollen. Dieser Unterschied spiegelt sich auch im Status des Textes wider. Beim Performative Writing rücke durch die Betonung des ›Wie‹ des Schreibens der Text selbst in den Mittelpunkt. Pollock schreibt, dass es darum gehe, dass das Schreiben nicht nur im Sinne eines Bedeutungsproduzenten gesehen werde, sondern selbst im Sinne Austins als Handlung hervortrete. Hierbei sei davon auszugehen, dass »writing becomes itself, becomes its own means and ends, recovering to itself the force of action. After-texts, after turning itself inside out, writing turns again only to discover the pleasure and power of turning, of making not sense or meaning per se but making writing perform [Herv. i.O.]: Challenging the boundaries of reflexive textualities; relieving writing of its obligations under the name of ›textuality‹; shap-

144 Ebd. 145 M. Poovey: »Creative Criticism«, S. 123. 146 Ebd.

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ing, shifting, testing language. Practicing language. Performing writing. Writing performatively.«147

Der Text als solches rückt in den Mittelpunkt, als ein Gemachtes, das – und das kann als Unterschied zu dem im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit angedeuteten Status des Textes verstanden werden – sich selbst genüge. In diesen Äußerungen gerät der Bezug auf einen Gegenstand zwar nicht vollständig aus dem Blick, jedoch aber rückt er in den Hintergrund. Das in diesem Kapitel entwickelte nahe Beschreiben wird demnach nicht als Performative Writing bezeichnet, sondern als ›Performative Describing‹ bzw. ›nahes Beschreiben‹, um auf eine Schreibpraxis zu verweisen, die sich dem Beschreiben eines Gegenstandes verpflichtet sieht, sich nicht selbst genügt, sondern jegliche Anstrengungen bemüht, um den Gegenstand in seiner spezifischen Erfahrungs- und Erinnerungswelt aufscheinen zu lassen, weit entfernt von einem Abbilden, vielmehr im Sinne eines Kampfes, der das Schreiben zu anderen Mitteln greifen lässt, unüblichen Praktiken, die jedoch nicht um ihrer selbst willen stattfinden, sondern sich als ein gegenstandsverpflichtetes Schreiben verstehen. Nicht der theoretische Wille, andersschreiben zu wollen; nicht das Schreiben drängt zu einem Andersschreiben im Sinne eines Performative Writing, sondern der Gegenstand kann das Schreiben zwingen, neue und andere Wege einzuschlagen. Natürlich kann nicht einfach dem Performative Writing vorgeworfen werden, es bewege sich sofort vom Gegenstand weg. Ganz im Gegenteil finden sich bei Phelan und Pollock auch zentrale Textpassagen, in denen betont wird, dass es um den »performance event«148 gehe, der hervortreten müsse – also Ansichten, die die Schreibweise zu meinen scheinen, der in dieser Arbeit nachgegangen wird. Pollock betont, Performative Writing »moves with [Herv. i.O.], operates alongside, sometimes through, rather than above or beyond, the fluid, contingent, unpredictable, discontinous rush of (performed) experience«149. Es gehe somit von der Erfahrung aus und die Wörter müssten von der Sinnlichkeit der Referenten »deeply impressed«150 sein.

147 D. Pollock: »Performing Writing«, S. 75. 148 P. Phelan: Mourning Sex, S. 11. 149 D. Pollock: »Performing Writing«, S. 81. 150 Ebd.

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Auf der anderen Seite finden sich jedoch immer wieder Hinweise, die das Schreiben zu stark in Richtung des Schreibenden tendieren lassen. Pollock betont beispielsweise, dass es nicht »entirely self-constitutive (in the manner of an avowed fiction)«151 sei. Sie lokalisiert es, ähnlich wie Phelan, in einem ›Zwischen‹, in eine hybride Balance zwischen Selbstbezug im Sinne eines fiktiven Textes und Fremdbezug im Sinne eines Gegenstandbezugs. Das Performative Writing, soll es auf das hier vorgeschlagene Schreiben angewendet werden, darf nicht in Richtung des Selbstbezugs tendieren, wie es bei einigen Vertretern des Performative Writing praktiziert wird – wie beispielsweise in Ronald J. Pelias’ Publikation Writing Performance. Poeticizing the Researcher’s Body, in der er, wie es schon der Titel andeutet, eine Poetisierung des schreibenden Subjekts proklamiert. Die entstehenden Texte versteht er als »poetic essays«152, die einen künstlerischen Status einnehmen sollen, ein künstlerisches Produkt darstellen und sich weniger der in der Ekphrasis geforderten Gegenstandspräsentation verpflichtet sehen. Weil das Performative Writing als ein offenes Konzept keinen festen Regeln folgt und in ihm das Signum eines anderen Schreibens mitschwingt, das sich gegen wissenschaftliche Standards auflehne, wie es Pollock beschreibt, birgt es in sich die Gefahr, ein Schreiben zu suggerieren, das sich selbst genügt, ins Autobiografische, Subjektive, Fiktive und sogar Künstlerische tendieren kann und hierbei vom Gegenstand ablenkt, sich wegbewegt, wegschreibt. Natürlich wird in der hier vorliegenden Arbeit die Sichtbarkeit der Schreibenden im Text nicht bestritten. Sie soll und kann auch nicht vermieden werden, wie es schon in der Erörterung des Begriffs der Schreibweise deutlich wurde. Jedoch geht es nicht um ein »staging of the writing subject«153, um Schreibweisen, die vom Gegenstand auf die Schreibenden verweisen, sondern vielmehr wird der umgekehrte Weg proklamiert, das Bemühen mit Mitteln subjektiven Schreibens den Gegenstand aufscheinen zu lassen. In eben diesem Sinne sei das nahe Beschreiben bzw. Performative Describing zu verstehen – eine Schreibweise, die durch den Akt des Gestaltens Nähe zu dem Gegenstand erzeugt. Sie zielt darauf ab, die spezifische

151 Ebd., S. 80. 152 Pelias, Ronald J.: Writing performance. Poeticizing the Researchers’s Body, Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press 1999, S. XI. 153 M. Poovey: »Creative Criticism«, S. 123.

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Sinnlichkeit der in der Erinnerung gegenwärtig werdenden Erfahrung in die Sprachlichkeit aufzunehmen. Insofern ist sie nicht einheitlich oder verallgemeinerbar, sondern eine Schreibweise mit zahlreichen Möglichkeiten, die sich aus dem je spezifischen Gegenstand ergeben. Die in diesem Kapitel entwickelten Schreibweisen stellen demnach lediglich Möglichkeiten dar. Keinesfalls sind sie als Blaupausen für jegliche Beschreibungen von Aufführungen bzw. Performances zu verwenden. Nicht nur für das Unbegreifbare ist diese Schreibweise von Relevanz, sondern sie bietet eine Alternative zu bestehenden theaterwissenschaftlichen Beschreibungsformen. Gerade bei Gegenständen, bei denen das Beschreiben zum Problem wird, drängt sich die nahe Schreibpraxis auf, die offen ihren inszenierenden und reinszenierenden Charakter ausstellt, um überhaupt den Gegenstand der analytischen Betrachtung zugänglich zu machen. Durch die besondere Relevanz des nahen Beschreibens wird auch die vorwissenschaftliche Stellung des Erinnerungsprotokolls angezweifelt, sofern in ihr ein nahes Beschreiben praktiziert wird. Wenn das Beschreiben zum Problem wird, müssen die Versuche des Zur-Sprache-Bringens integraler Bestandteil der Untersuchung sein. Der Gegenstand des Unbegreifbaren, so hat sich gezeigt, macht es nötig, bestehende Praktiken des Beschreibens zu erweitern, Grenzen zu überwinden und sogar eine Annäherung an künstlerische Schreibweisen zu suchen, um das Unbegreifbare überhaupt zur Sprache bringen zu können. Bei seiner theaterwissenschaftlichen Untersuchung bildet die nahe Beschreibung bzw. das Performative Describing den Dreh- und Angelpunkt.

III. Analyse von Performern

1. V OR DEM S CHREIBEN Das nahe Beschreiben bildet das Fundament der theaterwissenschaftlichen Betrachtung von Unbegreifbarem. ›Andere‹ Schreibweisen sind notwendig, um das Unbegreifbare überhaupt zur Sprache bringen zu können. Nach der Frage nach dem ›Wie‹ des Beschreibens stellt sich nun die Frage nach dem ›Wie‹ des Analysierens. Hierbei sind gleichfalls andere Wege einzuschlagen, die bisherige Theorien und Praktiken des Analysierens hinterfragen, erweitern und sogar provozieren. Angesichts des Unbegreifbaren muss nicht nur die Beschreibung, sondern auch die Aufführungsanalyse umgestaltet und um neue und andere Perspektiven erweitert werden. Bisher hat sich das hier vorgeschlagene Schreiben allgemein auf das Unbegreifbare bezogen. Nun geht es darum, diese Überlegungen explizit auf unbegreifbare Performer zu beziehen. Die Formulierung ›unbegreifbare Performer‹ wird hier gewählt, um den Gegenstand der Analyse anzudeuten. Es geht um diejenigen Performer, die sich als unbegreifbar zeigen. Keinesfalls sei mit der Formulierung das Unbegreifbare als vorgängig gesetzter Analysebegriff positioniert. Sie dient lediglich dazu, auf den Beschreibungs- und Analysehorizont der hier im Zentrum stehenden Performer zu verweisen. Insofern fragt dieses Kapitel nach den Besonderheiten des Schreibens über unbegreifbare Performer. Was ist das Spezifische des Analysierens unbegreifbarer Performer? Wie lässt sich ihnen schreibend begegnen? In der Einleitung der vorliegenden Arbeit hat sich herausgestellt, dass in die Betrachtung von Performern schauspieltheoretische und -analytische Begriffe immer auch hineinspielen – so beispielsweise Fragen der Präsenz

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und Aura, Rolle und Figur, Subjekt und Gestalt, Körper und Verkörperung, Handlung und Performance. Erfahrende sind mit einer menschlichen Gestalt konfrontiert, einer Person, einer körpergebundenen Praxis, einem handelnden Subjekt, das »im Material der eigenen Existenz«1 Wirkungen zeitigt, performative Prozesse initiiert. Jedoch hat sich ebenso gezeigt, dass im Performerbegriff ein Anderswerden verkörpernder Praktiken und auch ein Anderswerden des Erfahrens mitschwingen. Insofern stellen sich die Fragen: Können die Begriffe zur Analyse von Schauspielern einfach auf unbegreifbare Performer übertragen werden? Oder müssten ganz im Gegenteil Begriffe wie beispielsweise ›Rolle‹, ›Figur‹ und ›Subjekt‹ gänzlich aufgegeben und neue herangezogen werden? Oder gäbe es doch Möglichkeiten, schauspieltheoretische und -analytische Begriffe zu verwenden? Kann es überhaupt feststehende Analysebegriffe für unbegreifbare Performer geben? Oder wären sie sogar Hindernisse? Ist nicht die Beschreibung der primäre Ansatzpunkt, sodass jegliche vorgängigen theoretischen Analysebegriffe aufgegeben werden müssen? Diese Gedanken werfen weitere Fragen auf, die auf Besonderheiten des Schreibens über unbegreifbare Performer abheben: Inwiefern bezieht sich das hier entwickelte Schreiben auf schon bestehende Praktiken des Schreibens über Schauspieler? Lassen sich schon vorhandene Schreibweisen einfach übertragen? Oder sind die hier entwickelten Schreibweisen gänzlich unvereinbar mit bestehenden Konzepten des Schreibens über Schauspieler? Was wäre das Besondere, das Neue und Andere des hier verfolgten Ansatzes? Diese Fragen lassen sich noch spezifizieren, blickt man auf die im Zuge dieser Arbeit mehrmals verwiesenen semiotischen und phänomenologischen Schreibweisen. Die phänomenologische Aufführungsanalyse hat sich als methodische Grundlage des hier entwickelten Schreibens herausgestellt, stehen doch in ihr »nicht theoretische Konstrukte oder Weltmodelle [...] am Anfang einer Untersuchung«2. Es geht ihr um Wahrnehmungen und Erfahrungen, die in ihrer Flüchtigkeit thematisiert werden. Hierbei ist ein Beschreiben jenseits vorangestellter Bedeutungen oder inhaltlicher Voran-

1

Plessner, Helmuth: »Zur Anthropologie des Schauspielers« [1948], in: Jens Roselt (Hg.), Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, Berlin: Alexander Verlag 2005, S. 315.

2

J. Roselt: »Feedback der Zeichen«, S. 147.

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nahmen grundlegend – ein Beschreiben, das am Phänomen ansetzt und dessen wirkungsmäßigen Vollzug aufgreift. Die Vorrangigkeit der sprachlichen Durchdringung des Gegenstands konnte als »Nadelöhr«3 der hier vorliegenden Arbeit verstanden werden. Die Frage der Beschreibbarkeit, so hat es sich herausgestellt, trifft in den Kern der Analyse. Jedoch ist das hier praktizierte Schreiben über unbegreifbare Performer nicht einfach als eine Abkehr von semiotischen Schreibweisen über Schauspieler und als eine Hinwendung zu phänomenologischen Modellen zu verstehen. Denn auch die phänomenologische Aufführungsanalyse, wie sie sich bisher in der Theaterwissenschaft zeigt, entspricht dem hier praktizierten Schreiben nicht völlig, spiegelt sich darin doch beispielsweise nicht das Nach- und Weiterwirken der Performance. Es muss folglich gefragt werden: Inwiefern bezieht sich das Schreiben über unbegreifbare Performer auf schon bestehende semiotische und phänomenologische Schreibweisen über Schauspieler? Inwiefern hebt es sich davon ab? Was wäre das Neue und Andere? Wendet es sich gänzlich von semiotischen Betrachtungen von Schauspielern ab? Oder gibt es vielleicht auch gemeinsame Wurzeln, die das Schreiben über Schauspieler und unbegreifbare Performer verbindet? Sehen sich nicht Analysen von Schauspielern und unbegreifbaren Performern mit den ebengleichen Problemen der Beschreibung und Analyse konfrontiert? Begegnen nicht auch Schauspieler als schwer zu fassende körperliche Präsenzen, die Erfahrende gleichfalls vor Schwierigkeiten des Versprachlichens stellen? Am Anfang dieses Kapitel gilt es, exemplarisch die von Fischer-Lichte in ihrer Semiotik des Theaters und von Roselt in seiner Phänomenologie des Theaters praktizierten Schreibweisen über Schauspieler zu erörtern (Kap. 3.1). Besonderheiten des Schreibens über unbegreifbare Performer können in Rekurs auf diese bestehenden Schreibweisen im Verlauf des Kapitels herausgearbeitet werden. Vor dem Schreibversuch werden neben der Erörterung der beiden bestehenden Schreibweisen auch Schwierigkeiten des Schreibens über Schauspieler aufgegriffen, die dem Schreiben über Performer zu Grunde liegen. Um das Besondere des in der hier vorliegenden Untersuchung praktizierten Schreibens nicht nur theoretisch zu diskutieren, werden in diesem Kapitel zwei Schreibversuche angestellt. Als Beispiele dienen die Perfor-

3

G. Boehm: »Bildbeschreibung«, S. 24.

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merin Silvia Costa in der von Romeo Castellucci inszenierten Performance HEY GIRL! und der Performer Steven Cohen in seiner Performance THE CRADLE OF HUMANKIND (Kap. 3.2 und 3.4). Jeweils nach den beiden Schreibversuchen werden die gewählten Schreibweisen und Ansätze kritisch betrachtet und verglichen (Kap. 3.3 und 3.5). Auf diese Weise zeigt sich das Spezifische des Analysierens anhand konkreter Praktiken des Performens. Gleichzeitig wird die Beziehung zu bestehenden Schreibweisen und Methodiken der Aufführungsanalyse sowie schauspieltheoretischen und -anaytischen Begrifflichkeiten erörtert. Es wird sich zeigen, dass nicht nur die Methodik der Aufführungsanalyse, sondern auch grundlegende Perspektiven der Schauspieltheorie erweitert werden müssen. Die Beispiele dienen nicht dazu, den Gegenstand des Unbegreifbaren zu präzisieren, sondern eine Präzisierung des Schreibens über Unbegreifbares vorzunehmen. Das Kapitel übernimmt somit zwei Funktionen: Zum einen geht es um das Herausarbeiten der Besonderheiten des Analysierens unbegreifbarer Performer; zum anderen geht es darum, die Fragen nach dem ›Wie‹ des Schreibens in der Praxis zu erproben, schon theoretisch entwickelte Schreibweisen anzuwenden und zu reflektieren. Schauspieler schreiben Es gibt eine lange Tradition, über Schauspieler und ihr besonderes Tun kritisch nachzudenken. Hierbei haben sich je individuelle Schreibweisen herausgebildet, um Schauspieler bei ihrer Arbeit zu beschreiben. Im Laufe der Geschichte des Theaters haben sie sich gewandelt, aufeinander aufgebaut, sich weiterentwickelt – und dies jeweils entlang der jeweils gegenwärtigen Theaterpraxis, der jeweils betrachteten Schauspielerpersönlichkeiten und den jeweiligen Schauspielstilen, aber auch entlang bestehender Schreibweisen.4 Keinesfalls kann und soll diese Tradition hier nachgezeichnet werden,

4

Vgl. dazu exemplarisch Möhrmann, Renate: »Bewundert viel und viel gescholten. Schauspieler im Spiegel der Theaterwissenschaft«, in: Dies. (Hg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin: Reimer 1990; J. Roselt: Schauspieltheorien; Roach, Joseph: It, Michigan: University of Michigan Press 2007; Goodall, Jane: Stage Presence, London/New York: Routledge 2008; Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011.

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es sei jedoch betont, dass die vorliegende Arbeit ein Schreiben zu entwickeln sucht, das sich an Praktiken konkreter Performer orientiert, von diesen ausgeht, sich mit ihnen schreibend auseinandersetzt, zu kämpfen hat und aufgefordert wird, neue und andere Wege einzuschlagen. Die Arbeit mit Beispielen stellt sich als grundlegend heraus, um individuelle Schreibweisen überhaupt erst zu finden, zu formen und zu verändern. Bevor die Performerin Silvia Costa in HEY GIRL! und der Performancekünstler Steven Cohen in THE CRADLE OF HUMANKIND thematisiert werden, erscheint es wichtig, zunächst bestehende Schreibweisen zu erörtern. Auf sie wird nach den Schreibversuchen Bezug genommen, sodass die Fragen erörtert werden können, inwiefern das hier praktizierte Schreiben bestehende Schreibweisen über Schauspieler aufgreift und sich von ihnen abhebt. Weil in dieser Arbeit schon mehrfach methodisch auf sie Bezug genommen wurde, drängen sich regelrecht zwei Ansätze auf: die semiotische und phänomenologische Aufführungsanalyse. Das hier praktizierte Schreiben scheint auf beiden Ansätzen aufzubauen, sich gleichzeitig jedoch auch von ihnen abzuheben. Natürlich gibt es nicht die semiotische und die phänomenologische Schreibweise über Schauspieler. Jeder Schreibende hat seine je eigene Schreibweise. Deshalb gilt es, nicht auf einer allgemeinen, sondern auf einer spezifisch-exemplarischen Ebene zwei Schreibweisen zu erörtern – nämlich diejenige Fischer-Lichtes in ihrer Semiotik des Theaters und diejenige Roselts in seiner Phänomenologie des Theaters. Wie findet hier die Praxis des Schreibens über Schauspieler statt? Welche verschiedenen Möglichkeiten und Perspektiven zeichnen sich ab? Fischer-Lichte führt eine ausführliche Analyse von HEINRICH DER VIERTE (inszeniert von Augusto Fernandes, Stück von Pirandello) durch, in der sich ihre Schreibweise über Schauspieler abzeichnet. »Donna Mathildes Bewegungen sind auffallend lebhaft: sie wirft abrupt den Kopf nach hinten, dreht sich ruckartig um – vor allem, wenn sie als Reaktion auf eine Äußerung Belcredis sich von ihm abwendet –, fährt heftig mit dem ganzen Arm durch die Luft, macht energische, wenn auch, bedingt durch die hohen Absätze, kleine Schritte, bei denen sie sich nachdrücklich in den Hüften wiegt. Ihr gestisches Ver-

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halten lässt auf einen stark emotionalen, unausgeglichenen Zustand, einen ausgesprochen dominierenden Charakter schließen.«5

In dieser Passage beschreibt Fischer-Lichte die Schauspielerin Anneliese Römer, die Donna Mathilde verkörpert. Zunächst fällt ins Auge, dass weder in der gewählten Passage, noch in der ausführlichen Aufführungsanalyse der Name der Schauspielerin fällt; oder auch die Formulierung ›die Schauspielerin‹. Meist wird der Rollenname ›Donna Mathilde‹ verwendet, auch wenn von den leiblichen Handlungen der Schauspielerin die Rede ist – in dieser Szene von ihren lebhaften und abrupten Bewegungen. Ein Schreiben über Schauspieler wird hier mit der im Drama formulierten Rolle verbunden. Es setzt an der Rolle an und fragt nach ihrer spezifischen Umsetzung und Ausgestaltung in der Inszenierung. Nicht umsonst lässt Fischer-Lichte ihre Analyse mit einer ausführlichen Beschreibung der Handlung des Dramas beginnen, in der die Rollen und Beziehungen der dramatis personae behandelt werden.6 Weiterhin lässt sich aus der exemplarisch angeführten Passage schließen, dass in dem Schreiben eine Tendenz zum Festschreiben vorliegt. Es werden Schlussfolgerungen gezogen, die den »Charakter« festlegen, den Handlungen der Schauspieler »eine Bedeutung zu[...]sprechen«7. FischerLichte unterstreicht selbst, dass es in ihrem semiotischen Schreiben eine Tendenz zur »Festlegung«, zum »Festhalten«8 gebe. Weiterhin deutet sich in dem gewählten Textausschnitt die Richtung des Schreibens an – nämlich primär in Richtung des Charakters bzw. der Umsetzung der Rolle. Auch in einer anderen Passage wird dies deutlich: »Der Arzt steht sowohl im I. als auch im II. Akt jeweils in der Relation einer Äquivalenz zu der Gruppe von Personen, mit der er auftritt, zunächst als Arzt im zeitgenössischen Anzug, dann als Abt Hugo von Cluny in historischem Kostüm. Im III. Akt dagegen besteht eine Äquivalenz nur noch zu Belcredi, zu den allen übrigen Personen auf der Bühne tritt er aufgrund seines modernen Straßenanzugs in Opposi-

5

Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters: Die Aufführung als Text, Tübingen: Gunter Narr 1983, S. 135.

6

Vgl. dazu ebd., S. 122f.

7

Ebd., S. 135 und 108.

8

Ebd., S. 165.

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tion. [...] Diese lediglich aufgrund der Zeichen der äußeren Erscheinung her- bzw. feststellbaren Relationen zwischen den dramatis personae fungieren als eine Art deutlich sichtbarer, sozusagen augenfälliger Basis, von der die Interaktion jeweils ihren Ausgang nimmt.«9

In dieser Analyse der äußeren Erscheinung wählt Fischer-Lichte die Bezeichnungen ›Personen‹ und ›dramatis personae‹ und analysiert insofern die Erscheinung der Schauspieler hinsichtlich ihrer Rollen. Mitunter findet sich der Begriff der »Rollenfigur«10, der die zwei Perspektiven des Schreibens expliziert: einerseits ein Schreiben hinsichtlich der Rolle im Drama, andererseits der Umsetzung der Rolle (als Figur) in der Inszenierung. Daraus kann nicht geschlussfolgert werden, dass die spezifische Leiblichkeit der Schauspieler keine Berücksichtung fände, sie wird nur anders beschrieben, nämlich immer hinsichtlich der besonderen Ausgestaltung der Rolle, die in »präzise gefassten verbalen Umschreibungen«11 deutlich wird: »Während Bertold, sein Bündel in den Armen haltend, häufig mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern eher ängstlich und abwartend daneben steht, laufen und springen sie [die Geheimen Räte] über die Bühne, wenden sich sowohl untereinander als auch Bertolt häufig körperlich zu. [...] Sie versetzen sich häufig gegenseitig einen Schlag auf die Schulter oder in den Rücken [...], sie legen einander die Hand auf die Schulter oder schlingen gar den Arm um die Schultern. Ihre lockeren, ungezwungenen Gesten und Gänge lassen auf der Subjektebene den Schluss zu, dass es sich bei diesen dramatis personae um relativ unkomplizierte, fröhliche junge Leute handelt.«12

Auch der Subjektbegriff wird nicht auf das Schauspielersubjekt bezogen, sondern auf die dramatis personae. Das Schreiben über Schauspieler, so lässt sich schlussfolgern, spielt sich somit im Spannungsfeld von Rolle und der hervorgebrachten ›Rollenfigur‹ ab. Die leibliche Erscheinung und das leibliche Handeln der Schauspieler werden im Schreiben nur insofern be-

9

Ebd., S. 129.

10 Vgl. dazu exemplarisch ebd., S. 121. 11 Ebd., S. 119. 12 Ebd., S. 132.

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trachtet, als dass sie eng mit der ›Rollenfigur‹ verknüpft und in diese Richtung festgelegt werden. Roselt spricht in diesem Zusammenhang von einem »dramaturgischanalytischen«13 Schreiben – einem Schreiben, das in der Aufführungsanalyse die im Drama formulierten Rollen hinsichtlich ihrer Umsetzung durch die Schauspieler betrachtet. In seiner Phänomenologie des Theaters praktiziert er eine andere Möglichkeit des Schreibens über Schauspieler. Roselt denkt die Analyse des Schauspielers tendenziell unabhängig von der Rolle im Drama. Mit der wahrnehmungstheoretischen Fokussierung auf den Begriff der Figur, die sich in der Wahrnehmung der Zuschauer bilde und vom Schauspieler hervorgebracht werde, findet eine deutliche Trennung von Rolle und Figur statt. Letztere wird für die Betrachtung von Schauspielern bevorzugt gewählt, lasse sich mit ihr doch die Flüchtigkeit der Aufführung aufgreifen.14 Folglich bekommt das Schreiben über Schauspieler auch einen anderen Modus, der sich exemplarisch anhand der kurzen Betrachtung der Aufführung AUGENLICHT (inszeniert von Ingo Berk, Stück von Marius von Mayenburg) erörtern lässt: »In einer dunkel und mysteriös anmutenden Wohnung treffen sich ein ca. 50 Jahre alter Mann und eine junge Frau. Sie bewegen sich nicht und stehen sich mehrere Meter voneinander getrennt gegenüber. Wo findet dieses Treffen überhaupt statt? Die Körperhaltung und das Verhalten der beiden machen deutlich, dass es sich um die Wohnung des Mannes handeln könnte. Er steht souverän im Raum [...] und fixiert die Frau. [...] Ich kann nicht mehr sagen, wo sie genau hinblickt, gehe aber davon aus, dass die Frau Gast [...] ist. [...] In der ersten Szene bin ich davon ausgegangen, dass diese Person eine Prostituierte ist, die der vereinsamte Mann zu sich ›gerufen‹ hatte. Zunächst war dies nur ein Verdacht, doch mit diesem konnte ich mir einen Reim auf die Begegnung machen. Diese Assoziation ist keineswegs abwegig. [...] Die Frau trägt ein weißes Kleid, das sehr weit ausgeschnitten ist. Ich sehe, dass sie keinen BH hat. Es könnte sich um eine Krankenschwester in einem Pornofilm handeln. Ihre Schuhe sind mit Strass besetzte hochhackige Slipper – die zu einer Putzfrau gar nicht passen wollen. [...] Spätestens in der zweiten Szene erweist sich diese Vermutung übrigens als falsch, [...] doch damit ist sie nicht gelöscht oder ungeschehen gemacht. Sie gehört zu der gemeinsamen Geschichte, die ich nunmehr

13 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 245. 14 Vgl. dazu ebd.

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mit der Schauspielerin habe und die während der Aufführung fort- und umgeschrieben wird, auch wenn Jule Böwe von meinen Gedanken nichts ahnt.«15

In dieser Passage deutet sich eine Schreibweise über Schauspieler an, die auf die prozesshaften Hervorbringungsprozesse sowie die Wahrnehmungen der Zuschauer abhebt. Nicht die Rolle, sondern die subjektive Perspektive der Zuschauer wird in dem Schreiben fokussiert, die insbesondere durch die Ich-Perspektive wie auch die subjektiven Vermutungen, Assoziationen und Imaginationen deutlich wird. Dadurch kann auch nicht im Sinn eines festlegenden Schreibens das Ergebnis eines Wahrnehmungs- oder Denkprozesses genannt werden, sondern der Prozess selbst steht im Vordergrund. »In der Aufführung begegnen sich Schauspieler, Zuschauer und Figuren nicht als Gewordene, sondern als Werdende.«16 Der Grad der Festlegung im Schreiben ist im Vergleich zu Fischer-Lichtes semiotischem Schreiben deutlich geringer. Es finden Vermutungen, Unsicherheiten und sogar Erinnerungslücken Eingang in Roselts Schreiben. Das von Roselt praktizierte Schreiben rückt die »leibhaftigen Schauspieler«17 und das Zwischengeschehen von Zuschauer und Schauspieler in den Blick, sodass das Flüchtige, die Umformungen und die Veränderungen der Schauspieler und dadurch auch der Figuren sichtbar werden. Es zeichnen sich zwei Schreibweisen ab, die in ihrer Gegenüberstellung hier zwar schematisch wirken, aber die Stoßrichtungen der semiotischen und phänomenologischen Möglichkeiten des Schreibens über Schauspieler skizzieren. Dass diese beiden Schreibweisen hier nur exemplarisch für unzählig viele andere Möglichkeiten stehen, lässt sich an Roselts Analyse der Schauspieler von Michael Thalheimers Inszenierung von Goethes FAUST II am Deutschen Theater Berlin aufzeigen. Hier verwendet er wie auch Fischer-Lichte die Rollennamen, um auch die leiblichen Handlungen der Schauspieler zu beschreiben. »Es ist Faust (Ingo Hülsmann), dessen Augen geschlossen sind, als würde er schlafen. Der Kopf ist leicht geneigt. Doch seine Körperhaltung ist aufrecht und gespannt. Dieser Faust bleibt in Form, auch wenn er müde ist. Links neben ihm sind fünf

15 Ebd., S. 246f. 16 Ebd., S. 245. 17 Ebd., S. 249.

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Männer platziert. [...] Vier solcher Herren verharren rechts davon, wo auch Mephisto zu sehen ist, der seine Körperfront wie Faust zum Publikum kehrt. Doch Sven Lehmann als Mephisto bringt Unordnung in das Arrangement. [...] Er ist merklich lockerer als der Rest der Gruppe, lehnt an der linken Wand des Kastens, belastet die Beine unterschiedlich und verzichtet auf die breitbeinige Pose. So einer ist immer dabei, gehört aber nie dazu. Diese Figur scheint es nicht nötig zu haben, sich in Szene zu setzen und schaut selbst aus dem Rahmen heraus. Der Teufel hat es auf das Publikum abgesehen.«18

In dieser Schreibweise zeigt sich, dass das phänomenologische Schreiben über Schauspieler durchaus vom semiotischen Schreiben geprägt sein kann, finden doch auch die Rollennamen Verwendung, wenn leibliche Wirkungen von Schauspielern beschrieben werden. Hierbei wird jedoch trotzdem die individuelle Körperlichkeit akzentuiert sowie deren Auswirkung auf die Wahrnehmung der Figur. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu dem im Rahmen dieser Arbeit praktizierten Schreiben werden nach den in diesem Kapitel im Zentrum stehenden Schreibversuchen tiefgehend erarbeitet. Auf diese Weise kann die Praxis des Schreibens über unbegreifbare Performer mit den bestehenden semiotischen und phänomenologischen Schreibweisen verglichen werden. Zunächst muss jedoch auf eine viel grundlegendere Beobachtung eingegangen werden: In Roselts phänomenologischem Schreiben deuten sich Schwierigkeiten des Schreibens über Schauspieler an, die die Frage aufkommen lässt, inwiefern das Schreiben über Schauspieler und Performer auf gemeinsamen Wurzeln basiert. Diese Frage gilt es im Folgenden zu diskutieren. Schwierigkeiten des Schreibens über Schauspieler Bei Roselts Schreiben über Jule Böwe in der Aufführung AUGENLICHT zeigen sich Schwierigkeit des Beschreibens und Analysierens von Schauspielern. Er thematisiert nicht nur Erinnerungslücken, sondern hebt das Problem hervor, dass das Schreiben mit einem Flüchtigen zu tun hat, einem sich ständig Verändernden. Das Ausstellen des Werdens, das auch mit einem Revidieren von Vermutungen einhergehen kann, unterstreicht die Schwie-

18 Ebd., S. 301.

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rigkeit, im Schreiben ein festes sprachliches Äquivalent für das Sichzeigende zu finden; so ist es auch kein Wunder, dass Roselt zusätzlich eher einen vorläufigen und vermutenden Duktus wählt – wie es besonders durch die Wahl des Konjunktivs deutlich wird. Er geht davon aus, die Identität von Schauspielern sei ein »flüchtiges Gebilde« und »eine Art Provisorium«19. Beim Schreiben über FAUST II spricht er sogar von »fremde[n] Posen« und der Schwierigkeit, »sie nachträglich zu beschreiben«20. Schon Lessing sah das Transitorische als ein grundlegendes Problem an, das das Schreiben über Schauspieler ungemein kompliziert werden lässt. »Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da, und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhaftern Eindruck auf jenen gemacht hat.«21

Sowohl die Aktionen der Schauspieler als auch die Wahrnehmungen und Erinnerungen der Schreibenden konfrontieren mit Schwierigkeiten des Versprachlichens. »Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen.«22 Nicht nur unbegreifbare Performer, auch Schauspieler konfrontieren mit schwerwiegenden Problemen des Versprachlichens. Auch ihre Präsenz kann sich im Sinn eines von Pavis betonten »je ne sais quoi [Herv. i.O.]«23 zeigen. Jane Goodall bezieht sich in ihrer Poetik schauspielerischer Präsenz

19 Ebd., S. 248. 20 Ebd., S. 304 und 305. 21 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke (= Dramaturgische Schriften, Band 4), hrsg. von Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 1973, S. 234. 22 Ebd. 23 Pavis, Patrice: Dictionnaire du Théâtre, Paris: Messidor 1987. – Vgl. dazu die englische Übersetzung Pavis, Patrice: Dictionary of the Theatre. Terms, Concepts, and Analysis, Toronto/Buffalo: University of Totonto Press 1998, S. 285.

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auf den von Joseph Roach betonten »shift to a focus on absence«24, sodass auch mit Roach von einem schwer zu fassenden »It [Herv. i.O.]«25 schauspielerischer Präsenz gesprochen werden kann. »There is a certain quality, easy to percieve but hard to define, possessed by abnormally interesting people. Call it ›it‹.«26 Dieses kaum zu umschreibende ›Es‹ hebt das Absentische im Präsentischen des Schauspielers hervor. Immer bleibt ein ›Es‹, das sich zu entziehen droht. »There is always something missing, and the quest for presence is itself an expression of lack.«27 Auch im deutschsprachigen Diskurs wird die Körperpräsenz mitunter mit Absentischem verbunden – wie beispielsweise bei Lehmann, Siegmund und Siouzouli –, jedoch in den genannten Positionen mit einer noch größeren Radikalität als bei Goodall, die davon ausgeht, körperliche Präsenz sei »far from being inexplicable and untellable«28. Lehmann betont die Absenz in der Präsenz, indem er behauptet, zum »lebendigen Körper« erhielten wir »keinen Zugang«29. Körperpräsenz sei als eine »schwebende[...], schwindende[...] Anwesenheit« zu verstehen, die mit einem »Erfahren des Versäumens« und des »Entgleiten[s] der Präsenz [Herv. i.O.]«30 konfrontiere. Kein Wunder, dass er Körper zur »Schlachtline, zum Kampfplatz, zur verstörenden Energie« deklariert und Körperpräsenz im Theater als »Abwesenheit, Bruch und Entzug, als Verlust, Vergehen, Nichtverstehen, Mangel, Schrecken«31 fasst und insofern in die Nähe Jean-Luc Nancys rückt, der den Körper in der Kunst und Kultur als »ein Monstrum« versteht, »das sich nicht schlucken lässt«32. Worin könnte nun diese Problematik des Beschreibens und Analysierens von Schauspielern begründet liegen? Inwie-

24 J. Goodall: Stage Presence, S. 6. 25 J. Roach: It, S. 1. – Vgl. auch ebd., S. 7. 26 Ebd., S. 1. 27 J. Goodall: Stage Presence, S. 5. 28 Ebd., S. 7. – Vgl. dazu H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater; G. Siegmund: Abwesenheit; Siouzouli, Natascha: Wie Absenz zur Präsenz entsteht. Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy, Bielefeld: transcript 2008. 29 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 442. 30 Ebd., S. 260, 258 und 260. 31 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 17 und 13. 32 J.-L. Nancy: Corpus, S. 10.

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fern rücken diese Schwierigkeiten in die Nähe unbegreifbarer Performer? Wie zeigen sie sich bei unbegreifbaren Performern? An Schauspielerkörpern kristallisieren sich mehrere, sich überlagernde performative Prozesse. Die von Anne Fleig herausgearbeitete »Wechselwirkung von Einschreibung und Re-Aktion, von ›natürlicher‹ Materie und ›künstlicher‹ Inszenierung«33 kommt an ihnen zum Ausdruck. Einerseits lassen sie sich im Sinn Foucaults als offen zur Umwelt verstehen, als »Einschreibefläche kultureller Muster, Normen und Disziplinierungen«34, in die sich zahlreiche Bedeutungen eingeschrieben haben und sich auch weiterhin in einem permanenten Werden und Verändern einschreiben. Andererseits wären Körper nicht nur als Produkt zu verstehen, sondern eben auch als Akteure, die durch ihr leibliches Handeln bewusst Wirkungen erzeugen und durch Prozesse des Inszenierens ihre Körper immer auch anders erscheinen lassen können – also eine Eigendynamik besitzen, die Fleig der von Foucault eher als passiv gedachten Vorstellung des Körpers entgegenhält.35 Durch inszenatorische Akte bringen sie etwas hervor, das jedoch nicht losgelöst von schon bestehenden Manifestationen zu denken ist. FischerLichtes Begriff der Verkörperung deutet dies an: Der Körper wird zum »existentielle[n] Grund«36 jeglicher performativer Akte des Hervorbringens. Auch Roselt betont diese Besonderheit der analytischen Betrachtung von Schauspielern:

33 Fleig, Anne: »Körper-Inszenierungen: Begriff, Geschichte, kulturelle Praxis«, in: Erika Fischer-Lichte/Dies. (Hg.), Körper-Inszenierungen: Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen: Attempto 2000, S. 11. – Vgl. dazu auch Barkhaus, Annette/Fleig, Anne: »Körperdimensionen oder die unmögliche Rede von Unverfügbarem«, in: Dies. (Hg.), Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München: Wilhelm Fink 2002. 34 A. Fleig: »Körper-Inszenierungen«, S. 8. 35 Vgl. dazu ebd., S. 11. 36 Fischer-Lichte, Erika: »Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff«, in: Dies./ Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 15.

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»Schauspielerische Arbeit ist ein Vorgang besonderer Art. Sie bringt nichts hervor, was von der Person des Schauspielers oder der Schauspielerin abzulösen ist, sie ist immer untrennbar mit dieser verbunden.«37

In der betonten Spannung aus Einschreibung und Re-Aktion können Körper nicht als stabil gedacht werden, was die Analyse vor zusätzliche Schwierigkeiten stellt. Es müssen Körpertransformationen betrachtet werden, transitorische und performative Dynamiken, die immer in Bewegung begriffen sind. Ein weiteres grundlegendes Problem analytischen Herantretens an Schauspieler ist die wahrnehmungstheoretische Situation, dass Körper Körper betrachten. Zuschauende erfahren in ihrer körpergebundenen Wahrnehmung andere Körper, die wiederum auf die eigene Körperlichkeit zurückweisen. Es ist eine interkorporelle Begegnung, eine »zwischenmenschliche Relation«38, in der das Eigene im Erfahren oder Erinnern des Anderen stets mitschwingt. Es sei unumgänglich, so auch Roach, die schauspielerische Präsenz immer auch hinsichtlich der eigenen Präsenz zu betrachten. »It cannot be discussed intelligibly apart from [...] its reception.«39 Es komme regelrecht zu einem komplizierten »intertwining of self and other«40. Dieses Verwobensein führt dazu, dass »[i]n unserer Rolle als Zuschauer [...] Selbst- und Fremderfahrung eigentümlich ineinander« spielen und es zu einer »fundamentale[n] Verunsicherung«41 kommen kann. Ein Schreiben über Schauspieler ist somit ein Schreiben, das im wahrsten Sinne des Wortes ›unter die Haut‹ geht, da es das Eigene direkt angeht. Insofern kann behauptet werden, dass Schauspieler auf intensivere Weise berühren können als beispielsweise unbelebte Räume oder Objekte, da sie in der Begegnung und durch die Begegnung immer auch die Selbstwahrnehmung aufgreifen. Weiterhin könnte diese These noch eine Verstärkung finden, betonte man, dass die Erfahrung der Körper von Schauspielern in Aufführun-

37 Roselt, Jens: »Schauspielen heute. Vorwort«, in: Ders./Christel Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 13. 38 Ebd., S. 12. 39 J. Roach: It, S. 11f. 40 A. Jones: Body Art, S. 38. 41 J. Roselt: »Schauspielen heute«, S. 12 und 11.

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gen auf eine leibliche Ko-Präsenz zurückgeht, die leiblich gespürt wurde und insofern auf intensivere Weise als beim Film oder Fernsehen Erfahrende leiblich angeht. All die genannten Schwierigkeiten des Betrachtens von Schauspielern treffen auch auf unbegreifbare Performer zu. Sie verweisen auf gemeinsame Wurzeln des Schreibens. Nicht nur bei unbegreifbaren Performern, auch beim Schreiben über Schauspieler schwingt immer ein Nicht-zu-Stellendes mit. Trotz dieser gemeinsamen Wurzeln stellt sich das Schreiben über unbegreifbare Performer als ein Neues und Anderes heraus, das zwar auf dem Schreiben über Schauspieler gründet, sich von diesem jedoch abhebt. Eine Besonderheit ist schlichtweg diejenige, dass die hier im Zentrum stehenden Performer generelle Probleme des Beschreibens und Analysierens von Schauspielern auf die Spitze treiben. Gleichfalls ist das Schreiben mit Körpertransformationen konfrontiert, die jedoch nicht nur in Bewegung sind, sondern sich in eine intensive Bewegtheit steigern und ein radikal bewegtes und bewegendes Schreiben erzwingen. Diese Bewegtheit lässt das eigene Verwobensein mit dem Performer besonders hervortreten. Es wirft die Wahrnehmenden auf ihre eigene Körperlichkeit, ihr eigenes Wahrnehmen und Erinnern zurück, konfrontiert sie mit Erfahrungen tiefer Verunsicherung, Überforderung und Irritation, die die wahrnehmende, erinnernde und schreibende Begegnung zutiefst prägen. Die Schwierigkeiten des Versprachlichens werden nicht nur sichtbar, sondern rücken in den Kern der Auseinandersetzung. Jedoch spielen noch weitere Spezifika eine Rolle, die das Schreiben über unbegreifbare Performer von dem Schreiben über Schauspieler abhebt, wie beispielsweise die Dimension des Nachwirkens. Diese trifft zwar auch auf die Analyse von Schauspielern zu, erhält beim Unbegreifbaren aber eine verstärkte Akzentuierung, sodass sie im Schreiben besonders berücksichtigt werden muss. Dieser Gedanke wird in diesem Kapitel noch vertieft. Insgesamt wird nun das Besondere der Analyse unbegreifbarer Performer herausgearbeitet. Dies wird in diesem Kapitel nicht nur auf methodisch-theoretischer Ebene erörtert, sondern auch in der Praxis erprobt. In Schreibversuchen soll die Frage praktisch erschlossen werden, um sie anschließend – auch in Rekurs auf die Schreibweisen über Schauspieler – zu diskutieren.

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Performer schreiben als Probe Über die Praxis des Beschreibens werden nun Schreibweisen gesucht, ausprobiert, getestet, angewandt und anschließend reflektiert. In diesem Prozess des Probierens geht es ausdrücklich um die jeweilige Erscheinung der Performer, die die Richtschnur darstellt, an der sich die Schreibweisen orientieren. Hierbei handelt es sich nicht um ein ›blindes‹ Anwenden der bisher entwickelten Schreibweisen. Vielmehr sind die Performer der Ausgangspunkt jeglichen schreibenden Bezugnehmens. Die im zweiten Kapitel erörterten Schreibweisen, von denen es bestimmt noch unzählige weitere gibt, sind somit nur Möglichkeiten, die je nach Performer variierend, kombinierend, ändernd angewandt werden können. Keinesfalls stellen die folgenden Schreibversuche Modellanalysen dar. Wie auch bei Pollock geht es nicht um eine Standardschreibweise, die antrainiert oder gelehrt werden könnte, sondern vielmehr um Schreibweisen, die eine je spezifische Verbindung von Sprache und Lesenden schafft. Keinesfalls ist von einer »homogenization of language«42 auszugehen, die auf erlernten, verallgemeinerbaren Schreibtechniken oder -tools basiert. Ganz im Gegenteil muss immer wieder neu auf eine Begegnung mit Performern schreibend reagiert werden. An dieser Stelle sei bereits erwähnt, dass der Schreibversuch zu HEY GIRL! eher mit sprachlichen Strategien arbeitet, die auf ein imaginatives Hineinversetzen abheben, während beim Schreiben über Steven Cohen eher das Nachdenken hervortritt. Durch das immer wieder neue Einstellen auf die Begegnung mit Performern, ergeben sich immer wieder neue und andere Schreibweisen wie auch ein immer wieder neues und anderes Verhältnis von Beschreibung und Analyse. So finden sich beim Schreibversuch zu HEY GIRL! ausführliche Beschreibungen, die zunächst für sich stehen und nicht schon wie beim Versuch zu THE CRADLE OF HUMANKIND eng mit analytischen Passagen verflochten sind. Insofern steht der Versuchscharakter im Vordergrund. Schreiben wird als ein Probieren angesehen, ein Versuchen und Testen, wie man unbegreifbaren Performern beschreibend und analysierend begegnen könnte. Der Forderung, es dürfe keine vereinheitlichende Schreibweise geben, steht gegenüber, dass natürlich alle Schreibenden einen gewissen Stil mit in

42 D. Pollock: »Performing Writing«, S. 77.

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den Prozess des Schreibens bringen, einen Stil, der vielleicht Wiedererkennbarkeit oder charakteristische Merkmale besitzt, die immer wieder auftauchen. Jeder Schreibende hat eine Schreibweise mit wiederkehrenden stilistischen Merkmalen. Auch die folgenden Schreibversuche sind davon geprägt; es kann nicht verhindert werden, dass wiederkehrende sprachliche Stilmittel zur Anwendung kommen, die charakteristisch für meine Art und Weise des Schreibens sind. Dies könnte den Eindruck erwecken, man hätte nur die eine, sich ständig wiederholende Schreibweise. Dem steht jedoch gegenüber, dass eine Praxis des Schreibens in Nähe zu je neuen und eigenen Ansätzen des Schreibens führt. Dies ermöglicht, gegen den Eindruck zu arbeiten, es gäbe nur eine Form des Schreibens über unbegreifbare Performer. Es wird sich zeigen, dass trotz der je eigenen Art und Weise des Schreibens, die sich unvermeidbar in die Texte einschreibt, jeder Gegenstand ein eigenes und besonderes Schreiben erzwingt. Deshalb erscheint es bei der Lektüre sinnvoll, gerade auf die sprachlichen Verschiebungen zu achten, um das jeweils Neue und Andere der entstandenen Texte nachvollziehen zu können. Es folgen nun Beschreibungen und Analysen von Begegnungen mit Performern im Theater und in der Kunst. Performer aus dem Bereich der Kultur bzw. Lebenswelt wurden schon thematisiert. Die Untersuchung von Performern im Theater, in der Kunst und Kultur geht nicht von der Annahme aus, es gebe keinen Unterschied zwischen Theater, Kunst und Kultur. Weil das Schreiben den je spezifischen Moment der Begegnung mit Performern aufgreift, lassen sich gleichsam Phänomene des Theaters, der Kunst und der Kultur betrachten. In der Forderung, dass das Schreiben das je Eigene der Begegnung mitschreiben muss, ist also gerade auch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Kontexte der Begegnung berücksichtigt.

2. S ILVIA C OSTA PERFORMT IN ›Hey Girl!‹ (R EGIE : R OMEO C ASTELLUCCI ) Eine Performance wird nun im Zentrum stehen, die das Entwerfen und Schreiben der hier vorliegenden Arbeit grundlegend beeinflusst hat und weiterhin zu verändern vermag. Als sich beständig verändernde, nachhängende Erinnerung schwang und schwingt sie immer mit. Es handelt sich um die Performance HEY GIRL! in der Regie von Romeo Castellucci beim To-

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kyo Arts Festival 09. Darin sticht Silvia Costa als Performerin hervor, liegt doch der Fokus in fast jeder Szene auf ihr. Während der Performance sah ich mich mit einer Erfahrungswelt konfrontiert, die zunehmend intensiver und komplexer erschien, sich immer mehr entzog. Drei Szenen hängen auf besondere Weise nach. Ich erinnere sie als besonders eindrückliche ›Bilder‹, die sich trotz ihres hartnäckigen Ins-Gedächtnis-Brennens radikal der Greifbarkeit entziehen. Im folgenden Schreibversuch werden Schreibweisen Anwendung finden, die versuchen, die entstehende Intensität des Unbegreifbaren durch verschiedene sprachliche Strategien und ein individuelles Verhältnis von Beschreibung und Analyse aufscheinen zu lassen. Eins 11. März 2009 – Nebelschwaden hängen in der Nishi-Sugamo Arts Factory. Sie dringen schon über die Tribüne hinweg ins Foyer. Zuschauer bilden eine lange Schlange am Eingangsvorhang. Gleich beginnt die Performance HEY GIRL! des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci (Socìetas Raffaelo Sanzio), seine erste Performance, die auf dem internationalen Performing Arts Festival Tokyo gezeigt wird. Ich nehme meinen Platz ein. Die Bühne ist dunkel. Nebelschwaden verdecken die Sicht. Das Zuschauerlicht dimmt herunter: Black. Es beginnt. Da ist etwas – aufblitzendes Neonlicht – ein Tisch mit einer schleimigen Masse, wabernd, bräunlich – ich weiß nicht – hautfarben, steriles Neonlicht von oben. Was ist da was? Irgendetwas ist da in Bewegung unter dem tropfenden, ekligen Schleim. Ein seltsames Gebilde – ein Körper vielleicht? Ein Körperteil zerfließt – so etwas wie eine Hand – tropft mit Schleim auf den Boden. Ist da – da ist – nein, nichts, nur Gallertmasse, tote Körperformen in Bewegung. Doch, da ist eine Hand, Haut, glänzende echte Haut, Beine angezogen: da ist ein Körper, nackt, die Wirbelsäule nach vorn, rund, Wirbel zeichnen sich ab. Der Körper richtet sich auf, langsam nach oben, knöcherne Wirbelsäule nach vorn, gebückt, rund. Ist das – männlich oder weiblich? Eklig und sciencefictionmäßig – ein fremdes Wesen, gebückt am Rumsitzen, kopflos am Tischrand. Ist das – ja – eher weiblich, ein jugendlich schmaler Körper, glänzend, ölig, schwach. Atem. Dünne Arme streichen den Schleim weg, unkoordiniert, seltsam angewinkelt vom Rücken weg. Sie fällt nach vorn, liegt auf dem Boden wie tot, zusammengerollt, zusammengebrochen. Dann – da ist es wieder – Atem. Schwach, unregelmäßig, leise. Aber nun immer heftiger. Atem – Atem –

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schneller und schneller. Sie will – ja sie richtet sich auf – langsam, unsicher, schwach, und jetzt? Sie hat es geschafft, schlaffe Arme und Beine. Zittrige Beine kurz vor dem Zusammenbruch. Hinten in der Bühnenmitte ein schwacher Lichtkegel. Zittrig, langsam geht sie dort hin, schwere Schritte, ungelenk. Sie – jetzt – aber hat sie – sie hat einen Arm in der Luft – einen Arm streckt sie in die Luft mit einer Faust so einer fest geballten Faust streckt sie ihn in die Luft – und – was ist das? – da – schwarz gefärbte Faust oder ein schwarzer Handschuh – kein Wimmern mehr. Sie wimmerte doch zuvor? So ein schwaches weinerliches Wimmern. Das ist jetzt weg. Nur die Faust in der Luft. Aber trotzdem die zittrigen Beine, unsicherer Gang, kurz vor dem Zusammenbrechen, entblößter, krummer Rücken. Jetzt stellt sie sich dahinten auf so – das sind – rosa Handtücher sind das. Der Handtuchstapel gibt nach. Ihre Haut gelblich im Licht. Sie dreht sich um. Gerader Stand nach vorn, sicher, aufrecht. Muskeln angespannt in den Schultern, Armen. Jetzt bewegt sie ihre Arme langsam auf und ab. Im gelblichen Licht schweben sie auf und ab. Als würde sie etwas beschwören, ruhige, fließende Armbewegungen auf und ab. Blonde Haare – sie fallen ins Gesicht. Ein Spiegel – da ist ein Spiegel hinter ihr, angestrahlt von einem Spot und sie – sie nimmt ihn langsam in die Hand und – es ist ein Handspiegel, ein kleiner runder Handspiegel – in einer selbstbewussten Haltung, aufrecht – Licht auf den Spiegel, es reflektiert, das Licht bricht sich im Spiegel und sie – bestimmt wird sie – ja – sie richtet es auf uns, aufs Publikum, die ersten werden schon geblendet, da vorne, sie kann uns blenden. Ihre Augen versteckt unter ihren Haaren. Sie blendet uns – damit wir blind sind – sie nicht sehen. Alles ganz ruhig und langsam und sicher und anders als vorhin. War das – das war doch eine Geburt eben. Ja, wie so ein Embryo, der sich befreit. Ein Kind wird geboren. Noch immer das Spiel mit dem Spiegel. Nein, auch anders. Sie wird nicht geboren. Sie macht es selbst, sie hat sich irgendwie selbst geboren, eher wie ein Schmetterling, der sich aus seinem Kokon aus eigener Kraft herausschält, eher so oder – wieder anders. Langsam geht sie in die Knie, erniedrigt, schwach, sie krabbelt. Dort ist ein dritter Lichtspot, auf eine runde Trommel. Sie krabbelt langsam darauf zu. Jetzt ist sie wieder eher schwach. So wie – so wie beim zittrigen Gehen. Das war wie bei einer Greisin. Oder – anders – sie war – ich weiß nicht – auch anders – wie anders? – eher auch wie ein Kind – genau Kind – ein

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Kind, das noch nicht richtig gehen kann, schwach auf den Beinen, ungelenke Schritte. Eher so vielleicht. Nun legt sie sich mit dem Bauch auf die runde Trommel. Fast kniet sie davor. Wieder Rücken zum Publikum. Mit ihrem Oberkörper schiebt sie sich leicht nach vorn und wieder zurück. Immer wieder. Sie wirkt hilflos, zerbrechlich. Wie vorhin. Nein, nicht wie vorhin. Da war doch diese Faust – sie war so – ja, eine Revolutionsfaust war das. Sie war stark, das strahlte über alles drüber, über den zittrig schwachen Körper, über die nach vorne fallenden Schultern. Und ihr Kopf – ihr Kopf – jetzt auch wieder – bei der Trommel – man sieht ihren Kopf nicht – kopflos – wie vorhin beim Sitzen, kopflosen Sitzen, vorhin auf dem Schleimtisch. Sie wirkte wie ein Alien, wie bei einer sterilen Laboranordnung. Kein Schmetterling. Keine Geburt. Nein – eher wie ein Alien, kopfloser Alien, ein synthetischer Mensch wird gezüchtet, wurde gezüchtet, befreit sich aus der Gallertmasse. Unwirklicher Körper, fremd, anders, unmenschlich, als würde der Körper am letzten Halswirbel aufhören, kopflos, sciencefictionmäßig. Sie hat – plötzlich hat sie jetzt zwei Trommelschlegel in ihren Händen. Ihre Muskeln angespannt. Wie vorhin – und jetzt – sie schlägt darauf, auf das Fell der Trommel schlägt sie darauf. Links, rechts, immer schneller. Und Ende. Ihr Oberkörper sinkt wieder auf die Trommel. Sie schluchzt, wimmert – heult sie? Wie ein schwaches Kind. War das vorhin – dieser zittrige Gang mit der Faust – war das das Erwachsenwerden. Aber sie wirkte auch alt, wie eine Greisin. Jung und alt zugleich – alles zusammen, irgendwie so. Plötzlich trommelt sie wieder. Kraftvoll. Links, rechts, links, rechts. Immer schneller. Als würde sie gegen etwas ankämpfen. Trommelt sie sich stark? Holt sie sich Kraft? Abruptes Ende. Wieder sinkt sie auf die noch vibrierende Trommel. Schluchzen, Wimmern. Genau so verbissen wie vorhin mit der Faust – dieser Kampfesfaust. Verbissene Stärke. Wieder Trommeln und Zusammensinken. Aber diese Spiegelsache da – was war das? Das passt irgendwie gar nicht. Fast statuenhaft stand sie da – wie eine griechische Skulptur. Ihre Haut gelblich durch das Licht von oben. Wie eine Ikone. Mächtig, souverän. Dann aber diese Bewegungen – engelsgleiches Schweben der Hände wie mit Flügeln auf und ab. Ruhig, sanft, nicht verbissen, nicht schwach, sondern stark. Aber auch schüchtern dazu – vielleicht auch schüchtern. Sie

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will ihre Blöße verdecken, indem sie uns blendet. Oder – nein – nicht schüchtern. Überhaupt nicht. Nun geht sie schluchzend von der Trommel weg. Sie zieht sich eine Unterhose an, dann eine blaue Jeans, zuletzt ein weißes T-Shirt. Sie bleibt auf der Trommel sitzen. Rücken wieder gekrümmt. Wie vorhin. Genau so – nur jetzt irgendwie auch traurig, erschöpft. Diese Spiegel-Engel-Skulptur-Sache hatte auch etwas Märchenhaftes. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Spiegel als Symbol der Weiblichkeit, Schönheit, Eitelkeit. Weiblichkeit als blendende Kraft. Erst das Schlüpfen aus dem Schleim, dann die rebellierende, schwarze Revolutionsfaust, darauf diese Statuen-Engels-Bewegungen im Licht, Trommeln, Wimmern, Schluchzen, Stärke, Schwäche, Macht, Schönheit, Souveränität und Märchen noch dazu. Auch das. Und Sciencefiction. Aber irgendwie auch anders, ganz anders. Wie anders – erschöpftes Sitzen. Weiter. Wie weiter? Zwei Eine Neonröhre blinkt auf. Sonst dunkel. Sie liegt vor der Neonröhre. Kurz scheint ihre Silhouette auf. Ein Zucken – ein nach oben Zucken ihres Körpers im Blitzlicht. Er knallt auf den Boden. Schmerzvoll muss das doch sein. Nur erahnbarer Körper. Liegt sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch? Fügt sie sich Schmerzen zu? Zuckendes Licht, zuckender Körper. Arme und Beine fliegen mit nach oben mit. Plötzlich sind da drei Männer – vielleicht aus dem Zuschauerraum – sie stehen vorne rechts, blicken durch eine runde Glasscheibe, die von der Decke hängt, blicken auf den zuckenden Körper. Sie ist hilflos, schwach. Was passiert jetzt? – Da wird etwas – gleich passiert etwas. Noch ein Mann taucht neben den drei Gaffern auf. Der hat etwas – einen schwarzen Gegenstand hat er in seiner Hand – ein großes Etwas. Zielstrebig geht er gefährlich, brutal auf sie zu, große Schritte, auf den zuckenden Körper zu, direkt und jetzt – das gibt es nicht – der macht das – schlägt er auf ihren Körper, holt enorm aus und schlägt mit dem schwarzen Etwas auf sie drauf. Was ist – das kann doch nicht – doch – immer weiter – brutal auf sie drauf. Ein zweiter Mann kommt – von der Seite oder wo – und hat – nein – auch dieses schwarze Aggressivding und schlägt auch. Beide hämmern wie wild, ungehemmt auf sie drauf. Und noch – noch mehr – immer mehr Männer rennen auf die Bühne – wie viele denn noch? Männermenschenmasse – sie wird umringt. Zwischen den schlagen-

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den Männerkörpern ist ihr zuckender Körper erahnbar, schwarze Männersilhouetten, und sie schwach, ausgeliefert, bedauernswert. Brutale schwarze Schläger immer weiter auf sie drauf – – – Das sind doch – das müssen – ja, das sind Kissen – schwarze Kissen müssen es sein. Schlagen und Schlagen. Erst jetzt sind da diese Höllengeräusche. Waren schon die ganze Zeit da. Laut. Unheimlich drüber. Durchatmen. Endloses Weiterschlagen mit Kissen. Zeit. Ein bisschen Zeit. Jetzt. – – Schultern runter. Meine Schultern runter. Eintrittskarte zerknickt in der Hand. Da war so viel eben. Ganz viel. Mit – ja. Alles verdichtet sich, kommt zusammen. Genau jetzt. Vorhin, davor hat sie sich auf das hier vorbereitet. Wie in einem Ritual. Da lag ein Schwert auf dem Boden. Zunächst lag sie da lässig daneben. Ihre Füße locker übereinander, lässig, frech wackelnd als würde sie warten. Freches Wackeln. Dann richtete sie sich auf. Wie in einem Ritual. Vorbereitungsritual. Vorbereitung auf den Tod, die bevorstehenden Qualen. Vorbereitung auf die schwarze Männermasse. Auf die patriarchalische Gesellschaft. Vielleicht das. Sie kniete vor dem Schwert, färbte ihre Lippen mit einem roten Lippenstift. Mit Blick ins Publikum. Grelles Rot. Lächelte sie ins Publikum? Dann – ja – sie lehnte den Lippenstift an das Schwert und – genau – es dampfte. Das Schwert war wohl brennend heiß. Da verdampfte etwas. Eine Rauchwolke nach oben. Dann nahm sie ein kleines Parfümglas, tupfte den Glasdeckel an ihren Hals und – wieder das Köpfen – sie fuhr mit dem Deckel an ihrem Hals entlang, in einer Linie als würde sie sich köpfen oder die Stelle ihrer Köpfung markieren. Ja, wegen des Schwerts kommt das Bild zustande, wegen des riesigen Schwerts und weil sie später etwas redete, sie sagte etwas so etwas mit Köpfen, mit, mit – Die Schlagen noch immer auf sie ein. Höllengeräusche. Neonblinken. Unaufhörlich. Sie sagte etwas THESE ARE THE QUEENS – genau – THESE ARE THE QUEENS WHO LOST THEIR HEADS – ganz leise flüsterte sie das und kniete vor dem Schwert, Arme nach vorn, Pulsschlagadern nach vorn und vorher hatte sie doch das Parfüm über das heiße Schwert geschüttet. Es verdampfte in einer Rauchwolke. Weibliche Symbole. Rot, Parfüm. THE-

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SE ARE THE QUEENS WHO LOST THEIR HEADS ON ACCOUNT OF THE PEOPLE. Ist es Wut? Oder Hass? Abrechnung? MARIE ANTOINETTE, MARY STUART und wer noch? – CATHERINE II OF RUSSIA – aber es waren noch mehr. Und sie zeigte ins Publikum mit ihrem Finger, ausgestreckter Zeigefinger, anklagend ins Publikum, durch die Reihen streifend. Sie gibt uns Schuld – vielleicht. Die geköpften Frauen, das Abtrennen des Kopfes – wie vorhin beim Sitzen, beim kopflosen Herumsitzen auf der Trommel und auf dem Schleimtisch. Da wurde es schon angedeutet. Genau. Aber nicht nur das. Da war noch mehr. Nicht nur Anklage, nicht nur weibliche Anklage. Auch diese Rittersachen. Das Liegen neben dem Schwert hatte etwas von einem toten Ritter. Wurden nicht Ritter in dieser Position beerdigt? Nein, das Schwert müsste auf ihr liegen, nicht daneben. Aber ihre Hände waren überkreuzt, ritterlich über der Brust überkreuzt, wie bei einem Leichnam. Sollte das vielleicht ihren Tod verdeutlichen? Aber das Liegen hatte auch etwas von einem frechen Teenager, einem wartenden Teenager. Und dann später nach dem Sprechtext hat sie sich doch einen rosa Umhang umgeworfen, wie bei einem Ritter, zuvor hatte sie sich ein Kreuz in den Umhang gebrannt, durch das heiße Schwert hinein gebrannt und umgehängt. Und dieses In-die-Knie-Gehen mit dem Schwert in der Hand, wie ein Ritter, der den Ritterschlag bekommt. Nicht weibliche Anklage – sondern mittelalterlich ritterlich. Nicht nur Symbole der Weiblichkeit. Das schwarze Hämmern auf ihren Körper hört gar nicht mehr auf. Jetzt reicht es aber. Einmal – stimmt – ich musste lachen. Sie sagte I HATE SYMBOLS AND ALL THAT MEDIEVAL SHIT. Aber jetzt die Männermasse, der männliche Blick, die ausgelieferte Frau – vielleicht die patriarchalische Gesellschaft, die Brutalität und das Ausgeliefertsein der Frau, aber nein, nicht nur so – auch das Gegenteil: die Stärke der Frau, ihre souveränen Blicke ins Publikum. Aber die mittelalterlichen Ritterschwertsachen? Endlich hören die Männer auf. ENDLICH. Gesenkte Köpfe. Plötzlich wirken sie wie eine Trauergemeinde. Sie stehen vor einem geöffneten Grab. Plötzlich blitzt die Bühne in einem roten Licht auf. Und nochmal – nein – sie beginnen wieder, sie schlagen wieder auf sie ein. Aber – gut – nur kurz, nur kurz. Endlich Ende. Die Männermasse geht langsam in den Bühnenhintergrund, langsame Schritte rückwärts, sie reihen sich auf wie ein Chor, eine mehrreihige Männerwand. Das Licht wird heller. Sie schluchzt, steht auf, wimmert, Schul-

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tern und Kopf hängen wieder nach unten. Irgendetwas stimmt nicht – ihr Körper – er ist so strichmäßig, so dünn, so klein. Was ist – nein es ist ihr Kopf – genau – er ist riesig, übernatürlich groß. Das muss ein Pappmascheekopf sein, eine Abbildung ihres Gesichts. Und wieder diese Geste: ausgestreckter Zeigefinger ins Publikum, beschuldigend, sie deutet durch die Reihen, schweift von rechts nach links. Sie gibt uns die Schuld. Drei Sie steht vorne, nur ihr Oberkörper und Kopf im schwachen Licht. Silbern schimmernder, nackter Oberkörper, eine silbrig glänzende Faust. Wieder die Faust, nicht schwarz, sondern silbern. Die Faust fällt auf. Sie liegt auf der anderen Schulter, ihr Arm vor dem Oberkörper verschränkt. Plötzlich ein lautes Geräusch, grell und schneidend. Ein grüner Laserstrahl blinkt auf, kommt von oben links, bewegt sich suchend über die Bühne, grellgrün, schneidend-laut. Er findet ihren Körper – brutal – bewegt sich von unten nach oben, bleibt an ihrer Schläfe. Stechend penetrant und laut. Im Hintergrund der Bühne Wortprojektionen. Fast unleserlich schnell wechselnde Wortkaskaden. Langsam hebt sie die Silberfaust an, streckt sie in die Höhe zu einer – ja – Siegergeste, Geste der Stärke oder Kampfesgeste. Eine eiserne Faust. Aber irgendwie nicht so stark wie vorhin – nein – anders, irgendwie ruhiger, vielleicht resignativ oder schwach. Die Bewegung war fast zeitlupenmäßig – also eher schwach, traurig. Vielleicht erstarrt? Aber ihr Körper wie eine Rüstung. Starke Rüstung. Wie vorhin. Da hat sie die andere Performerin mit ihren Händen mit silberner Farbe angemalt, silbern über ihre dunkle Haut drüber. Die Frau, die sich rüstet. Die andere Performerin stand genauso wie sie auf den rosafarbenen Tüchern wie eine Skulptur – mit dem Spiegel – aber nur ihre Oberschenkel, ihr Bauch und Oberkörper silbern, ihr Kopf verschluckt von der Dunkelheit. Jetzt senkt sie die Faust wieder. Gleiche Pose wie vorher. Worte wechseln rasend. Wieder rittermäßig, aber auch wieder wie in einem Sciencefictionfilm wie am Anfang und in dieser anderen Szene. Da rannte sie von links nach rechts. Stimmt – ja. Aufblinkende Lampen, links und rechts der Bühne, darauf stand L und R, in Rot und Weiß. Es blinkte auf, mal links, mal rechts und sie – sie musste dem Licht folgen, wurde gehetzt, immer schneller vom Licht nach links nach rechts getrieben.

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Aber was war mit – mit dieser Sklavenszene mit dem Stroh und dem Mann im Zylinder? Wurde die andere Performerin verkauft? Und das Ablegen des riesigen Pappmascheekopfes, wie bei einer Köpfung, aber dann hatte auch irgendwann die andere Performerin Silvia Costas Kopf auf. Und das Zerplatzen der runden Glasscheiben, die von oben heruntergelassen wurden. Die Worte rasen. Der Laserstrahl brennt weiter. Wieder tiefe Höllensounds. Unheimlich. Erst schwenkte Silvia Costa eine schwarze Fahne. Und – ja – das wiederholte sich auch – die andere machte das genauso. Mit dem Schwenken dimmte das Licht. Ja – und sie riefen SWITCH OFF THE LIGHT PLEASE. Als würden sie gegen das Licht ankämpfen. Nein, nur Silvia Costa schwenkte eine Fahne, eine schwarze Fahne. Die andere schwenkte das Schwert. Wortkaskaden. Höllengeräusche. Und immer das Atmen. Silvia Costa nahm ihr den Kopf ab. Ihren eigenen Pappmascheekopf. I’m sorry. I’m so sorry. Schluchzen. Blood – Spoon – Problem – June – Paint – Video – Coffein Mit Highheels ging sie über Scherben. Von den zerplatzten Rundgläsern. Nicht Silvia Costa, die andere ging über Scherben. Water – Dog – Televison – Laser – Shame – Tourist Höllengeräusche. Penetranter Laserstrahl. Und hat sie nicht – sie hat das Schwert – ja auch hier schon wieder ist es da – sie hat das Schwert in der Hand, wie ein Stock vor ihr, abgestützt, es ist fast im Dunkel verschwunden. Nur ihr Oberkörper im Licht. Das Schwert von vorhin – wie sie auf dem Boden lag, Parfüm darüber goss. Stechender Lasersound. Hinten stürzt eine Wand um. Nur kurz sichtbar in einem blitzenden Licht.

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Dann – da ist – da wird ein Portrait eines Mannes hochgezogen, von unten hochgeklappt, falsch herum. Gemaltes Gesicht. Riesengroß. Altes Gemälde. Mann mit Turban. Sie geht aus dem Licht. Vor dem Bild – da ist auch die andere. Sie umarmen sich davor. Silvia Costa wieder mit dem Rücken zum Publikum. Abdunkeln. Leiser. Angespannte Stille. – – Die Dunkelheit ist zu lang. Es ist wohl – ja es ist – Ende, zu Ende. Jetzt. – Applaus. Das Zuschauerlicht geht an. – Das gibt es doch nicht: einige Japaner sind in den ersten Reihen eingeschlafen. Das gibt es doch nicht. Aber die Japaner schlafen überall. In der U-Bahn, im Nudelrestaurant in der Mittagspause, im Konzert. Das muss nichts heißen. Trotzdem, bei dieser Performance einschlafen, wegnicken? Unglaublich. Verbeugen, Applaus. Die Bühne ebenfalls hell erleuchtet. Links der Tisch mit der wabernden Masse, noch immer langsam tropfend. Überall Scherben auf dem Bühnenboden und hinten der umgedrehte Männerkopf. Vorne mittig die Pappmascheeköpfe von Silvia Costas Gesicht. Ich bleibe angespannt sitzen. Ein Post-Performance-Talk mit Romeo Castellucci ist angekündigt. Beifall. Verbeugen. Die Statisten verbeugen sich ebenfalls. Die Szene mit den Kissen – unglaublich wie sie auf sie eingeschlagen haben. Eine der stärksten Szenen. Aber auch der Anfang, dieses Blitzen des Neonlichts über und unter dem Tisch mit der Schleimmasse. Unheimliche Orientierungslosigkeit. Was ist das? Ein Körper? Oder nicht? Ist da was? Was ist da was? Danach Nervöse Anspannung. Unbedingt muss ich darüber schreiben. Soll ich – nein, erst morgen. Versteinert bleibe ich sitzen. Viele gehen schon. Ich warte auf den Post-Performance-Talk. Morgen werde ich aufschreiben, aufzu-

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schreiben versuchen, Worte suchen, Worte zu suchen versuchen. Das Gespräch zieht an mir vorbei. Italienisch ins Japanische übersetzt. Zum Glück versteht meine Begleitung ein wenig Italienisch. Sie schreibt mit. Ich werde ihn ansprechen und nach einer Aufzeichnung fragen. Immer noch die tropfende, wabernde Masse im Hintergrund. Nach dem Gespräch gehe ich nach vorn, spreche ihn an. Zunächst zögerlich, letztendlich jedoch bereitwillig führt er mich zur japanischen Produktionsmanagerin. Sie verspicht mir, eine Kopie zu schicken. Am nächsten Tag sitze ich stundenlang auf dem Futonbett meines kleinen und engen Zimmers in Tokyo, schreibe, tippe Erinnerungen in die Tasten – eine tour de force: die Beschreibungen verschwimmen in unterschiedliche Richtungen. Wochen später bekomme ich die DVD: eine Aufzeichnung, die im vorderen Drittel des Bildes das Technikpult und die Performerin nur winzig klein zeigt und in manchen dunklen Szenen auch nur erahnen lässt. Das Schreiben geht weiter, unaufhörlich weiter, bis jetzt. Head Games Das Schreiben konfrontiert mich mit dem Problem: Wie könnte nun analytisch vorgegangen werden? Zahlreiche ungeordnete Erinnerungen treten beim Nachdenken in die Erfahrung hinein: das Trommeln – das glibbrige Schlüpfen auf dem Schleimtisch – der Laserstrahl auf der Schläfe – die aufblinkenden Lichtboxen, die die Performerin hin- und herhetzen – der Pappmascheekopf – das Markieren ihres Halses mit dem Parfümglasdeckel – ihr Schwert – der Satz THESE ARE THE QUEENS WHO LOST THEIR HEADS – und immer wieder die auf sie einschlagenden Männer. Irgendetwas muss es doch geben, das in irgendeiner Weise Ordnung in die Unordnung der Erinnerungen und Assoziationen bringen könnte. Beim Neu- und Anderslesen des Beschreibungsversuchs fällt auf, dass immer wieder der Kopf der Performerin im Zentrum zu stehen scheint. Auch bei der Formulierung der ersten Assoziationskette fällt im Nachhinein auf, dass es ihr Kopf ist, der ein Motiv bildet; oder vielleicht besser gesagt: das Geköpftsein. Sofort drängen sich weitere performative Setzungen in der Erinnerung auf, die sich um das Geköpftsein der Performerin drehen: zuallererst das schon erwähnte ›Markieren‹ ihres Halses mit dem Glasdeckel der Parfümflasche; gefolgt jedoch von weiteren Erinnerungen wie beispielsweise dem kopflos anmutenden Sitzen auf dem Schleimtisch, der Aufzählung der-

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jenigen Frauen, die geköpft wurden, und auch dem Auf- und Absetzen des übergroßen Pappmascheekopfes. Auch die letzte Szene, in der ein Laserstrahl auf ihre Schläfe gerichtet ist, könnte in diesem Kontext stehen. Während des Nachdenkens über das Geköpftsein erinnere ich mich jedoch nicht nur an Momente der Performance, sondern ebenfalls an ein Cover einer japanischen Zeitschrift, die kulturelle Veranstaltungen ankündigt. Darauf ist Silvia Costa in weißem T-Shirt, mit übergroßem Pappmascheekopf auf den Schultern und anklagender Zeigegeste zu sehen; über ihrem Kopf rankt die Überschrift ›Head Games‹. Auch die Zeitschrift, die im Ankündigungsartikel sonst sehr oberflächlich schreibt, scheint allein durch die Auswahl des Bildes das Motiv des Kopfes als eine zentrale Erfahrensdimension zu markieren: der Kopf der Performerin als dasjenige Motiv, um das sich die Performance zu drehen scheint. Während der ersten Versuche des erinnernden Beschreibens in Tokyo lag die Zeitschrift neben mir auf dem Futonbett. Jedoch nicht nur deshalb scheint die Erinnerung an das Cover aufzutauchen, sondern es hat den Anschein, als bezöge sich die Erinnerung auf einen zentralen Aspekt der Performance. Es lohnt sich also, den vielfachen ›Head Games‹ der Performerin nachzugehen. Die geköpfte, schwache Frau Werden die vielfachen Spiele mit dem Kopf aus einer analytischen Distanz betrachtet, entsteht der Eindruck, die Performerin werde in eine Opferrolle gerückt. Diese Annahme scheint sich zu erhärten, wird die Szene mit den unzähligen auf sie einschlagenden Männern thematisiert. Sie bleibt als eine der stärksten nachdrücklich in Erinnerung. Silvia Costa liegt zuckend und ausgeliefert auf dem Boden. Sie kann nichts ändern oder aufhalten. Die Szene lässt sie wie ein passives und schutzlos ausgeliefertes Opfer männlicher Gewalt wirken. Die Intensität der Szene sowie ihre unheimliche und verschlingende Atmosphäre werden durch die im Hintergrund am Boden angebrachte Neonröhre verstärkt. Die unzähligen Männer werden zu einer schattenartigen, dunklen und undefinierbaren Masse. Auch die Soundscapes des Klangkünstlers Scott Gibbons spielen in die Intensität der Szene mit hinein. Die Sounds verschlingender Ungeheuer zwischen dem stumpfen, unentwegten Aufprallen der Kissen entwickeln eine ungeheure Kraft. Jedoch liegt der entstehenden Intensität auch eine basalere Beobachtung zu Grunde: Die Szene ›steht‹ sehr lange als gewaltvolles und gewaltiges Bild auf der Bühne

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und scheint nicht aufhören zu wollen. Die extreme Dauer, in der sich scheinbar nichts verändert, führt dazu, dass während des Vollzugs der Szene Erinnerungsfragmente vorheriger Momente in die Gegenwart treten – wie zum Beispiel die Erinnerung an die Schwertszene, die in diesem Zusammenhang als eine Art Vorbereitung auf die bevorstehenden Gewalttaten erscheint; oder die Erinnerung an das Markieren ihres Halses mit dem Glasdeckel der Parfümflasche, das als eine vorausahnende Geste der Gewalt und des Geköpftseins wirkt; oder auch die Erinnerung an die Geste mit den nach vorn gedrehten Pulsschlagadern, die wie eine Geste der Bereitschaft zur Opferung verstanden werden kann. Durch das Überlagern des Gegenwärtigen durch mehrere Erinnerungsschichten scheint sich die Intensität der Szene zunehmend aufzufächern. Erinnertes wird mit Gegenwärtigem verknüpft: das Markieren des Halses mit dem gewaltigen, unaufhörlichen Einschlagen, sodass das Bild eines brutalen Akts des Köpfens entsteht. Jedoch nicht nur im Moment des Erfahrens selbst, auch im Nachhinein beim erneuten imaginativen Hineinversetzen vermag die lang andauernde Szene eine Schlüsselszene zu sein, auf die sich die ersten Szenen hinbewegen. Insbesondere durch die Szene mit dem Schwert hat es den Anschein, als würde sich die Performerin auf die bevorstehende und unabwendbare Gewalt vorbereiten. Mit Insignien von Weiblichkeit – rotem Lippenstift und Parfüm – bereitet sie sich auf eine fast rituell anmutende Weise auf ihre Aussetzung der männlichen Gewalt vor. Durch den Glasdeckel an ihrem Hals, der scheinbar die Stelle der Guillotine markiert, entsteht das Bild des Opfers – ein Bild einer fast schon rituellen Opferung der Frau, die dann in der Szene mit den unzähligen Männern vorgenommen zu werden scheint. Durch die ruhigen und langsamen Bewegungen mit der Parfümflasche und dem Lippenstift bekommt die Szene eine Stimmung der Resignation. Das Bevorstehende stellt sich als unabwendbar dar, sodass die Performerin wie eine schwache Frau wirkt, deren tragisches Schicksal sich nicht verhindern lässt. So sucht es sie in der Schlüsselszene heim: die Opferung oder Köpfung der schwachen Frau durch die Hände des Mannes. Hierbei scheint die Performerin auch eine Veränderung durchzumachen. Sie tritt anders aus ihr heraus. Am Ende, wenn die Männermasse eine Art Mauer bildet, die kurzzeitig die Assoziation einer Trauergemeinde weckt, bewegt sie sich mit einem übergroßem Pappmascheekopf aus der Menschenmasse heraus – ein Bild, das wirkt, als hätte sie ihren Kopf verlo-

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ren; oder vielleicht anders ausgedrückt: als hätte sie ihr eigenes Gesicht verloren. Der überdimensionale Kopf hängt schwach herunter. Er lässt ihren Körper klein, schwach und zerbrechlich wirken. Danach macht sie die erinnerungswürdige Zeigegeste ins Publikum, die auf dem Cover der japanischen Zeitschrift abgebildet ist. Der Pappmascheekopf blickt ins Publikum, ihre Hand und ihr Finger sind schwach ausgestreckt. Die Wirkung entsteht, als breche sie im nächsten Moment kraftlos und hilflos zusammen. Auch die nachfolgenden Momente kurz nach der Zeigegeste rücken ihre Schwäche in den Mittelpunkt. Sie schwenkt eine riesige, schwarze und auch schwere Fahne, die die Performerin erneut klein, ohnmächtig und kraftlos wirken lässt. Mit noch zittriger Stimme flüstert sie zunächst SWITCH OFF THE LIGHT PLEASE. Dies wiederholt sie mehrmals und immer lauter werdend bis zu dem Schrei SWITCH OFF THE FUCKING LIGHT PLEASE. Mit dem intensiver werdenden Schwenken der Fahne und dem lauter werdenden Sprechen dimmt das Licht herunter. Die Szene hebt ihre Schwäche hervor, indem sie versucht, sich in der schützenden Dunkelheit zu verstecken. Silvia Costa wirkt wie ein hilfloses, gefallenes, gesichtsloses, schwaches Opfer, das in der Dunkelheit der Bühne verschwindet. Die Verbindung der Performerin mit Attributen wie Schwäche und Zerbrechlichkeit wird auch durch die erste Szene unterstützt, in der sie auf dem Schleimtisch sitzt. Ihr Kopf fällt derart nach vorn, dass man den Eindruck bekommt, ihr Körper ende am obersten Wirbel der sich abzeichnenden Wirbelsäule. Ihr Rücken ist kraftlos zusammengesackt und die Schultern fallen nach vorn. Es entsteht das Bild eines kopflosen Körpers, das nicht nur spätere Motive des Köpfens vorbereitet, sondern die Performerin auch als eine schwache und zerbrechliche Gestalt zu positionieren scheint. Während sie sitzt, ist ein Wimmern und Schluchzen zu vernehmen. Auch das anschließende zittrige Gehen verstärkt den Eindruck der Zerbrechlichkeit. Dieser Eindruck scheint auch durch die letzte Szene der Performance gestützt zu werden, in der erneut mit dem Motiv des Kopfes gespielt wird. In der Laserszene wirkt sie, als würden die schnell im Hintergrund projizierten Wortkaskaden im wahrsten Sinne des Wortes in sie eingebrannt werden. Passiv, unbewegt und ausgeliefert steht sie dort.

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Die geköpfte, starke Frau Aber kann sie wirklich mit den Attributen der Zerbrechlichkeit und Schwäche versehen werden? Rückt das Motiv des Geköpftseins sie tatsächlich in eine passive Opferrolle? Gibt es nicht auch zahlreiche Hinweise, die in eine ganz andere Richtung tendieren? Und vielleicht sogar das Gegenteil meinen? Das Bild der geköpften, schwachen Frau scheint nicht zu passen, ruft man Momente in Erinnerung, die sie eher als starke Frau positionieren – als geköpfte, starke Frau. Schon allein in der Schwertszene, in der sie sich ruhig vorzubereiten scheint, strahlt sie eine Selbstsicherheit und Unbeschwertheit aus – weit entfernt von einer passiven Opferrolle. Ihr ruhiges und entspanntes Liegen neben dem Schwert, das Markieren des Halses mit festem Blick ins Publikum, das selbstsichere Auftragen des Lippenstiftes – all das lässt die Assoziation der Schwäche wieder in den Hintergrund rücken. Vielmehr müsste sie eher mit dem Gegenteil, mit Stärke, verbunden werden. Es könnte sogar noch weitergegangen werden: Sie könnte die Opferrolle sogar gänzlich abschütteln und eher die Rolle einer Revoltierenden einnehmen. Die revolutionäre Geste deutet sich in der Schwertszene an: Sie brennt durch die heiße Klinge des Schwertes ein Rußkreuz in das rosafarbene Bettlaken, das sie dem Publikum bewusst als ein Zeichen des Widerstandes demonstriert und sich anschließend umwirft, als würde sie sich für den Kampf, den Widerstand, die Revolution vorbereiten. Sie wird regelrecht zu einem weiblichen Ritter, zu einer Kämpferin, die auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken scheint, sich auflehnt, aufbegehrt, handelt. Sie nimmt das Schwert in die Hand, geht in die Knie, als würde sie sich selbst zum Ritter schlagen. Sie wäre nicht als passiv zu umschreiben, sondern als aktiv, revoltierend, stark. Der zentrale Moment, in dem sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger und übergroßem Pappmascheekopf ins Publikum zeigt, wird in der Erinnerung neu und anders gegenwärtig. Darin wirkt sie nicht mehr schwach, sondern das Ausstrecken des Fingers wird zu einer bewusst gesetzten Geste des Anklagens, Angreifens und des Willens. Das anschließende Schwenken der schwarzen Fahne macht aus ihr eine Märtyrerin, die nicht aufhört zu kämpfen, die sogar die Kraft besitzt, allein durch das Schwenken der Fahne und das laute und wiederholende Schreien SWITCH OFF THE FUCKING LIGHT PLEASE das Licht zu beeinflussen. Sie hat nicht ihr Gesicht verloren, sondern sie hat es bewahrt, sie tritt regelrecht stark aus den Gewalttaten

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hervor: Ihr unbändiger Wille im Symbol des übergroßen Kopfes ist größer und gestärkter denn je. Auch die Schlüsselszene wäre nicht als ein Akt des Köpfens zu sehen, in der ihre Schwäche in extremer Weise zum Ausdruck kommt, sondern vielmehr wäre die Performerin als eine mutige Frau zu verstehen, die sich der männlichen Gewalt aussetzt, die die Kraft hat, die Gewalttaten zu überstehen, und die noch gestärkt und mit Kampfeswillen aus der Szene heraustritt. Viele Momente lassen sich erinnern, die die Performerin als kraftvoll handelnd und revoltierend zeigen. Auch der subtile Moment des kopflosen Sitzens auf dem Schleimtisch könnte neu und anders verstanden werden. In ihm könnte ihre unbändige Kraft betont werden, ist sie es doch selbst, die sich aus der wabernden Masse befreit, aus der Hülle, die einen menschlichen Torso, Arme und Beine nachbildet. Der hängende Kopf wäre nur als ein Zeichen der Erschöpfung nach einer aus eigenen Kräften vollzogenen Tat der Befreiung zu sehen. Das an das kopflose Sitzen anschließende zittrige Gehen mit der in die Luft gereckten schwarzen Hand erweckt die Assoziation der Stärke und des Willens zur Veränderung, zur Handlung, zur Aktion. Die Geste wirkt fast wie ein Aufruf zur Revolution, zur Befreiung, zum Aufbegehren. Auch die Trommelszene, in der sie mit Pausen des Atmens heftig auf die Felle der Trommel schlägt und dabei ihre Armmuskulatur sichtbar wird, betont ihre Stärke. Die Geste der Revolutionsfaust taucht auch am Ende der Performance in der Laserszene auf, in der sie die silbern schimmernde Faust mit angewinkeltem Arm nach oben hebt. Verknüpft man die Szene mit den eben verfolgten Momenten der Stärke, erscheint die Performerin darin wieder neu und anders. Sie ist nicht diejenige, die passiv dem Laserstrahl ausgeliefert ist, sondern sie ist diejenige, die ihm standhält. Mit aufrechtem und teilweise silbern schimmerndem Oberkörper steht sie sicher und beinahe stolz auf der Bühne. Sie lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht ›klein kriegen‹. Nicht gebückt oder schwach, sondern aufrecht mit erhobener Faust zeigt sie den Willen zur Revolution. Verstärkt wird diese Assoziation durch die Tatsache, dass sie sich ritterlich und beinahe erhaben auf das Schwert stützt. Ihr Oberkörper, ihre Hände und ihre Faust schimmern silbern, sodass sie wie ein souveräner, starker und kampfbereiter Ritter wirkt. Sie wird regelrecht zu einer ritterähnlichen, aufbegehrenden, revolu-

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tionären Aktivistin, einer Märtyrerin, die sich zu rächen in der Lage ist, die sogar die Kraft besitzt, ihr Leben, ihren Kopf aufs Spiel zu setzen. Das Motiv des Geköpftseins scheint somit nicht die Schwäche, sondern genau das Gegenteil zu akzentuieren. Jedoch ist es nicht nur Stärke, sondern vielleicht noch mehr: auch der darüber hinausreichende Wille zur Revolution, in dem auch durchaus Momente gewalttätigen Rächens mitschwingen mögen. Aus der schwachen Frau wird die gewaltbereite Revoluzzerin. Das zentrale Moment des Zeigens ins Publikum könnte das Motiv des Rächens betonen. Unterstrichen wird das Rachenehmen durch ihre Aufzählung derjenigen Frauen, die geköpft wurden und für die sie nun gewillt ist, mit aller Gewalt und mit jeglicher Anstrengung Rache zu nehmen. Einschreiben und Ausbrechen Wird versucht, gedanklich einen Schritt zurückzutreten und die Performerin noch aus einer distanzierteren und vielleicht übergreifenderen analytischen Perspektive zu betrachten, scheinen die beiden gegenläufigen Aspekte der geköpften, schwachen Frau und der geköpften, starken Frau den Genderbegriff als Analysebegriff regelrecht notwendig werden zu lassen. Mit Judith Butler oder auch Donna Haraway ließe sich der Begriff in einem Spannungsfeld aus passiver Einschreibung von Normen und aktivem Ausbrechen aus Normen theoretisieren und auf zentrale Fragen der Performance anwenden, die sich um die macht- und gewaltvolle Beziehung zwischen Mann und Frau drehen. Die Performerin scheint die »grundlegenden Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und des Begehrens als Effekte einer spezifischen Machtformation«43 aufzuzeigen – so wie auch den Akt der Einschreibung, den »Prozess der Materialisierung«44 von Bedeutungen. Der Körper könnte als »stets zerbrechlich in der Zeit«45 verstanden werden, in dem sich unermüdlich Bedeutungen einschreiben, ablagern, der jedoch aber auch Brüche und Risse bekommen kann und Normen zu widersprechen vermag. Diese doppelte Bewegung aus Einschreiben und Ausbrechen spielt

43 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Vom Unterschied der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 9. 44 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 32. 45 Ebd., S. 302.

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sich offenbar am Körper der Performerin ab. Die Macht des Einschreibeprozesses in einer – so suggeriert es die Performance – patriarchalischen Gesellschaft wäre überdeutlich in der Laserszene dargestellt. Das könnte dahingehend interpretiert werden, dass Weiblichkeit ein Ergebnis von Einschreibeprozessen ist, wobei Frauen nicht nur als »Objekt« gesehen werden, sondern ebenfalls auch als »Subjekt«46, die nicht nur widerstandlos sind, sondern auch in den Prozess der Verkörperung eingreifen können. Silvia Costas Faustgesten, das Blenden des Publikums, das Schwenken der schwarzen Fahne wären Bilder, die in diese Richtung deuten könnten. Wird das Motiv der geköpften, schwachen Frau akzentuiert, scheint die Performance ein schwarzes Bild zu malen und die Subjekthaftigkeit der Frau und das aktive Eingreifen nicht sehr stark zu denken. Vielmehr befände sich die Performerin in einer von Butler beschriebenen »Nötigungssituation«47, in der sich die Geschlechtsidentität vollziehe. Donna Haraway denkt den Körper und die Geschlechtsidentität aktiver als Butler. Sie seien »materiell-semiotische Erzeugungsknoten«48 – eine Formulierung, die suggeriert, Körper könnten jederzeit und problemlos aus der von Butler betonten »Politik der Regulierung und Kontrolle«49 ausbrechen. Rückt man das Motiv der geköpften, starken Frau in den Mittelpunkt, werden an Silvia Costa die Machtstrukturen und die männlichen Einflussnahmen deutlich, jedoch insbesondere das Ausbrechen, das Aufbegehren, das Haraway in ihrem Genderbegriff akzentuiert. Mit Butler und Haraway lässt sich somit ein Spannungsfeld aus Einschreibung und Ausbrechen hervorheben, das – so ließe es sich auf die Performance anwenden – an und durch die Performerin verhandelt wird. Die Szene, in der sie zittrigen Schrittes, aber mit ausgestreckter Kampfesfaust in Richtung des rosafarbenen Handtuchstapels geht, danach in den runden Handspiegel blickt und darauf das Publikum blendet, könnte in dem Span-

46 Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 301. 47 Ebd., S. 305. 48 Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M./New York: Campus 1995, S. 96. 49 J. Butler: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution«, S. 316.

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nungsfeld aus Einschreibung und Ausbrechen aus Normen und klischierten Zuschreibungsprozessen gesehen werden. Gleich nach der Geburt wird ein Mädchen mit typischen Symbolen von Weiblichkeit konfrontiert – rosa Tücher, Spiegel als Symbol von Schönheit und Schönheitszwang –, denen sie sich fügen muss, gegen das es aber auch ankämpfen kann. Wird mit dem Genderbegriff die Performerin aus einer theoretischanalytischen Metaperspektive heraus betrachtet, scheint der auf den ersten Blick passende Ansatz jedoch zu kurz zu greifen. Er würde die Performerin lediglich als eine Frau stilisieren, die durch revolutionäre Gesten und Handlungen der übermächtigen patriarchalischen Gesellschaft entgegenwirken möchte. Schon allein dieser Gedanke scheint durch eine Szene hinterfragt zu werden, in der es die Performerin selbst ist, die ihrer Partnerin Handschellen anlegt, sie versklavt und dem Mann mit Zylinder ausliefert. Nicht der Mann versklavt die Frau, sondern die Frau versklavt die Frau. Wenn man nur mit den bisher verwendeten Gesichtspunkten die Performerin sehen wollte, würde mit diesem analytischen Ansatz die bestehende Komplexität und eben Unbegreifbarkeit der Performerin nicht aufgegriffen, sondern zu stark eingeengt werden. Das Sciencefictionartige der Performerin Die Frage nach Gender, Geschlechterrollen und Macht lässt zahlreiche Assoziationen in den Hintergrund rücken, die durchaus markant und prägend sind und nicht mit dem Genderbegriff zu umschreiben wären – wie beispielsweise die Assoziation der Performerin mit dem Sciencefictionartigen und Alienhaften, die insbesondere durch die erste Szene mit dem Schleimtisch, die Szene mit den aufblinkenden Lichtboxen und auch die Laserszene am Ende der Performance hervorgerufen wird. Ihre Gestalt wirkt in der ersten Szene fremd, als wäre sie nicht von dieser Welt, als wäre sie ein fremdes Wesen, das sich in einem laborähnlichen Raum aus einer seltsamen Schleimmasse befreit. Gerade die Gallertmasse und das von der Decke herunterhängende, steril-helle Neonlicht über dem Schleimtisch verstärken die Assoziation der Performerin mit einem ›unmenschlichen‹, fremden Wesen aus einer anderen Zeit oder von einer anderen Welt. Sie erscheint wie ein Alien, der seltsam verschränkte Armbewegungen macht, um die Gallertmasse vom Rücken zu streifen. Das Alienhafte scheint jedoch ein Motiv zu sein, das in manchen Momenten der Performance nur bruchstückhaft auftaucht – so vielleicht noch einmal kurz in der

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Szene, in der sie angestrahlt von gelbem Licht wie eine engelsgleiche Skulptur auf den rosafarbenen Tüchern steht und ihre goldgelb leuchtende Haut nicht mehr menschengleich wirkt. Stärker jedoch als in diesem Moment rückt das Alienhafte wieder in der Laserszene in den Mittelpunkt. Dort erstrahlen ihre Haut und ihre Faust teilweise silbern. Wobei beim längeren Nachdenken auch diese Veränderungen ihrer Hautfarbe eher in andere Assoziationsrichtungen tendieren – wie beispielsweise das Silberne einer Ritterrüstung oder eines Ritterhandschuhs oder das Goldgelbe einer ikonenhaften Statue. Das Alienhafte scheint kein Motiv zu sein, das die Möglichkeit bieten könnte, ihr zumindest ansatzweise näher zu kommen. Vielmehr lässt es die Performerin eher noch rätselhafter werden. Obwohl das Alienhafte als ein rätselhaftes Motiv im Laufe der Performance in den Hintergrund rückt, schon allein, weil sie später alltägliche Kleidung trägt, bleibt jedoch die Assoziation des Sciencefictionartigen bestehen. Insbesondere durch die Szene mit den abwechselnd aufblinkenden Lichtboxen und der Laserszene wird sie immer wieder in Erinnerung gerufen. Werden die beiden Szenen miteinander verbunden, entsteht der Eindruck, die Performerin würde regelrecht von einer übermächtigen Technologie objektiviert. Die Anordnung des auf die Schläfe gerichteten grünen Laserstrahls wirkt, als würden ihr Informationen ins Gehirn gebrannt werden oder umgekehrt: als würde eine Sciencefictiontechnologie ihre im Kopf zirkulierenden Gedanken scannen und extrahieren. Insgesamt wirkt sie wie eine kleine, ohnmächtige, bewegungslose Figur, die durch den von Ungeheuersounds begleiteten Laserstrahl der Technik völlig ausgeliefert ist. Folgt man diesem Gedanken, könnte behauptet werden, an der Performerin kristallisiere sich das Thema des Ausgeliefertseins des Menschen vor einem zunehmend fremd wirkenden Technologieapparat: die Technik, die den Menschen steuert, beeinflusst und objektiviert. Diese Gedanken scheinen überhaupt nicht zu den Themen der Schwäche und Stärke um das Motiv des Geköpftseins zu passen. Wie lässt sich das Sciencefictionartige mit dem Motiv der geköpften ›stark-schwachen‹ Frau verbinden? Wie sind die mittelalterlich anmutenden Ritterassoziationen sowie auch die aus einem anderen Jahrhundert zu entspringen scheinende Szene der Versklavung mit dem Hochtechnologischen zu verknüpfen? Macht es überhaupt Sinn, vom Motiv des Geköpftseins zu sprechen? Oder von der Beziehung von Frau und Mann? Drängt es wirklich ins Zentrum der Performerin? Rückt die Performerin nicht ganz andere Motive ins

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Zentrum? Vielleicht das Motiv der Faust, das insbesondere am Anfang und am Ende in markanten Szenen aufgegriffen wird? Oder könnte ein noch übergreifenderes Motiv gewählt werden – der Voyeurismus? Gerade das scheint doch viel zentraler zu sein? Beispielsweise durch den das Publikum blendenden Handspiegel, die mehrfachen Blicke der Performerin oder auch der Männer durch die runden Glasscheiben, das Zerbersten der Glasscheiben durch die Faust der Performerin, das Beobachten von gewalttätigen Handlungen durch das Publikum, das Ausgesetztsein der Blicke, der Ausruf SWITCH OFF THE LIGHT PLEASE, etc.? Oder muss es ganz neu und anders betrachtet werden?

3. Z WISCHEN

DEM

S CHREIBEN

Nach dem Schreiben über Silvia Costa und vor dem Schreiben über Steven Cohen steht die Frage im Raum, wie die hier gewählte Schreibweise bzw. die hier gewählten Schreibweisen hinsichtlich der Betrachtung von Performern einzuschätzen sind. Inwiefern beziehen sie sich auf die semiotischen und phänomenologischen Schreibweisen von Fischer-Lichte und Roselt? Auf welche Weise könnten schauspieltheoretische Begriffe Anwendung finden? Welche ersten Schlussfolgerungen über die Besonderheit des hier praktizierten Schreibens lassen sich ziehen? Bewegungen des Wahrnehmens, Erinnerns und Schreibens Das nahe Beschreiben hat in dem Versuch nicht nur die momentane Erfahrung aufgegriffen, wie es bei den Cosplayern vorrangig stattfand, sondern auch das Erinnern mitzuschreiben versucht. Es findet das zugleich vorwärts- und rückwärtsgewandte Schreiben Anwendung, das der Begegnung mit der Performerin besonders zu entsprechen scheint. Durch das immer wieder stattfindende Rückwärtsschreiben und achronologische Springen in vorherige Szenen während des Weitergehens der Performance kann eine Besonderheit des Schreibens über Performer aufgegriffen werden – nämlich die Annahme, dass unbegreifbare Performer immer auch erst im Danach realisiert werden, dass erst im Nachhinein ansatzweise erfahrbar wird, was geschah. Das temporale Überlappen wird auf diese Weise sichtbar. Es lässt sich alleine schon aus dem Beschreibungsversuch schlussfolgern, dass ge-

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rade das Überlappen verschiedener Zeitebenen in diesem Fall die Intensität des Unbegreifbaren zu steigern vermag, sodass am Ende des Beschreibungstextes die Sprache auseinanderzufallen droht. Insbesonders wird dies durch die sprachliche Strategie des mehrzeitlichen Schreibens erzeugt. Dies mag einerseits dazu führen, dass dieses Springen zwischen verschiedenen Szenen der Performance Verwirrung stiftet; andererseits ist es gerade auch eine zentrale Erfahrensweise des Unbegreifbaren, die auf diese Weise sichtbar wird. Es scheint, dass trotz des teilweise unerwarteten Springens in eine andere Zeitebene und der damit verbundenen Sichtbarkeit des Erinnerns eine Nähe zu der Performerin entsteht, die für die danach ansetzenden Versuche des Analysierens unerlässlich ist. Problematisch könnte jedoch sein, dass zwar das erinnernde Nachdenken im Beschreibungstext sichtbar gemacht wird, jedoch nicht der Ausgangspunkt des Schreibens ist. Im Zentrum stehen das imaginative Hineinversetzen, die Unmittelbarkeit, das ekphrasische Ziel der Verlebendigung, nicht aber das erinnernde Nachgehen verschiedener Spuren. Erinnerungen werden lediglich dazu eingesetzt, rückwärtsgewandt aus der Perspektive des scheinbaren Vollzugs einer Erfahrung Nähe zu erzeugen. Es kann nun gefragt werden, ob es eher ein Beschreiben hätte sein müssen, das nicht vom Moment her denkt, sondern vom Danach seinen Ausgang hätte nehmen sollen. Jedoch gerade diese Nähe, die durch Strategien sprachlichen Inszenierens beinahe gewalthaft erzeugt wird, scheint eine Stärke des hier angewandten Schreibens zu sein. Diese wird insbesondere durch die Schreibweisen des Suchens, Stockens und Schwebens inszeniert. Außerdem kann auch von einer weiteren Strategie gesprochen werden, die hier zur Anwendung kommt: ein Telegrammstil, bei dem Sätze verkürzt werden, um eine Direktheit zu erzeugen; durch schnelles, stockendes, neu ansetzendes Schreiben wird das plötzliche Aufeinanderfolgen von Erfahrungen und Erinnerungen deutlich. Es scheint eine geeignete Schreibweise zu sein, um die Atemlosigkeit des Erfahrens hervortreten zu lassen. Bezieht man sich auf die phänomenologische Schreibweise Roselts, wird sowohl die Nähe zu dem bestehenden Konzept, als auch das Besondere, Neue und Andere des hier verfolgten Ansatzes deutlich. Hinsichtlich der Thematisierung des Flüchtigen und des Zwischengeschehens von Schauspieler und Zuschauer erweist sich die phänomenologische Schreibweise als grundlegend. Auch bei unbegreifbaren Performern muss das Prozesshaf-

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te im Wahrnehmen hervortreten. Wie auch beim Schreiben über Schauspieler muss Vorläufiges, Unsicheres und der Prozess des Werdens mitgeschrieben werden. Jedoch muss er im Fall unbegreifbarer Performer eine zusätzliche Akzentuierung bekommen, eine Radikalisierung, wie sie sich schon mehrfach in der hier vorliegenden Arbeit angedeutet hat. Es ist keine Verunsicherung, die zu späteren Gewissheiten führt, sondern eine tiefgreifende Erschütterung, die niemals in die Nähe eines Stabilen zu rücken vermag. Vielmehr mündet es in ein Suchen, das nicht aufsuchen kann, sondern immer nur sucht, vermutet, verwirft und wieder neu und anders weiter sucht. Grenzen der Verwendung des Figurenbegriffs scheinen sich in diesem Gedanken anzudeuten, die es später noch genauer zu behandeln gilt. In Anschluss an die phänomenologische Schreibweise wird hier ebenfalls an der Leiblichkeit angesetzt und nicht wie in der semiotischen im Spannungsfeld von der im Text formulierten Rolle und der umgesetzten Rolle des Schauspielers. Wegen der Unmöglichkeit des eindeutigen Erkennens stellt es sich als undenkbar heraus, Rollennamen oder auch übergreifende Bezeichnungen zu finden, die unbegreifbare Performer auf eine hervorgebrachte Erscheinung festlegen könnten. So sieht das hier praktizierte Schreiben keine andere Möglichkeit, als an der Leiblichkeit anzusetzen und Formulierungen zu verwenden wie – im Fall von HEY GIRL! – ›die Performerin‹, ›Silvia Costa‹, ›die Frau‹, ›ihr Körper‹, etc. Es wird geradezu nötig, die Bezogenheit von Leiblichkeit und Wahrnehmung sowie die Bewegtheit des Körpers und der Wahrnehmung in der Schreibweise hervorzuheben. Das hier entwickelte Schreiben baut somit auf phänomenologischen Ansätzen auf, erweitert diese jedoch auch – beispielsweise um die Perspektive des Nachwirkens. Nicht nur die bewegten und beweglichen Wahrnehmungen des Körpers, sondern auch die bewegten und beweglichen Erinnerungen an den Körper müssen aufgegriffen werden. In der gegenwärtigen theaterwissenschaftlichen Theorie und aufführungsanalytischen Praxis dient der phänomenologische Ansatz eher als methodische Grundlage, um das momentane Zwischengeschehen in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses zu rücken. Unbegreifbare Performer werfen jedoch in besonderem Maße Fragen des Erinnerns und des Neu- und Anderserfahrens im Erinnern auf. In dem hier verfolgten Schreiben muss in besonderem Maße hervortreten, dass im erinnernden Beschreiben und Analysieren die Performance weiterwirkt. Eine unbegreifbare performative Setzung kann nie endgültig begriffen werden, sie kann immer wieder anders erscheinen, sich

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im Nachwirken verändern. Eben diese Bewegtheit muss in die vorgeschlagene aufführungsanalytische Schreibweise aufgenommen werden. Das Prozessuale spielt sich somit nicht nur »zwischen Zuschauern und Schauspielern« im »Moment der Aufführung«50 ab, sondern gerade auch im Danach. Durch diese Erweiterung der Perspektive um das Nachwirken stellt es sich als unumgänglich heraus, schauspielanalytische Begriffe neu und anders zu denken. Dieser Gedanke soll in einem späteren eigenständigen Abschnitt aufgegriffen und skizzenhaft weiter entwickelt werden. An dieser Stelle gilt es zunächst, die Besonderheit des hier praktizierten Schreibens zu erörtern. Grundlegender Ausgangspunkt, so lässt sich schlussfolgern, ist die Berücksichtigung einer dreifachen Prozessualität – nicht nur die Notwendigkeit, das Prozesshafte des Wahrnehmens und Erinnerns aufzugreifen, sondern zusätzlich und in besonderem Maße auch das Prozesshafte und damit Problematische des Schreibens. Die Facetten des Erinnerns und Schreibens, die in phänomenologischen Ansätzen vielleicht nur im Verborgenen oder punktuell aufscheinen, müssen hier regelrecht ausgestellt werden. Wegen der Unbegreifbarkeit der Performer geht das Schreiben nicht ›leicht von der Hand‹. Vielmehr stehen Schreibende vor Problemen, tragen Konflikte aus, befinden sich in einem Kampf mit Erinnerungen, Erfahrungen und Wörtern. Die grundlegenden Probleme des Schreibens über Schauspieler spitzen sich bei unbegreifbaren Performern radikal zu, sodass die enormen Widerstände im Schreiben sichtbar werden müssen. Wie auch bei Pollock muss hier die »difficulty of performative writing«51 thematisiert werden, die sich gerade angesichts unbegreifbarer Performer noch zu steigern in der Lage ist. Insofern geht es im Schreiben auch immer um Grenzen des Schreibens, um den Versuch, die Grenzen zu überwinden, nur um aber immer wieder die »limits of language«52 aufzuzeigen. Bisher hat es den Eindruck, als wende sich die Schreibweise komplett vom semiotischen Schreiben über Schauspieler ab. Jedoch findet das hier praktizierte Schreiben gleichfalls als eine Suche nach Bedeutungen und Interpretationen statt; nur aber nicht als ein Auffinden, sondern eher als ein immerwährendes Suchen und Verwerfen. Prozesse des Festlegens finden durchaus statt; jedoch werden scheinbare Stabilitäten wieder hinterfragt,

50 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 248 und 249. 51 D. Pollock: »Performing Writing«, S. 79. 52 Ebd., S. 82.

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aufgelöst und von neuen und anderen Prozessen des Suchens durchkreuzt. Es ist ein Schreiben, das nicht findet, sondern sucht. So beschränkt sich der nach der Beschreibung folgende analytische Teil zu HEY GIRL! nicht auf eine scheinbar ›richtige‹ These. Ganz im Gegenteil findet das Analysieren hier eher als ein Auffächern von Möglichkeiten statt. Dies bringt den Nachteil mit sich, dass die Analyse nicht auf ein Ziel, ein Fazit, eine Schlussfolgerung hinausläuft. Trotzdem wird aber die Annahme vertreten, dass durch das Auffächern und durch das Öffnen mehrerer Möglichkeitsräume eine Annäherung stattfinden kann, auch wenn es nicht eine eingleisige und zielgenaue, sondern eher eine diffuse und gestreute Annäherung ist. Damit in der Analyse nicht ein zu zerstreutes Textgebilde entsteht, wird in dem Schreibversuch zur Performance HEY GIRL! mit dem Motiv des Kopfes eine Art roter Faden verfolgt. Im Sinne der semiotischen Tendenz zur Festlegung bietet dies einen vorläufigen und scheinbaren Halt. Es wird gemäß der generellen Stoßrichtung analytischen Arbeitens selektierend, ordnend, verknüpfend vorgegangen, um Erkenntnisse zu schaffen. Jedoch muss auch das Motiv wieder fallen gelassen werden, um beispielsweise Genderfragen oder auch der Assoziation des Sciencefictionartigen nachzugehen. Die Analyse darf hier nicht nur festlegen, sondern muss immer auch verwerfen und bestehende Verknüpfungen, Ordnungen und Gewissheiten auflösen. Es könnte als problematisch angesehen werden, dass der rote Faden verloren geht und die Analyse scheinbar ihre eigenen Ziele durchstreicht. Jedoch ist es gerade im Kontext unbegreifbarer Performer zentral, mehreren roten Fäden nachzugehen, Knotenpunkte zu finden, sie wieder aufzulösen, scheinbar plausible Fäden durchzuschneiden, sie gleichberechtigt nebeneinander zu legen. Es ist nötig, jeder These eine Gegenthese zu präsentieren – und in den Worten Seels: »Jedem Gedanken die Gegenrechnung präsentieren.«53 Lehmann formuliert ebenfalls in seinem Essay »Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«, dass in der Untersuchung das Stolpern ins Zentrum gerückt werden müsse. Nicht eine »Synthetisierung, Logifizierung und Verständnisbildung, die […] die Trümmer zu kitten, das

53 M. Seel: Theorien, S. 131.

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Gleichgewicht zu halten«54 versucht, dürfe angestrebt werden. Die Idee des Nichtverstehens erfordert somit eine andere Schreibpraxis – eine Forderung, die ein Schreiben über unbegreifbare Performer ernst nehmen muss. Während auf der einen Seite der Drang nach Finalität und Festlegung im wissenschaftlichen Analysieren besteht, ist hier ganz im Gegensatz dazu das gleichfalls fürs wissenschaftliche Arbeiten zentrale Moment des Erörterns und Gegenüberstellens von Möglichkeiten die Herangehensweise an unbegreifbare Performer. Wissenschaftliches Schreiben wird hier im Sinn eines Ausstellens des erörternden Denkens verstanden, einem betonten Zeigen des Prozesshaften, Performativen, Vorläufigen und Beweglichen. Die Arbeit des Denkens wird geradezu ausgestellt, ohne dass am Ende der Akt auf ein finales Ziel zusteuert oder die Bewegung angehalten wird. Es zeigt sich eher als ein ständiges Und-so-weiter. In dieser Besonderheit spiegelt sich auch die Nähe des hier entwickelten Schreibens zu künstlerischem Arbeiten und ästhetischem Denken wieder. Letztere zielten eben nicht auf die »Tätigkeit des Erkennens, Verstehens und Begreifens«55 hin, sondern, so Seel in Rekurs auf Adorno, auf ein fortwährendes Zur-Disposition-Stellen, auf einen »Widerstand«56. Künstlerische und ästhetische Prozesse, so kann formuliert werden, wenden sich gegen ein Versteinern mit Strategien des In-Bewegung-Bringens. Im analytischen Tun zeichnen sich somit zwei Richtungen ab, die im Schreiben aufgegriffen werden: zum einen das ›Begrenzende‹, das versucht, vorläufige Verknüpfungen und Ordnungen anzustellen und zum anderen das ›Entgrenzende‹, das diese Verknüpfungen, Ordnungen und Erkenntnisse als vorläufig deklariert, relativiert und aufzulösen in der Lage ist.57 Diese entgegenwirkenden Kräfte im Schreiben über unbegreifbare Performer haben grundlegende Auswirkungen auf das Verständnis analytischen Tuns. Um die ständige Bewegung aus Begrenzen und Entgrenzen aufzugreifen, kann die Analyse nicht als ein Hinbewegen zum Gegenstand verstanden werden, sondern eher als ein Wegbewegen. Die Analyse muss regelrecht ›wegschreiben‹, sich weg bewegen, muss sich in der Annäherung

54 H.-T. Lehmann: »Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«, S. 429. 55 M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 265. 56 Vgl. dazu M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 33. 57 Vgl. dazu M. Seel: Theorien, S. 122.

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an unbegreifbare Performer von ihnen weg bewegen, auf immer komplexere Weise sich von ihnen entfernen, nur um aber auf diese Weise ein vielgestaltiges Bild der Performer zu entwerfen. In diesem Verständnis der analytischen Praxis schreibt sich eine Paradoxie ein: Denn ein Wegschreiben wäre trotzdem eine Annäherung an unbegreifbare Performer. Es kann formuliert werden, dass man sich durch das Entfernen annähert; jede Wegwendung ist zugleich eine Hinwendung; jedes Wegschreiben ein Heranschreiben. Analysieren heißt hier somit, über das immer wieder stattfindende, entgrenzende Wegbewegen eine Hinwendung überhaupt erst zu ermöglichen. Analysieren im Sinn eines immer klarer werdenden Schreibens, das nur Gewissheiten aufbaut, wird hingegen als ein Abwenden verstanden; denn es würde an den unbegreifbaren Performern buchstäblich ›vorbeischreiben‹. Performer gleichschwebend schreiben Nach dem Schreiben über Silvia Costa lässt sich nun darüber nachdenken, welche Auswirkungen die Vorrangigkeit des Beschreibens auf den hier verfolgten Ansatz hat. Hierbei wird im Folgenden eine neue analytische Schreibweise entworfen: das gleichschwebende Schreiben. Zu Beginn der Betrachtung Silvia Costas steht keine These oder Fragestellung, sondern lediglich die Aufgabe, die Performerin zum Ausgangspunkt und Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses zu machen. Es wird hier versucht, nicht nur dem Phänomen der Wahrnehmung, sondern auch dem Prozess des Schreibens in einer ›gleichschwebenden Aufmerksamkeit‹ zu begegnen, sodass das Schreiben nicht schon durch Vorannahmen in einen aspektverhafteten Blick umgewendet wird.58 Die gleichschwebende Aufmerksamkeit als eine von Sigmund Freud geprägte Methode des unvoreingenommenen Zuhörens während einer psychoanalytischen Sitzung ist auch in der Betrachtung unbegreifbarer Performer von grundlegender Notwendigkeit. Lehmann verknüpft »Freuds Grundregel der ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹«59 ebenfalls mit dem Untersuchen von Erfahrungen des Nichtverstehens. Es müsse um die »Suspension des begreifenden Erfas-

58 Vgl. dazu H.-F. Bormann: »Bewegung der Aufzeichnung«, S. 38. 59 H.-T. Lehmann: »Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«, S. 430.

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sens, die schwebende Bereitschaft aufzumerken« gehen – im Sinn eines »Flottieren des Aufmerkens«60, das notwendig sei, um das Nichtverstehen nicht zu leugnen. Ein Erschließen von einem Zentrum aus entspräche nicht dem »Modell einer Kunst/Technik des Nichtverstehens«61. Während Freud die gleichschwebende Aufmerksamkeit als einen Modus der Erfahrung versteht, deutet sie sich bei Lehmann als eine Methodik an, wie mit Momenten des Nichtverstehens umzugehen ist. Die vorliegende Untersuchung entwickelt daraus einen Ansatz des schreibenden Herantretens an Performer. Nur ein ›gleichschwebendes Schreiben‹ bietet überhaupt die Möglichkeit, dem Unbegreifbaren als Unbegreifbarem zu begegnen. Nur so treten mögliche analytische Pfade hervor. Das Unbegreifbare darf und kann im Prozess des Schreibens nicht in ein Begreifbares umgewandelt werden – sonst würde man an ihm ›vorbeischreiben‹. Das gleichschwebende Schreiben wird somit nicht von einem Zentrum aus dirigiert, das eine vermeintliche Stabilität oder Klarheit aufbaut; das Ziel ist nicht ein »[k]lärendes Ausleuchten«62, denn dies würde den Gegenstand verfehlen. Es wird eben nicht einleitend schon betont, es gehe beispielsweise um Genderfragen. Dies würde einerseits die Bewegung des Beschreibens als auch die Bewegung des Analysierens einengen, zu stark schon auf ein Thema zuspitzen, das – so hat sich herausgestellt – nur eines unter mehreren ist. Gäbe es diese einleitende Setzung, wäre die gerade für ein Erfahren, Beschreiben und Analysieren zentrale gleichschwebende Aufmerksamkeit nivelliert und der Text schon zu früh auf einen Aspekt festgelegt. Eben deshalb wird es notwendig, den Lesenden nicht vorher schon einen Anhaltspunkt zu geben, sondern sie vielmehr in ein Geschehen im wahrsten Sinne des Wortes zu werfen, in dem sie sich vielleicht erst einmal nicht zurechtzufinden vermögen. Würde ein analytischer Begriff vorgängig gesetzt werden, würde damit suggeriert werden, die Unbegreifbarkeit lasse sich mit dem Begriff erfassen und auflösen. Weiterhin würde es die schreibende Erörterung auf diesen einen analytischen Begriff einengen und die Beschreibung und Analyse für vielleicht viel markantere Aspekte blind machen. Deshalb wird hier ein gleichschwebendes Schreiben angewandt, das natürlich nicht verneint, dass

60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 427.

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aus dem Schreiben theoretisch-analytische Begriffe erwachsen können, die sich als gewinnbringend erweisen. Im Beschreibungsversuch zu HEY GIRL! entsteht jedoch durch das gleichschwebende Schreiben das Problem, dass der Beschreibungstext zunächst für sich steht, ohne mit analytischen Überlegungen verflochten zu sein. Beschreibung und Analyse sind stark voneinander getrennt. Die Setzung, die Analyse müsse sich aus der Beschreibung ergeben, führt hier zu einem Text, in dem Beschreibung und Analyse nicht miteinander verflochten sind. Durch die Akzentuierung auf das erinnernde Beschreiben entsteht nicht ein zusammenhängender Text, sondern man ist eher mit zwei verschiedenen Textsorten konfrontiert, die in unterschiedliche Richtungen tendieren. Das Schreiben in Nähe und das Schreiben in Distanz treten hier deutlich auseinander. In diesem Verfahren schwingt das Problem mit, dass die analytischen Überlegungen weit von den sehr detaillierten und akribischen Beschreibungen entfernt sind und so in den anschließenden analytischen Überlegungen trotzdem immer wieder verkürzende Beschreibungen Eingang finden müssen. Gemäß des schwebenden Beschreibens bleiben mögliche analytische Ansätze noch in der Schwebe und werden erst im Nachhinein weiter ausgeführt. Erst im analytischen Teil findet das Schreiben als ein Nachdenken statt. Dies könnte zu der Wirkung der Überforderung beim Lesen der Beschreibungen führen, zu der fragenden Reaktion, was überhaupt in dem Text verhandelt wird. Jedoch akzentuiert diese Schreibweise, dass erst nach dem Heraustreten aus dem Moment der Begegnung analytische Überlegungen stattfinden. Es wird deutlich, dass unbegreifbare Performer ein Nachdenken regelrecht ankurbeln und dass die Performance keinesfalls stillzustellen ist. Sie wirkt im Nachhinein weiter, verändert sich, neue und andere Erinnerungen treten in Erfahrung. Das im analytischen Abschnitt stattfindende punktuelle Beschreiben könnte dieses Wiederauftauchen eines Vergangenen als ein Neues, Anderes und Bewegtes hervorheben. Trotzdem bleibt die Frage offen, ob es ein Schreiben geben könnte, bei dem Analyse und Beschreibung eng miteinander verknüpft sind und trotzdem in beschreibenden Passagen eine Nähe erzeugt wird und die stockende, suchende und schwebende Schreibweise Anwendung finden könnte. Wie könnten Beschreibung und Analyse eng geführt werden, ohne die Ziele des gleichschwebenden Schreibens zu durchkreuzen? Dies bleibt zunächst noch

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eine offene Frage, die anhand eines weiteren Schreibversuchs diskutiert werden muss. Eine Besonderheit der Betrachtung unbegreifbarer Performer ist, dass aus dem gleichschwebenden Schreiben nicht eine Fragestellung, eine These oder ein allumfassender analytischer Gedanke erwächst, der das Phänomen auf den Begriff bringen könnte. Gerade weil die hier im Zentrum stehenden Performer unbegreifbar sind, muss die Aufmerksamkeit auf mehrere Facetten gelenkt werden, um überhaupt ein zumindest ansatzweises Berühren der Performer möglich zu machen. Aus den Beschreibungsversuchen können verschiedene analytische Spuren auftauchen, denen nachgegangen werden kann. Hierbei ist es unumgänglich, auch gegenläufige, analytische Richtungen zu verfolgen, um der Unbegreifbarkeit der Performer gerecht zu werden. Analysieren heißt hier somit im wahrsten Sinn des Wortes Zergliederung in unterschiedliche und auch gegenläufige Facetten – jedoch nicht mit der Zielsetzung, eine Vereinheitlichung, ein analytisches ›Ganzes‹ anzuvisieren, sondern vielmehr in der Partialisierung einen Gewinn zu sehen. Nicht nur das unvoreingenommene Herantreten an unbegreifbare Performer sei hier als gleichschwebend verstanden, sondern auch der Prozess des Schreibens selbst. Ein gleichschwebendes Schreiben bewegt sich, vermeidet schnelle Festlegungen, lockert vermeintliche Gewissheiten, denkt in der Beschreibung und Analyse immer wieder neu und anders. Es hat nicht zum Ziel, den einen zentralen Gedanken der Performance herauszufiltern, sondern bietet die Möglichkeit, die Performer auch in der Analyse in ihrer Unbegreifbarkeit sichtbar werden zu lassen und der Unbegreifbarkeit zumindest ansatzweise näher zu kommen. Performer und Schauspieltheorie Beim Schreiben über die Performerin Silvia Costa schwingen einmal mehr, einmal weniger explizit Begriffe zur Analyse von Schauspielern mit. Jedoch ist ebenso augenscheinlich, dass die Performerin zugleich die Grenzen schauspieltheoretischer und -analytischer Begriffe aufzeigt. Denn die Begriffe ›Subjekt‹, ›Gestalt‹, ›Figur‹ und auch ›Körper‹ suggerieren eine Greifbarkeit – als gäbe es das eine Subjekt, die eine zu beschreibende Figur, den einen zu fassenden Körper. Dass dies bei Silvia Costa unmöglich erscheint, ist offensichtlich. Trotz alledem kann jetzt nicht geschlussfolgert werden, es komme zu einer Negation schauspieltheoretischer Begriffe –

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nach dem Motto: Die Performerin wäre als eine ›Nicht-Figur‹, ein ›NichtSubjekt‹, ein ›Nicht-Körper‹ anzusehen. Denn es lässt sich immer auch Wirkungsweisen nachgehen, die beispielsweise in die Nähe von Figuren rücken, die im ›Zwischen‹ von der Wahrnehmung der Zuschauer und den performativen Setzungen Silvia Costas entstehen und im Nachhinein sprachlich angedeutet werden können – wie beispielsweise die schwache Greisin, die starke Frau oder die Revoluzzerin. Es schwingt immer ein Anthropomorphes mit, das eben Begriffe wie Person, Subjekt, Gestalt, Figur und Körper nicht einfach verneint. Es stellt sich somit die Frage, inwiefern sich die Analyse unbegreifbarer Performer auf schauspieltheoretische Begriffe bezieht. Mit dieser Frage lassen sich im folgenden Abschnitt weitere Besonderheiten des Analysierens unbegreifbarer Performer erschließen. Es kommt zu der Situation, dass die Begriffe immer mitschwingen, gleichzeitig jedoch an ihre Grenzen stoßen. Sind sie überhaupt noch für unbegreifbare Performer anwendbar? Müssen sie fallengelassen werden? Oder können sie in der Betrachtung auch hilfreich sein? Exemplarisch sollen diese Fragen insbesondere in Bezug auf den zentralen Begriff der Figur diskutiert werden. Obwohl in den Figurenbegriff die Erfahrungen der Wahrnehmenden hineinspielen und er insofern eine Prozesshaftigkeit, ein ständig »Werdende[s]«63 hat, suggeriert er trotz alledem eine Greifbarkeit. In ihm schwingt die Annahme mit, er organisiere die Wahrnehmung hinsichtlich eines übergeordneten Ziels, als bewege sich die Prozessualität des Wahrnehmens um ein zwar nicht stabiles, doch aber orientierungsstiftendes Element.64 Mitunter wird die Figur als »eine stabile[...] Einheit«65 oder »festumrissene Grö-

63 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 245. 64 Vgl. dazu Rättig, Ralf: »Figurenprobleme im Feuilleton. Vom Umgang mit Phänomenen der Figuration in aktuellen Theaterrezensionen«, in: Bettina Brandl-Risi/Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hg.), Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München: epodium 2000, S. 45. 65 Marx, Peter W.: »Emblem vs. Figur. Anmerkungen zur Beschreibung von Sprachverwendung im Theater«, in: Bettina Brandl-Risi/Wolf-Dieter Ernst/ Meike Wagner (Hg.), Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München: epodium 2000, S. 59.

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ße«66 im Sinne einer Wahrnehmungsordnung umschrieben. Eben diese die Wahrnehmung ordnende Geste lässt sich nicht mit unbegreifbaren Performern verknüpfen. Nicht selten wird deshalb behauptet, im postdramatischen Theater und der Performancekunst würden Figuren aufgelöst und nur noch in ihrer Negativität als »Nicht-Figur«67 Sichtbarkeit erlangen. Diese Annahme trifft jedoch ebenfalls nicht auf unbegreifbare Performer zu. Sie haben stets auch etwas Figurenähnliches; immer wieder können figurenähnliche Elemente auftauchen und im nächsten Moment wieder verschwinden. Als Anthropomorphes haben unbegreifbare Performer vielmehr etwas Figurenhaftes, etwas Figurenähnliches, das in bewussten inszenatorischen Setzungen Wirkungen zeitigt, Erfahrungs- und Erinnerungshorizonte aktiviert. In Anlehnung an Seels wahrnehmungstheoretische Formulierung, die Betrachtung sei »aspekthaft« und nicht »aspektverhaftet [Herv. i.O.]«68, lässt sich formulieren, unbegreifbare Performer sind ›figurenhaft‹, jedoch nicht ›figurenverhaftet‹; nie gehen sie in einer fest umrissenen Figur auf; sie tragen lediglich Züge von Figuren, die sich schemenhaft andeuten und wieder verschwimmen. Nie aber wird eine Figur in voller Klarheit greifbar. In der auf das Anthropomorphe unbegreifbarer Performer verweisenden Wahl des Adjektivs ›figurenhaft‹ sind zwei Perspektiven angedeutet: Es geht nicht nur, negativ formuliert, um ein Durchstreichen, eine »Defiguration«69, ein Auflösen, eine »Zerrüttung der Figur«70, sondern auch, positiv gewendet, um ein Hervorbringen figurenhafter Umrisse. Möchte ein Schreiben über unbegreifbare Performer den Figurenbegriff verwenden, müsste es sich in eine doppelte Bewegung aus figurenhafter Hervorbringung und Prozessen des Defigurierens begeben.

66 Brandl-Risi, Bettina/Ernst, Wolf-Dieter/Wagner, Meike: »Prolog der Figuration. Vorüberlegungen zu einem Begriff«, in: Dies. (Hg.), Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München: epodium 2000, S. 14. 67 R. Rättig: »Figurenprobleme im Feuilleton«, S. 45. 68 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 54. 69 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 172. 70 Brandstetter, Gabriele: »Defiguration und Displacement. Körperkonzepte in Performance und Bewegungstheater des 20. Jahrhunderts«, in: Orlando Grossegesse/Erwin Koller (Hg.), Literaturtheorie am Ende? 50 Jahre Wolfgang Kaysers ›Sprachliches Kunstwerk‹, Tübingen/Basel: Francke 2001, S. 54.

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In ähnlicher Weise kann das Anthropomorphe mit dem eng mit dem Figurenbegriff verbundenen Gestaltbegriff umschrieben werden. Der Ganzheitlichkeit und Zusammengehörigkeit suggerierende Gestaltbegriff trifft nicht auf unbegreifbare Performer zu, jedoch können sie als ›gestaltähnlich‹ bezeichnet werden – als ›gestalthaft‹ und eben nicht ›gestaltverhaftet‹.71 Sie sind nicht als völlig amorph zu verstehen, als Gestalten ohne Gestalt, als Figuren ohne Figur, als Formen ohne Form, sondern vielmehr kristallisieren sich an ihren Erscheinungen Umrisse von Gestalten, Figuren und Formen. Weil sie an ihre Anthropomorphität gebunden sind, können immer auch gestalthafte Umrisse angedeutet werden, die natürlich keine abgeschlossene Einheit bilden, sondern durchlässig, vage und fragil sind und sich an der Grenze der Sichtbarkeit bewegen. Nur gestalthafte Umrisse deuten sich an, schemenhafte Silhouetten, die plötzlich auftauchen und sich wieder entziehen. In die Nähe des Gestaltbegriffs rückt gleichsam der Subjektbegriff. Auch hier ist das Subjekt nicht als stabil zu denken, aber trotzdem kann auch nicht von der schon zum Schlagwort avancierten »Auflösung des Subjekts«72 gesprochen werden; vielmehr können unbegreifbare Performer als ›subjekthaft‹ verstanden werden. Mit diesen wortspielerischen Verschiebungen um den Figuren-, Gestaltund Subjektbegriff wird nicht angedeutet, dass die hier im Zentrum stehenden Performer formelhaft theoretisch gefasst werden könnten. Trotz der vollzogenen Wortverschiebung zum Figurenhaften, Gestalthaften und Subjekthaften suggerieren die Begriffe eine einfache Handhabung der hier im Zentrum stehenden Performer. Sie erwecken den Anschein, als könnte man mithilfe dieser Begrifflichkeiten problemlos beschreiben und analysieren. Von dieser Annahme wird sich hier deutlich distanziert. Ein unproblematisches Beschreiben und Analysieren kann es nicht geben. Trotz allem weisen diese Überlegungen darauf hin, dass bedingt schauspieltheoretische Begriffe für die Beschreibung und Analyse hilfreich sein können. Würden sie angewendet werden, müssten die Begriffe natürlich noch tiefgehender durchleuchtet werden. An dieser Stelle soll es ausreichen

71 Vgl. dazu B. Brandl-Risi/W.-D. Ernst/M. Wagner: »Prolog der Figuration«, S. 14. 72 Keupp, Heiner/Hohl, Joachim: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne, Bielefeld: transcript 2006, S. 10.

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zu betonen, dass in der Anwendung der Begriffe immer die intensivierte Prozesshaftigkeit des Wahrnehmens und des Entzugs sichtbar werden muss; die Prozesse des Entstehens und Vergehens, des In-die-NäheRückens zu Figuren, Subjekten, Gestalten müssen mitschwingen, gleichzeitig aber auch immer das Entschwinden, das Nie-zu-Begreifende. In dieser doppelten Bewegung können die wortspielerischen Verschiebungen eine Möglichkeit sein, dies sprachlich anzudeuten. Schreiben in diesem Sinn heißt, die Grenzen eines analytischen Begriffes immer mitzudenken und mitzuschreiben. So fand bei der analytischen Betrachtung der Performerin Silvia Costa der für die Schauspieltheorie zentrale Begriff ›Gender‹ Anwendung. Jedoch wurde er nur tentativ gebraucht, um ihn nicht als einen Begriff zu positionieren, der ein analytisches Erfassen suggeriert. Vielmehr wurde immer im Schreiben die Grenze des Begriffs mitgedacht, um zu zeigen, dass nur wenige Facetten der Performerin mit ihm angedeutet werden können. Im Vorfeld der Analyse von unbegreifbaren Performern wird sich deshalb für keinen schauspieltheoretischen Begriff ausgesprochen. Vielmehr wird gemäß der Praxis des gleichschwebenden Schreibens der umgekehrte Weg eingeschlagen: Erst aus der jeweiligen Begegnung mit Performern und den damit verbundenen Herausforderungen des Schreibens können sich theoretische Begriffe ergeben, die jedoch die Performer nicht auf diesen Begriff einengen sollen, sondern nur aspekthaft Möglichkeiten des Betrachtens eröffnen. In diesem Nachverfolgen einer analytischen Spur muss immer auch mitschwingen, dass mögliche andere Spuren dadurch vernachlässigt, verwischt oder verstellt werden. Folglich wird hier nicht die These vertreten, neues, anderes oder noch theoretisch versierteres schauspieltheoretisches Vokabular müsste entwickelt werden. Es wird davon abgesehen, einen oder mehrere theoretische Begriffe für die Analyse vorzuschlagen. Denn sie würden den falschen Eindruck erwecken, mit ihnen könnten unbegreifbare Performer problemlos beschrieben und analysiert werden. Insgesamt erscheinen theoretische Begriffe im Vergleich zur Frage des Beschreibens als eher nebensächlich. Durch die Setzung, unbegreifbare Performer entziehen sich normierten Verfahren des Beschreibens und Analysierens, richtet sich der Blick auf das Versprachlichen, aus dem sich alles Weitere ergibt. Die Frage des Versprachlichens erweist sich als Kern, von

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dem jegliche Überlegungen aus- und weitergehen; sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Herantretens an unbegreifbare Performer. Unbegreifbare Performer machen Grenzen schauspieltheoretischer und -analytischer Begriffe deutlich, aber auch die Notwendigkeit, sie zu überdenken, neu und anders zu sehen. Bisher wurden sie primär hinsichtlich des Momenthaften skizzenhaft modifiziert. Jedoch bleibt die Frage offen, inwiefern sie gedacht werden müssen, wird der Gedanke des Nachwirkens berücksichtigt. Welche Auswirkungen hat das auf die Anwendbarkeit der Begriffe? Wie könnte sich das Nachträgliche in ihnen wiederspiegeln? Diese Fragen müssen in diesem Kapitel noch erörtert werden. Zunächst steht jedoch die Praxis des Schreibens wieder im Mittelpunkt. Um die Gedanken und Fragen des Kapitels noch um eine weitere Perspektive sowie um eine neue und andere Schreibweise zu erweitern, ist es nötig, einen erneuten Schreibversuch über einen weiteren Performer anzustellen. Denn gerade über den Vergleich zweier Schreibversuche können die Besonderheiten der Betrachtung unbegreifbarer Performer noch deutlicher herausgearbeitet werden.

4. D ER P ERFORMANCEKÜNSTLER S TEVEN C OHEN IN ›The Cradle of Humankind‹ Als weiteres Beispiel dient der Performancekünstler Steven Cohen mit seiner 2012 beim Festival d’Avignon gezeigten Performance THE CRADLE OF HUMANKIND, die 2011 im Rahmen des Festival des Anticodes in Brest uraufgeführt wurde. Das Programmheft stellt Steven Cohen als einen südafrikanischen, weißen, jüdischen und homosexuellen Künstler vor, der insbesondere in seinen Performances seinen Körper inszeniere, ihn verwandle, travestiere. Seine Kunst rücke das gesellschaftlich Marginalisierte in den Blickpunkt, indem sie das Intime als das radikal Politische zeige.73 Der 1962 in Johannesburg geborene Cohen wird nicht selten hinsichtlich seiner

73 Archambault, Hortense/Baudriller, Vincent: 66e Festival d’Avignon, Avignon: Imprimerie Laffont 2012, S. 42.

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sexuell-geschlechtlichen, religiösen und kulturellen »Andersartigkeit«74 umschrieben. »In seinen Performances, Happenings und Aktionen reagiert der südafrikanische Künstler auf unsere Ausgrenzungskultur, die nur akzeptiert, was gesellschaftlich normierten Auffassungen entspricht, äußerst radikal und provokativ. Seine Homosexualität und jüdische Herkunft stehen dabei im Vordergrund. Neben dem Differenzbewusstsein spielt die Behauptung der eigenen Andersartigkeit die entscheidende Rolle.«75

In seinen künstlerischen Arbeiten unterwandere er auf provokante Weise »unser Empfinden von Normalität« und hinterfrage »die Genese von Normen«76. Seine Performances finden nicht nur auf der Bühne, in Museen oder Galerien statt, sondern »Cohens Kunstpraxis bevorzugt generell den öffentlichen Raum – die direkte und vor allem nicht gesteuerte Konfrontation mit dem zufälligen und nicht vorbereiteten Publikum«77. Seine bisher bekannteste Performance ist CHANDELIER, die er in jeweils individuellen ortsspezifischen Versionen in Johannesburg, New York und Berlin aufführte und die oft als Videoaufzeichnung in Ausstellungen gezeigt wird, wie beispielsweise in der Kunsthalle Wien 2004. »Das Video zeigt den Künstler mit einem zum Tutu umfunktionierten antiken Kristalllüster kostümiert – mit vierzig Mikrolampen beleuchtet spaziert er durch die Slums von Johannesburg.«78 Neben Performances arbeitet Cohen auch mit Filmen, Installationen, Bildern, Fotografien und skulpturalen Objekten (›applied art‹), die in Ausstellungen oder Sammlungen insbesondere in Südafrika, aber auch in Europa und den USA zu sehen sind oder zu sehen waren. Er hat einen Bachelor of Arts der südafrikanischen University of Witwatersrand und an der RuthProwse-Kunstschule in Kapstadt studiert, in der er, einem Interview zufol-

74 Matt, Gerald: »Vorwort«, in: Ders./Silvia Höller (Hg.), Steven Cohen. Dancing Inside Out, Berlin: Revolver 2006, S. 4. 75 Ebd. 76 Höller, Silvia: »Steven Cohen«, in: Gerald Matt/Dies. (Hg.), Steven Cohen. Dancing Inside Out, Berlin: Revolver 2006, S. 8. 77 Ebd., S. 12. 78 Ebd.

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ge, insbesondere fotografische Siebdrucktechniken erlernte, wobei er »zwanghaft Textilien bedruckt und bemalt [habe] – mit feinsinnigen Bildern von Gewalt, Rassismus, Diskriminierung und Sexualität«79. Zum ersten Mal ist der im französischen Lille lebende Künstler zum Festival d’Avignon eingeladen. THE CRADLE OF HUMANKIND wurde im Salle de Spectacle de Vedène gezeigt, einer Bühne in einem nur mit einem Bus erreichbaren Vorort Avignons. In der Performance tritt er nicht alleine auf, sondern – wie in manch anderer seiner Performances auch – mit einem Co-Performer; hier die neunzigjährige Nomsa Dhlamini, die – wie sich aus meinen Recherchen nach der Performance ergab – die Ziehmutter Cohens war und in einigen seiner künstlerischen Arbeiten auftaucht. In der Performance konfrontiert der Künstler mit Momenten der Andersartigkeit, mit Differenzerfahrungen – und eben dem Unbegreifbaren, dessen Intensität sich insbesonders im Danach zeigt. Je länger ich nachdenke, desto weiter entferne ich mich von dem Performer, desto intensiver wird die Erfahrung des Unbegreifbaren. Im nun folgenden Schreibversuch wird sich im Vergleich zum vorherigen Beispiel ein ganz anderes Verhältnis zwischen Beschreibung und Analyse ergeben, was auch zu anderen sprachlichen Strategien führt. So findet beispielsweise nicht wie bei HEY GIRL! die vorwärts- und rückwärtsgewandte Schreibweise Anwendung. Durch die Stratgie des Rückwärtsschreibens liegt ein Schwerpunkt auf dem Nachwirken und Nachdenken. Danach schreiben Direkt danach im Bus. 23:40 Uhr. Fahrt vom Ort der Performance irgendwo in einer Vorstadt zurück ins Zentrum Avignons. Suche nach Worten. Suche nach Stichworten. Suche nach Beschreibungen. Steven Cohen, der Performancekünstler. Das Notizbuch ist gezückt. Unermüdliches Schreiben im Halbdunkel des Busses. Ein Drang zu schreiben, Worte zu finden, um zu ordnen. Assoziationen im Kopf, die nachhängen: rührend – der böse, weiße Mann – der gute, weiße Mann – der schwarze Mann – provokant – der Primat – der Tier-Vaudeville-Künstler – der Außerirdische – kindlich – der Sklaventreiber – der weiße Eroberer – ruhig und ausgeglichen – die Dragqueen – der Objektkünstler und Bodyartist. Die Bezeichnungen liegen

79 Steven Cohen zitiert in Matt, Gerald/Höller, Silvia (Hg.): Steven Cohen. Dancing Inside Out, Berlin: Revolver 2006, S. 22.

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immer daneben, scheinen nie ganz zu passen, deuten lediglich Fragmente des Performancekünstlers an, versuchen aber den Erinnerungen eine vorläufige Ordnung zu geben. Es ist geradezu beruhigend zu schreiben, den Spuren nachzugehen, den blitzlichthaften Assoziationen nachzuspüren, um sich der rätselhaften Gestalt ansatzweise anzunähern. Ein Auftritt bleibt besonders hängen; nicht nur im unmittelbaren Danach ist er eine sich aufdrängende Erinnerung, sondern auch deutlich später gibt er zu denken: Cohens Auftritt als rätselhafter ›Tier-Vaudeville-ObjektKünstler‹, eine Bezeichnung in Form eines Assoziationsbündels, die aus der Unmöglichkeit entspringt, nur eine passende Bezeichnung zu finden. Weil es eines der ersten Formulierungen war, die ich in mein Notizbuch schrieb, könnten es vielleicht Assoziationen sein, die mit seiner unbegreifbaren Gestalt zu tun haben und sich demnach anböten, ihnen beschreibend und analysierend nachzugehen. Der Performer als ›Tier-Vaudeville-Objekt-Künstler‹ Niemand auf der Bühne. Sounds aus den Lautsprechern, dramatisches asynchrones Klopfen auf Bambus und auf Klangschalen, intensives Flöten wie bei Ritualen afrikanischer Ureinwohner. Halbdunkle Bühne. Hinten an dem schwarzen Vorhang da zeigt sich etwas. Ein dünnes Etwas schiebt sich hinter dem Vorhang hervor – wie ein unförmiger Stock. Darunter ein Bein, ein nacktes Männerbein wird unter dem Stockgebilde sichtbar. Auch seltsam geformt. Nun beide Beine hell weiß sichtbar im Dunkel der Bühne, hüftaufwärts ist irgendetwas Dunkles, irgendein seltsames Gebilde. Das sind – die sind ja riesig – Plateau-Highheels an den Füßen, enorm hoch. Staksige Schritte nach vorn. Da ist doch was ist da oben dran an ihm dran ist doch etwas. Zu dunkel. Da bewegt sich etwas. Sind das – das sind – seine Hände sind das. Weiche Handbewegungen neben dem dunklen Ding. Ein zähnegefletschtes Tiermaul ist da auf Kopfhöhe, ein aufgerissenes Maul mit weißen Reißzähnen. Da muss ein Tierkopf sein – aber wie? Aufgemalt auf das Gesicht? Vielleicht eine Maske? Oder falsch herum auf den kahlrasierten Schädel? Das kann nicht – nein – das ist es nicht. Staksige Schritte nach vorn, nur teilweise staksig unbeholfen, auch elegant, ein Bein vor das andere und die Handbewegungen so fließend ruhig, auch elegant eben. Aber da muss doch etwas vor seinen Körper, sein Gesicht geschnallt sein, irgendetwas ist da, es beginnt über seiner Hüfte mit dieser abstehenden, stöckchenartigen Form. Ist das – das muss – das ist ein Tier, ein ausge-

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stopftes Tier ist das, ein totes Tier mit dunklem Fell – braunes Fell. Er kommt näher, elegant staksig beschwörend zu den Klängen kommt er näher. Weiche Handbewegungen neben dem Tierding, kalkweiß angemalte Arme und Hände. Vielleicht ist es – das könnte ein Bär sein, ein kleiner Braunbär auf ihm drauf, auf ihn geschnallt, vor seinem Bauch, Oberkörper und Gesicht. Das Tier hat – jetzt verstehe ich das – mit gespreizten Beinen ist das vor ihm, unnatürlich gespreizte Beine im – das gibt es doch nicht – im Neunziggradwinkel nach links und rechts gespreizt. Das war das Stockgebilde. Er versteckt sich hinter dem Tier, nur seine hellweißen Beine in Highheels sind sichtbar. Tänzerische, ja fast Bourleske-Bewegungen der Arme und jetzt spreizt auch er seine Beine, er geht leicht nach unten, Knie betont nach links und rechts auseinander. Mit den muskulösen Männeroberschenkeln vaudevillemäßige, weibliche Pose und wieder hoch. Verspielt fahren seine Hände über das Fell des Tiers, sanft, liebkosend. Sein kalkweißes Gesicht und sein kahler Schädel werden kurz sichtbar, neben dem Tierkopf. Unbeholfene, beinahe überkippende Schritte, eine Gestalt wie fremd im eigenen Körper, dann auch dieses Elegante, Sich-Präsentierende, unbedingt Sich-Zeigen-Wollende einer Drag-Vaudevilleshow, aber mit einem aufgeschnallten, toten, zähnefletschenden Tier. Das Tier ist kein – nein – es ist kein Bär. Der Kopf irgendwie schmaler. Das ist – das muss so ein Affending sein – das passt eher – ein – ja – ein – wie heißt es – ein – dieses Tier da, dieser – genau – ein Pavian ist das, ein Pavian ist spreizbeinig vor ihn geschnallt. Plötzlich eine Flamme neben seinem Körpergebilde. Hinter dem Rücken hervor hat er eine Flamme nach rechts geworfen, wie ein Feuerkünstler, sie ist zischend kurz aufgeflammt, explodiert. Und jetzt eine Flammenprojektion auf dem Boden. Von oben herunter projiziert, das unruhige rotgelbe Flackern auf seiner Tier-Mensch-Gestalt. Er steht in Flammen. Er steht auf den Flammen. Brennende, lodernde Sounds. Er ist irgendwie wie ein Vaudevilletänzer, Dragkünstler oder auch Tierpräparator vielleicht. Soll das die Regenwaldbrandrodung sein? Vorhin wurden Regenwaldbäume an der gleichen Stelle projiziert. Nein – bestimmt nicht. Das nicht. Mit riesigen Highheels und aufgeschnalltem Pavian steht er auf dem Flammenmeer. Das ist irgendwie – also es ist schon ein starkes Bild, ein gewaltiges, unheimliches, prägnantes, aufdringliches und seltsames Bild. Jetzt geht er auf allen Vieren, mit dem Rücken nach unten und Tier nach oben. Das Tier und er – beide gespreizte Beine nach vorn. Absurde Pose.

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Nackter Po nach vorn. In einer ausgestellten Bewegung geht er elegant mit einem Highheelbein über das gespreizte Bein des Tieres, als würde er – genau – als würde er mit dem Tier die Beine überschlagen – ein Mensch-TierBein-Überschlagen. Vielleicht provokant, verspielt und auch irgendwie lustig ist das. Sein Bein elegant wieder zurück. Diesmal legt er es über sein eigenes anderes Bein, feminin elegant, Schüchternheit zitierend. Irgendwie wirklich absurd lustig ist das wie bei einer Show, einem Varieté, einer Bourleske- oder Vaudevilleshow. Er löst die Pose wieder auf und krabbelt auf allen Vieren im Kreis, im Feuer, bis sein Kopf nach vorne zeigt. Sein Kopf falsch herum zum Publikum, aufgerissener Mund, wie auch das Tier, unheimlich irgendwie – vorher war sein Gesicht immer regungslos, nun dieser aufgerissene Mund, sein umgekehrtes kahlweißes Gesicht im Feuer, unter dem dunklen Tier. Dann steht er auf, geht ab, als wäre nichts gewesen. Der Tiermensch Der Auftritt erscheint auch im Nachhinein am eindrücklichsten, als eine besonders nachhängende Szene. Ein unbegreifbares, zum Nachdenken anregendes Bild des Performers entsteht: zwischen Vaudeville, Tierpräparator, Dragqueen, Feuerkünstler und Objektkünstler. Zentrale Fragen und Themen der Performance mögen mit der besonderen Erscheinung des Performers verknüpft sein. Sie löst ein Nachdenken über die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Tier aus, scheint sie doch das Thema der Objektivierung des Tieres durch den Menschen anzudeuten. Das Tier, das tot und ausgestopft mit unnatürlich gespreizten Beinen ausgeliefert auf den Körper des Performers geschnallt ist – wie ein dunkler Fremdkörper auf seiner kalkweiß erstrahlenden Haut. Gerade durch den deutlichen Gegensatz des Tieres zu den nackten Menschenbeinen, die insbesondere durch die Plateau-Highheels als dem Tier fremd, anders und künstlich erscheinen, könnte das Bild der verlorenen Beziehung zwischen Mensch und Tier entstehen – das Bild der Entfremdung, der Objektivierung der Tiere durch die Menschen. Das Animalische scheint im Zentrum der Erscheinung des Performers zu stehen. Jedoch was hat es mit den riesigen Plateau-Highheels auf sich? Seine Füße darin fast in Ballettspitzenpose. Sie mögen nicht zu der Frage nach der Beziehung zum Tierischen passen. Sie sind derart dominant, verändern sie doch die Statur, den Gang, das Erscheinungsbild des Performers

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derart, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, eigene Relevanz jenseits der bisher diskutierten Frage besitzen. Auch die tänzerischen Bewegungen der Arme bleiben widerständig, haben offensichtlich nichts mit dem Tierischen zu tun, wie auch die kurze Feuereinlage und die Videoprojektion des brennenden Feuers zu Füßen des Performers. Trotz allem ist es sinnvoll, dem Gedanken des Animalischen nachzugehen, in dem Wissen, dass damit die unbegreifbare Gestalt des Performers nicht zu erklären ist. Das Bild des aufgeschnallten Tieres zeigt sich als derart einprägsam, dass es unumgänglich ist, weitere Überlegungen anzustellen, neuen und anderen Assoziationen zu folgen, so beispielsweise der Annahme, dass es eben nicht – oder nicht nur – die verlorene Beziehung des Menschen zum Tier darstellt. Er performt eine neue Nähe zum Tierischen. So streicht er sanft und liebevoll über das Fell des Tieres. In manchen Momenten sieht es sogar so aus, als würde er es mit seinen eng am Tierkörper ansetzenden Bewegungen der Arme beleben, als würde das Tier durch seine Gesten eine Lebendigkeit verliehen bekommen. Der Performer scheint eine collagenhafte Gestalt anzunehmen, in dem das Tierische und Menschliche verschmelzen, die weißen Menschenbeine unmittelbar in den Tierkörper übergehen und die sich bewegenden Arme mitunter aus dem Körper des Tieres kommen. Nicht die Entfremdung des Tieres vom Menschen, sondern das ›Mensch-Tier‹, der ›Tier-Mensch‹, die distanzlose Nähe, einer Verschmelzung gleichkommend. In dem kuriosen Bild des Performers mit dem angeschnallten Pavian nimmt sich Cohen regelrecht zurück; bis auf die ausgestellten Beine verschwindet er hinter dem Tier. Nicht der Mensch, sondern das Tier rückt auf diese Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist das Tier, das Relevanz besitzt. Doch könnte auch genau dieser Aspekt wieder in Richtung der Instrumentalisierung des Tieres durch den Menschen tendieren, hat es doch den Anschein, als würde er das Tier als schützenden Panzer verwenden oder als wäre er der im verborgenen zurückbleibende Puppenspieler des Tieres, der nach Belieben auf das Tier einzuwirken und es zu manipulieren vermag. Das sanfte, zuvor noch liebevoll wirkende Streichen seiner Hand über das Fell des Tieres lässt es aus dieser Perspektive regelrecht schwach, ausgeliefert und bemitleidenswert erscheinen. Die Handbewegung wirkt nun wie eine brutale Geste der ausnahmslosen Verfügbarkeit des Menschen über das Tier. Assoziationen der Gefangenschaft des Tieres kommen auf: das Tier in den Fängen des Menschen.

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Wiederum ist auch diese Assoziation wohl nur fragmenthaft zu sehen. Rückt man einen anderen Aspekt in den Vordergrund, scheint sie wieder an Bedeutung zu verlieren – nämlich durch die Assoziation der vom Performer scheinbar angedeuteten Abstammung des Menschen vom Tier. Die Verknüpfung des Performers mit dem Tier in Form des aufgeschnallten Pavians könnte die tierische Natur des Menschen andeuten und gerade in Anbetracht des Titels THE CRADLE OF HUMANKIND auf die Abstammung des Menschen vom Affen hindeuten. Nicht nur durch das Bild des Tiermenschen in der beschriebenen Szene deutet sich die Assoziation an, sondern auch durch andere Momente in der Performance, so beispielsweise bei Cohens erstem Auftritt: Ein hell erleuchteter Ball ist auf der Bühne, mindestens zwei Meter hoch. Eine Gestalt, eine weiß glänzende seltsame Gestalt tritt auf, zwischen den Vorhängen hinten in der Mitte, eine Gestalt mit einem kahlweißen Kopf, die Ohren spitz, außerirdisch unnatürlich spitz. Langsamer, weicher Gang, ein Mann, nackte kräftige Beine, barfuß. Er hat irgendein weißes Oberteil an, vielleicht ein Korsett – nur ein Korsett und sonst nackt? Das Gesicht und der kahle Kopf kalkweiß angemalt. Er steht nun vor dem riesigen Ball – hell erleuchteter Ball. Sein Körper nur eine dunkle Silhouette vor dem hellen Licht. Eine Körperseite zum Publikum gerichtet. Langsam schiebt er seinen kahlen Kopf nach vorn, bückt seinen Oberkörper leicht nach unten, seine Füße leicht versetzt voreinander, seine Arme angewinkelt, Ellenbogen am Körper, Unterarme parallel nach vorn, schlaff nach unten hängende Hände. Irgendwie wie bei diesen Bildern, diesen typischen Körperseitenansichten, diese stufenweisen Entwicklungsschritte des Menschen vom Affen auf allen Vieren über den gebückten Primaten schon auf zwei Beinen bis hin zum Menschen im aufrechten Gang. Irgendwie so. Seine Pose scheint die des gebückten Primaten zu sein und auf die Abstammung des Menschen vom Affen zu verweisen. Durch diese Assoziation erscheint auch der nachfolgende Moment in einem ganz anderen Licht. Bisher erinnerte der Performer in der Szene eher an einen Außerirdischen. Jedoch im Nachhinein geht es in eine neue und andere Richtung. Vielmehr verweisen die nächsten Handlungen wohl eher auf den Ursprung des Menschen aus der Tierwelt: Er zieht seinen Kopf zurück, zieht ihn ein, macht sich klein, den Kopf in den durchsichtigen Ball hinein wie bei einer Schildkröte, auch seine Beine zieht er ein. Er ist völlig darin, gebückter, runder Rücken, auf allen Vie-

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ren, bodennah. Dann stützt er seine Arme am Boden ab, legt seine angewinkelten Beine mit den Knien auf seine angewinkelten Arme ab, das ganze Gewicht des Körpers auf den Ellbogen. In Anbetracht des Motivs des Tieres, könnte dieser Moment die erste Entwicklungsstufe des Menschen andeuten. Er könnte ein Standbild eines rennenden, im Sprung befindlichen Affen sein, der sich beim Rennen kurzzeitig nur auf seinen Händen abstützt. Ein Standbild wie auch die Pose des Affenmenschprimaten. Vieles deutet auf diese Assoziation hin. Im Nachhinein dachte ich jedoch zunächst an eine Weltkugel, in der er gefangen ist. Der Mensch als Teil der Welt. Zuvor war eine Videoprojektion zu sehen, in der immer wieder im Hintergrund eine weltkugelartige Kreisform auftauchte. Die Erinnerung an die Weltkugel entsteht auch durch die folgende anschließende Bewegungsfolge des Performers: Er ist draußen, aus dem durchsichtigen Ball draußen. Sein Outfit wird sichtbar, weißes Korsett, Schnürkorsett, seine Weichteile in einem halb durchsichtigen Plastikding halb versteckt, sonst nackt. Elegant hebt er den Ball hoch, nimmt ihn auf die Schulter, fast tänzerisch leichte Bewegungen wie diese Figuren, die die Weltkugel tragen, diese – wie heißen sie? – Atlanten sind es, tragen die Welt auf den Schultern, langsam geht er in die Knie, elegant, als würde das Gewicht zu schwer werden, setzt sich, legt den Ball ab. Im Nachhinein assoziiere ich auch eine Geburt: Er ist im Ball, hell weiß schimmernd wie in einer Seifenblase oder einem – ja – einem Fötus gleich und auch die Haltung wie bei einem eingerollten Fötus. Der Ball als eine Fruchtblase. Die alte Frau, fast nackte Frau steht draußen vor dem Ball mit Köcher, Pfeil und Bogen. Sie sehen sich an, durch die durchsichtige Schicht hindurch. Vorsichtig richtet er sich auf, sie kippt den Ball leicht nach hinten, damit er – damit er herauskommt. Wie ein Schlüpfen, eine Geburt. Hebt man das Motiv des Affen hervor, wollen die Motive der Weltkugel und der Geburt nicht mehr zu den performativen Vollzügen passen. Das Motiv des Affen scheint auch mit einem anderen Auftritt des Performers gegen Ende der Performance verknüpft zu sein: Von rechts hinten betritt er die Bühne in dem hell weißen Schnürkorsett. Sonst die Bühne in grünlich dunklem Licht. Das Korsett erstrahlt hell, eine Lichtleiste am Rand um den Brustkorb. Irgendetwas steht am Kopf ab wie zwei Hörner oder Fühler – Marsmenschfühler vielleicht. Seine sonst

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nackte Haut vom überhellen Licht des Korsetts ganz dunkel. Ein unförmiges Etwas hinten – ist das – das ist ein Affenpo, ein angebundener, abstehender, riesiger Pappmascheeaffenpo. Eine grotesk wirkende Körpersilhouette im grünlichen Dunkel der Bühne. In diesem Auftritt scheint sich der Performer erneut als ›Tiermensch‹ zu zeigen und auf die Abstammung des Menschen vom Affen zu verweisen. Doch kann der Auftritt auch wieder ganz anders gesehen werden und das Motiv der Abstammung des Menschen rückt in den Hintergrund. Erinnere ich mich an eine nachhängende Szene des Performers mit seiner CoPerformerin, drängt sich ein Thema in den Vordergrund, das die Gestalt des Performers wieder in einem neuen und anderen Licht erscheinen lässt: Der ›weiße Mann‹, der den ›schwarzen Mann‹ – hier die ›schwarze Frau‹ – über Versklavung zum Tier degradiert. Themen wie die Kolonisierung des afrikanischen Kontinents oder die Apartheit schwingen hierbei mit. Eines der prägnantesten Bilder, das die Beziehung von Mensch und Tier aufgreift, mag Folgendes sein: Sie geht langsam über die Bühne, gebrechlich langsame Schritte, die alte Frau mit dem runden, sympathischen Gesicht, nur wenige Falten, kurze, dunkelbraune, leicht gräuliche Haare. Bis auf einen dunklen Federbusch vor ihrer Scham ist sie nackt. Dunkle Haut, großer, runder, entblößter Po, breite, kräftige Oberschenkel, kräftiger Körper, über den Bauch hängende Brüste, von einer Projektion zuvor hat man ihr Alter erfahren: 90 Jahre! Jetzt sitzt sie mit dem dunklen Rücken zum Publikum auf einem weißen Quader. Der Bühnenboden weiß, die Vorhänge hinten schwarz. Schräg gegenüber, mittig, sitzt auch Cohen auf einem weißen Quader, Knie zusammen, Unterschenkel x-beinig nach außen, Füße schräg nach innen – wie ein schüchterner Schuljunge sitzt er da. Irgendwann steht er auf, geht in ihre Richtung, holt von der rechten Bühnenseite etwas hervor, einen kleinen Holzgegenstand schiebt er auf die Bühne, vor sie. Irgendeine Holzschachtel, ein Holzbehälter, er klappt ihn auf, er kniet vor ihr, seine Haut kalkweiß, das Holzobjekt aufgestellt, aufgeklappt. Er holt etwas heraus, Tiertatzen, Bärentatzen, wie Handschuhe zieht er sie ihr über, links und rechts über die Hände, er macht die alte Frau zum Tier, behutsame Bewegungen, sie bleibt regungslos, ist nun sein Gegenstand, sein Objekt, nun holt er – was holt er? – ja, das sind dunkle schwarze Handschellen, Ketten regelrecht, befestigt sie über den Tiertatzen, angekettet. Überdeutlich und langsam geht er rückwärts nach hinten, das Holzding ist ein kleiner Minisarg,

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ein kleiner Holzsarg aufgeklappt mit Zeichnungen darin, auf Boden und Deckelinnenseite ein Totenkopf oder Skelett in weiß, aber auch irgendetwas in roter Farbe. Kette, Sklaverei, Tier, Tod. Mit dieser Szene im Hinterkopf erscheint das Bild des Performers mit dem aufgeschnallten Pavian wieder ganz anders. Es könnte ebenso in die Richtung verstanden werden, dass der Mensch durch objektivierende Handlungen zum Tier degradiert wird. Wie die schwarze Frau zum Tier gemacht wird, könnte auch der eindrucksvolle Auftritt des Performers als eine Entmenschlichung des Menschen verstanden werden, eine Objektivierung des Menschen durch andere Menschen, eine Objektivierung, die den Menschen zum Tier macht. Wiederum erscheint der Gedanke der Objektivierung zwar einleuchtend, jedoch war die Beziehung zwischen den beiden Performern eigentlich immer eine freundschaftliche, nahe, fast rührende. Obwohl Cohen die Frau für seine Aktionen mitunter arrangierte und verwendete, kam nie der Eindruck auf, sie würde im negativen Sinne ›benutzt‹ und ›ausgestellt‹ werden. Sogar das Anbringen der Handschellen hatte etwas Vertrautes, Ruhiges, zwar als Bild Brutales, jedoch die Gesten waren ruhig, langsam, vertraut, würdevoll. In anderen Szenen führt er sie an der Hand über die Bühne, achtet darauf, dass sie nicht stolpert. Rührend wie ein freundschaftlicher Gruß führen sie sich Stirn an Stirn oder er tanzt mit ihr, dreht sie behutsam im Kreis, obwohl er sie zuvor versklavte, zum Tier machte. Vielleicht könnte in diesem Licht nicht die Objektivierung im Vordergrund stehen, sondern sogar der Appell, eine vertraute Beziehung zum Tier, zur Natur, zum Ursprung der Welt herzustellen. Im positiven Sinn stünde Cohens Auftritt für ein Wieder-zum-Tier-Werden – Cohen als ›Tiermensch‹; eine vertraute, ursprüngliche, ungebrochene, rührende Beziehung – als Einheit. Die Überlegungen zum Tierischen mögen auf den ersten Blick ganz nachvollziehbar sein und ins Zentrum der rätselhaften Gestalt des Performers rücken. Doch auf den zweiten Blick tauchen auch zahlreiche performative Setzungen auf, die schwer mit dem Tierischen vereinbar zu sein scheinen. So beispielsweise ein Moment: Cohen drückt der Frau einen großen diamantförmigen Glasstein in die Hand. Liebevoll stellt er sie vor die weiße Leinwand im Bühnenhintergrund. Sie hält das Glas mit ausgestreckten Armen nach oben. Mit einem kleinen Handlaserpointer zielt Cohen darauf. Ein Spiel unzählig vieler grüner Punkte und gebrochener Lichtreflektionen übersät die Bühne.

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Das Bild scheint nicht zu dem bisherigen Nachdenken über das Tierische zu passen, weder zur Assoziation mit der Abstammung des Menschen vom Tier noch zu der problematischen Beziehung des Menschen zum Tierischen. Auch ein anderer dominanter Assoziationsstrang, dem es im Folgenden nachzugehen gilt, lässt sich nicht mit den bisherigen Überlegungen vereinbaren. Der Performer als rührender ›Vaudeville-BourleskeDragqueen-Künstler‹ Sein eindrucksvoller Auftritt entlehnt offenbar Elemente aus dem Bereich des Varietés. Schon allein der erste Moment seines Auftritts lässt Assoziationen an Bourleske- oder Vaudevilleshows aufkommen: Seine Beine tauchen hinter dem Vorhang auf, in der Bühnenmitte hell weiß erstrahlende Beine mit riesigen Plateau-Highheels. Vor dem Schwarz des Vorhangs hell am Präsentieren, Ausstellen, Zeigen – als hätte er weiße Nylonstrumpfhosen an. Vielleicht sind sie das auch. Weil die Bühne in ein sehr dunkles Licht getaucht ist, hat man den Eindruck, als seien nur Beine in Highheels auf der Bühne und der Rest des Körpers verschwinde im Dunkeln. Erst später erkenne ich, dass es sich um ein Tier handelt, das vor seinen Körper geschnallt ist. Zahlreiche performative Setzungen drängen in die Erinnerung, die den Performer weniger als Tiermenschen, denn als Varieté-, Bourleske- oder Vaudevillekünstler erscheinen lassen. Erinnerungen, die die Performance eher in die Darstellungsformen der Parodie, Travestie und sogar des Striptease einordnen ließen. Die akzentuierten Beine und die fast tänzerisch anmutenden Bewegungen lassen auch die Assoziation des Performers mit einem ›Can-can‹-Tänzer zu, wohl auch, weil er in einer späteren Szene das Tänzerische wieder aufgreift: Die Frau betritt die Bühne, mittig von hinten. Grünes Licht überall. Um ihre Hüften hat sie ein strahlend helles weißes Rundding, wie bei einer Ballerina nur größer und weiter abstehend, ein riesiges abstehendes BallettTutu. Das Ding leuchtet selbst so grell hell leuchtet es – irgendwie rührend und auch absurd, lustig auch – da sind Lichtquellen an dem Rock selbst befestigt. Ihre dunkle Haut im Gegensatz noch dunkler. Wie von einem anderen Stern. Wenige Tapsschritte nach vorn. Er kommt auch, von der Seite hinten, das erste Mal von der rechten Bühnenseite. Und er strahlt auch so grell weiß. Das ist sein Korsett, auch mit eigenen Lichtquellen, oben am

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Rand des Korsetts. Und er hat – was hat er da – ein riesiges, unförmiges Hinterteil von einem – ist es – ja, das könnte ein Affenpo sein. Eine seltsame Silhouette ist das. Seine Haut fast genauso dunkel wie die der Frau. In dem grünen Licht. Auf dem Kopf da hat er so zwei Fühler auf dem runden Schädel oben darauf. Er geht elegant, barfuß auf sie zu, gibt ihr die Hand – wie bei einer Aufforderung zum Tanz reicht er ihr behutsam die Hand. Haben sie vorher die Stirn aneinander getan? So rührend Stirn an Stirn wie eine vertraute Begrüßung aus fernen Ländern? Ich weiß nicht – aber ich glaube schon. Er deutet Tanzbewegungen an, elegante Schritte, sie tapst unbeweglich etwas mit, einmal hebt er ein Bein nach hinten an, angewinkelt, die typische Pose, ein Bein angewinkelt nach hinten, lustig irgendwie, aber auch rührend wie er mit ihr umgeht, er macht alles ganz langsam, mit Rücksicht, weil sie nicht so schnell kann. Er hilft ihr, ihren Oberkörper wie bei einer Verbeugung kurz nach vorn zu beugen. Beide drehen sich langsam im Kreis, er mit nach oben angewinkelten Händen. Sie wirken wie Kinder, er mit offenem Mund, leicht angedeutetes Lächeln, sie beugt sich nach unten und er hilft ihr wieder langsam hoch. Sie stehen kurz vor einem Pult mit Buch – es wirkt wie ein Blättern durch ein Kinderbuch – weitertänzeln, er tänzelt angedeutet, sie tapst mit, er führt sie, aber nicht wie ein Objekt wie vorher, anders, eher behutsam, zärtlich, kümmernd, freundlich, weich – ein absurder Tanz wie von einem anderen Stern, er lächelt einmal sogar, währenddessen läuft die ganze Zeit eine alte Schallplatte, vielleicht aus den 1920ern. Aber ich weiß es nicht. Er lässt die Schallplatte immer wieder spielen. Der alte Plattenspieler steht auf der Bühne und erzeugt die Klänge. Sie tanzen auf ihre Weise. Die alte schwarze Frau, nackt und nur mit hellweißem Tutu und der Mann im strahlenden Korsett und mit unförmigem Tierpo tanzend, elegant, weich, feminin. Gerade das Tänzerische und vielleicht auch die Schallplattenmusik lassen Assoziationen an Varietéperformances um 1900 aufkommen. Er wirkt wie ein Varietékünstler zwischen Bourleske und Vaudeville. Während er in dem Soloauftritt eher in Richtung Bourleske zu tendieren scheint, einer theatralischen Darstellungsform, die mit erotischer Provokation arbeitet, steht er in der eben beschriebenen Szene wohl eher im Kontext der allgemeinen Form des Vaudeville, bei dem ganz unterschiedliche Künstler wie Magier, Akrobaten, Bauchredner, Tänzer, Sänger, Komödianten oder auch Tierdresseure auftraten und ihre Fertigkeiten, Besonderheiten oder Abnormitäten zur Schau stellten. Im Licht dieser Verbindung des Performers mit dem

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Varieté rücken auch performative Setzungen seines Soloauftritts mit Highheels in den Mittelpunkt: das mittige Auftreten des Performers, die überakzentuierten weißen Beine, die riesigen Highheels, das Schüchternheit zitierende Überschlagen der Beine, die elegant und feminin anmutenden Bewegungen der Arme und Beine, die tänzerischen, sich präsentierenden Gesten, die provokante Nacktheit, das Sich-Präsentieren in einer extravaganten Kostümierung einer Attraktion gleich und auch die Präsentation von Feuerkunststücken, die an einen Magier erinnern. Gerade im Nachhinein, wenn man sich nicht nur dem einen nachhängenden Auftritt, sondern der Performance insgesamt wieder imaginativ gewahr wird, hat die dramaturgische Struktur etwas Nummernhaftes. Immer wieder tritt er zumeist mittig auf und präsentiert sich in einem neuen, überraschenden und extravaganten Outfit: zunächst barfuß in dem durchsichtigen Ball mit einem weißen Korsett, einem fast durchsichtigen Plastikelement vor seinen Weichteilen und einem kalkweiß angemalten kahlen Kopf und spitzen Ohren; dann in den Highheels mit dem aufgeschnallten Tier und gegen Ende in einem von einem Lichterband hell weiß erstrahlenden Korsett mit zwei kleinen Modellbäumchen wie Fühlern auf seinem Kopf und einem übergroßen, angeschnallten Affenpo. Er erscheint wie ein Varietékünstler, der sich immer neu und anders zu präsentieren sucht: das Tänzerische; die einen Magier oder Zauberkünstler andeutende Feuerexplosion; der Tierdresseur; die erotisch provozierende Bourleske-Tänzerin; er selbst als Schau-Attraktion. Durch den einmaligen Einsatz der Plateau-Highheels entsteht jedoch auch eine ganz andere Assoziation, die die eher an Darstellungsformen um 1900 erinnernden Posen und Gesten in den Hintergrund rücken lassen – nämlich die Assoziation des Performers mit einer Dragqueen. In einer späteren Videoprojektion sieht man, dass die futuristisch anmutenden Highheels aus Schlangenleder sind und eher an zeitgenössische Darstellungsweisen erinnern, sei es einer Lady Gaga oder der Dragqueen Olivia Jones. Trotzdem könnte als Grundsituation die des Varietés genannt werden, schon allein wegen der Nummernstruktur, den immer neuen und extravaganten Outfits und den zahlreichen Verweisen auf typische Präsentationsformen des Varietés. Vielleicht könnte jedoch auch ein ganz anderer Aspekt in den Vordergrund treten, nämlich der einer Völkerschau. Eine alte, nackte Frau aus Afrika wird ausgestellt, präsentiert, zum Sklaven gemacht. In diesem Licht er-

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scheint Cohen wie ein Erkunder aus den Tagen der Kolonialisierung, der Zeugnisse aus einer fremden Welt zur Schau stellt. Dem ›weißen Mann‹ zeigt er eine dunkelhäutige, alte Frau, eine Ureinwohnerin, die wie eine Attraktion vorgeführt wird. Performative Setzungen treten in der Erinnerung hervor, die auf diesen Aspekt hinzudeuten scheinen: Er führt sie an der Hand, bringt sie zu einem hohen Stock wie einem riesigen Lineal und er stellt sie davor, als würde er sie abmessen, stellt er sie da hin, sie steht bewegungslos dort, er geht in die Knie, wie ein Erkundender auf einem Bein abgestützt, heroisch auf sie blickend, und er nimmt ein Fernrohr in die Hand, so ein schönes altes Ausziehfernrohr. Er richtet es auf sie wie ein Erkundender, der eine fremde Welt gefunden hat, stolz, der weiße Eroberer des schwarzen Kontinents. Wenn man jedoch die rührende Beziehung der beiden zueinander in den Vordergrund rückt, scheinen die Assoziationen bezüglich Varieté und Völkerschau nicht stimmig zu sein. Die ruhige, stille, sanfte Beziehung steht im harten Kontrast zu der grellen Inszenierungsfassade eines Varietékünstlers und überlagert auch den Gedanken an die Völkerschau. Jetzt, im Nachhinein erscheint er eher wie ein Mann, der sich um die alte Mutter oder sogar Großmutter kümmert. Mit dem Wissen, dass die alte Frau seine Ziehmutter ist, bekommt die Beziehung der beiden etwas noch Vertrauteres, Zärtlicheres, Rührenderes.

5. N ACH

DEM

S CHREIBEN

Nach diesem Schreibversuch – und auch im Vergleich zu dem vorherigen – lassen sich nun weitere Besonderheiten der Analyse unbegreifbarer Performer betrachten bzw. schon erörterte vertiefen. Zunächst fällt auf, dass dieser Schreibversuch den Modus des Erinnerns als Ausgangspunkt wählt. Der Text geht regelrecht vom Nachdenken aus. Dies wird insofern betont, als dass das Schreiben als das belassen wird, was es ist: Es setzt erst nach dem Moment der Begegnung ein. Dadurch wird nicht der Eindruck vermittelt, es gebe keine Distanz zum beschreibenden Geschehen, wie er vielleicht beim Schreiben zu HEY GIRL! entstehen kann. Vielmehr wird Distanz bewusst markiert, was die Möglichkeit mit sich bringt, den Prozess des Schreibens selbst aufgreifen zu können. Die im Nachhinein stattfindenden Bewegungen des Suchens, Findens und Verwer-

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fens im Schreiben treten regelrecht hervor. Auf diese Weise wird die schon erörterte dreifache Prozesshaftigkeit des Wahrnehmens, Erinnerns und Schreibens in besonderem Maße hinsichtlich der letzten beiden Aspekte akzentuiert. Die besonderen Schwierigkeiten, bedingt durch ein bewegtes und bewegendes Erinnern, spiegeln sich so auch im Schreiben wieder, das gleichfalls seine Bewegtheit ausstellt. Erlangt die Bewegtheit im Text zu HEY GIRL! eher vom Moment der Wahrnehmung aus Sichtbarkeit, wird sie beim Schreibversuch zu THE CRADLE OF HUMANKIND primär durch das Erinnern deutlich. Während im Text zu HEY GIRL! die vorwärts- und rückwärtsgewandte Schreibweise Anwendung findet, um ein imaginatives Hineinversetzen zu erzielen, wird hier nur die Schreibweise des Rückwärtsschreibens angewandt. Letztere ist insbesondere in der Lage, die intensive Bewegtheit des Unbegreifbaren im Danach zu markieren, verliert jedoch den Moment der Begegnung nicht aus den Augen. Denn im Erinnern kann auch die Bewegtheit des Wahrnehmens im Moment der Begegnung aufscheinen. Es kann somit nicht von einer Abwendung vom nahen Beschreiben ausgegangen werden. Vielmehr wird in diesem Ansatz die eigentümliche Beziehung zum nahen Beschreiben deutlich: Einerseits betont das Rückwärtsschreiben das Danach, andererseits wird eine Nähe aufgebaut, jedoch auf andere Weise. Der Schreibversuch setzt an einem besonders nachhängenden Auftritt an. Für den Aufbau des Textes bringt dies mit sich, dass nicht chronologisch verschiedene Szenen in einem nahen Beschreiben nachverfolgt werden, das eher an dem Moment der Erfahrung ansetzt, sondern dass achronologisch zwischen verschiedenen Auftritten und Erinnerungen gesprungen wird. Das zeigt, dass erst im Nachhinein durch ein schreibendes Nachdenken eine zumindest ansatzweise Annäherung möglich ist, indem unterschiedlichen, auch heterogenen Gedanken gefolgt wird. Andererseits birgt es die Problematik, dass die Performance nur bruchstückhaft aufscheinen kann, ohne dass sich ein Verlauf der Performance wie im Beschreibungstext zu HEY GIRL! abzeichnet. Der chronologische Verlauf bleibt in der Schreibweise des Springens zwischen Fragmenten im Verborgenen zurück. Lesende werden nicht derart in das Geschehen hineingezogen wie im vorherigen Schreibversuch. Sie haben am stockenden, suchenden und schwebenden Prozess des Nachdenkens teil. Trotz allem wird dadurch eine Nähe zu Steven Cohen erzeugt, jedoch anders als im Text über Silvia Costa. Nicht durch ein imaginatives Hineinversetzen gewinnt hier der Performer

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an Plastizität, sondern durch die Hervorhebung des Nachträglichen und die daraus resultierende Möglichkeit, Sprünge, Vergleiche und Verflechtungen von Gedanken im Prozess des Nachdenkens aufgreifen zu können. Nur punktuell wird im Schreiben über Steven Cohen auf ein imaginatives Hineinversetzen abgezielt – wie beispielsweise in der etwas ausführlicheren Passage, in der die als Ausgangspunkt gewählte Szene plastisch zu beschreiben versucht wird und in den kürzeren beschreibenden Abschnitten, die jedoch derart von einem eher nachdenkenden Schreibduktus umgeben sind, dass ein Einfühlen eher angezweifelt werden muss. Nichtsdestoweniger zeigt sich, dass ein eher distanziertes und nachdenkendes Schreiben durchaus mit nahem Beschreiben verknüpfbar ist. Es zeichnen sich zwei Formen von Nähe ab, die in den beiden Schreibversuchen erzeugt werden: einerseits eine Nähe durch Distanz beim nachdenkenden Schreiben über Steven Cohen, andererseits eine Nähe durch Nähe beim imaginativ hineinversetzenden Schreiben zu Silvia Costa. Vergleicht man das Schreiben über Steven Cohen mit dem Schreiben über Silvia Costa oder dem über die japanischen Cosplayer, fällt auf, dass das Stottern und Stammeln über den beinahe schon exzessiven Gebrauch von Gedankenstrichen in allen Beschreibungsversuchen vorkommt. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass lediglich durch den Einsatz dieses Stilmittels das Unbegreifbare zur Sprache gebracht werden könnte. Dieser Eindruck kann leider nicht vermieden werden. Trotzdem geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass nicht mit einem Repertoire von Schreibstrategien an das Unbegreifbare herangetreten werden kann. Immer muss vom je spezifischen Gegenstand ausgegangen werden, der die Schreibenden zu je spezifischen Strategien des Schreibens zwingt. Jedoch kommen die Schreibenden natürlich nicht umhin, eigene Schreibweisen zu verwenden. Beim Fall des exzessiven Einsatzes von Gedankenstrichen scheint es sich um eine Schreibweise zu handeln, um meine Schreibweise. Der Gedankenstrich, der einerseits für die Lücke, andererseits für das stotternde und stammelnde Zögern steht, ist eine sprachliche Strategie, die typisch für meinen Schreibstil ist. Alle Schreibenden haben eigene Schreibweisen. So ist es auch mir unmöglich, wiederkehrende, für mich typische stilistische Mittel zu verwenden, die jedoch – so muss erneut betont werden – nur zum Einsatz kommen, um die je spezifische Erfahrung des Gegenstandes und die je spezifische Erinnerung an den Gegenstand aufzugreifen. Keinesfalls

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geht es um ein »staging of the writing subject«80, sondern immer um den Versuch, mit Mitteln subjektiven Schreibens den Gegenstand aufscheinen zu lassen. Eine Stärke des über Steven Cohen praktizierten Schreibens scheint die enge Verbindung von Beschreibung und Analyse zu sein. Ganz anders als im Text zu HEY GIRL! kann in einem ständigen Changieren zwischen einem Schreiben in Distanz und einem Schreiben in Nähe hin- und hergewechselt werden. Auf diese Weise wird einerseits der für unbegreifbare Performer zentrale Modus des nachträglichen Beschäftigenmüssens thematisiert, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit, sich imaginativ in einen Moment erinnernd zu begeben. Die Bewegung des Erinnerns und die im Nachhinein stattfindenden Prozesse des Neu- und Anderssehens von vergangenen Momenten werden deutlich. Steven Cohen erscheint je nach aktivierter Erinnerung, je nach neu aufkommender Assoziation anders. Durch das Ineinanderübergehen von Beschreibung und Analyse können blitzschnell Verknüpfungen hergestellt und wieder aufgelöst sowie Vergleiche zu beliebigen Szenen aufgebaut werden, die kurz beschreibend thematisiert und mit dem analytischen Nachdenken verwoben werden können. Daraus erwächst jedoch das Problem, dass die Schreibweise den Anschein erweckt, als wäre die Analyse und nicht die bisher betonte Beschreibung als vorgängig gesetzt – obwohl die Beschreibung des nachhängenden Auftritts als Ausgangspunkt gewählt wird. Bei der Schreibweise zu HEY GIRL! wird das Beschreiben klar als ein der Analyse Vorgängiges gesetzt. Bei der Schreibweise zu Steven Cohen verschwimmen beide Bereiche. Die These, nur über das Beschreiben sei ein Analysieren möglich, scheint abgeschwächt zu werden. Natürlich stellt sich die nahe Beschreibung auch in diesem Schreibversuch als grundlegend heraus, werden doch alle nachträglichen Assoziationen aus den am Anfang stattfindenden Beschreibungen gezogen und wird das Nachdenken doch im Text nur durch immer wieder einsetzende Beschreibungen nachvollziehbar. Jedoch muss trotzdem behauptet werden, dass die Vorgängigkeit des Beschreibens im Versuch zu HEY GIRL! deutlicher hervortritt. Weil die Lesenden durch eher distanzaufbauende Strategien nicht in den Sog des Unbegreifbaren hineingezogen werden, könnte daraus der Eindruck entstehen, die Unbegreifbarkeit wäre bei Steven Cohen nicht so in-

80 M. Poovey: »Creative Criticism«, S. 123.

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tensiv oder sie sei vielleicht sogar überhaupt nicht vorhanden. Beim Beschreibungsversuch zu HEY GIRL! scheint dieses Problem nicht zu entstehen, wird dort doch die Bewegung des Unbegreifbaren in den Bewegungen des Beschreibens deutlich. Dieses Problem muss jedoch nicht gelöst werden. Vielmehr zeigt es, dass dem Unbegreifbaren eben nicht nur mit einer sprachlichen Strategie begegnet werden kann. Ganz im Gegenteil muss sich das Schreiben, wie mehrmals betont, immer wieder neu auf die je spezifischen Performer einstellen. Der Unbegreifbarkeit Steven Cohens entspricht wohl eher ein nachdenkendes Schreiben, gibt seine Erscheinung doch viel zu denken und konfrontiert sie im wahrsten Sinne des Wortes mit dem von Lyotard betonten »Schmerz des Denkens«81. Je länger nachgedacht wird, desto weiter entfernt man sich von dem Performer, desto intensiver wird die Erfahrung des Unbegreifbaren als eine sich ständig verändernde Erinnerung, als ein ständig neu und anders in Erfahrung tretendes Nachdenken. Je länger man nachdenkt, desto weiter bewegt man sich weg, desto näher kommt man dem Unbegreifbaren. Schreiben zwischen Moment und Spur Bezug nehmend auf beide Schreibversuche stellt sich nun die Frage, wie das Schreiben über unbegreifbare Performer übergreifend gefasst werden kann. Schon beim Schreibversuch zu HEY GIRL! hat sich die besondere Spannung aus einem Schreiben des Momenthaften und Nachwirkenden angedeutet. Auch im Versuch über Steven Cohen findet, obwohl das Nachdenken hervorgehoben wird, ein Beschreiben statt, das die momenthafte Erfahrung aufgreift. Nicht nur zu Beginn des Textes wird das Momenthafte sprachlich thematisiert, sondern auch später, wenn Gedanken mit dem besonders nachhängenden Auftritt verknüpft werden. Trotz der erarbeiteten Unterschiede der beiden Schreibversuche wird eine übergreifende Besonderheit des Schreibens über unbegreifbare Performer deutlich, nämlich die Notwendigkeit, gleichfalls das Nachwirkende und Momenthafte aufzunehmen. Beides hat sich als entscheidend für die Betrachtung herausgestellt. Das Momenthafte und Nachwirkende darf nicht mit der Unterscheidung zwischen nahem und distanziertem Schreiben gleichgesetzt werden, denn

81 J.-F. Lyotard: Das Inhumane, S. 42.

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das Nachhängende kann auch im nahen Beschreiben aufgegriffen werden, wie es insbesondere bei HEY GIRL! sichtbar wird. Die Orientierung am Moment ist von grundlegender Notwendigkeit, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, unbegreifbare Performer zumindest ansatzweise berühren zu können. Doch muss immer auch das Nachhängende in einer irgend gearteten Form aufgegriffen werden, ist es doch für unbegreifbare Performer geradezu prägend: Sie entfalten ihre Wirkung nicht nur im Moment, sondern insbesondere auch im Danach. Diese Spannung eines Schreibens zwischen Nachhängendem und Momenthaftem kann auf je individuelle Art und Weise sprachlich aufgegriffen werden. Würde jedoch eine Schreibrichtung komplett in den Hintergrund gedrängt werden, liefe man Gefahr, sich tatsächlich vom Untersuchungsgegenstand wegzubewegen und die Unbegreifbarkeit zu verpassen. Das Schreiben über HEY GIRL! setzt eher am Moment der Erfahrung an und thematisiert hierüber das Erinnern und Nachdenken. Bei THE CRADLE OF HUMANKIND wird genau die umgekehrte Strategie verfolgt: Über das Nachdenken werden Erfahrungen sichtbar. Beides sind jedoch Schreibweisen, die an der je spezifischen Erscheinung der Performer ansetzen und versuchen, sie in die Prozesse des Schreibens in je spezifischer Weise aufzunehmen. Diese Überlegungen lassen den neuen und anderen Charakter des hier praktizierten Schreibens sichtbar werden. Der Unterschied zu bestehenden Schreibweisen, wie sie exemplarisch anhand des semiotischen und phänomenologischen Ansatzes diskutiert wurden, tritt nun deutlich hervor. Sowohl das semiotische als auch das phänomenologische Schreiben setzen primär am Moment an – aber natürlich auf je unterschiedliche Weise. Fischer-Lichte zielt auf die Bedeutungen ab, die Schauspieler im Spannungsfeld von umgesetzter Rolle und der im Text formulierten Rolle hervorbringen, Roselt auf die Prozessualität des Wahrnehmens im ›Zwischen‹ von Schauspieler und Zuschauer. In dem hier entwickelten Schreiben findet durch die Orientierung am Momenthaften und Nachhängenden die dreifache Prozessualität des Wahrnehmens, Erinnerns und Schreibens in den Text Eingang. Die besondere Bewegtheit unbegreifbarer Performer kann so aufgegriffen werden wie auch die im Vergleich zu Schauspielern intensivierte Schwierigkeit, unbegreifbaren Performern versprachlichend zu begegnen. Diese Besonderheit des schreibenden Herantretens an unbegreifbare Performer, die sich von bestehenden Ansätzen des Schreibens über Schau-

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spieler abhebt, sei als ein ›Schreiben zwischen Moment und Spur‹ verstanden. Der Begriff der Spur dient als eine metaphorische Umschreibungsmöglichkeit, um verschiedene Facetten des hier entwickelten Schreibens aufleuchten zu lassen – nicht zuletzt, um das zumeist vernachlässigte Bleibende der Begegnung mit unbegreifbaren Performern ins Licht zu rücken. Zunächst beschreibt der Begriff der Spur die problematische und fast paradoxe Beziehung zum vorausgehenden Moment. Die Spur lässt den Moment in der Spur sichtbar werden, jedoch nur als Spur. Insofern können Spuren in Anlehnung an poststrukturalistische Annahmen nicht als »Abbildungen von Ereignissen«82 zu verstehen sein. Vielmehr rücken sie »das Problem der Fixierbarkeit und identischen Wiederholbarkeit von [...] Ereignissen in den Vordergrund«83. Sybille Krämer umschreibt in Rekurs auf Levinas, dass die Gegenwart der Spur von dem zeuge, was in ihr »abwesend und unerreichbar«84 sei. Insofern durchbreche sie die Logik des Abbildens und das »Schema von Vermittlung«85. In Anschluss an Krämer lässt sich paradox formulieren: Das, was in der Spur gegenwärtig werde, sei der Entzug. Die Spur könne nicht als »repräsentierende Vergegenwärtigung« oder gar als »Enthüllung«86 zu verstehen sein. Keinesfalls sei sie von der »Idee des Verstehens«87 geleitet. Spuren enthüllen vielmehr die Unenthüllbarkeit dessen, auf das sie sich beziehen. Sie vergegenwärtigen die »Unverfügbarkeit«88 des in der Spur Angedeuteten. Insofern schreibt sich in den Spurenbegriff eine Beziehung aus »Absenz und Präsenz«89 ein, die in die Nähe des hier praktizierten Schreibens rückt. Im Schreiben kann der unbegreifbare Moment nicht bewahrt werden, son-

82 Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Epping-Jäger, Cornelia: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Spuren Lektüren Praktiken des Symbolischen, München: Wilhelm Fink 2005, S. 9. 83 Ebd. 84 Krämer, Sybille: »Das Medium zwischen Zeichen und Spur«, in: Gisela Fehrmann/Erika Linz/Cornelia Epping-Jäger (Hg.), Spuren Lektüren Praktiken des Symbolischen, München: Wilhelm Fink 2005, S. 163. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 162. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 163. 89 G. Fehrmann/E. Linz/C. Epping-Jäger: »Vorwort«, S. 9.

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dern er wird nur als Spur gegenwärtig, die auf ein Nicht-Gegenwärtiges verweist, das unerreichbar bleibt. Jedoch lässt sich das auch positiv ausdrücken: Nur durch die Spur und in der Spur erhält das Abwesende, das Nicht-zu-Stellende und Unerreichbare, eine neue und andere Gegenwärtigkeit, die ohne sie spurlos wäre. Sie ist es, die es überhaupt erst ermöglicht, die unbegreifbaren Performer zu erspüren und ihnen nachzuspüren. Durch die Spur, so lässt sich formulieren, kommt man dem Phänomen, auf das die Spur verweist, zumindest annähernd auf die Spur. Man wird zwar nicht erfassen, geschweige denn rekonstruieren können, jedoch kann der Moment als ein Anderes in der Spur erfahren werden, wenn man sich im Schreiben darum bemüht, sich in den Spuren des Moments zu bewegen und nicht im wahrsten Sinne des Wortes ›neben der Spur zu sein‹ und am Moment vorbeizuschreiben. Ein Schreiben über unbegreifbare Performer ist somit insgesamt als ein Schreiben im Sinne des Spurenbegriffs zu verstehen. Immer hat man es, poststrukturalistisch formuliert, nur mit Spuren zu tun, deren Nachspüren zu keinem Ende führt, an kein Ziel kommt, nie als ein Aufspüren zu verstehen wäre. Nie kann es zu einem Ende führen, sondern es bewegt sich unermüdlich weiter. Auf der anderen Seite bietet das Nachspüren unbegreifbarer Performer überhaupt erst die Möglichkeit, sich mit ihnen auseinandersetzen zu können. Obgleich aufführungsanalytisches Schreiben insgesamt als ein Nachspüren und Erspüren von Spuren zu verstehen wäre und dieses allgemeine Verständnis nicht verneint wird, sei hier mit der Verwendung des Spurenbegriffs betont, dass ein Schreiben über unbegreifbare Performer besonders dem Modus des Nachträglichen, des Nachwirkens und eben Nachspürens Aufmerksamkeit schenken muss. Hiermit wird nicht dem Moment der Begegnung die zentrale Position abgesprochen, an dem ein Schreiben ansetzen muss, sondern vielmehr lässt sich ihm nur durch die Spur annähern. Die hier vorgenommene enge Verflechtung von Spur und Moment reklamiert in dem verwendeten Kontext ein Spur-Außen, eine Nicht-Spur. Sie geht von der Vorgängigkeit des Moments aus, der noch nicht Spur ist. Diese Ansicht widerspricht Annahmen, die davon ausgehen, das Erspüren von Spuren führe nur zu neuen Spuren, sodass man es mit einer Spur der Spur zu tun habe.90 Dem kann sich hier

90 Vgl. dazu Linz, Erika/Fehrmann, Gisela: »Die Spur der Spur. Zur Transkriptivität von Wahrnehmung und Gedächtnis«, in: Dies./Cornelia Epping-Jäger (Hg.),

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nur insofern angeschlossen werden, als dass ein Wiederaufdecken des Moments nicht möglich ist, jedoch mit der Betonung, dass es einen Moment gab, der vorausging und überhaupt erst eine Erinnerungsspur ermöglicht. In eben diesem Sinn sei hier der Begriff der Spur verwendet: als eine Erinnerungsspur, die einen vorausliegenden Moment als ein Neues und Anderes zu erspüren ermöglicht, auch wenn der Moment nie erfasst werden kann und immer nur als eine neue und andere Spur in Erscheinung tritt. Trotz allem kann es gelingen, dass über den Versuch des Erspürens, der für die Betrachtung unbegreifbarer Performer zentrale Moment der Begegnung als ein Anderes in der Spur Gegenwärtigkeit erlangt. Angesichts unbegreifbarer Performer werden Spuren nicht im Sinn Krämers als materiell-greifbar verstanden, die »der Welt der Dinge« angehörten und »konkret und gegenständlich vorhanden«91 seien. Spuren seien in dem hier verwendeten Kontext lediglich als Erinnerungsspuren verstanden – ein Verständnis, das Krämer durchaus auch erwähnt und als »Spur der Erinnerung [Herv. i.O.]«92 umschreibt. Es sei also im Rahmen dieser Arbeit von Spuren die Rede, die sich ins Gedächtnis gebrannt haben und sich in einem ständig weiterwirkenden Verändern weiterhin einbrennen. Die Erinnerungsspur weist zurück auf die vorausgegangene, momenthafte Erfahrung, die jedoch nicht abzubilden ist, sondern nur als Spur in Erscheinung tritt: die Spur als ein immer wieder Neues und Anderes des Moments. Diese Annahme bringt mit sich, Spuren in dem hier vorliegenden Zusammenhang nicht als fest umrissen zu denken. Vielmehr sind sie als sich verändernd und bewegt zu verstehen, die keine klaren Konturen besitzen – sich ständig verwischende Spuren, die immer wieder neu erspürt werden müssen.

Spuren Lektüren Praktiken des Symbolischen, München: Wilhelm Fink 2005, S. 90. 91 Krämer, Sybille: »Immanenz und Transzendenz der Spur: Über das epistemologische Doppelleben der Spur«, in: Dies./Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 158. 92 Krämer, Sybille: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in: Dies./Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 22.

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Unbegreifbare Performer hinterlassen in diesem Sinn regelrecht schwebende Spuren: Spuren, die nachhängen, sich aber immer auch umformen, neu und anders erspürt werden, sich verändern; Spuren, die vielleicht noch spurlos erscheinen und im Danach erst erspürt werden müssen; Spuren, die erschrieben werden müssen. Insofern ist das Bleiben der Spur nicht als ein Immer-gleich-Bleiben zu verstehen, sondern als ein Bleiben in Bewegung: ein In-Bewegung-Bleiben. Weiterhin wird in dem hier vorliegenden Kontext von einer nur singulären Spur Abstand genommen. Vielmehr sind es Spuren im Plural, sich ständig verwischende Spuren, die in unterschiedlicher Weise auf die momenthafte Begegnung mit Performern zurückweisen. Eine weitere zentrale Facette ist die im Spurenbegriff mitschwingende Notwendigkeit des nachträglichen Beschäftigens. Spuren seien regelrecht »Aufforderungen zu [...] transkriptiven Lektüreprozessen«93. Gerade dieser Aufforderung zum Nachspüren widmet sich ein Schreiben über unbegreifbare Performer. Es sieht sich Spuren gegenüber, die nachhängen, die zu einem Beschäftigenmüssen führen. Mit dem Spurenbegriff bekommt die Notwendigkeit des Nachspürens ein besonderes Gewicht verliehen. Schreiben über unbegreifbare Performer lässt sich somit als ein SichBewegen in Spuren fassen, die ein Moment hinterlassen hat. Jedoch kann der Spurenbegriff nicht nur rückwärtsgewandt als Erinnerungsspur verstanden werden, sondern im Schreiben werden vorwärtsgewandt auch Spuren gelegt. Neue und andere Erinnerungsspuren werden durch den Prozess des Beschreibens und Analysierens hervorgebracht, neue und andere Erfahrungen werden im Erspüren gemacht, die wiederum neue Spuren legen. In der Beschreibung und in der Analyse wird, so wurde es schon theoretisch entwickelt, immer auch etwas Neues erschaffen. Gerade durch den hervorbringenden und inszenierenden Charakter vermag das Schreiben etwas über den Gegenstand auszusagen. Es muss somit auch von einer »Produktivität bzw. Generativität der Spur«94 ausgegangen werden. Nur über die Spur kann das Momenthafte als ein Anderes, Inszeniertes und Konstruiertes

93 G. Fehrmann/E. Linz/C. Epping-Jäger: »Vorwort«, S. 9. 94 Wetzel, Michael: »Spuren der Verkörperung – Verkörperungen der Spur. Jaques Derridas Dekonstruktion der ›Architrace‹«, in: Gisela Fehrmann/Erika Linz/ Cornelia Epping-Jäger (Hg.), Spuren Lektüren Praktiken des Symbolischen, München: Wilhelm Fink 2005, S. 80.

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überhaupt erst hervorgebracht und zumindest ansatzweise berührt werden. Spuren zeigen somit in der Unmöglichkeit, den Moment wiederzuerleben, gleichzeitig die Möglichkeit, eben das immer wieder zu versuchen. Eine Besonderheit des hier praktizierten Schreibens ist somit ein Schreiben in einer spannungsvollen Beziehung aus Moment und Spur, das an sich jedem aufführungsanalytischen Schreiben inhärent ist, angesichts unbegreifbarer Performer jedoch besonders deutlich hervortritt, da die problematische Beziehung zwischen Moment und Spur um ein Vielfaches potenziert wird. Ein Schreiben über unbegreifbare Performer darf somit diese Spannung nicht kaschieren, sondern muss sie auf irgend geartete Weise aufgreifen. Würde nur eine Perspektive des Schreibens, eine Schreibrichtung, komplett vernachlässigt, liefe man Gefahr, sich tatsächlich vom Untersuchungsgegenstand wegzubewegen, das Unbegreifbare zu verpassen oder sich überhaupt nicht mit ihm auseinandersetzen zu können. Andersdenken schauspieltheoretischer Begriffe Spiegelt man die Besonderheit der Analyse unbegreifbarer Performer wieder zurück auf schauspieltheoretische und -analytische Begriffe, die primär um den Moment des Flüchtigen theoretisch entwickelt wurden, ist es nötig, diese neu zu denken. Möchte man unbegreifbare Performer mit deren Hilfe analysieren, wird es nicht nur notwendig, ihre Grenzen zu thematisieren, sondern sie hinsichtlich des Bleibenden zu erweitern und letztendlich umzudenken. Diese Notwendigkeit wird insbesondere im Anschluss an das Schreiben über Steven Cohen deutlich. Denn es wäre unmöglich gewesen, den Körper lediglich hinsichtlich der Wahrnehmung zu betrachten oder die figurenhaften Facetten ausschließlich auf Hervorbringungsprozesse im Moment zu beschränken. Vielmehr wird deutlich, dass sein Körper und auch seine Figurenhaftigkeit im Erinnern und Schreiben hervorgebracht werden. Es gilt also im folgenden Abschnitt, diese neue Sichtweise skizzenhaft zu erörtern. Inwiefern müssen Begriffe zur Analyse von Schauspielern anders gedacht werden? Körper werden in der aufführungsanalytischen Theorie und Praxis als flüchtig verstanden. Die Aufführungsanalyse setzt primär am »Hier und Jetzt eines atmenden und arbeitenden Körpers«95 an, um flüchtige Prozesse

95 I. Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand, S. 168.

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der Verkörperung zu beschreiben und zu analysieren. Der analytische Blick wird hierbei auf den Moment der Wahrnehmung gerichtet, sodass Körper als sich momenthaft Zeigende gedacht werden. Durch performative Prozesse bringen sie sich als Flüchtiges hervor. Greift man den Gedanken des Bleibenden auf, muss dieser Körperbegriff erweitert werden: Nicht nur die Flüchtigkeit, sondern auch das Ins-Gedächtnis-Brennen der Körper muss berücksichtigt werden. Denn sie bleiben im wahrsten Sinne des Wortes ›hängen‹. Die Bewegung der Körper geht auch über den Moment der Begegnung hinaus, reicht in die Erinnerung und in das Schreiben hinein. In diesen Prozessen des erneuten Gewahrwerdens kehren sie als eine sich in ständiger Veränderung befindliche Dynamik immer wieder neu und anders wieder. Körper müssen somit auch über ihr Erscheinen im Hier und Jetzt hinaus als nie stillgestellt verstanden werden. Sie können, um es paradox zu formulieren, im Sinn eines flüchtigen Bleibens gedacht werden. Keinesfalls sind sie als verloren zu betrachten, sondern als sich immer wieder in der Erinnerung und im Schreiben einmischende Dynamiken. Der oft eng mit dem Körper verknüpfte Begriff der Präsenz bekommt ebenfalls eine neue und andere Schattierung. Präsenz ist nicht lediglich ein Phänomen, das »always at the vanishing point«96 sei, ein Entschwindendes, Flüchtiges, das lediglich ein »›here‹ as well as a ›now‹«97 umfasst, sondern eben auch ein penetrant Bleibendes haben kann, ein Sich-Aufdrängendes. Präsenz ist insofern nicht nur an den Moment gebunden, sondern wirkt über den Moment der Begegnung hinaus weiter. Sie entsteht nicht nur im Moment, sondern auch und gerade erst in der Erinnerung und in Versuchen des Versprachlichens. In ähnlicher Weise kann auch der Figurenbegriff bzw. der Begriff des Figurenhaften verstanden werden. Figurenhaftes kann nicht lediglich als flüchtig gedacht werden oder als nur entstehend in der Wahrnehmung des Zuschauers im Moment der Begegnung mit Akteuren, sondern Figuren sind auch als Erinnerungsfiguren zu denken, die auch noch im Danach wirken, sich einmischen und verändern. Gleichsam sind Subjekte und Subjekthaftigkeiten Dynamiken, die Spuren hinterlassen, die in die erinnernde Be-

96 Blau, Herbert: Take Up The Bodies, Urbana: University of Illinois Press 1982, S. 28. – Vgl. dazu J. Goodall: Stage Presence, S. 169. 97 J. Goodall: Stage Presence, S. 170.

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trachtung einwirken und sie auch noch über den Moment der Begegnung hinaus verändern können. Unbegreifbare Performer zeigen geradezu, dass eine Begegnung Spuren hinterlässt, etwas Bleibendes zurücklässt, das sich auch als Spur im Nachhinein zu verändern vermag. Die Spur ist somit nicht als Gegensatz zum Flüchtigen zu verstehen, sondern sie ist als ein Nachträgliches und Bleibendes selbst als flüchtig zu denken – flüchtig jedoch nicht als Verlust, sondern als ein auch noch im Danach weiterwirkendes und sich veränderndes Bleiben. In diesem Spannungsfeld würden sich die schauspieltheoretischen und -analytischen Begriffe ansiedeln, möchte man sie auf unbegreifbare Performer anwenden. Die hier lediglich angedeuteten theoretischen Verschiebungen theaterwissenschaftlicher Begriffe müssten natürlich tiefgehender erörtert werden. Hierfür bedürfte es einer eigenständigen Arbeit, die theaterwissenschaftliche Begriffe um die Dimension des Nachspürens befragte. Ähnlich wie Schneider den Begriff der Performance andersdenkt und hinsichtlich des Bleibenden theoretisiert, müssten gleichfalls weitere zentrale theaterwissenschaftliche Begriffe um die Dimension des Nachwirkens erweitert werden. An dieser Stelle soll es ausreichen, das durch den Gedanken des Nachwirkens ausgelöste Andersdenken schauspieltheoretischer und -analytischer Begriffe hervorzuheben, die in die Betrachtung unbegreifbarer Performer einmal mehr, einmal weniger hineinspielen. Diese skizzenhaften Überlegungen lassen deutlich hervortreten, inwiefern unbegreifbare Performer die Analyse regelrecht herausfordern, gleichzeitig aber auch auffordern, bestehende Methoden und Begriffe kritisch zu hinterfragen und letztendlich neu zu denken. Schreibend in Lücken stürzen Führt man die Überlegungen um den Begriff der Spur weiter, zeigt sich eine weitere übergreifende Besonderheit des Schreibens über unbegreifbare Performer: Es setzt an Lücken an und stürzt sich mutig in sie hinein. Während der Begriff der Spur das Bleibende zu umschreiben vermag, soll hier der Begriff der Lücke keinesfalls das Gegenteil bezeichnen und für den Verlust stehen. Lücke wird hier nicht als Erinnerungslücke verstanden, sondern vielmehr ist sie der Ansatzpunkt eines Schreibens über unbegreifbare Performer. Insofern lässt sich der Begriff der Lücke mit dem der Spur

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verbinden: Die bleibenden Spuren sind tiefe Furchen, riesige Risse, gewaltige Spalten – sie sind aufklaffende Lücken, in die sich das Schreiben bewegt, an denen das Schreiben ansetzt, durch die das Schreiben grundlegend geprägt ist. In der Spur wird die Lücke gegenwärtig, die Unmöglichkeit, über die Spur das Abwesende zu berühren. Der schreibende Sturz in die Lücke ist als ein Nachgehen von Spuren zu denken, die immer im Begriff sind, zu verwischen, sich zu entziehen. In der Theaterwissenschaft finden sich Anklänge an den Begriff der Lücke. Roselt rückt den »Riss oder Spalt«98 in den Mittelpunkt der Erfahrung im Theater. Warstat spricht von einem »nie ganz zu schließenden Spalt«99, der sich in der Bezogenheit von Zuschauer und Akteur im Theater auftue. Lehmann verknüpft die Erfahrung von Präsenz mit dem Begriff der Lücke: »Keine Erfahrung einer Anwesenheit ohne Lücke: jeder Akt des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit blendet aus, vergisst, ›absentiert‹ gleichsam auch Teile des Anwesenden.«100 Während in diesem Abschnitt eher die Lücke im Sinn eines Vorgangs des Ausblendens, des Vergessens und somit eher als Erinnerungslücke verstanden wird, verbindet Lehmann an einer anderen Stelle den Begriff der Lücke mit Erfahrungen der Sprachlosigkeit. Die Erfahrung sei »einbeschrieben als Lücke, Nichtverstehen, Sprachohnmacht«101. Der Begriff der Lücke sei hier nicht im Sinn eines Vorgangs des Ausblendens verstanden, sondern vielmehr als ein in der Erinnerung Nachhängendes, das sprachlos zu machen in der Lage ist. Die Lücke wird insofern nicht nur auf die Erfahrung der Begegnung mit Performern, sondern insbesondere auf das Nachträgliche bezogen. Eine Begegnung mit unbegreifbaren Performern hinterlässt unbegreifbare Lücken, mit denen das Schreiben zu kämpfen hat. Ein Schreiben über unbegreifbare Performer muss sich also in ein Noch-nicht-Erschlossenes begeben, das jedoch auch ein Nicht-zu-Erschließendes bleibt. Es begibt sich in eine tiefe Lücke, die keine Sicherheiten bietet, sondern immer neue und andere Herangehensweisen erzwingt. Die

98 99

J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 195. M. Warstat: »Didaktische Potentiale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 52.

100 H.-T. Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, S. 25. 101 H.-T. Lehmann: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 761.

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schreibenden Versuche verlassen sicheres Terrain, begeben sich in die Unsicherheit und müssen tief von ihr geprägt sein, um überhaupt etwas aussagen zu können. Damit widerspricht ein unsicheres Schreiben jeglichen normativen Ansätzen des Analysierens. In ihm können nur fragile Antworten aufscheinen; immer müssen Fragen mitschwingen, die die Bewegung des Schreibens mit grundlegenden Problemen konfrontiert. Nur aus den Problemen kann überhaupt die je spezifische Herangehensweise zögerlich entwickelt werden. Angesichts der Lücke muss die Analyse ins Stottern, Stammeln und Suchen geraten. Sie kann sich nicht von Sicherheiten leiten lassen und muss gewillt sein, neu und anders zu denken. Um im Bild zu bleiben, lässt sich formulieren, das Schreiben muss sich mutig in die aufklaffende Lücke stürzen, ohne zu wissen, was passieren könnte, jedoch immer in dem Wissen, jederzeit anders denken zu müssen. Die in ihr herrschende Unsicherheit zeigt Grenzen auf, gleichzeitig setzt sie auch Möglichkeiten frei. Denn durch das Bewegen in der Lücke können unerwartete Möglichkeiten des Schreibens entstehen. Das Gefühl der Unsicherheit ist insofern durchaus als ein Gewinnbringendes und Willkommenes zu sehen, das nicht nur hemmt, sondern auch zu beflügeln vermag. Letztendlich geht die hier entwickelte Methodik des Schreibens auf das Gefühl der Unsicherheit zurück und rückt es regelrecht in ihren Kern. Die Lücke ist der Ausgangspunkt, von dem aus das Unbegreifbare schreibend ergründet wird. Sie selbst kann in dem Prozess jedoch nie geschlossen oder überbrückt werden. Sie bleibt ein bleibender Abgrund. Insofern ist sie als ein Bleibendes zu verstehen, ein Nachhängendes, das zu einer Beschäftigung regelrecht auffordert, jedoch aber gleichzeitig zeigt, dass es nicht einfach ist, sich schreibend in die aufklaffende, tiefe Lücke zu stürzen. Die Schreibversuche zu HEY GIRL! und THE CRADLE OF HUMANKIND setzen beide an Lücken an, die sie je anders zu erschließen, zu erschreiben versuchen. Bei HEY GIRL! erscheint die Behauptung, das Schreiben setze an einer Lücke an, zunächst am plausibelsten. Über das nicht unterbrochene Beschreiben wird sich in eine tiefe Lücke geworfen, in ein Nichtverstandenes, ein sich Entziehendes. Weder in der Beschreibung noch in der anschließenden Analyse gelingt es, die Lücke zu füllen. Jedoch deutet sich zumindest die Beschaffenheit der Lücke an. Nur über das mutige Hineinstürzen in die Lücke kann sie überhaupt erschrieben, kann das Unbegreifbare erst ansatzweise berührbar werden.

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Im Versuch zu THE CRADLE OF HUMANKIND erscheint das Ansetzen an einer Lücke zunächst nicht plausibel, da das Schreiben an einer bleibenden Erinnerung ansetzt. Jedoch diese bleibende Erinnerung ist in dem eben entwickelten Sinn als Lücke zu verstehen: Sie ist eine tiefe, aufklaffende Lücke, deren Dimension auch im Nachdenken nicht zu fassen ist, die sprachlos machen kann; eine Lücke, die regelrecht im Danach immer weiter aufreißt. Die daraus resultierende tiefe Verunsicherung des Schreibens tritt deutlich hervor, ist es doch unmöglich, in der Beschreibung Eindeutigkeiten aufzubauen und in der Analyse nur eine kohärente Linie zu verfolgen. Das Schreiben über unbegreifbare Performer wird als ein Schreiben an und in Lücken verstanden, ein Ansetzen an Lücken, ein mutiges und übermütiges Hineinwerfen in aufklaffende Lücken, ohne zu wissen, welche Auswirkungen das In-Untiefen-Stürzen mit sich bringen könnte. Nach dem Ende: ein produktiver Widerstand Nach dem Schreiben über unbegreifbare Performer tritt überdeutlich hervor, dass es kein ›Nach dem Schreiben‹ geben kann. Denn die stets wieder neu und anders in Erfahrung tretende Erinnerung schreibt sich immerzu weiter. Das Schreiben über unbegreifbare Performer ist als ein immer stattfindendes Weiterschreiben zu verstehen, das je nach Moment und je nach der Art und Weise der erinnerten Erfahrung neue und andere Schreibweisen erfordert. Über diese Arbeit hinaus wird es nötig sein, den Erfahrungen und Erinnerungen, die aus der Begegnung mit den Performern entspringen, wieder und wieder zu begegnen, da sie ein Beschäftigenmüssen nach sich ziehen, das weit über die hier vorliegende Arbeit hinausgeht. Immer wieder wird mit einem Widerstand zu kämpfen sein, der jedoch als ein produktiver Widerstand erfahren wird: Unbegreifbare Performer regen regelrecht dazu an, ihnen schreibend zu begegnen, bestehende Grenzen im wahrsten Sinne des Wortes zu ›überschreiben‹, scheinbar Stabiles und Bewährtes neu und anders zu denken. So steht am Ende: Ein Schreiben über unbegreifbare Performer kommt nie zu einem Ende.

IV. Resümee

Unbegreifbare Performer zur Sprache bringen – mit diesem Vorhaben werden grundlegende theaterwissenschaftliche Fragen aufgeworfen, die bestehende Grenzen aufzeigen und neue Möglichkeiten eröffnen: Fragen der Beschreibung und Analyse, des Erfahrens und Erinnerns, des Verstehens und Nichtverstehens, der Rolle des Künstlerischen und Wissenschaftlichen in der Praxis des Schreibens. Das Thema problematisiert aufführungsanalytische Methoden und Begriffe, die zugleich erweitert und anders gedacht werden müssen; es lässt bestehende Schreibweisen ins Leere laufen und zeigt die Notwendigkeit auf, nach neuen und anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten. So bewegte sich die vorliegende Arbeit in einem Spannungsfeld aus Problematisierung und Entwicklung, aus Hinterfragen und Erweitern analytischer, methodischer und theoretischer Ansätze. Dieses abschließende Kapitel führt die zentralen Ergebnisse der Untersuchung zusammen und stellt deren Reichweite sowie Relevanz für zukünftige Arbeiten heraus. Insbesondere diejenigen Ergebnisse, die einen Beitrag zur Fortentwicklung der Aufführungsanalyse liefern, werden im Folgenden hervorgehoben – wie beispielsweise die Perspektive des Nachwirkenden, die Praxis des nahen Beschreibens und die Schreibweise des gleichschwebenden Schreibens. Das Nachwirkende als neue Perspektive Um den Grundstein der Arbeit zu legen, wurde zunächst der Frage nachgegangen: Wie lässt sich das Unbegreifbare theoretisch denken? Um das Unbegreifbare als Analysegegenstand zu entwickeln, wurde es in einer doppelten temporalen Perspektivität untersucht: Es ist ein Phänomen, das mo-

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menthafte Erfahrungen betrifft und auch im Danach insbesondere mentale Wirkungen des Nachdenkens zeitigt. Im Moment zieht es als ein Phänomen gesteigerter Intensität plötzlich in den Bann und löst Gefühle der Überwältigung, des Schocks, aber auch der Faszination aus. Vorgänge des Verstehens, Begreifens und Interpretierens werden gestört, unterbrochen oder sogar angehalten, sodass Erfahrende sprachlos werden – überwältigt angesicht eines Phänomens, das sich nicht in Worte fassen lässt. Im Danach kurbelt es jedoch eine nachträgliche Reflexion an. Die Bewegung des Nachdenkens versucht dem vergangenen Moment erinnernd, beschreibend und analysierend nachzugehen. Indem sowohl die momenthafte Erfahrung, als auch das Nachwirken des Unbegreifbaren betrachtet wurden, erweiterte die vorliegende Arbeit die in der Theaterwissenschaft zumeist priviligierte Orientierung am Moment. Denn es hat sich gezeigt, dass das Phänomen des Unbegreifbaren diese erweiterte Analyseperspektive geradezu notwendig macht: Nicht nur im Moment der Begegnung, sondern auch im Danach bleibt es ein Nie-zuStellendes. Gerade auch im Modus des Erinnerns und imaginativen Hineinversetzens zeigt es sich als ein Widerspenstiges, Rätselhaftes und Sichentziehendes, das auch im Danach nicht stillzustellen ist. Es wirkt als eine einschneidende Erfahrung in der Erinnerung fort und löst ein nachträgliches Beschäftigen- und Versprachlichenmüssen aus. Folglich fasste die vorliegende Arbeit das Unbegreifbare als ein Bleibendes, Weiterwirkendes und Fortdauerndes, das in nachträglichen Prozessen des Erinnerns und Schreibens zur Gegenwart kommt und sich in diesen Prozessen zu verändern vermag. Insofern ist es ein Bleibendes – ein In-Bewegung-Bleibendes. Performances, die Zuschauer mit dem Unbegreifbaren konfrontieren, so die Schlussfolgerung, müssen in einer doppelten temporalen Struktur betrachtet werden, die den Moment des Erfahrens und das Nach- und Weiterwirken aufgreift. Daraus erwuchs die Notwendigkeit, den in der Theaterwissenschaft und den Performance Studies primär momentorientierten Performancebegriff um das Danach zu erweitern. Mit Rebecca Schneider und Hans-Friedrich Bormann wurden Performances mit der Dimension des Bleibenden, Nach- und Weiterwirkenden verknüpft. Performances sind nicht lediglich als flüchtig zu verstehen; auch sind sie nicht als unwiederbringlich verloren zu denken. Vielmehr sind sie auch ein Bleibendes, ein In-Erinnerung-Bleibendes. Durch Prozesse des Erinnerns und Versprachlichens kommen Performances zu einer neuen und anderen Gegenwart.

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Durch dieses erinnernde Wiederauftauchen befinden sie sich in ständiger Veränderung. Insofern können Performances auch im Danach nie stillgestellt werden. Die doppelte temporale Perspektive der analytischen Betrachtung unbegreifbarer Performer zeigte nicht nur auf, dass der Aufführungs- bzw. Performancebegriff primär hinsichtlich des Flüchtigen theoretisiert ist, sondern auch zentrale theatertheoretische, schauspieltheoretische und -analytische Begriffe lediglich den Moment des Wahrnehmens in den Mittelpunkt rücken – wie beispielsweise Präsenz, Körper oder Figur. Die vorliegende Untersuchung lieferte wesentliche Impulse, um diese theoretischen Begrifflichkeiten in zukünftigen Arbeiten um die Dimension des Bleibenden, des Nach- und Weiterwirkenden weiterzuentwickeln. In diesem theoretischen Zusammenhang wurde auch die Theorie und Praxis der Aufführungsanalyse fortentwickelt. Denn die Perspektive, Aufführungen und Performances auch hinsichtlich des Danachs, des Nach- und Weiterwirkens zu betrachten, erweitert die primär momentorientierte Aufführungstheorie- und analyse. In ihrer Orientierung an der Phänomenologie berücksichtigt sie insbesondere die Prozesshaftigkeit des Wahrnehmens. Mit dieser Arbeit konnte die Aufführungsanalyse mit einer dreifachen Prozessualität verknüpft werden: Sie beschäftigt sich nicht nur mit der Flüchtigkeit des Wahrnehmens, sondern zusätzlich auch mit der Prozesshaftigkeit des Erinnerns und des Schreibens. Gerade die nachträglichen Bewegungen des Erinnerns und Schreibens sind für Aufführungsanalysen grundlegend, finden doch im Danach wesentliche Prozesse statt, die den Moment der Wahrnehmung verändern, konterkarieren, umgestalten sowie neu und anders zur Erscheinung bringen. Das Wiederauftauchen des vergangenen Moments als ein Neues und Anderes ist nicht ein Defizit der Aufführungsanalyse, sondern die Bedingung der Möglichkeit, ihn einer Analyse zugänglich zu machen. Die sich abhebende Intensität als Herausforderung Die vorliegende Arbeit erschloss das Unbegreifbare als einen Analysegegenstand, der eine besondere, sich abhebende Intensität besitzt. Diese zeigte auf, dass bisherige Methoden der Beschreibung und Analyse nicht ausreichen. Insofern mussten bestehende Praktiken des Schreibens hinterfragt werden und neue Schreibweisen erarbeitet werden.

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Die sich abhebende Intensität des Unbegreifbaren wurde mithilfe von theater- und kunstwissenschaftlichen sowie philosophischen Theorien erarbeitet. Das Unbegreifbare stellte sich als eine Idee dar, die in zentralen theaterwissenschaftlichen Konzepten angelegt ist, wie beispielsweise bei Fischer-Lichtes liminalen Erfahrungen, Jens Roselts markanten Momenten und Hans-Thies Lehmanns intensiven Präsenzerfahrungen. In der theoretischen Diskussion dieser Positionen hat sich das in den Kunstwissenschaften zentrale Konzept des Erhabenen als wesentliche theoretische Wurzel herausgestellt. In Orientierung an diese Positionen entwickelte die vorliegende Arbeit das Unbegreifbare als eine Erfahrung, die sich zwischen wahrgenommenem Objekt und wahrnehmendem Subjekt abspielt, konfligierende Gefühle der Attraktion und Repulsion in eine spannungsvolle Bewegung versetzt, sich als plötzlich ereignende Intensität aus dem Lauf der Dinge herausschält und Wahrnehmende in eine sprachohnmächtige Position versetzt. Der primär hinsichtlich des Moments gedachte Begriff des Erhabenen wurde jedoch nicht mit dem Unbegreifbaren gleichgesetzt, sondern letzteres wurde als ein Ästhetisches entworfen, das ein erinnerndes und versprachlichendes Nachdenken geradezu erzwingt. Es wurde eine Ästhetik des Unbegreifbaren entworfen, die in Anlehnung an Martin Seel von einem weit gefassten Ästhetikbegriff ausgeht. Das ästhetische Erfahren des Unbegreifbaren ist jederzeit und überall möglich – im Theater, in der Kunst und Kultur. Jedoch sind es nicht typische, unspektakuläre und übliche Formen ästhetischen Gewahrwerdens, die im Rahmen des Erwartbaren bleiben. Ganz im Gegenteil bezieht sich eine Ästhetik des Unbegreifbaren auf Erfahrungen und Erinnerungen, die derart einschneidend sind, dass sie sich als ein unruhiges und radikal bewegtes Gewahrwerden zeigen und nicht beruhigt werden können. Es ist eben keine Erfahrung, die per se in jeder Performance statthat, sondern sich auf seltene Momente im Theater, in der Kunst und Kultur bezieht, die auch noch nach ihrer Begegnung als unbegreifbare Ereignisse bestehen bleiben. Das Unbegreifbare bezieht sich auf Erfahrungen und Erinnerungen, die sich von üblichen ästhetischen Wahrnehmungsformen abheben; sie besitzen eine besondere Radikalität, eine sich abhebende Intensität. Insofern sah sich die hier vorliegende Arbeit mit schwerwiegenden methodischen Problemen und Herausforderungen konfrontiert. Wie kann eine derart intensive Wirkung versprachlicht werden? Wie kann etwas, das im

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Moment sprachlos macht, im Nachhinein überhaupt zur Sprache gebracht werden? Wie kann es einer Analyse zugänglich gemacht werden? Das Unbegreifbare, so hat sich herausgestellt, macht es notwendig, bisherige Parameter der Beschreibung und Analyse neuzudenken. Hierfür wurden Schreibweisen entwickelt, die sich zum einen auf das erinnernde Beschreiben und zum anderen auf die Analyse beziehen. Sie wurden ›nahes Beschreiben‹ und ›gleichschwebendes Schreiben‹ genannt. Beide Schreibweisen haben sich als grundlegend notwendig für die Betrachtung unbegreifbarer Performer herausgestellt. Doch sie besitzen auch eine über diesen Analysegegenstand hinausweisende Relevanz: Sie stellen Alternativen zu bestehenden theaterwissenschaftlichen Schreibweisen dar. Zunächst wird in den folgenden Abschnitten auf die Neuperspektivierung des erinnernden Beschreibens eingegangen und dessen Bedeutung für die Aufführungsanalyse hervorgehoben. Danach wird die Praxis des gleichschwebenden Schreibens und dessen Reichweite dargelegt. Neuperspektivierung des erinnernden Beschreibens Die Beschäftigung mit dem Unbegreifbaren wirft die Frage nach dem ›Wie‹ des Zur-Sprache-Bringens geradezu auf. So war es in der vorliegenden Arbeit notwendig, die in theaterwissenschaftlichen Diskursen zumeist vernachlässigte Frage nach dem ›Wie‹ des Schreibens zu stellen und umfassend zu erörtern. In diesem methodischen Zusammenhang wurde deutlich, dass die in der Theaterwissenschaft verborgene Praxis des erinnernden Beschreibens eine neue Gewichtung bekommen muss. Die vorliegende Arbeit widersprach der Annahme, Erinnerungsprotokolle seien lediglich als vorwissenschaftlich zu begreifen. Diese These wurde nicht nur relativiert, sondern umgekehrt: Beschreibungen werden nicht der Analyse untergeordnet, sondern als ihr ebenbürtig, wenn nicht sogar als ihr übergeordnet verstanden. Sofern im Erinnerungsprotokoll ein möglichst genaues Beschreiben im Sinne eines gegenstandsbezogenen Schreibens stattfindet, so die Annahme der vorliegenden Arbeit, kann es einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit durchaus zugänglich gemacht werden. Denn im Prozess erinnerden Beschreibens sieht man sich mit einem Versprachlichen eines Sich-Verändernden, Bewegenden und Weiterwirkenden konfrontiert. Dies wirft zentrale theaterwissenschaftliche Fragen auf: Wie lässt sich die Erfahrung im Modus des

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Erinnerns in Worte fassen? Wie lässt sich ein Weiterwirkendes versprachlichen? Welche Schreibweise könnte der vergangenen und als ein Neues und Anderes wiederkehrenden Erfahrung entsprechen? Welche Facetten des Gegenstandes treten durch den Prozess des Schreibens überhaupt erst hervor? Welche analytischen Aspekte fallen ins Auge? Der Prozess des Beschreibens von Aufführungen und Performances trifft in den Kern theaterwissenschaftlicher Theorie und Praxis. Um die Vorgängigkeit und Vorrangigkeit des Beschreibens zu unterstreichen, wählte die vorliegenden Arbeit den Begriff ›Aufführungsbeschreibung‹ bzw. ›Performancebeschreibung‹. Ein genaues und ausführliches Beschreiben von Aufführungen oder Performances, so die Annahme, ist nicht nur eine theaterwissenschaftliche Fingerübung, sondern das Nadelöhr ihrer theaterwissenschaftlichen Betrachtung. Mit dem aus der Kunstwissenschaft entlehnten Begriff der Ekphrasis konnte die besondere Relevanz der Praxis des Beschreibens für die Theaterwissenschaft erörtert werden. Hierbei wurde deutlich, dass Schreiben immer auch ein Inszenieren ist. Das Beschreiben von Aufführungen und Performances wurde als einen Akt des Inszenierens und Re-Inszenierens gefasst: Die Beschreibung bringt etwas hervor, bezieht sich auf Vorausliegendes, das sie nicht abzubilden in der Lage ist, jedoch aber durch sprachliche Strategien als ein Neues und Anderes vergegenwärtigen kann. Eben als dieses Inszenierte interessiert das Schreiben und nur als dieses Inzenierte ist es einer Analyse zugänglich. Dies warf Fragen nach der Rolle des Künstlerischen im Prozess wissenschaftlichen Schreibens auf. Es wurde deutlich, dass die eher künstlerische Praxis des Inszenierens durchaus im wissenschaftlichen Schreiben Anwendung finden kann, sofern es um ein gegenstandsorientiertes Schreiben geht, das mit allen nur erdenklichen Mitteln etwas über den Gegenstand erfahren möchte. Ausdrücklich geht es nicht um ein Inszenieren des schreibenden Subjekts, sondern um ein subjektives, gegenstandsbezogenes Schreiben. Hierbei ist es durchaus möglich, dass der Gegenstand die Schreibenden dazu zwingt, wissenschaftliche Normen in der Beschreibung zu überschreiten. Diese allgemeinen Erörterungen der Rolle des Beschreibens in der Auffürungsanalyse wurden auf das Unbegreifbare bezogen. Gerade beim Unbegreifbaren, so die These, wird die Beschreibung zum Dreh- und Angelpunkt der Analyse. Ein annäherndes Berühren des Unbegreifbaren ist nur möglich, wenn das Unbegreifbare als Unbegreifbares in die Versuche

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des Zur-Sprache-Bringens aufgenommen werden. Ansonsten würde man an dem Unbegreifbaren im wahrsten Sinne des Wortes ›vorbeischreiben‹. Denn nur über Versuche des genauen Versprachlichens können überhaupt erst Möglichkeiten der Analyse entstehen. Hierbei tritt der inszenierende und re-inszenierende Charakter des Schreibens besonders deutlich hervor. Mitunter gewalthaft muss das Schreiben den vorausliegenden Moment sprachlich hervorbringen. Das Inszenieren im Beschreiben ist von grundlegender Notwendigkeit, um sich dem Unbegreifbaren überhaupt annähern zu können und es einer Analyse zugänglich zu machen. Insofern ist es nötig, sich der eher künstlerischen Verfahren des Gestaltens und Inszenierens zu bedienen. Das nahe Beschreiben als neue Schreibweise So war es für die Auseinandersetzung mit unbegreifbaren Performern nötig, Schreibweisen zu erörtern, die die je spezifische Erfahrung des Unbegreifbaren in ihre Sprachlichkeit aufzunehmen versuchen. Hierfür wurde die Schreibweise des nahen Beschreibens entwickelt und verschiedene Möglichkeiten dieser Schreibpraxis diskutiert. Insgesamt ist es eine Schreibweise, die durch den Akt des Gestaltens Nähe zu dem Gegenstand erzeugt. Hierbei werden die inszenierenden und hervorbringenden Akte im Erinnern und Schreiben nicht verdeckt, sondern bewusst ausgestellt. Die Praxis des nahen Beschreibens macht deutlich, dass Schreiben immer auch ein Inszenieren ist, ein Verändern, ein Auswählen, ein Gestalten: Es bringt ein Vergangenes neu und anders zur Erscheinung. Übergreifendes Ziel des nahen Beschreibens ist, die spezifische Sinnlichkeit der in der Erinnerung gegenwärtig werdenden Erfahrung in die Sprachlichkeit aufzunehmen. Insofern ist sie nicht einheitlich oder verallgemeinerbar, sondern eine Schreibweise mit zahlreichen Möglichkeiten, die sich aus dem je spezifischen Gegenstand ergeben. Die Praxis des nahen Beschreibens hat sich, wie schon betont, als grundlegend notwendig für die Betrachtung des Unbegreifbaren herausgestellt. Denn nur über den Versuch des nahen Beschreibens kann das Unbegreifbare der Analyse zugänglich gemacht werden. Folglich entwickelte die vorliegende Arbeit sprachliche Strategien, die sich um die Begriffe des Stockens, Stammelns, Schwebens und Suchens bewegen, sich aber ebenfalls um die Facetten des Nachwirkens, der Rückwärtsgewandtheit und des

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Überlappens mehrerer Zeitebenen ranken. Sie werden als Schreibweisen verstanden, die in die Nähe künstlerischer Formen des Schreibens rücken, gleichzeitig aber wissenschaftlich bleiben. Wissenschaft sieht sich hier von künstlerischem Arbeiten inspiriert, ohne den wissenschaftlichen Anspruch zu verlieren, geht es doch um ein schreibendes Aufsuchen eines Gegenstandes und nicht um die Produktion eines fiktiven Textes durch ein schreibendes Subjekt. Aus eben diesem Grund wurde das hier entwickelte Schreiben nicht als ›Performative Writing‹ gefasst, sondern als ›Performative Describing‹ bzw. ›nahes Beschreiben‹, das am zu beschreibenden Gegenstand ansetzt und diesen in seinem Wirken und Weiterwirken sprachlich zu vergegenwärtigen sucht. Die Praxis des nahen Beschreibens ist für zukünftige Arbeiten von besonderer Relevanz. Sie stellt eine Alternative zu bestehenden theaterwissenschaftlichen Beschreibungsformen dar. Da sie die spezifische Sinnlichkeit der Erfahrungen und Erinnerungen aufgreift, ist sie eine Schreibweise, die das zu beschreibende Phänomen so genau wie möglich den Lesenden zugänglich macht. Für die Aufführungsanalyse, die mit flüchtigen Prozessen konfrontiert ist, spielt das nahe Beschreiben insofern eine wesentliche Rolle. In Anbetracht zeitgenössischer Performances im Theater und der Kunst erweist sich diese Schreibweise als grundlegend notwendig, werden Zuschauende mitunter doch mit einer gesteigerten Flüchtigkeit konfrontieren. Sie eignet sich insbesondere für Phänomene, die die Frage ihrer Beschreibbarkeit aufwerfen. Diese stellt sich bei Gegenständen, die Erfahrende subjektiv angehen und im wahrsten Sinne des Wortes ›unter die Haut gehen‹. Beispiele für solche Phänomene können intensivierte Präsenzerfahrungen im Sinne Hans-Thies Lehmanns sein; oder auch Erfahrungen der Immersion, wenn Erfahrende von einem Gegenstand regelrecht eingenommen, von ihm umschlungen, in ihn ›aufgesaugt‹ werden; oder Affizierungsvorgänge, Vorgänge des Berührtwerdens durch körperliche Prozesse, Atmosphären oder Materialitäten. Das Zur-Sprache-Bringen wird bei derartigen Phänomenen zur Herausforderung. Das nahe Beschreiben vermag hierbei durch ihren offen ausgestellten inszenierenden und re-inszenierenden Charakter den Gegenstand der analytischen Betrachtung zugänglich zu machen. In der vorliegenden Arbeit konnte die Relevanz des nahen Beschreibens für körperliche Praktiken herausgestellt werden. Insofern eignet sie sich insbesonders für die Beschreibung von Schauspielern, Tänzern, Perfor-

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mancekünstlern und natürlich Performern. Es wurde deutlich, dass das nahe Beschreiben bestehende theaterwissenschaftliche Beschreibungsformen über Schauspieler weiterentwickelt. So wurde die Praxis des phänomenologischen Beschreibens, die primär die Flüchtigkeit des Wahrnehmens aufgreift, um die Prozesshaftigkeit des Erinnerns und Schreibens erweitert. Eine Stärke des nahen Beschreibens ist, nicht nur die Erfahrung, sondern auch das Nachwirken der Erfahrung in Prozessen des Erinnerns und ZurSprache-Bringens in ihre Sprachlichkeit aufzunehmen. Es lässt sich festhalten, dass die Praxis des nahen Beschreibens für jegliche Aufführungen und Performances Anwendung finden kann; sie eignet sich jedoch insbesonders für Phänomene, bei denen das Versprachlichen zum Problem wird. Ihre Stärke ist das Nachvollziehbarmachen von Erfahrungen und Erinnerungen, die das erfahrende Subjekt direkt angehen. Denn gerade das subjektive Wiedererleben, das in der Erinnerung auftauchende Neu- und Anderserfahren eines Vergangenen kann im nahen Beschreiben aufgegriffen werden. Das gleichschwebende Schreiben als neue Schreibweise Die Arbeit setzte sich nicht nur das Ziel, Schreibweisen theoretischmethodisch zu diskutieren, sondern das hier erörterte Schreiben auch in der Praxis zu erproben und kritisch zu reflektieren. Insofern waren Beispiele für die hier entworfenen Thesen, Forderungen und Überlegungen grundlegend. An ihnen und durch sie wurde das Besondere des hier praktizierten Schreibens über Performer sichtbar. Es wurde deutlich, dass das Schreiben über unbegreifbare Performer im Schreiben über Schauspieler wurzelt. Es knüpft an bestehenden Praktiken des Schreibens an – insbesondere an phänomenologischen –, treibt die Schwierigkeiten des Schreibens über Schauspieler jedoch auf die Spitze, sodass eben nicht bestehende Strategien des Beschreibens und Analysierens problemlos Anwendung finden können, sondern neue und andere gefunden werden mussten. Die phänomenologische Aufführungsanalyse wurde, wie schon betont, um die Dimensionen des Erinnerns und Schreibens erweitert. Denn als Grundlage des Schreibens über unbegreifbare Performer dient eine dreifache Prozessualität des Schreibens: Es ist notwendig, nicht nur die Flüchtigkeit des Wahrnehmens von Körpern aufzugreifen – wie es die phänomenologische Aufführungsanalyse macht –, sondern zusätzlich auch die

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Prozesshaftigkeit des Erinnerns und Schreibens. Gerade unbegreifbare Performer konfrontieren mit einer gesteigerten Bewegtheit des Erinnerns und mit grundlegenden Problemen des Versprachlichens, sodass beide in die aufführungsanalytische Praxis Eingang finden müssen. Das Schreiben über unbegreifbare Performer kristallisierte sich als ein gleichschwebendes heraus. In Anlehnung an Sigmund Freuds Ansatz der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, den er als einen Modus des Erfahrens versteht, entwickelte die hier vorliegende Arbeit den Ansatz des ›gleichschwebenden Schreibens‹. Eine grundlegende Annahme dieser analytischen Schreibweise ist, dass sich nicht über einen vorher gesetzten theoretischen Begriff unbegreifbaren Performern genähert werden kann, denn dieser würde einerseits als nur eine Begrifflichkeit nicht in der Lage sein, die Unbegreifbarkeit zu erfassen, andererseits würde er die Bewegung des Beschreibens und Analysierens einschränken, sodass das Unbegreifbare verpasst würde. Nur über ein gleichschwebendes Schreiben, das einer These die Gegenthese präsentiert und vermeintlich Festes hinterfragt, kann ein zumindest ansatzweises Berühren stattfinden. Keine Erklärung reicht aus, keine scheinbare Sicherheit darf als Sicherheit verstanden werden; immer muss von einer scheinbaren Stabilität weggeschrieben werden. Nur durch eine Wegwendung kann eine Hinwendung möglich sein. Nicht durch ein ›aspektverhaftetes‹, nur durch ein ›aspekthaftes‹ Schreiben, das nicht einzuengen, sondern immer auch zu öffnen sucht, kann sich unbegreifbaren Performern angenähert werden. Die Analyse wird hier als ein wissenschaftliches Verfahren verstanden, das nicht auf den Punkt zu bringen vermag. Vielmehr wird sie mit einem erörterndem, gegenüberstellendem Schreiben in Verbindung gebracht, das sich auf immer komplexer werdende Weise vom Gegenstand wegbewegt. Denn nur über dieses ›Wegschreiben‹ werden unbegreifbare Performer zumindest annähernd berührbar. Nicht die Tendenz zur Festschreibung ist vorherrschend, sondern das eher bei künstlerischen Praktiken vorzufindende In-Bewegung-Versetzen. Wie auch das nahe Beschreiben von unbegreifbaren Performern sieht sich auch das gleichschwebende Schreiben von künstlerischen Verfahren inspiriert, jedoch ohne den wissenschaftlichen Charakter zu verlieren. Obwohl das gleichschwebende Schreiben für die Analyse unbegreifbarer Performer entwickelt wurde und das Unbegreifbare als eine eher seltene und sich abhebende Intensität entworfen wurde, können die Ergebnisse dieser Arbeit auch für andere Analysegegenstände von Bedeutung sein. Das

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gleichschwebende Schreiben kann auch für weitere abweichende Phänomene ein möglicher methodischer Ansatz sein. Denn es belässt das Abweichende als Abweichendes und versucht es nicht eindeutig auf den Punkt zu bringen. Dieser Ansatz mag im weitesten Sinne für Performances Geltung besitzen, die sich gegen normierte Vorstellungen richten, wie beispielsweise Gender-Performances. Sofern man in der Betrachtung dem Abweichenden als Abweichendem begegnen möchte, kann der Ansatz des gleichschwebenden Schreibens Anwendung finden – so beispielsweise für Aufführungen, die aus einem fremden Kulturkreis stammen. Das gleichschwebende Schreiben beließe das Fremde als Fremdes. Nur auf diese Weise kann überhaupt erst ein Schreiben über ein Kulturell-Fremdes stattfinden. Denn ein Festschreiben, Festzurren und In-Stein-Meißeln aus der eigenen Perspektive würde dem Kulturell-Fremden nicht gerecht werden. Das Eigene würde sich dem Fremden ungerechtfertigter Weise als überlegen darstellen und es dadurch in der Betrachtung verfehlen. Nachwirkungen Eine besondere Stärke der Schreibweisen des nahen Beschreibens und gleichschwebenden Schreibens ist ihre Fähigkeit, die Bewegungen der Erinnerung und des Schreibens in ihre Schreibweise aufzunehmen. Beide greifen die Perspektive des Bleibenden, des Nach- und Weiterwirkenden auf: Beschreibungen und Analysen schreiben hierbei nicht fest, sondern greifen die Prozesse des Weiterwirkens und des Wiederauftauchens des Vergangenen als ein Neues und Anderes auf. Der Begriff des Performers, so hat sich gezeigt, erzwingt regelrecht ein Andersdenken bestehender Methoden, Begriffe und Schreibweisen der Theaterwissenschaft. In zukünftigen Arbeiten wird es nötig sein, an Gedanken und Fragen anzuknüpfen, die vielleicht noch im Verborgenen, Angedeuteten und Vorläufigen blieben, um sie unter neuen und anderen Blickrichtungen weiterzuführen.

Danksagung

Diese Arbeit entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und wurde durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes begleitet. Der Druck wurde gefördert durch die Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung. Vielen Gesprächspartnern, die mich im Prozess des Entwickelns und Schreibens begleitet haben, bin ich für ihre Unterstützung, Kritik und Beratung dankbar. Zuvorderst danke ich meinem Doktorvater Matthias Warstat für die grundlegende Unterstützung, die inhaltliche Betreuung und die inspirierenden Gespräche über all die Jahre hinweg. Jens Roselt danke ich für seine freundliche Bereitschaft, die Arbeit als Zweitgutachter zu betreuen und mir wertvolle Anregungen zu geben. Meine Kolleginnen und Kollegen waren mir in den verschiedenen Arbeitsphasen des Projektes unverzichtbare Gesprächspartner, die mir innerhalb und außerhalb unseres Forschungskolloquiums entscheidende Impulse gaben – darunter Bettina Brandl-Risi, Clemens Risi, Hans-Friedrich Bormann, Dorothea Pachale, Alexandra Martin, Katharina Baur, Lea-Sophie Schiel, André Studt und natürlich Vivien Aehlig. Henri Schoenmakers hat mein Interesse für Performer wesentlich beeinflusst und unterstützt. Ein besonderer Dank gilt Kolja Kröger für das kritische Lesen des Manuskripts und meinen Eltern, Anita und Johannes Leifeld, für ihren genauen Blick für Details. Meinen Schwiegereltern, Ottilie und Rudolf Feinweber, danke ich für ihre uneingeschränkte Unterstützung. Meiner Frau Kerstin Feinweber danke ich für die Begleitung während der gesamten Zeit – ohne ihre herzliche Unterstützung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Literatur

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Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste April 2015, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute April 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien Januar 2015, 238 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

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3) ANZ2805.p 380912709038

Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Oktober 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Juni 2014, 244 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-5

Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse Juli 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9

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Theater Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juni 2014, 416 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Susanne Valerie Granzer, Doris Ingrisch Kunst_Wissenschaft: Don’t Mind the Gap! Ein grenzüberschreitendes Zwiegespräch Juli 2014, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2798-5

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt »JUMP & RUN« Februar 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Julia H. Schröder (Hg.) Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller

Melanie Hinz März 2015, ca. 220 Seiten, Das Theater der Prostitution kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, Über die Ökonomie des Begehrens ISBN 978-3-8376-2908-8 im Theater um 1900 und der Gegenwart Beatrice Schuchardt, Urs Urban (Hg.) April 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, Handel, Handlung, Verhandlung ISBN 978-3-8376-2467-0 Theater und Ökonomie Stefanie Husel in der Frühen Neuzeit in Spanien Grenzwerte im Spiel Juli 2014, 314 Seiten, kart., 39,99 €, Die Aufführungspraxis der britischen ISBN 978-3-8376-2840-1 Kompanie »Forced Entertainment«. Nina Tecklenburg Eine Ethnografie Performing Stories August 2014, 352 Seiten, kart., Erzählen in Theater und Performance zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2745-9

Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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