Szenen der Gewalt: Folter und Film von Rossellini bis Bigelow [1. Aufl.] 9783839426548

Torture and other forms of extreme violence threaten the ascertainable intermediate spaces of media in which the subject

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German Pages 216 Year 2014

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Szenen der Gewalt: Folter und Film von Rossellini bis Bigelow [1. Aufl.]
 9783839426548

Table of contents :
Inhalt
Politik, Schauspiel, Kino (Prolog)
1. Hinter offenen Türen: Rossellini und die Frage der Gemeinschaft
2. The Object of Torture is Torture
3. BILDER WIE GESTÄNDNISSE
4. BESESSENHEIT: SZENEN UND BILDER
Literaturverzeichnis
Filmverzeichnis

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Reinhold Görling Szenen der Gewalt

m e d i e n · k u l t u r · a n a l y s e | herausgegeben von Reinhold Görling | Band 7

2014-07-03 13-45-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804985820|(S.

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Reinhold Görling (Prof. Dr.) lehrt Medienwissenschaft an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. im Bereich von Bild und Gewalt und des New Materialism als einer medialen Ökologie.

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Reinhold Görling

Szenen der Gewalt Folter und Film von Rossellini bis Bigelow

2014-07-03 13-45-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804985820|(S.

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Reinhold Görling. Die Verwendung der Abbildungen aus den Filmen »Roma città aperta« und »Zero Dark Thirty« geschieht mit freundlicher Genehmigung der Beta Film GmbH bzw. Universal Pictures Germany GmbH. Lektorat & Satz: Reinhold Görling Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2654-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2654-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-03 13-45-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804985820|(S.

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Inhalt

Politik, Schauspiel, Kino (Prolog) | 7

1 HINTER OFFENEN TÜREN : ROSSELLINI UND DIE FRAGE DER GEMEINSCHAFT Roma città aperta | 19 Angst (Praktiken des Experiments) | 31 Einstellung en und Entstellung en | 40 Europa ’51 (Bedingungslosigkeit) | 45 Il generale Della Rovere | 51

2 THE OBJECT OF TORTUE IS TORTURE Die Suche nach dem Maß: Rossellini und das dokumentarische Bild | 57 Das Ikon und die zwei Dimensionen des Index | 64 N INETEEN E IGHTY -F OUR (Orwell und Radford) | 67 Przesłuchanie (Bugajski) | 75 S ALÒ – Pasolinis Analyse des Sadismus | 79 Fiktion, Phantasie, Gewalt | 83 W AS W O (Beckett) | 89

3 BILDER WIE GESTÄNDNISSE L A JETÉE (Marker) | 95 Erinnerung, Ereignis, Riss | 108 Wahrnehmungstötung | 112 D EATH AND THE M AIDEN (Polanski) | 117 R ED D UST (Slovo/Hopper) | 121 Versöhnung und Geschlecht | 125 H UNGER (McQueen) | 133

4 B ESESSENHEIT : S ZENEN UND B ILDER Z ERO D ARK T HIRTY (Bigelow) | 145 Szenario und Intrige | 148 Why are you doing this to me? | 154 Affekt, Szene, psychische Repräsentation | 162 Obsessive Bilder | 166 T HE H URT L OCKER (Bigelow) | 171 Das Mädchen und der Tod | 173 S TANDARD O PERATING P ROCEDURE (Morris) | 181 T HE A CT OF K ILLING (Oppenheimer) | 190 Literaturverzeichnis | 201 Filmverzeichnis | 213

Politik, Schauspiel, Kino (Prolog)

„seine Menschlichkeit ist wirklich ungeheuerlich sie ist fatal wie die Klage verheerend wie die Liebe dramatisch wie der gleichgültige und fortwährende Austausch zwischen allem, was entsteht und allem, was stirbt wenn es unserem Weg zum Tod auf den Blutspuren folgt, die ihn markieren weint das Kino nicht weint es nicht über uns es tröstet uns nicht weil es mit uns ist weil wir es selbst sind“ (Godard 1999, IV 30)

Jean-Luc Godard spricht auf solch scheinbar paradoxe Weise über das Kino: Das, was uns das Gewöhnliche ist, das Vertraute, das, was wir selbst sind, ist zugleich ohne Maß, ungeheuerlich, formidable, wie es im französischen Originaltext heißt (Godard 1999, IV 14). Das Chorlied der „Antigone“ klingt in diesen Worten an: „Ungeheuer ist viel und nichts / Ungeheurer als der Mensch.“ (Sophokles 1955, 18) Und sind wir nicht gewohnt, die Klage mit dem Mitgefühl, die Liebe mit dem Leben und den Austausch des Lebens mit dem Begehren und nicht mit der Gleichgültigkeit zu verbinden? Doch überführt die darauf folgende Passage das Paradox in eine Gleichzei-

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tigkeit: Das Kino sind wir selbst und es ist zugleich etwas, das mit uns ist, ein Begleiter. Dabei ist nicht ausgemacht, wie der Beitrag zu bewerten ist, den das Subjekt Kino am 20. Jahrhundert und an seinen Ereignissen hatte. Godards HISTOIRE(S) DU CINÉMA erheben nur den Anspruch, Fragmente der diskontinuierlichen und vielfältigen Geschichte dieses Subjekts Kino zu erzählen. Zwischen allem, was entsteht, und allem, was stirbt, bestehe ein fortwährender Austausch, sagt Godard in seinem poetischen Text. Leben und Tod sind nicht voneinander getrennt, ja vielleicht tauschen sie sich gegenseitig aus. Dann tritt das eine an des anderen Platz, so wie Passion und Lethargie, Differenz und Indifferenz, Empfindung und Zerstörung in einer Wechselbeziehung stehen. Das Wir der letzten Zeile schließt alles ein, was an dieser Austauschbewegung teil hat, der oder die einzelne, das Volk, die Menschheit, alles Leben, ja, alles, was entsteht. Es ist ein ökologischer Blick, den Godard in seinen HISTORIE(S) auf das Kino richtet. Es hat seine eigene Geschichte, aber diese Geschichte erzählt selbst immer wieder Geschichten über das, mit dem es sich in einem Austausch befindet. Kino ist dieser Austausch, fortwährend und doch endend, von der Diskontinuität geprägt, die der Tod ist. Alles, was entsteht, befindet sich in einem Austausch mit dem, was stirbt. Was ist, ist nur, weil es diesem Austausch eine gewisse Kontinuität geben, in den Worten der Ökologie, sich ein Milieu oder eine Assemblage von Milieus schaffen kann. Genau genommen ist aber auch schon das, was entsteht, eine Assemblage von Milieus: der einzelne, die Gesellschaft, das Kino, das Ganze. Diese Assemblage hat ihre eigene Endlichkeit deshalb immer schon in sich. Gewalt lässt sich ökologisch als ein Eingriff in die Kontinuität einer solchen Austauschbeziehung verstehen. Er kann als stumpfe Gewalt diesen Austausch einfach blind zerschlagen, er kann ihn aber auch gegen das Milieu selbst wenden, dessen Angewiesenheit auf den Austausch gegen es selbst richten und es damit gezielt zerstören. Folter ist eine Form der Gewalt, in der die Sensibilität des Lebens in direkter Weise gegen sich selbst gewendet wird. Das Leben reagiert mit Angst, Verletzung und Schmerz, wenn Schläge dumpf auf den Körper einwirken, scharfe Werkzeuge die Haut durchdringen, Stromschläge die Nervenbahnen in ihren Beschlag nehmen. Sexualisierte Folter missbraucht die besondere Sensibilität für Berührung und die Offenheit des Körpers. Die innere Logik des Organismus und seine Selbstregulation werden durch die Gewalt von erzwungenen Stresspositionen ausgenutzt. Kälte

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und Hitze bedrohen das Milieu ebenso wie die Unterbindung des Atmens. Wer Menschen isoliert, weiß, dass ihre Sinne in einer ständigen Kommunikation mit der Welt sind, mit ihrem Licht, mit ihren Geräuschen, mit ihren Rhythmen und Bewegungen. Und wer Menschen die Grausamkeiten der Folter antut, weiß auch, dass er ihr Vertrauen in die Verlässlichkeit des anderen, ohne das Gesellschaft nicht denkbar wäre, zerstört: "Dass der Mensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen", schrieb Jean Améry 22 Jahre nach seiner Folterung durch Angehörige der deutschen Wehrmacht und der Schutzstaffel der NSDAP (Améry 2002, 85). Jacques Derrida hat vom Terrorismus als einer Autoimmunkrankheit der Demokratie gesprochen (vgl. Derrida 2004). Wenn wir eine Autoimmunkrankheit als einen Prozess verstehen, in dem etwas die Sensibilität für die Kontinuität seiner Austauschbeziehungen und die Mittel, sie herzustellen, gegen sich selbst wendet, dann kann man Folter als Autoimmunkrankheit der Gesellschaft verstehen. In der Folter zerstört sich Gesellschaft selbst, weil sie auf der Offenheit, auf der Notwendigkeit des Austausches und einem Vertrauen in die Verlässlichkeit von sozialen Beziehungen gründet. Jede Form des Austausches hat ein Drittes, ein Medium, etwas, das durch den Austausch geschaffen wird und das doch zugleich seine Bedingung ist: Sensibilität als Bedingung der Offenheit und der Wahrnehmung, Vertrauen als soziale Relationalität, Erinnerung als Bindung und Prozess der Verwandlung. Wenn Sensibilität zur Verletzung, wenn Vertrauen zur Willkür, wenn Erinnerung zur traumatischen Fixierung wird, wendet sich Gesellschaft im Sinne der Autoimmunkrankheit gegen ihre eigene Möglichkeit. Auch das Kino ist ein Drittes, ein eigenständiger Begleiter unseres Milieus: „en suivant notre marche à la mort / aux traces de sang qui la marquent / le cinéma ne pleure pas“ (Godard 1999, IV 14). Es ist empfindlich und handelt, es folgt der Spur, aber es hat eine eigene, andere Empfindsamkeit. Diese wiederum verändert auch die unsere. Vermutlich um die im Deutschen stark ins Militärische verweisende Konnotation des Wortes Marsch zu vermeiden, entgeht der Übersetzung von Hanns Zischler die etymologische Verbundenheit von marche und marquer. Der Marsch und die Markierung oder Spur sind nicht zwei verschiedene Bewegungen, der Marsch liest seine eigene Spur und das Kino ist mithin nicht nur zeitlich

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nachgeordneter Teil dieser Bewegung, es legt selbst Spuren, die wir wiederum verfolgen. Es steckt somit auch eine Reflexion über die komplexe Zeitlichkeit des Films in diesen Sätzen. Er liefert Bilder der Erinnerung, er liefert Bilder der Zukunft, und er ist Gegenwart als Wahrnehmungsereignis. Wenn wir den Film ein Bewegtbildmedium nennen, beziehen wir uns meist auf diesen letzten Aspekt. Kino, und damit meint Godard nicht nur das Dispositiv der Rezeption von Bewegtbildern im abgedunkelten Saal, sondern auch Video und Fernsehen, Kino als Produktions- und Rezeptionszusammenhang ist selbst Bewegung. Im Kino bewegen wir uns mit dem Film, folgen wir im Rhythmus der Bilder und Gedanken dem Film, begleiten ihn. Anders als im Theater trennt uns kein Bühnenrahmen von der Szene, die gespielt wird. Es gibt Theoretiker des Theaters, die hier seine Überlegenheit festmachen möchten, denn durch den Rahmen der Bühne werde der ontologische Riss zwischen dem Ausführen und dem Vorführen einer Handlung wahrnehmbar. Im Film dagegen „bleibt der Riss ontologisch“ (Menke 2005, 125). Er sei das „Medium einer erhöhten und intensivierten Präsenz, die in der differenzlosen Verschmelzung von Schauspieler und Person, von Vorführendem und Vorgeführtem eintritt.“ (126) Der alte Vorwurf der Verführung klingt hier an, wie er historisch noch jedem neuen Medium entgegengehalten wurde. Doch ist der Film von seinen Anfängen bei den Gebrüdern Lumière bis in die Gegenwart durchzogen von Zwischen- und Metabildern, die mindestens ebenso Reflexionen über die Form des Kinos darstellen wie es etwa in der Form der Tragödie über das Theater geschieht. Solche bestreitbaren Urteile wie das hier zitierte von Christoph Menke deuten aber gleichwohl auf eine besondere Qualität der filmischen Zeit hin. Was hier als intensivierte Präsenz bezeichnet wird, ist nicht die Verschmelzung von Vorführendem und Vorgeführtem, sondern die szenische Intensivierung der Erfahrung. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Filmschauspieler sich selbst spielt, fallen Handlung und Vorführung nicht zusammen. Der Film testet, wie Walter Benjamin es formuliert hat, die Ausstellbarkeit des Schauspielers (vgl. Benjamin 1974 b, 450). Dass sie sich gegenüber der Apparatur des Films zu bewähren hat, galt für den Film zu Benjamins Zeit, es gilt aber auch heute noch und, denkt man an das Reality TV, das mit Laiendarstellern arbeitet, sogar verstärkt. Der Test selbst stellt eine szenische Konstellation her, sie umfasst Dinge, Personen, Zuschauer. Sie umfasst auch den durch Kadrierung und Schnitt entstehenden Raum, sie reali-

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siert aber immer auch eine spezifische Form der Zeit, einen Rhythmus des Wahrnehmens und Denkens. Das Szenische ist grundsätzlich nicht mehr von einem einzelnen Wahrnehmungssubjekt her konstruiert. Selbst ein Film, der ausschließlich aus subjektiven Kameraeinstellungen bestünde, würde durch die sichtbare Kadrierung des Bildes auf das Szenische verweisen. Das bedeutet aber auch, dass das Wahrnehmungsereignis des Films wie jeder anderen szenischen Konstellation auch nie nur Gegenwart ist, sondern immer zugleich auch Erinnerung und Erwartung oder Vorgriff. Diese szenische Verdichtung des Kinos bedeutet gerade nicht, dass die Differenz zwischen Vorführung einer Handlung und Handlung selbst nicht mehr wahrnehmbar wäre, weil sie schon gegenüber einer Apparatur „stattgefunden hat und nun mechanisch reproduziert wird.“ (Menke 2005, 125) Zum einen macht schon das Theater selbst deutlich, dass es nicht um einen ontologischen Riss im Sinne einer Differenz zwischen zwei Seinsweisen, zwischen denen eine Lücke klafft, geht, sondern eher um eine ontologische Differenz, um ein Werden – verstanden als Faltung und innere Differenzierungsbewegung des Seins. Es gibt kein Innen, das nicht auch außen, kein Außen, das nicht auch innen wäre, Handlung und Vorführung einer Handlung gehen auseinander hervor, ohne dass eines mehr Ursprung am Szenischen beanspruchen könnte als das andere. Wenn in „Hamlet“ eine Schauspieltruppe den Giftmord vorführt, verunsichert dies jene, die diesen zuvor als Handlung vollführt haben. Diese Vorführung ist intendierte Einwirkung und damit also selbst schon Handlung. Und wenn in „Othello“ Iago den verliebten Titelhelden über eine theatrale Inszenierung in den Wahn einer unbegründeten Eifersucht treibt, dann reflektiert Shakespeares Theater ebenfalls auf die ontologische Untrennbarkeit von Vorführung und Handlung. Jede szenische Konstellation ist beides zugleich. Die Differenz kommt nicht als Mangel hinzu, sie ist als Faltung der Subjektivität ihre Bedingung wie ihre Zukunft. Es gehört zur intensiven Dynamik der Szene, dass in ihr Handelnder und Begleiter, Akteur und Beobachter stets oszillieren. Das ist, wie auch in Godards Formulierung gefasst, nur ein scheinbares Paradox, weil es einen steten Wechsel zwischen den Positionen des Berührenden, des Berührten und der Berührung gibt. Auf das Subjekt bezogen heißt das: Es taucht in der Szene genauso auf wie es in ihr verschwindet, die Szene ist eine stete Bewegung zwischen Subjektivierung und Desubjektivierung. Es gibt allerdings auch Augenblicke des Stillstandes, in denen diese Bewegung einhält, Momente der Geste, der Erschöpfung, des Bildes.

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Oft werden sie als Zwischenbilder exponiert, sie sind aber als Dimension der Unbestimmtheit in der szenischen Konstellation selbst wirksam. Man kann sie auch als Momente der Verdichtung von Zeit verstehen, in denen sich der Augenblick von der Funktion löst, Vergangenheit und Zukunft zu scheiden. Szenen der Gewalt sind Situationen, in denen ein Opfer einem unerwünschten, aber von anderen Menschen intendierten hohen Desubjektivierungsdruck ausgesetzt wird. Auch ein Unfallgeschehen oder eine Naturkatastrophe üben einen Druck aus. Aber in ihnen gibt es zunächst tatsächlich keine Dimension der Vorführung der Handlung. Szenen der Gewalt sind men made disasters. In ihnen entsteht der Druck der Desubjektivierung immer auch aus der Vorführung. In extremer Form geschieht dies in der Folter: Sie ist eine durch und durch theatrale Inszenierung, in der dem Opfer seine Machtlosigkeit, die sich an ihm vollziehende Desubjektivierung zu verhindern, vorgeführt werden soll. Aber selbst in einem Schiffsunglück, etwa im Untergang einer Fähre, steckt eine Dimension der Vorführung einer Missachtung des anderen, etwa im Mangel an Sorgfalt der Ausführung der Technik oder an Verantwortung des Kapitäns. Szenen der Gewalt haben darin ihre destruktive Kraft, weil wir gar nicht anders können als anzunehmen, dass der andere mit und nicht gegen uns ist, dass das intersubjektive Milieu, in dem ich mich bewege, mich hält und mich nicht fallen lässt. Gerade weil die Differenz zwischen Handlung und Vorführung jede szenische Konstellation als Faltung und inneres Oszillieren charakterisiert und in ihrer Dynamik bestimmt, hat das Kino ein verstärktes Bewusstsein auch der szenischen Dimension der Gewalt entwickelt. Wenn es eine Szene der Folter zeigt, dann macht es uns nicht nur zum distanzierten Betrachter einer Vorführung, es zieht uns tatsächlich auch in die Handlung selbst hinein. Es repräsentiert diese Handlung nicht nur, es versetzt uns selbst in eine szenische Konstellation. Natürlich können wir das Kino in der Regel verlassen, jedenfalls solange wir nicht wie der Held von Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE (1971) zum Hinsehen gezwungen werden. Aber wir waren in der Szene, die uns vorgeführt wurde, und müssen uns zu ihr verhalten, und sei es durch das Abwenden des Blicks. Doch hat man das, wovon man den Blick abwendet, immer schon gesehen. Es ist Teil unseres Gedächtnisses und damit auch Teil unserer Zukunft geworden. Handlung und Darstellung sind verschiedene Modi, die aber immer zugleich wirksam

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sind. Selbst in den Folterfotografien aus Abu Ghraib tendieren die Beteiligten dazu, sich in der Szene der Gewalt selbst „in Szene zu setzen“. Die Vorführung kann die Handlung ebenso kaschieren wie überhaupt erst hervortreiben. Es gehört zu einer politischen Sicht auf die Geschichte, die Handlung und die Vorführung von Handlung als zwei Modi ein und derselben Aktion zu verstehen. Die Modi unterscheiden sich vor allem in ihrer Synthese der Zeit. Die Vorführung kann eine Handlung kaschieren, deren Folgen erst im Nachhinein sichtbar werden. Sie kann aber auch über die Handlung hinaus Zukunft antizipieren. Als Immanuel Kant 1794 in seiner Schrift „Streit der Fakultäten“ die Französische Revolution ein „Geschichtszeichen“ (Kant 1968, 84) nannte, sah er sich gemeinsam mit anderen als Zuschauer, die „wohl nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind“, in deren Gemüt aber doch „eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grentz“ (85) stattfinde. Als handle es sich um ein Schauspiel, trennt Kants politischer Blick die Handlung von ihrer Darstellung. Das ist weit entfernt von einer Ästhetisierung. Es geht Kant auch nicht nur darum, zumindest „dem Wunsche nach“ teilnehmen zu können, es geht ihm vor allem um eine Unterscheidung zwischen dem faktischen Verlauf der Ereignisse und ihrer politischen Bedeutung. Denn auch wenn die „Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen vor sich gehen sehen“ (85) scheitere oder gar mit „Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sei“, dass man das „Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde“, so beweise sie doch eine moralische Tendenz des Menschengeschlechts, die sich nie mehr ganz rückgängig machen lasse. „Denn ein solches Phänomen in der Menschheitsgeschichte vergißt sich nicht mehr“ (88). Diese reflexive Form des Verbs versteht historische Phänomene als Handlung und als Gedächtnis, als Aktion und als Vorführung, als Vergangenheit und als nie abgeschlossene Zukunft zugleich. Die reflexive Bewegung, die Kants Worte als aktive Erinnerung ansprechen, konstituiert das Milieu. Sie kann sich in Ideen, in Institutionen, in Bildern, in neuen Handlungen und in neuen Beziehungen ausdrücken. Dazu gehören auch die Formen, die dieser Ausdruck und diese Beziehungen bekommen, die Medien, die sie sich erfinden. In der Situation, in der Kant dies schrieb, war es die levée en masse und war es, unter anderem, die Philosophie, oder besser: die politische Theorie. Beides hat sich nicht vergessen, das Volk als Verkörperung der Demokratie und die Idee der Revoluti-

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on nicht, auch wenn wir nach den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wohl zögerlicher als Kant von einem „Fortschreiten zum Weltbesten“ sprechen würden. In seiner Begeisterung für die Revolution hat Kant vielleicht unterschätzt, dass sich nicht nur das hoffnungsvolle Geschichtszeichen nicht vergisst, sondern auch das der Zerstörung.

Abbildung: HISTORIE(S) DU CINÉMA von Jean-Luc Godard

Eine Frau, die vor einem Milizionär mit umgehängtem Gewehr kniet und zu ihm spricht; eine andere Frau auf einem Panzer, die einen Mann küsst; neben den beiden ein anderer, lachender Milizionär; und ein drittes Fragment eines Dokumentarfilms, das eine Frau zeigt, wie sie einen Milizionär umarmt und lacht: es sind Bilder einer Revolution, vielleicht aus den ersten Wochen des Spanischen Bürgerkrieges, vielleicht aber auch von der Befreiung Frankreichs. Der folgende Filmausschnitt zeigt General de Gaulle, wie er, eine Zigarette im Mund, den Blick wendet, dann ein Gewehr, das jemand aus einem Autofenster hält, dessen Blick die Kamera wiedergibt, Blicke auf Soldaten, die in verschneiter Landschaft marschieren: Dies sind die Bilder, die wir zu den ersten der eingangs zitierten Zeilen aus Godards Erzählung sehen. Es folgt der Schriftzug UNE VAGUE NOUVELLE, was natürlich als vage, unpräzise Nachricht zu übersetzen wäre, auch wenn es auf die Erneuerung des Films durch die Nouvelle Vague anspielt, bevor die zweite Strophe mit einer flackernden Überblendung eines Standbildes und einer Filmsequenz montiert wird: Das Standbild ist der Szene der Folterung des Widerstandskämpfers Manfredi in Roberto Rossellinis ROMA CITTÀ APERTA entnommen und zeigt das Opfer mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Wand wie an ein Kreuz gefesselt. Die dazu montierte Filmsequenz

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stammt aus Sergei Eisensteins СТАЧКА (Streik). Die Strahlen der Wasserwerfer, die zur Niederwerfung des Streiks eingesetzt werden, sind darin zu sehen, und eine Gruppe von protestierenden Frauen, die davor flüchten. Das Kino im 20. Jahrhundert ist in die levée en masse ebenso verwickelt wie in die Folter. Godards Film HISTORIE(S) DU CINÉMA kreist um die historische Konstellation zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Kino. „es sind nun fünfzig Jahre / dass sich der Kinogänger in der Schwärze / der verdunkelten Säle / am Imaginären erhitzen / um wieder warm zu werden vom Realen / dieses rächt sich jetzt / und will echte Tränen / und echtes Blut“ (Godard 1999, I 27f.). Der Erzähler deutet ein Versagen des Kinos an, diesen Krieg zu verhindern: „von Siodmak bis Capra (…) von Renoir bis Malraux und Doveshenko / waren die großen Regisseure außerstande / die Rache unter Kontrolle zu halten / die sie zwanzigmal inszeniert hatten“ (I 28). Ist es dieselbe Rache? Hat das Kino das Reale vergessen, das, was im Milieu wirkt, ohne dass wir es angemessen repräsentieren könnten? Wir erinnern uns an Guernica, so geht das Argument des Films weiter, wegen Picassos Bild, wir erinnern uns an Gefangenschaft, weil es Goyas Radierungen gibt: zwei Bilder mithin, die vom Realen der intendierter Gewalt von men made disaster handeln. „und“, so fährt Godards Erzählung fort, „wenn George Stevens nicht als erster / den ersten 16-mm-Farbfilm / in Auschwitz und Ravensbrück / verwendet hätte / hätte wahrscheinlich das Glück von Elizabeth Taylor / niemals einen Platz an der Sonne gefunden“ (I 29). Durch den Dokumentarfilm gewinnt das Kino in dieser Situation wieder politische Handlungsmacht. Stevens war von 1943 bis 1946 Leiter einer Filmeinheit unter General Eisenhower. Aus seiner Kamera stammen Aufnahmen der Landung der Amerikaner an der Küste der Normandie und die einzigen existierenden Farbfilme von der Front, von ihm und seinem Team stammen auch Filmbilder, die bei der Befreiung des Arbeitslagers Duben und des Konzentrationlagers Dachau gemacht wurden (vgl. Library of Congress 2009). Sie wurden bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 als Beweismaterial vorgeführt und waren wichtiger Teil der Strategie des Chefanklägers Robert H. Jackson, die das Ziel hatte, in diesem Prozess einer neuen Rechtsvorstellung Geltung zu verschaffen: dem Rechtsgut Menschlichkeit und damit auch dem Recht, jemanden unter dem Verdacht eines begangenen Verbrechens gegen die Menschlichkeit unter Anklage zu stellen. Und es wird mit der Rechtsprechung der Nürn-

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berger Prozesse auch als ein höheres Gut als die staatliche Souveränität gesetzt. Wenn 1984 die Vereinten Nationen eine Konvention gegen die Folter verabschiedeten, die erste internationale Konvention, die eine einzelne Form der Gewalt unter Verbot stellt, dann steht dies auch in der Folge der Rechtsetzung von Nürnberg und damit ebenso in der Folge der Filme von Stevens und anderen. Stevens war während seiner Zeit als Armeeangehöriger in Deutschland als Kameramann, als Regisseur und Produzent tätig. An dem über zweistündigen Films THE NAZI PLAN, der weitgehend aus in Deutschland aufgefundenem Archivmaterial montiert und am 11. Dezember 1945 in den Nürnberger Prozessen als Beweismittel der Anklage vorgeführt wurde, war er als Koproduzent beteiligt. Zu seinen ersten großen Regieerfolgen nach seiner Rückkehr nach Hollywood zählt der von Godards Kommentar erwähnte A PLACE IN THE SUN (1951). Elizabeth Taylor spielt darin neben Montgomery Clift die Hauptrolle. Der Film wurde für Taylor der erste große Erfolg als Schauspielerin in einer Erwachsenenrolle. Auch an dieser Stelle von Godards Film erweitert sich die Komplexität der Analyse des Milieus Kino durch die Montage des Texts mit den Bildern: Nach einem Ausschnitt einer Zeichnung Goyas, die ein erniedrigtes, in Ketten gelegtes Opfer der Folter zeigt, setzt mit einem Schwarzbild die zitierte Erzählung ein. Dem Schwarzbild folgt ein anderer Ausschnitt einer Zeichnung Goyas, die Gesichter voller Schrecken mit aufgerissenen Augen und Mündern zeigt, bevor wir ein schemenhaftes Farbbild von Leichen sehen, die übereinander in einem Eisenbahnwagon liegen. Dieses wird sehr bald mit einem Ausschnitt aus A PLACE IN THE SUN überblendet, der Taylor zeigt, wie sie zärtlich ihrem Geliebten durch die Haare streicht. Und noch einmal schneidet Godard auf ein Farbbild eines Opfers der Vernichtungslager, mit aufgerissenen Augen, im Schnitt eine Bewegung von Taylors Kopf aufnehmend. Das Reale der Liebe und das Reale des Traumas schreiben sich in dieselbe Spur. Es ist dieselbe Empfindlichkeit des fotografischen Materials, welche diese Bilder archiviert, es ist dieselbe Erinnerung, die solche Konstellationen denkt und daraus etwas Neues entstehen lässt. Und es ist derselbe politische Blick, der in der Idylle am sonnigen See die Monstrosität des Mordes aufscheinen lässt, nicht nur des Mordes, den ihr Geliebter an seiner früheren Freundin begangen hat, die ihm beim sozialen Aufstieg, den seine neue Liebe auch bedeutet, im Wege stand, sondern des millionenfachen Mordes in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Film kann dies

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denken, weil er unseren Blutspuren folgen kann, ohne zu trösten. Er ist ein politisches Medium im unmittelbaren Sinne, er ist politisches Denken, weil seine szenische Dichte der Bilder und der Montage Synthesen der Zeit sind, die das aufnehmen können, was sich nicht vergisst. Die vier Kapitel dieses Buches greifen den Gedanken auf, dass das Kino Subjekt in einem Milieu ist, das wir mit ihm teilen, und dass folglich die Geschichten des Kinos immer auch die der Menschen und seiner Umgebung sind. In diesem Sinne bewegen sich diese vier Kapitel auch in vier verschiedenen Milieus oder Konstellationen. Das erste Kapitel folgt Roberto Rossellini in seinem Versuch, in einer Situation der nachhaltigen Zerstörung der Verlässlichkeit sozialer Beziehungen durch den Zweiten Weltkrieg und der Gewalt des Faschismus, Vorschläge zu einer Rekonstruktion von Gemeinschaft zu machen. Die Szene, aus der heraus sich dies in immer wieder neuen Konstellationen entwickelt, ist die schon erwähnte Szene der Folterung des kommunistischen Widerstandskämpfers Manfredi durch die deutschen Besatzer in ROMA CITTÀ APERTA. Das zweite Kapitel geht zunächst nochmals auf Rossellini und seine Verwendung dokumentarischen Materials ein, um einen Begriff des Bildes zu entwickeln, der sich mit den Formen der Zerstörung in Verbindung bringen lässt, welche Folter als Praxis der intendierten Traumatisierung kennzeichnen. Es ist dann George Orwells konsequente Analyse der Folter in seinem Roman „Nineteen Eighty-Four“ und seiner Verfilmung von Michael Radford, über die die destruktiven Dimensionen der Gewalt des Faschismus und des Stalinismus erörtert werden. Dem schließen sich Betrachtungen über Pier Paolo Pasolinis SALÒ und Samuel Becketts WAS WO als zwei ästhetisch radikal differente Reflexionen über diesen Zusammenhang an. Das dritte Kapitel hebt Fragen der Zeit der traumatischen Erfahrung, der Erinnerung, des Bildes und der Versöhnung hervor. Chris Markers Film LA JETÉE wird darin konsequent als eine Reflexion über Zeit und Bild gelesen, bevor dann der Blick auf die in verschiedenen Wahrheitskommissionen zum Ausdruck Bemühungen der sozialen Bindung von Erfahrungen der Folter und anderer massiver Gewalt gelenkt wird, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten in lateinamerikanischen, asiatischen und afrikanischen Ländern entwickelt haben, wobei die Argumentation sich auf das südafrikanische Beispiel konzentriert. Das Kapitel schließt mit Betrachtungen zu Steve McQueens Film HUNGER und dessen Darstellung der selbstdestruktiven Konsequenzen un-

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versöhnter Gewalterfahrung. Im vierten Kapitel schließlich liegt die Konzentration auf der Beschreibung einer veränderten Konstellation von Wahrnehmung und Erfahrung von Gewalt im Szenario des Terrorismus und auf der Rolle, welche die digitalen Medien der Aufzeichnung und Verbreitung dabei haben. Kathryn Bigelows ZERO DARK THIRTY, Errol Morris’ STANDARD OPERATION PROCEDURE und Joshua Oppenheimers THE ACT OF KILLING sind die Filme, deren Wissen diskursiv nachgezeichnet wird. Die Arbeit an diesem Buch wäre kaum möglich gewesen ohne die Gewährung einer Forschungsprofessur durch die VolkswagenStiftung. Diese war Teil der Förderung des zusammen mit Karsten Altenhain und Johannes Kruse beantragten fachübergreifenden Forschungsvorhabens „Wiederkehr der Folter? Interdisziplinäre Studie über eine extreme Form der Gewalt, ihre mediale Darstellung und ihre Ächtung“. Der VolkswagenStiftung und namentlich Frau Dr. Vera Szöllösi-Brenig möchte ich für ihr mutiges Engagement für dieses Projekt danken. Die Kolleginnen und Kollegen Julia Bee, Sven Seibel und Stephan Trinkaus waren seit der Phase der Konzeption an diesem Projekt beteiligt. In ungezählten Gesprächen am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf haben wir Gedanken, Ideen und Wissen ausgetauscht. Ihnen gilt mein herzlicher Dank ebenso wie Silvia Bahl, Jule Korte und Peter Sich, die im Laufe der Zeit dazu gestoßen sind. Danken möchte ich auch meiner Frau Anja Görling, der seit jeher sensibelsten Leserin meiner Texte.

1 Hinter offenen Türen: Rossellini und die Frage der Gemeinschaft

R OMA

CITTÀ APERTA

Im August 1944, nur zwei Monate nachdem das Vorrücken der USamerikanischen Armee die Deutsche Wehrmacht zur Aufgabe von Rom gezwungen hatte, begannen die Dreharbeiten für einen Film, der zur berühmtesten Regiearbeit von Roberto Rossellini werden sollte und auch als Gründungsmanifest des italienischen Neorealismus verstanden worden ist: ROMA CITTÀ APERTA. Noch unter der deutschen Besatzung hatten Giuseppe Amato, Federico Fellini und Roberto Rossellini das Drehbuch entworfen. Vor allem zwei Passagen des Werkes haben die weitere Geschichte des Mediums Film stark beeinflusst. Die zweite prägt das Zentrum des letzten Drittels des Films und behandelt die Folterung des kommunistischen Widerstandskämpfers Giorgio Manfredi (Marcello Pagliero). Die erste befindet sich ziemlich genau in der Mitte des Films und zeigt, wie sich Pina (Anna Magnani) aus den Griffen der deutschen Soldaten löst und einem fahrenden Lastwagen hinterherrennt, auf dem sich ihr gerade verhafteter Geliebter Francesco (Francesco Grandjacquet) befindet. Sie wird im Lauf von hinten erschossen und stürzt. Die Eindringlichkeit dieser Szene ist komplex. Sie entsteht durch die unwahrscheinliche, in einem wörtlichen Sinne nicht fassbare Energie, mit der sich Pina in ihren tödlichen Lauf stürzt, sie entsteht durch das genaue Kalkül der Einstellungen, Kamerabewegungen und Schnitte, sie entsteht aber auch dadurch, dass eben diese Einstellungen nicht nur die Geste des Widerstandes zeigen, sondern auch die Zeugen des Geschehens. Sie stehen sich in zwei Gruppen gegenüber: In

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der Mitte der einen ist Francesco, auf den Pina zu rennt und der vom startenden Lastwagen aus ihren Namen ruft. In der Mitte der anderen Gruppe ist der Pfarrer Don Pietro (Aldo Fabrizi), der von Pinas Sohn als Messdiener begleitet wird. Sie haben Pina nicht zurückhalten können. In Vorahnung der Tragödie bedeckt Don Pietro das Gesicht des Jungen mit seiner Soutane, während er selbst das Geschehen entsetzt verfolgt.

Abbildung: Aldo Fabrizi in ROMA CITTÀ APERTA von Roberto Rossellini

Wir, die Zuschauer des Films, sind in keiner anderen Position. Wir können Pina nicht aufhalten, so sehr wir uns das vielleicht wünschen. Aber wir sind Zeugen geworden, auch wenn wir uns zugleich vor dem Eindruck schützen wollen wie Don Pietro den Jungen. Sicher handelt es sich um ein inszeniertes Geschehen, um ein Kunstwerk. Und obwohl wir das wissen und auch nicht vergessen, verbinden wir es mit der Historie, nicht, weil wir davon ausgehen, dass ein solches Geschehen irgendwo genau so oder sehr ähnlich stattgefunden habe. Wir beziehen es auf die Wirklichkeit, weil es ein Ausdruck ist, der sich mit unserem affektiven Erleben, mit unserem manifesten und unserem latenten Wissen, unseren inneren Objekten verbindet. Innere oder virtuelle Objekte und äußere oder reale Objekte sind vielfach miteinander verhakt und verknotet, doch sie gehen nicht ineinander über. Dabei müssen selbst reale Objekte nicht gegenständlicher Natur sein. Reale und noch mehr virtuelle Objekte haben auch selten eine klar begrenzbare Topologie. Wenn uns die Intensität der Handlung, mit der sich Pina von den anderen löst und in ihren Lauf stürzt, affiziert: Welche Begrenzung kann dieses Objekt haben, in der Geschichte, die im Film erzählt wird, in der Wirkung, die der Film vielleicht hatte und hat, aber auch in den Dimensio-

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nen der Erinnerung, die sich darin verkeilen? Und diese Erinnerungen sind nicht nur im individuellen Gedächtnis, sie sind zum Beispiel auch in den Bildern, die der Film selbst mit dem Geschehen verknüpft. Mit Pinas Fall ist ja diese Sequenz nicht beendet. Zwei Einstellungen folgen, die kaum hätten genauer gesetzt werden können. Die erste zeigt Pina liegend, ihr Rock ist so weit hochgezogen, dass ihr Strumpfband sichtbar wird. Man kann dies sowohl als Erotisierung wie als Desakralisierung des Bildes verstehen, es verknüpft in beiden Fällen Liebe und Tod. Schreiend läuft ihr Sohn auf sie zu, gefolgt vom Pater. Und während dieser Pina wie in einer Pietà-Figur in seinem Schoß hält, wird der Junge von anderen gewaltsam weggezerrt. Noch einmal spaltet sich also das Bild auf, in ein Bild der Zeugenschaft und des Haltens und in ein Bild des gewaltsamen, ja erzwungenen Wegsehens. Das letzte Drittel von ROMA CITTÀ APERTA greift diese Frage von Zeugenschaft und Verleugnung erneut auf. Es ist bestimmt von der Darstellung einer Folterung. Mit über 16 Minuten Dauer dürfte es wohl nicht nur eine der intensivsten, sondern auch der längsten Thematisierungen der Folter sein, die es bis dahin in einem Filmdrama gegeben hat. Der Ort der Misshandlungen ist eine fensterlose Kammer, die mit dem Büro des Gestapochefs Sturmbannführer Bergmann (Harry Feist) direkt durch eine einfache Tür verbunden ist. „Bringen Sie den Mann heraus”, befiehlt Bergmann in dem im Original zweisprachigen Film seinen Untergebenen, die auch gleich mit der Vorbereitung der Folterwerkzeuge beginnen. Bergmann verdächtigt Manfredi, einer der Organisatoren des kommunistischen Widerstandes zu sein, und möchte ihn noch vor Ablauf der Sperrstunde dazu bringen, seine Kontakte preiszugeben. Den mit Manfredi verhafteten Priester Don Pietro zwingt er, der Folter durch die offen stehende Türe zuzusehen. Mit seinen Aussagen, so Bergmann zu Don Pietro, könne er seinem Freund Leiden ersparen, die über alles hinausgingen, was er sich vorstellen könne. Eine zweite Türe des Büros führt in das Treppenhaus, durch sie sind die beiden Gefangenen aus dem Kellerverlies nacheinander hier hineingebracht worden. Eine dritte, als Doppeltüre ausgelegte Verbindung führt in einen Salon, in dem deutsche Offiziere trinken und, begleitet von einem Mann in SS-Uniform am Klavier, Karten spielen. Aus diesem Salon heraus, den Bergmann im Dialog einmal als „mein Zimmer“ bezeichnet, kommen im Laufe der Folterung weitere Personen in das Büro und werden Zeuge des grausamen und mit Manfredis Tod endenden Geschehens.

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Abbildung: Harry Feist in ROMA CITTÀ APERTA von Roberto Rossellini

Bergmann öffnet und schließt die Türe zur Folterkammer wie ein Conférencier, der den Bühnenvorhang beiseite schiebt. Durch den Rahmen der offenen Tür sieht der Priester die routinierte Arbeit der Uniformierten, die dem Körper Manfredis Verletzungen und Verbrennungen zuzufügen. Das dazu nötige Werkzeug liegt wie bei einer Operation vorbereitet auf dem Tisch. In einer Einstellung hält die Kamera aber auch aus der Folterkammer heraus durch den Rahmen der Tür auf den zusehenden Priester. Schreie des Schmerzes und das Stöhnen der Erschöpfung erfüllen den geteilten Raum. Die Folterung ist ein inszeniertes Geschehen, das Täter, Opfer und Zuschauer einschließt. In einer Situation lässt sich Bergmann selbst dazu provozieren, wütend mit einem Stock auf Manfredi einzuschlagen. Eine andere Einstellung zeigt kurz das im Schmerz verzerrte Gesicht Manfredis, worauf unmittelbar eine noch kürzere, fast aus demselben Bildwinkel, aber aus größerer Distanz und mit einem Objektiv mit kürzerer Brennweite gefilmte Einstellung folgt, in der zu sehen ist, dass das Opfer an die Wand wie an ein Kreuz gekettet ist. Die offene Flamme einer Lötlampe wird an seinen nackten, verwundeten Oberkörper gehalten. Dies ist das deutlichste einer Reihe von Bildern, mit denen Rossellini die christliche Tradition der Darstellung des Schmerzensmannes aufnimmt.1 1

Als ROMA CITTÀ APERTA nach jahrelangem Aufführungsverbot 1960 endlich in öffentlichen Kinovorstellungen in Deutschland gezeigt werden durfte, hatte man nicht nur die Dialoge verfälscht und entpolitisiert, sondern auch die Foltersequenz gekürzt und insbesondere die an eine Kreuzigung erinnernden

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Abbildung: Aldo Fabrizi in ROMA CITTÀ APERTA von Roberto Rossellini

Am Ende der Sequenz stehen auch die Besucher des Salons im Türrahmen zur Folterkammer. Alle sind auf das Geschehen bezogen. Täter wie Zeugen können den Blick von dem in Agonie an einen Stuhl gefesselten und sterbenden Manfredi nicht abwenden. Wie die vier Männer in Hieronymus Boschs „Christus verspottet“ reagieren sie auf ihre Beteiligung und ihre Betroffenheit in je eigener Weise. Bergmann versucht sie mit Arroganz zu überspielen. Ingrid (Giovanna Galleti), welche ihm die zur Verhaftung Manfredis nötige Information beschafft hat, betrachtet dessen Folterung und Ermordung mit einem kalten Interesse. Nach einem kurzen Augenblick der Betroffenheit und Irritation scheint sie einen Genuss aus seiner eigenen Distanzfähigkeit gewinnen zu können. Marina (Maria Michi), die Manfredi verraten hatte und nichts ahnend zur Tür geführt wird, fällt in Ohnmacht. Der Priester war auf Bergmanns Befehl schon zuvor in den Raum gekommen: Er solle sich ansehen, zu was die christliche Nächstenliebe führe. Manfredi sitzt wieder gefesselt auf einem Stuhl, doch sein Kopf ist kraftlos gesenkt. Einer der Soldaten zieht ihn an den Haaren nach oben. Manfredis linkes Auge öffnet sich einen kleinen Spalt. Der Priester sieht ihn mit einem traurigen Lächeln an und sagt leise, bestätigend und tröstend zu ihm, dass er nicht gesprochen habe. Als der Soldat den gehobenen Kopf loslässt, sinkt er ruckartig nach vorne. Der Priester bemerkt, dass seine Worte Manfredi im Augenblick des Todes begleitet haben, und der Zuschauer realisiert Bilder herausgeschnitten. Sie fehlen auch heute noch in der aktuell in Deutschland von Arthaus vertriebenen DVD.

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das mit ihm. Nun nimmt Don Pietro den Kopf mit dem zerschundenen Gesicht in beide Hände, zärtlich fährt er mit einem Daumen über das Lid des eben noch ein wenig geöffneten Auges, als ob er es in einer letzten Berührung schließen und den Augenblick des Sterbens nachvollziehen wolle. Don Pietro segnet unter Tränen den Toten und wendet sich dann zu Bergmann. Mit geballten Fäusten spricht er einen Fluch über die Täter aus, die dabei erschrocken einen Schritt zurückweichen. Innehaltend wird er sich dieser Verfehlung gewahr und fällt mit der Ansprache an Gott betend vor dem Toten auf die Knie. Die Wechsel der Einstellungen und der Kameraperspektive zwischen dem Blick auf das Opfer und dem auf die Zeugen lenken den Blick unvermeidlich auch auf den Betrachter der filmischen Szene, den Kinozuschauer. Welcher Art ist sein Umgang mit der Betroffenheit? Die Bühne der Folter, die Rossellini hier entwirft, enthält, einer russischen Puppe vergleichbar, weitere Bühnen. Diese Kaskade der Rahmungen geht nicht nur nach außen, zum Zuschauer und zur Rezeption des Films hin, sie geht auch nach innen. Die Folterer misshandeln Manfredi, um performativ auf ihn einzuwirken, um „ihm etwas zu zeigen“. Und dieses etwas ist selbst eine Art Auflösung von Rahmen: die Integrität des Körpers, die Integrität der Person, die Integrität des Lebens. Darin ist ein performativer Widerspruch, den Bergmann auch mehrfach betont: Dem Opfer wird gezeigt, dass ihm jede Anerkennung verweigert wird, dass er keine Rechte hat, dass er eigentlich ein Nichts ist, Lumpen, Dreck, wie Michel de Certeau in „The Institution of Rot“, einem Essay über Folter und Mystik, schreibt (Certeau 1997). Aber doch setzt die Handlung voraus, dass das Opfer mehr ist als das: ein um die Bewahrung seines Selbst bemühtes Leben. In der Szene der Folter ist das Subjekt also zugleich anwesend und abwesend, anerkannt und negiert, lebendig und tot. Selbstverständlich ist auch die Zeugenschaft, zu der der Priester gezwungen wird, eine Form der Folter. Auch hier wirkt dieser performative Widerspruch: Der Priester muss machtlos zusehen, wie etwas geschieht, das er um jeden Preis verhindern möchte. In diesem Sinne gibt es kein Außen und kein Innen der Bühne der Folter. Dem folgt auch Rossellinis Einsatz des Tons: Auch wenn man weiß, woher sie kommen, haben Manfredis Schreie etwas Akusmatisches. Es gibt Intensitäten der Betroffenheit, es gibt aber keine Rahmung, hinter der diese Betroffenheit nicht mehr wirken

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würde. Rossellini muss sehr viel an dieser Aussage gelegen haben, sie bildet den inneren Zusammenhang der Passage. „Le cinéma moderne naît avec la scène de ‚Rome, ville ouverte’ de la torture devant un tiers.“ Mit diesen Worten hat der französische Filmkritiker Serge Daney die Schlüsselstellung von Rossellinis Film in der Geschichte des Kinos beschrieben (zit. n. Bergala 1984, 9). Tatsächlich bildet diese Passage aus ROMA CITTÀ APERTA einen Punkt, an dem sich die Wege des Kinos treffen und wieder scheiden. Die Darstellung von Folterungen ist 1944 im Film nichts Neues gewesen, sie gehört seit den Anfängen des Kinos zu seinen Themen (vgl. Bee 2013). Als Medium der Attraktion griff das Kino verschiedene Formen des öffentlichen Spektakels auf, neue Attraktionen, wie sie das Leben in der Großstadt und die moderne Technik boten, aber auch traditionellere, wie sie der Jahrmarkt und das Theater kannten (vgl. Strauven 2006). Passionsspiele gehörten zu den ersten Darstellungen, in deren Wiedergabe sich der Film als narratives Medium versuchte (vgl. Musser 1993). Dabei hatte der Film zunächst selbst noch kaum spezifische Formen der Erzählung, das Schauspiel wurde mit einer einzigen Kameraeinstellung abgefilmt. Doch gibt das Interesse an dem Genre der Passionsspiele schon preis, um was es in einer der Entwicklungslinien des Films bald gehen wird: affektiv hoch intensive Bilder und Szenen mit narrativen, diskursiven oder assoziativen Zusammenhängen zu verbinden. Die Entfaltung der Formen dieser Verknüpfungen und der Strukturen der Narration bilden einen guten Teil der Geschichte des Films und seiner Genres. Das Bildliche und Szenische ist intensiv, es teilt sich nach Innen auf, in die Vergangenheit und in die Zukunft, öffnet sich zu einem virtuellen Raum, die Narration ist extensiv, sie schreitet fort, nicht zwingend linear, doch situierend, ich- und handlungsbezogen. Die Bewegung des Szenischen und Bildlichen dagegen ist eher gegenwärtig, spiralförmig Geschichte und Gegenwart verknüpfend, wir- und affektbezogen. Dabei dürften immer Elemente des einen im anderen zu finden sein. Und auch treten etwa narrative und diskursive Verknüpfungen zusammen auf. David Wark Griffiths BIRTH OF A NATION (1915) zeigt exemplarisch, wie durch die Entwicklung der Parallelmontage eine filmische Form der Narration gefunden wird, die affektiv hoch intensive Szenen einbetten kann und zugleich eine medienspezifische Form bietet, um den diskursiven Zusammenhang der Nation mit ihren zeitgleich sich vollziehenden Handlungen darzustellen. Parallelmontagen von Handlungen, aber auch eine spezifische Weise, die Eigenstän-

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digkeit der Landschaft und der Städte herauszustellen und zugleich in eine Art der synchronen Relation zu dem Helden zu bringen, hat den Film wohl zu einem zentralen Medium des Prozesses des nation building in den USA gemacht. Es gibt kaum einen US-amerikanischen Mainstreamfilm, der nicht in diesem Sinne patriotisch wäre. (Ich komme im vierten Kapitel auf die Frage der Gemeinschaft im US-amerikanischen Film zurück.) Die Narration mit ihrer stark handlungsbezogenen und linearen Verknüpfung ist nur eine der Möglichkeiten, in denen eine Szene mit anderen Szenen eine Verbindung eingeht. Assoziationen, Übertragungen, abstrakte visuelle oder rhythmische Korrespondenzen stellen ebenfalls Verbindungen her. Von den handlungsbezogenen Verknüpfungen unterscheiden sie sich vor allem darin, dass sie multiperspektivisch bleiben können, also keine Auflösung des Szenischen in Handlungen und Abfolgen anbieten oder erfordern. Deshalb kann die Betonung des Szenischen die narrative Verkettung lockern oder sogar auflösen und stattdessen das Gestische betonen. Genau das geschieht in der Folterszene aus ROMA CITTÀ APERTA. Wenn etwa, wie erwähnt, zuerst Manfredis schmerzerfülltes Gesicht zu sehen ist und dann kurz darauf eine nur Sekunden währende Einstellung zeigt, auf welche Weise ihm die Schmerzen zugefügt wurden, nimmt Rossellini die affektive Intensität aus der narrativen Einbettung heraus und steigert die Erfahrung ihrer erratischen, nicht kommensurablen Dimension. Sie erhält auch im Fortgang des Films keine Auflösung. Wohl muss der Film aus dem Augenblick der affektiven Betroffenheit angesichts von Manfredis Tod wieder zu einer narrativen Auflösung finden, doch verbleibt diese eigentlich selbst im Gestischen, in diesem Falle vor allem in der Darstellung von Gesten der affektiven Betroffenheit und Abwehr: Marina, die für ein wenig Luxus und Betäubungsmittel ihren Geliebten verraten hatte, stürzt regelrecht aus dem Bild. Bergmann ordnet an, dass als Todesursache „Herzschlag“ und als Name einer der vielen Decknamen Manfredis in den Totenschein einzutragen seien, da man keine Märtyrer brauche. Dass der deutsche Sturmbannführer dabei gerade für den Führer des kommunistischen Widerstandes den Namen Giovanni Episcopo wählt, also einen Namen, der wohl einerseits auf das Kirchenamt des Bischofs anspielt, der aber vor allem andererseits den Titel eines Romans von Gabriele D’Annunzio zitiert, der einen kleinbürgerlichen Helden porträtiert, darf sicher als politisches Statement für eine Koalition von Kirche und Kommunismus und zusätzlich als Hinweis auf die Arroganz der deutschen Besatzer verstanden werden.

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Und Ingrid wendet sich noch einmal um, geht in den Raum zurück und nimmt der noch immer ohnmächtig dort liegenden Marina den ihr zuvor geschenkten Pelzmantel vom Körper: „Für das nächste Mal.“ (1:32:50) Die Sequenz endet mit einer Kamerafahrt auf den sitzenden, noch immer sein aus dem Salon mitgebrachtes Whiskyglas umfassenden Major Hartmann (Joop Van Hulzen) und seinem zwischen Selbstzweifel und Ironie oszillierenden Satz: „Und wir sind eine Herrenrasse.“ Unmittelbar darauf folgt die Schlusssequenz des gesamten Films, in der die Deutschen dieses Wir der Anmaßung über die Entscheidung von Leben und Tod des anderen in die Tat umsetzen: die Hinrichtung Don Pietros am frühen Morgen des kommenden Tages. Ihr wird als Schlussbild ein anderes Wir entgegengesetzt: das Wir der Kinder, die sich hinter Zäunen und Hecken versteckt hatten, um Zeugen der Hinrichtung sein zu können und nun gemeinsam den Hügel auf die vor ihnen liegende Stadt Rom zurückgehen. Tom Conley hat auf die topografischen Aspekte des Films aufmerksam gemacht. So finden sich sowohl in Manfredis Zimmer wie im Büro Bergmanns Karten Italiens und Roms an der Wand. Dass die Handlung in der langen Passage der Folterung auf drei Orte verteilt ist, versteht Conley als Darstellung einer „neo-Freudian psychopathology of the nazi world, in which an insufferable ‚superego’ inhabits the officer’s club furnished with a piano, heavy sculpture, and ornately framed paintings“ (Conley 2007, 73), während das Es in der Folterkammer mit ihren Werkzeugen, im Büro dazwischen das Ich mit seinen rollenspielenden, zwischen Sadismus und Stilisierung wechselnden Charakteren zu situieren sei. Doch folgt man der Dynamik der Sequenz und der Zusammenführung der Handlungslinien im Augenblick der Betrachtung der Szene des Todes von Manfredi, wird eine solche Lektüre zumindest zweitrangig. Der Salon ist eher Ort von ästhetisierender Distanz im Spiel um Geld, in dem, begleitet von Musik, auch das Geschehen kommentiert wird. In diesen Gesprächen wird jedoch eine andere Topologie deutlich: Er habe heute „eine interessante Arbeit“, leitet Bergmann ein Gespräch mit dem deutschen Offizier Hartmann ein, der rauchend und trinkend in einem Sessel sitzt. Er müsse vor Aufhebung der Sperrstunde einen Führer des Widerstandes zur Aussage über seine Verbindungsleute zwingen. Als in dem in der Originalfassung des Films in deutscher Sprache geführten Dialog Hartmann Zweifel äußert, dass es Bergmann gelingen werde, sein Opfer zum Sprechen zu bringen, antwortet dieser: „Wenn er schweigen sollte, würde es bedeuten, dass ein Italiener

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einem Deutschen gleich wäre. Es würde bedeuten, dass es keinen Unterschied zwischen dem Blut einer Sklaven- und einer Herrenrasse gäbe: Welchen Sinn hätte der Kampf, den wir führen?“ (1:22:50) Der Rassismus Bergmanns verknüpft die Vorstellung des Körpers des Einzelnen mit der eines Kollektivkörpers. Wenn der Italiener Manfredi der Verwundbarkeit seines Körpers geistig nicht unterliegt, dann lässt sich eine Hierarchie der Völker nicht mehr halten. Im Umkehrschluss deutet sich damit auch an, dass die Inszenierung der Folter ein Akt ist, in dem am Körper des Einzelnen symbolisch die Verwundung eines kollektiven Körpers vollzogen wird. Es gibt Sequenzen hoher affektiver Intensität in diesem Film, Sequenzen, auf die der Zuschauer auch mit körperlichem Reiz, Anspannung und dem Gefühl der drohenden Verletzung reagieren muss. Dazu gehört neben der schon erwähnten kurzen Szene, in welcher die Flamme einer Lötlampe an Manfredis nackten Oberkörper gehalten wird, auch eine kurze Bilderfolge, in der gezeigt wird, wie Manfredis Hände an die Armlehnen eines Stuhles gebunden werden und ein zweiter Mann eine Zange an die brennende Lötlampe hält. Wenn kurz darauf das Entsetzen zeigende Gesicht des zusehenden Pfarrers gezeigt wird, während ein Schmerzensschrei zu hören ist, hat die körperliche Erfahrung des Zuschauers die Vorstellung, dass die Finger und Fingernägel Manfredis mit einer Zange verletzt werden, vollzogen. Rossellini verwendet die gesamte Sequenz hindurch nie die Parallelmontage, um die Handlungen miteinander zu verknüpfen. Über das Geschehen in den jeweils anderen Räumen werden die Zuschauer wie auch die Protagonisten nur durch Berichte der zwischen den Räumen zirkulierenden Personen, durch die Schreie oder durch die Blicke durch offen stehende Türen unterrichtet. Dadurch tritt der Handlungszusammenhang der Misshandlung hinter dem Ereignishaften der Folter zurück. Dieses hat eine ethische Dimension, die gerade nicht über zeitgleiche Handlungen verbunden ist, sondern eher in einer Diachronie im starken, von Emmanuel Lévinas hervorgehobenen Sinn des Begriffs einer doppelten, nicht in Deckung zu bringenden Zeitlichkeit (vgl. Lévinas 1992, 38). In einem nicht auflösbaren Widerspruch verbunden sind die Zeit der Handlung und die Zeit der sozialen Bedeutung des traumatischen Gedächtnisses. In ihm entsteht eine Gemeinschaft, die Täter, Zeugen und Opfer umfasst. Sie ist imaginär in dem Sinne, wie es Benedict Anderson für die Nation beschrieben hat (vgl. Anderson 1993). Als eine solche Darstellung einer Gemeinschaft zwischen dem Einzelnen und der Gruppe sind Rossellinis Filme und die

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des italienischen Neorealismus beschrieben worden (vgl. Sorlin 2012, 101). Die Vorstellung der Gemeinschaft ist aber auch performativ in dem Sinne, wie Homi K. Bhabha dieses Konzept von Anderson erweitert (vgl. Bhabha 1994). Sie ist mit den Sinnen erfahrenes Ereignis der Zeugenschaft. In ihrer visuellen Beschaffenheit als Inszenierung der Blicke auf den geschundenen toten Körper des Opfers folgt sie einer katholischen ikonografischen Tradition. Nimmt man beide großen Affektbilder des Films zusammen, dieses und Pinas tödlichen Lauf, der in dem Bild der Pietà endet, haben wir eine vollständige filmische Übertragung einer Karwochenprozession, in der ja die Blicke auf beide erhöhte Figuren gerichtet sind: auf Maria, die Jesus folgt, und auf den vor ihr getragenen Schmerzensmann (vgl. Görling 2002). Die Vorstellung einer Gemeinde, die sich um den toten Gott herum versammelt, ist christlichen Ursprungs. Sie scheint in dieser Szene des Films zweifellos durch. Der Anblick des geschundenen toten Körpers betrifft alle Anwesenden gleichermaßen. Zumindest für einen Augenblick scheint sogar die Differenz von Täter und Opfer in den Hintergrund zu treten. Der Augenblick währt nur kurz, jeder der Zeugen wird in seiner eigenen Weise auf das Geschehen reagieren. Doch schließt dieser Augenblick eben auch den Betrachter des Films ein. Auch er wird Zeuge, auch er wird in die Intimität einer Szene gezogen, in der sich die Differenzen zwischen den Rollen einen Augenblick verwischen, in der es keine singulären Perspektiven mehr gibt. Es entsteht so etwas wie eine Gemeinschaft der Zeugen. Es gibt eine Bindung durch das Geschehen, selbst für den Täter. Und weil es keinen Rahmen gibt, hinter dem die Zeugenschaft enden würde, gibt es auch eine Bindung des Zuschauers. Es sind wir, die den Film gesehen haben, die wie die Kinder der Schlusseinstellung auf die Stadt zugehen. Rom ist offene Stadt, weil sie verletzbar ist und weil sie in ihrer Verletzbarkeit auch offen für das Neue ist. Darin wird ROMA CITTÀ APERTA auch zu einer mythischen Gründungserzählung für eine neue Gemeinschaft, weniger für eine neue Nation Italien als für eine Gemeinschaft derer, die durch die Zeugenschaft verbunden sind. Mit der Thematisierung der Beziehung der Betrachter zum filmisch inszenierten Geschehen und der Vervielfältigung der Rahmungen des Bildes, bis sie den Zuschauer selbst einschließen, stellt Rossellini also eine doppelte und miteinander verschränkte Frage. Sie betrifft zum einen die Bedeutung, welche das Wissen um die Praxis der Folter für eine Gesellschaft besitzt. Sie betrifft zum anderen die Frage, welche Rolle der Film

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einnimmt, wenn er selbst Ereignis ist oder wird. Welche Beziehung besteht zwischen der Theatralität der Folter und der Theatralität des Films? Es geht weniger darum, dass sich der Film auf die Geschichte eines Priesters bezieht, der tatsächlich von den deutschen Besatzern hingerichtet worden ist, als darum, dass er einen Ausdruck für etwas schafft, das als ein potentielles Wissen, eine szenische Konstellation der Phantasie, ein sich wie im Traum stets wandelndes Bild dem Zuschauer bekannt ist. Die Vorstellung der Folterung ist ein von vielen Menschen geteiltes Phantasma. Ein dritter Mann, der zusammen mit Manfredi und Don Pietro unter dem Verdacht der Desertion verhaftet worden ist, begeht, nachdem die anderen beiden zum Verhör geholt worden sind, Selbstmord, um der erwarteten Folter zu entgehen. Wie er weiß auch die Gesellschaft um die Grausamkeiten, die das deutsche Militär verübt, wahrscheinlich haben sogar die meisten Mitglieder der Gesellschaft Bilder und Szenen darüber als rege und wirksame Phantasmen. Doch diese Bilder in einen Film zu transformieren, der als Ereignis von einer Gruppe von Menschen wahrgenommen wird, verändert den Status des Wissens. Es wird zu etwas, auf das sich ein Wir beziehen kann, zu einer Erfahrung, die man mit anderen teilt. So groß die Differenz zwischen dem Filmbild und der Inszenierung von Gewalt an Menschen, die ihr tatsächlich ausgeliefert sind, auch ist, so macht doch Rossellinis Filmsequenz deutlich, dass es einen Bereich der Ununterscheidbarkeit gibt, einen Bereich, in dem die Theatralität der Gewalt und die Theatralität der Fiktion nicht mehr trennbar sind, einen Bereich, in dem die Gewalt die Bilder der Fiktion inszeniert und die Fiktion ihre affektive Intensität aus dem Bezug auf die reale Gewalt gewinnt. Die Folterszene in ROMA CITTÀ APERTA lässt sich nun als Kreuzungspunkt in der Geschichte des Films eben deshalb verstehen, weil von dem Augenblick, in dem dieser Bereich der Ununterscheidbarkeit deutlich geworden ist, der Film selbst notwendig auch zugleich eine Antwort auf die von ihm gestellte ethische Frage gibt. Was geschieht mit der affektiven Ansprache? Wird sie eine eigene Qualität, deren Intensität einen inneren Raum der Zeugenschaft eröffnet, oder wird sie eingebunden in die Extension einer Narration und eines Diskurses? Das sind keine reinen Alternativen, Intension und Extension dürften in jeder ästhetischen Erfahrung verbunden sein. Und doch trennen sich mit diesem Film Rossellinis die Linien eines Kinos, das die Fragen, die Dimensionen des Szenischen und des Gestischen betont, und eines anderen Kinos, das auf die narrative und diskursive Einbet-

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tung setzt. Rossellini hat mit Bezug auf ROMA CITTÀ APERTA selbst einmal von einer „grande ambiguïté d'ordre esthétique“ gesprochen (Rossellini 1987, 16). Der Weg, diese Ambiguität zu überwinden, führte Rossellini zu einer Ästhetik, die sich eng an die Ethik bindet. Es geht in seinen späteren Filmen immer wieder um die Möglichkeit, wie diese ethische Erfahrung des Wir gegen den sozialen Druck ihrer Verleugnung behauptet werden kann. Von diesem Kreuzungspunkt des unmittelbaren Nachkriegsfilms aus entwickelte sich aber auch ein Kino, das die affektive Ansprache in die narrative und diskursive Kontextualisierung einbindet, welche die Konventionen der sich herausbildenden Genres bieten. Es wird mir im letzten Kapitel dieses Buches dann auch darum gehen, die Passage der Darstellung der Folter in Rossellinis Film mit der in einer aktuellen amerikanischen Produktion zu konfrontieren, nämlich der Eingangspassage in Kathryn Bigelows ZERO DARK THIRTY, einem Film, der bei der Uraufführung im Dezember 2012 heftige Diskussionen über die Legitimation der Folterung von Gefangenen durch den amerikanischen Geheimdienst und die Stellung des Films dazu ausgelöst hat. Hier soll es aber zunächst weiter um Rossellinis Filme gehen, vor allem um zwei, in denen ebenfalls eine Problematisierung der Folter stattfindet: ANGST und IL GENERALE DELLA ROVERE. Der erste, ein 1954 uraufgeführter Film, der sich auf eine gleichnamige Novelle von Stefan Zweig bezieht, thematisiert Folter wohl nicht direkt, es geht in ihm aber um die gezielte Ausübung psychologischen Drucks in einer experimentellen Anordnung. Der zweite, 1959 uraufgeführt, erzählt erneut eine Geschichte aus dem Widerstand gegen den Faschismus.

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Stefan Zweigs 1910 geschriebene Novelle ANGST gibt keine topografischen Bezeichnungen an, die Namensgebung der Währung und verschiedener gerichtlicher Institutionen lassen aber darauf schließen, dass die Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg in Wien spielt. Rossellini verlegt den Ort der Handlung in das München zu Beginn der 1950er Jahre. Die erste Einstellung des Films zeigt den Rathausturm bei Nacht, an dem die Kamera hinunterschwenkt auf den von Autos mit brennenden Scheinwerfern befahrenen Marienplatz. Es folgen Aufnahmen der Neuhauser/Kaufinger-Straße

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und später auch des Stachus und anderer Orte, die mit ihrer Leuchtreklame schon die wirtschaftliche Expansion und die neu entstehende Konsumgesellschaft ankündigen. Wir sehen Irene Wagner (Ingrid Bergman) in einem Mercedes Coupé, einem neuen silbernen Nachkriegsmodell, durch München fahren. Eine zweite wichtige Veränderung gegenüber der Novelle besteht darin, dass Irenes Ehemann nicht, wie in Zweigs Erzählung, Rechtsanwalt von Beruf ist. Professor Albert Wagner (Mathias Wiemann) ist Biochemiker und leitet das Forschungslabor einer pharmazeutischen Fabrik. Irene ist Geschäftsführerin und offensichtlich auch Eigentümerin dieses Unternehmens. Mit dieser Veränderung verlagert Rossellini die Strategien des Wissens und der Bemächtigung von der Justiz in die Wissenschaft, von der Psychologie in die Biopolitik, vom Verhör in das Experiment. Vor- und Nachspann des Films sind mit der Grafik eines Strudels unterlegt: Schneckenförmig erzeugen in der Mitte enger werdende Kreise die Vorstellung eines Soges. Alfred Hitchcock wird dieses Motiv im Vorspann zu VERTIGO, der 1958 uraufgeführt wurde, ebenfalls aufgreifen, nun aber mit einer animierten Grafik.2 Es gibt aber noch weitere filmische Elemente,

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Das Affektbild oder Ikon des Schwindels und des Falles, als Angst vor dem Fall und im dem Fall selbst, taucht auch schon in früheren Filmen Rossellinis auf. In EUROPA '51 besucht die Protagonistin Irène ein Kino. Am Kinoeingang plakatiert ist TOTÒ TERZO UOMO, eine italienische Komödie von Mario Mattòli mit Totò in einer dreifachen Hauptrolle. Vermutlich als Vorfilm wird eine Dokumentation über die Flutung eines Tales nach dem Bau einer Staumauer gezeigt: In einer langen Einstellung ist zu sehen, wie das Wasser im Wirbel in ein Rohr eindringt. Und wie bei VERTIGO ist die Vorstellung des Strudels mit der Angst vor dem Fallen verbunden. Nur sind es bei Rossellini vor allem Kinder, die fallen: In EUROPA '51 stürzt ein Kind die Treppe, in GERMANIA ANNO ZERO aus dem Fenster einer Ruine hinunter. Sie folgten „à l'appel du vide“, dem Ruf des Nichts, schreibt Jacques Rancière (Rancière 2001, 176). Ranciére versteht das Fallen bei Rossellini als „dramaturgie de l'appel, transférée du plan religieux au plan artistique“ (2001, 21) Das Nichts tue sich auf im Sprung zwischen dem einen und dem anderen Verhalten. Aber ist es nicht viel eher so, dass die Bewegung des Einzelnen in seiner Empfindsamkeit zum Fall wird, wenn die

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die es nahelegen, dass Hitchcock den Film Rossellinis kannte. Dazu gehören ausgedehnte Fahrten mit dem Auto durch die Straßen der Stadt, dazu gehört, dass jemand zum gezielten Opfer einer Vortäuschung wird, dazu gehört schließlich, dass beide Filme auch als Reflexion über das Medium und die Rolle des Zuschauers darin verstanden werden können. Irenes Mann engagiert eine Schauspielerin, Johanna Schultze alias Luisa Vidor (Renate Mannhardt). Unter der Vorgabe, die frühere Freundin ihres Geliebten zu sein, soll sie Irene verfolgen und erpressen. Für Albert ist es ein Experiment in der Herstellung von Angst. Nachdem er von einer außerehelichen Beziehung seiner Frau erfahren hat, möchte er erproben, wie weit er sie unter Druck setzen und ob er sie dazu bringen kann, ihm den Ehebruch zu beichten. Dieser Versuch einer Erpressung eines Geständnisses wird in einer kleinen Geschichte in der Geschichte verdoppelt. Hier überredet Albert unter Ausübung psychologischen Drucks seine Tochter zum Geständnis einer kleinen Missetat zulasten ihres älteren Bruders. Dabei kalkuliert er, dass er mit seiner Fragetechnik, die zwischen Empathie und Drohung hin und her wechselt, seinem Gegenüber jeden eigenen Raum zu nehmen. Er erläutert dem Kind die Motive für seine vermutete Tat nahe und erklärt sie als durchaus verständlich. Dadurch gewinnt das Gesetz, das eigentlich hintergangen werden sollte, eine Unfehlbarkeit, da es auch über das Bescheid weiß und auch das zu beherrschen scheint, was sich als Bruch des Gesetzes versteht. So besetzt das Gesetz (des Vaters, der Familie, Gottes) den Ort, den sich das Subjekt als möglichen eigenen Ort geschaffen hatte oder hätte schaffen können. Das Subjekt fällt aus seiner Welt. Es steckt ein Moment der Vorwegnahme in dieser Strategie des Verhörs, der Okkupation eines potentiellen Raumes der Möglichkeit. Während sich dieser Zusammenhang ähnlich auch in Zweigs Novelle findet, führt Rossellini aber durch die berufliche Tätigkeit von Albert ein ganz neues Element ein. In seinem pharmazeutischen Labor leitet er die Forschung über das Nervengift Curare und ein entsprechendes Gegengift. Beide Gifte werden an Tieren erprobt, indem zuerst das eine und an der Grenze des Todes das andere Pharmazeutikum verabreicht wird. Als Irene in das Labor kommt, um ihn zu fragen, warum er morgens das Haus verlassen habe, ohne sich von ihr zu

Gemeinschaft unbeweglich bleibt, wenn sie nicht ebenfalls in ein Werden übergeht?

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verabschieden, führt er ihr die Versuchsanordnung vor. In einer langen Szene sehen wir ein Messgerät, das unter anderem die Störung der Atmungstätigkeit, welche durch die muskellähmende Wirkung des Giftes auftritt, aufzeichnet. An der Schwelle des Todes wird das Gegengift in den Blutkreislauf eingeführt. „Und das Tier stirbt?“ fragt Irene. „Nicht immer“, lautet die trockene Antwort ihres Mannes. Als Irene schließlich erfährt, Opfer dieser mit Rache durchsetzten Inszenierung ihres Mannes geworden zu sein, beschließt sie, mit eben dieser Chemikalie Selbstmord zu begehen. Lange Einstellungen zeigen sie davor in den Räumen, in denen die Versuchstiere untergebracht sind. Irene betrachtet die Käfige, in einem Bild sehen wir sogar ihr Gesicht durch die Gitter eines Käfigs gerahmt. Sie sieht sich als Opfer derselben Macht, verfolgt, getrieben, aus den Beziehungen gerissen, in ein Außen gefallen, das eine Analogie zum inneren Außen der in den Käfigen gefangenen Tiere bildet.

Abbildung: Ingrid Bergman in ANGST von Roberto Rossellini

ANGST stellt also eine komplexe experimentelle Anordnung vor, in der Rossellini die biochemische Forschung, die Techniken der Ausübung von Macht und die Künste der Vorspiegelung miteinander in Bezug setzt. Gemeinsam ist diesen Beispielen der Wissenschaft, der Politik und der Kunst, dass sie den anderen zum Objekt von Handlungen machen, die unter Umgehung seines Willens auf seine inneren Vorgänge einwirken. Die Basis bildet dabei in jedem Fall ein implizites oder auch explizites Wissen über die Heterogenität des Subjekts und über die damit verbundene stete Austauschbeziehung mit seiner Umgebung. Experimentelle Anordnungen greifen in diese Austauschbeziehung ein, biochemisch, räumlich, szenisch. Mit

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der Verabreichung des tödlichen Pharmazeutikums wird der biochemische Prozess des Organismus bis an den Rand seines Zusammenbruchs und darüber hinaus beeinflusst. Die Ausübung von Macht wirkt über eine Besetzung des Raumes, der eine Selbstbezüglichkeit des Handelns ermöglichen könnte, und verkettet es mit anderen Zusammenhängen. Und die szenische Konstellation der Künste unterläuft die bestehende Positionierung des Subjekts, indem es in Zusammenhänge eingebunden wird, deren sinnliche und affektive Intensität keine Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt erlaubt. Irene wird von der Schauspielerin verfolgt. Der jeweilige Zeitpunkt ihres Auftretens ist, wenn auch von ihrem Mann genauestens geplant, für Irene gerade nicht vorhersehbar. Ihre Forderungen werden immer willkürlicher und sind kaum noch zu erfüllen. Und so sehr sich Irene auch vornimmt, ruhig und bestimmt zu handeln, im Augenblick des Auftauchens der Erpresserin lösen sich diese Vorsätze auf. In Stefan Zweigs Novelle heißt es einmal im inneren Monolog Irenes, dass sie von der Erpresserin gefoltert würde (Zweig 2013, Pos. 662), und später spricht sogar der Erzähler vom „gefolterten Leib“ des Opfers (Pos. 731). Aber auch hier nimmt Rossellini eine Verschiebung vor. Irene spricht ebenfalls von Folter, aber zu einem früheren Zeitpunkt. Im voice over während der nächtlichen Fahrt durch die Straßen Münchens bezeichnet Irene diese filmische Erzählung selbst als eine Art Geständnis oder Beichte (confessione), von dem sie hoffe, es möge sie von der Obsession befreien, die sie foltere. Doch diese Obsession ist nicht die Erpressung durch Johanna Schultze. Wenn diese Narration vor den Geschehnissen liegt, von denen wir im weiteren Film erfahren, dann ist die Obsession ein Ausdruck der Situation, dass sie ihren Ehemann betrügt, ihren Liebhaber aber auch nicht vor den Kopf stoßen kann. Anfänglich habe sie für die Beziehung zu ihrem Liebhaber eine Art Selbstrechtfertigung gehabt: Albert war in Gefangenschaft (prigionia) und musste sich danach einem langen Klinikaufenthalt zur Wiederherstellung seiner Gesundheit unterziehen. In einer Art Leere habe sie in diese Liebschaft eingewilligt. Nun aber möchte sie diese Beziehung lösen, kann dies aber auch ihrem Liebhaber gegenüber nicht offen äußern. Das Geständnis oder die Beichte, die der Film darstellt, wäre also ein Versuch, dieses doppelte Gebundensein durch die Darstellung gegenüber einem Dritten, also einer Zeugenschaft über die eigene Verwicklung, zu lösen. Sollte diese Narration aber als Einleitung für die gesamte Filmerzählung verstanden werden und der erzählten Geschichte damit zeitlich nach-

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geordnet sein, dann drückt sie eine Obsession aus, welche die Erfahrung, von ihrem Mann einem psychologischen Experiment der Geständniserpressung ausgesetzt worden zu sein, miteinschließt. Der Film lässt beide Möglichkeiten des Verstehens zu. Damit bringt er einerseits ein Oszillieren in die Bestimmung der Erzählperspektive des gesamten Films, worin er allerdings eine filmische Entsprechung des discours indirect libre findet, welcher sich schon bei Zweig im Übergang zum inneren Monolog finden lässt. Er eröffnet zugleich aber auch ein Oszillieren zwischen der selbstbestimmten Narration, die als Geständnis von Irene selbst angekündigt wird, und dem erzwungenen Geständnis, das über die fingierte Erpressung durch ihren Mann hergestellt wird. Der Film verbleibt in einer bemerkenswerten Unbestimmtheit zwischen diesen Möglichkeiten und stellt mithin die Frage nach der Differenz zwischen dem Zeugnisablegen als Bindung einer entgrenzenden oder unvereinbaren Erfahrung an ein Gemeinsames, ein Drittes, das Liebhaber und Ehemann einschließt, und der Gewalt des Zwangs zum Geständnis. Und wenn beides als Folter bezeichnet werden kann, die Obsession, die aus der Unmöglichkeit entsteht, sich widersprechende Bindungen zu vereinbaren, einerseits und die Gewalt der Geständniserpressung anderseits, dann verdeutlich es eine topologische Ähnlichkeit, die als Enteignung des Spielraumes des Subjekts beschrieben werden kann. Eine Stunde schon sei sie durch die Straßen gefahren, ziellos, ihren Liebhaber neben sich, sagt Irene aus dem Off zu Beginn des Films. 3 Folter entzieht dem Subjekt seinen eigenen Raum, indem sie das Opfer in eine Situation ebenso drängender wie unlösbarer Widersprüche bringt. Es verdeutlicht aber auch eine topologische Differenz zwischen dem erpressten Geständnis und dem von Irene angekündigten filmischen Geständnis: Während ersteres dem Subjekt den eignen Raum nur noch weiter nimmt, schafft das zweite, der Raum der Kunst, eine Ausdrucksform, in der Widersprüche koexistieren können.

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Auch in VERTIGO gibt es den Übergang von Diagramm der kreisenden Bewegung der Autofahrten in die Bewegung des Stützens: etwa wenn Madelaine am Fuße der Golden-Gate-Bridge in den Pazifik stürzt und natürlich die tödlichen Stürze von Turm der Mission. Doch ist der entscheidende Unterschied, dass wir bei Rossellini nicht dem Verfolger, sondern der Verfolgten folgen.

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Rossellini konfrontiert mithin hier zwei Diagramme des Lebens. Ein horizontales, das sich wie ein Pulsschlag schreibt, und eines, das in den Zwischenräumen ist, im leeren Raum, das vielleicht immer in Gefahr ist zu fallen. Es ist der Zwischenraum, der den Tod, das Verschwinden bedeuten kann, aber auch das Leben. In PAISÀ (1946) prägt dieses zweite Diagramm vor allem die erste und tief bewegende Episode zwischen dem sizilianischen Mädchen Carmela (Carmela Sazio) und dem amerikanischen Soldaten Joe (Robert van Loon), die nachts zusammen in einer Burgruine warten müssen, während die Kameraden Joes die Umgebung erkunden. In einem intensiven und zärtlichen Spiel der Kommunikation entsteht eine Nähe zwischen den beiden, ebenso unfassbar und fragil wie überwältigend. Als der Soldat von einem deutschen Scharfschützen getroffen wird, versucht Carmela zunächst, ihn vor den eindringenden Deutschen zu verstecken. Als er aber seiner Verletzung erliegt, ergreift sie in tiefer Trauer und Verbundenheit sein Gewehr, klettert eine Leiter nach oben, öffnet eine Falltüre und läuft, von einer ganz ähnlichen Energie erfüllt wie der, mit der sich Pina in ROMA CITTÀ APERTA in ihren Lauf stürzt, auf die Deutschen zu, das Gewehr einmal abfeuernd. Als die amerikanischen Soldaten, welche die Beiden zurückgelassen hatten, durch den Knall des Schusses alarmiert, zur Burg zurückkehren, finden sie ihren Kameraden tot am Fuße der Leiter liegend, während zur selben Zeit das Mädchen von den deutschen Soldaten am Rande der Klippe hingerichtet wird und die Felsen hinunterstürzt. Davon ahnen die Kameraden des Toten nichts, sie wähnen das Mädchen zunächst als Mörderin. Der Film zeigt in einer Einstellung drei der deutschen Soldaten in einer Frontalaufnahme, wie sie die Klippe hinuntersehen. Von einem anderen und ferneren Standpunkt sind danach nochmals drei Soldaten zu sehen, in amerikanischer Uniform. Die Kamera schwenkt schnell hinunter, folgt dem Fall der Blicke und dem Sturz des Mädchens nach, das regungslos auf den Felsen liegt. Können die Kameraden des Toten die wahre Geschichte erahnen? Wissen sie von der Zärtlichkeit und Nähe, die Carmela für ihren Kameraden empfunden hat? Oder brauchen wir Rossellinis Film, um die Grausamkeit zu korrigieren? Es war Rossellinis schärfste Kritik am cinéma verité und der Entwicklung des Kinos im Allgemeinen, dass es der Grausamkeit und dem Voyeurismus anheim falle und keine Zärtlichkeit mehr zu seinen Figuren aufbaue (vgl. Rossellini 1984, 80 f.).

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Albert erzählt nicht, er experimentiert. Das kann mit Einfühlung geschehen, indem er sich in die Situation seines Gegenübers versetzt, aber nicht mit Zärtlichkeit. Zärtlichkeit ist eine Berührung, die offen für die eigene Verletzbarkeit ist. Zärtlichkeit und Souveränität schließen sich aus. Albert maßt sich letztere zumindest dreifach an. Während er im biochemischen Labor die Macht der Entscheidung über Leben und Tod besitzt, nimmt er seiner Tochter gegenüber die Rolle des Ermittlers und des Richters ein. Hier wie auch im Experiment mit Irene steckt aber die eigentliche Anmaßung in der Idee des Geständnisses selbst: In ihm soll ein Subjekt die Verantwortung für ein Handeln übernehmen, obwohl ihm genau dies die Möglichkeit der eigenen Positionierung nähme und eine Fremdzuweisung des eigenen Ortes zur Folge hätte. Doch scheitert Albert mit dieser letzten Anmaßung. Irene gibt die Autonomie ihres Selbstbezuges nicht auf. Sie nennt gegenüber Albert als Grund für den Widerstand der Tochter, ihre kleine Missetat zu gestehen, die Scham, die gegenüber Menschen, die einem wichtig sind, am größten sei. Scham ist ein Affekt, der das Selbst vor der eigenen Verletzbarkeit zu schützen versucht. Scham ist deshalb auch sehr eng mit der Angst verbunden. Gegenüber Menschen, die einem wichtig sind, ist die Verletzbarkeit durch Entzug der Anerkennung stärker als gegenüber Dritten. Deshalb können Scham und Ehre auch in ganz gegensätzliche Richtungen gehen. Ehre ist ein Gefühl, das sich im Sozialen ereignet. Scham ist ein Affekt, der der Intimität eigen ist und in den Bereich der Empfindlichkeit gehört. Scham ist Ausdruck von Empfindlichkeit. Die Grazie, in der Ingrid Bergman Irene spielt, drückt Sensibilität aus, ja, man könnte sagen, dass Grazie mit dem Wissen um die eigene Verletzbarkeit verbunden ist und von daher von der Scham nur durch einen schmalen Spalt getrennt ist.4 ANGST ist keine psychologische Studie. Während in der Novelle von Stefan Zweig der Leser durch die für die Literatur vor dem Ersten Weltkrieg ungewöhnlich extensive Anwendung des inneren Monologs sehr viel über die Motive der Protagonistin und ihr Räsonnement erfährt, gibt es in Rossellinis Film trotz der Passagen, in denen Irene aus dem Off die Handlung erzählt, keine Suche nach Motiven und Motivationen. Der Film voll-

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Heinrich von Kleist hat in seinem Text “Über das Marionettentheater” diesen Umschlag zwischen Grazie und Scham modellhaft beschrieben.

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zieht die Entpersönlichung, die Alberts Handlungen verursachen, mit, aber der Film ist gerade nicht am Prozess der Entpersönlichung interessiert, sondern an dem, was Irenes Subjektivität jenseits der Entpersönlichung ist, an dem, was man vielleicht Affekt des Widerstandes nennen könnte. Es ist keine Handlungsoption, eher eine Leidensfähigkeit, eine Passivität, eine Empfindlichkeit, die nicht im Gegensatz zur Aktivität steht. Sie ist mit einer Dimension des Selbstbezuges verbunden, des Erleidens, nicht aber mit einer Positionierung des Subjekts im intersubjektiven Handlungsraum. Diesen hat Albert durch seine Inszenierung der Erpressung vollständig okkupiert, und zwar auch dann noch, als Irene dies zu durchschauen beginnt und auch von Johanna bestätigt bekommt. Wie im Verhör der kleinen Tochter wirkt die Inszenierung als ein double bind. Die Einfühlung des Vaters öffnet den Ort, an dem das Subjekt seine Handlung auf sich beziehen könnte, sie besetzt ihn aber zugleich durch das Urteil. Albert inszeniert kein Spiel, das Irene ihren eigenen Ehebruch vor Augen führen soll. Die damit verbundenen Ambivalenzen artikuliert Irene schon im ersten Dialog des Films, in dem sie sich von ihrem Liebhaber verabschiedet. Das Geständnis, das Albert erzwingen will, ist kein Selbstbezug, sondern käme einem Verlust des eigenen Raums gleich. Weil das, was man preisgeben soll, vom anderen schon besessen wird, geht es nicht um die Aussage des Geständnisses, sondern um den Ort, von dem aus das Subjekt spricht. Wenn dieser Ort als Sujet der Aussage schon vom anderen besessen wird, verliert der Sprechende durch das Geständnis auch den Ort, der ihm das Sujet des Aussagens gibt (vgl. Benveniste 1974). In der Szene der Folterung Manfredis ist das nicht grundsätzlich anders, nur dass hier der Entzug des subjektiven Raums durch die Inbesitznahme des Körpers des anderen erwirkt werden soll. Manfredi behält den mentalen Raum bis hin in den Tod. „Ich weiß, Du hast nicht gesprochen“, sind die letzten Worte des Pfarrers zum Sterbenden. Manfredis Widerstand ist passiv. Nur einmal, als Bergmann ihm anbietet, alle seine kommunistischen Freunde frei zu lassen, wenn er ihm die Namen der Führer des militärischen Widerstandes nenne, übernimmt er eine Handlungsposition. Sie bleibt wortlos, aber er spuckt Bergmann in das Gesicht, als sei dieses Angebot so bedrohlich, dass es nur in einer körperlichen Geste verworfen werden kann. Man kann dies, wie die gesamte Passage, als politisches Statement des Films für ein Bündnis zwischen Katholischer Kirche und Kommunistischer Partei verstehen. Dieser Gedanke war für den Wider-

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stand und die Entstehung der italienischen Republik nach Ende der deutschen Besatzung von großer Bedeutung, bevor 1947 die Führung der Kommunistischen Partei unter Palmiro Togliatti dem Druck Moskaus nachgab und einen Kurswechsel vollzog, den sie bis zur Situation des sogenannten Historischen Kompromisses zu Beginn der 1970er Jahre beibehielt. Die Geste ist aber auch dadurch motiviert, dass Manfredi in diesem Augenblick nicht mehr nur sich selbst, sondern eine Gemeinschaft verteidigt.

E INSTELLUNGEN

UND

E NTSTELLUNGEN

Filmisch entspricht dieser Passivität, dieser Leidenschaft und Entpersönlichung wohl keine andere Form des Ausdrucks so sehr wie die Großaufnahme. Gilles Deleuze entwickelt von ihr ausgehend seine Theorie des Affektbildes als Theorie eines bestimmten Bildtypus und zugleich als „Bestandteil aller Bilder“ (Deleuze 1989, 123). Als Bestandteil aller Bilder gehört das Affektbild zu dem, was Charles Sanders Peirce Erstheit genannt hat. Peirce schlägt mit seiner Differenzierung der Wahrnehmungszeichen in Erstheit, Zweitheit und Drittheit ein Modell der Schichtung oder Ansammlung vor. Die Ebenen lassen sich nie ganz voneinander isolieren, aber sie sind in je eigener Dynamik wirksam. Aus ihrem komplexen Zusammenspiel entstehen Wahrnehmungsintensitäten. Während die Drittheit auf der Ebene der Diskurse, Narrative und Habitus anzusetzen ist, die Zweitheit sich als eine Beziehung zwischen dem einen und dem anderen, zwischen Aktion und Reaktion, zwischen Macht und Widerstand realisiert, also als etwas, das nur in Relation zu einem anderen auftritt, bedeutet Erstheit eine Dimension der Potentialität, der unbestimmten Adressierung, der nicht bestimmten, nicht kontextualisierten Intensität. Deleuze bringt seinen Begriff des Affektbildes weitgehend mit Peirces Bild der Erstheit in Deckung (Deleuze 1989, 137). Als Bestandteil aller Bilder ist das Affektbild als das zu verstehen, was einen Ausdruck findet ohne selbst bestimmbar zu sein, oder, um es mit Bezug auf die Theorie der Geste bei Werner Hamacher und Giorgio Agamben zu sagen, das, was etwas mitteilt ohne selbst Mitteilung zu sein (vgl. Hamacher 1998; Agamben 1992). Erstheit ist eine Intensität und Qualität, die eine Farbe sein kann, die Stellung einer Hand, das Glit-

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zern eines Glases. Als Bildtypus kann die Großaufnahme Erstheit sein, weil sie das Ding, die Farbe, den Körper, das Gesicht nicht nur aus dem Kontext löst, in dem es steht, sondern auch unabhängig von seinem Gegenüber macht, von der Aktion, aus der es vielleicht entstanden ist, von der Konsequenz, auf die der Augenblick vielleicht zutreibt. Die Großaufnahme ist eine Ent-Stellung (Deleuze 1989, 150 f.). Im Affekt treffen Bewegungsimpuls und Empfindungsnerv zusammen, wie Deleuze mit Bezug auf Henri Bergson formuliert (123). Die Bewegung verliert ihren Spielraum und „ist Ausdrucksbewegung geworden“ (124). Deshalb ist der Affekt immer auch eine Selbstaffektion, die das Subjekt aus dem Zusammenhang herausnimmt, aus dem Handlungszusammenhang wie aus dem der sozialen Identität, der Person. Mit dem eben zitierten Wort Ent-Stellung haben Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann den Begriff der décadrage aus Deleuze’ Kinobüchern übersetzt. „Entstelle mich, entstelle mich bis zur Hässlichkeit“: Mit diesen Worten formuliert die Frau in der deutschen Synchronisation von Alain Resnais’ und Marguerite Duras’ Film HIROSHIMA MON AMOUR das Begehren der Frau gegenüber ihrem Liebhaber. „Déforme-moi jusqu’à la laideur“, heißt es im französischen Original (Duras 1960, 35). Spätestens hier, im Affektbild, sind der Film als Objekt der Kunst und der Film als Objekt der Wahrnehmung, sind der Aspekt der Produktion und der Rezeption nicht mehr voneinander zu isolieren. Insoweit etwas Erstheit ist, und in jedem Zeichen muss es eine Dimension der Erstheit geben, verhält sich die Erstheit als Potentialität im Kontext der Produktion ebenso wie im Kontext der Rezeption, ja dann verhält sie sich als Potentialität in der Geschichte ebenso wie in der Kunst. Rossellinis Filme tragen dem immer wieder Rechnung. So beginnt er sehr oft eine Filmsequenz mit einer Großaufnahme und gibt erst danach durch eine halbnahe Einstellung den Kontext preis. Diese von ihm auch in seinen Schriften hervorgehobene Technik5 wird aber in keinem seiner Filme mit einer solchen Faszination umgesetzt wie in denen, die er mit seiner damaligen Ehefrau Ingrid Bergman realisiert hat. Ihr Gesicht ist wie eine kaum weiter bestimmbare intensive Anwesenheit. Und auch in den sich anschließenden halbnahen Einstellun-

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„Je commence toujours par un gros plan puis le movement d'appareil qui accompagne l'acteur découvre l'ambiance. Il s'agit alors de ne pas quitter l'acteur et celui-ci effectue des trajets complexe.” (Rossellini 1984, 27)

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gen scheint Bergman in Rossellinis Filmen immer zugleich außerhalb der Szene zu stehen. Ihre Anwesenheit unterbricht den Handlungszusammenhang, macht den Film zu einem Medium der Geste, nicht der Aktion. André Bazin schrieb schon 1953 in einer Besprechung von EUROPA '51: „Rossellini lässt seine Darsteller nicht ‚spielen’, nicht dieses oder jedes Gefühl ausdrücken, er bringt sie lediglich dazu, vor der Kamera auf eine bestimmte Art zu ‚sein’. In einer solchen Mise-en-scène haben der jeweilige Platz der Figuren, ihre Art zu gehen, ihre Bewegungen innerhalb des Dekors, ihre Gesten weit mehr Bedeutung als die Gefühle, die sich auf ihren Gesichtern abzeichnen, ja als das, was sie sagen. Denn welche ‚Gefühle’ könnte Ingrid Bergman schon ‚ausdrücken’? Ihres ist ein Drama jenseits aller psychologischen Benennung. Ihr Gesicht ist nur die Spur einer bestimmten Art von Leiden.“ (Bazin 2004, 404 f.)

Die Geste ist ein Nullpunkt der Handlung, eine Potentialität, aus der gar keine Aktion folgen muss, die aber immer einen Selbstbezug des Subjekts im Affekt ausdrückt. Sie ist der Augenblick der Passivität als Passion, ein Augenblick zwischen An- und Abwesenheit der Person. In gewisser Hinsicht kann man in ihr eine mentale Entsprechung des Augenblicks zwischen Leben und Tod sehen, den Albert und seine Kollegen mit der Verabreichung von Gift und Gegengift, also der kalkulierten Manipulation des inneren Stoffwechsels der Tiere herstellen. Schon in der langen Folterszene in ROMA CITTÀ APERTA gibt es eine solche Gegenüberstellung zwischen biologischer und mentaler Beherrschung des anderen. Wie die Tiere mit dem Gegengift im Versuchslabor wird der unter der Misshandlung bewusstlos gewordene Manfredi mit einem gespritzten Pharmazeutikum wieder zu Bewusstsein gebracht. Diese Beherrschung der Zone zwischen Leben und Tod des Körpers wird aber begrenzt durch die Geste des Erleidens, die selbst noch in der Folter einen subjektiven Raum markiert. Sie wird möglicherweise durch die Distanz zum eigenen Körper erkauft. Als sich einer der Folterer mit seiner Zange an den Fingernägeln von Manfredis rechter Hand zu schaffen macht, scheint dieser wie interessiert an diesem Geschehen zuzusehen – während im Betrachter des Films der Wunsch entsteht, den Blick abzuwenden. Während im biologischen Experiment dieser Augenblick durch die Wissenschaftler beherrschbar wird, bleibt die Geste ein Augenblick der mentalen Unbestimmtheit und Unkontrollierbarkeit. Sie ist Widerstand – vielleicht mehr als jede Handlung. Sie ist aber vielleicht auch Augenblick

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der Erleuchtung und Augenblick einer Relationalität, eines In-Beziehungmit-anderen-Seins, in dem das Subjekt nicht als Ich positioniert, sondern Teil eines offenen Wir, eines Werdens ist. Insoweit ist aber auch der Zuschauer des Films in die Intensität der Großaufnahme einbezogen. Insoweit das Gesicht Ansprache ist, ohne dass es noch mit einer Person, einer Rolle oder einem Handlungszusammenhang in Bezug gebracht werden kann, nimmt es auch dem Betrachter die sichere Position und zieht ihn in ein Wir. Es erscheint dem Ich gegenüber vorgängig und unterläuft ein perspektivierendes Blickregime. Nur zeigt sich in ANGST wie auch in den anderen Filmen Rossellinis in diesem Moment eine tiefe Ambivalenz: Wie ist hier, im Augenblick der Nahaufnahme, in der es keine Positionierungen mehr gibt, noch unterscheidbar, welche Kraft auf diese Entpersönlichung zutreibt: die Kraft der Verfolgung, der Erpressung, oder die Kraft des Widerstandes und der Gemeinschaft? Gibt es einen Augenblick, an dem das nicht mehr differenziert werden kann? Und was folgt für das Kino daraus, wenn es eine solche Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Ansprache und Verfolgung gibt? In ANGST wird dies an der Folge der Großaufnahmen von Johannas Gesicht gezeigt, als sie sich im Lokal mit Irene trifft. Als Irene ihr eröffnet, ihre wahre Identität zu kennen und sie wegen Erpressung bei der Polizei anklagen zu wollen, lösen sich die Züge ihres Gesichts. Aus einer Verfolgenden wird eine Verfolgte und einen Augenblick lang scheinen sich die Gesichter von Johanna und Irene fast zu spiegeln oder gar zu überlagern. In GERMANIA, ANNO ZERO, Rossellinis erstem Film über Deutschland, den er 1947 in Berlin gedreht hat, ist ein solcher Augenblick der Unentscheidbarkeit im historischen ebenso wie im individuellen Sinne zum zentralen Thema geworden. Auch der Selbstmord des Jungen Edmund Koehler (Edmund Moeschke) geschieht in einer Überwältigung durch die Scham. Vor seinem Sturz aus dem Fenster einer Hausruine wird sich Edmund verzweifelt gewahr, dass er in seinen Handlungen nicht zwischen einem Sozialen, das intersubjektive Begegnung, und einem Sozialen, das Enteignung, Verfolgung und Mord ist, hat unterscheiden können. Wenn Edmund zuvor seinem kranken Vater Gift gegeben hat, denkt er, im Sinne einer Gemeinschaft zu handeln, die nur existieren könne, wenn sie sich für die Stärkeren entscheide. Was ist sieben Jahre später aus dieser Scham Edmunds, der als einzige Person des gesamten Films das Geschehene und den eigenen Anteil daran auf sich beziehen kann, was ist daraus im Deutschland des angehenden „Wirtschaftswunders“ geworden? Rossellinis Antwort auf diese Frage

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ist nicht weniger genau und auch nicht weniger erschrocken als in GERMANIA, ANNO ZERO. In den Handlungen Alberts schreibt sich eine Tradition des Experiments am Leben fort, wie es in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des Nationalsozialismus betrieben worden war. Die Versuchsobjekte der biochemischen Experimente sind in ANGST wohl zunächst nur Tiere, die spätere Anwendung am Menschen wird jedoch in den Gesprächen der Wissenschaftler selbst erwähnt. Und das biologische Experiment am Menschen ist zu einem psychologischen Experiment geworden, in dem für den Wissenschaftler Einfühlung in den anderen und seine gezielte psychische Verletzung keinen Widerspruch bilden. Der Rhythmus des Films wird sehr stark von der fließenden Bewegung der Autofahrten durch die Stadt bestimmt. Sie erscheinen zunächst so leicht, bekommen aber mit jeder Wiederkehr etwas Unheimlicheres. Und spätestens dann, wenn es deutlich wird, dass Albert die ganze Erpressung inszeniert, stellt sich auch die Unsicherheit ein, ob wir nicht Irene gerade in diesen Fahrten aus seiner Perspektive verfolgen. Hitchcock hat diesen Aspekt in VERTIGO aufgegriffen und weiter ausgearbeitet. In ANGST verändert sich aber auch die Umgebung, durch die Irenes Auto fährt. Zu Beginn ist sie bestimmt durch die Lichter der Leuchtreklame und der Automobile. Sie gleiten wie ferngesteuert dahin, geleitet von den automatisierten, von Ferne an einen Dirigenten erinnernden Gesten eines den Verkehr regelnden Polizisten auf seiner Kanzel in der Mitte des Stachus. Als Albert, eine Sonnenbrille tragend, mit seinem VW-Käfer durch ein Wohngebiet fährt, um sich mit Johanna zu treffen und die nächsten Schritte mit ihr zu besprechen, sind die Straßen sauber und die Grundstücke sorgsam eingezäunt. Es ist dies der Augenblick, in dem der Zuschauer des Films den Zusammenhang zu durchschauen beginnt. Irenes Fahrten finden jedoch meist nachts statt, zunehmend im Regen, und zunehmend auch nicht mehr in der Innenstadt mit ihren Lichtern, sondern in Gebieten, die von den monotonen Fassaden der Mietshäuser bestimmt und in denen die Lücken noch sichtbar sind, die der Bombenkrieg im Weichbild der Stadt hinterlassen hat. Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich, wenn Irene mit ihrem Mann in der Loge der pompösen Oper einem Klavierkonzert lauscht und sich plötzlich mit der Anwesenheit ihrer Erpresserin konfrontiert sieht. Es gibt in dieser Topografie nur einen Ort, der etwas anders zu funktionieren scheint: das Kabarett „die kleinen fische“, in dem sich Irene mit Johanna Schultze verabredet, nachdem sie herausbekommen hat, dass diese gar nicht die frühere Freundin ihres Lieb-

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habers ist. Als Irene das Lokal betritt, zeigt das Bild kurz Klaus Kinski bei einem Auftritt als Transvestit. Und während die beiden Frauen miteinander sprechen und Johanna offenbart, dass sie von Irenes Mann engagiert worden ist, wird noch auf eine weitere Vorführung von drei auffällig gekleideten, tanzenden Schauspielern auf der Bühne geschnitten. Der Ort der Kunst und der Transvestie ist auch Ort der Wahrheit, nicht, weil die Wahrheit hier ans Licht gezerrt würde, sondern weil die Kunst die Willkürlichkeit der Verbindung von Wort und Sache erfahrbar macht und das Ikonische und Gestische ins Spiel bringt. In der Kunst des Schauspiels geht es wie in der Kunst des Kinos um kleine Inszenierungen, um kleine Fische, die ins Netz gehen und wieder durch seine Maschen schlüpfen, die großen Inszenierungen, denen man viel schwieriger entkommt, sind die der Macht, der Politik, der Wissenschaft. Doch sind eben auch sie durchschaubar. Hinter Irene zeigt ein Fenster auf die nächtliche Straße und auf Albert, der das Gespräch von dort aus immer unruhiger werdend beobachtet. Die Rollen beginnen sich zu verkehren, Irene bleibt die Position der Regisseurin zwar fremd, aber Albert verliert die Kontrolle über das Spiel, das er initiiert hat. Wenn er zuvor Regisseur einer Inszenierung war, die er beobachten konnte, so ist er plötzlich selbst mit den Folgen seines Handelns konfrontiert. Was heißt das für den Film, für die Rolle des Regisseurs und die Rolle des Zuschauers in seiner experimentellen Anordnung? Wird er aus diesem Augenblick der Unbestimmtheit lernen? Gibt es einen Ort jenseits der Inszenierung?

E UROPA '51 (B EDINGUNGSLOSIGKEIT ) Es gibt zwei Fassungen des Endes von ANGST. In beiden kommt Albert früh genug in das Labor, um Irene noch vom Suizid abzuhalten. In der deutschen Originalversion des Films bittet Albert Irene um Verzeihung, was sie zu gewähren scheint. Die Schlussszene zeigt eine Umarmung der beiden, die einzige Einstellung des Films übrigens, in der es zu einer körperlichen Berührung und Nähe der Eheleute kommt. Dieser Schluss bleibt noch an der Erzählung von Zweig orientiert, obwohl bei Zweig der Suizidversuch ganz anders motiviert ist, denn hier erfährt Irene erst in diesem Augenblick, dass sie Opfer einer Inszenierung ihres Mannes geworden ist. In einer einige Jahre später erstellten, um 8 Minuten kürzeren, nur noch 75

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Minuten dauernden italienischen Version des Films wird diese Versöhnungskraft der Liebe zwischen Frau und Mann nicht mehr bemüht. Sie ist vielleicht doch zu sehr eine patriarchale Inszenierung. Von solcher ist allerdings auch die spätere Version nicht frei. Hier beschließt Irene, die Geschäftsführung der Firma abzugeben, um sich mehr um ihre Kinder kümmern zu können, die auf einem Landgut in der Obhut einer Gouvernante untergebracht sind, die schon für Irene gesorgt hatte. „Finsterwald“ ist der Name dieser ländlichen Idylle. Keiner der beiden Schlüsse ist zwingend. Gemeinsam ist ihnen aber die Suche nach einem Ausdruck für etwas, das vielleicht Unbedingtheit genannt werden kann: ein Selbstbezug, der nicht durch einen Dritten situiert und zugleich offen für den anderen ist. Bedingungslosigkeit ist keine Ortlosigkeit, sondern eher so etwas wie eine Loslösung vom Gebot der Identität, der Positionierung in einem intersubjektiven oder sozialen Raum. Es gibt eine mystische Dimension darin, die kaum in den Strukturen der bürgerlichen Familie ausdrückbar ist.

Abbildung: Ingrid Bergman in EUROPA ’51 von Roberto Rossellini

In dem drei Jahre zuvor von Rossellini zusammen mit Ingrid Bergman realisierten Film EUROPA '51 befindet sich die weibliche Hauptfigur in einer in mehrerer Hinsicht vergleichbaren Situation. In einer gewissen Sorglosigkeit übergeht Irène Gerard (Ingrid Bergman) die Bitte ihres vielleicht zehnjährigen Sohnes Michel (Sandro Franchina) um ein Gespräch. Sie und ihr Mann George (Alexander Knox), ein amerikanischer Geschäftsmann, haben an diesem Abend Gäste, welche sie in vollendeter Beherrschung der sozialen Konventionen versorgt und unterhält. Noch einmal bittet Michel sie zu kommen und etwas an seinem Bett zu bleiben, was Irène aber mit

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einer schon aggressiv zu nennenden Geste abwehrt. Bald darauf wird das gesellschaftliche Beisammensein jäh durch die Nachricht der Bediensteten unterbrochen, dass der Sohn das hohe, sich spiralförmig windende Treppenhaus hinuntergestürzt sei. Er hat es willentlich getan, wie sich bald zeigt. Zunächst wie durch ein Wunder den Fall scheinbar überlebend, stirbt er einige Tage später an einer Embolie als Folge seiner Verletzungen und der Operation. Irène fällt in einen Zustand tiefer Trauer. Andrea Casati (Ettore Giannini), ein kommunistischer Intellektueller und Cousin von Irène, verweist wohl im Gespräch darauf, dass nicht sie, sondern eine Zeit die Schuld trage, in der die ersten Erfahrungen eines Kindes in der Angst, der Bombardierung und des Krieges bestünden. Tatsächlich erinnerte Irène an Michels Krankenbett an die Nächte, als er während der Bombenangriffe zu ihr ins Bett kam. Doch Irène sucht keine Entlastung von der Schuld, vielmehr möchte sie dem begegnen, was sie nicht rechtzeitig sah und was ihren Sohn das Treppenhaus hinunterstürzen ließ. Sie lässt sich von Andrea mit der Straßenbahn in einen Arbeitervorort bringen, wo er sie mit einer Familie bekannt macht, die zu arm ist, die Medikamente für die medizinische Behandlung eines ihrer Kinder zu zahlen. Nach einem Besuch nach der Heilung des Kindes hilft sie einem Mädchen, ihre kleinen Geschwister nach Hause zu bringen und hilft fortan der alleinstehenden Mutter bei der Versorgung der Kinder. Einmal geht sie sogar für sie zur Arbeit in die Fabrik, um zu vermeiden, dass sie wegen einer Reise zu einem potentiellen Liebhaber ihre gerade erst vermittelte Arbeitsstelle verliert. Schließlich pflegt sie eine an Tuberkulose erkrankte Prostituierte bis zu ihrem Tod und verhilft noch einem Nachbarsjungen zur Flucht vor der Polizei, die ihn wegen eines bewaffneten Überfalls verfolgt. Ihr Mann George betreibt daraufhin ihre Einweisung in eine Psychiatrie. Bei den Untersuchungen, die Erkenntnisse über den Geisteszustand Irènes erbringen sollen, wird auch hier Elektroenzephalograph eingesetzt. Als am Ende Irènes unbefristete Einweisung beschlossen worden ist, stehen die Familien und Nachbarn derer, denen sie geholfen hat, vor dem Tor der Anstalt und nennen sie ehrfurchtsvoll eine Heilige. Heiligkeit ist eine Zuschreibung von anderen für jemanden, der eine besondere Empfänglichkeit besitzt, eine besondere Passion. Irène selbst sieht sich wohl kaum so. Wie bei der Heiligen Johanna in Paul Claudels dramatischem Oratorium JEANNE D’ARC AU BÛCHER, welches Rossellini mit Bergman in der Hauptrolle an mehreren Theatern inszenierte und 1954

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auch zu einem Film verarbeitete, gibt es keine Selbstzuschreibung der Heiligkeit. Es sind die anderen, die mit Unverstand und Staunen vor der besonderen Sensibilität und Leidensfähigkeit eines Menschen stehen. In EUROPA '51 wird dies nicht nur durch die Familienmitglieder, Ärzte, Richter und Nachbarn ausgedrückt, denen Irène als eine Fremde gegenübersteht, sondern auch durch die Blicke der anderen Frauen in der psychiatrischen Anstalt. Seltsam eindringlich und zugleich entrückt schauen sie in einigen hervorgehobenen Einstellungen auf die neu eingewiesene Insassin bzw. über das Objektiv der Kamera direkt auf den Filmbetrachter.

Abbildung: EUROPA ’51 von Roberto Rossellini

Rossellini hat selbst darauf verwiesen, dass die Schriften und die Biografie von Simone Weil ihn bei der Ausarbeitung des Films angeregt haben (vgl. Rossellini 1992, 119). Weil war 1943 im englischen Exil gestorben, ihr Fabriktagebuch „La condition ouvrière“ war 1937, eine Sammlung ihrer Aphorsimen 1947 unter dem Titel „La Pesanteur et la Grâce“ in Paris erschienen. Zu beiden Werken finden sich in EUROPA '51 deutliche Bezüge. „Wer einen Augenblick lang die Leere erträgt,“ schreibt Weil in „La Pesanteur et la Grâce“, „der empfängt entweder das übernatürliche Brot, oder er fällt. Entsetzliche Gefahr. Doch muss man sie auf sich nehmen. Und einen Augenblick lang sogar ohne Hoffnung. Doch soll man sich nicht in sie hineinstürzen.“ (Weil 1989, 22 f.) Jacques Rancière nennt in einem längeren Text Irène eine feminisierte Version von Franz von Assisi (Rancière 2003, 124). Rossellini hatte FRANSCESCO, GUILLARE DE DIO ein Jahr vor EUROPA '51 mit Laiendarstellern eines Franziskanerklosters realisiert. Hier fallen Franziskus und seine Glaubensbrüder wörtlich immer wieder zu Boden, biswei-

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len wie Kinder taumelnd. Doch während Franziskus fallen kann, weil er am Boden von Gott gehalten wird, hat Irène nichts als das Wissen um den Sog. Sie ist reine Empfänglichkeit: grâce, Anmut ebenso wie Gnade. „Die Schöpfung besteht aus der Abwärtsbewegung der Schwerkraft, der Aufwärtsbewegung der Gnade und der Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz.“ (Weil 1989, 13) Die Schlusspassage aus EUROPA' 51 stellt eine ähnliche Frage wie ROMA CITTÀ APERTA: Es gibt kein Außen des Geschehens, es betrifft uns alle, ja, die Anwesenheit Irènes betrifft uns. Doch stellt hier Rossellini die Frage nicht über ein In- und Auseinanderfalten von Rahmungen, sondern durch ihre Multiplizierung. Wenn Irène vor der Apparatur des Psychiaters sitzt, wird ihr nicht die eigene Verletzbarkeit und Ohnmacht vorgeführt, wie es gegenüber Manfredi in der Folter versucht wird. Gleichwohl besteht das Ziel darin, über eine experimentelle Anordnung von der Person etwas zu erfahren, das diese nicht bereit oder fähig ist, mitzuteilen. Eine Lampe beleuchtet Irène wie ein Scheinwerfer eines Filmstudios, die an ihrem Kopf angebrachten Messgeräte übertragen Linien und Kurven auf ein Blatt, doch was es ist, das sie bewegt, wird dadurch nicht sichtbar. Auch wir, die Zuschauer, wollen etwas wissen. Die Apparatur des Films, die den Schauspieler einem Test aussetzt, wie es Walter Benjamin formulierte (vgl. Benjamin 1989, 364), steht irgendwo zwischen der Apparatur des Psychiaters und dem Blick derer, die in und vor der Anstalt auf Irène schauen. Und wir wissen, dass wir nicht sehen, was sie sieht. Aber es ist auch nichts, was sich einfach sehen ließe. Es ist eine Bewegung, die nicht von einem Bestimmbaren ausgeht, sondern von der Offenheit gegenüber dem anderen: gegenüber dem anderen Menschen, gegenüber dem Leben, gegenüber den Dingen. Es ist eine Offenheit gegenüber dem Affekt, es ist eine affektive Bewegung, die am Grunde des Sozialen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft steht. Sie betrifft jeden. Während sich der Ehemann, die Mutter, die Richter und die Psychologen auf dem Feldweg von der Anstalt entfernen, ohne sich umzusehen, gehen die Familien und Nachbarn mit ihren Kindern auf die Anstalt zu und rufen die Heilige. Hinter den Gittern des Fensters steht Irène, sie führt ihre Hände an ihren Mund, also wolle sie den Rufenden einen Handkuss zuwerfen, und hält mitten in der Bewegung inne. Sie weiß, dass diese Rollenzuschreibung eine Anmaßung wäre. Es gibt auch eine Einsamkeit am Grunde des Sozialen, wie ein Nabel des Sozialen vielleicht.

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„L'Église vous tend le bras ... si vous le refusez, l'Église vous abandonnera et vous resterez seule … seule! Oui, seule … seule avec Dieu!“ (0:39:00-0:39:22) Dieser Dialog entstammt Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC, 1928 in Paris uraufgeführt. Deleuze nennt ihn den „affektiven Film par excellence“ (Deleuze 1989, 148) Auch Dreyers Jeanne (Maria Falconetti) wird zur Heldin und Heiligen wider Willen. Sie ist keine Erleuchtete, sie sieht sich nicht als Auserwählte. Deshalb treffen sie auch die Anschuldigungen nicht. In der Einsamkeit gibt es keine Gewissheit. Von der ersten Einstellung an hält sich Dreyers Film in einer Schwebe der Unentschiedenheit. Der Klerus möchte Jeanne dazu bringen, abzuschwören und die Behauptung zu widerrufen, dass der Heilige Michael zu ihr gesprochen habe. Die Künste der Überredung, die Wechsel von Einfühlung und Drohung werden auch von ihnen bemüht. Einige scheinen sie retten, andere aber in eine ausweglose Lage bringen zu wollen. Man möchte von ihr wissen, wer zu ihr gesprochen hat, doch alle gehen davon aus, dass es niemand anderes als der Teufel gewesen sein kann. So bleibt ihr nur die Chance des Widerrufes, will sie überleben. Jeanne wird die Folter angedroht, sie wird in den Raum geführt, in dem die Folterwerkzeuge stehen. Auch er ist wie eine Bühne, der Klerus sitzt auf Bänken, bereit, dem Schauspiel zuzusehen. Angesichts der Instrumente fällt Jeanne in Ohnmacht. Sie widerruft und widerruft die Widerrufung. Ihre Hinrichtung durch Verbrennung führt zu einem Aufstand des Volkes, das zum Schafott gekommen ist. Diese Einsamkeit ist Affekt, bevor sie Nabel des Sozialen wird. Affekt eines Selbstbezuges, der Jeanne aus allen Bindungen herausgenommen hat. Dreyer benutzt dabei die Großaufnahme viel radikaler als Rossellini. Immer wieder holt er die décadrage schon in die Einstellung der Kamera selbst, schneidet das Gesicht Jeanne an der Seite oder auch in der Höhe ab. Er entzieht dem Bild damit noch weiter die Funktion der Repräsentation. Und auch bei Dreyer geschieht dies schon unter den Blicken der Zusehenden, der Zeugen, der Täter, der Beistehenden. Auch hier gibt es keine Grenze der Betroffenheit, kein Außen der Folter. Aber im Gegensatz zu Rossellini konzentriert sich das Zulassen der Empfindsamkeit auf Jeanne selbst und vielleicht auch noch auf Jean Massieu (Antonin Artaud) und einige wenige andere. Allen anderen sind die verschiedenen Formen der Ablehnung, Verleugnung und Ausstoßung in das Gesicht geschrieben.

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IL

GENERALE

D ELLA R OVERE

Eine ganz andere und doch am Ende gar nicht so ferne Rollenzuschreibung steht im Zentrum von IL GENERALE DELLA ROVERE, 1959 gedreht. Die Hauptfigur Vittorio Emanuele Bardoni alias Oberst Grimaldi (Vittorio de Sica) lebt im besetzten Genua als kleiner Betrüger, Spieler und Kollaborateur. Müttern und Ehefrauen von politischen Gefangenen spielt er vor, ihren Söhnen und Männern helfen zu können, indem er ihnen Lebensmittel zukommen lasse oder Bestechungsgelder vermittele. Die Gaben finden den Weg zum erhofften Empfänger nicht, und selbst wenn Bardoni weiß, dass die Gefangenen schon längst hingerichtet oder deportiert sind, lässt er sich weiter die Naturalien schicken. Als dies endlich auffliegt, verteidigt er sich damit, es sei doch für die Betrogenen viel humaner gewesen, sie in der Hoffnung zu lassen, dass ihre Liebsten noch am Leben seien und sie für sie sorgen könnten. Es ist schwer zu entscheiden, wie weit er von diesem Rechtfertigungsargument selbst überzeugt ist. Bardoni ist kein Lügner, er ist ein bravouröser Schauspieler des Alltags. Und Oberststurmbannführer Müller (Hannes Messemer), der dies vom ersten Augenblick der Begegnung der beiden an amüsiert beobachtet, kommt auf die Idee, die Schauspielkünste Bardonis zu seinem Nutzen einsetzen zu können. Da seine Leute einen Führer des Widerstandes bei einer Straßenkontrolle auf der Flucht erschossen haben, den Müller eigentlich hatte beschatten und als Lockvogel benutzen wollen, entschließt er sich, den Tod zu verheimlichen und Bardoni als eben diesen General Della Rovere in das Mailänder Gefängnis San Vittore zu bringen. Etwas zögerlich lässt sich Bardoni darauf ein, den Spitzel zu spielen. Schließlich droht ihm sonst die Deportation. Er verrät Müller, dass Aristide Banchelli (Vittorio Caprioli), ein Mitinsasse, der ihm unter anderem in der Funktion des Friseurs das Leben im Gefängnis erleichtert, als Kurier zwischen den Gefangenen tätig ist. Ihm muss auch die Identität von Fabrizio (Giuseppe Rosetti), eines anderen Führers des Widerstandes, bekannt sein, der mit einer ganzen Gruppe zusammen verhaftet worden ist. Bardoni soll ihm einen Kassiber für Fabrizio zustecken. Das macht er aber so ungeschickt, dass es von der Wache beobachtet wird. Müller versucht daraufhin, Banchelli durch Folter zur Preisgabe der Identität von Fabrizio zu zwingen. Schwer misshandelt wird Banchelli in Bardonis Zelle gebracht. Er hat sein Wissen nicht preisgegeben. Am nächsten Morgen muss Bardoni feststellen, dass sich Banchelli durch Öffnung der Puls-

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adern selbst das Leben genommen hat, während er schlafend neben ihm auf der Pritsche saß. Müller lässt daraufhin auch Bardoni foltern, weniger, weil er annimmt, Bardoni sei die Identität des anderen Führers bekannt, als dass er damit dessen falsche Identität wahren will. Doch spätestens jetzt hat Bardoni die Rolle des Generals Della Rovere für sich angenommen. Er verweigert fortan gegenüber Müller die geforderten Auskünfte. Am Ende lässt er sich mit einer Gruppe von zehn anderen Gefangenen, die zur Vergeltung für ein Attentat ermordet werden, hinrichten, durchaus gegen den Plan und Willen Müllers und nicht ohne noch eine patriotische Rede über Heldentum und Freiheit vor seinen Mitopfern zu halten. In einem Interview, das Rossellini 1966 den „Cahiers du cinéma“ gegeben hat, bejaht er die Frage, ob der wenig noble Della Rovere damit zum Helden geworden sei. „Et c’est possible puisqu’il a un grain de folie, bienvenue, qui l’y pousse.“ (Rossellini 1984, 88) Der Wahn des Schauspielers ist das Spiel selbst. Er kann oder will nicht jenseits der theatralen Inszenierung existieren. Übersieht man diesen Zusammenhang, scheint es möglich, eine ganz andere diskursive Linie in den Film einzuweben, so wie es in vielen Besprechungen des Films nach seiner Uraufführung und auch später noch geschehen ist. So spricht etwa Alfred Andersch in seiner Rezension des Films 1960 von der „Gewissensforschung eines Hochstaplers“. In dieser Lesart wird dann die Erfahrung der Folterung des Mitgefangenen und seiner eigenen Misshandlung zu einer Art Läuterung stilisiert. Der Film, so Andersch, führe das „Erwachen der Katharsis, der personalen Würde, der Menschlichkeit in einem niedrigen, einem verwerflichen Subjekt sondergleichen“ vor (Andersch 1960, 284). Die Kontinuität nationalsozialistischer Sprache und auch eines Denkens, das sich die Souveränität anmaßt, soziale Urteile der Erniedrigung und der Ausgrenzung zu fällen, ist erschreckend. Immerhin war Andersch Gründungsmitglied der Gruppe 47 und hat sich selbst, mit Bezug auf seine Desertion, gern als Widerständler dargestellt. Vermutlich waren es auch durch diese und ähnliche Besprechungen hervorgerufene Zweifel daran, genügend gegen die Möglichkeit solcher Interpretation getan zu haben, welche Rossellini dazu bewogen haben, 1971 in einem Tischgespräch mit Pio Baldelli einzugestehen, dass IL GENERALE DELLA ROVERE einer der beiden Filme sei, für die er sich etwas schäme (vgl. Rossellini 1984, 124). Ganz anders als in ROMA CITTÀ APERTA wird in diesem Film die Folterung selbst mit keinem Bild gezeigt. Sie bleibt bildlich ausgespart, gezeigt wird nur, wie die Opfer aus der Zelle geführt und

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wie sie mit blutigem Gesicht und unter Schmerzen von zwei Wärtern an den Schultern getragen wieder in die Zelle geschleppt werden. Bardoni alias Della Rovere erfährt keine Katharsis, es gibt in diesem Film auch nicht jenen Punkt des Umschlags, wie er etwa in EUROPA '51 gezeigt wird. Und auch wenn Bardoni viele Strecken des Films alleine im Bild ist, die Kamera nähert sich nur bis auf halbnahe Distanz. Es gibt aber Augenblicke der Unbestimmtheit, in denen Bardoni zwischen den Rollen in einem leeren Raum zu schweben scheint. Und das sind die stärksten Augenblicke des Films. Wenn er am Ende freiwillig in den Tod geht, dann, weil er die Freiheit nicht aufgeben möchte oder kann, die ihm das Schauspiel gewährt. Noch 1987 schreibt Rudolf Thome, der Film sei die „Reise einer Seele bis zu dem Punkt, an dem sie ihr Ende findet. Das ist nicht der Tod [...] sondern jener Mittelpunkt im Menschen, der seine Person im letzten und tiefsten Grund ausmacht, der harte Kern, der durch nichts zu erschüttern ist: das, was einer meint, wenn er wirklich ‚ich’ sagt.“ (Thome 1987, 193) Es gibt nichts in Rossellinis Film, womit sich so eine Behauptung stützen ließe. Die letzte Rolle, die Bardoni einnimmt, ist nicht näher an einem vermeintlichen Kern des Ichs als die erste, in der wir ihn im Spiel der Unterhaltungen mit Müller auf der Straße in Genua zu Beginn des Films sehen. Was Thome, Andersch und andere dazu gedrängt hat, den Film als Geschichte einer Läuterung zu lesen, ist nicht im Film selbst zu finden, sondern im Phantasma, dass mit der Folter so etwas wie eine Läuterung verbunden sei, dass mit ihr Wahrheit ans Licht käme, ein innerer Kern gar. Diese Vorstellung ist antiken Ursprungs, wenn auch in moderner Verkleidung. Sie rührt von einem Denken her, das Wahrheit als etwas vom Menschen unabhängig Vorhandenes angesehen hat, etwas, das nicht im Kern des Menschen liege, das vom Ich aber möglicherweise verdeckt würde und zum Vorschein käme, wenn das Ich sein Spiel der Täuschung aufgebe (vgl. Görling 2013, 123). In dem Maße, in dem sich aber diese Vorstellung dahingehend verändert, dass das Subjekt selbst Garant der Wahrheit sei, dass also Wahrheit etwas sei, das mit der Authentizität des Subjekts zu verbinden sei, in dem Maße entsteht auch die Vorstellung einer Läuterung des Ichs durch die Erfahrung von Leid und Tod. Der Film stützt dieses Phantasma der Reinigung durch die Folter nicht. Wenn Della Rovere sich praktisch aus eigenem Entschluss vor das Hinrichtungskommando stellt, dann eher aus Scham denn aus Läuterung, eher eben aus dem Versuch, die Freiheit, die ihm das Spiel gibt, nicht aufzugeben, denn als Einkehr in ein un-

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terstelltes Inneres. Wenn er am Ende ganz die Rolle übernimmt, die er spielt, dann hat es nichts mit einer Katharsis durch die Folter zu tun, sondern viel eher mit der Zärtlichkeit, mit der er zuvor schon den Witwen und Müttern der misshandelten, deportierten und ermordeten Widerstandskämpfer begegnet ist. Wenn es für sie vielleicht besser ist, an das Wohlbefinden und die Rückkehr ihrer Geliebten zu glauben, dann ist es für die Witwe Della Roveres und seine Kinder auch besser, an den heroischen Tod ihres Mannes und Vaters zu glauben. Ihnen schenkt er einen Helden und gibt somit etwas von den Gaben wieder, die ihm zuvor seinen Lebensunterhalt sicherten. Der Film legt dieses Verständnis nahe durch eine lange Einstellung, in der wir den gefolterten Bardoni auf seiner Pritsche liegend und eine Fotografie der Frau und der Kinder Della Roveres betrachtend sehen. Die Stärke Bardonis und damit letztlich auch des Films, der seine Geschichte erzählt, liegt nicht in einer Wandlung, sondern in der Fähigkeit, sich den Augenblicken der Ungewissheit auszusetzen und in ihnen den Weg der Zärtlichkeit zu finden. Der Film gewinnt eine Intensität der Ansprache gerade in den Augenblicken, in denen Bardoni aus der Rolle zu fallen scheint, in den Augenblicken der Ungewissheit, in denen er innehält und auf den Einfall eines Scripts wartet, das unter diesen Bedingungen und in dieser Situation noch möglich ist. Es sind Momente, in denen alles erschöpft, aber auch voller Energie ist, Momente der Unbedingtheit und damit auch Momente, die keine Vorhersehbarkeit zulassen, zu welchen Handlungskonsequenzen sie führen. Deutlich wird das auch darin, wie Rossellini die Schauspielkünste Müllers denen Bardonis gegenüberstellt. Müller versteht sich selbst als Regisseur, der nicht nur seinen Untergebenen Befehle erteilt, sondern auch Szenarien erfindet, um seine Gegner zu täuschen. In einer Situation lässt er sich direkt von Bardonis Schauspielkunst inspirieren. Als Della Roveres Ehefrau unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit aus dem Schweizer Exil anreist und im Mailänder Gefängnis mit der Bitte vorstellig wird, ihren Mann sprechen oder zumindest sehen zu können, meint er sie dazu überreden zu können zu glauben, es sei besser für ihren Mann, für seine Widerstandskraft, ja für die Sache Italiens, wenn er sie nicht sehe. Das würde sein Gemüt schwächen. Auch wenn das an Bardonis Kunst erinnert, seine Betrügereien zu rechtfertigen, so bestehen doch klare Differenzen. Müller setzt nichts auf Spiel, er verlässt die Position des Regisseurs und Experimentators genauso wenig wie Sturmbannführer Bergmann oder

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Professor Wagner. Aber auch die Register, denen die Scripte entstammen, unterscheiden sich. Bardoni appelliert an einen sozialen Sinn, der Hoffnung und Glaube angesichts der Brutalität der Gewalt nicht verliert, Müller an ein Heroisches, das sich gerade über die Nähe des anderen hinwegsetzt. 6 Wenn nach der Hinrichtung von Della Rovere und zehn weiterer Gefangener Müller sich wiederholend eingesteht: „Ich habe mich geirrt“, dann konfrontiert der Film nochmals die Unbestimmtheit und Unbedingtheit einer sozialen Nähe, eines offenen Wir, mit dem Kalkül der Macht, die auch im Akt der Willkür noch berechenbar bleibt. Die Souveränität begründet sich in der Willkür der Entscheidung über das Leben anderer, die Unbedingtheit kann nur in einem Wir, einem Werden, in dem die Grenze zum anderen verwischt, wirksam werden. Man könnte auch sagen, dass die Unbedingtheit immer von der Schicht der Erstheit aus wirksam wird, während die Souveränität ein Ausdruck der Zweitheit ist. Es gibt keine Souveränität ohne das, was sie sich in ihrem Akt der Selbstbegründung gegenüberstellt: die Frau, das Kind, den Rechtlosen, den Wahnsinnigen, das Verworfene. 7 Das moderne Kino beginnt, um nochmals die Aussage Daneys zu zitieren, mit der Szene der Folterung vor einem Dritten in ROMA CITTÀ APERTA, weil sich von diesem Augenblick an, filmisch ebenso wie historisch, die Differenz zwischen Unbedingtheit und Souveränität nicht nur als eine der politischen und sozialen Praxis, sondern auch als eine der Kunst und des Films stellt. Wir alle sind Zeugen der Gewalt geworden. Gewalt ist wirksam als Zerstörung von sozialen Beziehungen und Bindungen, als Verletzung, Ausgrenzung, Mord. Zeugenschaft kann deshalb nur darin etwas anderes sein als die Tradierung der Gewalt, dass sie das Geschehene wieder

6

Ulrich Döge spricht dagegen von einem „höchst ungewöhnliche(n) Rollentausch zwischen einem deutschem SS-Mann und einem italienischen Zivilisten“ (Döge 2009, 139). Leider entgeht der Studie wegen ihres engen imagologischen Ansatzes jede filmästhetische Differenzierung.

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Jacques Derrida hat das in seiner kritischen Lektüre verschiedener Souveränitätsdiskurse eindringlich gezeigt. Seine Kritik schließt auch Agambens Konzept des homo sacer ein und zeigt darüber hinaus, wie sich eben dieses Konzept in einem Gestus der Gegenüberstellung angeblicher Verfehlungen anderer Philosophen immer wieder selbst zu begründen versucht (vgl. Derrida 2009 und 2011).

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binden, in ein Soziales aufnehmen kann. Gelingt das dem Kino, so mag man die Schlusseinstellung aus Rossellinis bekanntestem Film auch übertragen können, gehen wir wie die Kinder aus ROMA   CITTÀ APERTA gemeinsam einer Zukunft entgegen. Gelingt dies nicht, so huldigt der Film einem Voyeurismus der Grausamkeit und nimmt Teil an einer Gesellschaft des Spektakels, gegen die Rossellini in den kurz vor seinem Tod 1977 geschriebenen autobiografischen Fragmenten so entschiedenen polemisierte. Das Kino werde in ihr zu einem Symptom einer universellen Hoffnungslosigkeit, es „est transformé en université du vol et de l'assassinat“ (Rossellini 1987, 14).

2 The Object of Torture is Torture

D IE S UCHE

NACH DEM M ASS : DOKUMENTARISCHE B ILD

R OSSELLINI

UND DAS

In Rossellinis 1948 hergestellter, aber erst 1952 uraufgeführter Komödie LA MACCHINA AMMAZZACATTIVI, was wohl sinngemäß als „Der Apparat, der das Böse bezwingt“ übersetzt werden könnte, träumt der Fotograf Celestino (Gennaro Pisano), dass ihn der Heilige seines süditalienischen Küstendorfes mit der Macht ausgestattet habe, Menschen in einen Schockzustand kompletter Lähmung versetzen zu können, indem er ihre Fotografien noch einmal ablichtet. In dem Augenblick, in dem er den Auslöser seiner Kamera bestätigt, erstarren sie in der Pose, in der sie in der Fotografie fixiert worden waren. Zu Beginn setzt Celestino damit die Dorfelite außer Kraft, die durch Gaunereien die Armen des Ortes um ein barmherziges Erbe bringen und durch den Verkauf eines an der Mittelmeerküste gelegenen Friedhofgeländes an amerikanische Touristikunternehmer schnell zu Geld kommen will. Bald aber macht ihn die Macht auch trunken und liefert ihn, der zunächst noch an die Moral der örtlichen Autoritäten glaubt und diesen bei der Durchsetzung des Rechts helfen möchte, seiner eigenen Souveränitätsanmaßung aus. Als einziger Fotograf am Ort besitzt er von praktisch allen Bewohnern Bilder. Der Allmachtstraum wird zu einem Alptraum, als er immer mehr Fotos zum finalen Abschlussbild an die Wand hängt. Celestino erwacht, als sich der Heilige, der seiner Kamera diese Macht gegeben hatte, als Satan zu erkennen gibt. Doch ist die Phantasie damit ja noch nicht ganz aufgehoben, dass mit der Fotografie eine magische Kraft verbunden sei. Celestinos Apparat, um in Anlehnung an Walter Benjamin zu sprechen, erteilt dem Augenblick „einen posthumen Chock“

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(Benjamin 1974, 630). Zunächst reißt er das Abgelichtete aus dem Fluss der erlebten Zeit und schreibt es in ein mediales, den überlieferten Künsten der Erinnerung nicht folgendes Archiv ein. Die Zeit der Aufnahme eines maschinell erstellten Bildes oder einer solchen Spur in ein Archiv und die Zeit der Kontextualisierung oder Lektüre der Spur treten auseinander. Zeit verdoppelt sich, wie sie sich auch in einer traumatischen Erfahrung verdoppelt, in der das Erlebte im Augenblick des Ereignisses nicht erfahren, nicht als ein mit dem psychischen Erleben Verknüpftes in das Gedächtnis aufgenommen wird. Celestinos Apparat kann die Zeit der Aufnahme nun durch die zweite Fotografie wieder zur Gegenwart machen: Aber es ist nicht die historische Zeit der Vergänglichkeit, sondern die fixierte Zeit der Fotografie selbst. So werden seine Opfer wohl nicht auf frischer Tat ertappt, aber doch von einer Zeit eingeholt, in der der Zufall jeden Augenblick des Lebens zum entscheidenden machen und der noch so exzentrischen Pose Dauer verleihen kann. Schon in ROMA CITTÀ APERTA gab es eine Fotografie Manfredis, die Bergmann nützlich war, um des gesuchten Widerstandskämpfers habhaft zu werden. Bevor er ihn gefangen nehmen kann, hält er schon seine Fotografie in den Händen. In IL GENERALE DELLA ROVERE kommt eine Fotografie in dem Augenblick zur Wirkung, in dem Bardoni seine neue Identität als Della Rovere übernimmt: Nach der Versorgung seiner Folterwunden auf seiner Pritsche liegend, zeigt ihm ein Gefängniswärter eine Fotografie der Frau und der beiden Söhne des Generals und Helden des Widerstandes. Sie stehen am Rande einer Allee und scheinen ihn durch die Kamera hindurch anzuschauen, als sei dieses Bild nur für ihn gemacht. Hier scheint die Magie der Fotografie in die andere Richtung zu funktionieren: Als Della Rovere der Held wird Bardoni dann auch sterben. Rossellini hatte in diesem Film zuvor an mehreren Stellen mit dokumentarischem Filmmaterial aus den letzten Jahren des Krieges gearbeitet, das Szenen im bombardierten Mailand zeigt. Sie sind zusammengenommen mehrere Minuten lang, werden aber mit der Handlung eng verknüpft. Das geschieht zumindest einmal mittels einer Projektionstechnik, meist aber dadurch, dass nach einem Schnitt dann in einem ähnlichen, aber nachgestellten Szenenbild eine gespielte Handlung einsetzt. So sehen wir Dokumentarmaterial der Bergung Verschütteter nach der Bombardierung eines Wohnhauses, dann zeigt die Einstellung nach dem Schnitt eine Gruppe von Zuschauern vor einem zerstörten Haus. Zu ihr tritt Bardoni. Er ist betroffen von dem Anblick, auch

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irritiert, er bewegt den Kopf leicht hin und her, bis er sich schließlich vom Anblick löst und in ein Lokal geht, um einer seiner Klientinnen eine fingierte hoffnungsvolle Botschaft über den Verbleib ihres Ehemannes zu übermitteln. Auch in LA MACCHINA AMMAZZACATTIVI gibt es deutlich dokumentarisches Material, hier vermutlich extra für den Film erstellt. Dazu gehören Aufnahmen einer Prozession zu Ehren des Dorfheiligen und der Segnung der Fischerboote. Die wohl berühmteste Einspielung von dokumentarischem Material in einem Film Rossellinis aber dürften zwei Passagen aus STROMBOLI, TERRA DI DIO (1950) sein: die Bilder der Mattanza, des grausamen und blutigen Einfangens und Tötens von Thunfischen, und die Bilder des ausbrechenden Vulkans. Beide Geschehnisse binden den litauischen Flüchtling Karin (Ingrid Bergman) in eine Umwelt ein: das erste in eine soziale, das zweite in eine kosmische. Verschiedene Formen der Durchdringung von dokumentarischem Filmmaterial und filmischer Narration prägen alle Spielfilme Rossellinis, besonders aber seine Kriegstrilogie. Ob in ROMA CITTÀ APERTA, in PAISA oder auch in GERMANIA ANNO ZERO (1948): immer besteht eine sehr enge Beziehung zwischen dem Szenario und den Protagonisten. Das eine verweist auf das andere oder drückt sich in ihm aus. So ist der im vom Bombenkrieg zerstörten Berlin gedrehte Film GERMANIA ANNO ZERO eine Studie über ein Land, in dem die Verbindlichkeit der sozialen Strukturen so sehr zerbrochen ist wie die Architektur der Stadt. Wie die von der Zerstörung übriggebliebenen Fassaden, deren glaslose Fensteröffnungen in beide Richtungen in die Leere zeigen, sind die sozialen Beziehungen reine Formen, die keine Verlässlichkeit mehr garantieren. Das gilt auch für die Sprache, deren Aussagen insoweit keine Performanz mehr kennen, als sie niemanden mehr verpflichten. Sicher ist dies schon fast plakativ in der Passage ausgestellt, in der Edmund (Edmund Moeschke) in den Ruinen der Reichskanzlei zwei amerikanischen Soldaten auf seinem Grammophon eine Schallplatte mit einer Rede Hitlers vorführt, um sie im Auftrage des aus dem Schuldienst entlassenen, pädophilen Lehrers Enning (Erich Gühne) als Souvenir oder Trophäe zu verkaufen. Die beiden Soldaten hören mit etwas Neugierde und Verwunderung die ekstatisch ausgerufenen Appelle, deren nähere Bedeutung sie vermutlich kaum verstehen. Zur gleichen Zeit stehen in einem angrenzenden Saal ein älterer Mann und ein Kind an seiner Seite. Sie halten inne als würden sie etwas erinnern, bleiben aber ohne äußerlich sichtbare Reaktion. So unverbindlich alles Sprechen geworden ist, so ge-

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ring ist auch die Bereitschaft, auf das Wahrgenommene zu antworten und Verantwortung zu übernehmen. Allein Edmund fühlt sich für seine Familie und seine Freunde verantwortlich, bemüht sich, für sie zu sorgen und die Worte und die Handlungen zu verknüpfen. Doch vielleicht kann der zwölfjährige Junge dies auch nur deshalb, weil er die Differenz zwischen Spiel und Wirklichkeit ebenso wenig sicher zu bestimmen weiß wie die Differenz zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung der Sprache. Das führt ihn am Ende dahin, dass er das Lamentieren seines altersschwachen Vaters (Ernst Pittschau) und die sozialdarwinistischen Parolen des Lehrers Enning wörtlich nimmt und mit der Gabe des vergifteten Tees an seinen Vater etwas tut, das er unmöglich selbst verantworten kann. Niemand ist bereit, diese Verantwortung mit ihm zu teilen. Und niemand ist da, jenseits dieser aufgebrochenen Haltlosigkeit zumindest im Spiel mit ihm zu sein, selbst andere Kinder lassen ihn stehen. Er flüchtet sich in der Schlusspassage des Films in ein einsames Spiel, das aber eben die dem Spiel eigentümliche Differenz zwischen wörtlicher und übertragener Rede, bzw. zwischen Handlung und Vorführung einer Handlung wieder einzieht und dessen Grenze zur Selbstzerstörung offen oder fließend ist. Während seine Schwester von der anderen Straßenseite her nach ihm ruft, damit er die Familie bei der Beerdigung seines Vaters begleite, streunt Edmund durch die Ruinen eines Wohnblocks. Es gibt in dieser Welt keinen Halt, in den Wänden und Böden der Häuser tun sich dieselben Löcher und Leerstellen auf wie in der Sprache und den Gesten der Menschen. Wenn Edmund dann mit geschlossenen Augen in die Tiefe springt, ist es wie eine kindliche Probe auf die Haltlosigkeit der Welt: ein verzweifelter Versuch, aufgefangen zu werden. Es ist nichts da, und selbst das Schlussbild des Films hält den Fall nicht auf. Wohl kommt eine junge Frau zum toten Jungen, aber sie berührt seinen Körper kaum und lehnt am Ende regungslos und erschöpft an einer Mauerwand. Die Kamera schwenkt nach oben, eine Straßenbahn passiert jenseits der Mauer den Ort. Dieses Bild steht in einem direkten Kontrast zur Einstellung in ROMA CITTÀ APERTA, in der der Pfarrer die in ihrem Lauf erschossene, in den Tod gestürzte Pina am Boden kniend im Schoß hält. Wenn die Pathosformel der Pietà als Versuch der Bindung des Todes an das Leben verstanden werden kann, als ein Halten des Gefallenen, dann überlässt es diese Schlusseinstellung von GERMANIA ANNO ZERO ganz dem Zuschauer, auf das zu antworten, wovon er Zeuge geworden ist.

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Abbildung: Edmund Köhler in GERMANIA ANNO ZERO von Roberto Rossellini

Rossellinis Filme durchzieht die Frage nach der Möglichkeit, in einer von Gewalt geprägten Gesellschaft zu einer Verbindlichkeit von Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen dem Einzelnen und der Gruppe, zwischen der Gemeinschaft und der Welt zu finden. In der ersten Episode von PAISÀ (1946) hält Carmela (Carmela Sazio) ihr nur in Gesten ausgedrücktes, ihr selbst erst spontan bewusst werdendes Wort zu Joe (Robert Van Loon) bis in ihren Tod, doch den amerikanischen Soldaten, die zum Posten zurückkehren und ihren Kameraden erschossen vorfinden, wird sie als Verräterin erscheinen. Ihre Treue erscheint umso wertvoller, als sie ohne Zweck und auch ohne Zeugen ist. Es gibt niemanden, der, wie die Kinder in der Schlusseinstellung von ROMA CITTÀ APERTA, die Kunde von ihrem Heldentum in die Stadt tragen könnte. Die anderen fünf Episoden aus dem Krieg zur Befreiung des Landes von der deutschen Besatzung, die der Film erzählt, variieren dieses Thema der Verbindlichkeit der Worte und der sozialen Beziehungen. Die Konvention kann den Zusammenhang zwischen Zeichen und Bedeutung nicht garantieren: Das ist vielleicht gar die Lehre jeden Krieges, weil Krieg, oft noch vor dem Töten und im Akt der Gewalt selbst, Finte, List, Betrug und performativer Riss der Verlässlichkeit der sozialen Beziehungen ist. Auch lassen sich die sozialen Beziehungen und die Beziehungen zu den Dingen und Institutionen nicht trennen. In der Zerstörung der Häuser und Landschaften tut sich ein Riss auf, der zwischen der Welt und den Menschen ebenso verläuft wie zwischen den Menschen. In einem Interview mit den Cahiers du cinéma antwortete Rossellini 1954 auf die Frage nach seiner Stellung in der neorealistischen Bewegung: „Pour moi, c’est surtout une position morale de laquelle on regarde le monde. Elle

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devient ensuite une position esthétique, mais le départ est morale.“ (Rossellini 1984, 39) Die Suche nach der Verlässlichkeit von Beziehungen ist eine ethische, sie wird aber für den Filmemacher unmittelbar zu einer ästhetischen: Verlässlichkeit kann nicht in einer Treue zu Werten gründen, zu Werten zumal, die Menschen motiviert haben, mit technisch hoch entwickelten Zerstörungswaffen gegen andere in den Krieg zu ziehen und eine ganze Administration mit eigenen Territorien zur Tötung von Menschen aufzubauen. Und das geschah nicht trotz, sondern mittels der der Sprache eigentümlichen Möglichkeit der willkürlichen Veränderung von Bedeutungen. Kann das fotografische Bild, kann vor allem das Bewegtbild etwas gegen diese Willkür ausrichten und eine neue Verlässlichkeit der Beziehung zwischen den Menschen und zur Welt herstellen helfen? Hier geht das Ethische direkt in das Ästhetische über: Diese neue Beziehung kann nur in einer Treue zur Welt ihren Grund finden, einer Treue, die, wie GERMANIA ANNO ZERO so eindringlich nahelegt, sich auch dann nicht aufgibt, wenn kein Trost geboten, wenn die Welt haltlos wird. Allein Empfindsamkeit und die Bereitschaft, Empfindungen auch wahrzunehmen, können für sie einstehen. Empfindsamkeit ist die Bereitschaft, das wahrzunehmen, was kein gewöhnliches Maß hat: weil es zu subtil ist, oder auch, weil es zu überwältigend ist. Übernimmt damit der Film selbst die Aufgabe der Zeugenschaft, stellvertretend für den Zuschauer? Auch wenn diese Zeugenschaft nicht der Film allein, sondern nur zusammen mit den Zuschauern, wenn dies also nur das Kino leisten kann, so kommt dem Film selbst doch eine entscheidende Aufgabe zu. Wohl wird man dem Film nicht immer schon Empfindsamkeit zusprechen wollen, aber er ist empfindlich. Er ist empfindlich in dem Sinne, in dem man von dem fotografischen Material, das die Bilder fixiert, sagt, es habe eine bestimmte Empfindlichkeit. Diese ist keine Frage des Abbildes. Fotografisches Material kann im Licht ganz schwarz werden oder auch unter Mangel an Licht bei der Entwicklung weiß bleiben. Empfindlichkeit ist eine Frage des Maßes, der Abstimmung, der Korrespondenz. Kino muss diese Korrespondenz ermöglichen und wahrnehmbar werden lassen, auch und vielleicht gerade dort, wo sie maßlos oder nicht sichtbar ist. Dass PAISÀ die Geschichte von Carmela und Joe erzählt, obwohl es gar keine Zeugen gibt, die für sie einstehen könnten, macht sie nicht weniger wirklich als die von Manfredi aus ROMA CITTÀ APERTA. Sie lässt sich

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darüber hinaus als eine programmatische Aussage und als Appell verstehen: Betrifft sie uns, den Zuschauer, nicht umso mehr, als wir die Antwort auf das Gesehene gar nicht an andere abgeben könnten? Wir sind, so seltsam das vielleicht auf den ersten Blick erscheint, umso mehr Augenzeuge, als niemand außer uns dabei war, der unsere Aussage ersetzen, der die Aufgabe der Bindung des Geschehens an die Gemeinschaft übernehmen könnte. In einem übertragenen Sinne bedeutet diese Möglichkeit des Kinos, dass es das Maß unserer Empfindlichkeit verändern und Beziehungen dort bezeugen und erzeugen kann, wo sie jenseits der Sichtbarkeit und ihrer Konventionen liegen.

Abbildung: Carmela Sazio in PAISÀ von Roberto Rossellini

Während Empfindsamkeit auf ein Vermögen abhebt, Wahrnehmungen auf ein Selbst zu beziehen, steht die Empfindlichkeit in Bezug zu einer grundsätzlichen Prekarität, in die die Sensibilität den Wahrnehmenden versetzt. Auch wenn eine enge Beziehung zwischen beiden Vermögen besteht, so steht die Empfindlichkeit in Relation zu einem Maß, das nicht in der Hand des Wahrnehmenden liegt, zu einer Korrespondenz, die sich zwischen zwei Verhältnissen einstellt und diese verändert, ohne sie in ihrem inneren Sinn zu zerstören. Empfindlichkeit meint den Moment, an dem Offenheit in Verletzung umschlagen kann, Berührung in Schmerz, Sensation in Gewalt. Jenseits dieses Moments löst sich eine Bindung. Dann treten Empfindlichkeit und Empfindsamkeit auseinander. Empfindlichkeit, so könnte man mit Sigmund Freud sagen, steht dann nicht mehr im Dienst des Eros, sondern spielt dem Thanatos zu. Gehört es zu den Vermögen des Kinos, vielleicht sogar der Kunst überhaupt, Empfindlichkeit und Empfindsamkeit zueinan-

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der zu führen? Wenn das zutrifft, dann sicher nicht in dem Sinne, dass die Welt ein subjektives Maß annehmen sollte. Es geht darum, empfindsam zu werden für die Empfindlichkeit der Welt, für die Relationen und Korrespondenzen, die sie zusammenhält. Hierin liegt die Bedeutung des dokumentarischen Materials, das Rossellini in seine Filme einfügt. Es hat etwas vom Stellenwert des Gesangs der Vögel, den der Heilige Franziskus in einer Episode aus Rossellinis FRANCESCO, GIULLARE DI DIO (1950) zu verstehen erklärt.

D AS I KON

UND DIE ZWEI

D IMENSIONEN

DES I NDEX

Empfindlichkeit und Empfindsamkeit lassen sich aber noch in einer anderen Hinsicht zueinander in Bezug setzen: In der Empfindlichkeit und dem ihr inhärenten Maß ist immer so etwas wie eine direkte Berührung gedacht. Der Finger, der über eine Oberfläche streicht, ist empfindlich für die Härte, die Temperatur, die Muster des Gegenstandes. Er kann sich dabei auch verletzen oder die Oberfläche des Berührten verändern. Empfindsam kann man aber zum Beispiel die Art und Weise nennen, in der eine Hand über die Haut eines anderen Menschen oder die Oberfläche eines Gegenstandes streicht. Hier geht es nicht so sehr um die direkte Berührung als um den Kontakt, um eine Kommunikation, in der die Berührung schon in Bedeutung übergeht. Es ist davon auszugehen, dass Rossellini die Filmaufnahmen kannte, welche die Teams der Alliierten bei der Befreiung der von den Deutschen besetzten Gebiete und Deutschlands selbst vom Nationalsozialismus gemacht hatten. Von US-amerikanischer Seite war das Office of Strategic Services (OSS) für die Herstellung dieses Materials zuständig, in dessen Reihen John Ford und andere Filmemacher arbeiteten. Zu diesen Bewegtbildern gehörten die Aufnahmen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern, die 1945 nach der Befreiung gemacht worden waren und die in den Wochenschauen der Kinos in Deutschland und vielen Ländern der Welt gezeigt wurden. Sie dienten auch als Beweismaterial bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Die vom USamerikanischen Architekten Dan Kiley entworfene Ausstattung des Gerichtssaals im Nürnberger Justizpalast dürfte die erste gewesen sein, die eine fest installierte Leinwand vorsah. Sie befand sich an der Seitenwand

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zwischen den Reihen der Ankläger und denen der Angeklagten, der Presse und den Zuschauern gegenüber. Im Saal waren aber auch Stellplätze für Filmkameras berücksichtigt (Delage 2006, 150). Die Vorführung der Filme wurde eingeleitet oder begleitet vom Vortrag der schriftlichen Zeugnisse der Kameraleute, welche die Authentizität der Aufnahmen bekundeten. Die Einführung des Films als juristisches Beweismittel geschah also auf zwei miteinander verschränkten Ebenen: Zum einen setzte die Anklage unter der Führung von Robert H. Jackson auf das Vorverständnis, dass die Fotografie eine direkte Beziehung zu dem hat, was ihr Bild darstellt. Zum anderen wusste sie um die Möglichkeit, die Authentizität der Aufnahmesituation zu befragen. Tatsächlich versuchte sich etwa Hermann Göring nach der Vorführung eines sowjetischen Films dadurch zu verteidigen, dass er die Bilder als Inszenierung bezeichnete (Delage 2006, 154). Dem standen das Zeugnis der Kameraleute und die Montage der Aufnahmen selbst gegenüber. Ich habe im Prolog schon erwähnt, dass die Filme nicht nur Teil einer Rechtsprechung, sondern auch einer Rechtsetzung waren, verstanden im Sinne von Walter Benjamins Gebrauch des Begriffs in seiner „Kritik der Gewalt“ (Benjamin 1977). Es war dem Team, das an der Montage der Filme arbeitete, sehr bewusst, das sie dazu beitrugen, einer Idee den Status eines Rechts zu verschaffen, den sie bis dahin nicht gehabt hatte: der Idee der Menschlichkeit und des Verbrechens gegen sie. Und war diese Idee nicht schon Antwort auch auf die dokumentarische Fotografie und den dokumentarischen Film, welche die Bilder der Lager aufnahmen und verbreiteten? Wie weit stützt sich die Idee des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, welche ja notwendig von den einzelnen Umständen abstrahiert, jedes Individuum in seiner Verletzlichkeit und Ausgesetztheit jedoch direkt betrifft, auf das fotografische Bild der Opfer von politischer Gewalt? Ray Kellog, der ebenfalls vor seiner Arbeit für das OSS für Twentieth Century Fox tätig gewesen (Delage 2006, 114) und maßgeblich an der Montage des Films über die Konzentrationslager beteiligt war, schrieb an John Ford, dass er ungeduldig auf die Aufführung des Films in Nürnberg warte, denn dieser sei „le support principal du quatrième chef d’accusation – le ‚crime contre l’humanité‘“ (zit. n. Delage 2006, 149). Der Film war also nicht nur als Verweis und Beweis gedacht, er sollte nicht nur belegen, dass eine Handlung in der Vergangenheit stattgefunden hatte, er sollte auch etwas schaffen. Er dokumentierte nicht nur Geschichte, er hatte auch eine in die Zukunft hin offene Zeitlichkeit.

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Schon Charles Sanders Pierce führt Fotografie mehrfach als Beispiel für Indexikalität an, „weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt“ (Peirce 1983, 65). Doch differenziert Peirce diese Überlegung in mindestens zweierlei Hinsicht aus. Zum einen versteht er den Index nie isoliert von den anderen Dimensionen des dreiwertigen Modells seiner Semiotik, dem Ikon und dem Symbol, zum anderen ist die Indexikalität auch am Beispiel der Fotografie nicht nur ein mechanischer Vorgang, sondern erst zusammen mit dem Wissen über die Entstehung und unsere Übereinkunft über diesen Zusammenhang ergibt sich der für den Index typische Verweisungszusammenhang (vgl. Doll 2012, 333 f.). Das, was Peirce Erstheit nennt, und das seine semiotische Entsprechung im Ikon hat, wird oft verkürzt als Abbildhaftigkeit verstanden. Doch geht es dabei gerade nicht um das Erscheinen der Dinge selbst in ihrer unterstellten Wesenhaftigkeit. Die Seinsweise der Erstheit ist Möglichkeit, sie „ist der Embryo des Seins. Sie ist nicht nichts. Sie ist nicht Existenz.“ (Peirce 1983, 57) So ist für Peirce die Fotografie nicht nur Index, sie liefere darüber hinaus „ein Ikon des Objektes, indem genau die Relation der Teile es zu einem Bild des Objekts macht.“ Das lässt sich auf den ersten Blick als visuelle, gegenständliche Ähnlichkeit verstehen. Doch fährt Peirce mit einem überraschenden Beispiel fort: „So ist ein Wetterhahn nicht nur ein Zeichen des Windes, weil der Wind tatsächlich auf ihn wirkt, sondern er ist außerdem dem Wind ähnlich in Bezug auf die Richtung, die dieser nimmt.“ Diese Ähnlichkeit ist eher abstrakt als gegenständlich, sie ist als Ähnlichkeit nicht sichtbar, sie wirkt als Potentialität, dass der Wind und der Hahn ein gemeinsames Maß haben und eine Beziehung eingehen. Damit aber bindet nicht nur der Index das Bild in die Realität, sondern gerade das Ikon adressiert, öffnet die Wahrnehmbarkeit überhaupt. Es ermöglicht, um mit den Begriffen von Alfred North Whitehead zu sprechen, ein Erfassen und ist auch darin selbst schon Teil eines Erfassensereignisses. Der Wind erfasst den Hahn, der Hahn erfasst den Wind: Dies sind keine Verweisungszusammenhänge, sondern „dyadische Relationen“ (Peirce 1983, 157), Empfindlichkeiten, die reiner Ausdruck einer Relation sind und nichts anzeigen. Sie sind nicht teilbar und lassen sich auch nicht auf die Relata Wetterhahn und Wind zurückführen. Wenn Peirce an anderen Stellen das Ikon als ein Verhältnis von Ähnlichkeit beschreibt, geht es nicht um eine Ent-

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sprechung von Gegebenem, sondern um eine Affizierung. In ihrer Intensität kann sie mit anderen Erstheiten in Korrespondenz treten und einen neuen Affekt bilden. Dieser ist, wie Deleuze schreibt, selbst wieder „unteilbar und hat keine Teile“ (Deleuze 1989, 138). Doch bleibt er als reine Ausdrucksbewegung nicht aktualisiert, ohne Bedeutung, ohne in Handlung übergegangen zu sein. Mary Ann Doane versteht die Indexikalität der Fotografie zunächst als „signature of temporality“ (Doane 2002, 16). Dem Kino spricht sie die Fähigkeit zu, „to perfectly represent the contingent, to provide the pure record of time.“ (22) Doch wie das Zeichen, das für das geistige Ereignis bei Peirce grundlegend ist, als eine Überlagerung von Ikon, Index und Symbol verstanden werden kann, die jeweils, wie Uwe Wirth treffend bemerkt, in einem Verhältnis der Interferenz aufeinander wirken (Wirth 2007 b), so bewirken in ihren verschiedenen Modalitäten auch differente Zeitlichkeiten. Das gilt auch für den Index selbst. Ein Fußabdruck am Strand ist Index, weil er ein Zeichen ist, das aus einer direkten Berührung entstanden ist. Aber Peirce verweist darauf, dass es erst eines hermeneutischen Akts, etwa seitens des Helden in Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, bedarf, damit er als solcher wahrgenommen wird (Wirth 2007 a, 58). Berührung und Bedeutung sind zwei aufeinander bezogene, aber doch eigenständige Vorgänge. Es sind auch verschiedene Zeitlichkeiten am Werk: „While the index as imprint, as trace (as photographic image) endures, the ‚this’ exhausts itself in its own present.“ (Doane 2007, 140) Allerdings macht schon das erwähnte Beispiel der Vorführung des Films über die Konzentrationslager während der Verhandlungen in Nürnberg deutlich, dass die Berührung nicht nur als Gegenwartsmoment bestimmt werden kann. Sie ist vielmehr immer schon Erinnerung, Bindung. Ich komme auf dieses „Band zwischen Eros und Mnemosyne“, wie Gilles Deleuze schreibt (Deleuze 1997, 137), im nächsten Kapitel zurück.

N INETEEN E IGHTY -F OUR (O RWELL

UND

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Eine besondere Form der Indexikalität liegt Michael Radfords NINETEEN EIGHTY-FOUR zugrunde. Im Abspann des Films wird darauf hingewiesen, dass die Aufnahmen des Films an den Orten und in eben den Monaten April bis Juni 1984 durchgeführt wurden, die George Orwell in seinem 1948

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geschriebenen Roman als Ort und Zeit der Handlung angibt. Die Einstellung, in der Winston (John Hurt) „APRIL 4th 1984“ in sein Tagebuch schreibt, soll auch an diesem Tag gedreht worden sein (vgl. Orwell 1969, 9). Diese Frage nach der Indexikalität ist schon Orwells Roman nicht äußerlich, sie prägt einen guten Teil seiner Anlage. Winstons Arbeit im Wahrheitsministerium besteht ja darin, Zeitungsmeldungen umzuschreiben und insbesondere die Namen von den Menschen, die dem Staat unlieb geworden sind, aus den Dokumenten zu tilgen und durch Namen von Personen zu ersetzen, die verstorben sind und unbekannt waren. Sein Umschreiben der Geschichte ist Teil einer umfassenden Strategie, die Bezeichnungsfunktion der Sprache zu unterlaufen. Dazu gehören etwa die paradoxalen Bezeichnungen der Ministerien durch das Gegenteil dessen, was sie betreiben. Minitrue, das Wahrheitsministerium, ist zuständig für die Fälschung, Minipax, das Friedensministerium, ist ein Kriegsministerium, und Miniluv, das Liebesministerium, ist das Folterzentrum von Oceania. Dazu gehört auch die radikale Reduktion des Wortschatzes: „It’s a beautiful thing, the destruction of words“, sagte Syme, der mit der Erarbeitung eines neuen Wörterbuches beschäftigt ist, zu Winston beim Mittagessen (44). Die Prinzipien der Newspeak erinnern an die binäre Codierung von Computersprachen. Winston, der in die Fänge der Gedankenpolizei gerät oder vielleicht schon vom Einsatz der Erzählung an geraten ist, als er, provoziert durch den Kauf eines Tagebuches in einem Antiquitätengeschäft, mit der Niederschrift seiner Gedanken beginnt und sich in Julia verliebt, wird dort der Misshandlung und der Qual ausgesetzt werden. In seiner Erzählung verdichtet Orwell sein Wissen über die Folter im Faschismus und im Stalinismus in zwei Szenen, die sehr genau analysieren, dass die Folter, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als so vielfache Praxis erneut ausgebreitet hat, nicht einfach als Fortsetzung früherer Formen einer inquisitorischen Tortur oder der peinlichen Bestrafung verstanden werden kann. Auf Winstons Frage, warum er hier sei, erklärt sein Folterer O’Brien, dass es nicht um ein Geständnis und auch nicht um Strafe gehe, sondern darum, das Opfer, wie wir heute formulieren würden, nachhaltig zu traumatisieren: „What happens to you here is for ever. Understand that in advance. We shall crash you down to the point from which there is no coming back. Things will happen to you from which you could not recover, if you lived a thousand years. … We shall squeeze you empty, and then we shall fill you with ourselves.“ (206)

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Zwei Szenen der Folter werden von Orwell näher beschrieben, die als Thematisierung zweier Dimensionen dieser intendierten Traumatisierung verstanden werden können. In der ersten geht es um eine Zerstörung der Verweisungsfunktion von Sprache, in der zweiten um die Zerstörung der Potentialität des Ausdrucks, also von etwas, das man mit Peirce das Ikon nennen könnte. Beide werden auch in Radfords Film berücksichtigt und filmisch umgesetzt. O’Brien hält dem auf eine Bank gefesselten und mit einem Stromgenerator verkabelten Winston die linke Hand hin, vier Finger gestreckt, den Daumen eingeknickt. Wie viele Finger er ihm hochhalte, möchte er von Winston wissen. „‚Four’“ – „And if the Party says that it is not four but five – then how many?“ (200) Winston befindet sich in einer Situation, die man in Anlehnung an Gregory Bateson als eine des double bind bezeichnen könnte (Bateson 1985, 353 ff.). Egal welche Antwort er gibt, ein schmerzender Stromstoß wird seinen Körper durchdringen. Antwortet er, er sähe vier Finger, wird es ihm als Widerstand gegen die Partei ausgelegt werden. Antwortet er, er sähe fünf, wird er der Lüge bezichtigt werden. O’Brien wiederholt diese Tortur mehrfach, die Stärke der Stromstöße erhöhend, bis Winston schließlich sagt, er wisse nicht, wie viele Finger es sind: „‚Four, five, six – in all honesty I don’t know.’ – ‚Better’, said O’Brien.“ (Orwell 1969, 202) Die Finger, die ja Bild und Symbol für den Verweisungszusammenhang selbst sind, verlieren eben genau diese Funktion. Was hier manipuliert und letztlich zerstört wird oder zerstört werden soll, ist die Indexikalität der Sprache, ja des Denkens selbst. Möglich wird es, weil die Indexikalität immer zugleich eine Bezogenheit und die soziale Erfahrung der Bezogenheit ist: Die Kraft der Vektorisierung von Aufmerksamkeit, die der Index ausübt, liegt in der Wahrnehmung des Index und in der Wahrnehmung der Funktion des Index. Wenn Peirce den zeigenden Finger als Prototyp für den Index anführt, erläutert er: „The index asserts nothing; it only says „There!“ lt takes hold of our eyes, as it were, and forcibly directs them to a particular object, and there it stops. Demonstrative and relative pronouns are nearly pure indices, because they denote things without describing them“ (Peirce 1992, 226).

O’Brien entzweit die beiden im Index verschränkten Vektoren der Bezogenheit auf ein Objekt und der Bezogenheit durch die Sozialität des Index,

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seine mit anderen geteilte Zeichenhaftigkeit. In Winstons Situation lässt sich nicht mehr sagen, wie viele ausgestreckte Finger zu sehen sind, weil keine der Äußerungen einen höheren sozialen Wert hat als die andere, weil jede Äußerung gleich destruktiv ist. In dieser Situation erweist sich die Sozialität des Index als stärker als der Teil der Indexikalität, der auf die Wahrnehmungsobjekte bezogen ist. Was in dieser unter der Folter in Wirkung gebrachten Situation des double bind geschieht, ist die Rückwendung der Bezogenheit auf die Gemeinsamkeit der Bezogenheit selbst. Der Zeigefinger macht sich selbst zum Vektor des Zeichenzusammenhangs. Der Index schließt sich kurz. Angesichts eines Bildes des Big Brother gesteht sich der überlebende Winston am Ende der Films: „I love him.“ Doch damit ist die Strategie der intendierten Traumatisierung, die Orwell in seinem Roman beschreibt, noch nicht komplett. Dazu muss sie zu dem vordringen, was den Rand der bewusst verfügbaren Sprache des Subjekts ausmacht, zum Außen seiner je bestimmten Sprache. Dieses Außen ist nicht beliebig, es ist die Potentialität des eigenen Sprechens, das, was Peirce das Ikon nennt: Bilder, die noch nicht etwas sind und es vielleicht nie werden, auf denen aber gleichwohl die Sprache als Sinnzusammenhang für das Subjekt aufsitzt. Der englische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott geht davon aus, dass im „Zentrum jeder Person […] ein Element des ‚incommunicado’, das heilig und höchst bewahrenswert ist“, sei (Winnicott 2006, 245). Dieser Kern der Persönlichkeit kommuniziere niemals mit der Welt wahrgenommener Objekte und jedes Individuum wisse, dass „dieser Kern niemals mit der äußeren Welt kommunizieren oder von ihr beeinflusst werden darf.“ Es ist das Nichtmitteilbare, das, was man mit anderen nicht teilen kann. Es ist in diesem Sinne dann aber auch nicht teilbar und es muss auch dem Ich insoweit verborgen bleiben, als es nicht als Mitteilbares in Erscheinung treten darf. Dieses nicht kommunizierende zentrale Selbst ist „auf immer gegen das Realitätsprinzip immun“. Auch wenn es „auf immer schweigt“, ist es nicht einfach nur als Abwesendes anwesend, es äußert sich jedoch nur in einer absolut einzigartigen Weise: „Hier ist die Kommunikation nicht nonverbal; sie ist, wie die Sphärenmusik, absolut persönlich. Sie gehört zum Lebendigsein. Und im Zustand der Gesundheit geht hieraus die Kommunikation ganz natürlich hervor.“ (253; Übers. verändert, vgl. Winnicott 1966, 187) Das Selbst entsteht und besteht für Winnicott gewissermaßen aus dem Schutz dieses Kerns, im zeitlichen wie im logischen Sinne. Deshalb kann

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es nichts Schlimmeres geben als das Vordringen in diesen Kern: „Vergewaltigung und von Kannibalen Gefressenwerden sind bloße Bagatellen im Vergleich zur Vergewaltigung des Kerns des Selbst, zur Veränderung der zentralen Elemente des Selbst, die eintritt, wenn Kommunikation durch die Abwehr einsickert.“ (Winnicott 2006, 246) Das Wort incommunicado stammt aus dem Spanischen und bedeutet, selbstverständlich als incomunicado ohne Verdoppelung des Konsonanten geschrieben, isoliert, ohne Verbindung sein. Es ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das amerikanische Englisch übernommen worden, weil es auch in der spezifischen Bedeutung als Einzel- oder Isolierhaft benutzt wird. Winnicott betont durch diese Bezeichnung offenbar, dass es das Subjekt ist, dass diesen Bereich von der Kommunikation fern hält, nicht das incommunicado selbst. Es liegt auch sehr nahe, dass Winnicott mit dem Gebrauch eines spanischen Wortes auf eine Formulierung Freuds in einem Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896 anspielt, in dem der Begründer der Psychoanalyse den spanischen Rechtsbegriff Fuero benutzt, um das zu bezeichnen, was sich in der Psyche der ständigen Umschrift der Erinnerungstätigkeit entzieht, was sich nicht übersetzt und als ein „Überlebsel“ wirksam ist (Freud 1950, 187). Die Briefe Freuds waren 1950 publiziert worden und wurden in der psychoanalytischen Diskussion stark beachtet, geben sie doch ein frühes dynamisches Modell der psychischen Prozesse, das mit der Idee der ständigen Umschrift der Erinnerungsspuren dem Rechnung trägt, was wir heute die Plastizität der psychischen Vorgänge nennen würden, wie auch dem Umstand, dass es gleichwohl etwas gibt, das sich zeitlich nicht übersetzt: das Verdrängte. Es ist in diesem Sinne anachronistisch. Freud wird einige Jahre später den Begriff der Urverdrängung entwickeln, um den nichtursprünglichen Ursprung dieser zeitlichen Differenz im Inneren des Subjekts denken zu können. Er taucht erstmals wohl in seiner 1915 erschienen Schrift „Die Verdrängung“ auf (Freud 1916a, 250). Wenn Winnicott an dieser systematischen Stelle den Begriff des incommunicado einführt, dann wohl deshalb, weil er die zu anderen Vorgängen der Verdrängung differente Qualität der Urverdrängung betonen möchte. Man kann dieses incommunicado in seiner Funktion wie ein Depot der Differenz oder Unbestimmtheit verstehen. Wie die Menschen die Sphärenmusik, welche Ausdruck der Bewegung der Himmelskörper ist, nicht hören, weil sie sie immer begleitet, so wissen sie auch nicht von der Unbestimmtheit, die nicht jenseits der Sprache ist und doch nicht selbst wahr-

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nehmbar. Ein Eindringen in diesen Bereich käme einer Verkettung des Unbestimmten gleich, einer Gefangennahme des Subjekts, einem Verlust seiner Differenz. Sie würde den Spielraum des absolut Persönlichen zerstören, dessen, was nicht Teil einer Bedeutungsgebung ist, was kaum je vom Indexikalischen berührt wird und doch Quelle der Kommunikation ist. Das incommunicado, in dem sich das Individuum in seiner Einsamkeit weiß, die es um jeden Preis schützen muss, ist der Nabel des Sozialen. Es ist für Winnicott wohl auch mit dem verwoben, was als nicht erinnerbare Erfahrung des Zusammenbruchs bewahrt ist. (Ich komme im vierten Kapitel darauf zurück.) Dies würde die Wucht der Zerstörung noch verstärken, denn dann wäre das Geheimnis, das in keine Kommunikation eingehen darf, gar eine vom Spielraum nicht mehr unterscheidbare Leere. Und es würde neben dem Affekt der Angst auch noch den Affekt der Scham als Ausdruck des Schutzes des incommunicado verstehen lassen. Das Geheimnis, das Winston unter der Folter zu schützen und das O’Brien zu zerstören versucht, lässt sich dann auch als ein solches incommunicado verstehen. Es gibt für das Wahrheitsministerium nichts, was es nicht schon wüsste. Es geht ihm nicht darum, eine Information zu erhalten, sondern darum, dass der Gefolterte etwas verrät, das ihm zu schützen wichtig ist. Es ist nicht notwendig ein bestimmtes Geheimnis, es ist eher die Potentialität der Differenz, eine innere Treue zur Unbestimmtheit. Wird sie zerstört, nimmt ein anderer den Platz des Selbst ein, während sich das wahre Selbst, manchmal vergeblich, zurückzuziehen versucht. Winnicott beschreibt denn auch das incommunicado als den Kern der Persönlichkeit, „der dem wahren Selbst der gespaltenen Persönlichkeit entspricht“ (Winnicott 2006, 245). Das korrespondiert sehr weitgehend mit der Strategie der Misshandlung, durch die es O’Brien gelingt, Winston zu brechen. Wohl hat dieser unter der Folter der Schläge, Stromstöße und Unterernährung alles erzählt, was es über sein Verhältnis zu Julia zu berichten gab, aber „he had not betrayed her. He had not stopped loving her; his feeling towards her had remained the same.“ (Orwell 1969, 220) O’Brien gönnt Winston sogar eine Zeit körperlicher Erholung, bis er ihn in Raum 101 führen lässt. In diesem, so kündigt es O’Brien an, sei das Schlimmste, das es in der Welt gebe. Dieses „varies from individual to individual. It may be burial alive, or death by fire, or by drowning, or by impalement, or fifty other deaths. There are cases where it is some quite trivial thing, not even fatal.“ (227 f.) Im Falle Winstons sind es Ratten. O’Brien sind die Träume Winstons bestens

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geläufig. Es geht um den Augenblick der Panik, der sich in seinen Träumen immer wieder ereigne: „There was a wall of blackness in front of you, and a roaring sound in your ears… You knew that you knew what it was, but you dared not to drag it into the open. It was the rats that were on the other side of the wall.“ (228) O’Brien holt dann auch einen Käfig heran, in dem zwei Ratten, durch ein Gitter getrennt, hungrig aufeinander zuspringen. Zwei weitere Gitter trennen sie noch von Winstons Gesicht. Sie lassen sich jedoch herausziehen. In dieser Angst, die mit dem Begriff Todesangst nur ungenügend bezeichnet wäre, bricht das incommunicado auf. Plötzlich versteht er, „that in the whole world there was just one person whom he could transfer his punishment – one body that he could thrust between himself and the rats“: Julia. Sie, nicht ihn, sollten sie der Strafe unterziehen. „I don’t care what you do to her. Tear her face off, strip her to the bones.“ (230)

Abbildung: Corinna Seddon in NINETEEN EIGHTY-FOUR von Michael Radford

Schon in Orwells Roman zieht sich eine Kette von Übertragungen zwischen Winstons Mutter und Julia. Julia versteht es, die alten, nur undeutlich erinnerten Kinderreime zu vervollständigen und in der Liebe zu Julia beginnt Winston auch, von seiner Mutter zu träumen. In Radfords Film werden diese Traumbilder auf zwei Szenen zusammengezogen: In der Zeit der Hungersnot in seiner Kindheit reißt Winston in Anwesenheit seiner Mutter seiner kranken und schwachen Schwester ein kleines Stück Schokolade aus der Hand und rennt damit nach draußen. Als er am nächsten Tag in die Wohnung zurückkehrt, sind beide verschwunden und Ratten tummeln sich in dem Raum. Zuvor schon blendet der Film ein Bild ein, das diesen Jun-

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gen mit verschrammtem, ungewaschenem Gesicht traurig und verwundert nach unten blickend zeigt. Die folgende Kameraeinstellung ist vermeintlich subjektiv und auf eine junge schöne Frau gerichtet, die mit halb offenen, auf ihn gerichteten Augen im Gras liegt. Liefe nicht eine dünne Spur roten Blutes aus ihrem Mund, man würde sagen, sie blicke ihn ebenso begehrend an wie die Prostituierte, die Winston am Abend zuvor aufgesucht hatte. Ein Arm legt sich um die Schulter des Jungen, es ist der von O’Brien (Richard Burton). Der Kopf des Jungen wendet sich zu ihm. Das folgende Bild zeigt über seine Schulter und während der Blick zu O’Brien gerichtet bleibt, beginnen Ratten über den Körper der Frau zu laufen. Man kann diese im Roman selbst schon angelegte Verknüpfung des Bildes der Mutter mit dem sexuellen Begehren des Mannes und seiner Rattenphobie zweifellos mit dem Motiv der ödipalen Kastrationsangst verbinden (Görling 1986, 407 f.). Radfords Film montiert diese Passage wie ein vorbewusstes Tagtraumbild, nachdem Winston in sein Tagebuch geschrieben hat, dass Julia ihn verfolge und beobachte. „I hate her. I should kill her before she denounces me.“ (0:26:53) Zeitgleich läuft ein Propagandafilm auf dem Screen, der den Erfolg der laufenden Keuschheitskampagne lobpreist. Doch zielt O’Brien nicht oder nicht nur auf eine Aktualisierung der Kastrationsangst. Auch wenn die mit den Ratten angedrohte Blendung selbstverständlich als eine Metapher der Kastration verstanden werden kann, so geht der Verrat, den Winston begeht, doch weiter als die Abwendung vom Objekt seiner Liebe. Die Phobie hat die Macht über das Ich ja gerade deshalb, weil es das Objekt der Liebe nicht aufgegeben, nur verdrängt oder verleugnet hat. Es bleibt mit dem inneren Selbst verbunden, mit dem Depot der Differenz. Wenn unter der Unerträglichkeit der Bedrohung das Ich dieses Objekt verrät, löst es sich auch von dem, was seine Einzigartigkeit und Differenz ermöglicht. Das Ich ist gebrochen. Und damit ist auch die Empfindlichkeit zu stumpf geworden, von einem Bild affiziert zu werden: von einem Gesicht, von dem sich der eigene Blick nicht lösen kann, von einem Objekt wie der von einem Glas umgebenen rosaroten Koralle, die Winston beim Antiquitätenhändler erwirbt. Es geht um die Fähigkeit, sich durch etwas berühren zu lassen, das nichts bedeutet. Sie wird auch in Radfords Film als das andere der Verkettung von Bild und Affekt inszeniert, die in den täglichen Two Minutes Hate kollektiv hergestellt wird.

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P RZESŁUCHANIE (B UGAJSKI ) „The object of persecution is persecution. The object of torture is torture. The object of power is power.“ (Orwell 1969, 211 f.) Orwell konzentrierte in diesen knappen Sätzen seine literarische Analyse des Totalitarismus. Verfolgung, Folter und Macht haben kein Ziel oder Zweck jenseits ihres Wirkens. Dieses richtet sich auf die Zerstörung jener inneren Differenz, die man mit Winnicott als incommunicado bezeichnen könnte. Am Ende des Romans erinnert Winston seinen Widerstand als „stubborn, self-willed exile from the loving breast“ (239) und zwei nach Gin riechende Tränen rinnen in zärtlicher Rührung für Big Brother seine Wange hinunter. NINETEEN EIGHTY-FOUR durchziehen Einschübe von Fernsehübertragungen, die Angeklagte zeigen, wie sie sich aller möglicher Taten bezichtigen. Orwell spielt hier selbstverständlich auf die Schauprozesse während des Stalinismus an. Sein Roman ist zur Referenz vieler Diskussionen über die Möglichkeit des Umschreibens von Geschichte geworden. Die Frage danach stellt sich auf zwei parallelen Ebenen: Zum einen wurden in einem umfassenden Maße historische Indizes gefälscht, zerstört und erfundene erstellt, so dass der Wirklichkeitsbezug der Archive problematisch wurde und neu bestimmt werden musste. Übertragen auf die Ebene des individuellen Gedächtnisses und der Individualität des Einzelnen stellte sich die Frage nach der Manipulierbarkeit seines Wissens, Denkens und Fühlens. Das Oxford English Dictionary listet einen Artikel aus dem Manchester Guardian vom Januar 1950 als ersten Beleg für die Verwendung des Verbes brainwash auf und den Oktober des folgenden Jahres für die Verwendung des nominalisierten Ausdrucks brainwashing in einem Artikel von E. Hunter über politische Repression in China. Verbunden waren diese beiden Ebenen allerdings in der Frage der massenmedialen Einbindung von Individuen in öffentlichen Inszenierungen der Darstellung von Geschichte, sei es in öffentlichen Versammlungen, sei es im privaten Kontext durch Hörfunk und das entstehende Fernsehen. Verbunden war dies schließlich auch mit der Frage der Wirkung von politischer Repression und von Überwachungsapparaten, deren sich abzeichnende technische Entwicklung Orwell mit erstaunlicher Präzision antizipiert hat. Der zweite Zusammenhang, den schon Orwell deutlich reflektiert, geht über die Frage der Manipulierbarkeit hinaus. Raum 101 ist auch ein Ort des Experiments zu den Grenzen des Menschen, dazu, was man mit einem

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Menschen machen, wie man ihn nachhaltig traumatisieren, wie man ihn seiner Differenz und Eigenheit berauben kann. Auch wenn die praktische Aufhebung der Verweisungsfunktion von Sprache und die Zerstörung der personalen Differenz zwei historisch miteinander verwobene Strategien sind, so ergaben sich zwischen Stalinismus und Faschismus doch, entsprechend den unterschiedlichen Weisen der Legitimierung von Macht und Gewalt, gewisse Differenzen in Bezug auf die innere Logik von Folter und Repression. Für den Stalinismus war es wichtig, zumindest als Nebenprodukt der Repression so etwas wie eine Einsicht der Opfer in ihr eigenes „Vergehen“ ausstellen zu können. Das öffentliche Geständnis erlaubte es ihm, sich selbst als expansive Kraft und objektive Wahrheit der Geschichte darzustellen. Noch 1970 kehrt dies in Costa-Gavras’ Film L’AVEU über den Schauprozess gegen den ehemaligen tschechoslowakischen Vizeaußenminister Artur London in Prag 1952 wieder, für den Jorge Semprún das Drehbuch schrieb. Doch ist davon auszugehen, dass auch weniger prominente Gefangene diesem Geständniszwang unterworfen wurden. Beispielhaft ist dies etwa in DIE ZELLE (1972) zu sehen, dem einzigen Spielfilm, den der deutsche Schriftsteller Horst Bienek nach einer eigenen Romanvorlage realisierte. Bienek war 1951 vom Staatssicherheitsdienst der DDR festgenommen worden und saß im Potsdamer Untersuchungsgefängnis ein, bevor er zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und bis 1955 ins sowjetische Straflager Workuta deportiert wurde (vgl. Görling 2012). Ein anderes Beispiel ist der polnische Film PRZESŁUCHANIE (Verhör), den Ryszard Bugajski 1982 drehen, der aber erst 1990 offiziell auf den Filmfestspielen in Cannes gezeigt werden konnte. PRZESŁUCHANIE ist nicht nur ein höchst intensiver Spielfilm, er ist auch Ausdruck eines Zwischenraums, Dokument einer Situation, in der alle an der Herstellung des Films Beteiligten wohl wussten, dass sich für eine wahrscheinlich kurze Zeit ein Fenster aufgetan hatte, in dem es möglich geworden war, im immer noch fortbestehenden Herrschaftssystem des kommunistischen Staatsapparates in Polen einen Film über die Folter zur Zeit Stalins zu drehen. Im August 1980 war es auf der Danziger Werft und in anderen Städten Polens zu Streiks gekommen. Aus ihnen bildete sich die Gewerkschaftsbewegung Solidarność, in der sich eine Opposition gegen das Regime organisieren konnte. Ryszard Bugajski arbeitete in dieser Zeit im polnischen Filmstudio Zespol Filmowy ‚X’, in dem 1981 Andrzej Wajda seinen Film CZŁOWIEK Z ŻELAZA (Mann aus Eisen) über die Entstehung der Solidarność drehte.

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Bugajski gelang es, die Finanzierung für seinen Film von den staatlichen Behörden zu erhalten. Doch der politische Spielraum verengte sich zusehends. Im Oktober 1981 bestimmte das Zentralkomitee der Polnischen Vereinten Arbeiterpartei General Wojciech Jaruzelski zum Parteichef, die Möglichkeit der Ausrufung des Kriegsrechts wurde damit zur unmittelbaren Bedrohung. Als dies dann am 13. Dezember tatsächlich geschah, waren die Dreharbeiten für PRZESŁUCHANIE glücklicherweise beendet. Bugajski versteckte das Filmmaterial zunächst, um es vor der Vernichtung zu schützen, konnte aber den Schnitt dann im darauf folgenden Jahr beenden. Der Film wurde in Polen verboten. Bugajski gelang es aber, eine Videokopie ins Ausland zu schmuggeln, die dann auch im polnischen Untergrund Verbreitung fand. Das Wissen um diese Umstände macht es leichter, die Intensität des Films zu verstehen, und auch die Widerstandskraft, welche er vor allem durch das Spiel von Krystyna Janda erhält, die in der Rolle der Tonia Dziwisz den Film trägt und für diese schauspielerische Leistung in Cannes 1990 auch mit der Goldenen Palme geehrt wurde. Tonia gerät in die Fänge des staatlichen Repressionsapparates, weil sie durch eine Jahre zurückliegende Beziehung zu einem Mann auffällig geworden ist, der wiederum als Verdächtiger verhaftet und, wie gegen Ende des Films erwähnt wird, auch schon längst hingerichtet worden ist. Im Zentrum des Films steht eine Gruppe von Frauen, die in einer engen Zelle eingeschlossen sind: eine Bäuerin, die sich der Enteignung ihres Landes zur Wehr gesetzt hatte; eine Arbeiterin, die als tief überzeugte Kommunistin unschuldig einsitzt und doch diesen Irrtum als notwendige Ungerechtigkeit auf dem von Feinden bedrohten Weg in die neue Gesellschaft auf sich nimmt; eine weitere Frau, die schon in der Zelle ist, als Tonia dort eingesperrt wird, sichtlich traumatisiert, deren Leid sich mimisch und gestisch transportiert und zu der Tonia eine zärtliche Beziehung entwickelt; und neben weiteren eben Tonia, die als Sängerin in einem Nachtlokal arbeitete, bevor sie vom Staatssicherheitsdienst gefangen genommen und ohne Anklage noch überhaupt Angabe über den Grund der Festnahme über Wochen, Monate und schließlich Jahre festgehalten wird. Demütigungen, Schläge, Tritte, sexuelle Gewalt sind an der Tagesordnung, das Beiwohnen bei vorgetäuschten Erschießungen, die Androhung der Hinrichtung, dann das wiederholte Aussetzen einem starken und kalten Wasserstrahl und das Einsperren in einen Raum, der voller Wasser läuft, bis sie fast ertrinkt: das sind unter anderem die Formen der

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Misshandlung, denen Tonia ausgesetzt wird. Und eben die ausgiebigen, erniedrigenden Verhöre zu allen Tages- und Nachtzeiten. Zwei Täter haben diese Aufgabe übernommen: Major Zawada (Janusz Gajos), dessen Verhalten die breite Palette von Empathie, vorgetäuschtem Mitgefühl und sadistischer Brutalität umfasst, und der jüngere Lieutenant Morawski (Adam Ferency), der eine Zuneigung zu Tonia entwickelt und eines Abends zu Weihnachten auch Tonias Abhängigkeit ausnutzt und mit ihr schläft. Das gemeinsame Kind, das in dieser Nacht gezeugt wird, kommt in ein Waisenhaus, Morawski gelingt es nicht, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Nach der Nachricht von Stalins Tod nimmt er sich das Leben.

Abbildung: Krystyna Janda in PRZESŁUCHANIE von Rsyzard Bugajski

Es gibt einen bemerkenswerten Dialog zwischen Tonia und Morawski zu Beginn des letzten Drittels des Films. Während eines Verhörs, bei dem Morawski Tonia dazu bringen möchte, ein Geständnis zu unterschreiben, besteht sie darauf, dass es Menschen gebe, die keinen Verrat begingen, ihr Ehemann gehöre dazu (01:15:05). Morawski hält ihr daraufhin vor, dass sie noch immer sehr naiv sei. Es gäbe nicht so etwas wie absolute Ehrhaftigkeit. „In Auschwitz, what was honesty for one was utter betrayal for another. People are capable of doing much worse things than you think. Everyone, without exception“, lautet in der englischen Untertitelung seine Erläuterung. Tonia fährt mit einer Frage fort: „Were you afraid?” – „Yes I was then. I was afraid.” – „I’m also afraid.” – „What of? Death?” –„No. Loneliness.” Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Das Kind wird Tonia weggenommen, als es etwa ein dreiviertel Jahr alt ist. Auch dies ist zweifellos eine Methode der Folter. Frauen, die als Mütter

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den Holocaust überlebt haben, sind oft von diesem tief traumatischen Ereignis gezeichnet. PRZESŁUCHANIE lässt am Ende eine Hoffnung: Tonia kommt frei. Sie geht in das Waisenhaus, in dem sich ihre Tochter befindet. Diese erkennt ihre Mutter nicht, aber das schließt ja nicht aus, dass die beiden wieder eine Beziehung aufbauen könnten. Der Film endet damit, dass beide die Treppe zu einer Wohnung hochgehen, in der ein Mann wohnt, der das Kind im Waisenhaus öfter besucht hat, unter der Vorgabe, dass er sein Vater sei. Seine Identität bleibt ungenannt. Die Beschreibung, welche die Erzieherin im Waisenhaus gegeben hatte, könnte aber auf Tonias Ehemann zutreffen, der sie ein einziges Mal besuchen konnte und ihr dabei eröffnet hatte, dass er sie verlassen und die Scheidung einreichen werde. Es bleibt dabei der Eindruck, dass er diesen Verrat, als welchen ihn der Zuschauer wohl verstehen muss, nicht gern begangen hat, ja dass es, im Sinne der Unterscheidung von Orwell, ein Geständnis, nicht aber ein Verrat war. Darin, so kann man den Film verstehen, vor allem aber in Tonias Kraft, der Gewalt zu widerstehen und das incommunicado zu wahren, ist dieser Film auch ein beeindruckendes historisches Dokument einer Situation, in der sich die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen aus dem System der Kontrolle zu lösen begonnen hatten.

S ALÒ – P ASOLINIS A NALYSE

DES

S ADISMUS

Der Faschismus war expansiv vor allem in einem territorialen Sinne. Das Tausendjährige Reich stellte die Zeit still: Es existiert schon, der Kommunismus dagegen ist ein immer kommender. Entsprechend dieser unterschiedlichen Zeitstruktur geht es im Stalinismus insbesondere um die Auslegung der Zeichen, während der Faschismus die Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung selbst fürchtet und eliminieren will. Da das Reich schon existiert, müssen die Zeichen gleichsam selbstredend sein. Jean-Luc Nancy hat dafür den treffenden Begriff der Überrepräsentation geprägt. Sie besteht „aus einer Repräsentation, deren Gegenstand, Intention oder Gedanke vollständig in der offenbarten Präsenz aufgeht.“ (Nancy 2006, 72) Was diese Ordnung der Überrepräsentation in Frage stelle könnte, muss ausgesondert, umerzogen oder vernichtet werden. Unter dieser Bedingung wird Folter immer zum Exzess der Grausamkeit, weil es der Körper des anderen selbst ist, der als Differenz getilgt und zum reinen Zeichen werden

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muss, genauer: zum selbstbezüglichen Index der Macht des Folterers. „Das Vernichtungslager ist die Bühne, wo sich die Überrepräsentation an der Vernichtung dessen, was in ihren Augen die Nicht-Darstellung ist, weidet.“ (73) Nancy deutet mit solchen Formulierungen den Genuss an, den dies verspricht. Unter der Tortur der Lager wird, so Nancy, der andere jeder eigenen Darstellungsmöglichkeit beraubt und damit nicht nur zu einem Objekt für ein Subjekt, sondern „zu einer weiteren, in sich eingemauerten Präsenz vor dem Henker.“ (81) Wie sehr dies ein von Sexualität durchzogener Akt ist, hat wohl niemand so konsequent vorgeführt wie Pier Paolo Pasolini in SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975). In Salò, dem Ort, an den Pasolini die Handlung aus de Sades Roman verlegt, war 1943/44 die Regierung der Italienischen Sozialrepublik beherbergt, eines Staates unter militärischer Protektion des Deutschen Reiches, den der als Staatschef Italiens abgesetzte, zunächst verhaftete, dann von der deutschen Armee gewaltsam wieder befreite Mussolini leitete. Über weite Strecken, vor allem zu Beginn seines Films, reinszeniert Pasolini das grausame Theater der Gewalt aus de Sades Roman, durch das sich die vier Herren des Anwesens, der Herzog von Blangis (Paolo Bonacelli), der Bischof (Giorgio Cataldi), der Magistrat (Umberto P. Quintavalle) und der Präsident (Aldo Valletti) sexuell erregen. Doch zunehmend nimmt der Film auch Elemente der Geschichte von Misshandlung, Folter, Verstümmelung und Ermordung in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern auf. Pasolini hatte die Berichte über diese von Deutschen begangenen Grausamkeiten intensiv studiert. Die irritierende Intensität des Films liegt vielleicht nicht allein in der Sexualisierung der Gewalt selbst, sondern in der analytischen Präzision, in der dem Zuschauer vorgeführt wird, wie die Körper der Opfer zum Zeichen in einer Aufführung werden, die sich von keiner Ikonizität mehr irritieren lässt. Hier gibt es kein Maß der Empfindlichkeit mehr, jede Autonomie des Bildes wird ebenso ausgelöscht wie die Autonomie der Körper der Opfer. „Alles, was maßlos ist, ist gut“, äußern die vier Herren bei der Unterzeichnung des Regelwerkes zu Beginn des Films (0:04:18) und lachen. Der Skandal von Pasolinis Film dürfte darin gelegen haben und immer noch liegen, dass dieser Mechanismus der Degradierung des Körpers zum reinen Index der Macht wohl den meisten Betrachtern nachvollziehbar ist, die eigenartig kühle sexuelle Erregung aber, die das bei den voyeuristischen Tätern provoziert und die sie auch, wie der Film in distanzierten Bildern zeigt, ausle-

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ben, für den Zuschauer als irritierender affektiver Übergriff erfahren wird und in ihrer mechanischen Kälte tief befremdet. Der Film führt darin vor, wie die Lösung der Sexualität von jeder erotischen Bindung diese Grausamkeit möglich macht und antreibt. Dies ist verstörend und schwer erträglich, macht es doch auch klar, dass diese vom Eros entbundene Sexualität einen guten Teil der Dynamik der Grausamkeit von Folterung bestimmt. In dieser wird die Unbestimmtheit der Erotik, die durch ihre Körperlichkeit gegeben ist und die sich semiotisch als Ikonizität beschreiben lässt, Objekt der Destruktion. Um die Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung tatsächlich ganz einzuziehen, muss eben das, was in seiner Eigenständigkeit an diese Differenz erinnert, der Körper in seiner Dimension als Ikon, zerstört werden. Damit fällt aber auch die Differenz zwischen Phantasie und Handlung aus. Es kommt zu einem Ausagieren der Phantasie, der Täter entledigt sich der Unbestimmtheit des Begehrens durch sexuelle Aufladung der Zerstörung des Objekts. Klaus Theweleit behauptet in einem Aufsatz zu SALÒ, dass dieser Film „einen äußersten Gegenpol zum tragischen Romantizismus von Roberto Rossellinis GERMANIA ANNO ZERO aus dem Trümmer-Berlin von 1946“ bilde (Theweleit 2003, 150). Doch selbst wenn man von der polemischen Spitze dieser Äußerung absieht, trifft diese Bemerkung nicht das Wesentliche. Beide Filme zeigen eine Situation der Entbindung. Rossellini konzentriert sich in seinem Film über das Nachkriegsdeutschland auf den Ausfall der Verbindlichkeit der Worte und Beziehungen, die soziale Entbindung der Sexualität deutet er allerdings auch unmissverständlich an. Er zeigt nicht, was in dem Haus geschieht, in das Lehrer Enning die jungen Knaben bringt, doch sein Versuch, seine lebende Beute gegenüber einem weiteren Herrn, zu dem Enning offensichtlich in Abhängigkeit steht, zu verheimlichen, lässt durchaus die Frage zu, ob in den Räumen dieses von den Bomben weitgehend verschonten gutbürgerlichen Wohnhauses nicht etwas geschieht, das den Inszenierungen der sich aristokratisch gebenden Herren in SALÒ nahe kommt. Der Griff, mit dem Enning den Arm und dann den Hals von Edmund umfasst, greift regelrecht auf den Zuschauer über. Er bleibt als Bedrohung ebenso im visuellen Gedächtnis wie die Einstellung, die ein junges Mädchen umgeben von einer Horde Jugendlicher in einem nächtlichen Kellerraum zeigt. Die soziale Entbindung der Sexualität, die Rossellini in diesen Bildern thematisiert, doch in seiner Handlungskonsequenz nur andeutet, buchstabiert Pasolinis Film als unmittelbare Herrschaft

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über den Körper der Opfer aus. Und vielleicht kann man sogar die Szene gegen Ende des Films, in der die Klavierspielerin (Sonia Saviange) in plötzlichem Entsetzen über das Geschehen aus dem Fenster springt, als eine direkte Hommage Pasolinis an Rossellinis Film verstehen. In SALÒ haben die Täter beim Betrachten der von ihnen inszenierten Grausamkeiten die Hand in der Hose. SALÒ ist – und es ist doch erstaunlich, dass sich Nancy in seinem zitierten Aufsatz auf viele Filme über den Nationalsozialismus bezieht, nicht aber auf diesen – eine filmische Analyse über den Mechanismus der Überrepräsentation, der der sexualisierten Gewalt des Faschismus zugrunde liegt. Hier gibt es eben gerade kein Als-Ob mehr. So theatral die Inszenierungen sind, sie sind gerade deshalb nicht Theater, weil sie jedes Element des Spiels auszulöschen versuchen. Der sexuelle Reiz des Sadismus unterscheidet sich hierin, folgt man Deleuze, deutlich von dem des Masochismus. Dieser hat „den Sadismus in einem Phantasma neutralisiert; er hat die Handlung durch die Phantasie ersetzt“ (Deleuze 1968, 255). Der Sadismus jedoch hat den Eros „entsexualisiert und abgetötet, um Thanatos zu resexualisieren.“ (267) Er wiederholt eben diesen Vorgang stets von neuem, er ist „die ausradierende Wiederholung, diejenige, die auslöscht und tötet.“ (261) Vielleicht ist ein weiterer Vergleich zu Rossellini noch zwingender. Wenn die schon angeführte Aussage Serge Daneys zutrifft, dass mit der Folterszene vor einem Dritten aus ROMA CITTÀ APERTA das moderne Kino beginnt, dann kann man vielleicht ergänzen, dass es mit eben einer solchen, noch viel ausgedehnteren in SALÒ zu Ende geht. Rossellini hatte den Dritten als Zeuge eingebunden und damit auch darauf gesetzt, dass die Zeugenschaft des Kinos eine Bindung von Gewalt ermöglicht. Pasolini führt uns vor, dass der Dritte zusehen und zugleich die Zeugenschaft verweigern kann. Einer der vier Herren blickt jeweils, auf einem erhöhten Stuhl sitzend, aus dem Fenster, ein Opernglas vor den Augen, während die anderen im Hof der Villa abwechselnd töten, verstümmeln, vergewaltigen und foltern. Ein Junge, der auch unter den Opfern hätte sein können, fummelt daneben am Schlitz seiner Hose. Zwei weitere tanzen zum Filmende einen langsamen Walzer. In diesem Sinne ist der Film die äußerste Probe auf die These Rossellinis, eine Probe, die bis an den Rand ihrer Widerlegung geht. Auf der Ebene der Narration gibt es in SALÒ keine Zeugenschaft, keine Bindung. Und doch ist der Film selbst reine Bindung. Er macht etwas sichtbar und öffentlich, was seine größte Wirkung darin hat, dass es gese-

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hen und zugleich verleugnet wird. Freud betont, „dass die Todestriebe im wesentlichen stumm sind und der Lärm des Lebens meist vom Eros ausgeht.“ (Freud 1923b, 275) Sicher denkt Freud vor allem an ein innerpsychisches Geschehen. Doch wenn es zutrifft, dass das Wirken der Todestriebe allein durch ihre Bindung an die Lebenstriebe begrenzt werden kann, dann ist es wichtig, dass es gerade solche Bilder gibt, die die Entbindung der Todestriebe sichtbar, ihr entbundenes Wirken hörbar werden lassen. In Pasolinis Film geschieht etwas, das die Literatur nicht in derselben Weise kann. Die Erzählungen aus de Sades Roman können, weil der Leser die Bilder selber produziert, viel eher in der Phantasie erotisch besetzt und gebunden werden. Die Direktheit der Bilder aus Pasolinis Film, so sehr sie auch vom modernistischen Interieur und dem bisweilen humoristischen Gestus der vier Libertins gerahmt sein mag, lässt sich nicht narrativieren, über SALÒ kann man nicht erzählend schreiben. Sie lässt uns ratlos zurück. Diese Ratlosigkeit entsteht aus der Konfrontation mit etwas, das schon sehr lange in der Welt ist und das wir wahrzunehmen uns verweigern, ja, das nur um so wirksamer ist, als es verschwiegen, als es nicht gesehen wird. SALÒ bietet keine Entlastung an, jeder Zuschauer bleibt in seiner Einsamkeit alleine. Es ist, als wisse Tonia in Bugajskis Film sehr genau, warum sie in dem Gespräch über Auschwitz nicht den Tod, sondern die Einsamkeit als das benennt, wovor sie sich fürchtet. In SALÒ gibt es keine Gemeinschaft, die das, was der Film zeigt, binden könnte. Wenn aus dem sadistischen Treiben erotische Beziehungen, Bindungen entwachsen, werden diese sofort verfolgt und die Opfer getötet. Es bleibt nur die Anstrengung jedes einzelnen Betrachters des Films, sich mit der Sexualisierung der Ausübung von Gewalt am Körper des anderen zu konfrontieren. SALÒ ist wie ein erratischer Block, der mit im Zentrum jeden Bemühens steht, über das Verhältnis von Folter und Film zu schreiben.

F IKTION , P HANTASIE , G EWALT SALÒ ist eine Fiktion, ein künstlerischer Film, keine Dokumentation und auch kein Snuff-Film. Was das Werk aber thematisiert, ist der Zusammenbruch der Differenz von Fiktion und Handlung. Zeichen und Körper fallen zusammen, die Phantasie wird ausagiert. Die vier Herren vergessen nicht einfach die Fiktionalität ihrer Inszenierungen, sie selbst schließen ja einen

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Vertrag dazu. Er schützt aber nur sie selbst vor den Folgen der Handlungen und verweigert allen, die sie in diese Inszenierung zwingen, die Möglichkeit, ihr subjektives Einverständnis zu erklären oder sich den Vorgaben zu verweigern und sich vor Verletzung und Verstümmelung zu schützen. Dass dies möglich ist, verdeutlicht, dass die Differenz zwischen der Vor- und Darstellung einer Handlung und der Handlung auf einer sozialen Bindung beruht. Sie entsteht nicht aus einer Rahmung oder Bühnenhaftigkeit, sondern aus einer intersubjektiven Übereinkunft, die auf gegenseitiger Anerkennung beruht. Sie bestimmt den Charakter der Rahmung, entscheidet, für wen das Gerüst Bühne und für wen es Schafott ist: Sam Durants Skulptur „Scaffold“, die 2012 während der dOCUMENTA (13) in den Kasseler Karlsauen gezeigt wurde, war ein beliebter Picknickort, obwohl sie maßstabsgerecht normierten US-amerikanischen Hinrichtungsstätten entsprach. Und so sind auch Theater und Kino nicht deshalb vor allem Darstellungen von Handlung, weil sie ästhetische Praktiken sind, sondern weil sie auf einer Übereinkunft des Spiels basieren. Durch den Vertrag reduzieren die vier Herren in SALÒ aber diese Übereinkunft in einer aristokratisch anmutenden Geste auf sich selbst. Wie lässt sich also überhaupt mit dem Problem der unsicheren Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Phantasie und Handlung umgehen? Den Folterungen, die durch die Fotografien aus Abu Ghraib dokumentiert sind und über die im vierten Kapitel noch näher zu sprechen sein wird, wurde immer wieder nachgesagt, dass sie Szenen aus den Romanen de Sades oder direkt aus SALÒ reinszenierten. Wie lässt sich über die Triftigkeit einer solche Annahme diskutieren? Greifen solche Szenen und Bilder Phantasmen auf und helfen durch ihre Veräußerung, sie nicht auszuagieren? Oder schaffen sie überhaupt erst solche Phantasien, die dann nach Verwirklichung zu drängen scheinen? Deleuze konzentriert seine Unterscheidung zwischen Sadismus und Masochismus auf die Anwesenheit des Spiels, des Als-Ob im Masochismus. Gegen das Ausagieren der Phantasie setzt Deleuze das Als-Ob der Inszenierung einer Inszenierung. Denn das ist Voraussetzung des Spiels: Es ist nie nur Spiel einer ersten Ebene, sondern immer ein zumindest doppeltes Spiel, weil es die Anerkennung der Autonomie des anderen immer voraussetzt. Es ist immer Darstellung von etwas und Darstellung der Anerkennung zugleich. Deleuze analysiert dies in „Logik des Sinns“ als eine dem Spiel eigene Zeitlichkeit, die im Paradox des Schauspielers zum Aus-

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druck kommt: Dieser befindet „sich immer in der Situation, eine Rolle zu spielen, die andere Rollen spielt.“ (Deleuze 1993,188) Damit entzieht sich das Spiel aber der Herrschaft der Zeit als Gegenwart, die über die Vergangenheit und die Zukunft bestimmt. Der Schauspieler werde „Schauspieler seiner eigenen Ereignisse“, was zu einer „Gegen-Verwirklichung“ (199) führe, zu einer contre-effectuation, wie es im Original heißt (Deleuze 1969, 176). Die Zukunft und die Vergangenheit jeden Ereignisses vervielfältigen sich, das Ereignis tritt ein in die Vielfältigkeit der Relationen, die es hervorgebracht hat, ja es tritt selbst zurück und lässt eine unbegrenzte Relationalität hervortreten. Im Sinne der chronologisch verstandenen Zeit befinden wir uns in einem Stillstand, es gibt keine Logik der kontinuierlichen Bewegung mehr. Im Als-Ob der Inszenierung einer Inszenierung realisiert sich eine Anerkennung des anderen, die sich nicht nur in der Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses und der damit verbundenen jederzeitigen Kündbarkeit, sondern auch in einer besonderen Verbindlichkeit äußert. Sie umfasst die Sorge um das Dritte, das Spiel, die intersubjektive Realität. Das kann sich etwa in der Beachtung von Spielregeln, es kann sich aber auch als eine besondere Verpflichtung gegenüber dem Inhalt des Spiels bemerkbar machen. Bruno Latour beschreibt dies als Eigenheit der Fiktion. Diese zählt für ihn zu einer von 15 Existenzweisen, modes of existence. Fiktionen zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie „false, unreliable, or imaginary“ seien (Latour 2013, 249). Im Gegenteil, Fiktionen verlangen so viel von uns und von denen, denen gegenüber wir die Verpflichtung haben, „to pass them along so they can prolong their existence. No other type of being imposes such fragility, such responsibility; no other is as eager to be able to continue to exist through the ‚we‘ whom they help to figure.“ Fiktion, so Latour, ist ubiquitär, nicht nur Kunst, auch Politik oder Religion wären ohne die Möglichkeit der Figuration nicht denkbar. In allen diesen Momenten scheint so etwas wie eine intersubjektive Verpflichtung zu bestehen, die Fiktion weiterzugeben: die Idee, die mit ihr verbunden ist, in ihrer Fragilität zu bewahren. Es gibt ein Wollen, das von der Fiktion auszugehen scheint, das uns selbst adressiert. Es gibt eine Verantwortung, die wir gegenüber der Fiktion empfinden, eben weil sie Fiktion ist, weil sie Ausdruck eines sozialen Vermögens ist. „Imagination is never the source but rather the receptacle of beings of fiction“, schreibt Latour (246). Don Juan oder Madame Bovary sind zwei

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Beispiele für solche Wesen der Fiktion, die Latour in seinem Text nennt: Sie haben etwas Einzigartiges, doch nie kämen wir auf den Gedanken, in einem Archiv nach der Geburtsurkunde von Madame Bovary zu suchen und werden sie auch nie finden (252). In einer vergleichbaren Weise gilt das für jedes Bild, jede Musik. Es geht also nicht um so etwas wie eine Personalisierung, sondern um eine doppelte Bewegung, in der es zugleich um eine Anerkennung des anderen im intersubjektiven Handeln und um eine Einzigartigkeit einer Konstellation geht, die in ihrer und durch ihre Komplexität singulär ist und sich nicht verallgemeinern, nicht vergleichen lässt, ob es sich nun um ein Madonnenbild von Giovanni Bellini, ein Gemälde von Jackson Pollack oder eine Jazzphrase von Miles Davis handelt. Einbildungskraft, das Vermögen der Phantasie, ist Rezeptakulum der Fiktion. Sie bietet einen Raum, in dem innere, mentale Bilder und äußere, zeichenhafte, mitteilbare Bilder sich vermengen. Doch beziehen diese Bilder ihre Potentialität im Sinne der Kraft und der Zukünftigkeit aus der sozialen Bindung, die sie überhaupt erst zu Bildern macht, zu etwas, das Muster und Bezüge im Chaos der Wirklichkeit herstellt. Das mag zum Teil erklären, warum jeder von uns eine andere, sich auch stets verändernde Idee von Don Juan oder Madame Bovary haben mag, wir aber immer wieder darüber sprechen können. Innere und äußere Bilder können in ganz unterschiedlicher Weise verschränkt, überlagert, gegenseitig durchdrungen und verkettet sein. Was aber vielleicht noch wichtiger ist, ist zu sehen, dass die inneren oder mentalen Bilder keine fixierten Grenzen zwischen dem eigenen und dem anderen kennen. Wir identifizieren uns nicht mit Don Juan oder Madame Bovary, aber sie sind dennoch zu einem inneren Bild geworden, das wir gar nicht von uns differenzieren müssen. Phantasien sind szenisch. Das verweist auch zurück auf den zweiten Zug der Fiktion. Die intersubjektive Anerkennung, die sie voraussetzt, beruht nicht auf einer Distanz. Anerkennung speist sich nicht allein aus der mit der Bejahung der Autonomie vollzogenen Differenz, sondern mindestens ebenso aus der Bejahung der Nähe, aus dem gemeinsamen Einverständnis darüber, dass wir den anderen ebenso brauchen wie er uns, dass beide aus einer Gemeinsamkeit hervorgehen, die als Szene erfahrbar ist. In „Ein Kind wird geschlagen“ hat Freud in exemplarischer Weise die vielschichtigen Überlagerungen, Überkreuzungen und Transpositionen von Subjektpositionen in Phantasien beschrieben (Freud 1919e). Auch für Freuds Analyse ist das Verständnis des szenischen Charakters der Phanta-

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sie zentral. Er erlaubt es, das eigene Involviertsein nicht mit einer Position fixieren zu müssen. Ein und dieselbe Phantasie kann sich in dem Satz „Der Vater schlägt das Kind“, in dem Satz „Ich werde vom Vater geschlagen“, in dem Satz „Ich werde von der Mutter geschlagen“ und schließlich in dem Satz „Der Lehrer schlägt ein Kind“ ausdrücken. Wohl beschreibt Freud in seiner Analyse die Wandlungsprozesse der Phantasie als aufeinanderfolgende Phasen, aber das schließt sowohl ein, dass die früheren Phasen auch in späteren wirksam sind, wie auch, dass eine frühere Phase zur bestimmenden werden kann oder durch eine spätere im Sinne der Nachträglichkeit einen neuen Sinn erhält. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis haben auch in Bezug auf diesen Text Freuds deutlich gemacht, dass die Phantasie „ein Szenarium mit vielfachen Auftritten ist, in dem nichts darüber Auskunft gibt, dass das Subjekt von Anfang an seinen Platz“ in einem bestimmten Ausdruck finden wird (Laplanche/Pontalis 1992, 50). Sie deuten auch an, dass Freuds Beharren darauf, die Urphantasie als das Entstehen des Vermögens nicht vom Tagtraum als Alltagsphantasie zu unterscheiden, als Hinweis zu verstehen ist, dass Phantasien nicht auf einen Ursprung zurückgehen, der sich in immer wieder neuen Masken artikuliert. Wenn der Ursprung der Phantasie die Phantasie selbst ist, bedeutet es, dass sich Phantasie als Bewegung der Differenz zwischen sich verändernden szenischen Konstellationen realisiert. Deleuze bringt es auf den Punkt, wenn er Phantasie als die Resonanz zwischen Reihen bezeichnet, die als szenische Erinnerung „in einem intersubjektiven Unbewussten koexistieren“ (Deleuze 1997, 163). Die Konsequenzen sind vielschichtig und ambivalent. Versteht man nämlich Phantasie als Resonanz zwischen zwei Reihen von szenischen Konstellationen, die, wie jede Resonanz, diese selbstverständlich auch kontinuierlich verändert, dann wird die kreative Kraft der Phantasie als immer wieder neue Produktion von Bildern und Szenen ebenso deutlich wie die Möglichkeit, in szenischen Konstellationen andere wiederhallen zu lassen, ohne dass dies vom Subjekt bemerkt werden muss. Und schließlich erlaubt es der szenische Charakter der Phantasie, die eigene Beteiligung an einem Handlungszusammenhang weitgehend zu verleugnen. Winnicott bringt das Phantasieren sogar regelmäßig mit Spaltungsvorgängen in Verbindung (Winnicott 1979, 37 f.). Da Phantasie jedes Handeln auch begleitet, ist es möglich, in Handlungen Phantasien einzuspeisen, die das Ich eigentlich nicht verantworten kann. Der szenische Charakter wiede-

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rum erlaubt es, sich in eine komplexe intersubjektive Konstellation einzufühlen, ohne einen Ort einnehmen und entsprechende Verantwortung übernehmen zu müssen. Der lateinamerikanische Analytiker Marcelo N. Viñar erklärt damit, wie es möglich ist, dass in Situationen der Gewaltausübung wie denen der Folterer die Täter oft ein hohes Vermögen der Einfühlung in die Psyche ihres Opfers und zugleich eine verantwortungslose Gleichgültigkeit für ihr Schicksal zeigen (Viñar 1997). Sie nehmen scheinbar die Rolle des Zuschauers ihrer eigenen Handlungen ein. Das ist keine Ästhetisierung von Gewalt, auch wenn das Aufgreifen von Bildern und Inszenierungen zur Erlangung dieser Position dienen kann, wie an den Fotografien aus Abu Ghraib und anderen Beispielen im vierten Kapitel noch näher zu diskutieren ist. Wenn Empathie auf der Ebene des Szenischen realisiert wird, kann sie als Phantasie gleichwohl vom Subjekt unverantwortet bleiben. Einfühlung oder Empathie und Mitgefühl oder compassion sind zwei verschiedene Vermögen. Da das Szenische keine festgelegten Subjektpositionen kennt, muss Empathie keineswegs ein Gefühl von Gemeinsamkeit und eine damit verbundene Anerkennung des anderen einschließen. Viele Modelle der Herausbildung von Empathie arbeiten mit der Vorstellung, soziale Kompetenzen würden ähnlich der Entwicklung einer Pflanze aufeinander aufbauen. Doch entstehen schon in einer frühen Entwicklungsphase die relationalen Gefüge nicht in eines aus dem anderen. Folgt man Daniel Stern, entwickeln sich etwa die intersubjektive Bezogenheit, die Kern-Bezogenheit und die verbale Bezogenheit teilweise parallel und relativ autonom (Stern 2007, 308). Sie eröffnen mithin auch verschiedene Potentiale, Verknüpfungen und Möglichkeiten der Isolierung. Stern ist entschieden der Ansicht, dass Phantasie als eine der Realität gegenübergestellte, sie verzerrende und abwehrende Vorstellung nicht in Erscheinung tritt, bevor „das symbolische Denken verfügbar ist“ (355). Er wendet sich auch gegen die Ansicht, dass das Lustprinzip dem Realitätsprinzip in der Entwicklung voranginge und Phantasie spezifischen Entwicklungsstufen zuzurechnen sei (vgl. 354). Phantasien sind demnach keineswegs schon immer im Dienste von Abwehrmechanismen, sie entsprechen vielmehr den interpersonellen Realitäten, in denen Säuglinge leben. Ihr szenischer Charakter ist mithin keine Entstellung, sondern entspricht ihrem Lebenszusammenhang. Insoweit alle Potentiale wie Schichten oder

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Reihen auch in späteren Lebensphasen wirksam bleiben, können Phantasien auch verschiedene Bezogenheiten artikulieren. Empathie und Grausamkeit sind deshalb auch keine notwendig gegeneinander gestellten Potentiale. Im Gegenteil scheint Grausamkeit ja gerade ein flexibles Wissen um die Differenz des anderen und dessen Offenheit, Verletzbarkeit und Angewiesenheit vorauszusetzen. Oftmals ist es wohl zutreffend, den Exzess als Abwehr der eigenen Betroffenheit und performative Herstellung von Ausschließung zu interpretieren. Nicht selten dürfte das in Resonanz zu anderen szenischen Konstellationen des Ausschlusses stehen. Wie Empathie auch in die Erfindung von Handlungen eingehen kann, welche um die Eingewobenheit des anderen in ein Milieu weiß und dies gezielt zur Zerstörung einsetzt, kann ich vielen Gewalthandlungen verfolgt werden, doch in keiner wohl so gezielt wie in der Folter. Dem Opfer sollen Raum, Halt und Kohärenz in der Willkür der Gewalt vollständig entzogen werden, zugleich wird es aller Objekte beraubt, die noch eine gewisse Verlässlichkeit bedeuten könnten (Trinkaus 2011). Und mehr noch: Die Bühne, auf der dem Opfer die eigene Ohnmacht vorgeführt wird, bricht als Ort intersubjektiver Versicherung und Anerkennung ein. Das Opfer wird gezielt in eine Situation gebracht, die einen Riss der räumlichen und zeitlichen Kontinuität seines Lebens bedeutet.

W AS W O (B ECKETT ) Zu den späten Arbeiten Samuel Becketts gehört eine Reihe von Stücken für das Fernsehen, die vom Süddeutschen Rundfunk produziert wurden. WAS WO ist das letzte von ihnen, im Juni 1985 wie die anderen auch unter Becketts eigener Regie produziert, sollte es die letzte vollendete Arbeit des irischen Schriftstellers werden. Man könnte sich kaum eine Thematisierung der Folter vorstellen, die im ästhetischen Sinne SALÒ ferner ist, ohne doch minder radikal zu sein. „Bam: Na. / Bom: Nichts. / Bam: Er hat nichts gesagt? / Bom: Nein. / Bam: Du hast ihn gut bearbeitet?/ Bom: Ja. / Bam: Und er hat es nicht gesagt? / Bom: Nein. / Bam: Er hat geweint? / Bom: Ja. / Bam: Geschrieen? / Bom: Ja. / Bam: Um Gnade gefleht? / Bom: Ja. / Bam: Aber er hat es nicht gesagt? / Bom: Nein. / Bam: Warum dann aufhören? / Bom: Er reagierte nicht mehr. / Bam: Und Du hast ihn nicht wie-

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derbelebt? / Bom: Ich habe es versucht. / Bam: Na und? / Bom: Ich konnte nicht. / Bam: Du lügst. Er hat es Dir gesagt. Gestehe, dass er es Dir gesagt hat. Man wird Dich bearbeiten, bis Du gestehst.“

Aus dem flimmernden Grauschwarz einer Fernsehröhre waren nacheinander die Konturen von fünf Gesichtern aufgetaucht, zuerst ein größeres auf der linken Hälfte des Bildschirms, die Augen geschlossen oder zumindest mit nach unten gesenktem Blick. Nach etwa 20 Sekunden bewegt sich der Mund: „Ich bin Bam. / Wir sind nur noch fünf. / Im Präsens, als wären wir noch. / Es ist Frühling. / Die Zeit vergeht. / Zuerst stumm. / Ich mache an.“ Ein zweites Gesicht taucht auf, kleiner, in der unteren Bildhälfte, heller und in den Konturen schärfer als das große Gesicht. Es hat die Augen nach vorn gerichtet, den Mund zu einem Ausdruck des Erstaunens oder Erschreckens geöffnet. Doch meint man in ihm dasselbe Gesicht wie das des Erzählers zu sehen. In ähnlicher Weise werden noch drei weitere Gesichter langsam eingeblendet und im Verlauf des Fernsehfilmes wieder aus- und verschiedentlich eingeblendet.

Abbildung: WAS WO von Samuel Beckett

Wie der Nachspann am Ende des Stückes zu erkennen gibt, haben wir es mit vier Schauspielern zu tun (Friedhelm Becker, Edwin Doner, Walter Laugwitz, Alfred Querbach). Wenn Bam aber zu Beginn sagt, sie seien nur noch fünf, zählt er sich doppelt: als Erzählender und als Person, über die erzählt wird. Er ist somit Überlieferer oder Zeuge eines Geschehens, das eigentlich sein eigenes Ende ein- und somit seine Überlieferung ausschloss. Vor dem Abspann wird er sagen: „Endlich erscheine ich. / Erscheine wie-

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der. / Gut. / Ich bin allein. / Im Präsens als wäre ich noch.“ Davor hat er sich selbst an dem beteiligt, was er angeordnet hat: die Folterung der anderen. Sie wiederholt sich, weil jeder, der einen anderen gefoltert hat, unter Verdacht steht, das vermeintlich erpresste Geständnis zu verheimlichen. Die vier Gesichter tauchen in der Szene auf und verschwinden, es gibt keine weiteren Informationen über die Personen. Ihre Namen sind Variationen einer Lautfolge, fast reine Wiederholung: Bam, Bom, Bim, Bem. Sie haben keine darüber hinausgehende Individualität. „Nichts“, antwortet Bom auf die erste Ansprache Bams, dessen „Na“. Über das Nichts lässt sich nichts sagen, auch wenn es eine Differenz ist. Das Nichts könnte eine Fülle sein, eine Fülle, aus der nichts Besonderes herausragt, es kann eine Leere sein, in der sich nichts findet oder in der alles gleichermaßen eingeschlossen ist. Es könnte aber auch ein anderes Nichts sein, eine Differenz, die eigentlich eine Anwesenheit ist, etwas, das da und doch nicht erkennbar, nicht beschreibbar, nicht sichtbar ist. Dem Wenden des Blicks, um sich zu vergewissern, dass da nichts ist, geht in der Regel die Sensation voraus, dass da etwas ist. Das „es“, nach dem Bam fragt, von dem er sicher ist, dass der Gefolterte es gesagt habe und von dem er nun glaubt, dass es der Folterer ihm verheimliche: es gehört dieser anderen Differenz an, einer Differenz, die einerseits immer da ist, die andererseits aber auch nicht sichtbar, beschreibbar ist. Es ist eine Differenz, die anwesend ist, aber keine Gegenständlichkeit besitzt. Was und Wo, die beiden Fragewörter, die Beckett als Titel des Stückes gewählt hat, sind ohne Fragezeichen angeführt. Es ist eine Differenz, die etwas mit dem incommunicado Winnicotts zu tun hat, die auch in der Idee des anderen angesprochen ist, über den Emmanuel Lévinas sagt, dass er dem Eigenen immer vorausgehe und nie einholbar ist. Die Dynamik des Stückes ist, dass eben dies nicht anerkannt, dass nach dem incommunicado gefragt wird, als sei es die Information über einen versteckten Goldschatz. Das Was Wo, weshalb hier gefoltert wird, ist aber kein Wissen, sondern ein Nichtwissen. Oder, mit einer Unterscheidung von Lévinas, es geht nicht um das Gesagte, die Aussage, sondern um das Sagen selbst, die Möglichkeit der Kommunikation (Lévinas 1992, 93 f.). Geständnis und Verrat, Indexikalität und Ikonizität, Wissen und Nichtwissen: mit ganz unterschiedlichen ästhetischen Verfahren bezeugen die hier angeführten Fiktionen über Folter ihre Unterscheidung. Zugleich, und das macht Becketts Stück mit der größten Nachdrücklichkeit deutlich, lassen sie sich nie ganz unterscheiden, ist in jedem Augenblick der Folter

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nicht nur das Geständnis, sondern auch der Verrat, nicht nur die Aussage, sondern auch das Sagen, nicht nur das Wissen, sondern auch das Nichtwissen gemeint. In keinem Augenblick lässt sich das eine vom anderen trennen, Kommunikation geht vom incommunicado aus. Es gibt keine halbe Folter, das ist die eine Konsequenz Becketts. Die andere aber ist, dass der Folternde selbst zum Gefolterten wird. Mit der Zerstörung der Differenz des anderen verletzt er auch die eigene, die Alterität des Selbst. Auch der Folterer wird der Folter unterzogen, er wird „bearbeitet“, getötet werden. Man könnte kaum knapper und direkter deutlich machen, dass sich eine Gesellschaft als Gemeinschaft von Subjekten durch die Folter, in der die Nichtanerkennung des anderen ihren letzten Ausdruck findet, selbst zerstört. Es gibt keinen Ort jenseits, der Ausschluss schließt sich selbst ein. Die Figur des Souveräns, so weit sie, folgt man Giorgio Agambens Ausführungen im Anschluss an Carl Schmitt (Agamben 2008, 25 ff.), sich darin gründet, dass sie sich das Recht nimmt, andere vom Recht auszuschließen, ist ein Trugschluss. Die Grenze des Außen, die der, der sich zum Herrn über andere aufzuwerfen können glaubt, mit diesem Akt zu etablieren scheint, ist nicht so sehr eine einschließende Ausgrenzung, wie Agamben schreibt, die der so geschaffene homogene Raum als sein anderes in sich trägt. Es ist vielmehr eine Zerstörung der eigenen Differenz, die selbst auf die Anerkennung durch den anderen angewiesen ist. In ihrer Grenzenlosigkeit persifliert die Geste des Souveräns nur die Figur des Schöpfers. Sie ist reine Ermüdung, um mit Deleuze zu sprechen, das Gegenteil von Erschöpfung (Deleuze 2008). In Becketts Arbeiten wird Folter vielfach problematisch. In „Play“, geschrieben 1962/63, erzählen aus Urnen entwachsende Gesichter abwechselnd Fragmente ihres Lebens, die Erfahrungen des Verhörs, des Schmerzes und der Folter artikulieren. Auch das 1982 geschriebene „Catastrophe“ inszeniert Elemente einer Folterszene, in der der Gefolterte stumm bleibt. In Mouth, 1972 entstanden, wird die gebrochene, eine Missbrauchserfahrung andeutende Erzählung von einer Frau gesprochen, deren Sichtbarkeit auf ihren Mund reduziert ist. In seinen intensiven Bewegungen wirkt der Mund ebenso fleischlich wie entpersonalisiert. „Rough for Radio II”, entstanden in den frühen 1960er Jahren, besteht ebenfalls aus einer Folterszene. Auch in anderen Stücken lassen Szenen an Folterungen denken. Beckett, der seit 1937 in Paris lebte, hatte sich 1940 der Résistance angeschlossen. Im Falle einer Gefangennahme von den deutschen Besatzern

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gefoltert zu werden, war etwas, mit dem jeder rechnen musste. In Becketts Stücken drückt sich aber auch eine Erinnerung an die Frage aus, wie die Résistance selbst mit Gefangenen umgehen sollte, die sie des Verrats verdächtigte. In „La douleur“ schreibt Marguerite Duras, die ebenfalls Mitglied der Résistance war, über die Folterung eines Mannes, der Informationen an die Deutschen gegeben haben soll und den die Gruppe allein aufgrund einer Aussage eines Genossen, ihn zu kennen, in den ersten Tagen nach der Befreiung von Paris unter der Leitung der Erzählerin misshandelt. „Thérèse, c’est moi. Celle qui torture le donneur, c’est moi ... Je vous donne celle qui torture avec le reste des textes. Apprendez à lire : ce sont des textes sacrés“, schreibt Duras in einer Vorbemerkung (Duras 1985, 138). Donneur war eine damals geläufige umgangssprachliche Bezeichnung für einen Denunzianten. Duras benutzt ausschließlich dieses Wort in ihrer sich über fast 30 Druckseiten erstreckenden Erzählung, obwohl es mit den Begriffen délateur und dénunciateur mindestens zwei weitere Ausdrucksmöglichkeiten gegeben hätte. Wenn sie selbst die Veröffentlichung dieses auf damaligen Tagebuchaufzeichnungen beruhenden Textes als ein Geben bezeichnet, stellt sie diesen Text auf eine Stufe mit dem älteren Mann, der nackt vor ihnen steht und den zwei Genossen auf ihre Befehle hin mit ihren Fäusten schlagen, an den Kopf, in den Magen, in die Hoden. „Faut plus s’arrêter. Il le dira“, schreit Thérèse den Schlagenden zu (164). Man darf nicht aufhören, man muss weitermachen, bis er gesteht: Es ist dieselbe Formel wie in Becketts Stück. Wenn dieser Text für Duras zugleich heilig ist, dann ist es auch der Gefolterte. Heilig sind beide im Hinblick auf die Gabe. Doch was ist sie, wo ist sie? „Travail de défoncement. Coup par coup. Il faut tenir, tenir. Et tout à l’heure sortira, sortira toute petite, sortira dure comme un grain la vérité.“ (162) Doch was ist die Wahrheit anderes als das Nichtwissen, ja das Nichts. „Il a avoué,“ heißt es am Ende. Aber was hat er gestanden? Das Korn Wahrheit, das man herauszuschlagen glaubte, besteht in nichts anderem als der Ungewissheit, ob er gestanden hat, damit die Folter aufhört, oder ob er tatsächlich ein Kollaborateur war. Die Gabe ist nicht das Wissen, sondern das Nichtwissen. Dieses gibt Duras mit ihrem Geständnis weiter. Am Ende der Erzählung plädiert Thérèse erschöpft dafür, den Beschuldigten laufen zu lassen. Selbst wenn sie das Geständnis glaubt, genauer, wenn sie glaubt, mit Prügel Wort und Wirklichkeit verschweißt zu haben, so ist damit ja noch nicht gesetzt, was es bedeuten kann. Es gibt keine Ge-

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walt, die diese Differenz vernichten kann. Das Nichtwissen ist Gabe, weil es einen Spielraum öffnet, zeitlich ebenso wie räumlich, einen Spielraum zwischen Ikon und Index, zwischen Spur und Lektüre, zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Vorführung einer Handlung und Handlung. Becketts WAS WO rahmt sich mehrfach als Spiel: durch das Schwarzbild, aus dem das erste Gesicht erscheint; durch das Rauschen der leeren Atmosphäre, bevor Bam spricht; durch Bams Einsatz: „Ich bin Bam. Wir sind nur noch fünf. Im Präsenz, als wären wir noch. Es ist Frühling. Die Zeit vergeht. Zuerst stumm. Ich mache an.“ Und ebenso am Ende: „Die Zeit vergeht. Das ist alles. Verstehe wer kann. Ich mache aus.“

3 BILDER WIE GESTÄNDNISSE

LA

JETÉE

(M ARKER )

Die Gefangenen eines Lagers werden einer schmerzhaften Behandlung mit pharmazeutischen Wirkstoffen ausgesetzt, um sie als Emissäre in die Zeit zu schicken, in die Vergangenheit ebenso wie in die Zukunft. Die Ergebnisse der Experimente sind enttäuschend für die einen, sie bedeuten den Tod oder Wahnsinn für die anderen. Die Deutsch sprechenden Wissenschaftler wirken in den Kellern des Palais de Chaillot, des für die Weltausstellung 1937 in Paris errichteten Palastes, der seitdem das Musée de l’Homme beherbergt und wo sich bis 2005 auch die Cinémathèque befand. Nach dem Dritten Weltkrieg ist Paris weitgehend zerstört und, wie der größte Teil der Erdoberfläche, radioaktiv verseucht, wie der Erzähler mitteilt, während Fotografien zerstörter Häuser zu sehen sind, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern. In der Kontinuität der Zeit lassen sich keine Überlebensperspektiven mehr begründen. Mittels der Experimente erhoffen sich jedoch die Lagerleitung und die Wissenschaftler, ein Loch in der Zeit zu finden, das es erlaubt, Nahrungsmittel, Arznei oder Energiequellen zu erhalten. Nach vergeblichen Versuchen, leblose oder Körper ohne Bewusstsein durch die Zeit zu schicken, kommen die Wissenschaftler auf den Gedanken, es mit jemandem zu versuchen, der besonders starke mentale Bilder hat. Wenn jemand fähig ist, eine andere Zeit zu träumen, dann ist er vielleicht auch fähig, in ihr zu leben. Das ist das Szenario, in dem Chris Marker 1962 seinen fast vollständig aus Standbildern montierten Filmessay LA JETÉE situiert. „La police du camp épiait jusqu’aux rêves.“ Und weil sie entdecken, dass ein Mann (Davos Hanich) in seinen Träumen an ein immer wiederkehrendes Bild einer

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Frau (Hélène Chatelain) fixiert ist, wählen sie ihn aus, um herauszubekommen, ob es auf diese Weise möglich ist, in eine andere Zeit zu reisen und lebend aus ihr wieder zurückzukommen. Das Bild des Gesichts der Frau, so hören wir vom Erzähler, sei das einzige Bild des Friedens, das den Krieg überlebt habe. Es geht zurück auf einen sonntäglichen Ausflug, den der Mann als Kind mit seinen Eltern auf die Aussichtsterrasse des Flughafens Orly unternommen hat. Doch das Bild ist verknüpft mit einer „scène qui le troubla par sa violence, et dont il ne devait comprendre que beaucoup plus tard la signification.“ Das Bild habe einen Augenblick der Süße geschaffen gegen den Augenblick des Wahns „avec ce bruit soudain, le geste de la femme, ce corps qui bascule, les clameurs des gens sur la jetée, brouillés par la peur.“ Nichts unterscheide Erinnerungen von anderen Augenblicken, sagt der Erzähler, erst viel später geben sie sich zu erkennen, „à leurs cicatrices.“ Erinnerungen unterbrechen den Fluss der Zeit, spalten ihn auf, verwunden. Erinnerungen unterscheiden sich von anderen Augenblicken darin, dass sie uns in der Zukunft auf unsere Sterblichkeit hingewiesen werden haben: „Plus tard, il comprit qu’il avait vu la mort d’un homme.“ Man beginnt mit dem Experiment: „Le sujet ne meurt pas, ne délire pas. Il souffre.“ Bilder zeigen den sich unter dem Schmerz verkrampfenden Körper des Mannes und sein verzerrte Gesicht. „On continue. Au dixième jour d’expérience, des image commencent á sourdre, comme des aveux. Un matin du temps de paix. Une chambre du temps de paix, une vraie chambre. De vrais enfants. De vrais oiseaux. De vrais chats. De vrais tombes.“

Parallel zum Kommentar tauchen die Bilder jeweils aus Schwarzfilm auf der Leinwand auf: eine hügelige Landschaft mit grasenden Ziegen und Pferden; ein Zimmer mit einem Bett, einem Tisch, auf dem eine Petroleumlampe steht, und einem Blick auf ein Fenster, das auf andere Häuser zeigt; ein mit einer Telelinse gemachtes Porträt eines Mädchens, das etwas außerhalb des Bildes Liegendes zu betrachten scheint; Tauben, auffliegend von einem Brunnenrand; zwei Katzen auf einem Bett mit gestreifter Decke; ein Friedhof. Die Bilder tauchen aus der Geborgenheit des Dunkels auf: „comme des aveux“, wie Geständnisse. Dieser Kommentar verschiebt den visuellen Eindruck noch etwas: Es sind Bilder, die nicht nur in der Erinnerung geborgen, es sind Bilder, die auch verborgen sind. In einer schmerzhaften Misshandlung durch Drogen werden sie für die Wissenschaftler

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sichtbar gemacht. Ein Geständnis bedeutet immer, dass etwas, das sich im eigenen oder Privaten befindet, ein Bild oder ein Gedanke, in einen verallgemeinernden Zusammenhang gebracht und für andere wahrnehmbar wird. Es wird dadurch verändert, einer ihm zumindest zunächst fremden Logik ausgesetzt und in diesem Sinne auch enteignet. Warum ergänzt der Erzähler, dass es sich um ein wahres Zimmer handle? Ist es wahr in dem Sinne, dass es Erinnerungen an etwas von der gefolterten Versuchsperson selbst Gesehenes sind? Erinnerungen an eine Kindheit auf dem Lande? Aber spätestens mit dem Bild der auffliegenden Vögel wird klar, dass etwas anderes gemeint sein muss: Diese Fotografie fixiert mit kurzer Belichtungszeit die Bewegung der Vögel und hätte so ohne Hilfe einer technischen Apparatur gar nicht wahrgenommen werden können. Wenn dies ein Bild der Erinnerung ist, dann ist es die Erinnerung an eine Fotografie. Was aber bedeutet dann die Betonung, dass es sich um wahre Vögel handelt, um wahre Kinder, wahre Katzen, wahre Gräber? Warum geht der Kommentar von dem Singular des einen Zimmers über zum allgemeinen Plural der Kinder, wenn nur ein Kind zu sehen ist?

Abbildung: LA JETÉE von Chris Marker

Schon dieser frühe Essayfilm Markers, ein „photo-roman“, wie es im Vorspann heißt, verweist auf die Differenz von Bild und Sprache und gewinnt aus ihr auch ein ästhetisches Verfahren. Wenn wir die Fotografie einer uns unbekannten Person betrachten, dann sehen wir einen Menschen mit einem je einzigartigen Gesicht. Wir sind oft fähig, diesen Menschen unter vielen anderen wiederzuerkennen, wenn er uns erneut begegnet. Etwas Vergleichbares lässt sich aber auch von Bildern anderer Lebewesen und sogar von

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Dingen sagen. Wir können nicht immer mit Sicherheit beurteilen, ob wir ein Bild, sei es ein Gemälde, sei es eine Fotografie, schon gesehen haben. In gewissem Sinne haben wir jedes Bild schon gesehen, weil es, sobald wir es mit Bewusstsein als Bild betrachten, schon vergangen ist: Wahrnehmung ist selbst ein zeitlicher Prozess. Und niemals lässt sich von einem Eindruck mit Sicherheit sagen, ob das Vergangene gerade erst vorbei ist oder schon Jahre zurückliegt. Bilder der Erinnerung und Bilder der Gegenwart überlagern sich und interferieren, doch sind wir uns der Singularität eines Gesichtes und vieler anderer Ausdrücke sicher. Es spaltet sich also schon unmittelbar im Anschluss an die Wahrnehmung die Zeit auf in den Augenblick der Wahrnehmung selbst und in die Erinnerung, die dieses Bild in einen Kontext bringt, bewertet, vergleicht. Das Bild ist also Wahrnehmung und Verweis auf etwas Allgemeineres, darauf zum Beispiel, dass es ein Kind und keinen Erwachsenen zeigt, also jemanden, der immer auch schon Teil einer Gruppe oder Gattung ist. Das Bild besitzt also zwei Ebenen, die selbständig sind, aber kaum je ganz getrennt existieren und sich in einem Verhältnis der Interferenz befinden. Zum einen ist das Bild immer Ikon, einzigartig, sich der Kategorisierung entziehend, zum anderen ist es Index, verweisend darauf, dass wir es mit einem Bild zu tun haben, das etwas zeigt, das mit anderen Dingen und Gedanken in einer Relation der Wiederholung, also der Ähnlichkeit und der Differenz steht. Nun bringt auch Sprache eine solche Interferenz ins Spiel, sie ist jedoch etwas anders gelagert, da das Wort eine dominante Dimension der Verallgemeinerung und eine eher versteckte Dimension der Einzigartigkeit aufweist. Die Interferenz wird etwa sichtbar darin, dass das Wort unvorhergesehene Relationen eingehen kann, die sich dadurch auszeichnen, dass sie, wenn nicht einzigartig in ihrer Erscheinung, so doch nicht vollständig übersetzbar oder diskursiv verallgemeinerbar sind. So etwas geschieht verstärkt im poetischen Gebrauch der Sprache, ohne diese stete Relation zwischen dem Singulären und dem Verallgemeinerten wäre aber Kommunikation gar nicht denkbar. In Filmpassagen wie diesen in LA JETÉE verstärken sich die Interferenzen im Bild und in der Sprache, indem das je Einzigartige und das Vergleichbare ständig neu aufeinander bezogen werden. Doch gibt es auch Bilder, die in diesem Verhältnis den Worten ähnlich sind und ihre Bedeutung durch die Beziehung zu anderen Bildern und den Kontext ihres Gebrauchs erhalten. Das geschieht sicher bei sehr abstrakten Zeichen, es ist aber auch schon bei Skizzen oder Schattenrissen der Fall.

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Auch ist Sprache immer insoweit Bild, als keine Bedeutung sich ohne Gedächtnis einstellt. Das Gedächtnis ist kein Archiv, es arbeitet über Verkettungen und Verknüpfungen. Es gibt keinen je feststehenden Sinn, da jedes Lesen eines Zeichens, sei es akustisch oder visuell, wohl ein Abgleich mit korrespondierenden Mustern im Gedächtnis voraussetzt, aber eben diese Muster nicht etwas Feststehendes sind, sondern im Sinne des Prinzips der Plastizität sich in ihrer eigenen Verwirklichung stets selbst verändern. Und sie sind einzigartig, in jedem Augenblick anders, einzigartig, individuell und allgemein zugleich. Vielleicht ist das, was unsere Hand vollzieht, wenn sie eine Unterschrift vollführt, ein gutes Beispiel für eine solche Plastizität des Lebens: Jede Unterschrift ist anders, aber sie ist zugleich einer Person zuschreibbar, und das sogar bei einer über die Geschichte eines Lebens sich verändernden Schrift, und sie ist Teil eines allgemeinen Zeichensystems. Unsere Unterschrift ist ein äußeres Beispiel für das Lesen-Schreiben, das jeder Zeichenprozess vollführt. Bilder „comme des aveux“: Wenn man ein Geständnis ablegt, dann verbindet man nicht nur eine Erinnerung mit einer Gegenwart, man verbindet auch mindestens zwei Modi der Zeit miteinander: eine Zeit, in der die Erinnerung vorhanden ist, durchaus sogar als ein Wissen, und eine Zeit, in der dieses Wissen Teil eines sozialen oder politischen Zusammenhangs wird, eine Zeit, in der dieses Wissen in einen neuen Kontext integriert wird und in diesem auch Konsequenzen zeigt. Die erste Reihe der Zeit ist eine Zeit der Latenz, die zweite eine Zeit der Aktualisierung. Sicher lassen sich beide Reihen nicht voneinander isoliert denken, doch bleiben sie trotz ihrer Bezogenheit auch unabhängig. Es besteht durchaus eine Analogie zu dem, was wir als Differenz und Interferenz zwischen der Erstheit des Ikons und der Zweitheit des Indexes bei Peirce analysiert fanden. Zumindest im Falle der traumatischen Erinnerung aber scheint auch ein deutlicher Unterschied zu bestehen. Die traumatische Erinnerung ist selbst mit einer Narbe gezeichnet, sie hat eine Dimension des Verweises in sich, die aktiv ist, die gleichsam zur Indexikalität hin drängt. Mit anderen Worten: Sie ist eine Erstheit, die danach drängt, in einen intersubjektiven Zusammenhang einzugehen, in einen Kontext aufgenommen und gebunden zu werden. Allerdings muss man sehen, dass ja schon die Erinnerung selbst eine Bindung darstellt. Es gibt „ein Band zwischen Eros und Mnemosyne“, schreibt Deleuze (Deleuze 1997, 137). Deleuze unterscheidet nicht nur zwei, sondern drei Modi oder Synthesen der Zeit. Die erste ist der „gelebte

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Augenblick, die lebendige Gegenwart“ (100): Kontraktionen, die aber kein Gedächtnis sind, sondern eine Leistung der Einbildungskraft, die Elemente und Erschütterungen zu homogenen Augenblicken verbindet und „zu einem qualitativen inneren Eindruck mit einem gewissen Gewicht“ verschmilzt (99). Diese Synthese ist zwar konstitutiv, doch darum nicht schon aktiv. Die zweite Synthese der Zeit ist die reine Vergangenheit. Auch sie ist passiv: „Besetzungen, Bindungen oder Integrationen“ (130), die das Es „mit lokalen Ichs“ bevölkern und „die dem Es eigene Zeit konstituieren.“ (131) Zur dieser zweiten Synthese gehört das Band zwischen Eros und Mnemosyne. Die dritte Synthese ist im wesentlichen Zäsur (122), leere und reine Form, statisch, weil sie nicht mehr der Bewegung untergeordnet ist, sondern „ein und für allemal festgelegte Vorher und Nachher […], die den Riss im Ego ausmachen (die Zäsur ist genau der Ursprungsort des Risses).“ (122) Auch diese drei Synthesen wirken nicht einzeln, sie interferieren. Schon in der Eingangspassage von LA JETÉE scheinen sie alle drei angesprochen zu sein: Die Sensationen des Lärms, die Geste der Frau, das Fallen des Körpers, die Rufe gehören wesentlich der ersten Synthese an, die Erinnerung an das Gesicht der Frau wesentlich der zweiten, die Narbe, die diesen Augenblick von anderen wird unterscheiden lassen, der dritten: Zäsur, Riss, Trauma. Diese dritte Synthese legt ein für allemal ein Vorher und ein Nachher fest. „Quelquefois, il retrouve un jour de bonheur, mais différent, un visage de bonheur, mais différent. Des ruines. Une fille qui pourrait être celle qu’il cherche. Il la croise sur la jetée. D’ une voiture, il la voit sourire. D’autres images se présentent, se mêlent, dans un musée qui est peut être celui de sa mémoire.“

Am 16. Tag taucht kurz das Bild auf, das die Wissenschaftler wohl schon aus den Träumen des Mannes kennen: Das Bild der Frau am Rande der Aussichtsterrasse des Flughafens Orly. Ein Tag des Glücks, aber anders, ein Gesicht des Glücks, aber anders: Hier benennt der Erzähler direkt die Differenz zwischen dem Singulären und dem Verallgemeinerten, die er nicht anders denn als Differenz bezeichnen kann. Wir sehen parallel zum Erzähler einen ruhigen See mit einem an einem Steg befestigten Ruderboot und dann das Porträt einer Frau, die direkt in die Kamera blickt. Für wen ist es ein Tag, ein Gesicht des Glücks? Das Porträt dieses Gesichts wird, wie das des Kindes zuvor, nicht wiederholt. Ist es ein Gesicht des Glücks für

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den unter Drogen die Bilder Träumenden? Ist es ein Bild, das auch für andere eines des Glücks ist? Es folgen Bilder von steinernen Skulpturen, meist von nackten weiblichen Körpern in verschiedenen Posen. Die an antike Statuen erinnernden Torsi sind oft nur noch Fragment. Die Schlussbemerkung des Erzählers in dieser Passage lässt es offen, wessen Gedächtnis dieses Museum ist. In der Kürze ihres Erscheinens – die Bilder sind zumeist drei bis fünf Sekunden zu sehen – gehören sie wesentlich der ersten Synthese der Zeit an. Doch sind sie auch passive Synthesen, Fragmente, Partialobjekte: reine Vergangenheit, nur vom Eros gebundene Bilder des Unbewussten. Als innere Bilder der reinen Vergangenheit mangelt es ihnen nicht an Komplettierung. Es sind wesentlich virtuelle Objekte im Sinne von Deleuze (Deleuze 1997, 133 ff.). Zudem verknüpft der Film die Bilder der Plastiken mit den Fotografien des Mannes: Ähnlichkeiten in den Haltungen stellen sich ein, aber auch kaum bewusste Momente des Begehrens werden deutlich. Wenig später überblendet der Film das Bild eines steinernen Kopfes mit dem aus fast identischer Kameraperspektive aufgenommenen Bild des Mannes, dem die Wissenschaftler eine weiße Augenbinde umgelegt haben, an der zwei Drähte befestigt sind. Die Musik wird ausgeblendet, die akustische Atmosphäre des Gespräches tritt hinzu: „Jetzt haben wir ihn so weit. Die eine Hälfte von ihm ist hier, die andere ist in der Vergangenheit“, flüstert einer der Forscher in deutscher Sprache. Die Zeit der Zäsur, die dritte Synthese der Zeit, tritt hinzu. Der Erzähler verändert aber diese Beziehung erneut: „Le trentième jour, la rencontre a lieu. Cette fois, il est sûr de la reconnaître.“ Wir sehen dazu ein Bild von ihr vor einem Spiegel in einem Blumengeschäft, was eine sehr direkte Aufnahme einer Szene aus Alfred Hitchcocks VERTIGO (1958) darstellt, in der der Protagonist Scottie (James Stuart) einer Frau, Madeleine (Kim Novak), folgt und durch einen Hintereingang einen Blumenladen betritt. Marker hat LA JETÉE gelegentlich als einen Remake von VERTIGO bezeichnet und ihn auch als Strukturelement in seinen als CD-Rom erschienen komplexen Bildessay „Immemory“ (Marker 1997) eingesetzt. Doch dieses Bild der reinen Vergangenheit kann sich nicht lange halten, Gegenwarten der ersten Synthese werden dominant: Dass er ihr Bild wiedererkenne, das sei „la seule chose dont il est sûr, dans ce monde sans date qui le bouleverse d’abord par sa richesse. Autour de lui, des matériaux fabuleux: le verre, le plastique, le tissu-éponge. Lorsqu’il sort de sa fascination, la femme a disparu.“ Weitere Versuche folgen: „Vers le cinquantième jour, ils se rencontrent dans un musée plein des bêtes éter-

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nelles.“ Der Mann und die Frau, deren Bild seine Träume so intensiv aufsuchen, gehen zusammen durch das Museum der ewigen, der meist ausgestorbenen, aus den Spuren ihres Überlebens nachgebildeten Tiere. Sie sind ewig, aus der Zeit ausgenommen, reine Vergangenheiten. Wie der Bildwissenschaftler William J. T. Mitchell schreibt, hat die Romantik die Faszination an Fossilien und an Findlingen entwickelt, die keiner Zeit angehören (Mitchell 2005, 185). Der Mann und die Frau schauen, staunen, zeigen sich etwas. Sie erkennen sich, aber anders, zwischen Ähnlichkeit und Wiederholung einerseits, zwischen Differenz und Singularität andererseits. Es entsteht damit zugleich eine Folge von Bildern, deren subjektiver Status unmarkiert bleibt: Bilder der Gegenwart, die keinem einzigen Gedächtnis gehören, die einzig sind, angesichts der Bilder der reinen Vergangenheit. Eine der ganz wenigen Fotografien, die mehr als einmal zu sehen sind, zeigt einen Stein, auf den „Tête d’ Apôtre“ geschrieben ist: Das Bild erinnert an die Pinselzeichnungen, die Albrecht Dürer als Skizze von Apostelköpfen für den Heller-Altar in Frankfurt gemacht hat: Konturen von Gesichtern scheinen bei Dürer aus der Materialität des Papiers aufzutauchen, Gesichter in Trance, im Wahn oder in der Erleuchtung, unentscheidbar. In Markers Film ist es der Stein, in dem Züge eines Kopfes auftauchen. Mehrfach blendet Marker Fotografien von Köpfen und von Steinen ineinander über. Die Höhlungen der Augen der Opfer, ihrer Wangen, ihres Mundes: in ihrem tiefen Schwarz erscheinen sie wie Höhlungen von Totenköpfen. Ein Bild eines anderen Steins im Gewölbe nimmt diesen Eindruck auf. Auch die Aufseher und Ärzte haben solche Höhlungen als Augen, hier treten sie aber in Form von Brillen, die aus Fotoobjektiven zu bestehen scheinen, nach außen. Dazwischen das Bild einer Kinderstatue aus Stein. In einer Überblendung wird ein gebogener Kellergang gezeigt, an dessen beiden Seiten sich aus grobem Holz gezimmerte Schlafkojen befinden: ein Bild, das in mehrfachen Varianten wiederkehrt. Alle diese Bilder deuten ein Zwischen an, ein Zwischen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Schlaf und Traum, Wahn und Vernunft. „Ils sont sans souvenirs, sans projets. Leur temps se construit simplement autour d’eux, avec pour seuls repères le goût du moment qu’ils vivent, et les signes sur les murs.“ Ihre Zeit bildet sich umstandslos um sie selbst, umgibt sie. Sie hat keine weiteren Markierungen als den Geschmack des Augenblicks und die Zeichen an den Wänden. Die Bilder des Mannes und der Frau gehören der ersten Synthese der Zeit an, die Zeichen an den

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Wänden eher der zweiten. Der Film oszilliert zwischen beiden. Die Bilder, die wir zu dieser Erzählung sehen, zeigen die Beiden zusammen in den Straßen und auf einer Allee in einem Park, intensiv aufeinander bezogen, doch ohne sich anzusehen. Nähe ist zwischen ihnen, es sind besondere Augenblicke, wie sie als solche vielleicht nur die Fotografie sichtbar machen kann. Etwas später im Film wird eine Reihe von Porträts der Frau folgen, die sie schlafend im Bett zeigt. Auch jedes dieser Bilder ist ein besonderer Augenblick. Das letzte allerdings erweist sich als ein Bewegtbild: Die Frau öffnet ihre Augen. Dieses Erwachen bedeutet auch einen Abschied. Sein Traum wird unterbrochen, wir sehen ihn mit unter Schmerz zusammengepressten Augen. Schon die Bilder ohne Gedächtnis und ohne Zukunft werden montiert mit Spuren und Zeichen. Sie zeigen in Beton eingeritzte Figuren und Höhlungen, sowie Kreidezeichnungen, die aus diesen Markierungen, von denen wir nicht wissen, ob sie aus Zufall oder Intention entstanden sind, zunächst ein Herz, wie es Liebende hinterlassen, und dann Totenköpfe auftauchen lassen. Eine Erinnerung drängt sich auf: Chris Marker hatte 1955 bei der Herstellung von NUIT ET BROUILLARD, Alain Resnais’ Film über die Vernichtungslager des Nationalsozialismus, als Assistent mitgewirkt. Von Jean Cayrol, der als Mitglied der Résistance gefangen genommen und 1943 in das KZ Mauthausen-Gusen verschleppt worden war, stammt der Text des Erzählers in diesem mit Archivaufnahmen in Schwarz-Weiß und mit aktuellen Einstellungen in Farbe arbeitenden Films. Zu dokumentarischen Aufnahmen der Gaskammern von Auschwitz hatte er geschrieben, dass die Menschen nicht wissen konnten, was sie dort erwartete: „Le seul signe, mais il faut le savoir, c’est ce plafond labouré par les ongles. Même le béton se déchirait.“ Paul Celan übersetzte für die deutsche Synchronisation: „Das einzige Zeichen – aber das muss man ja wissen – ist die von Fingernägeln gepflügte Decke. Beton lässt sich erweichen.“ Ein Requiem begleitet den Beginn und andere Teile des Films. Die Filmmusik stammt vom englischen Komponisten Trevor Duncan. Sie nimmt in dieser wie auch in anderen Passagen deutlich Motive der Komposition von Giovanni Fusco und Georges Delerue aus Alain Resnais’ Film HIROSHIMA MON AMOUR (1959) auf, der eine andere, aber ähnliche Geschichte eines Traumas erzählt, das in der Liebe eines Paares erinnert wird. Längere Passagen der Komposition erinnern allerdings auch sehr deutlich an die Filmmusik von VERTIGO. Beide Filme sind Variationen der Verknüpfung von Liebe und Tod als spezifische Oszillation zwischen den drei

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Synthesen der Zeit. In ihren Vektoren bilden beide Filme aber einen Gegensatz: Wohl bringen beide den Augenblick der Liebe als Gegenwart zur traumatischen Zäsur in Spannung, aber während die beiden Liebenden in Resnais’ Film sich in der Narration gemeinsam erinnernd auf die Zäsur zubewegen, sie sich mitteilen und so ihre Wirkung vermindern können, aktualisieren, ja verkörpern die Liebenden in Hitchcocks Film eine Zäsur, die bis dahin nur eine Vorstellung war, bis in den Tod. Es ist, als zeige der Index des Bündnisses von Eros und Mnemosyne in eine andere Richtung. Das eine Mal hebt die Erinnerung die Spaltung der Zeit zumindest teilweise auf, das andere Mal wird die fiktive Erzählung nachträglich zur Wirklichkeit, zum Gesetz.

Abbildung: LA JETÉE von Chris Marker

Es ist öfter gesagt worden, dass LA JETÉE eine zyklische Erzählweise zugrunde liege (vgl. Harbord 2009). Victor Burgin hebt demgegenüber die Dimension der Nachträglichkeit als Zeit komplexer psychischer Prozesse hervor (Burgin 2004, Pos. 1508). Sicher steht das Zyklische vor allem der zweiten Synthese der Zeit nahe, der Begriff der Nachträglichkeit hebt eher auf die Interferenzen zwischen der zweiten und der dritten Synthese der Zeit ab. Das scheint dem Film angemessener, doch der Bedeutung der ersten Synthese tragen beide Thesen kaum Rechnung. Am Ende des Films sehen wir wieder die Bilder von der Aussichtsterrasse. Sensibel geworden für die merkwürdigen Brillen der Aufseher erkennen wir in dem Mann, der schon zu Beginn des Films auf der der Frau gegenüberliegenden Seite des Geländers steht, die Gegenwart des Lagers nach dem Dritten Weltkrieg. Während der Mann, dessen Geschichte erzählt wird, auf die Frau zuläuft,

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dreht sich dieser um und erschießt ihn von hinten. Das Gesicht des Schreckens der Frau, das er als Bild in sich trug, erweist sich als Schrecken auch im Anblick seines eigenen Todes: Sein Fall im Lauf, ihre Geste des Schreckens sind die letzten Bilder des Films. Es ist möglich, dass Marker hier die Fotografie, die Robert Capa 1937 von einem fallenden Milizsoldaten im Spanischen Bürgerkrieg gemacht hat und die schnell für diesen Krieg emblematisch wurde, wieder aufnimmt (Dubois 2002 30). Nun wirkt dieses Bild selbst schon, weil es eine Aufnahme anderer Bilder ist, eine Pathosformel des Dazwischen (Görling 1986, 94 ff.). Dubois verweist auf die Ähnlichkeit zur schon erwähnten Fotografie auffliegender Vögel (Dubois 2002, 33), die sich in einem Dazwischen bewegen, welches das menschliche Auge nicht ohne Hilfsmittel fixieren kann. Ist der Vektor des Films eindeutig auf diese Zäsur gerichtet? Und: Ist es Zufall, dass wir in LA JETÉE die gleichen Bilder, die gleichen Szenen wiederfinden, die in Rossellinis ROMA CITTÀ APERTA so herausragen: die Szene des Falls eines Menschen, der im Lauf von hinten erschossen wird, gesehen von Dritten? Und die Szene einer Aussageerpressung in Anwesenheit Dritter, auch wenn sie hier vielleicht nicht im engeren Sinne als Folter zu bezeichnen ist? Der Fall, den niemand aufhalten kann, obwohl es Zeugen gibt; und der vom Täter intendierte, politisch motivierte Fall heraus aus der sozialen Bindung in einen Zustand zwischen Leben und Tod unter der Folter? (Sollte es vielleicht gar eine intendierte Anspielung auf Rossellinis Film sein, dass wir ganz zu Beginn des Films eine Flughafenansage hören, welche die Passagiere nach Rom dazu aufruft, zum Abflugsteig zu kommen?) Welche Rolle spielt der Dritte? Gehört er immer der dritten Synthese der Zeit an? Welche Rolle spielt das Kollektiv? Nachdem es den Wissenschaftlern in einem weiteren Experiment geglückt ist, den Mann in die Zukunft zu schicken, findet er dort auch Menschen, Überlebende. Ihre Gesichter tauchen aus dem Schwarz des Films auf wie die der vier Personen aus Becketts WAS WO. In der Mitte ihrer Stirn befindet sich ein je individuelles Objekt, von dem sich nicht sagen lässt, ob es ein Schmuck ist oder etwas, das wir heute als elektronische Schnittstelle bezeichnen würden. Die Menschen stellen Energie zur Verfügung, die ausreicht, das Leben auf der Erde fortzusetzen. „Wie sollten sie ihre eigene Vergangenheit zurückweisen können?“ Doch dem Mann, der diese Reise unternimmt, ist, wie der Erzähler sagt, bewusst, dass seine Kerkermeister ihn nicht verschonen werden. Das Lager kennt keine soziale Verbindlich-

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keit: „Il avait été un instrument entre leurs mains, son image d’enfance avait servi d’appât pour le mettre en condition, il avait répondu à leur attente et rempli son rôle. Il n’attendait plus que d’être liquidé, avec quelque part en lui le souvenir d’un temps deux fois vécu.“ Vielleicht ist es angebracht, die letzte Wendung nicht als zweimal erlebte, sondern als zweimal gelebte Zeit zu übersetzen. Deleuze hat seine Theorie der drei Synthesen der Zeit in enger Auseinandersetzung mit der Theorie Freuds und anderer Autoren der psychoanalytischen Tradition ausgeführt. Er macht damit auch verständlicher, welche Funktion Freuds Begriff der Nachträglichkeit als spezifische Zeit der psychischen Prozesse hat. Nachträglichkeit bedeutet ja bei Freud zunächst, dass die Zeit der Einschreibung einer Erfahrung und die Zeit ihrer Lektüre oder Aktualisierung getrennt sind. Es handelt sich um zwei verschiedene Synthesen der Zeit, in der Theorie von Deleuze um die zweite Synthese, die reine Vergangenheit ist, Bund zwischen Eros und Mnemosyne, und um die dritte Synthese, die Zeit der Zäsur, in der sich Vorher und Nachher trennen. Auf einer allgemeinen Ebene fasst Freud damit ja das, was wir heute mit dem Begriff der Plastizität denken: dass jede Erinnerung auch ein Umschreiben der Spur bedeutet. Im Zusammenhang der Traumatheorie verweist Nachträglichkeit aber gerade auf eine Blockierung der Plastizität. Etwas ist von der Erinnerungsarbeit abgetrennt und als Isoliertes bewahrt. Es hat einen Riss gegeben. Seine Bedeutung ist zunächst latent, so lange, wie es durch besondere Umstände zu einer Durchlässigkeit gegenüber der Isolierung kommt. Das Spezifische der Nachträglichkeit besteht nun aber darin, dass erst sie der Erinnerungsspur, dem mit lokalen Ichs bevölkerten Es, die Qualität eines Risses verleiht. Von der zweiten Synthese der Zeit her gesehen gibt es aber keine Notwendigkeit dazu. Auch wenn die psychoanalytischen „Begriffe der Fixierung und der Regression, ebenso des Traumas, der Urszene“ (Deleuze 1997, 138) einer Vorstellung einer Wiederholung des Selben das Wort zu reden scheinen, die Differenzierung zwischen den verschiedenen Synthesen der Zeit, die Deleuze vornimmt, macht es ihm möglich, eben diesen Determinismus infrage zu stellen. „Man wiederholt nicht, weil man verdrängt, sondern man verdrängt, weil man wiederholt.“ (140) Ein solches Verständnis der Psychoanalyse kann sich durchaus auf Freud berufen. Der Wiederholungszwang wird bei Freud etwa in seiner späten Schrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, in der er sein Konzept des Traumas von der individuellen Ebene auf die des Kol-

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lektivs überträgt, als etwas verstanden, das zum einen wohl als ein Zwang im Sinne der Einschränkung des Ichs wirksam ist, dem zum anderen aber immer auch die Möglichkeit innewohnt, dass die Erinnerung durchgearbeitet wird, dass der Zwang also gelöst und die Erinnerungsspur in diesem Sinne deaktualisiert wird (vgl. Freud 1939a, 180). Will man dies noch mit dem Begriff der Nachträglichkeit fassen, dann in dem Sinne, dass eine einmal erstellte Verknüpfung auch nachträglich wieder gelöst werden kann. Doch deutlicher wird dies, wenn man es als Interferenz zweier unterschiedlicher Formen der Synthesis der Zeit versteht. Von der einen her wird der Zwang der Differenz des Vorher und Nachher und der Unumkehrbarkeit der Zeit aufgelöst, von der anderen her wird etwas, das als Erinnerungsspur bewahrt wird, mit der dritten Synthese der Zeit verschweißt. Markers Film folgt dieser doppelten Bewegung. Die Idee eines Loches in der Zeit, das die Wissenschaftler zu finden hoffen, ist ja in der Tat gebunden an die Möglichkeit, die dritte Synthese der Zeit zumindest partiell aufzuheben. Es gelingt den Wissenschaftlern, indem sie einen Mann in seinen Träumen auf die Reise schicken, ihn also in einen Zustand versetzen, den man als einen beschreiben kann, in dem lokale Ichs unverbunden bewahrt sind: Bilder, die aus dem Dunkel des Films auftauchen. Ein besonders intensives Band zwischen Eros und Mnemosyne macht es für den Mann möglich, diese von den Wissenschaftlern mit Drogen verursachte Dissoziation zu überleben und nicht an ihr, wie viele andere zuvor, wahnsinnig zu werden. Dieses Loch in der Zeit der dritten Synthesis erlaubt es den Wissenschaftlern, ihn in die Zukunft zu schicken, die Notwendigkeit der Geschichte zu unterbrechen und aus der Zukunft eine Energie zu holen, die ein Überleben ermöglicht. Nur tritt hier erneut so etwas wie ein Mechanismus der Nachträglichkeit in Kraft, die Offenheit der Zeit, die genauso gut das Ende der Geschichte der Menschen hätte bedeuteten können, schließt sich. Der Erzähler beschreibt dies sehr genau, wenn er die Mitteilung des Mannes an die Menschen der Zukunft als leçon bezeichnet, als einen wie eine Schulaufgabe gelernten Text: „Il récita sa leçon. Puisque l’humanité avait survécu, elle ne pouvait pas refuser à son propre passé les moyens de sa survie.“ Während in LA JETÉE es also für die Menschheit möglich wird, aufgrund der Zeitreise eines Einzelnen die Zäsur wieder aufzulösen, den Untergang menschlichen Lebens, den der Dritte Weltkrieg verursacht, doch noch abzuwenden, bedeutet es für den Mann, der dies ermöglicht, die Einschreibung der Zäsur, die Aktualisierung des Traumas. Die Menschen der

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Zukunft, die leichter durch die Zeit reisen können als er, bieten ihm an, zu ihnen zu kommen. „Mais sa requête fut differente.“ Er entscheidet sich, auf die Aussichtsterrasse zurückzukehren, zurück zum Bild der Frau und zu dem Schrecken, der von diesem Bild verdeckt wird. Allerdings bleibt der Status der letzen Bilder undefiniert: Sind sie die Form, in der der Mann seine Exekution durch die Führer des Lagers erfährt? Hätte er unter anderen Bedingungen eine andere Wahl getroffen? Hätte eine Begegnung wie die der Liebenden in HIROSHIMA MON AMOUR die Aktualisierung der Zäsur verhindern können? Oder sind die Bilder die Form, in der sich die Angst vor dem Zusammenbruch, über die wir bei Winnicott erfahren hatten, Ausdruck verschafft und der Mann eine Weise findet, ihn zu erzählen? Wenn der Film am Ende zur Szene seines Beginns wiederkehrt, so sehen wir die Geschichte nun mit teilweise anderen Bildern. Aufnahmen aus der kurzen Sequenz, die der Film zu Beginn parallel zum Kommentar zeigte, als dieser vom plötzlichen Lärm, dem fallenden Körper und den Schreien der Menschen sprach: Aufnahmen, so könnte man sagen, die erste Synthesen der Zeit sind, die vom Eros nur dadurch gebunden werden können, dass sie sich kaum sichtbar mit der Deckerinnerung an das Gesicht der Frau verbinden. Stattdessen sehen wir seinen Lauf auf die am Geländer der Aussichtsterrasse stehende Frau zu, seinen Fall, ihren Schrecken. Es gibt keine Erinnerung an den Zusammenbruch, das Wirken des Thanatos ist stumm. Sind deshalb die Bilder der Liebe von Momenten der Auflösung und des Todes eng durchkreuzt, weil in den Bildern der Liebe auch die Anstrengung des Eros sich ausdrückt, den Zusammenbruch, den Fall aufzuhalten?

E RINNERUNG , E REIGNIS , R ISS Markers Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der das menschliche Leben vor seinem drohenden Untergang gerettet hat. Er tut das nicht aus Heroismus, seine besondere Kraft ist die Erinnerung, genauer gesagt, die Treue zu einer Erinnerung an ein Gesicht und die Kraft der Phantasie, aus ihr eine neue, eine andere Gegenwart zu machen. Vielleicht ist er die Gestalt, die der Messias im Zeitalter der Weltkriege und der Lager angenommen hat. LA JETÉE konstruiert damit einen außergewöhnlichen Zusammenhang zwischen der traumatischen Erinnerung des einzelnen und der Geschichte

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des Kollektivs. Die Kraft, die Chronologie der Geschichte umzuschreiben, diese Kraft der Nachträglichkeit kommt dem einzelnen zu, aber es ist das Kollektiv, das dadurch gerettet wird. Doch wird der Film nicht selbst Erinnerung? Ist es nicht ebenso der Film wie die Person in der Hängematte mit umgebundener Schaumstoffbrille, welcher sich erinnert? Ist der Mann, von dem die Geschichte erzählt, nicht in einer Art Kino? Ist der Schaumstoff vor seinen Augen nicht wie eine Leinwand für den Film, den wir durch seine Erinnerungen sehen? Mit den vier Drähten, die an der Augenmaske befestigt sind erscheint sie wie die Antizipation einer Virtual-RealityBrille. Und sind die Forscher mit ihren Brillen aus Fotolinsen nicht auch Kameramänner? Schafft es nicht auch das Kino, uns so weit zu bringen, dass wir „halb hier und halb in der Vergangenheit“ sind, wie einer der Deutsch sprechenden Wissenschaftler sagt? Kommentieren die Forscher die Bilder des Mannes, die sie mit ihren Fotolinsen sehen, nicht wie bei einer Filmabnahme: „So, das ist ja sehr schön, dieser erste Teil ist ausgezeichnet gelungen“ (12:20)? Und dirigieren sie den Protagonisten dieses Films nicht wie Regisseure durch die Szenerie: „rechts rum, rechts rum, links – Jetzt lassen Sie ihn mal ein bisschen vorgehen – Ja so, noch ein bisschen, noch ein bisschen – Ja – das ist ja das Mädchen, so, da kommt sie“ (13:20)? Wie das geschieht, offenbart der Film als sein performatives Geheimnis.

Abbildung: LA JETÉE von Chris Marker

Wir hatten mit der langen Folterszene in Rossellinis ROMA CITTÀ APERTA die Frage der Zeugenschaft der Beistehenden und der Zuschauer gestellt, wir hatten mit den Filmen über das Verhör und die sadistischen Folterun-

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gen nach der Grenze der Empfindlichkeit gefragt. Hier nun deutet sich eine weitere Dimension des Verhältnisses zwischen Film und Folter an: Unvergleichbar in dem, was die Praktiken an Zwang, Gewalt und Verletzung ausüben, berühren sie sich vielleicht an dem Punkt der Intimität, die sie herstellen, ihrem Eindringen in den Bereich oder zumindest an die Grenze dessen, was sichtbar ist und was erinnert werden kann. Der Titel von LA JETÉE lässt sich kaum in die deutsche Sprache übersetzen. Er meint das Dahingeworfene, die Mole, die mit ihren aufgetürmten Steinen in das Meer ragt, oder eben auch die Aussichtsterrasse, die wohl nicht selbst, aber von der aus der Blick in das Rollfeld reicht. In diesem Sinne ist LA JETÉE Metapher für das An-und-über-eine-Grenze-Gehen, auch des Films. Man könnte als weitere Stütze für Markers Intentionalität bei der Herstellung dieses Zusammenhangs auch noch anführen, dass das Werfen des Lichts ja im Namen des zur Apparatur des Films gehörenden Projektors eingeschrieben ist. Man würde allerdings die Kraft und auch die Idee des Films verfehlen, wenn man ihn als Repräsentation eines Diskurses über Erinnerung und Film verstehen wollte. Der Film repräsentiert nicht einen solchen Diskurs, er ist selbst eine Erinnerung, ein sinnliches, abstraktes wie konkretes Denken, das Erinnerungsspuren umschreibt und Zukunft beeinflusst. Es gibt einen Bereich, an dem das Ereignis der Erinnerung, das der Film zeigt, nicht mehr von dem unterschieden ist, was der Film selbst als Ereignis bedeutet. Zum einen ist der Film längst Teil dessen, was wir kollektives Gedächtnis nennen. Er ist auch sicherlich nicht nur die persönliche Erinnerung von Chris Marker, sondern eine Arbeit, die das kollektive Gedächtnis der Bilder, Filme, Geschichten aufnimmt. Das macht sie für den Zuschauer erfahrbar. Der Film ist darüber hinaus in vielen Dimensionen auch als Arbeit eines Kollektivs entstanden. Unter der Bedingung des Lagers bedeutet die Erinnerung des namenlosen Mannes vielleicht wirklich, dass er sich für das Überleben der Gemeinschaft geopfert hat. Zum anderen aber ist eben die Erinnerung selbst Ereignis in dem Sinne, wie Whitehead von einem Erfassensereignis spricht. Das Ereignis spaltet sich unaufhörlich auf in den Augenblick seiner Jetztzeit und in die Augenblicke seiner Erinnerung und seiner Zukunft. Es wird erinnert werden und es ist selbst Erinnerung. Die Prozessphilosophie Whiteheads beschreibt dies mit dem Begriff des Subjekts, das Ereignis des Erfassens ist und als solches immer in Relation zu dem steht, was es stützt, was es umgibt, und auch dem, was es

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ausschließt. Diese Berücksichtigung des Ausschlusses macht es möglich, die Bedeutung der Gewalt in Prozessen zu denken. Das Subjekt ist aber jenseits seines Augenblicks selbst wieder Erfassensereignissen unterworfen. Es ist – in Whiteheads Begrifflichkeit – „sowohl Prozess als auch Ergebnis“ (Whitehead 1987, 168), wie auch ein Rest (73): „das Superjekt, das seinen Charakter der Kreativität hinzufügt“ (168). Eine solch grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Ereignis und Überlieferung kann auch helfen, das Verhältnis dessen neu zu denken, was wir gemeinhin mit der Unterscheidung zwischen dem Ereignis und seiner Darstellung zu fassen versuchen. Das Ereignis schreibt sich als Veränderung ein in die neuronalen Verbindungen, die literarischen Texte, die Institutionen, die Landschaften: als Verknüpfung, als Entstellung, als Trennung. Es wird prinzipiell aber in jedem Augenblick neu gelesen, verbunden, entbunden, verschoben. Insoweit findet das Ereignis selbst immer wieder neu statt, und ist auch das Ereignis selbst immer schon ein Erfassen früherer Ereignisse gewesen. Wenn es zu Beginn von LA JETÉE heißt, der Film erzähle die Geschichte eines Mannes, der an einem Sommertag auf der Aussichtsterrasse des Flughafens Orly das Gesicht einer Frau gesehen habe, so kann man am Ende auch sagen, er erzähle von der Menschheit und ihrem Überleben. Die Erinnerung an ein Trauma, die Erinnerung des Mannes, die Erinnerung des Films, die Erinnerung des Kinos öffnet ein Loch in der Geschichte, verändert ihren Lauf. Es geht dabei gar nicht so sehr um die Erinnerung an das traumatische Ereignis, als um die Kraft der Bindung, die es erlaubt hat, das Ereignis zu erinnern. Das Bild des Friedens macht es möglich, das Trauma zu erinnern, das, was keine Darstellung im Gedächtnis gefunden hatte. „Was nie geschrieben wurde, lesen“, lautet ein von Walter Benjamin mehrfach zitierter Satz aus Hugo von Hoffmannsthals „Der Tor und der Tod“. Das Bild des Friedens aber ist das Bild einer Frau. Es führt als Ikon das nicht Gesehene mit sich, das, woraus das Bild wird, ohne selbst ein Bild geworden zu sein. Das Ereignis ist einzig, doch es ist unmittelbar auch immer schon Teil der Überlieferung, als Möglichkeit der Verbindung, als Umgebung, als Unmöglichkeit. Wenn, wie Kant in seinen schon im Prolog zitierten Überlegungen zur Französischen Revolution schrieb, das Schauspiel der Revolution sich nicht verliert und als Möglichkeit die Geschichte erweitert, wie werden die traumatischen Erfahrungen bewahrt, die Brüche? Die Gewalt

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wirkt stumm, sie führt selbst keine Klage, sie verbirgt sich. Sie wirkt als Abspaltung, eben als Zerstörung von Bindungen und Relationen. Wenn man dem Modell folgt, dass innere wie äußere Prozesse der Menschen und ihrer Gesellschaften durch Plastizität geprägt sind, was sind dann traumatische Erfahrungen, Verletzungen? Wie muss im Wissen um die Plastizität die dritte Synthese der Zeit gedacht werden, in der sich der Einschnitt und die daraus resultierende Bifurkation vollziehen? Catherine Malabou spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „plasticité destructrice“ (Malabou 2009; dt. 2011). Zerstörerisch kann Plastizität sein, weil das Akzidentielle, das, was einem Leben zustößt und zugleich von ihm und seinem Austauschprozess mit der Welt nicht zu trennen ist, weil dieses Akzidentielle das Leben nicht nur verformen kann, sondern das Leben dazu bringen kann, sich zu spalten oder bis zur Unkenntlichkeit seiner früheren Einzigartigkeit zu transformieren. Françoise Sironi, die viele Jahre in einem Pariser Zentrum Folteropfer aus vielen Ländern therapeutisch unterstützt hat und auch als Gutachterin für den Internationalen Gerichtshof tätig ist, spricht von einer intentionalen Traumatisierung, um die politische Rationalität der Gewalt der Folter gegenüber dem einzelnen wie auch gegenüber Gruppen zu fassen (vgl. Sironi 2007, 11 ff.). Eine der psychischen Folgen der Folter sieht sie in einer Dekulturalisierung (vgl. Sironi 1999, 41; Sironi 2007 57 f.): Die Leiden der Opfer ähneln sich über alle möglichen kulturellen und individuellen Differenzen hinweg. Entsprechendes kann auch für Gesellschaften beobachtet werden.

W AHRNEHMUNGSTÖTUNG Tatsächlich werden Akte der Gewalt oft in einer spezifisch theatralen Spannung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit inszeniert. Das gilt in besonderer Weise für die moderne Folter. Ihre soziale Wirkung hat sie in einer spezifischen Doppeldeutigkeit von Ausstellung und Verbergung. Die Folterungen selbst finden in der Regel nicht öffentlich statt, aber oft werden die geschundenen Körper der Getöteten am Straßenrand liegen gelassen. Es entspricht auch dieser kalten Rationalität, wenn überlebende Opfer freigelassen werden, obwohl man weiß, dass sie in einer späteren Situation als Zeugen gegen die Täter auftreten könnten. Diana Taylor spricht in ihrer Analyse der Geschichte der Folterungen in Argentinien während der Mili-

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tärdiktatur unter Führung Jorge Rafael Videlas zwischen 1976 und 1981 von percepticide (Taylor 1997). Diese Wahrnehmungstötung geschieht als Abspaltung, welche die individuelle Bereitschaft und Fähigkeit ebenso umfasst wie die der Kollektive oder der Institutionen. Sie hat zur Folge, dass Gruppen der Gesellschaft von der Sorge um ihr Leben ausgeschlossen werden, dass dem Leben ihrer Mitglieder kein Wert mehr zugesprochen wird, dass die allgemeine Verunsicherung über diese Prozesse die Menschen zugleich in ein Verhältnis der Loyalität gegenüber denen drängt, welche die Taten begehen oder zumindest die Macht hätten, sie zu unterbinden. Ein offenes Eingeständnis der Folterungen und anderer Menschenrechtsverletzungen würde diesen Prozess blockieren; ein vollständiges Verheimlichen der Folterungen ihn aber gar nicht erst in Gang setzen. Auch in demokratisch verfassten Rechtsstaaten ist diese Dynamik wirksam. Die Folter-Politik der US-amerikanischen Administration unter George W. Bush hatte hierin ihre Rationalität, aber auch die frühere Politik der britischen Regierungen im Nordirland-Konflikt oder der spanischen gegenüber der ETA. Die Beistehenden, vor deren Augen die Gewalt inszeniert wird, können versuchen wegzusehen. Aber das, was man nicht sehen will, muss schon gesehen worden sein. Selbst Vermeidung setzt eine Kenntnis dessen, was vermieden werden soll, voraus. „Not knowing is not passive, it is an active refusal“, schreiben der amerikanische Psychoanalytiker und Holocaustüberlebende Dori Laub und seine Mitautorin Susanna Lee (Laub/Lee 2003, 449). Das Verleugnete behält eine eigenartige, gespensterhafte oder fetischisierte Präsenz, die eine mehr oder weniger kontinuierliche Aktivität der Spaltung zur Folge hat. Innere, psychische Vorgänge vermengen sich dabei mit sozialen und politischen Formen der Organisation von Affekten. Zu letzteren gehören insbesondere die kollektiven Ausgrenzungs- und Projektionsvorgänge. Philip Gourevitch schreibt in seinem 1998 erschienenen Buch über die Ereignisse 1994 in Ruanda, für das er fast drei Jahre in dem afrikanischen Land recherchiert hat: „Genocide, after all, is an exercise in community building.“ (Gourevitch 1998, 95) Die Dimension der Verleugnung schließt auch den engsten Lebenszusammenhang von Opfern ein. Primo Levi und andere haben bezeugt, dass es in den Konzentrations- und Vernichtungslagern einen Angsttraum gab, von dem nicht nur er selbst, sondern „viele andere, vielleicht alle“ heimgesucht wurden:

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„Ein intensives, körperliches unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause und mitten unter befreundeten Menschen zu sein und über so viel berichten zu können. Und doch, es ist nicht zu übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen.“ (Levi 1992, 70)

Und Levi fragt in seinem frühen, 1947 erstmals erschienenen Bericht „Ist das ein Mensch?“ weiter: „Warum übersetzt sich der Schmerz aller Tage so beharrlich in unsere Träume, in die immer wiederkehrende Szene des gegebenen und nicht angehörten Berichts?“ (71) Wenn es richtig ist, dass Folter die grundlegenden Verlässlichkeiten unserer sozialen Existenz bedroht, verbindet sich die Zufügung von Leid mit dem Ziel, das Opfer in eine absolute Verlassenheit zu treiben. Sie kann über Jahre und Jahrzehnte nachwirken. 2002, über 55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager, hat Dori Laub in psychiatrischen Kliniken in Israel mit Überlebenden gesprochen, die noch nie über diese Zeit erzählt hatten. Kein Arzt und kein Pfleger hatte sie je danach gefragt, obwohl oder gerade weil es Patienten sind, die aus Lagern und Psychiatrien in Deutschland in den 1950er Jahren nach Israel gebracht wurden. Die Wahrnehmungstötung begleitet ihre Biografie. Die Bundesrepublik Deutschland bezahlte Israel dafür, dass sie sich nicht mehr mit den überlebenden Opfern der deutschen Grausamkeit konfrontieren musste. Dori Laub hat diese Überlebenden gefunden, weil er der Spur dieser von den Regierungen verfügten Migration nachgegangen ist. Als Laub ein Jahr später die Patienten wieder besuchte, konnte er bei fast allen von ihnen eine Besserung ihres psychischen Zustandes feststellen: Ein einziges Gespräch schon hatte ihnen geholfen (Laub 2005). Wie ist es möglich, dass jemand über viele Jahrzehnte hinweg beschwiegen wird? Wie schreiben sich Macht und Gewalt so sehr in die Opfer ein, dass sie für alle sichtbar gezeichnet bleiben? Wie sieht man die Nichtsichtbarkeit? Man wird versuchen können, die Praktiken von Gruppen oder Institutionen zu beschreiben, in denen das geschieht. Orwell hatte in NINETEEN EIGHTY-FOUR die sprachlichen Mechanismen vorgestellt, durch die die Verweisungsfunktion von Sprache unterlaufen wird. Und er hatte gezeigt, dass Gewalt bis in die Möglichkeit der Einbildungskraft vordringt, dass sie bis zur Zerstörung der Ikonizität als Potentialität von Relationalität

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reicht. In seinen Arbeiten betont Michel Foucault, dass Macht und Gewalt zu differenzieren sind und dass Macht nichts ist, das irgendwo konzentriert ist und dann wie ein Werkzeug auf Menschen und Leben überhaupt ausgeübt wird. Macht zirkuliert, es gibt in ihr notwendig eine Dimension des Austausches. Diskurse sind Praktiken der Macht, weil sie denen, über die sie Macht ausüben, auch einen Ort anbieten, vom dem aus sie selbst handeln, sprechen, partizipieren können, so ungleich diese Möglichkeiten auch verteilt sein mögen. Gewalt kann dabei vielfach eingebunden sein, doch ist Gewalt ein Handeln, das dem anderen Leben seinen Ort nimmt, seine Umgebung, seine Autonomie, seine Möglichkeit, über sich selbst zu verfügen. Gewalt reduziert Leben auf reine Objekthaftigkeit. Es ist richtig, dass Macht und Gewalt sich in den anderen einschreiben, aber in einem Gefüge der Macht müssen die Bilder der so markierten Körper der anderen auch zirkulieren. Es ist exakt das Bild, das die Unsichtbarkeit sichtbar macht: als Bild dessen, das in einem Gefüge der Macht keinen Platz hat. Um Foucault Vorstellung, dass Macht etwas ist, „das nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt“ (vgl. Foucault 2005, 285), eine etwas andere Richtung zu geben: Macht muss etwas zirkulieren lassen, das nicht selbst sprechen kann, etwas, dem der Ort verweigert wird. Denn gäbe es dieses Bild dessen, was nicht sichtbar ist, nicht, gäbe es auch für den einzelnen kein Wissen um die Differenz zwischen seiner eigenen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Es gäbe keinen Grund, sich an der Zirkulation der Macht zu beteiligen. Folter ist die extremste Form der Einschreibung von Gewalt in den Körper und in die Psyche des anderen. Sie ist Wahrnehmungstötung, die einerseits bis zum Verschwindenmachen, bis zu Praktik der desaparecidos reicht, wie Diana Taylor zeigt. Sie wird aber nur in dem Sinne eine Technik der Macht, als dies auch eine politische Sichtbarkeit bekommt: sei es in der Suche der Angehörigen und Freunde nach den Verschwundenen, sei es in den Körpern der Getöteten, die nur ungenügend verscharrt werden, sei es in den Narben der überlebenden Opfer. Taylor verdeutlicht in ihrem Buch über die disappearing acts die Dimension der geschlechtlichen Differenz in diesem politischen Handlungszusammenhang. „Torture rehearsed on the individual body the violent engendering and gendering of the entire social body.“ (Taylor 1997, 152) Den Folterungen lag eine story zugrunde, die von den Folterern oft auch als „a sexual encounter, usually entailing motifs associated with foreplay, coupling, and penetration“ inszeniert wurde

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(152). Die Feminisierung des Körpers des Opfers ruft eine „constellation of gendered images“ auf, die in der militärischen Rhetorik präsent ist: Tod, Schmerz, Gewalt, auch wenn sie unbestreitbar von Männern ausgeübt werden, sind alle „weiblich“ (155). Taylor gibt als Beispiel an, dass die Folterung mit Elektroschocks „a chat with Susan“ genannt wurde, ja, dass man „in Susan’s arms“ sterben konnte. Das Bild der haltenden Mutter wird in diesem symbolischen Akt und dem Diskurs, in dem er eingebettet ist, so sehr verkehrt, dass die todbringende Einschreibung der männlichen Herrschaft als Akt der Geburt der Nation Argentinien erscheint. In Erweiterung und Präzisierung des zitierten Satzes von Gourevitch schreibt Taylor: „Torture was an exercise in national body building, both in terms of the nation and in terms of the military men themselves. It was considered a privilege to belong to that select group of men who practiced torture.“ (157) Es stellt sich für jede Auseinandersetzung mit dem Problem der Folter die Frage, wie es möglich ist, darüber zu sprechen, zu schreiben, Filme zu machen, die den Prozess der Wahrnehmungstötung nicht nur problematisieren, sondern diesen auch rückgängig machen. Wie nimmt sich das Opfer wieder einen Ort, wie macht es seine Stimme hörbar? Kann das geschehen, ohne dass andere stellvertretend sprechen? Eine in einem sozialen Projekt in einer verarmten Gegend von Buenos Aires tätige junge Frau gerät nach ihrer Verhaftung durch die argentinische Armee in die Situation, einem Mann hilflos ausgeliefert zu sein, dessen Begehren nach näherer Bekanntschaft sie zuvor abgelehnt hatte. Ihre erste Begegnung nach der Verschleppung findet bei einer Elektroschockfolter statt. In der Not des Überlebens geht María (Antonella Costa) auf das sexuelle Begehren von Felix (Carlos Echevarría) ein. Es wird ihr das Überleben nicht ermöglichen. Sie wird wie viele andere nach Wochen und Monaten der Tortur mit einem Pharmazeutikum betäubt, in ein Militärflugzeug gebracht und von diesem aus ins weite Meer geworfen werden. Die verstörendste und wohl auch eindringlichste Passage von Marco Bechis’ Film GARAGE OLIMPO (1999) ist der Spaziergang in die Stadt, den Felix mit María unternimmt. Bis zu 30 000 Menschen wurden nach dem Militärputsch von 1976 in Argentinien verschleppt, gefoltert, ermordet. In Buenos Aires und in anderen Städten waren die Orte der Misshandlung oft mitten in belebten Vierteln. Das gilt auch für das Garage Olimpo genannte Folterzentrum in Argentiniens Hauptstadt, nach dem der 1955 in Chile geborene Bechis seinen Film benannt hat. Bei dem Spaziergang durch die Stadt ver-

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lieren die scheinbare Normalität und die Misshandlung jede räumliche Trennung. Es entsteht so etwas wie eine zweite Wirklichkeit. Sie scheint aber für die Passanten unsichtbar zu bleiben und doch sieht jeder etwas, von dem er den Blick abwendet. María hat deshalb auch im Alltag der Stadt keinen Ort, von dem aus sie handeln, von dem aus sie in die andere Welt übertreten könnte. An der Seite ihres Peinigers kehrt sie zurück in das Folterzentrum.

D EATH

AND THE

M AIDEN (P OLANSKI )

In den vergangenen Jahrzehnten sind in einer Reihe von Ländern nach der Auflösung von autoritär herrschenden Regimen oder dem Ende von Bürgerkriegen Institutionen entstanden, die der Thematisierung der begangenen Verbrechen gewidmet sind. Die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, die in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gearbeitet haben, agieren in einem Zwischenbereich zwischen juristischen, wissenschaftlichen, religiösen und performativen Institutionen wie dem Theater. Sie sind immer wieder dafür kritisiert worden, dass sie etwa das Juristische und das Religiöse vermengten, oder das Soziale und das Politische. Doch greifen solche Kritiken zu kurz und übersehen die ganz eigene Leistung dieser Institutionen: eine Leistung, die man als Versuch der sozialen Bindung von traumatischen Erfahrungen beschreiben kann. Diese Bindung kann in kulturell sehr unterschiedlichen Formen stattfinden, sie ist aber eine Bedingung für die Entfaltung einer Gesellschaft, die auf einer Rücknahme von Ausschluss und binären Strukturen und auf einer gegenseitigen Anerkennung ihrer Mitglieder gründet. Das bedeutet aber auch, dass die Arbeit dieser Kommissionen etwas voraussetzt, das sie doch erst schaffen wollen. Wahrheit ist nichts, das irgendwo fertig liegen und nur öffentlich werden muss, sie ist ein diskursiver Prozess des Aushandelns der politischen Zulässigkeit von diskursiven und affektiven Expressionen. Und Versöhnung ist nichts, das sich verordnen ließe, sie ist ein Prozess, der, wenn er denn möglich ist, für den Einzelnen erfahrbar sein muss als wieder entstehendes Gefühl der Sicherheit, in einer Gesellschaft mit anderen ohne Angst leben zu können. Versöhnung ist von daher etwas, das weiter geht als die Idee der Gerechtigkeit. Sie ist ethisch basaler und komplexer, sie ist

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auch nicht in einer Weise diskursiv regelbar, wie es die juristischen Verfahren mit der Idee der Gerechtigkeit wie immer unzureichend versuchen. Die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen entstanden zu Beginn der 1990er Jahre in Lateinamerika zudem unter politischen Bedingungen, die eine juristische Auseinandersetzung mit den begangenen Verbrechen zunächst gar nicht zuließen. Das schränkte sie auch in dem ein, was überhaupt zur Sprache kommen konnte. So befasste sich die erste dieser Kommissionen, die Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, welche nach neunmonatiger Arbeit im Februar 1991 den „Informe de la comisión nacional de verdad y reconciliación“, den sogenannten „Informe Rettig“, in Chile publizierte, nur dann mit Folter, wenn ihre Folgen tödlich waren. Das 1991 uraufgeführte Theaterstück LA MUERTE Y LA DONCELLA / DEATH AND THE MAIDEN von Ariel Dorfman, setzt genau an dieser Stelle an. 1994 schuf Roman Polanski einen Film auf der Basis des Stückes, an der Entwicklung des Drehbuchs war neben Dorfman der US-amerikanische Schriftsteller Rafael Yglesias beteiligt. Die politischen Notwendigkeiten des Übergangs zur Demokratie scheinen es nicht zu erlauben, dass in dem namentlich nicht näher bezeichneten südamerikanischen Land nach dem Ende der Diktatur über Folterungen gesprochen wird. Paulinas Mann, der Rechtsanwalt Gerardo Escobar (Stuart Wilson), kommt abends in das gemeinsame, außerhalb der Stadt an der Küste liegende Wohnhaus, nicht ohne Stolz und Hoffnung, weil er zum Vorsitzenden der Wahrheitskommission bestimmt worden ist. Er weiß, dass seine Frau (Sigourney Weaver) unter der Diktatur gefoltert wurde und mit der Entscheidung, Folter in der Kommission nur dann zu behandeln, wenn sie den Tod zur Folge hatte, kaum einverstanden sein kann. Sie billigt deshalb auch seine Annahme des Postens nicht. Just an diesem Abend kommt zufällig ein Mann in ihr Haus, an dessen Stimme Paulina sofort denjenigen erkennt, der sie in der Haft vielfach vergewaltigt hat. Sie wird ihn auch noch an seinem Geruch identifizieren, da ihr aber unter den Folterungen immer die Augen verbunden waren, bleibt ein Rest an Ungewissheit. Sie resultiert weniger aus einer Unsicherheit über die eigenen Wahrnehmungen als aus einer gewissen Unmöglichkeit der diskursiven Objektivierung der eigenen Erfahrung gegenüber Gerardo. Außerdem scheint Roberto (Ben Kingsley), der von Beruf Arzt ist und die Tat leugnet, ein Alibi zu besitzen, das Gerardo zunächst auch für authentisch hält. Am Morgen nach einer langen Nacht des Verhörs

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Paulina führt Roberto, dessen Hände noch gefesselt sind, an den Rand einer Klippe. Hier nimmt sie ihm die Augenbinde ab: „P: Look at me. Isn’t it bright enough to see me? Don’t you know me? Didn’t you tell me your ugly thoughts? Didn’t you tell me your secrets? – R: Yes – P: Didn’t you rape me? Put your cock in me? – R: Yeah – P: How many times? – R: Many times. I raped you many times. Fourteen times.“

Dem Geständnis der Tat folgt ein zweites Geständnis: das der Lust. Zunächst der Lust an der Macht. Der Arzt entwickelte eine morbide Neugierde, wie er sagt: „How much can this woman take? What’s gonna happen to her vagina, does it dry up when I shock her? Can she have an orgasm afterwards?“ Und schließlich auch das Geständnis der sexuellen Lust: „I like being naked. I would undress slowly. I would let my pants fall, so you could hear what I was doing. I like you knowing what I was gonna do to you. I was naked in the bright light and you couldn’t see me. You couldn’t tell me what to do. I owned you. I owned all of them. I fell in love with it. I could hurt you and I could fuck you. And you couldn’t tell me not to. You had to thank me. (Pause). I loved it. I was sorry that it ended. I was very sorry that it ended.“ (01:32:40)

Paulina wendet sich in diesem Augenblick ab, während sich Gerardo in einem Anfall von Wut auf Roberto stürzt, um ihn die Klippe hinunterzustoßen. Er beendet sein Vorhaben nicht. Paulina dreht sich noch einmal um und löst Robertos Fesseln, bevor sie geht. Was ändert dieses am Rand einer Klippe zumindest vor einem Zeugen ausgesprochene Geständnis? Etwas von der Obsession, die Paulina verfolgt hat, scheint sich zu lösen, oder, genauer, etwas, das vorher nicht begrenzbar war, das wie die Stimme und der Geruch Robertos präsent und doch unfassbar war, hat einen Ausdruck bekommen, durch den es situiert werden kann. Was vorher eine Szene war, in der die Positionen nicht zur Ruhe kamen, hat nun eine Differenzierung erfahren. Es geht nicht um Rache, es geht nicht einmal um Reue, es geht zunächst überhaupt darum, der Bedrohung eine Gestalt zu geben, aus dem Gespenst ein Subjekt und Gegenüber werden zu lassen. Es scheint paradox: Dadurch, dass Roberto seine sadistische Lust ausspricht, nimmt er sie in ein Innen, umhüllt sie mit einem Ich, das sie nun begrenzt. Die maligne Intimität der sexuellen Gewalt ist zumindest ein Stück gebrochen. Geschieht das nicht, kann es, wie in dem in

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einigem ähnlich gelagerten Film IL PORTIERE DI NOTTE (1974) von Liliana Cavani, zu einem Re-Enactment in einer tödlichen Intimität (vgl. Schwab 2010, 151 ff.) kommen, durch die Täter und Opfer bei ihrer Wiederbegegnung in eine autodestruktive Dynamik gezogen werden. Aus einer etwas anderen Perspektive formuliert: Roberto bekennt keine Schuld, aber so etwas wie einen inneren Riss ein. Die sadistische Lust, die für Paulina zuvor wie eine überall lauernde Bedrohung erfahren wurde, hat nun einen Ort im Inneren des Täters. Doch hat Paulina dadurch einen Ort, von dem aus sie sprechen könnte? In der Wahrheitskommission werden nur Verbrechen zur Sprache kommen, die zum Tod des Opfers geführt haben. Aber selbst ihrem Mann gegenüber hat Paulina nie über die Vergewaltigungen gesprochen. Gerardo hat auch nie danach gefragt und ist sich, wie der Film in einer durch die Ankunft von Roberto unterbrochenen Liebesszene zeigt, auch sehr wenig darüber im Klaren, wie seine Frau ihre gemeinsame sexuelle Beziehung erlebt. Die Einstellungen des Vorspanns fortsetzend zeigt der Film in einer Art Nachgedanke das Ehepaar Escobar in einem Konzert, in dem Franz Schuberts „Streichquartett in d-Moll“ gespielt wird. Wir sehen, dass sich Paulina zu erinnern beginnt. Schubert war Robertos Lieblingsmusik, die er von einer Kassette spielte, während er über Paulinas Körper herrschte. Schubert hat auch das Gedicht von Matthias Claudius vertont, von dem Film und Theaterstück den Titel übernommen haben. Paulina spürt Robertos Anwesenheit, der in einer Loge mit seiner Frau und zwei Söhnen sitzt. Auch Roberto entdeckt Paulina und wirft einen noch immer begehrenden, ja beherrschenden Blick auf sie. Schrecken, Furcht, Verlorenheit und Suche nach Fassung prägen Paulinas Gesicht. Es gibt eine Gemeinchaft des Konzertbesuchs, doch unterscheidet sich diese Normalität wirklich von der, die im Buenos Aires von GARAGE OLIMPO herrscht? Ist sie nicht auch von der Unsichtbarkeit einer Gewalt durchzogen? Ist nicht Paulina in der Schlusseinstellung in einem freien Fall, von dem der neben ihr sitzende Gerardo, der ihre Hände hält, kaum etwas weiß? Die Bindung zwischen Frau und Tod, die der Titel anspricht, scheint kaum gelöst. Robertos Geständnis der Lust, die ihm die Vergewaltigung bereitet habe, findet sich übrigens nicht in Dorfmans Theaterstück, von dem der Film sonst viele Passagen im Wortlaut übernommen hat (Dorfman 1991). Man sieht dort auch nicht, wie Paulina die Fesseln von Roberto löst und weggeht. Die Szene an der Klippe wird mit einem Einfrieren der Bewegungen

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und dem Herunterlassen eines großen Spiegels, in dem sich die Zuschauer sehen können, beendet. Davor hat Roberto sein Geständnis widerrufen. Polanskis filmische Interpretation macht aus diesem Stillstand ein Ereignis und gibt der Spiegelmetapher des Theaterstücks Kontur. Es geht hier nicht mehr um eine Frage der Gerechtigkeit, die an dieser Stelle im Theaterstück aufgeworfen wird. Es geht eher um das Aussprechen der Tat, darum, sie zu benennen und ihre Wirkung einzugrenzen. Doch hält Polanski bei der anderen, nicht minder drängenden Frage mit offenem Zweifel inne: Sind Paulinas Erfahrungen mitteilbar, gibt es einen Ort, von dem aus sie sprechen kann? „I don’t exist“, sagt Paulina noch vor dem Eintreffen Robertos zu ihrem Mann, als deutlich wird, dass dieser die Leitung der Wahrheitskommission übernommen hat, obwohl Folter und Vergewaltigung ohne Todesfolgen dort nicht zur Sprache kommen werden (0:12:35).

R ED D UST (S LOVO /H OPPER ) Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission (TRC), die 1996 ihre Arbeit aufnahm, setzte, obwohl sie mit ihrem Namen deutlich an die lateinamerikanischen Versuche anknüpfte, bewusst andere Prioritäten als die chilenische Kommission von 1991. Im Zentrum stand die Idee, dass Wahrheit der Weg zur Versöhnung sei: „Truth: The Road to Reconciliation“ stand als Banneraufschrift in den Lokalen, in denen die Kommissionen zwischen 1996 und 2000 tagten. Damit wurde eine zeitliche und prozessuale Dimension betont: Wahrheit und Zeugenschaft können nur Wege hin zu einer Versöhnung sein, nicht diese schon selbst. Die Kommissionen waren stark dezentralisiert, d.h., sie untersuchten Menschenrechtsverletzungen auf allen Ebenen des politischen Apparates, in der zentralen Regierung wie den örtlichen Polizeidienststellen sowie auch den Organisationen der ehemals illegalen oppositionellen Parteien. Und vor allem hatten sie den Anspruch, opferzentriert zu sein. 21 000 Aussagen zu etwa 38 000 Fällen von grober Menschrechtsverletzung wurden zu Protokoll genommen 2000 Zeugenaussagen, also weniger als ein Zehntel, wurde in öffentlichen Verhandlungen wiederholt und erweitert. Sie sind in südafrikanischen Archiven in 10 446 Stunden Tonband- und 14 202 Stunden audiovisueller Aufnahmen dokumentiert (Cole 2010, 26; vgl. Truth and Reconciliation Commission 1, 165 ff.). Catherine Cole hat in ihrem Buch „Performing South Africa’s Truth

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Commission“ ausgerechnet, dass eine einzige Wissenschaftlerin über viereinhalb Jahre zur Sichtung des Materials bräuchte. Es ist tatsächlich bisher kaum erforscht, obwohl es ein einzigartiges Dokument darüber bietet, wie die Erfahrung von Gewalt in öffentlichen Aussprachen artikuliert wird und wie diese Artikulation wiederum von anderen, von Einzelnen und von einer dafür eingerichteten Institution aufgenommen, gefiltert, kanalisiert und übersetzt wird: von Tätern, Vorsitzenden, Anwälten, Zeugen, Übersetzern, Zuhörenden, Journalisten, Schriftstellern, Radio-, Fernseh- und Filmemachern. Der Versuch einer Opferzentrierung gehörte zu den Grundlagen der Arbeit der TRC. Das schloss unter anderem die Idee ein, dass durch die Artikulation von Erfahrung – oder durch das, was in den Begriffen der TRC das Aussprechen der Wahrheit heißt – sozial etwas geschieht; und dass dies wichtiger ist als eine juristische Verfolgung. Waren die Taten politisch motiviert und nicht von der Lust zur Grausamkeit dominiert, konnten die Täter damit rechnen, amnestiert zu werden. Was ist mit dieser Idee verbunden? Zunächst entkoppelt sie, wie immer widersprüchlich oder unvollkommen das geschehen sein mag, die Idee der Artikulation von Erfahrung von der juristischen Aufarbeitung und vor allem der juristischen Verfolgung. Wahrheit und Versöhnung werden nicht an das Recht gekoppelt, nicht an die staatliche Politik, sondern an die Anerkennung durch andere, die Erinnerung, das soziale Gedächtnis, an die Gesellschaft. So antwortete zum Beispiel eine Zeugin, Nomonde Calata, auf die Frage Catherine Coles, warum sie zur Kommission gekommen sei und ausgesagt habe: „to speak to people who will listen to me.“ (79) Das schließt ein, dass das Politische sich vom Rechtlichen löst. Und auch vom Staat als Souverän, der über eine Amnestie entscheiden kann. Die TRC war eher Vermittler und Moderator als selbst Rechtsinstanz, ein politischer und sozialer Prozess, Teil eines Prozesses des Abbaus von Spaltungen, psychischen, sozialen, kulturellen, politischen. Opferzentrierung hieß auch, dass denen, die Gewalt erlitten haben, ein weniger eng gesteckter Rahmen zur Artikulation geboten wurde, als es ein juristisches Verfahren im Sinne des Strafrechts zugelassen hätte. Es ist darauf hingewiesen worden, dass verschiedene Formen des Erzählens und der Artikulation von Affekten, wie sie afrikanische Kulturen bieten, so den Zeugen eher als Formen des Ausdrucks zugänglich blieben. Sicher wurde das auch wiederum von politischen Diskursen aufgegriffen und in sie ein-

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gespannt. So hat die eben erwähnte Nomonde Catala ihre Aussage mit einem Schmerzensschrei begonnen, den SABC, der südafrikanische Rundfunk, dann als Kennzeichnung für die regelmäßige Berichterstattung über die Verhandlungen der TRC benutzte. Doch wäre es, so auch Feldman (2004, 179), ethnozentristisch, dabei die unglaubliche Anstrengung und Leistung zu übersehen, in der die Gemeinschaften die sozialen Bindungen zumindest teilweise wiederherstellten. Es würde auch die Rolle unterschätzen, welche in dieser Trauerarbeit insbesondere den Frauen und Müttern zukam. Schließlich würde es auch bedeuten, den abstrakten Rechtsgedanken höher zu bewerten als den performativen Prozess der Reinszenierung eines Geschehens im theatralen Genre der Gerichtsverhandlung. Die politische Bedeutung von Prozessen über Gewaltverbrechen konzentriert sich oft viel weniger auf die Frage eines gerechten Urteils als auf den performativen Prozess der Verhandlung (vgl. Felman 2002). Opferzentrierung bedeutet aber darüber hinaus, dass das Opfer gerade nicht aus der Position des Opfers spricht, dass das Opfer so etwas wie agency, wie Handlungsmacht behalten oder bekommen kann. In RED DUST (2004), einem Film von Tom Hooper nach dem gleichnamigen Roman von Gillian Slovo, nimmt Alex (Chiwetel Ejiofor), der zur Aussage über seine erlittenen Folterungen vor die TRC geladen ist, das Schild mit der Aufschrift „Victim“ vom Tisch vor dem ihm zugewiesenen Stuhl. Viele zogen den Begriff „Survivor“ vor, da sie mit ihm angesprochen fanden, dass es einen Kampf und damit auch einen Handlungsspielraum gegeben habe (Feldman 2004, 179). Alex, der mittlerweile eine politische Karriere gemacht hat und Parlamentsabgeordneter ist, hat sich zur Aussage bereit erklärt, um bei der Aufklärung über den Tod seines Freundes Steve, der mit ihm zusammen verhaftet worden war, behilflich zu sein. Aber selbstverständlich bedeutet für ihn die Erinnerung an die extreme Ausgesetztheit in der Folter in vielfacher Hinsicht auch eine Gefahr. Zunächst einmal könnte es ihm seine soziale Anerkennung und auch seine politische Karriere kosten, wenn sich erweisen sollte, dass er unter der Folter gesprochen hat oder gar eine Mitschuld am Tod seines Freundes trägt. Wenn er sich trotzdem darauf eingelassen hat auszusagen, dann wohl nicht, weil er sich hier so sicher ist, sondern weil er selbst, ohne sich davon Rechenschaft abgelegt zu haben, nach einer Aufklärung sucht. In der ausgestellten Besorgnislosigkeit, mit der er in die Verhandlung geht und die seiner Anwältin Sarah (Hilary Swank) doch ei-

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nige Mühe bei der Entwicklung einer Diskursstrategie bereitet, scheint der Film das ausdrücken zu wollen. Nicht nur der Täter, auch das Opfer muss oft dazu getrieben werden, sich zu erinnern. Die Bahnen, die Alex jeden Morgen im örtlichen Schwimmbad zieht, erscheinen wie ein Versuch, gegen diese Erinnerung anzugehen: die Erinnerung an die Wasserfolter, die Schläge, und an den letzten Blick, den Alex mit seinem Freud Steve wechseln konnte, bevor dieser an seinen schweren unter der Folter erlittenen Verletzungen starb. Der Film inszeniert diese Bilder wie Flashbacks. Das geschieht das erste Mal ganz zu Beginn des Films, zu einem Zeitpunkt, an dem es dem Zuschauer noch nicht möglich ist, dies einem Kontext zuzuordnen. Damit verbunden, in seiner Dynamik aber sicherlich autonom, ist erneut die Frage der malignen Intimität zwischen Opfer und Täter. Sie drückt sich in einer körperlichen Nähe aus, welche der Film vor allem in der mehrfach wiederholten Erinnerung an diese letzte Begegnung mit Steve vorführt, die sowohl aus der subjektiven Perspektive von Alex dargestellt wird wie auch aus einer Beobachterperspektive. Dirk (Jamie Bartlett), der Polizist, der die Verhöre und die Folterung von Alex geleitet hat, scheut die Berührung des blutüberströmten, von ihm selbst misshandelten Körpers von Alex nicht. Fast zärtlich nimmt er dessen Arm, als es darum geht, Alex dazu zu bringen, seinen Freund als Mitglied des Widerstandes zu identifizieren. Die Präzision, mit der Dirk in der Verhandlung Alex mit dem Ziel unter Druck setzt, dass dieser keinen Einspruch gegen sein Amnestiebegehren einlegt, zeugt aber auch von einer präzisen mentalen Einfühlung in sein Opfer. Im Roman finden sich hierzu ausführlichere Passagen, in denen jeweils in inneren Reflexionen aus der Perspektive von Alex und von Dirk deutlich wird, wie eng die Selbstbilder der beiden miteinander verschränkt sind und wie schwer es für Alex ist, sich von der Macht Dirks zu befreien, gerade weil ihm bekannt ist, wie Dirk denkt und dass dieser „had understood the power of Alex’s imagination.“ (Slovo 2005, 190) Wenn wir im vorigen Kapitel gesehen haben, dass Einfühlung und Empathie keineswegs schon bedeuten müssen, dass sich damit auch ein Mitgefühl, eine compassion für den anderen einstellt, wie kann eine solche Verhandlung zu einer Versöhnung beitragen? Es gibt wohl eine Szene gegen Ende des Films, in der Dirk zu Alex sagt, dass es ihm sehr leid tue, was er ihm angetan habe, doch ist selbst dies ja noch auf der Basis Einfühlung gesagt, die sehr präzise den Zeitpunkt bestimmen kann, an dem dies, zumal in einem Gespräch zu zweit, seine Wirkung nicht verfehlt. Erneut, wenn

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auch anders als es in Polanskis Film geschieht, wird hier eine Intimität fortgeschrieben. Nachdem Dirk in der Gerichtsverhandlung behauptet hat, Alex habe ihm alle Informationen gegeben, die er brauchte, distanzieren sich die früheren Kameraden, die noch im Dorf leben, von ihm. Einen von ihnen stellt Alex zur Rede, schlägt ihn nieder und hält seinen Kopf in einen Wassertrog bis an den Rand des Ertrinkens. Alex sagt zu seiner Anwältin kurz danach: „I became the torturer a long time ago.“ Der Film lässt es offen, was dieser Satz bedeutet, ob er als Geständnis in dem Sinne gemeint ist, dass Alex in den Jahren nach seiner Freilassung im militärischen Untergrundkampf selbst gefoltert hat, oder ob dies eher im Sinne einer Selbstfolterung zu verstehen ist. Jean-Claude Rolland beschreibt mit diesem Begriff die Tendenz, die erlittene Folterung an sich selbst zu wiederholen (Rolland 1986, S. 363).

V ERSÖHNUNG

UND

G ESCHLECHT

RED DUST nimmt die Idee der Versöhnung nicht für das Verhältnis von Alex und Dirk, von Opfer und Täter in Anspruch. Auch hier geht es, wie in Polanskis Film, eher um einen Modus der Neutralisierung der malignen Intimität. Hoopers RED DUST lässt es aber offen, inwieweit Sarah sich dem Land ihrer Herkunft wieder zuwendet. Als Jugendliche war sie in Smitsrivier, dem Ort in der Großen Karoo, in dem dieser Film spielt, festgenommen worden, weil sie eine Liebesbeziehung zu einem Farbigen hatte. Dieser ist, wie sie während der Gerichtsverhandlung erfährt, später in der Haft umgekommen. Auch lässt der Film offen, was ihr selbst in den Tagen der Haft geschah. Er zeigt nur, wie ihre Selbstsicherheit bricht und einer inneren Angst weicht, als sie Piet Muller (Ian Roberts), den Polizeichef des Ortes, der sie damals auch verhaftet hatte, begegnet. Nach ihrer Migration in die USA, wo sie als Anwältin lebt, war Sarah nie mehr zurückgekehrt. Dass sie jetzt nach Smitsrivier gekommen ist, um als Rechtsbeistand von Alex zu wirken, geschah auf Bitten von Ben (Marius Weyers), einem örtlichen Bürgerrechtler, der sich für die Aufklärung des Verschwindens von Steve einsetzt. Er war für Sarah ein väterlicher Freund, der sie jetzt gewinnen möchte, sich am Aufbau eines neuen Südafrika zu beteiligen.

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Die Frage der Versöhnung stellt RED DUST in einem anderen Zusammenhang. Sie betrifft die Beziehungen der Menschen, die unter der Gewalt gelitten haben, die Beziehung zu ihrem eigenen Leben und zur Gemeinschaft. „Woundedness – moral or psychological – is a sign of ethical responsibility towards the other,“ schreibt Pumla Gobodo-Madikizela (Gobodo-Madikizela 2009, 162), die als Psychologin lange für die TRC tätig war. Während vulnerability, Verletzbarkeit, in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach und meist mit Bezug auf Emmanuel Lévinas als eine Bestimmung der Relationalität des Menschen in die Diskussion gebracht worden ist, etwa von Judith Butler (Butler 2009, 33 ff.) und davor schon von Wendy (vgl. Brown 1995), so spricht Gobodo-Madikizela tatsächlich von der Verletzung als Zeichen der ethischen Verantwortung für den anderen. In einer Gesellschaft, die sich mit einer unmittelbaren Vergangenheit massiver Gewalt auseinandersetzen muss, geht es um die Bezugnahme auf den anderen als jemanden, der verwundet worden ist. Es geht weniger darum, aus der Verletzbarkeit die Sorge um den anderen abzuleiten, als aus der Verletzung so etwas wie die Verantwortung für die Rekonstruktion einer sozialen Welt, die trotz des Risses einen sozialen Halt bietet, ja, die dies ausdrücklich in Anerkennung des Risses tut. Indem die TRC Täter und Opfer zusammen brachte, eröffnete sie eine Chance auch für den Täter, die Wahrnehmungsspaltung zurückzunehmen und das Leid wahrzunehmen, das er anderen Menschen zugefügt hat. Allerdings konnte sich die TRC dabei auf ein Selbstverständnis sozialer Beziehungen stützen, das der sozialen Verbundenheit eine höhere Bedeutung für die Identität und das Selbstwertgefühl des Einzelnen beimisst als einer isolierten Selbstbezogenheit. Es gibt im kulturellen Erbe des südlichen Afrikas dafür das Wort ubuntu, das, so Gobodo-Madikizela, in etwa mit der Vorstellung einer gemeinsam geteilten Menschlichkeit zu übersetzen wäre (Gobodo-Madikizela 2009, 163). In RED DUST gibt es keine Versöhnung zwischen Alex und seinem Peiniger, aber vielleicht eine Versöhnung zwischen Alex und der Mutter seines in der Folter ermordeten Freundes. Auch sie wird möglich dadurch, dass sich Alex einer Erinnerung überlässt, die ihm eigentlich nicht mehr zugänglich war, dadurch, dass er sich in die Situation einer inszenierten Rekonstruktion eines Geschehens begibt, das er allein nicht erinnern kann. Und sie wird für die Mutter des ermordeten jungen Mannes möglich nach einer Situation der ekstatischen Trauer vor den sterblichen Überresten ihres

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Sohnes, die auf der Folterfarm verscharrt gefunden wurden. Danach willigt auch der Vater des ermordeten Steve ein, Alex an seiner Sohnes statt als Mitglied der Familie zu akzeptieren. Mitgefühl ist, anders als Einfühlung, mit der Antwort auf die Ansprache durch den anderen verbunden, mit Verantwortung für den anderen. Die Versöhnung geht von der Figur der Mutter aus. An ihrem Ort, in ihrem Haus, in ihren Armen scheint so etwas möglich. Ohne dieses Bild selbst abzutun, müsste aber doch an diese Auflösung des Films die Frage gestellt werden, was dadurch möglicherweise verdeckt wird. Was RED DUST nicht zeigt und was auch in den Verhandlungen der TRC kaum zur Sprache gekommen ist, das ist die Häufigkeit und Regelmäßigkeit, mit der Folterungen sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen einschlossen. Das gilt für die südafrikanische Polizei und Armee genauso wie für den African National Congress (ANC) und andere Organisationen des Widerstandes. Ausgehend von dieser Beobachtung weist Louise du Toit in einem sehr bemerkenswerten Aufsatz darauf hin, dass Vergewaltigung einen Akt an der Schwelle von Privatem und Öffentlichem darstellt, der eben diese Differenz markiert und das Opfer aus dem Öffentlichen oder Politischen ausschließt (du Toit 2007, 25). Wie muss ein Ort beschaffen sein, von dem aus über die Vergewaltigung gesprochen werden kann? RED DUST zeigt, dass während den Verhandlungen der TRC immer eine in den traditionellen afrikanischen Praktiken der Heilung erfahrene Frau dem Opfer zur Seite war, um, wenn nötig, Trost zu spenden. Alex nimmt dieses mütterliche Gehaltenwerden tatsächlich auch einmal in Anspruch. Könnte es auch eine Frau halten, die von ihrer Vergewaltigung Zeugnis ablegt? Folgt man du Toit, ist das kaum möglich, weil die Vorstellung des Mütterlichen selbst eingespannt ist in die Dynamik eines Bedürfnisses nach Zugehörigkeit, das die Reinheit oder Homogenität des Ortes sucht, das alleinige Aufgenommensein. In unseren Kulturen aber ist die Frau, folgt man Luce Irigaray, sowohl die Umschließung, die gesucht wird und die Halt geben soll, wie das Gegenüber, gegen das sich die Identität, insbesondere die des Mannes, situiert (Irigaray 1991, 17). Das vielleicht unmögliche Bild der Mutter, welche eine vergewaltigte Frau in ihren Armen hält, verdichtete diesen Widerspruch bis zum Kollaps der Aussage. Ist ein Halten denkbar, das nicht in diesem Sinne mütterlich konnotiert ist? Oder ist ein Fallen denkbar, das nicht tödlich ist, ein zweites Fallen, ein Fallen in Gnade oder grâce, wie es Simone Weil zu denken versucht? du Toit zitiert eine Passage

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aus einer Erzählung der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson, um dies zu denken: „Versöhnung sollte für uns stattdessen die Bedeutung annehmen, zu lernen, wie man im Raum hängt, ohne durch irgendetwas gestützt zu werden.“ (du Toit 2004, 26) Du Toit nimmt Irigarays Gedanken auf und radikalisiert sie in Hinblick auf Prozesse der sexuellen Gewalt: Die phantasmatische Schaffung eines homogenen Heims setzt die Ausgrenzung der Differenz des Weiblichen voraus. Sie realisiert sich als Anspruch der Beherrschung des weiblichen Körpers und Ausschluss der Frau aus dem Bereich der Rede und der Politik. Im Anspruch der TRC, zur Versöhnung beizutragen, wenn nicht gar eine solche zu schaffen, artikuliert sich somit zumindest zum Teil derselbe Wunsch nach einem homogenen Heim, wie er auch in der Gewalt gegen den anderen bis hin zum Völkermord statthat (du Toit 2007, 24). Der Anspruch der Versöhnung hat damit dazu beigetragen, dass Vergewaltigungen kaum Thema der Verhandlungen wurden. Eine der Folgen, so du Toit, ist der Umstand, dass Südafrikas außerordentlich hohe statistische Rate an Vergewaltigungen seit der Abschaffung der Apartheit nicht, wie die anderer Schwerverbrechen, zurückgegangen ist. Versöhnung ist nicht etwas, das von oben bestimmt werden kann wie eine Amnestie. Darauf hat Jacques Derrida in einem Gespräch mit Michel Wieviorka, das im Jahre 2000 in einer Nummer der Lettre International in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Jahrhundert der Vergebung – Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität“ erschienen ist, insistiert (Derrida/Wieviorka 2000 und Derrida 2001). „Das, was das ‚ich vergebe dir‘ manchmal unerträglich oder verhasst, ja sogar obszön macht, ist die Wiederbejahung von Souveränität.“ (Derrida 2000, 18) Es ist obszön, weil die Ausübung von Gewalt gegenüber dem anderen immer mit der Anmaßung einer Souveränität erfolgt. Sie stellt also ihre Gewalt im Akt der Verordnung von Versöhnung geradezu aus und schließt diejenigen, die ein erlittenes Verbrechen vergeben sollen, im selben Akt nochmals vom Recht aus, gehört zu werden. Die Anmaßung von Souveränität ist eine männliche Geste, wie Derrida in seinen Vorlesungen „La bête et le souverain“ deutlich macht. Es gibt keine Planung der Versöhnung. Wenn es sie gibt, dann ist sie ein Ereignis der Nähe einer unvorhergesehenen Andersheit. Sie ist in diesem Sinne vollständig unbedingt. Was aber das südafrikanische Beispiel zeige, so Derrida in einem auf 1998 datierten Text zum selben Thema, „is a

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process of repentance, of amnesty, or of prescription – which one confuses too quickly with forgiveness – a work of mourning that one interprets as healing away, an act of memory as healing that overcomes the trauma and enables wounded communities to live together.’“ (Derrida 2013, 36) In Ian Gabriels Film FORGIVENESS (2004), einer im Unterschied zu RED DUST rein südafrikanischen Produktion, fährt Tertius (Arnold Vosloo), ein ehemaliger Polizist, in ein abgelegenes Fischerdorf an der Westküste, in dem die Eltern und Geschwister eines von ihm erschossenen Folteropfers leben. Er begibt sich gleichsam in ihre Hände, und zwar mit einer Unbedingtheit, welche das Ereignis der Versöhnung wenn nicht hervorruft, dann doch ihm einen Raum der Möglichkeit schafft. Auch in diesem Film sind die Frauen, hier Mutter und Schwester des Ermordeten, diejenigen, in denen sich das Potential der Vergebung zu sammeln scheint. Darüber hinaus ist Vergebung, das macht der Film auch deutlich, ein immer nur persönliches und womöglich auch individuelles Ereignis, das von denen, die es nicht erleben, auch kaum verstanden werden kann. FORGIVENESS endet mit der Ermordung des ehemaligen Polizisten durch frühere Freunde seines Opfers, direkt nach der versöhnenden Andacht, die Täter und Familie gemeinsam am Grab des Opfers halten und der die Mörder fern bleiben. Die ehemaligen Freunde, die selbst zu Tätern geworden waren, rächen sich. Rache ist kein Affekt, sondern ein politisch organisiertes Gefühl, eine „construction psychopolitique“ (Sironi 2007, 155), in ihr wird das Bedrohliche der eigenen Verwicklung projektiv verworfen, um es in einem Außen symbolisch zu vernichten. Rache ist aktive Verleugnung der Nähe. Wohingegen Versöhnung ein In-das-Außen-Gehen des Subjekts bedeutet. Sie kann, vor allem nach Erfahrungen sexualisierter Gewalt, zwischen Täter und Opfer kaum statthaben, ohne dass eine maligne Intimität reaktiviert würde. Sie lässt sich nicht in ein Vertrauen verwandeln. In einem solchen Prozess sozialer Bindung geht es kaum um die vielleicht unmögliche Versöhnung zwischen Täter und Opfer, sondern um die Versöhnung mit einer Einrichtung der Welt, die eine Bereitschaft des Zusammenlebens voraussetzt – selbst wenn sie bedeutet, mit seinem Peiniger in einem gesellschaftlich geteilten Raum Schubert zu hören. „My Neighbor My Killer“ (2009) ist der Titel eines Dokumentarfilms von Anna Aghion über die lokale Gerichtsbarkeit in Ruanda nach dem Völkermord von 1994. 2002 war mit der Einrichtung von GacacaGerichten begonnen worden, welche Traditionen der rechtsprechenden

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Dorfversammlungen aufgriffen. Mehr als 250 000 Laienrichter wurden gewählt, über 11 000 Gerichte etabliert, an die 400 000 Menschen vor Gericht gebracht und über eine Million Fälle verhandelt (vgl. Clark 2012). Aghions beeindruckender Film zeigt an einigen Beispielen, wie die überlebenden Mütter die Mörder ihrer Kinder und Ehemänner anklagen und gibt eine Vorstellung davon, wie wichtig es für sie ist, dass die Täter, die wieder im Dorf leben, das Verbrechen zumindest zugeben. „Woman can be surprisingly forgiving“, sagt Lucy in John Maxwell Coetzees 1999 veröffentlichen Roman „Disgrace“ (Coetzee 1999, 69) zu ihrem Vater David. Nach einer Affäre mit Melanie, einer seiner Studentinnen, hat David seinen Job als Professor für Literatur an der Universität von Kapstadt verloren: Er hatte sie danach trotz ihrer Abwesenheit auf die Anwesenheitsliste seiner Vorlesung gesetzt. David fährt zu seiner Tochter auf das Land. Sie lebt allein in einem Haus, in dem sie in den 1980er Jahren mit anderen eine Landkommune gegründet hatte. Heute erwirbt sie ihr Einkommen durch den Verkauf gezüchteter Blumen und die Pflege von Hunden. Sie bietet ihrem Vater an zu bleiben. Eines Nachmittags kommen drei Männer, zwei Erwachsene und ein Junge. Sie erschießen fast alle Hunde, überwältigen David, begießen ihn mit einer brennbaren Flüssigkeit, zünden sie an, sperren ihn in eine Toilette, vergewaltigen zu dritt die Tochter, nehmen einiges an Haushaltsgütern mit und fahren mit Davids Auto davon. Lucy zeigt den Überfall und den Diebstahl an, aber nicht die Vergewaltigung. „The reason is that, as far as I am concerned, what happened to me is a purely private matter. In another time, in another place it might be held to be public matter. But in this place, at this time, it is not. It is my business, mine alone.“ (Coetzee 1999, 112)

Lucys Erklärung entspricht genau der Beschreibung, wie sie du Toit in ihrem einige Jahre später erschienen Text gibt: Vergewaltigung setzt an der Schwelle zwischen Privatem und Öffentlichem an, sie markiert diese Differenz, indem sie das Opfer aus der Möglichkeit, zu sprechen, ausschließt. David kann das nicht verstehen. Er selbst hat sich, als er vor einer Kommission der Universität zu den Vorwürfen Stellung nehmen musste, für schuldig erklärt, ohne die Aussage von Melanie überhaupt gelesen oder gehört zu haben. „Guilty of what?“ wird er gefragt. „Of all that I am charged with.“ (49). Der sexuelle Akt zwischen Melanie und ihm war, wie

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der Erzähler in seiner verknappten und präzisen Ausdrucksweise, die in freier indirekter Rede ständig zwischen personaler Erzählung und innerem Monolog changiert, sagt: „Not rape, not quite that, but undesired nevertheless, undesired to the core.“ (25) Mit seinem Verzicht, die Anklage überhaupt zu hören, drängt er die Tat selbst wieder ins Private ab. Er nimmt Melanie ihre Stimme, die sie aber vielleicht auch nur erhob, weil ihr Freund sie dazu gedrängt hatte. Davids Eingeständnis von Schuld aber ist ein öffentlicher Akt, der vielleicht Nachteile mit sich bringen kann, der aber den Schuldigen nicht aus dem Raum der Öffentlichkeit ausschließt. So sucht er zunächst auch nach politischen Gründen für Lucys Verhalten: „Is it a form of private salvation you are trying to work out? Do you hope you can expiate the crimes of the past by suffering in the present.“ „No. You keep misreading me,“ erwidert Lucy, „Guilt and salvation are abstractions. I don’t act in terms of abstractions.“ (112) In einem späteren Gespräch benennt Lucy den Kern der traumatischen Erfahrung, der in der Verknüpfung von reiner Verdinglichung des Körpers und Unsichtbarmachung der Subjektivität besteht: „I meant nothing to them, nothing. I could feel it.“ (158) Und weiter: „They see me as owing something. They see themselves as debt collectors, tax collectors.“ (158) Und auf Davids Bemerkung, die Männer wollten sie als ihre Sklavin: „Not slavery. Subjection. Subjugation.“ (159) In der filmischen Adaption des Romans von Steve Jacobs (2008) sind all diese entscheidenden Passagen gar nicht oder sehr verkürzt aufgenommen. So kommt im Dialog, in dem Lucy im Roman sagt, dass es weder der Ort noch die Zeit sei, die Vergewaltigung öffentlich zu machen, im Film die Differenz zwischen dem Privatem und dem Öffentlichen gar nicht mehr zur Sprache (0:56:40). Hier scheint es nur noch um eine besondere Situation Südafrikas zu gehen, nicht um ein grundsätzliches Problem der Opfer von Vergewaltigungen. Damit drängt Jacobs Film gerade das wieder in das Private ab, was in Coetzees Roman zumindest an den Rand der Sichtbarkeit gekommen war. Nach dem gewaltsamen Ereignis stellt der Film Davids (John Malkovich) Brandwunden aus. Bandagen sind wie ein Helm um seinen Kopf gebunden und noch in den letzten Einstellungen werden die Narben an seinem Ohr gezeigt. Von Lucys (Jessica Haines) Verletzungen gibt es kein Bild, höchstens das der verschlossenen Türe ihres Zimmers, in das David nicht eindringen kann. Wie muss ein Film aussehen, der das Politische der Vergewaltigung sichtbar macht?

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1980, über ein Jahrzehnt vor dem Ende des Apartheidregimes und in einer Situation eines sich immer mehr abzeichnenden Bürgerkrieges, hatte Coetzee den Roman „Waiting for the Barbarians" geschrieben. Der Erzähler ist ein Magistrat in einer Kolonialstadt am Rande eines Empire genannten Landes. Jenseits dessen lebt die autochthone Bevölkerung in einem wenig zugänglichen, bergigen Gebiet. Der Magistrat ist seit etwa 30 Jahren dort tätig und versteht es, den Ort zu verwalten, ohne dass es zu offenen gewaltsamen Konflikten mit den Barbarians genannten anderen gekommen wäre. Nach der für ihn völlig überraschenden Ausrufung des Ausnahmezustandes durch die Zentralregierung zieht eine Armeeeinheit des Empire in die Stadt und nimmt in einer militärischen Expedition in das Gebiet der Barbarians eine Reihe von Gefangenen. Sie werden über mehrere Tage misshandelt und gefoltert. Einige werden ermordet, einige werden verkrüppelt frei gelassen. Unter ihnen eine junge Frau, der mit einem Hammer die Knöchel zerschlagen wurden und die unter der Folter fast vollständig mit offenem Feuer geblendet wurde. Unfähig zu laufen, war sie von den Freigelassenen zurückgelassen worden. Der Magistrat nimmt sie zu sich auf und pflegt sie. Mit knappen Worten berichtet sie ihm auf seine insistierenden Fragen, wie es zu den sichtbaren Verletzungen gekommen ist. Über alles andere schweigt sie, es ist ihm nicht möglich, in sie zu dringen: „But with this woman it is as if there is no interior, only a surface across which I hunt back and forth seeking entry. Is this how her torturers felt hunting their secret, whatever they thought it was?“ Es sei das erste Mal, dass er Mitleid mit den Folterern habe, so selbstverständlich erscheine ihm der Irrtum zu glauben, es sei möglich, mit Gewalt einen Weg „into the secret body of the other“ zu finden. „The girl lies in my bed, but there is no good reason why it should be a bed. I behave in some ways like a lover – I undress her, I bath her, I stroke her, I sleep beside her – but I might equally well tie her to a chair and beat her, it would not be less intimate.“ (Coetzee 2004, 46)

Er kann sich sein eigenes Tun nicht erklären, dieser Körper in seinem Bett, für den er sich verantwortlich fühlt, hat keinen Ursprung: „time has broken, something has fallen upon me from the sky, at random, from nowhere“ (47). Er wird die junge Frau in einer gefährlichen Expedition später in die Berge bringen, er wird auf diesem Weg kurz vor der Übergabe auch mit ihr schlafen, aber das erscheint schon wie eine Aufgabe der Verantwortung

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und eine Lösung des Bundes der Intimität. Als später die Armee-Einheit unter Colonel Joll wieder mit Gefangenen in seine Stadt einzieht und diese in aller Öffentlichkeit grausam gefoltert und ermordet werden, tritt der Statthalter dazwischen, wird selbst festgesetzt und misshandelt. Eines Tages, unter dem Eindruck einer inszenierten Hinrichtung, schreibt der Erzähler über seinen Folterer: „He deals with my soul: every day he folds the flesh aside and exposes my soul to the light; he has probably seen many more souls in the course of his working life; but the care of souls seems to have left no more mark on him than the care of hearts leaves on the surgeon.“ (129)

Wenn der Bericht des Magistrats, wenn Schreiben eine Form des Geständnisses sein kann, worin unterscheidet sich diese Form der Offenlegung der Seele von der durch den Folterer erzwungenen? Ist es nur eine Frage der Handlungsmacht? Oder ist nicht etwas anderes von entscheidenderer Bedeutung, etwas, das man vielleicht Ausdruck nennen kann? Wenn der Folterer die Seele, das, was Winnicott das incommunicado nennt, dem Licht aussetzt, ist nicht der Ausdruck, den das Subjekt im Schreiben oder im Bild findet, ein Schutz vor seinem Verschwinden? Ausdruck ist politisch, nicht weil er öffentlich wahrgenommen wird, sondern weil er etwas Prozessuales ist, das sich nicht vergisst. Selbst dann, wenn der Ausdruck selbstzerstörerisch wird und den oder die sich Ausdrückende selbst verzehrt, reißt er Bilder der Erinnerung aus dem Fluss der Zeit und der Unsichtbarkeit dessen, was jenseits der Ordnungen liegt. Anders gesagt: Das Geständnis des Magistrats ist politisch, weil es ein Ausdruck an der Grenze der Empfindlichkeit ist und damit die Grenzen der Sichtbarkeit verschiebt.

H UNGER (M C Q UEEN ) In Steve McQueens Film HUNGER (2008) sehen wir zuerst die Hände eines Mannes in einem Becken kalten Wassers. Er kühlt offenbar seine Prellungen. Etwas später in diesem ersten Spielfilm des durch seine Videoarbeiten bekannt gewordenen britischen Künstlers bemerken wir, warum: Raymond Lohan (Stuart Graham) ist Polizeibeamter im Maze Prison, einem von der Britischen Armee 1971 südwestlich von Belfast in Long Kesh auf einem Militärflughafen eingerichteten Gefängnisareal, und hat dort die Aufgabe

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übernommen, die Gefangenen, die in den Waschraum gebracht werden, durch Schläge zu schwächen und sie zusammen mit den anderen Wärtern beim Baden zu misshandeln. Das Maze Prison war vornehmlich für die Gefangenen der Provisorischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) eingerichtet worden und bis 2000 in Betrieb. Aus Protest gegen die Nichtanerkennung des Status als politische Gefangene hatten sich die inhaftierten IRA-Mitglieder über Jahre geweigert, Anstaltskleidung zu tragen. Ihre eigene Kleidung aber wurde ihnen abgenommen. Zu diesem Blanket Protest kam ein Dirty Protest. Im Oktober 1980 wurde dann ein erster Hungerstreik mit dem Ziel durchgeführt, dass die Häftlinge den Status politischer Gefangener erlangten. Nachdem die britische Regierung Verhandlungsbereitschaft signalisiert hatte, wurde er zunächst abgebrochen. Als sich dies aber als Täuschung erwies, nahmen die Gefangenen den Hungerstreik am 1. März 1981 unter Führung von Bobby Sands wieder auf. Am 9. April gewann Bobby Sands die Nachwahl für das House of Parliament in einem nordirischen Distrikt und war damit gewählter Parlamentsabgeordneter. Doch die Haltung der englischen Regierung unter Margaret Thatcher blieb kompromisslos. Nach 66 Tagen ohne Nahrung starb Sands. Neun weitere Mitglieder fanden den Tod, bevor der Hungerstreik im Oktober beendet wurde. McQueens Film erzählt vor allem vier längere Geschichten: die des Folterers Raymond, die der Misshandlung der Gefangenen durch weitere Polizisten und eine besondere Schlägergruppe der britischen Sicherheitskräfte, die eines vier gerauchte Zigaretten langen Gesprächs zwischen Bobby Sands (Michael Fassbender) und dem Pater Dominic Moran (Liam Cunningham), in dem es vor allem um den geplanten Hungerstreik geht, von dem ihn der Pater vergeblich abzubringen versucht, und die des Hungerstreiks von Sands. Eine solche Beschreibung geht allerdings an dem ästhetischen Verfahren dieses in langen, immer wieder Motive der Malerei aufgreifenden Einstellungen montierten Films vorbei. Der Film schafft vier Konstellationen, in denen es um Widerstand und Gewalt geht, um den Widerstand gegen das Aufbrechen, die Zerstörung eines inneren Selbst, dessen, was sich vielleicht mit Winnicotts Begriff des incommunicado am ehesten verstehen lässt, und um die Frage Coetzees, welche Spuren ein solches Brechen des Schutzes des anderen, ein solches Trachten nach dem Offenlegen der Seele des anderen am Täter hinterlässt. Die Misshandlungen und Folterungen der Gefangenen im Maze Prison hatten nicht das Ziel Aussagen zu erpressen oder die Gefangenen in langen

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Verhören in einen Zirkel der Schuld zu verstricken. Dass die britische Polizei, gedeckt von der britischen Regierung, Folter auch zu diesem Zweck einsetzte, ist vielfach belegt und wird etwa in Jim Sheridans Film IN THE NAME OF THE FATHER (1993) rekonstruiert. Dort wird geschildert, wie eine Gruppe von Jugendlichen, die als Guildford Four bekannt wurde, wegen Bombenanschlägen in London zum Teil lebenslange Haftstrafen erhielten. Die Anklage stützte sich auf unter der Folter erpresste falsche Geständnisse und verheimlichte die eindeutigen Beweise der Unschuld der Angeklagten, wohl nicht zuletzt deshalb, weil damit die Folterungen, die zu den falschen Geständnissen geführt haben, erwiesen worden wären. Im nordirischen Maze Prison ging es jedoch um die Zurückweisung der Nichtanerkennung der britischen Souveränität über Nordirland und der damit verbunden Weigerung die Gefangenen als politische Häftlinge anzuerkennen. Die britische Regierung unter Margaret Thatcher bezeichnete sie ausschließlich als Kriminelle. Maud Ellmann schreibt in ihrem Buch „Hungerartists“ über den Zusammenhang von Hungern, Schreiben und Gefangenschaft, dass die Gefangenen in Long Kesh für Mrs. Thatchers Augen hungerten – „die sie jedoch kompromisslos geschlossen hielt.“ (Elllmann, 176) In seiner Lektüre von HUNGER verweist Sven Seibel darauf, dass eine Anerkennung immer einen Rahmen voraussetzt (Seibel 2011, 223 f.). Er bestimmt die Bedingung der Anerkennbarkeit, der recognizablity, wie Seibel mit Bezug auf Judith Butlers Überlegungen in „Frames of War“ weiter ausführt. Butler denkt dabei vor allem an einen diskursiven Rahmen, der auch die Wahrnehmung von Bildern steuert (Butler 2009, 63 ff.). Es sind die in HUNGER in einem dokumentarischen Audiomitschnitt aufgenommen Sätze von Thatcher, in denen dieser Ausschluss der Gefangenen von der Sorge diskursiv vollzogen wird. Sie seien „men of violence. They have chosen to play what may be their last card. They have turned their violence against themselves, through the prison hungerstrike to death. They seek to work on the most basic of human emotions, pity, as a means of creating tension and stroking the fires of bitterness and hatred.“ McQueen arbeitet mit langen, fast immer ruhigen Einstellungen. Nur wenn die Gefangenen durch die Gänge gezerrt, geschlagen oder gegen ihren Willen ihre Haare und ihr Bart geschnitten werden, benutzt McQueen eine Handkamera, die in ihrer Unruhe etwas von der Gewalt des Hin-undher-Gezerrtwerdens in Bewegung überträgt. Aber auch diese kommt immer wieder kurz zum Stillstand, konzentriert sich auf Einzelheiten wie Hände,

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die sich festklammern, andere Hände, die gelbe Gummihandschuhe überstreifen, oder wie die geputzten schwarzen Schuhe des schlagenden Wärters, dessen blutige Hände, das blutüberströmte Gesicht des Opfers. Später, wenn Bobby Sands in seinem Fieber und seinen Halluzinationen auf der Pritsche liegt, finden sich weitere Kamerabewegungen, ortlos, subjektlos, voller Unschärfe. Raymonds geschwollene Hände, durch deren Haut an den Knöcheln leicht Blut sickert und die er in das kalte Wasser eines Waschbeckens hält; oder auch das Bild, wie er nach seinen Gewaltausbrüchen gegenüber den Gefangenen an der Hauswand der Baracke steht, das blaue Hemd nass von seinem Schweiß, während dünne Schneeflocken herunterfallen und Raymond eine Zigarette raucht, als müsse er nach einem sexuellen Akt wieder zu sich finden: Intensiver könnte man mit visuellen Mitteln die Frage danach, welche Spuren die Folterung beim Täter hinterlässt, kaum stellen. Es ist ein Kampf, aber nicht gegen die unter der Überzahl der brutal agierenden Wärter hilflosen Gefangenen, sondern ein Kampf zwischen Nähe und Aggression, ein Kampf, der sich im Inneren des Täters abspielt. Er wird in Szenen der Gewalt rituell ausagiert, die Opfer haben dabei eine rein passive Rolle. Die Intimität, die mit dem Überschreiten der Grenze zum anderen in Szenen körperlicher Gewalt vielleicht immer gegeben ist, drücken diese Bilder nicht durch Einstellungen aus, die den engen Kontakt zwischen den Körpern zeigen, wie es etwa in der Folterszene in RED DUST der Fall ist, sondern durch das Bild der Haut, durch die das Blut dringt, und dem Moment der Autodestruktion, das in den Faustschlägen mit ungeschützter Hand zum Ausdruck kommt, oder der Suche nach Fassung und Kühle nach diesen Ausbrüchen. Raymond wird bei einem Attentat durch einen Kopfschuss ermordet werden, während er seine demenzkranke Mutter im Altersheim besucht. Er fällt blutend in ihren Schoß, was sie regungslos hinnimmt, scheinbar ohne das Geschehen überhaupt zu realisieren. In der Einsamkeit dieses Ausbleibens der Geste der Pietà spiegelt dieses Bild die Schlussszene aus GERMANIA ANNO ZERO. In einer anderen Passage des Films kommt ein Schlägertrupp der Polizei in das Gefängnis, mit Helmen, durchsichtigen Schilden und langen Gummiknüppeln. Die nackten Gefangenen werden aus ihren Zellen gezerrt und gezwungen, unter dem Gebrüll der Männer und dem rhythmischen Schlagen der Knüppel auf die Schilde und auf ihre nackten Körper den engen Gang zwischen einem Doppelspalier der Polizisten hindurchzukrie-

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chen. Die Panzerung der Körper der Täter, die sich über den Rausch ihres rhythmischen Lärms zu einem kollektiven Körper zusammenschließen, steht den der Aggression schutzlos ausgelieferten, verletzbaren Körpern der Opfer gegenüber. Doch es gibt auch die Einzeltäter, die die nackten Körper mit gezielten Schlägen wehrlos machen und verletzen, oder die in einer vorgeblichen Suche nach Kassibern in den Anus und in den Mund der Männer eindringen. Die Handkamera zeigt dieses Geschehen in einer zweiminütigen Passage ohne Schnitt, mit einer Reihe Reißschwenks und irritierenden Bewegungen, die die räumliche Orientierung unterlaufen, und vereinzelten konzentrierten Blicken. Der letzte von ihnen zeigt einen behelmten Polizisten, wie er auf den gerade zweifach penetrierten Körper eines auf dem Boden liegenden Gefangenen mit dem Knüppel und mit Fußtritten einschlägt. Danach folgt ein Schnitt auf eine Zellentüre von innen, die geöffnet wird und durch die dieser fast bewusstlose, von Hämatomen und offenen Wunden gezeichnete Körper geworfen wird. Es ist der von Bobby Sands, der durch diese Bilder der Vergewaltigung in den Film eingeführt wird und der fortan im Zentrum der Erzählung stehen wird.

Abbildung: HUNGER von Steve McQueen

Das Bild, das zeigt, wie Sands am Boden liegt und die Augen öffnet, ist im Wechsel zum Bild eines weinenden Mitglieds der Schlägertruppe montiert. Es war schon zuvor mehrfach gezeigt worden mit dem Ausdruck der Angst vor dem Gewaltausbruch, der von ihm und seinen Kameraden erwartet wird. Auch in der langen Passage ohne Schnitt hielt die Kamerabewegung ein, um auf seinem das Geschehen mit Ungläubigkeit und Ergriffenheit verfolgenden Blick zu ruhen. Jetzt steht er abseits, weinend, eine zweite Kameraeinstellung, nun halbnah, macht deutlich, dass er sich hinter eine Wand des Ganges zurückgezogen hat, während seine Kameraden prügeln.

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Die Stirn der Seitenwand trennt beide Geschehen, die auch in ein unterschiedliches Licht getaucht sind: die gepanzerten brüllenden Schläge in ein Gelbgrün der Neonlampen, der weinende Polizist in ein Blau, das an das Licht eines kalten frühen Morgens denken lässt. Der weinende Polizist ist sicher auch als ein Spiegel für die Gefühle des Zuschauers in dieser ihn bedrängenden Passage angelegt. Es gibt eine weitere, ähnlich gelagerte Gegenüberstellung gegen Ende des Films. Ein älterer, hagerer Krankenpfleger – den Namen des Schauspielers führt die Liste am Ende des Films seltsamerweise nicht auf – nimmt sich des durch den Hungerstreik in seiner Schwäche hilflos gewordenen, sich selber von innen langsam verzehrenden, mit Schwielen übersäten Körpers an, pflegt die Wunden vorsichtig mit einer Salbe und schützt schließlich den nackten, sterbenden Körper mit einem Gestell aus dünnen Eisenrohren, das er vorsichtig um den Körper herum positioniert und mit einem Tuch bedeckt. Während Sands in der Badewanne liegt, findet ein Dienstwechsel statt. Der neue Krankenpfleger (B.J. Hogg) hat auf drei Finger seiner Hand UDA tätowiert, das Akronym der Ulster Defense Association, einer 1971 gegründeten paramilitärischen loyalistischen Organisation, die für eine Reihe von Anschlägen gegen die katholische Bevölkerung verantwortlich ist. Er hält sie so an den Beckenrand, dass Sands die Tätowierung trotz seines tief geschwächten Zustandes sehen muss. Als Sands aus der Wanne aufsteht, sich mühsam aufrichtet, dann ohnmächtig zusammensinkt und vor seinen Füßen auf den Boden fällt, erhält er von diesem Pfleger nicht die geringste Hilfe. Er steht regungslos daneben.

Abbildung: Michael Fassbender in HUNGER von Steve McQueen

Doch auch kurze Szenen des Mitgefühls durchziehen den Film: So wenn David Gillen, der erste Gefangene, dessen Einlieferung der Film verfolgt,

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am Fenster seiner Zelle eine Fliege berührt, wenn ein anderer Gefangener während des Familienbesuchs sein Baby im Arm hält oder Sands Mutter den Sterbenden auf die Stirne küsst. Es gibt auch Momente der Zärtlichkeit, die vom Bezug auf das Subjekt gelöst sind, etwa wenn eine Feder im leichten Spiel des Luftzuges nach unten fällt (1:10:30), während im Hintergrund Sands im Bett liegend unscharf zu erkennen ist: ein Bild des Vergehens, des Fallens, vielleicht sogar ein Bild des zweiten Fallens, um mit Simone Weil zu sprechen. In der Bewegungsrhythmik des Films antwortet diese Szene auf die beiden Einstellungen, in denen Schneeflocken vor dem an der Wand stehenden Raymond herunterfallen. Mit noch größerer Eindringlichkeit schreibt sich der Film aber in eine Geschichte der Darstellung des Sterbens und des Todes ein. Andrea Mantegnas zirka 1480 entstandenes Bild „Beweinung Christi“ wird mehrfach zitiert (1:14:33). Vor allem aber greift McQueen Hans Holbeins „Der tote Christus im Grabe“ (1521/22) auf, ein heute im Basler Kunstmuseum hängendes auf Holz gemaltes Bild. In seinem Format von 30,6 x 200 kommt es dem von McQueen gewählten anamorphotischen Bildformat mit seinem Seitenverhältnis von etwa 1:2,5 entgegen. Es ist immer wieder betont worden, dass in Holbeins Bild des toten Christus keine Idee der Transzendenz mehr zum Ausdruck komme. Es ist ein toter Gott, ein Gott, der die Welt für immer verlassen hat (vgl. Kristeva 1989). Wir sehen einen toten Körper in seiner Einsamkeit wie in vielleicht keinem Bild zuvor. Ist es aber nicht gerade deshalb ein Ausdruck des Mitgefühls, wie es das in der europäischen Malerei zuvor so nicht gegeben hatte, eines Mitgefühls, einer compassion, die sich nicht so sehr mit dem verbindet, was der andere vielleicht fühlen mag, sondern eher mit dem, was in uns unser eigenes Fühlen überschreitet, was in uns nicht nur an die Grenze des Vorstellbaren geht, sondern darüber hinaus, an die Grenze dessen, von dem ein Leben noch affiziert werden kann, das aber kein Gott mehr verbürgt? Die compassion hat bei Holbein das Religiöse verlassen, sie ist im Betrachter, nicht mehr in Gott. Sie ist als das andere, als Tod in uns. Es ist diese Spur, die die Malerei an der Grenze der Empfindlichkeit zu halten und aus der sie ein Bild zu machen versucht. Ein weiteres Bild des Films, eines, das deutlich auch als mediale Reflexion zu verstehen ist, drückt genau diese Sensibilität aus: Es ist eine lange Einstellung auf das Betttuch, das der Pfleger wechselt. Wie die Leinwand der Malerei sind das Tuch und auch die darunter liegende Matratze sensibel für den Körper Sands, nehmen seinen Eiter und sein Blut auf (01:14:49).

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Von seinem Filmbild, das mit seiner Empfindlichkeit seinerseits die Flecken des Tuchs aufnimmt, zieht McQueen hier eine Verbindung zum Schweißtuch der Veronika oder dem Turiner Grabtuch. Das in der Berührung empfindliche Material nimmt die Spur des Sterbenden oder Toten auf und bewahrt sie. Es geht von ihm, wie George Didi-Huberman mit Bezug auf Walter Benjamin argumentiert, etwas Auratisches aus, etwas, das den Blick aufschlägt, das eine eigene Agentialität besitzt. Didi-Huberman verbindet mit dieser Umkehrung des Blicks auch eine Umkehrung der Zeit (Didi-Huberman 1999, 54 f.). Wie dem Gesicht, das der namenlose Mann in LA JETÉE in seinen Träumen erinnert, kommt dem Abdruck des Tuchs die Kraft des Verweises auf etwas Kommendes zu, es hat eine schwache messianische Kraft. Diese Umkehrung entsteht nicht auf der Ebene der Indexikalität, sie entsteht nicht aus der verdoppelten Zeit von Spur und Lektüre der Spur; sie entsteht durch die Ikonizität des Bildes (DidiHuberman 1984), mit Peirce gesprochen, durch seine Erstheit. Als Ikon ist das Bild im Werden, ist es ein Bild der Ansprache, das eine unmögliche, nie beendete Antwort fordert, ein Bild am Rande der Empfindlichkeit. Als solches Ikon aber ist das Bild auch Rücknahme der dritten Synthese der Zeit, der Spaltung, des Risses, der Unumkehrbarkeit.

Abbildung: HUNGER von Steve McQueen

Es sind Bilder wie Geständnisse, heißt es in LA JETÉE. In dem langen Dialog mit dem Pater legt Sands auch ein narratives Geständnis ab. Als er gegen Ende des Gesprächs begründet, warum er sich für den Hungerstreik entschieden hat, wohl wissend, dass es seinen Tod bedeuten wird, erzählt er von einem Ausflug einer Jugendgruppe. Er sei 12 Jahre alt gewesen. Unten am Bergbach fanden sie ein winziges Fohlen, nur wenige Tage alt, hilflos im Wasser liegend, mit blutenden Wunden, die es sich an den scharfen

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Steinen zugezogen hatte. Eines seiner Hinterbeine war gebrochen. Die Jungen begannen darüber zu diskutieren, was zu tun sei. Ein Priester kam hinzu und drohte, ihnen offensichtlich Schuld am Zustand des Tieres zuschreibend, sie seien erledigt. In dem Augenblick habe Sands gewusst, was zu tun sei, und habe das Fohlen ertränkt. „He’s thrashing around a bit at the start so I press down harder until he’s drowned.“ Die Autophagie, in der sich Sands verzehrt, ist eine Antwort auf die eigene Wunde, die die Folter in ihm gerissen hat, doch deren innerer Ort oder deren Möglichkeit scheint mit dieser ersten Erfahrung des Todes und der Schuld verbunden zu sein. Was ein Kampf darum war, gegen die Repression des britischen Staates noch einen wie immer kleinen Spielraum an Handlungsmöglichkeiten zu wahren, ist zugleich ein Kampf um diese Erinnerung, um das, was am Rande der Empfindlichkeit sich in sie eingeschrieben hat. Die Bilder des in seiner Agonie leidenden Sands werden mit Bildern geschnitten, die einen Jungen im Wald und auf der Busfahrt zeigen. Damit erzählt HUNGER letztlich ebenfalls eine Geschichte der Nachträglichkeit, eine Geschichte, in der der Tod des verwundeten Tieres der Tod dessen sein wird, der auf seine Hilflosigkeit und sein Leid eine Antwort suchte und gab und keine andere wusste als die, es zu töten.

Abbildung: HUNGER von Steve McQueen

Es gibt noch ein weiteres Bild, das sich am Rande der Empfindlichkeit befindet. Die Gefangenen der nach dem Grundriss der Baracken so genannten H-Blocks im Maze Prison hatten im sogenannten Blanket Protest das Tragen der Anstaltskleidung abgelehnt, im Dirty Protest verweigerten sie den Gang aus der Zelle, um ihre Notdurft zu verrichten. Er war ein Schutz vor den häufigen Demütigungen und Misshandlungen auf dem Weg, es war aber sicher auch ein Versuch, einen Handlungsspielraum zu bekommen.

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Kino liefert visuelle und akustische Bilder, welche die Sinne auch taktil erfassen können, wie Vivian Sobchack sehr deutlich machen kann (Sobchack 2004). HUNGER ist ein Film, der auch eine olfaktorische Sensation hervorruft. Eine über und über mit Kot beschmierte Zelle, Winkel, in denen sich Maden durch Kot und Essensreste bewegen, und der auf ein Zeichen unter allen Zellentüren auf den Flur hinausgegossene Urin: Dies alles wird in dunklen, doch deutlichen Bildern gezeigt. Sie sind am Rande dessen, was Julia Kristeva das Abjekt nennt (Kristeva 1982). Sie bezeichnet damit den verworfenen Teil des Ich, das Nicht-Ich, dessen Begrenzung das Ich nur unter der Gefahr des Wahns oder in mystischer Umnachtung überschreiten kann. Es ist sicherlich eine Weise das zu denken, was Winnicott als das incommunicado bezeichnet. Gerry Campbell (Liam McMahon), zu dem Davey Gillen in die Zelle gesperrt wird, bewegt den Kot und den Brei des Essens an den Wänden zu einem veränderlichen, immer wieder neuen Fresko. An einer Stelle formt er ein Rund mit vielen Kreisen, eine Spirale vielleicht, aber auch einer Baumscheibe ähnlich. In LA JETÉE hatten der Mann und die Frau vor der Scheibe eines Sequoia Baumes gestanden und er hatte weit mit seinem Zeigefinger über den Rand hinaus gezeigt um anzugeben, woher er komme. In Hitchcocks VERTIGO hatte Madeleine auf Ringe gezeigt, die weit innen lagen, um Scotti zu bedeuten, dass sie im 19. Jahrhundert geboren und gestorben sei. In HUNGER stehen wir vor einem Bild, das kaum einen Zeitindex hat. Es ist ein Bild einer veräußerten, jeden Tag veränderten Körperlichkeit, in der die Grenze zwischen Innen und Außen nicht mehr besteht. Es bildet den einen Pol einer Körperschrift, dessen anderes Ende der sich selbst verzehrende Körper des Hungerstreikenden ist. Dazwischen sind die Kassiber, die mit winziger Schrift geschrieben, gefaltet, wasserdicht verpackt und über Küsse oder über den Kot geschmuggelt werden. Körperschrift ist die Spur, die der Austausch zwischen dem Körper und der Welt hinterlässt, eine Spur der Berührung. Unter der Folter wird der Körper mutwillig verletzt, verwundet, gezeichnet. Dirty Protest und Hungerstreik sind ein autodestruktiver Versuch, dieser Verletzung, dieser zerstörerischen Gewalt, die in die Offenheit dieses Austausches eingedrungen ist, einen Ausdruck zu geben: malend, Kassiber schreibend, sich selbst verzehrend. In HUNGER, das ja schon im Titel auf diese Unterbrechung der Ausdrucks- und Austauschbewegung verweist, sehen wir allerdings in einer längeren Einstellung, wie ein Mann in grüner was-

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serabweisender Ganzkörperbekleidung und Helm mit einem Hochdruckstrahler Campbells Bild abspült. Diese Szene ist eine fast dokumentarische Rekonstruktion einer Einstellung, die in einem Fernsehbeitrag der BBC Newsnight zu sehen ist, der am 27. Oktober 1980 erstmals ausgestrahlt wurde (BBC 1980).

4 BESESSENHEIT: SZENEN UND BILDER

Z ERO D ARK T HIRTY (B IGELOW ) Auf der dunklen Leinwand erscheint mit weißer Schrift: „The following motion picture is based on first hand accounts of actual events.“ Es folgt Schwarzfilm, eine Tonspur wird eingeblendet, langsam aufgezogen, aus der akustischen Atmosphäre werden Fragmente von Telefongesprächen und automatisierten Audioaufzeichnungen hörbar: „Did you hear that“, wird mehrfach wiederholt, von verschiedenen Stimmen gesprochen, die sich versichern wollen, dass die Mitteilung beim Gesprächspartner angekommen ist. „United 93“ wird aufgerufen, die Flugnummer der Maschine, an deren Bord die Passagiere sich gegen die Entführer zur Wehr setzten und verhinderten, dass sie bis nach Washington geflogen werden konnte. Bevor in den Schwarzfilm der Schriftzug „September 11, 2001“ eingeblendet wird, haben viele Zuschauer diese Stimmen also mit der Erinnerung an die an diesem Tag mit entführten Flugzeugen durchgeführten Anschläge verbunden. Diese Audioaufnahmen sind Teil eines aktuellen kulturellen Gedächtnisses, die Zuschauer des Films, jedenfalls zum Zeitpunkt seiner Erstaufführung im Winter 2012/13, benötigen diese eingeblendete Information eigentlich nicht. Diese historisierende Geste bewirkt deshalb eher eine Enthistorisierung. Etwas ist als Datum in die Geschichte eingeschrieben, doch trägt es keinen anderen Namen als das Datum selbst. Das Schwarzbild intensiviert die Präsenz der Stimmen: Sie artikulieren Bitten um Antwort. Eine Frau ruft aus einem Flugzeug an: „We are getting hijacked“. Wird sie in diesem Augenblick gehört oder spricht sie auf einen Rekorder? Ein Mann berichtet, dass gesagt würde, ein Flugzeug sei in das World Trade Center Number One gekracht, und ein zweites in das World Trade Center

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Number Two. Etwas Ungläubiges klingt in dieser Stimme mit. Da ist ein Archiv von Stimmen, Äußerungen von Menschen in Ratlosigkeit und Verzweiflung, von Menschen am Rande ihres Todes. Schreie einer Frau, in Not und Angst, und die Zärtlichkeit gesprochener Liebeserklärungen. Eine weibliche Stimme fragt, ob denn jemand komme, sie zu retten. Eine Frau in der Leitwarte antwortet, dass Hilfe unterwegs sei. Beide wissen, dass das nicht stimmt. „I’m gonna die,“ sagt die Frau. „No, no, no, stay calm,“ spricht die andere zu ihr. „Stay calm, do a good job ma’m, do a good job.“ „It’s so hot“. Das sind ihre letzten Worte, gesprochen im Wissen, Rauch und Hitze nicht zu überleben. Und das vergebliche Nachfragen der zweiten Frau: „Can anyone hear me?“ Die Kommunikation ist abgebrochen. „Oh my God.“ In der Dunkelheit des Kinosaals kommen diese Stimmen aus einem akustischen Raum, der vom Zuschauer kaum als Objekt bestimmbar ist. Die Stimmen kommen nahe, sie sind, nach einem Begriff von Michel Chion, akusmatisch gegenwärtig (Chion 1994), und doch glaubt man, unmittelbar auch ihren Hall zu hören, als würde die Wahrnehmung versuchen, sie wieder und wieder zu erinnern, um ihrer Flüchtigkeit zu entgehen und sie zu verstehen. Wir möchten sie festhalten, wie die Frau, die in der Rettungsleitwarte spricht. Wir können es nicht. Und so geht der Versuch, durch die Erinnerung der Flüchtigkeit der Stimme einen Ort zuzuweisen, über in den Versuch, der Endgültigkeit des Ereignisses entgegenzuwirken. Aber wir wissen auch, wir haben es mit einem Ereignis zu tun, das sich nicht vergessen wird, das etwas verändern wird, nicht nur für die Stadt, in der es sich ereignet hat. Noch etwa eine Sekunde dauert nach dem Ausblenden der Stimmen der Schwarzfilm an, bevor wieder eine Schrift erscheint: „2 Years Later“. Die Kapitalisierung der Anfangsbuchstaben der Worte indiziert, dass wir es mit einer anderen Ebene der Information zu tun haben, einem Übergang in die Fiktionalität der Narration. Waren zuvor die drei Synthesen der Zeit, von denen Deleuze spricht, die reine Gegenwart, die reine Vergangenheit und das Ereignis, das sich in den Lauf der Zeit einschreibt und Vergangenheit und Zukunft trennt, waren diese zuvor in einer höchst intensiven Spannung, so scheint das nun in einen Fluss der Erzählung zu münden. Doch im Übergang reinszeniert der Film eine schockförmige Unterbrechung. Wir hören ein lautes Geräusch, das an das Öffnen einer Eisentüre denken lässt. Ein an der Decke eines Raumes befestigter Scheinwerfer wird plötzlich

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sichtbar, er leuchtet von einem verrosteten Wellblechdach herunter, das Bild wackelt etwas, als sei es von einer Handkamera gefilmt. Staub wirbelt im Lichtkegel, Schritte, auch die einer Person in Schuhen mit harten und erhöhten Absätzen, Schritte einer Frau. „THE SAUDI GROUP“ heißt es nun, ganz in Großbuchstaben geschrieben. Das ist keine geläufige Bezeichnung mehr. Wir sind in der Fiktion angekommen, deren erstes Kapitel mit diesem Zwischentitel angekündigt wird. Durch eine geöffnete Türe dringt helles Licht, ein stämmiger Mann von europäischer Herkunft (Jason Clarke), durchtrainiert, lockige Haare, Bart, eine blaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt tragend, tritt in den Raum, etwas hinter ihm kommt eine Person (Jessica Chastain) in schwarzem Schutzanzug und mit dem Kopf vollständig bedeckender Mütze. Sie ist kleiner, zierlicher. Doch davor gab es einen merkwürdigen Riss in der Tonspur, es waren schon viel zu viele laute Schritte vor diesem Schnitt hörbar, als dass es die Schritte derer gewesen sein könnten, die erst jetzt in den Raum treten. Diese Asynchronität zwischen Ton und Bild sensibilisiert für die Mehrzeitigkeit des Geschehens.

Abbildung: Reda Kateb in ZERO DARK THIRTY von Kathryn Bigelow

Die nächste Einstellung zeigt, von der Seite der Türe aus fotografiert, wie die beiden auf eine Gruppe zugehen: Ein Mann in heller Kleidung steht da in einer merkwürdig gebückten Haltung (Reda Kateb), wir sehen Matten an der Wand und auf dem Boden, wie wir sie aus Turnhallen kennen, davor eine Plastikplane, vier Personen in schwarzer Kleidung und mit mützenbedecktem Gesicht. Ein Lichtkegel, der jetzt von einem rechts liegenden Fenster zu kommen scheint, fällt auf den Mann in Weiß. Dieses Bild weckt Erinnerungen, vor allem an Francisco Goyas „Erschießung der Aufständi-

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schen am 3. Mai 1808“. Dann sehen wir wieder das maskenbedeckte Gesicht der kleinen Person, gefolgt vom maskenlosen bärtigen des Mannes in halbnaher Kadrierung. Seitlich kommt ein Hinterkopf in das Blickfeld, der Mann spricht zu dieser jetzt auftauchenden Person mit tiefer Stimme, die zwischen Bedrohung und pädagogischer Fürsorge oszilliert: „I own you, Ammar“. Schnitt auf das Gesicht des Mannes in Hose und Unterhemd aus gebrochen weißem Stoff: Es trägt deutliche Spuren einer Misshandlung, Blutergüsse, offene Wunden. „You belong to me.“ Wir sind Zeuge eines Verhörs als Teil einer offensichtlich schon länger währenden Folterung. Das Opfer hat den Blick gesenkt, blickt kurz nach oben, schließt die Augenlider wieder. „Look at me,“ sagt der Bärtige weiter im Ton eines Lehrers. Dann wechselt sein Tonfall, er beginnt zu schreien, und zugleich, die ausbrechende Aggressivität der Stimme ist offenbar ein verabredetes Zeichen, beginnen die anderen Männer, auf die Schultern und den Hinterkopf des Opfers einzuschlagen: „If you don’t look at me when I talk to you, I hurt you. If you step off this mat, I hurt you. If you lie to me, I’m gonna hurt you.“ Selbst wenn er wollte, könnte Ammar, der von den vier um ihn herumstehenden Maskierten hin und her geschubst wird, diese Befehle gar nicht erfüllen. Die Situation ist nicht nur von Willkür geprägt, sie setzt das Opfer widersprüchlichen und nicht befolgbaren Befehlen aus, versetzt es offensiv in eine Double-Bind-Situation. Die Kamerabewegungen ahmen das Hin-und-Her nach. Dann wird es für einen Moment wieder ruhiger. Der Mann ohne Maske wirft einen prüfenden und zugleich verächtlichen Blick nach unten, dorthin, wohin das Opfer nun wohl halb hingestürzt ist. Er dreht sich um, und während er und die kleinere Person hinausgehen, zerren die vier Männer den Mann in Weiß in die Mitte des Raumes und beginnen, Seile an seine Arme zu binden und sie nach oben zu ziehen.

S ZENARIO

UND I NTRIGE

Weniger als zweieinhalb Minuten sind vergangen, seitdem das erste Stück Schwarzfilm in Kathryn Bigelows im Dezember 2012 uraufgeführtem Film ZERO DARK THIRTY erschienen ist. An zeitgeschichtlichen Ereignissen orientiert, erzählt er die Geschichte einer hartnäckigen, Jahre währenden Verfolgung einer Spur, welche der CIA die Entdeckung des Aufenthaltsortes von Osama bin Laden und seine Ermordung durch die US-amerikanischen

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Streitkräfte möglich gemacht hat. Aber worin sind die Anschläge vom 11. September 2001 und die Folterungen auf einer von den USA irgendwo betriebenen Black Site Teile einer Geschichte? Soll das eine Verbrechen durch das andere legitimiert werden, indem die eigene Verantwortung für das verübte Verbrechen dem anderen zugeschoben wird? Das wäre sehr plump und würde viele der erwähnten Differenzierungen unnötig erscheinen lassen. Warum die Risse auf der Tonspur, das Türenknallen, die Gewalt und Willkür der Folterhandlungen? Weshalb das Bildzitat eines in Weiß gekleideten, nordafrikanisch aussehenden Mannes im Lichtkegel? Es werden dadurch ja die Positionen von Täter und Opfer vertauscht und historische Perspektiven und Ungleichzeitigkeiten eröffnet. „I own you“ hören wir als erste sprachliche Antwort eines Filmes auf die ohne Antwort bleibende Frage „Can anyone hear me?“ Auf die bewegende Dokumentation des Verlustes eines Objekts der Sorge antwortet im Film also unmittelbar der bedrohliche Anspruch am Besitz eines Objekts. Wir wissen implizit, dass ein solcher Anspruch zugleich ethisch verwerflich und unsinnig ist. Man kann keinen anderen Menschen besitzen, man kann ihn beherrschen, verletzen und töten, aber man kann die Autonomie eines Lebens nicht vollständig aufheben, ohne es zu zerstören. Auch hier ist also eine Art performativer Widerspruch im Sinne einer unauflöslichen Spannung zwischen zwei Zeiten wirksam: Es wird etwas als gegeben behauptet, das, zumindest solange es der Adressat noch hört und wahrnimmt, nur den Status einer Drohung haben kann. Doch der lockige Mann mit Bart strahlt Kraft und Handlungsmacht aus. Die Positionen von Macht und Ohnmacht sind vertauscht, vor allem, wenn man es mit dem letzten akustischen Mitschnitt, dem Dialog zwischen der Frau in der Rettungsleitwarte und der Frau, deren vermutlich letzte Worte wir vor dem Abriss des Telefonkontaktes hören, in Bezug setzt. Aber der performative Widerspruch zwischen Behauptung und Drohung begrenzt auch die Handlungsmacht. Das Opfer der Folter ist physisch in weitgehender Abhängigkeit. Was zwischen den beiden geschieht, bleibt jedoch ein Kampf um Macht, ein Duell mit ungleichen Waffen. Daniels Gebrüll und sein Wechsel zwischen Einfühlung und Aggression erinnern an die pädagogischen Gesten eines patriarchal agierenden Vaters, Lehrers, Militärausbilders. Auch sie können nicht einfach befehlen, sondern müssen auf die Selbstunterwerfung der Objekte ihrer Maßnahmen setzen, müssen sie also letztlich als Subjekte adressieren.

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Tatsächlich hatte schon die Montage der Mitschnitte zu Beginn des Films eine Spannung zwischen Handlungsmacht und Ohnmacht aufgebaut. Sie begannen mit Fragmenten der Aufzeichnungen aus dem Flug, von dem man annimmt, dass der Widerstand der Passagiere in der Maschine das Erreichen des von den Entführern vorgesehenen Ziels in Washington verhindern konnte. Diese Geschichte, deren Einzelheiten wir nur vermuten können, ist schon in mehreren Filmen erzählt und erfunden worden, unter denen UNITED 93 (2006) von Paul Greengrass das meiste Interesse verdient. In Narration des Films kommt das Verhältnis von Macht und Ohnmacht zweifach ins Spiel. Die Passagiere und Besatzungsmitglieder können wohl verhindern, dass das Flugzeug seine zerstörerische Kraft auf Gebäude und weitere Menschen ausübt, sie können aber ihr eigenes Leben nicht wahren. Der Film verdoppelt eine Spannung von Macht und Ohnmacht in den parallel montierten Szenen in den Kontrollzentren der Behörden. Es kommen Daten und Informationen an, aber sie müssen zuerst interpretiert und verstanden werden, bevor sie überhaupt ermächtigen können, etwas zu tun. Das lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass man sich ein solches Geschehen nicht hätte vorstellen können. Es gibt viele Beispiele aus dem Bereich der Fiktion, in denen so etwas schon erdacht worden ist. Aber auch zwischen der Vorstellung eines Geschehens in der Phantasie und dem realen Erleben klafft eine Lücke. Und es scheint sogar oft so zu sein, dass man länger dafür braucht, ein schon vorgestelltes Geschehen auch in seiner Variation in der Realität als solches zu erkennen. In ZERO DARK THIRTY geht es ebenfalls um Zeit und um die Lücken zwischen Ereignis und seiner Realisation durch die Subjekte, zwischen Ereignis und Bedeutung. Schon der Titel, der einen militärischen Ausdruck für 0:30 Uhr wiedergibt, deutet darauf hin. Das Ereignis ist immer schon geschehen, bevor man reagieren kann und muss. Poetisch gelesen: Es gibt eine Lücke, ein filmisches Schwarzbild zwischen dem Ereignis und der Geschichte. Das bedeutet aber auch, dass die Versuche, das Ereignis zu verstehen, in Kontexte zu bringen, Täter und Zusammenhänge zu finden, nicht nur ins Leere gehen, sondern Szenarien aufbauen können, die selbst, gewissermaßen vorgreifend, neue Ereignisse produzieren. Aus der Aufklärung einer Tat wird ein präventives Handeln, das selbst wiederum einen performativen Widerspruch in Szene setzt, denn es muss eine Bedrohung als gegeben setzen, die überhaupt erst noch eintreten muss. Das zeigt Bigelows Film deutlich: Wohl behauptet der Mann ohne Maske einmal, er sei

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im Besitz eines Banküberweisungsformulars an einen der Attentäter, auf dem sich auch Ammars Name befinde. Doch das kann genauso gut auch eine Verhörstrategie sein. In der Folterung, das macht der Mann seinem Opfer sehr schnell klar, geht es nicht um eine Aufklärung der Vergangenheit. Das Dunkle bekommt eine Zeitstelle in der Zukunft: „I don’t want to talk to you about 9/11. What I want to focus on is the Saudi Group.“ Letzteres ist wohl ein fiktiver Name. Diese Filmsequenz konstruiert eine Situation, etwas, das man mit der Theaterwissenschaftlerin Diana Taylor Szenario nennen könnte (Taylor 2009, 1888). Das Szenario ist kein geschlossener Handlungszusammenhang, es ist eher eine Ansammlung von Handlungsfragmenten, Dingen und Institutionen, die aufeinander verweisen und aus dieser Aufeinanderbezogenheit etwas bilden, das mehr ist als die einzelnen Aktanten, um es mit einem Begriff der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2006) zu formulieren. Jeder Film, jedes Theaterstück, jeder Roman, jedes Gedicht entwickelt so ein Szenario. Aber Szenarien verbinden auch Alltagshandlungen, sie können regelrecht ausufernd und mäandernd den Alltag durchziehen. Taylor verweist als Beispiel auf das gesamte Sicherheits- und Kontrollsystem, das unter dem Zusammenhang, den wir Terrorismus nennen, zu einem Szenario geworden ist, mit den Leibesvisitationen, der Telefonüberwachung, der Ausspähung des E-Mail-Verkehrs, der Installation von Kameras, den Warnmeldungen über mögliche Anschläge: „We perform terror every day; we incorporate it.“ (Taylor 2009, 1893) Natürlich gehören auch die Nachrichten über Anschläge, die Bilder und die Filme dazu. Auch ZERO DARK THIRTY ist Teil des Szenarios des Terrorismus, der Film gliedert sich ihm an, wird von ihm in gewissem Sinne als Ereignis hervorgerufen und wirkt auch auf ihn ein. Ähnlich wie eine Nation eine imagined community ist (vgl. Anderson 1993), die ständig durch Rituale und Institutionen des Einund Ausschlusses und mediale Praktiken der Repräsentation neu hergestellt werden muss, ist auch das Szenario des Terrorismus eine vorgestellte Gemeinschaft von Tätern und Opfern, die in ihren Handlungen erst propagiert, worauf sie zu reagieren vorgibt. In dem Begriff des Szenarios stecken zwei miteinander verwobene Aspekte. Der eine, von Taylor hervorgehobene, ist der des Performativen, der oft ritualisierten Beteiligung an sozialen, kulturellen, politischen und auch privaten Praktiken, die miteinander verbunden sind und aufeinander verweisen. Das gesamte System der Kontrollen und Überwachungen im Kon-

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text der sogenannten Terrorismusgefahr ist ein gutes Beispiel dafür. Es besteht aus einer Assemblage einzelner Akteure (Bennet 2010, 20-38). Szenarien sind keine Erzählungen. Sie können mit Erzählungen verbunden werden. Sie erscheinen dann wie der Hintergrund oder die Umgebung, in denen die Narrationen einen Halt finden. Szenarien sind aber mehr als leere Räume für potentielle Erzählungen. Sie sind selbst aktiv, auch wenn sie noch keine Handlungsfolgen herstellen und noch kein Genre vorgeben, in dem die Assemblage eine darstellbare zeitliche Form bekommen könnte, sei es im Sinne der Alltagserzählung (Berlant 2011, 4 ff.), sei es im Sinne der Malerei, der Literatur, des Films. ZERO DARK THIRTY wird uns eine Geschichte im Genre des Spionage- und Agentenfilms erzählen. Der zweite Aspekt bezieht sich auf den zeitlichen Charakter der Relationalität, welche sich in Szenarien realisieren kann. Szenarien und Genres zusammen aktualisieren oder verkörpern einen Zusammenhang, der ihre Dynamik bestimmt, der ihnen zugrunde liegt, ohne dass er unabhängig von ihnen existieren würde. Ich möchte dies in Anlehnung an Emmanuel Lévinas die Intrige nennen. In seiner Philosophie der Alterität benutzt Lévinas den Begriff der Intrige, um das gleichzeitige Wirken einer Bindung und einer Trennung an den anderen zu beschreiben. Für Lévinas entsteht der Knoten des Selbst aus einer solchen „intrigue dia-chronique […] entre la Même et l’Autre“ (Lévinas 1996, 46). Die Intrige ist dia-chron in dem Sinne, als sie eine Kopräsenz von zwei Zeiten darstellt. Ich bin immer schon vom anderen angesprochen, bevor ich mich intentional auf ihn hätte beziehen, bevor ich ihn zu einem Objekt meiner Wahrnehmung und meines Handelns hätte machen können. Diese Zweizeitigkeit von Angesprochensein durch den anderen, der Erfahrung der Affektion, die immer auch Selbstaffektion einschließt, und der Wahrnehmung des anderen als Objekt ist nicht auflösbar. Sie spaltet die dritte Synthese der Zeit, indem sie Gegenwart von etwas abhängig macht, das jenseits ihres Anspruchs liegt. In dem Sinne spinnen diese ersten Minuten von ZERO DARK THIRTY eine Intrige zwischen einer Adressierung durch die Stimmen, auf die man nicht antworten kann, und der Bemühung um die Fixierung eines Objekts, das diese Ansprache überlagern und maskieren soll. Der Patriotismus ist eine Weise, dieser vorgängigen Ansprache einzugedenken, allerdings eine entstellende Weise, weil das Beunruhigende der Ansprache in ein Außen jenseits der vorgestellten Gemeinschaft projiziert wird.

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Ist dann nicht der Terrorismus diejenige Form der Intrige, welche die Verleugnung der Vorzeitigkeit der Ansprache durch den anderen im 20. Jahrhundert, insbesondere aber nach dem Ende des Kalten Krieges, angenommen hat? Lévinas entwickelt seine Theorie der Alterität in der Kritik an der Idee der Selbstgegenwärtigkeit des Seins. Sie nimmt diese Bezogenheit des Selbst auf ein anderes in einer Situation auf, in der es keinen Gott oder kein transzendentes Prinzip mehr gibt. Im Rassismus und der Gewalt gegen den anderen sieht Lévinas eine der desaströsen Formen des Versuchs der Verleugnung des anderen und der Abwehr seiner Ansprache. Sie geben dem Gefühl der Besessenheit durch etwas, das sich nicht benennen lässt, einen diffusen Ausdruck. Es gibt mehr als eine Ursache für das Szenario, das wir Terrorismus nennen. Aber mir scheint seine Dynamik sehr stark davon bestimmt zu sein, dass sich in der Intrige des Terrorismus eine Figuration für die Ansprache durch etwas findet, auf das man nicht nur keine Antwort weiß, das vielmehr selbst keine bestimmbare Gestalt zu haben scheint. Und das gilt für beide Seiten, wie auch immer sie sich selbst definieren möchten, Freiheitskämpfer oder Retter der Menschheit vor dem Chaos. Sie agieren die Intrige in der Ansprache, die man nicht versteht, ebenso aus, wie in der Ansprache, die der andere nicht erwartet, der Willkür. Jacques Derrida hat in diesem Zusammenhang von einem autoimmunitären Prozess der Demokratie gesprochen, jenem seltsamen „Verhalten des Lebendigen, das sich in fast selbstmörderischer Weise daran macht, ‚sich selbst‘, seinen eigenen Schutz zu zerstören, sich gegen seine ‚eigene‘ Immunität zu immunisieren.“ (Derrida/Borradori 2004, 127) Derrida geht es um eben diese Unmöglichkeit der Antwort auf etwas, das schon immer da ist. Statt innezuhalten, wird die Antwort verschoben, es wird etwas als Aggressor bestimmt und angegriffen, was eigentlich zum Zentrum der eigenen Möglichkeit gehört: die Entfaltung des Selbst in der nicht negierenden, anerkennenden Antwort auf den anderen. Deshalb kann eine Selbstregulierung der eigenen Kräfte nur auf der Basis der Anerkennung ihres autonomen Sinnes, im politischen Sinne der Anerkennung der Autonomie der Individuen gelingen. Derrida starb, bevor das ganze Ausmaß der durch die Administration unter George W. Bush initiierten Menschenrechtsverletzungen bekannt war. Aber vermutlich hätte er dem Gedanken zugestimmt, dass dieses Programm und insbesondere die darin legitimierte Folter Ausdruck dieses autoimmunitären Prozesses ist, durch den die Demokratie in

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der Bedrohung der Autonomie des Subjekts ihre eigene Möglichkeiten der Selbstregulation schwächt und vielleicht nachhaltig beeinträchtigt.

W HY

ARE YOU DOING THIS TO ME ?

„Is he ever getting out?“ lautet die Frage der Frau, die während des Verhörs von Ammar im Hintergrund gestanden hat. Es ist Mayas erste Erfahrung einer „interrogation“, wie sich Daniel ausdrückt, nachdem sie den Raum verlassen haben und in der Sonne vor dem Schuppen stehen. Maya ist CIAAgentin auf ihrem ersten Auslandseinsatz. Und während sie fasziniert auf den Monitor der Überwachungskamera schaut, der auf einem Tisch nahe der Türe des Schuppens steht und in dem die Figur des mit hochgezogenen Armen gefesselten Mannes zu erkennen ist, erklärt Daniel ihr: „Just so you know, it’s going to take a while. He has to learn how helpless he is. Let’s get a coffee.“ „No, we should go back in,“ lautet Mayas direkte Antwort. Und als Daniel ihr die Kopfbedeckung reicht, damit sie sich vor dem Wiedereintritt in den Schuppen dem Opfer gegenüber unkenntlich machen kann, lehnt sie diese ab. Auf ihre schon zitierte Frage, ob das Opfer jemals wieder herauskomme, antwortet Daniel trocken: „Never“. Selbst wenn er die Black Site der CIA jemals wird verlassen können, er wird der Foltererfahrung nie mehr entkommen. Es folgt eine über fünf Minuten lange Passage, in der Ammar auf einer Matte am Boden gehalten und auf ein über sein Gesicht gelegtes Handtuch aus einem Krug Wasser gegossen wird. Es ist Maya, die den Krug mit Wasser aus einer Kühlbox füllt und ihn Daniel gibt. Von der Wasserfolter ist bekannt, dass sie eine Sensation des Ertrinkens verursacht, die als Nahtoderfahrung verstanden werden kann. Bevor Daniel und Maya den Schuppen verlassen, sagt Daniel „with the comforting tenor of a therapist“, wie es im Filmscript heißt (Boal 2011, 6): „It’s cool that you’re strong. I respect it, I do. But in the end, everybody breaks, bro. It’s biology.“ Die Theorie, der Daniel in seinen Strategien der Folterung folgt, bezieht sich auf den Begriff der erlernten Hilflosigkeit, den der Psychologe Martin E.P. Seligman in den 1960er Jahren entwickelt hat. Er lieferte damit einen folgenreichen psychologischen Beitrag zur Theorie der Folter. Dies wird nicht erst dadurch deutlich, dass, wie Jane Mayer recherchiert hat, Seligman 2002 einen Vortrag über „learned helplessness“ auf einer Akademie

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der amerikanischen Marine gehalten hat, um, nach offizieller Version, Soldaten zu helfen, Folter zu widerstehen (Mayer 2008, 163 f.). Die Verbindung der Theorie der erlernten Hilflosigkeit zur Folter bestimmt schon die Herausbildung von Seligmans behavioristischem Forschungsdesigns in den 1960er Jahren. Er verabreichte einer Gruppe von Hunden willkürlich Elektroschocks, ohne dass die Opfer irgendeine Chance gehabt hätten, der Misshandlung zu entkommen. Wurde ihnen danach diese Möglichkeit in einer zweiten Versuchsanordnung durch die Öffnung eines Zugangs zu einem zweiten Zellenkäfig gegeben, ergriffen sie sie nicht und ließen die Tortur lethargisch über sich ergehen. Eine zweite Gruppe von Hunden, die derselben Anzahl von Stromstößen ausgesetzt war, doch in der ersten Versuchsanordnung die Möglichkeit hatte, sie über die Betätigung eines Hebels zu beenden, nutzte auch in der zweiten Versuchsanordnung die Chance, den Elektroschocks zu entgehen. Mayer berichtet, dass sich zumindest einer der Verhörspezialisten im US-Gefangenenlager auf der kubanischen Halbinsel Guantánamo auf Seligmans Theorie der erlernten Hilflosigkeit berufen hat. Doch es ist davon auszugehen, dass alle verhörenden Agenten eine psychologische Schulung erfahren haben. Beruhend auf der Auswertung jahrelanger psychologischer Experimente mit verschiedenen Foltermethoden stellte die CIA schon im Juli 1963 das „Kubark Counterintelligence Interrogation Manual“ zusammen, das, wie Alfred McCoy nachgewiesen hat, praktisch bis heute die Grundlage auch für spätere Handbücher und die Ausbildung von Agenten der CIA und von Drittländern bildet (McCoy 2006, 89 ff.). Wörtlich ist dort formuliert, dass alle Techniken der Befragung von der Isolationshaft bis zur Verabreichung von Drogen Mittel seien, den Prozess der psychischen Regression zu beschleunigen. „Regression is basically a loss of autonomy“, heißt es im Handbuch weiter (CIA 1963, 41; vgl. 76 ff.). Die erzwungene Regression intendiert die immer vollständigere Desubjektivierung der Opfer. Die 1949 gegründete United States Army School of the Americas hat bis in die 1990er Jahre über 60 000 südamerikanische Militärangehörige ausgebildet. Die Foltertechniken, wie sie im „Kubark“-Handbuch und seinen Nachfolgern beschrieben sind, standen bei vielen von denen, die in diesen Jahrzehnten in Lateinamerika einen langen schmutzigen Krieg führten, auf dem Lehrplan. Seligman entwickelte seine Forschungen denn auch ursprünglich im Zusammenhang einer Untersuchung über die Entstehung von Depression. Das ohnmächtige Ausgeliefertsein gegenüber der Willkür

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eines anderen, die Enteignung jeder Handlungsmöglichkeit, kann eine Intensität erreichen, in der das Ich von der Angst so weit affiziert und überwältigt wird, dass es zusammenbricht. Auch wenn Angst einem geschieht, so ist es immer noch das Ich, das sie erfährt. In der Depression hat sich das Ich so weit zurückgezogen oder fragmentiert, dass es auf die Angst nicht mehr mit der Kohärenz eines Wunsches nach Selbsterhaltung reagiert. Suizid mag dann noch als einzige Möglichkeit erscheinen, ein Moment von Subjektivität zu behaupten. Tatsächlich sind trotz der Nachrichtensperre mindestens sechs Selbstmorde der Gefangenen auf Guantánamo bekannt geworden. Die Zahl der Suizidversuche dürfte ein Vielfaches davon betragen. Auch die Hungerstreiks, in welche viele der Gefangenen in Guantánamo über lange Zeit und wiederholt getreten sind, müssen, wie wir es schon im vorigen Kapitel an McQueens Film HUNGER gesehen haben, verstanden werden als Ausdruck der erzwungenen Negation des Austausches mit der Welt. Auch hier unterliegen die Nachrichten aus Guantánamo bis heute der Zensur. Es gibt in Bigelows Film noch eine weitere lange Szene der Folterung Ammars, die damit endet, dass Ammar in eine Kiste gesperrt wird, in die er gerade mit angewinkelten Beinen und gekrümmten Rücken hineinpasst und die ihm überhaupt keine Bewegungsmöglichkeit mehr bietet. Er wird in diesem Augenblick auch schon als psychisch schwer traumatisiert und wie in einem Delirium sprechend gezeigt. Trotzdem fährt Daniel mit dieser Zerstörung der psychischen Gesundheit seines Opfers fort. Der Film gibt keine Information darüber, wie lange Ammar dort eingesperrt bleiben wird. ZERO DARK THIRTY entwickelt kein Interesse gegenüber den Opfern der Gewalt der US-amerikanischen Behörden, der Film bewegt sich in den Grenzen seines Genres und erzählt die Heldengeschichte einer Agentin. Zu einem späteren Zeitpunkt des Films sehen wir, wie Ammar aus seinem Schuppen geführt wird. Eine schwarze Tüte ist über seinen Kopf gezogen. Die nächste Einstellung zeigt ihn aber mit abgeschwollen Blutergüssen, gewaschen, in sauberem Hemd, wie er an einem mit Essen gut bestückten Tisch Daniel und Maya gegenübersitzt. Die beiden geben vor, dass er ihnen in einem Delirium nach 96 Stunden Schlafentzug sehr nützliche Informationen gegeben habe. Es sei normal, dass er sich daran nicht mehr erinnern könne. Und nach der Drohung von Daniel, ihn wieder mit den Armen an der Decke aufzuhängen, gibt er schließlich tatsächlich den Namen von Mitkämpfern preis, darunter einen, der dann bei der Suche

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nach dem Versteck von Osama bin Laden bedeutsam sein wird. Da damit die Folter als etwas aus der Perspektive der Täter Erfolgreiches erscheint, haben Kritiker des Folterprogramms der USA hierin eine Legitimation dieser Menschenrechtsverletzung gesehen. Einem 6000 Seiten starken Bericht eines Untersuchungsausschusses des US-amerikanischen Parlaments zufolge, über dessen Inhalt die Agenturen Anfang April 2014 berichteten, gibt es praktisch keinen Zusammenhang zwischen unter der Folter erpressten Aussagen und Fahndungserfolgen der US-amerikanischen Behörden (Richter 2014). Die Frage der ethischen Verantwortung der Folter lässt sich aber nicht über utilitaristische Argumentationen beantworten, weil die Frage nach der Gemeinschaft, für deren vermeintliches Wohl das Verbrechen begangen wird, nicht auf bestimmte Gruppen eingeschränkt werden kann. Wenn es Gemeinschaft gibt, dann schließt sie jeden einzelnen ebenso ein wie die Gruppe der anderen, die der eigenen vielleicht fremd sind. Gemeinschaft hat keine Grenzen, weder nach außen noch nach innen. Rossellini hatte das mit den sich vervielfältigenden Rahmen seiner Folterszene filmisch gezeigt. Bigelows Film fällt demgegenüber in einen unhinterfragten Patriotismus zurück. Auch wenn es Bigelows Film vom Vorwurf der Rechtfertigung von Folter nicht freispricht, sollte man die zeitliche Differenzierung beachten, die ZERO DARK THIRTY etwa der filmischen Inszenierung der TV-Serie 24 (2001-2010) voraus hat. In der für das konservative Network Fox produzierten Serie geht es in jeder der acht Staffeln im Grunde um eine Bedrohung, deren finale Wirkung spätestens innerhalb von 24 Stunden verhindert werden muss. Jack Bauer (Kiefer Sutherland), der Held der Serie, foltert dazu regelmäßig Verdächtige, die ihm dann auch prompt ihre Geheimnisse preisgeben. Zu Bauers Techniken zählen dabei die direkte Lebensbedrohung, die Verstümmelung oder auch die inszenierte Hinrichtung von Familienangehörigen. Diese Darstellung von Folter ist in mehrfacher Hinsicht extrem unrealistisch, die von ihr erzielte Wirkung allerdings in mehrfacher Hinsicht folgenreich. Das Narrativ, dass ein Täter gefasst wird, der gerade eine Bombe mit aktiviertem Zeitzünder gelegt hat, eignet sich dramaturgisch für einen Spannungsaufbau im Film und speziell in der TV-Serie, es lässt sich aber so gut wie kein historischer Vorfall belegen, auf den sich dieses Narrativ stützen könnte. Der US-Senator Jay Rockefeller stellte in seiner Funktion als Vorsitzender des für die parlamentarische Kontrolle des CIA zuständigen Senatsausschusses im März 2008 fest, dass er von keinem

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einzigen so gelagerten Fall erfahren habe (vgl. Mayer 2008, 330). Doch hat die Fiktion des Szenarios der ticking time bomb eine performative Kraft, da sie sowohl das greifbare Gegenüber eines Täters wie auch eine Handlungsanweisung zu liefern scheint. So weist etwa der britische Jurist Philippe Sands nicht nur auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Ausstrahlung der Serie in den USA und den diese Fiktion aufgreifenden Rechtfertigungen von Folter hin, wie sie etwa der Harvard-Jurist Alan Dershowitz schon 2001 vertreten hat. Er kann auch belegen, dass sich die Agenten im Gefangenlager Guantánamo von Jack Bauers fiktiven Methoden anregen ließen (Sands 2008, 54f.). Zu Beginn der Szene, in der Ammar gegenüber Maya und Daniel Namen von Kontaktpersonen preisgibt, wird das Datum des 29. Mai 2004 eingeblendet. Ammar ist also schon über ein halbes Jahr auf der Black Site gefangen, diese Szene erfolgt demnach Wochen oder Monate nach einer schon Wochen oder Monate andauernden schweren Misshandlung, die darauf abzielte, das Opfer zu traumatisieren und seine Persönlichkeit zu brechen. Doch das scheint Vergangenheit zu sein. Sogar Ammars Wunden sind weitgehend abgeheilt, jedenfalls die in seinem Gesicht. Was aber ist mit den inneren Wunden? Kann ein Gefolterter so selbstverständlich seinen Peinigern an einem gedeckten Tisch gegenübersitzen? Sind wir in einer Normalität angekommen, die nur noch darin begrenzt wird, dass Daniel drohen kann, den Gefangenen wieder an den Armen aufzuhängen? Oder ist diese Situation nicht immer noch Teil der Folter? Er wird nie mehr herauskommen, hatte Daniel zu Maya am Beginn des Films gesagt. Das gilt auch noch jetzt. Doch weil der Film von dieser Szene an sich nicht mehr um Ammar kümmert, lässt er uns das Folteropfer als jemanden in Erinnerung, der in die Normalität zurückgekehrt ist. Wenn man Bigelows Film als einen Beitrag dazu ansieht, dass sich die US-amerikanische Öffentlichkeit mit der Folter auseinandersetzt, welche die Agenten in offiziellem Auftrag verüben, dann wird an dieser Stelle deutlich, dass eine solche Auseinandersetzung scheitert, wenn sie kein Interesse für die Opfer der Folter einschließt. „Why are you doing this to me?“ fragt Ammar seinen Peiniger, als er nach der Wasserfolter wieder einigermaßen sicher atmen kann. „You’re a terrorist, that’s why I’m doing it to you.“ Wenn das Szenario des Terrorismus sich um die Intrige der unbeantworteten Ansprache herum aufspannt, dann hat es seine alltägliche Dimension im Verlust der Verlässlichkeit von Beziehungen, Beziehungen zu Menschen ebenso wie Beziehungen zu Din-

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gen. Wenn das so ist, dann kommt aber das Szenario des Terrorismus nicht eigentlich im Bombenanschlag auf Menschen oder ein öffentliches Gebäude zu seinem reinsten Ausdruck, sondern in der Praxis der modernen Folter. Sie beruht darauf, dass dem Opfer jede Erfahrung einer verlässlichen Inbezugsetzung des Selbst auf einen anderen Menschen oder auch auf Dinge genommen wird. In der Folter kann jedes Ding zum Instrument der Verletzung werden (Scarry 1985, 38 ff.), jede Geste des Mitgefühls zum Hebel der psychischen Traumatisierung. Diese Zerstörung der Möglichkeit, zu seinen Mitmenschen oder zu den Dingen eine selbst in der Erfahrung der Gewalt gewissermaßen vorhersehbare Beziehung zu haben, stand wahrscheinlich nicht immer im Zentrum von Folterungen. So grausam die Inquisition der katholischen Kirche und die Folterungen in juristischen Verfahren der frühen Neuzeit waren, sie unterlagen zumindest im Prinzip einer vorher festgelegten Abfolge der Schritte und der Intensivierung der Folter. Das Opfer wurde über die zu erwartende Pein in Kenntnis gesetzt, die Konfrontation mit den Werkzeugen der Folter gehörte zur ersten Stufe dieser Praxis. Diese Werkzeuge sollten für sich schon beängstigend wirken. Ganz anders ist es mit der Folter, wie sie sich im 20. Jahrhundert sowohl in den Kolonien als auch in den totalitären Staaten entwickelt. Hier werden vorzugsweise Werkzeuge ins Spiel gebracht, die dem Alltag entstammen, dem Alltag des Militärs wie die Stromgeneratoren der Feldtelefone (Rejali 2007, 121 ff.), des Handwerks oder der Medizin, der häuslichen Gegenstände. Ammars Frage „Why are you doing this to me?“ ist ein Wiederhall einer Frage, die sehr viele Opfer von Folterungen und terrorisierender Gewalt gestellt haben werden. Und auch Daniels Antwort ist wie ein Echo, selbst wenn sich hier die Bezeichnungen der Opfer im Laufe der vergangenen 100 Jahre verändert haben mögen: Staatsfeind, Anarchist, Konterrevolutionär, Volksfeind. Primo Levi erinnert in seinem autobiografischen Bericht über seine Deportation nach Auschwitz eine Episode, in der Daniels Antwort auf seinen Bedeutungskern gebracht wird. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft im Konzentrations- und Vernichtungslager öffnet Levi ein Fenster der Baracke und bricht einen Eiszapfen ab, um seinen Durst mildern zu können. Doch sofort kommt ein Aufseher „und reißt ihn mir mit Gewalt aus der Hand. ‚Warum?‘ frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ‚Hier ist kein Warum‘, gibt er mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück.“ (Levi 1992, 31) Die Gewalt des Terrors zielt darauf, alle Verläss-

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lichkeiten zu zerstören, auch die, dass es einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gibt. Sicher geht es nicht um einen physikalisch zu verstehenden Kausalzusammenhang. Die Frage des Warum in intersubjektiven Beziehungen ist weit komplexer, als es sich Seligman in seiner Theorie der erlernten Hilflosigkeit vorstellt. Hilflosigkeit entsteht aus dem Fehlen von Handlungsmöglichkeiten, darin ist dem Verhaltenspsychologen sicher zuzustimmen. Aber während in den Tierversuchen Seligmans dieses Fehlen über eine Art Gesetz- oder Regelmäßigkeit hergestellt wird, entsteht es im Kontext intersubjektiver Beziehungen gerade aus dem Fehlen jeder Form von Vorhersehbarkeit. Wir nennen das Gefühl, das mit Vorhersehbarkeit einhergeht, Vertrauen. Wir müssen darauf vertrauen, dass uns der andere mit einem Mindestmaß an Anerkennung gegenübertritt, Anerkennung unserer Bedürftigkeit, unserer Verletzbarkeit, unseres Rechts, Rechte zu haben, Anerkennung einer Gegenseitigkeit, eines Wir oder Mit. In der Frage, warum der andere einem dieses Leid antue, ist immer die Erwartung der Anerkennung des anderen vorausgesetzt. Deshalb wirken aber Strategien der Folter, die, wie von Daniel praktiziert, mit einem Wechsel von Anerkennung und Willkür arbeiten, so zerstörerisch auf die Subjektivität des Opfers. Die Szene der Gewalt intensiviert die Spannung zwischen der Erwartung der Anerkennung der eigenen Verletzbarkeit und ihrer Nichtachtung durch den anderen im Vollzug der Verletzung. Sie kann dies bis hin zum Bruch treiben, zur physischen und psychischen Zerstörung. „Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang“, formuliert der Erzähler in Alexander Kluges Film DIE MACHT DER GEFÜHLE (1983). Wäre es anders, es gäbe keine Beziehung zwischen Gewalt und Macht. Subjektivität äußert sich in einem ganz entscheidenden Sinne darin, dass sie ein Mit mit dem anderen begehrt. Lange bevor das Kleinkind so etwas wie ein Selbst besitzt, auf das es sich als eine Kontinuität bezieht, sucht es nach Erwiderungen und Mustern, in denen eine Interaktion zwischen den eigenen Äußerungen und der Umwelt wahrnehmbar wird (Stern 2007). Doch wäre es irreführend, dies in einer Weise zu beschreiben, die ein Selbst voraussetzt. Die Kontinuität, die wir Selbst nennen, entsteht aus den Kontinuitäten der sich wiederholenden Interaktion mit den anderen, mit den Dingen, mit der Umwelt. In diesem Sinne können wir uns auch nach der Gewinnung eines Selbst als innerem Garanten einer Kontinuität kaum gegenüber dem Außen verschließen. Unsere Sinne bleiben darauf

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gerichtet, Muster wahrzunehmen und uns mit ihnen auszutauschen: Atmosphären, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden, Stimmen, Rhythmen, Bewegungen, Gerüche, Farben. Jede Stimme, die uns anspricht, ist ein Affekt in dem Sinne, dass sie ein Muster darstellt, das wir in uns realisieren oder aktualisieren. Wir können uns dem gar nicht verschließen. Wir sind auf diesen Austausch angewiesen wie auf die Luft, die wir atmen, wie auf das Wasser, das wir trinken. Deshalb können auch sensorische Deprivation oder Überreizung als Techniken der Folter eingesetzt werden. Bevor die dritte Sequenz der Folterdarstellung, die mit dem Einzwängen des Opfers in die kleine Holzkiste endet, beginnt, sehen wir in einer kurzen Einstellung einen Hof (0:15:46), auf dem sechs Gefangene gefesselt auf dem Boden sitzen, schwarze Tüten über dem Kopf und in Abständen, die ihnen keine Kommunikation mehr erlauben. Das leise Vogelgezwitscher wird jäh unterbrochen. Mit dem Schnitt in eine nur von zwei leicht schimmernden Lichtern pointierte Dunkelheit hören wir laut verstärkte Musik mit dem aggressiven, repetitiven Rhythmus des Heavy Metal. Die nächste Einstellung zeigt einen Oberkörper mit nach oben gestreckten Armen und Haare, die von einem nach vorne gesenkten Kopf herrühren. Ammar wird dort in einer Stressposition gefesselt und laut beschallt. Musik ist nicht Ausdruck eines isolierten Individuums, auch sie muss als Austausch verstanden werden, als „communicative musicality“ (Grant 2013). Akustische Folter wirkt, indem sie den Austausch beherrscht, dem Subjekt den eigenen Raum nimmt und es in eine Bewegung der Desubjektivierung zwingt. Darin unterscheidet sie sich nicht von der Zufügung von Schmerz. Wir können uns der Stimme, die uns anspricht, gar nicht entziehen. Was ZERO DARK THIRTY uns in den Verhörstrategien von Daniel vorführt, ist ein willkürliches Wechselspiel zwischen Verbindlichkeit und Einfühlung einerseits, Kälte und Aggressivität andererseits. Anders als im Modell der erlernten Hilflosigkeit Seligmans ist es dieser Wechsel und das ihm zugrunde liegende Begehren nach Austausch mit anderen, die eine zerstörerische Wirkung entfalten. Im Begehren nach Anerkennung ist nämlich zentral das Begehren nach Austausch aufgehoben, ja, nach Hilfe durch den anderen. Kein Kind kann alleine überleben, weder körperlich noch psychisch. Es erlernt keine Hilflosigkeit, nur sein Vertrauen kann verletzt werden, dass die Welt auf es reagiert und ihm so einen Halt bietet. Bigelows Film geht in einzelnen Szenen der Darstellung von Folter an die Grenze dieser Einsicht. Doch wenn nicht Ammars vom Wahn bestimmter Aus-

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druck, mit dem er in die Kiste gezwängt wird, dem Zuschauer in Erinnerung bleibt, sondern das des hungrig am gedeckten Tisch sitzenden Kindes, das seine Geheimnisse ausplappert, verbleibt der Film in der Ideologie Seligmans.

A FFEKT , S ZENE ,

PSYCHISCHE

R EPRÄSENTATION

Affekte haben eine je spezifische Organisation von Zeit. Jeder Rhythmus besteht aus einem Kontinuum von Wiederholung und Differenz. Viele Affekte werden wenig bewusst, weil sie den Alltag gewissermaßen tragen. Sie verknüpfen die Sinne mit den Geschehnissen, Lebewesen und Dingen. Ein gewisses Maß an Rückbezüglichkeit ist dabei allen Affekten eigen, auch denjenigen, die kaum zu Bewusstsein kommen. Wahrnehmung hat eine gewisse „direct and immediate self-referentiality“, wie Brian Massumi sagt (Massumi 2011, 44). Diese Selbstbezüglichkeit bildet eine Art Schein, der mit jeder Wahrnehmung verbunden ist. Dieser Schein gibt auch so etwas wie einen Halt, ein Gestell, einen Rahmen, in dem ein Selbstbezug möglich wird. Vielleicht kann man sogar das, was von Platon bis Julia Kristeva und Jacques Derrida chõra genannt wird, wenn nicht selbst als Affekt, so doch als seine Potentialität bezeichnen (Derrida 1990). Diese eine gewisse Kontinuität herstellenden, nicht auf einen Höhepunkt zutreibenden Affekte mögen das Licht und der Rhythmus des Tages sein, die Bewegungen der Blätter oder des Wassers, die Stimmen und andere Laute, Gerüche, aber auch Muster, Sternenbilder, Gesichter. Einen Teil von ihnen hat Daniel Stern treffend als Vitalitätsaffekte bezeichnet (Stern 2007, 83 ff.). Sie sind gelebte Gegenwart, erste Synthesen der Zeit. Dies bedeutet nicht, dass sie mit Erinnerungen gar keine Konstellationen eingingen. Diese können sogar äußerst komplex sein, Augenblicke der Erfahrung, Jetztzeiten im Sinne Walter Benjamins. Stern selbst spricht von Gegenwartsmomenten, die unter anderem für die psychoanalytische Kur eine zentrale Bedeutung haben, weil sich in ihrer Folge psychische Prozesse neu organisieren (Stern 2005). Auch die Beziehung zu sich selbst, zur Kontinuität des Ichs, kann als ein Affekt verstanden werden. Das Selbst muss sich selbst affizieren, aber die Formen dieser Selbstaffektion gewinnt es aus den Beziehungen, die es eingegangen ist. Dabei dürfte uns selbst kaum die Komplexität deutlich sein, in der Beziehungen zu anderen verinnerlicht werden. Die Psychoanalyse

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spricht von einem inneren Du, das über mimetische Prozesse aufgebaut wird. Es stellt nicht einfach eine Instanz der Kontinuität und Verlässlichkeit her, an der das Selbst seine Kontinuität gewinnen kann, es stellt auch komplexe szenische Konstellationen, Bilder des Selbst und Bilder der Welt bereit, die über Introjektion der Psyche des anderen wahrgenommen und verinnerlicht werden können. Dieses innere Du könnte man als Ort oder Quelle des Vertrauens verstehen. Dem Verlust der äußeren Welt der Objekte kann das Subjekt so lange einen inneren Widerstand entgegenhalten, so lange dieses innere Du als Objekt existiert. Folter, wie sie sich im 20. und 21. Jahrhundert entwickelt hat, zielt auf die Zerstörung dieses inneren Du. Françoise Sironi hat das treffend als intendierte Traumatisierung bezeichnet (Sironi 1999). – „But in the end, everybody breaks, bro. It’s biology.“ Die theoretischen Konzepte traumatischer Erfahrung gehen davon aus, dass eine Kontinuität des Ichs in solchen Situationen extremer Bedrohung nur noch darüber gewährleistet werden kann, dass die traumatische Erfahrung isoliert und in einer Weise im Gedächtnis bewahrt wird, die dem Bewusstsein nur noch selektiv oder sogar nicht mehr zugänglich ist. Doch wird selbst hierbei immer vorausgesetzt, dass das Selbst eine Stabilität besitzt, welche diesen Vorgang möglich macht. Temporäre Zusammenbrüche des Selbst aber dürften in früher Kindheit, in der es diese Stabilität oder Kontinuität des Selbst noch nicht gibt, von allen Menschen erlebt worden sein, sie bilden in ihrer Erinnerung vielleicht sogar eine Grundstruktur akkumulativer Affekte wie der Angst. Sie finden ihren figurativen Ausdruck in Vorstellungen des Fallens, des Abbruches der Kontinuität, des Zusammenbruchs. In einem nicht oft beachteten Aufsatz über „Die Angst vor dem Zusammenbruch“ fragt Donald W. Winnicott danach, was mit solchen Situationen eines Zusammenbruchs geschieht, die noch vor einer Etablierung eines Ichs liegen, das die Fähigkeit zur Kontinuität, zur Herstellung von selbstbezüglichen Erinnerungen oder, psychoanalytisch gesprochen, von psychischen Repräsentationen hat (Winnicott 1989). Die Fähigkeit zur Archivierung bzw. Erinnerung steht am Beginn der Psyche und lange bevor von einem Kohärenz suchenden Ich gesprochen werden kann. Gibt es also eine Erinnerung an den Zusammenbruch, ohne dass es davon eine dem Ich zugängliche Repräsentation gibt? Doch welche Form könnte eine Erinnerung haben, für die es gar keine Repräsentation gibt? Im Gegensatz zu Gefühlen, die das Ich hat, sind Affekte Sensationen, die dem Ich zustoßen. Wir führen sie, wenn sie uns bewusst werden, auf

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Wahrnehmungen zurück. Doch wir wissen, dass uns das oft gar nicht möglich ist. Affekte haben keine psychischen Repräsentationen in dem Sinne, dass diese Zeichen für etwas anderes wären. Was nicht bedeutet, dass Affekte nicht aus der Austauschbewegung mit der Welt entstünden. Im Gegenteil. Doch ist dieser Austausch als Form oder Intensität gespeichert, als Szene vielleicht, aber nicht als Zeichen. Affekte können tragend sein, fallend, schnell oder gemächlich. Ihre Nähe zur Erfahrung von Bewegung und Zeit macht den Film zum privilegierten Medium der Affekte. Affekte sind immer relational, genau genommen sind sie szenisch. Da Affekten aber immer eine Selbstbezüglichkeit eigen ist, kann man in der Weiterführung des Gedankens auch sagen, dass das Subjekt selbst in der Szene in Erscheinung kommt: nicht als der Relation vorgängig und doch als ihr ganz besonderer und eigener, individueller Ausdruck. Von daher ist in der Szene immer eine Dimension der Unbestimmtheit der Trennung von Subjekt und Objekt wirksam. Auch wenn das Subjekt als Ausdruck der Relation selbst in Erscheinung kommt, bleibt es doch ohne Objekt, jedenfalls ohne ein Objekt, das es sich gegenüberstellen könnte. In etwas älterer psychoanalytischer Begrifflichkeit formuliert, wie sie Alfred Lorenzer entwickelt hat, haben wir es in Szenen immer mit sinnlich-symbolischen Interaktionsformen zu tun, in denen sich Muster ausbilden können, die aber noch nicht sprachlich-symbolisch sind (Lorenzer 1970). Lorenzer bezieht sich bei dieser Unterscheidung zwischen sinnlich-symbolischen und symbolischen Formen übrigens ebenso wie Massumi auf Susanne K. Langer, die in ihrer ästhetischen Theorie Gedanken ihrer beiden wichtigsten akademischen Lehrer, Ernst Cassirer und Whitehead, verbindet (Langer 1984). Sinnlich-symbolische Interaktionsformen sind abstrakt, sie bieten kein Objekt, das sich das Subjekt gegenüberstellen könnte, obwohl das Subjekt in ihnen erscheint und auch einen Bezug auf ein Selbst entwickeln kann. Daraus resultiert ihre genuin ästhetische Qualität. Weil Affekte etwas sind, das dem Subjekt geschieht, haben sie im Denken-Fühlen (Massumi 2010, 131 ff.) der Wahrnehmung immer auch etwas Unheimliches. Auch wenn sich das Selbst an ihnen bildet, sind sie doch immer vorgängig. Affekte bedeuten Erregungen, bevor das Subjekt weiß, was die Ursache ist. Und oft wird es sie gar nicht benennen können. Affekte werden von daher immer auch als Beunruhigung und leicht als Bedrohung erfahren. Das kann sich zur Angst verstärken. Gerade die Abstraktion des Affekts und die damit verbundene Unmöglichkeit, diesen Selbstbezug

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durch eine Differenzierung zwischen dem eigenen und dem anderen zu begegnen, können zur einer akkumulativen Dynamik führen oder machen Affekte auch für falsche Objektivierungen anfällig. Vielleicht kann die akkumulative Form der Angst als Erinnerung an einen Zusammenbruch verstanden werden. Diese Erinnerung wäre damit gewissermaßen selbst Affekt, der eine Kontinuität zu gewährleisten versucht. Da er nicht mit der Erinnerung an ein konkretes Erleben verbunden ist, kann er auch keine stabile Repräsentation finden, kein Objekt, an das er unmittelbar überprüfbar geknüpft wäre. Im Sinne der Plastizität psychischer Prozesse bildet sich aber ein zeitliches Muster aus. Wenn Angst kein Objekt hat, an das sie sich erinnern kann, dann ist die Zeitform, in der sich Angst äußert, eben auch nicht erinnernd, sondern vorgreifend. Es gehört zur Eigenschaft jeder Bedrohung, dass sie als in der Zukunft liegend vorgestellt wird und deshalb auch nie vollständig bestimmbar ist. In dem Maße, wie Affekte Erfahrungen von Zeit und Bewegung sind, verbinden sie Vergangenheit und Zukunft. Angst ist ein antizipatorisches Vermögen (Görling 2013). Sie ist deshalb aber auch für die Konstruktion von Szenarien der Bedrohung so empfänglich. Das Szenarium des Terrorismus umfasst nicht nur die Gewalt des Attentates und der Folter, sondern auch die der präventiven Politik. Sie erfindet Narrationen und Bilder für etwas, das noch in der Zukunft liegt, um es schon heute zu unterdrücken. Doch sind Folter und der Gedanke der präventiven Politik eng verknüpft. Der Gefangene, der gesteht, ein Verbrechen geplant zu haben, ist die beste Selbstrechtfertigung und Überblendung des performativen Widerspruchs, etwas als Gefahr zu erklären, von dem man noch gar nichts weiß. Nicht auf einer ideologischen, aber auf einer affektiven Ebene sind die Tonbilder vom 11. September und die Szenen der Folter in Bigelows Film also doch eng verwoben. Wenn es aber kein Objekt für das gibt, was die Erfahrung des Zusammenbruches ist, wenn diese Erfahrung selbst als Affekt der Angst verstanden werden kann, dann ist die Figuration dieser objektlosen Erfahrung im Fall, in der Unterbrechung, im Riss der Kommunikation zu sehen. In den Telefonmitschnitten, mit denen ZERO DARK THIRTY beginnt, finden wir eben dies in vielfacher Weise ausgedrückt. Doch ist eben in dem Ausdruck des Fallens schon mehr als das Fallen selbst. „Oh my God“ ist ein Anruf an eine Instanz, die eine Kontinuität gewährleisten soll. Er richtet sich zugleich an das innere Du. Viele Zuschauer werden in

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diesem Augenblick spüren, dass sie weinen möchten. Es gibt auch nur schwer eine Gewöhnung daran.

O BSESSIVE B ILDER Maya, die weibliche Hauptfigur, die als Protagonistin die Kontinuität des Films in den kommenden 150 Minuten gewährleisten wird, weint nicht, selbst wenn eine gute Freundin von ihr einem Attentat zum Opfer fällt oder sie selbst einem Anschlag nur um Haaresbreite entgeht. Erst in der Schlusseinstellung sehen wir Tränen in ihren Augen. Sie sitzt, ich komme darauf zurück, alleine im Laderaum einer Transportmaschine, direkt nachdem sie die Leiche des von einer Eliteeinheit der amerikanischen Armee ermordeten Osama bin Laden gesehen und identifiziert hat. Maya zeigt auch keinen Ausdruck der Angst. Das Erlebnis, einer Folterung beizuwohnen, lässt sie nicht unberührt. Aber sie reagiert nicht mit Angst, zunächst auch nicht mit Abscheu, selbst gegenüber dem Opfer nicht, sondern mit einem Zustand, den man vielleicht am treffendsten als Besessenheit bezeichnen könnte. Schon während sie nach der ersten Folterung von Ammar mit Daniel vor dem Schuppen steht, fixiert ihr Blick den Überwachungsmonitor. Sie geht nicht auf Daniels Vorschlag einer Kaffeepause ein, sie möchte wieder zurück in diesen Raum, wieder zurück in die Nähe der Gewalt. Von ihr geht eine Faszination aus. Es gibt in den Szenen der Folterung immer wieder Schnitte, die Aufnahmen von Maya zeigen, wie sie mit großer Anspannung dem Geschehen beiwohnt. Sie versucht wegzusehen und lenkt den Blick doch wieder auf die Szene der Gewalt. Immer wieder fährt ihre Hand an ihren Mund, berührt sie sich selbst an den Lippen. Diese Gesten wiederholen sich, als sie später an Computermonitoren sitzt und Video-Aufzeichnungen von Folterungen analysiert. Dabei wechseln die Kameraperspektiven zwischen dem Blick auf den Monitor, auf dem manchmal die Aufzeichnungen von drei Überwachungskameras angeordnet sind, dem Blick auf Maya, wie sie in den Monitor schaut, dem Blick über ihren Rücken auf den Monitor, dem direkt eingeschnittenen Monitorbild und schließlich auch kurzen Passagen, in denen der Film einen Zeitsprung macht und das Geschehen als direkte Erzählung im Filmbild zeigt, hin und her.

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Wie hängen die Szene der Folterung und die Szene ihrer Betrachtung zusammen? Was verbindet sie? Wir haben schon im Zusammenhang von ROMA CITTÀ APERTA gesehen, dass Folter ein theatraler Vorgang ist, zu dem immer ein Dritter gehört, eine Instanz, vor der die Gewalt geschieht, der die Szene der Gewalt vorgeführt wird. Wenn Rossellini durch eine Vervielfältigung der Rahmen deutlich macht, dass es kein Außerhalb der Folter gibt, dann nimmt Bigelow diesen Gedanken durch eine Vervielfältigung der medialen Vermittlungen auf. Während aber diese Einbindung bei Rossellini zur Frage der Zeugenschaft führt, steht sie bei Bigelow in einem Zusammenhang, den man als Informationsgewinnung bezeichnen könnte. Diese Differenz drückt sich in einer ganz anderen Zeitlichkeit aus. Während es in der Zeugenschaft darum geht, für etwas, das außerhalb des Erfahrungszusammenhanges war, einen Ausdruck zu finden, der es erlaubt, die Erfahrung mit anderen zu teilen, geht es bei der Informationsgewinnung darum, einen Zusammenhang herzustellen, der ein Wissen und insbesondere ein Wissen über zukünftige Ereignisse verspricht. Es gibt in ZERO DARK THIRTY immer einen direkten Umschlag von dem Ereignis, das eine Bedrohung bedeutet, in eine Handlung, welche auf die Sammlung von Informationen und ihre Kombination gerichtet ist. Maya isoliert ihre Faszination an der Intimität der Gewalt, indem sie sich auf die Frage der Information konzentriert. Es ist ein Vorgang der Abspaltung. Der Film wiederholt immer wieder diesen Prozess. Über die Ereignisse selbst, über die Attentate, spricht Maya nie. Auch nicht über die Gewalt der Folterungen. Jeder bleibt mit diesen Eindrücken alleine. Als Daniel Maya berichtet, dass er nach Washington gehen wird, gibt er als Begründung: „I’ve just seen too many guys naked. It’s gotta be over a hundred at this point. I need to go do something normal for awhile.“ (Boal 2011, 37) Mayas Nachfrage „Like what“ vermeidet die Problematisierung der Erfahrung der Folter, deutet nur an, dass es keine gesicherte Differenz zwischen Normalität und Ausnahme oder Perversion mehr gibt. Doch was Daniel hier ausspricht, ist eine Erfahrung der körperlichen Intimität mit seinen Opfern, die im Film deutlich eine homoerotische und sadistische Dimension hat.

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Abbildung: Jason Clarke und Reda Kateb in ZERO DARK THIRTY von Kathryn Bigelow

Das Szenario bei Rossellini ist Besatzung und Widerstand, bei Bigelow ist es der Terrorismus. Das hat entscheidende Konsequenzen für die Frage der Inbezugsetzung der Erfahrung. Sie ist nie gesichert, aber in Rossellinis Filmen wird sie in der Gemeinschaft gesucht, in der Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit der sozialen Relationen, in ZERO DARK THIRTY in der Kombination von Daten, der Identifikation von Spuren und dem Aufspüren von Personen, die nicht wegen begangener, sondern wegen möglicher zukünftiger Handlungen gefangen, misshandelt und ermordet werden. Rossellinis Heldinnen und Helden sehen sich in Bezug zu anderen, die Heldinnen und Helden bei Bigelow sind in Organisationen und Apparaten eingebunden, die Zukunft planen und regulieren sollen. Bei Rossellini gibt es eine Suche nach einer Politik der Gemeinschaft als ethischen Zusammenhang, bei Bigelow gibt es eine Politik der Prävention, in der sich die Frage der Gemeinschaft nur noch als Frage der Abwehr einer permanenten, aber nicht definierbaren Bedrohung einer auf Institutionen und medialer Selbstdarstellung gegründeten Idee der Nation stellt. Genau genommen deutet sich an, dass an die Stelle der sozialen Gemeinschaft die Prozesse eines medial über Algorithmen produzierten Zusammenhangs, der sogenannten Big Data, treten. Auch dieser Zusammenhang ist eine Gemeinschaft, aber eine nichtmenschliche. Seine Prozesse und Entscheidungen lassen sich nicht mehr aus der Perspektive der Autonomie des Subjekts analysieren. Die Einbindung der Subjekte erfolgt unterhalb ihres Bewusstseins, was nur noch als diffuse Besessenheit erfahren werden kann.

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Die Bedrohung des Terrorismus hat keinen Namen, nur Daten. ZERO DARK THIRTY arbeitet mit Einblendungen der Zeitangaben und Ortsnamen, an denen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Anschläge verübt worden sind. Dabei werden wie schon bei Rossellini Handlungsmomente nachgespielt und mit Dokumentaraufnahmen kombiniert. Bigelow setzt aber diese Technik ganz anders und zu einem anderen Zweck ein als es am Beginn des zweiten Kapitels an IL GENERALE DELLA ROVERE diskutiert wurde. Es gibt kein latentes Bild mehr, die narrative Konstruktion schluckt das dokumentarische Bild. Fotografien interessieren als Mittel zur Identifizierung. Es sind Fahndungsfotos oder Mittel der strategischen Aufklärung. Das dokumentarische Material wird bei Bigelow fast ausschließlich im indexikalischen Sinne benutzt. Allerdings geht es weniger um den Verweis auf die Ereignisse selbst, als um die intersubjektive und mediale Dimension der Bilder. Das dokumentarische Material besteht aus Mitschnitten von Nachrichtensendungen, oft auch mit übernommenem Originalton des Nachrichtensprechers. Und während bei Rossellini der Übergang vom dokumentarischen Material zur fiktionalen Handlung erfolgte, folgen bei Bigelow die Mitschnitte der Nachrichtensendung direkt den nachgestellten Handlungen. Die Indexikalität bezieht sich auf die Nachricht, nicht auf das Ereignis. So beginnt der Verweis auf die Bombenanschläge vom 7.7.2005 zunächst mit einem direkten Schnitt von einem Gespräch in der USamerikanischen Botschaft in Afghanistan zu einer verzogenen Handkameraeinstellung durch das Rückfenster eines Fahrzeuges auf einen dahinter fahrenden Doppeldeckerbus (0:34:18). Es folgt eine Einstellung, die den Bus von außen zeigt, dann wieder Bilder aus dem Bus selbst: Blicke aus dem Fenster, Blicke auf Passagiere, und dann nochmals eine Einstellung von außen, die den Bus bis zur Explosion verfolgt. Danach sind direkt die Mitschnitte der Nachrichtensendungen montiert. Der erste zeigt einen Krankenwagen, der von der Kamera mit einem Schwenk verfolgt wird und der dann noch einen jungen Mann zeigt, der mit seiner Digitalkamera dasselbe tut.

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Abbildung: ZERO DARK THIRTY von Kathryn Bigelow

Rossellini hatte in ROMA CITTÀ APERTA die Szene der Folter mit sich unendlich nach außen wie nach innen vervielfältigenden Rahmen konstruiert. Die Bilder waren Ansprachen, deren Unruhe doch auf ein Zentrum bezogen war, um das herum sich eine Gemeinschaft oder eine Öffentlichkeit herstellte. Das Bild wirkte in seiner Ikonizität, die eine soziale Praxis der Verweisung zu provozieren schien. Auch Rossellinis Bilder waren selbstverständlich medial, doch war mit ihnen die Erwartung verbunden, dass ihre je eigene Wirkung auf das Individuum doch zur Bildung einer Gemeinschaft führen könnte, dass sie, um Mitchells Unterscheidung zwischen Idol, Fetisch, Totem und Fossil aufzugreifen (Mitchell 2005, 188-200), zu einem Totem werden könnten. Die Bilder in Bigelows Film sind eher indexikalischer Natur, sie verweisen. Aber das, worauf sie verweisen, bleibt eigentlich ungesehen. In der eben erwähnten Sequenz ereignet sich die Bombenexplosion im Bus, während er hinter Bäumen auf der anderen Seite eines Platzes fuhr und deshalb weitgehend aus dem Sichtfeld der Kamera verschwunden war. Im Zuschauer kommt die Ahnung auf, dass die Aufnahmen mit der Handkamera, die zuvor zu sehen waren, dem subjektiven Blick des Selbstmordattentäters entsprochen haben. Wir haben aus seinen Augen gesehen, sind mit ihnen in das Inferno gefahren, zusammen mit der jungen Frau, die sie zuvor betrachtet haben. Wir haben keine Gestalt des Attentäters, aber Fragmente seiner subjektiven Perspektive. Danach folgen die Mitschnitte der Nachrichtensendung, auch das Bild des Mannes, der dies mit seiner kleinen Digitalkamera aufnimmt, schließlich das Bild des aufgesprengten Busses aus größerer Distanz: „This is what remains of the

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number 10 bus which was traveling through Tavistock Square near Euston Station“, kommentiert der Nachrichtensprecher, bevor der Film Mayas Vorgesetzten Joseph Bradley (Kyle Chandler) zeigt, wie er an seinem Schreibtisch sitzt und auf dem Monitor eben diese Nachrichtensendung verfolgt. Die Vervielfältigung der Bilder in ZERO DARK THIRTY ist numerischer Natur, nicht ihr Rahmen vervielfältigt sich, sondern ihre Rezeptionszusammenhänge, ja, sogar die Perspektiven der Aufnahmen haben ihre bedeutungsleitende Funktion fast verloren. Die Bilder zirkulieren, sie sind keine Objekte mehr, eher Dinge, Waren, in Mitchells Begriffen: Fetische. Sie verweisen, aber das, worauf sie verweisen, zeigen sie nicht. Sie erfüllen sich selbst in der Geste des Verweisens. Das macht sie obsessiv.

T HE H URT L OCKER (B IGELOW ) Die Unmöglichkeit des Aufbaus von Objektbeziehungen ist ein Zusammenhang, der Bigelow auch schon in früheren Filmen interessiert hat. In ihrem vorhergehenden, ebenfalls mit Mark Boal als Drehbuchautor realisierten Film THE HURT LOCKER (2008) ist das Einschließen des Schmerzes schon im Titel programmatisch gefasst. Die zentrale Figur des Films, William James (Jeremy Renner), ist Bombenentschärfer der USamerikanischen Armee zur Zeit der Besetzung des Irak. Er ist in seinem Job erfahren und mehr als wagemutig. Er will und muss das Ding, von dem die Gefahr ausgeht, aufspüren und seinen Mechanismus außer Kraft setzen. Dazu braucht es nicht nur Erfahrung und Kenntnisse über den Bau von Bomben, sondern auch einen kühlen Verstand und eine ruhige Hand. Das setzt eine extreme Beherrschung der Affekte voraus, gleichsam eine Entkoppelung von Affekt und Handlung. Vielleicht ist das nur möglich durch eine Fetischisierung, in der das Ding für etwas anderes einsteht, als das, worauf es verweist. Die Bomben sind, ähnlich wie Übergangsobjekte, sensible und gefährliche Spielzeuge, in deren Gefahr man sich gibt und an denen man sich das eigene Überleben beweist. Sie lassen sich als merkwürdige Doppelgänger verstehen. Sie sind verdeckt, unheimlich und immer schon zu nah, wenn sie entdeckt werden. Der Akt der Entschärfung versetzt in den Rausch ungewollter Nähe, die gelungene Entschärfung gleicht einer temporären Überwindung der eigenen Sterblichkeit. Tatsächlich hebt Willi-

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am von jeder Bombe, die er entschärft hat, ein Teil auf und sammelt dieses wie einen Talisman in einem Koffer unter seinem Bett. Es gibt nur einmal eine Situation, in der sich William auf eine Beziehung mit einem anderen Menschen einlässt, in der Affekt und Handlung in einer sich gegenseitig stützenden Weise verbunden sind. Er entwickelt sie gegenüber einem Jungen, der ihm eine DVD verkauft hat. In einem getöteten Kind, dessen Leichnam als Bombenversteck missbraucht wird, meint er diesen Jungen wiederzuerkennen. Er riskiert sein Leben, um die Explosion der Bombe zu verhindern und ein Begräbnis für den Leichnam des Kindes zu ermöglichen. Doch als er nachts zu den Eltern des Jungen geht, muss er feststellen, dass es sich gar nicht um denselben Jungen gehandelt hat. Wie der Zuschauer im Rückblick nach einer Passage am Ende des Films, in der James mit seiner Frau und seinem Sohn gezeigt wird, vermuten kann, erinnerte ihn der Junge an sein eigenes Kind. Der Irrtum wird durch die Übertragung erklärlich, zugleich bestätigt er auch die Probleme von James, eine kontinuierliche soziale Beziehung einzugehen. Beim Entschärfen einer Bombe wäre ein solcher Irrtum tödlich. Nur kurze Zeit hält es ihn nach der Beendigung seines Einsatzes zuhause bei seiner Frau und seinem Sohn, dann meldet sich William freiwillig für einen erneuten Einsatz. Es gehört zu den bekanntesten Einsichten von William James, dem Philosophen, Psychologen und Mitbegründer des Pragmatismus, dass Wahrnehmung und Bewusstsein nicht linear verknüpft sind. Emotion, ja „the entire ᴂsthetic life of man“ (James 2011, Pos. 7900) wird von ihm als ein psychologischer Vorgang verstanden, der unabhängig vom Bewusstsein entsteht. Dieses nimmt zum Beispiel Angst erst durch die Veränderungen wahr, die der Körper vollzieht. Das Bewusstsein ist also gegenüber der Angst immer nachträglich, wie auch Brian Massumi mit Bezug auf James erläutert (Massumi 2005, 40). Was bewusstseinsfähig wird, ist immer schon eine komplexe Verkörperung der Wahrnehmung. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Bigelow und ihr Drehbuchautor bei der Wahl des Namens des Protagonisten von THE HURT LOCKER darauf anspielen. Die spektakulärste Sequenz des Films ist eine in extremer Zeitlupe gefilmte Montage von Explosionsaufnahmen. William, der erkennt, dass ihm die Entschärfung einer mit einem Zeitzünder versehenen Bombe nicht mehr rechtzeitig gelingen kann und davonrennt, wird in seinem Schutzanzug mitten im Lauf von der Wucht der Explosion zu Boden geschleudert, bleibt aber unverletzt. Doch was der Film in der fast zu Standbildern gedehnten

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Zeitlupe zeigt, ist im Grunde der Augenblick des Zwischen von Wahrnehmung und Bewusstsein, der expandierte Moment des Fallens. Gäbe es dieses Zwischen nicht, William könnte seinen Beruf unmöglich so erfolgreich ausführen. Es ist aber auch dieses Zwischen, in dem die nicht-menschliche Gemeinschaft sich realisiert. In dem ironischen Lächeln, das über Williams Gesicht huscht, wenn er nach überstandener Gefahr seinen Helm abnimmt, drückt sich ein Wissen darum aus, dass in einer nicht-menschlichen Gemeinschaft das Subjekt schon längst aus seiner Mitte gefallen ist. Was in THE HURT LOCKER die gedehnten Sekundenbruchteile der Explosion sind, ist in ZERO DARK THIRTY die Jahre währende Zeit der Verknüpfung von Ausgangsereignis und Ziel. Besteht der Rausch von William in der Entkoppelung der Wahrnehmung von Gefahr vom Gefühl der Angst, so entkoppelt Maya die Frage nach dem Sinn der Handlung vom alltäglichen Vollzug. Auch dies führt zu einem Rausch, zu einer Besessenheit. Maya verfolgt ihre Spur, von der niemand sonst glaubt, dass sie an das Ziel führen könnte. Bin Laden finden und töten: das ist ihr Fetisch. Wenn Bigelows Film dann die veröffentlichte und vielfach reproduzierte Aufnahme aus dem situation room montiert, die den US-amerikanischen Präsidenten, die Außenministerin und einige andere vor den Monitoren der LiveÜbertragung der Militäraktion zeigt, wird Mayas Fetischobjekt zu einem Totem.

D AS M ÄDCHEN

UND DER

T OD

„Every affect, every reason for doing what one does, is sucked into a black hole“, schreibt Stephen Shaviro treffend in „A Brief Remark on ZERO DARK THIRTY“ (Shaviro, 2013). Das Resultat sei eine reine Zweckrationalität der Handlungen. Shaviro verweist bei der Verwendung dieses Begriffs auf die Arbeiten von Max Horkheimer. „Bedeutung wird verdrängt durch die Funktion oder den Effekt in der Welt der Dinge und Ereignisse,“ schreibt der Theoretiker der Frankfurter Schule in „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, einem Werk, das auf Vorlesungen zurückgeht, die er während seines amerikanischen Exils im Frühjahr 1944 an der New Yorker Columbia University gehalten hat (Horkheimer 1968, 136). Die Identität von Zweckrationalität und Pragmatismus, die er dort entlang einiger weniger Zitate von Charles Sanders Peirce, William James und vor allem John

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Dewey behauptet, ist sicher schon damals nicht haltbar gewesen und geschieht in weitgehender Unkenntnis der nicht mehr subjektbezogenen, relationalen Seite des Pragmatismus. Sie wird, wo sie dann doch geahnt wird, mit dem Verweis auf die ebenfalls unter Verdikt stehende Lebensphilosophie Henri Bergsons abgetan. Doch verliert die in diesem Text wie dann zusammen mit Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ nochmals formulierte Denkfigur, dass auf der Rückseite der Zweckrationalität die von dieser verleugnete Differenz des anderen und der Natur als mimetisches Begehren der Anpassung wiederkehrt, deshalb nicht ihre Gültigkeit (Horkheimer 1968, 200). Ein Handeln, das auf das andere des eigenen nicht mehr reflektiert und sich von jeder Irritation durch die Differenz frei glaubt, bringt die mimetische Bindung an die Differenz fast zwingend hervor. In „Elemente des Antisemitismus“ verstehen Horkheimer und Adorno sie als einen Introjekts- und Projektionszusammenhang, in dem das Begehren des anderen mimetisch genossen, dann aber in einer projektiven Verkehrung dem anderen untergeschoben wird (Horkheimer/Adorno 1947, 216 ff.). Psychoanalytisch lassen sich mindestens drei Weisen eines Umgangs mit Erfahrungen des Verlustes, der Bedrohung und des Zusammenbruches unterscheiden, bei denen das Begehrte nicht den Status eines dem Bewusstsein zugänglichen psychischen Objektes erhält bzw. diesen verliert und deshalb auch nicht aufgegeben oder betrauert werden kann. Die bekannteste und von Freud auch immer wieder in seinen Fallbeschreibungen aufgenommene Weise ist die der Verdrängung. In ihr wird die Objektrepräsentanz wohl beibehalten, sie wird aber durch eine Entstellung der Gestalt oder des Namens unkenntlich gemacht. Dadurch kann es dann auch räumlich entstellt und in Dynamiken der Identifikation, Projektion und Introjektion aufgenommen werden. In Erweiterung dieses Konzepts haben Nicolas Abraham und Maria Torok die Denkfigur der Kryptisierung entwickelt. Diese äußert sich dadurch, dass das Objekt gewissermaßen lebendig begraben wird, das Unbewusste aber durchaus mit ihm in Kontakt bleibt (Abraham/Torok 1994). Handlungen lassen sich in diesem Fall nicht über die Rekonstruktion von Introjektions- und Projektionsvorgängen in einen Zusammenhang bringen, sondern nur in einer hermeneutischen Arbeit der Komplettierung von Fragmenten zu einer Geschichte. Die dritte Weise ist die, welche schon bei der Diskussion des Begriffs des Zusammenbruchs bei Winnicott angedeutet wurde. Wie kann etwas erinnert werden, dass nie den

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Status eines Objektes hatte, weil es tatsächlich als Zusammenbruch erlebt worden ist, bevor überhaupt von einer Objektbeziehung gesprochen werden kann? Ich habe schon gesagt, dass ich vorschlagen würde, den Affekt der Angst als Form zu verstehen, in der sich dies als Erinnerung des Einzelnen niederschlägt. Etwas weiter gefasst könnten auch andere Affekte so analysiert werden. Der britische Psychoanalytiker Christopher Bollas hat für die Beschreibung dieser Affekte verschiedene Begriffe vorgeschlagen. Sie wirken wie ein unthought known, Dinge bekommen den Charakter von evocative objects (Bollas 2009). Mit ihnen kann das Subjekt seine Affekte regulieren, seine Stimmungen steuern, seinem objektlosen Begehren einen Halt im Außen geben. Im letzten Fall bekommen die Objekte den Charakter von Fetischen. Bigelow gibt keine psychologische Studie ihrer Protagonistin, doch sie zeigt sie als Besessene. Maya spricht praktisch nie über ihre Gefühle. Wir sehen sie als Beobachtende und Handelnde. Sie befiehlt auch selber die Misshandlung von Gefangenen, unter anderem durch die Wasserfolter. In der Situation selbst lässt sie sich in ihrem Vorhaben nicht irritieren, aber wir sehen einmal, wie sie danach auf der Toilette Mühe hat, eine Übelkeit zu beherrschen. Längst haben alle Kolleginnen und Kollegen die von ihr gefundene und verfolgte Fährte aufgegeben. Jessica, die einzige Person neben Daniel, die ihr ein Stück nahe kommt, sagt einmal zu ihr: „Look, I know Abu Ahmed is your baby, but it’s time to cut the umbilical cord.“ (Boal 2011, 39) Doch Maya lässt sich von diesem nicht fassbaren Objekt, von dem sie vermutet, dass es sich um den Boten von Osama bin Laden handelt, nicht abbringen. Als es schließlich gelingt, die Telefonnummer seiner Mutter in Kuwait zu bekommen, wird es möglich, seinen Aufenthaltsort näher zu bestimmen. Doch das Sicherheitspersonal, das ihn aufspüren soll, während er telefoniert, ist zunächst wenig engagiert. „This guy you’re obsessed with, what’s his name again?“ (1:15:30; Boal 2011, 60) fragt dann auch der Leiter der Gruppe. „But bin Laden is there – and you’re going to kill him for me“, sagt sie zum Chef der Militäreinheit, die in vom Radar nicht erfassbaren Hubschraubern den Einsatz von Afghanistan aus durchführen soll. Am Ende hat „the girl“, das Objekt gefunden, das sie begehrt hat: den toten Körper eines alten Mannes. Es ist eine seltsame Wendung eines kulturellen Bildes. „Der Tod und das Mädchen“ steht seit Hans Baldung Griens gleichnamigem Bild aus dem Jahre 1517, das vermutlich selbst eine

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Tradition des Totentanzes weiterführt, für das Rätsel einer Erotik des Bedrohlichen oder auch einer Bedrohung durch das Erotische. Matthias Claudius schreibt in seinem 1775 erschienenen Gedicht desselben Titels: „Vorüber! Ach vorüber / Geh wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh Lieber! / Und rühre mich nicht an.“ Was bei Rezitationen gerne übersehen und auch bei Übersetzungen missachtet wird, ist, dass „Lieber“ ein Substantiv ist, dass das Mädchen mit „Lieber“ also den Knochenmann adressiert und keine Aussage über eine Präferenz gibt. Es gibt eine Faszination, einen Sog der Hingabe gegenüber einem Objekt, das wild ist und Todesassoziationen weckt. Dieses Objekt ist da, präsent, es ist aber zugleich doch auch nicht real, ein Objekt der Phantasie. Schon bei Hans Baldung Grien ist der Knochenmann ja auf einer Wirklichkeitsebene, die sich von der des Mädchens deutlich unterscheidet. Er ist schemenhaft, eine Bedrohung, hinter ihr stehend, sie kann ihn nicht sehen, auch wenn seine Hand durch ihr Kopfhaar fährt. Das Bild gilt als das erste in der neuzeitlichen Malerei Europas, auf dem Schamhaare abgebildet sind. Und auch der Knochenmann hat Haare. Sie sind eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Leben und Tod, sie galten lange Zeit als etwas, das auch nach dem Tod noch weiter wächst. In dieser Motivtradition ist der Tod eine Figuration einer unbestimmten, objektlosen Angst. Noch in Polanskis Film wurde das aufgenommen, wenn auch bis zur Grenze der Umkehr vorangetrieben. Wie ist diese Verschiebung oder Umkehrung zu verstehen, die entsteht, wenn das Mädchen selbst es ist, die den Tod bringt? In einer spezifischen Form objektlos ist die Bedrohung, die mit der Vorstellung des Terrorismus verbunden ist, durchaus. Das Szenario ist ja gerade durch seine diffuse, über die Massenmedien hergestellte Allgegenwärtigkeit geprägt. Die Bedrohung scheint nicht lokalisierbar, sie ist ubiquitär, nicht in einem Außen. Und sie ist, wie gesagt, mit unseren Alltagshandlungen vielfach präsent und verkörpert. In der Präsenz der Überwachungskameras an allen öffentlichen Plätzen ist immer auch das Szenario des Terrorismus aufgeführt, wir tragen es als fälschungssicheren Ausweis täglich mit uns herum, und spätestens bei der Leibesvisitation auf dem Flughafen verkörpern wir es, wie Diana Taylor in der schon zitierten Passage treffend formuliert. Für Maya ist all das zum perfekten Habitus geworden. Wenn sie beim Bombenattentat auf das Marriot Hotel am 20. September 2008 im Hotelrestaurant sitzt, scheint sie fast schon vor der Explosion die Flucht zu ergreifen und zusammen mit einer Kollegin durch Feuer

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und Rauch und vorbei an verletzten Menschen den Weg nach draußen zu finden. Und selbst ein Anschlag, der ihr persönlich gilt, als sie mit ihrem Wagen die Botschaft verlassen will, scheint sie kaum aus der Fassung zu bringen. Eine Schrecksekunde kennt sie nicht. Wenn aber über die in allen Besprechungen der lokalen Einsatzgruppe laufenden Fernseher Nachrichten über die Anschläge in anderen Teilen der Welt gesendet werden, sitzt sie ganz nah vor dem Bildschirm, als suche sie einen körperlichen Kontakt, als wolle sie von den Bildern berührt werden. „Washington says she’s a killer“, berichtet der CIA-Chef für Pakistan nach der ersten Folterszene Daniel. Das trifft zumindest in dem Sinne zu, dass sie unbeirrbar und mit allen ihr verfügbaren Mitteln ein Ziel verfolgt. Nur ganz am Ende des Films bricht der Film diese Konstruktion. Wenn Maya dem geöffneten body bag gegenübersteht, in dem sich die Leiche bin Ladens befindet, gibt es einen kurzen, wenn auch flüchtigen Augenblick erotischer Spannung. Mayas Atmung geht schnell, ihre Haare sind zerzaust, der Ausschnitt ihres Tops, betont durch eine Kette mit rotem Anhänger, ist der tiefste im ganzen Film. Und der bei der Identifikation anwesende, offensichtlich mit einem Verantwortlichen in Washington telefonierende Offizier bestätigt zeitgleich im Hintergrund gegenüber seinem Gesprächspartner, es sei „the girl“, das den Leichnam identifiziert habe. Fürsorglich, fast zärtlich schließt Maya den Zipp des schwarzen Plastiksackes. Taumelnd verlässt sie das Zelt, schließt die Augen und legt den Kopf nach hinten. Die nächste Einstellung ist aus dem leeren Laderaum eines Transportflugzeuges heraus gefilmt und zeigt, wie sich die große Heckklappe öffnet. Maya steigt mit ihrem Seesack über der Schulter hinauf. Auf die Frage des Soldaten im leeren Laderaum des Transportflugzeugs, dessen einzige Passagierin sie ist, wohin sie fliegen möchte, gibt sie keine Antwort. Sie setzt sich auf einen beliebigen der Sitze am Rand des Laderaumes, schnallt sich an. Tränen rinnen über ihr Gesicht, in dem man Erschöpfung, Traurigkeit und vor allem Leere zu sehen glaubt. Wenn man jemanden verliert, den man liebt, dürfte der Ausdruck nicht anders sein.

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Abbildung: Jessica Chastain in ZERO DARK THIRTY von Kathryn Bigelow

Mayas Obsession lässt sich mit einem auf dem Konzept der Verdrängung beruhenden Modell nicht mehr sinnvoll analytisch beschreiben. Von den erwähnten drei Mechanismen der Spaltung psychischer Erfahrungen mag vielleicht die Kryptisierung noch in Betracht kommen. In einigen Momenten legt der Film eine solche Spur, etwa wenn Maya in einem Gespräch in der Kantine vom CIA-Chef gefragt wird, warum sie von der Organisation rekrutiert worden sei, wird sie unsicher wie in kaum einer anderen Situation des Films und erwidert, dass sie das wohl nicht erzählen dürfe. Doch geht der Film dieser Spur nicht nach. Mayas Obsession ist, so könnte man sagen, gerade die Abwesenheit des Außen. Sicher, das Szenario des Terrorismus scheint das andere als allgegenwärtige Bedrohung zu berücksichtigen. Aber zugleich ist es in eben dieser Allgegenwärtigkeit kein anderes mehr, ist es alltäglich. Die Intrige der Ansprache durch den anderen ist nicht nur immer schon geschehen, der Terrorismus integriert seine DiaChronie scheinbar vollständig in die Praktiken des Alltags. Die Leibesvisitation ersetzt in diesem Sinne das Gebet vor dem Abflug. Auf die immer schon stattgefundene Ansprache durch den anderen wird im Szenario des Terrorismus nur noch im Sinne einer affektiven Tönung des Handelns, einer irrationalen Fixierung, einer inneren Leere und einer Unfähigkeit reagiert, das eigene Handeln in seinen sozialen oder politischen Konsequenzen zu reflektieren, es auf sich selbst als soziale Person zu beziehen. Bin Laden zu töten, fast 10 Jahre nach den Ereignissen, für deren Planung er mutmaßlich die Hauptverantwortung getragen hat, ist kein Handlungsziel, das politisch motiviert wäre. Es hat auch nichts mit Rache und noch weniger mit Gerechtigkeit zu tun. Die Motive sind so diffus wie die An-

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nahme einer Gefahr, die von ihm noch ausgehen möge. Mehrfach wird in den Dialogen des Films betont, dass bin Laden für die Organisation des Terrorismus keine Bedeutung mehr habe. Aber es ist gerade diese Unbestimmtheit des Ziels, die es erlaubt, jedwede Handlung zu legitimieren. Und jede Gewalt, jede Folterung, jede aktive Missachtung des anderen vertieft die Unmöglichkeit, über den Zusammenhang des eigenen Handelns zu reflektieren. Die Suche wird zu einem Rausch, der Gewinn des „jackpot“, wie der Leichnam bin Ladens von einem der Soldaten bei der Erstürmung seines Hauses genannt wird, hinterlässt nichts als ein Gefühl der Leere. Mit ZERO DARK THIRTY präsentiert Bigelow einen Handlungszusammenhang, in dem Folter und Entführung Teil eines staatlichen Verwaltungsapparates sind, der wissentlich jenseits des internationalen Rechts agiert, der in sich vielfach vernetzt ist und in dem die Folterungen scheinbar nur eine von vielen Möglichkeiten sind, Informationen einzuholen. Die CIA ist kein staatliches Organ, das der Aufklärung von Verbrechen dient, es ist eine Organisation, die verhindern möchte, dass Menschen Handlungsmöglichkeiten erhalten, von denen man annimmt, dass sie nicht im politischen oder ökonomischen Interesse der USA sind. Sie handelt folglich präventiv, sie handelt gewissermaßen, um das Auftauchen der Differenz auszuschließen. Dazu muss sie überheblich jede kritische Distanz zum eigenen vermeiden und Differenz zum anderen produzieren. Das Szenario des Terrorismus ist ein Mechanismus zur Produktion einer Figuration von Differenz, die zugleich begehrt und ausgegrenzt wird. Es hat darin das Szenario des Kommunismus beerbt. Es mögen Projektionsvorgänge dabei eine Rolle spielen, die Dynamik entsteht aber aus der Intrige, der Vorzeitigkeit der Ansprache durch den anderen. Sie soll verleugnet werden, so, wie in der Folter die Subjektivität des Opfers verleugnet und doch auch im performativen Widerspruch anerkannt wird. In einer Vielzahl von Einstellungen sehen wir Maya beim Zusehen und Beobachten: Sei es vor den Videos der Verhöre, sei es vor den Sendungen der Nachrichtennetworks, sei es in den Folterungen. Sie betrachtet die Soldaten bei ihren Vorbereitungen zum Sturm auf bin Ladens Anwesen genauso, wie sie ihren Blick auf die Wand mit Fotografien der Verdächtigten wirft. Und vielleicht hierin, in dieser Haltung des Beobachtens, findet sich der Zuschauer des Films in der Protagonistin wieder. Es findet keine Einfühlung oder Identifikation statt, aber doch eine Übertragung dieser Geste. Sie ist ein Affekt eigener Art: ein

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Staunen, ein Zusehen, ein Beharren, ein Entrücktsein. Ihr Blick ist, wie auch immer wieder der der Kamera, registrierend, interessiert, ja süchtig, doch nicht beherrschend. Es ist, als sei alles wie durch eines der Nachsichtgeräte gefilmt, deren Bilder in der Sequenz der Erstürmung des Anwesens von bin Laden immer wieder eingeblendet werden: eine in den Temperaturen des Lichts verschobene, die Welt entstellende Sichtbarkeit. Die Schwierigkeit, die sich bei einer solchen filmischen Darstellung der Folterpraktiken der CIA ergibt, war Bigelow zweifellos bewusst. Wie seine Protagonistin liefert der Film keinen eigenen Ort, keinen Standpunkt etwa, von dem aus das Gezeigte beurteilt werden könnte. Der Film konturiert eine Praktik und ihr Szenario, für deren analytische Beschreibung die Begriffe nicht schon fertig zur Hand liegen. Diese Gewalt ist prozedural, sie kennt kein Außen, keine Transgression. Sie konstituiert nur ein Objekt der Aggression. Das aber ist kein Außen, es ist innen. Gewalt konstituiert kein Außen, an dessen Rand sich ein Souverän situieren und so einen Bereich des Politischen schaffen könnte. Sie folgt der Logik der Prävention, wie sie mit Michel Foucault als Charakteristikum der Biopolitik beschrieben werden kann (Foucault 2004; Krasman 2011). Es gilt aber wohl, die von Giorgio Agamben in seinen Arbeiten konstruierte Verknüpfung der Biopolitik mit der Vorstellung eines Raums des Politischen zu lösen, den ein Souverän durch die Gegenüberstellung eines Rechtlosen herstellt und begrenzt (Agamben 2008). Diese Handlungen sind in einem ganz hohen Maße unpolitisch. Wenn sich nach dem Wahlsieg der amerikanischen Regierung die Politik gegenüber der Folter ändert, nimmt man das mit Missfallen zur Kenntnis, wird vorsichtiger, vernichtet Dokumente. Ist die CIA deshalb ein eigener Souverän? Keine der Agentinnen in Bigelows Film denkt politisch oder wird auch nur durch eine besondere Identifikation mit den USA charakterisiert. So politisch folgenreich die Aktionen der CIA sind, sie sind selbst weitgehend gelöst von einer Vorstellung von Politik als öffentlicher Sphäre der Verhandlung von Interessen. Es ist ein bürokratisches Unternehmen, das die Gedanken, Handlungen und Institutionen anderer Menschen zum Objekt seiner Einwirkung macht. Darin stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob man die Rechte und den Willen anderer verletzt. Das ist Alltag. Es muss nur innerhalb der Institution legitimiert sein und sollte nicht öffentlich werden. Insoweit sind selbst die Opfer nicht recht- und eigenschaftsloses Leben, sie sind nur Objekte, derer man sich an einem Ort bemächtigt hat, an dem es keine Öffentlichkeit mehr gibt, einer Black Site.

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Selbst diese Orte sind Teil einer funktionierenden Maschine, deren Bedingungen und deren Zwecke nicht mehr befragt werden. Es ist nichts anderes als das, was man als Neoliberalismus bezeichnet: Ein Handeln nach Kriterien der Effizienz, das verweigert, sich mit den sozialen, politischen, ökologischen oder ethischen Kosten, die es verursacht, zu konfrontieren. Doch gerade darin wird es zur Obsession: Maya fällt selbst aus dem Netz sozialer Beziehungen, der Halt, den die Welt ihr bietet, besteht am Ende gerade noch in den Sicherheitsgurten, die sie sich im leeren Laderaum des Transportflugzeuges anlegt. Bigelows Film zeichnet eine Ökologie dieser Praktik (Stengers 2005) nach, die selbst obsessiv wird und mit der sie den Zuschauer an ihren Film bindet als sei man süchtig nach dieser Leere und dieser Melancholie. Ist nicht ZERO DARK THIRTY gerade darin eine hoch präzise analysierende und selbstkritische Beschreibung einer Gesellschaft, die eine Regierung gewählt und wiedergewählt hat, welche Folter de facto legalisiert hat? Und deren Nachfolgeregierung die juristische Aufarbeitung dieser Menschenrechtsverletzungen unterbindet? Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn zwischen Affekt und Bewusstsein eine so riesige Lücke klafft? Wurde sie in der Zeit der Administration von George W. Bush verleugnet, so wird sie von seinem Nachfolger rhetorisch überrannt. Ein Mangel an Ironie ist beiden eigen. Distanz zu sich selbst wird aber dringend gebraucht, wenn das Subjekt in einer nicht-menschlichen Gemeinschaft lebt, aus deren Mitte es längst gefallen ist, und wenn die imagined community Nation längst durch das Big Data der Kontrollgesellschaft ersetzt wurde. Diesen Mangel an Selbstdistanz, der bis an die Arroganz der Rechtfertigung von Folter reicht, macht Bigelows Film in einer unbequemen Weise deutlich.

S TANDARD O PERATING P ROCEDURE (M ORRIS ) In Errol Morris’ Film über die Fotografien aus Abu Ghraib finden sich mindestens zwei der Themen wieder, die Bigelows Film behandelt, nur werden sie hier aus anderen Perspektiven betrachtet. Morris verfolgt in STANDARD OPERATING PROCEDURE (2008) Spuren und versucht sie zu einer Erzählung zu komplettieren. Es geht ihm um Aufklärung über die Zusammenhänge der im Frühjahr 2004 an die Öffentlichkeit gekommenen

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Fotografien, und vor allem auch um eine von ihnen, welche eine weitere und gemeinhin als skandalös empfundene Variante des Themas „Der Mädchen und der Tod“ darstellt: die Fotografie der Armeeangehörigen Sabrina Harman, wie sie mit einem Lächeln im Gesicht und einem nach oben gestreckten Daumen in die Kamera blickt, während sie sich über die Leiche eines zu Tode gefolterten Mannes beugt. Sein heute bekannter Name ist Manadel al-Jamadi. Er war von US-amerikanischen Armeeeinheiten am 4. November 2003 unter dem Verdacht festgenommen worden, den Sprengstoff für ein eine Woche zurückliegendes Attentat besorgt zu haben (Morris 2011, 104). Der Film kombiniert Aufnahmen von Interviews mit einigen Personen des direkt an den Vorgängen beteiligten Militärpersonals, die Wiedergabe der Fotografien und eine Reihe meist in Zeitlupe gefilmter Zwischenspiele, die manchmal als ein Reenactment erscheinen, meist aber als ein weitgehend stilisierter und oft abstrakter visueller Kommentar. Die Interviews sind mit einer speziellen, auf der Technik des Teleprompters aufbauenden Apparatur aufgenommen, mit deren Hilfe sich der Eindruck erwecken lässt, die Gesprächspartner würden direkt in die Kamera schauen. Der Interviewer kommt selbst nie ins Bild, nur an wenigen Stellen sind seine Fragen zu hören. Häufige Unterbrechungen des Bildflusses, oft auch durch Verschiebung der Sprecherposition auf der Breitbildleinwand indiziert, sowie die Benutzung von Schwarzfilm machen dabei deutlich, dass es sich um einen Film und eine inszenierte Interaktion handelt. Die Gesichter der Personen kommen dem Betrachter sehr nahe, die Bewegung der Augen, des Mundes, der Glanz des Lippenstiftes oder auch die Unvollkommenheit der Symmetrie der Gesichter erzeugen eine nicht unbedingt gewünschte Nähe zu den Menschen, die ihre Version der Geschichte der Misshandlungen im Gefängnis von Abu Ghraib erzählen, an denen sie im Herbst 2003 beteiligt waren und die sie mit drei verschiedenen Amateurdigitalkameras fotografiert und gefilmt haben. Diese Nähe der Gesichter führt zu einer merkwürdigen Verschlossenheit und oft auch Ausdruckslosigkeit. Es ist schwer zu sagen, wie viel der Erlebnisse ihre Erzählungen wirklich aufnehmen und wie viel gerade durch sie auch verdeckt bleibt. Jede und jeder hat ein eigenes Genre der Narration gefunden, eine Geschichte von Verliebtsein und Verführung, von hilfloser Einordnung in die Befehlshierarchie, von ahnungslosem Eintauchen in eine Hölle der Gefahren, von Versagen der Befehlsverantwortung durch die oberen Ränge (vgl. Mitchell 2009, 57). Die

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Geschichte von Sabrina Harman, von deren Kamera auch die meisten Fotos stammen, ist die am wenigsten durch bekannte Erzählmuster vorgeformte: Am 9. November, also wenige Tage nach dem Tod von al-Jamadi, schrieb sie in ihren Briefen an ihre Geliebte in den USA, dass sie fotografiere, um das Geschehene zu dokumentieren: „Yes, they do beat the prisoners up and I’ve written this to you before. I just don’t think it’s right and never have. That’s why I take the pictures – to prove the story I tell people. No one would ever believe the shit that goes on. No one.“ (Morris 2008) In dem gemeinsam mit Philip Gourevitch verfassten Buch, das auf denselben Recherchen wie der Film beruht und auch denselben Titel hat, schreiben die Autoren: Harman „wished to unburden herself of complicity in conduct that she considered wrong" (Gourevitch/Morris 2008, 112). Doch hat diese Faszination an der Fotografie nicht erst in der Armee oder in Abu Ghraib begonnen. Sie habe gerichtsmedizinische Fotografin werden wollen, sagte sie Morris und Gourevitch. Bilder hätten sie schon immer fasziniert: „taking them and being in them.“ (73). Selbst wenn jemand verwundet sei, sei ihr erster Gedanke, ein Foto dieser Wunde zu machen. „Of course, I’m going to help them first, but the first reaction is to take a photo.“ (74) Es gibt also einen merkwürdigen Zusammenhang von Nähe und Distanz, Exhibitionismus und Verbergung in dieser Art der fotografischen Praxis. Zum einen könnte man mit Gourevitch und Morris sagen, dass die Fotografien eine Distanz zum Objekt aufbauen helfen, von dem gleichzeitig eine starke körperlich-sinnliche Adressierung ausgeht. Von einer anderen Perspektive aus gesehen ist aber gerade auch die Fotografie so etwas wie ein Rahmen, der es überhaupt erst zulässt, solche körperlich-sinnliche Adressierung zu suchen, im aktiven wie im passiven Sinne. Sie erlaubt, etwas als Objekt zu behandeln, das gar nicht den Status eines Objektes haben muss, das rätselhaft, unbegriffen oder auch abstrakt und ungegenständlich ist. Ein großer Teil der alltäglichen Fotopraxis folgt dieser Doppelbewegung. Wenn wir an Geburts- oder Feiertagen oder auch im Urlaub Erinnerungsfotos machen, dann geschieht das oft nicht, weil sie etwas Bestimmtes abbilden, sondern weil sie etwas Abstraktes gegenständlicher und greifbarer machen sollen: die eigene Biografie, die Familie, die Fremdheit eines Landes und vor allem Zeit und Veränderung. Das gilt auch für etwas so intensiv körperlich Erfahrbares wie das erotische Begehren. Die Rahmung schafft ein Objekt, das es vorher gar nicht oder nur sehr diffus und flüchtig gegeben hat. Die Rahmung macht es aber auch möglich, sich selbst

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als Objekt zu verstehen und auszustellen, sich den Blicken anderer zu präsentieren. Insoweit nimmt die Fotografie sehr oft den Platz eines Dritten ein, der in die Intimität eine Differenz einführt, die sowohl entlastend sein wie auch ein Begehren konturieren kann. Harmans fotografische Praxis in Abu Ghraib deutet auf beide Bewegungen hin. Die Bilder entlasten, auch von der Verantwortung für das eigene Handeln, nicht unbedingt, weil der Apparat sie stellvertretend übernehme, sondern weil der Apparat die zeitliche Unterbrechung, in der man auf eine Antwort auf das Gesehene sucht, verlängert. Das Medium dehnt den Zwischenraum zwischen Wahrnehmung und Bedeutung zeitlich aus. Und es ermöglicht, die eigene Verantwortung mit anderen zu teilen. Die Fotografien in Abu Ghraib wurden vielfach kopiert und sogar als Desktopbilder eingesetzt. Auf der anderen Seite ermöglichen sie aber auch, sich in ihnen zu zeigen, sich im Blick der anderen zu sehen und zugleich auch zu verstecken. Wie im Spiegelbild, das dem kleinen Kind ein Bild der Integrität seines Körpers liefert, bevor es vielleicht schon ein Bewusstsein dessen hat, gibt die Pose in der Fotografie eine Maske, die bisweilen nur allzu notdürftig die eigene Gebrochenheit verdeckt. Die Pose Harmans vor dem Kadaver des misshandelten Folteropfers gehört sicher dazu. Morris hat extra den für die Interpretation von Gesichtsausdrücken spezialisierten Psychologen Paul Ekman gefragt, ob Sabrinas Lächeln einen Ausdruck der Freude darstelle. Er verneint dies, denn man könne ein erzwungenes Lächeln mit Sicherheit von einem Ausdruck der Freude dadurch unterscheiden, dass das letztere auch eine Anspannung eines im Augenbereich liegenden Muskels einschließe. Ein Vergleich mit einem anderen Foto Harmans verdeutlicht das Fehlen der Anspannung dieses Muskels. Morris versucht in seinem Film und seinen Publikationen die Entstehungszusammenhänge der Fotografien zu verfolgen. Er ist an der Analyse dieser medialen Praxis interessiert, kaum an dem Geschehen in Abu Ghraib als ganzem und an den Folterungen auch nur insoweit, als sie mit der medialen Praxis verbunden waren. Sein wichtigstes Mittel der Rekonstruktion ist die chronologische Reihung der Aufnahmen mittels der Metadaten, die digitale Kameras neben den eigentlichen Daten, welche die visuellen Informationen betreffen, in die Datei integrieren. Hat man die Zeitangaben von Bildern aus verschiedenen Kameras erst einmal synchronisiert, ist es möglich, den jeweiligen Zeitpunkt ihrer Aufnahme chronologisch zu reihen. Morris hat zur Visualisierung dieses Vorganges eine aufwendige

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Computergrafik entwickeln lassen, in der Dutzende von Fotos durch einen leeren Raum geschoben und zu aufeinander abgestimmten Zeitreihen sortiert werden. Thomas Austin versteht diese Grafik als „a visual metaphor for the film’s propositions about spatial and temporal limitations of photography.“ (Austin 2011, 347) Vor allem geben sie ein sehr direktes Bild einer computergestützten Manipulation von Fotografien. Morris’ Computergrafik ebenso wie die mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommenen Zwischenstücke und Illustrationen zu den Interviews verweisen auf die Gemachtheit jeder Fotografie und die damit verbundene Offenheit ihrer Kontextualisierung. Dabei geht es Morris um eine Kritik an dem, was er das Mysterium des Sehens nennt, also den Umstand, dass wir noch unter Bedingungen der digitalen Fotografie, die eine Versicherung der Indexikalität, wie sie ihr schon Peirce vermeintlich zuschrieb, eigentlich nicht mehr zulasse. Bemerkenswerterweise aber rekonstruiert Morris über die Metadaten der Bilddateien eben wieder diesen Verweisungszusammenhang: Er kann dies, weil die Indexikalität eben nicht über die direkte Einschreibung des Lichts, sondern, wie schon anhand von Peirce in Kapitel 2 verdeutlicht, über einen diskursiven und intersubjektiven Verweisungszusammenhang entsteht. „Photographs reveal and they conceal. The photograph of Sabrina smiling over al-Jamadi’s body both reveals his death and conceals the killer.“ (Morris 2011, 118). Als Harman und die anderen der Gruppe den Leichnam im Duschraum entdeckten, war der Körper schon mehrere Stunden tot. Doch der Mord an dem Gefangenen der US-amerikanischen Armee ist bisher nicht gerichtlich verfolgt worden. Es sei an uns, so Morris, dafür zu sorgen, dass die Fotos dazu dienen, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die für den Tod des Häftlings verantwortlich sind. Doch geht die Dynamik der fotografischen Praxis über diesen forensischen Zusammenhang deutlich hinaus, weil sie ja schon bei dem Entwurf vieler der Taten in Abu Ghraib und anderen Orten beteiligt war. Wir sind wohl nicht zu Komplizen der Tat geworden, wie Horst Bredekamp in seiner Übertragung der Sprechakttheorie auf die Bildpraxis behauptet und damit den Betrachter, so weit er zeitlich und räumlich entfernt sein mag, in die direkte Verantwortung für den Handlungszusammenhang einbezieht (Bredekamp/Widmann 2009 und Bredekamp 2010). Ein solches Argument übergeht den Umstand, dass politische Gewalt immer einen kommunikativen Zweck hat, oft sogar ausschließlich diesen. Sie bedient sich dabei selbstverständlich der Speicher- und Verbreitungsmedien, über die sich die

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Öffentlichkeit organsiert. Wir tragen aber eine Verantwortung in dem Sinne, wie es Morris aufzeigt: die Verantwortung, nicht wegzusehen, die Zusammenhänge und Kontexte zu befragen und entsprechend zu reagieren. Bildakte müssen ähnlich wie Sprechakte auch als kommunikative Handlung verstanden werden, in der es ein Subjekt, ein Objekt und einen Dritten gibt, durch den das Subjekt allererst eine Position erhält. Michail Bachtin nennt das den loophole addressee, den Hintertür- oder Schlüssellochadressaten (Bakhtin 1986, 126). Er kann kulturell, medial und situativ ganz verschiedene Figurationen annehmen. Diese können in einer tatsächlich anwesenden dritten Person bestehen, in der Idee eines Gottes, im Gedanken, das Erleben erinnern oder berichten zu können, oder auch in der Anwesenheit eines Aufzeichnungs- oder Übertragungsmediums. Erst durch den Dritten entsteht ein Bild, er ist zur Fixierung der Bewegung zu einer Aussage wichtig. Ohne ihn lässt sich die Differenz zwischen dem eigenen und dem anderen nicht stabilisieren. Indem etwas zum Bild wird, kommt also auch das Subjekt ins Bild. Das kann umso wichtiger und entlastender sein, je bedrängender die Nähe zu einem anderen in einem Geschehen ist. Das durch den Dritten zum Bild Gewordene ist zugleich subjektiviert und objektiviert. Das gilt auch für das Subjekt, das das Bild sucht, um eine Distanz zu gewinnen. Es findet sich auch als Objekt eines Genres, einer Anordnung, eines Diskurses wieder. Ein ähnlicher Effekt kann aber auch durch eine Bühne oder eine als Bühne wahrgenommene architektonische Konstellation, zum Beispiel eine freie Treppe, hergestellt werden. Die Kamera hat den Effekt, dass diese Umwandlung des Ortes zur Bühne an fast jedem beliebigen Ort geschehen kann. Die Bildakte in Abu Ghraib unterscheiden sich in dieser Hinsicht gerade nicht von der alltäglichen Praxis des Fotografierens. Darin hat auch Richard Grusin die Ursache für die skandalöse Wirkung, die den Fotografien aus Abu Ghraib zugeschrieben wird, gesehen. Sie wurden aufgenommen wie die Bilder, die wir auf Partys oder zu ähnlichen Gelegenheiten schießen, und sie zirkulierten auch wie diese (Grusin 2010, 62 ff.). Das macht auch die Grenze zwischen dem, was in Abu Ghraib geschehen ist, und dem, was vielleicht auf Schulhöfen oder Partys, ja auch was bei einem Familienfest oder einem Sportausflug geschieht, durchlässig. Welche Rolle, so müsste man in Weiterführung des Gedankens von Grusin fragen, spielt die Kamera schon bei der Erfindung der Szene selbst? Sie ist zu einem ganz alltäglichen Mittel geworden, eine gelebte Szene zu theatralisie-

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ren. Wenn Folter ein theatralisiertes Geschehen ist, dann ist die Fotografie auch eines ihrer Hilfsmittel, insbesondere die digitale mit ihrem direkt in die Szene wieder integrierbaren Bild. Sie hilft auch deshalb bei der Konstruktion von Bildern, in denen das Opfer zum Objekt wird, weil sie das ikonografische Gedächtnis aktiviert. Das ist kaum anders als in der Sprache, in der die erste Trope der Erniedrigung die nächste und übernächste weckt. So benutzt Stephen F. Eisenman zur Analyse der Bilder aus Abu Ghraib auch Aby Warburgs Begriff der Pathosformel (Eisenman 2007, 54). Und schließlich kann das Foto gegenüber dem Opfer als zusätzliche Demütigung eingesetzt werden. Nicht anders als ein Sprechakt, zum Beispiel in Form eines geschriebenen Textes, kann auch ein Bildakt neu kontextualisiert und in andere Praktiken eingeführt, neu gerahmt werden (Butler 2009, 73 f.). Vor allem können nicht nur die Handlungen rekonstruiert und bewertet werden, das Subjekt, das sich im Bildakt positioniert hat, kann auch nach seiner Verantwortung gefragt werden. Der loophole addressee ist keineswegs nur ein passiver Zuschauer. Auf der anderen Seite kann aber die Tatsache, etwas überhaupt fotografieren zu können, schon als eine Entlastung fungieren. Die eigene Handlung scheint ja damit legitimiert zu sein. In Abu Ghraib waren die, welche die Fotos machten und in den festgehaltenen Szenen agierten, selten direkt an den Verhören beteiligt, und wenn, dann in abhängiger Rolle. Sie führten aber die Formen der Demütigungen und Misshandlungen weiter, denen die Gefangenen ausgesetzt waren. Folter ist nicht eine vereinzelte Handlung, sondern ein Verbrechen, das von einer Gemeinschaft ausgeübt wird, die von ihren Mitgliedern zumindest das Schweigen und die Wahrnehmungstötung verlangt. Charles A. Graner, von dem wohl die Idee zur Mehrzahl der Inszenierungen stammt, soll einer Aussage aus Morris’ Film zufolge während der Vorbereitung zum Aufbau der Pyramide nackter menschlicher Körper, deren Foto später publiziert wurde, auf die Frage, warum er das wolle, gesagt haben: „to control them“. Kontrolle realisiert sich, wenigstens wenn sie sozial wirksam sein soll, als performative Inszenierung. Sie will sich in dem Verhalten des anderen beweisen. Die Kameras in Abu Ghraib haben dies nicht unbedingt ermöglicht, dem aber doch ein Mittel zur Hand gegeben, das in die Inszenierung mitbestimmend eingegangen ist. Morris zeigt in seinem Film, dass vor allem das Bild des Mannes, der auf einer Kiste steht und dem gesagt wurde, dass Stromstöße durch den an seine Finger gebundenen Draht gin-

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gen, sobald er von der Kiste absteigen würde, dass dieses zum Index für die Geschehnisse in Abu Ghraib gewordene Bild für die Kameras inszeniert war. Es nimmt aber selbst ja schon sehr viele ikonografische Elemente auf, am deutlichsten natürlich, wie oft gesagt worden ist, das der Kreuzigung. Bilder spielen selbstverständlich auch im Alltag eine zentrale Rolle in der Erfindung von Inszenierungen. Die bekannt gewordenen Bilder aus Abu Ghraib sind aber unserem Alltagsgebrauch des Mediums auch deshalb so nahe, weil die Fotografen fast alle auch als Akteure auftreten und umgedreht. Was Morris in seinem Film und auch in den Publikationen kaum in den Blick nimmt, ist die Möglichkeit, über die Metadaten der Fotografien nicht nur einzelne Handlungen näher zu beschreiben, sondern den gesamten Komplex von Folter und Misshandlung in seiner zeitlichen Inszenierung über Wochen und Monate zu verfolgen. Jon McKenzie hat in einem zuerst 2008 erschienenen Aufsatz anhand von Fotografien und Videoclips, die von den Misshandlungen eines einzigen Insassen zwischen dem 4. November und dem 2. Dezember 2003 aufgenommen wurden, die prozessuale Dimension der Folter aufzeigen können. Die Serie zeigt den Gefangenen M-, wie er immer wieder über Stunden Stresspositionen ausgesetzt worden ist. Anders als bei Schlägen oder auch der Elektrofolter sind die Schmerzen unter Stresspositionen scheinbar vom eigenen Körper verursacht, was ihre psychisch destruktive Kraft intensiviert. Oft wird die Zeit so lange ausgedehnt, dass die Opfer sich auch selbst verunreinigen. Bigelows Film deutet das in eher dezenter Weise in den Flecken der Kleidung des Mannes in Weiß an. Für den Gefangenen M- führte das offensichtlich dazu, dass man begann, ihn immer wieder mit Exkrementen zu beschmieren. Man gab ihm auch einen neuen Namen: Shitboy. Öffentlich bekannt sind Aufnahmen aus sechs verschiedenen Nächten, in denen M- zu Stresspositionen gezwungen, mit dem Beschmieren durch Fäkalien gedemütigt und in damit thematisch verbundene Inszenierungen gezwungen wurde. Eine letzte Sequenz von Aufnahmen besteht aus zehn einzelnen etwa 15 Sekunden langen und einem acht Sekunden langen Videoclip, aufgenommen am 1. Dezember in der Zeit zwischen 21:29 und 21:45, also in einer Spanne von 16 Minuten. Sie zeigen, wie der verzweifelte und mit den Händen an eine Eisentür gefesselte Häftling immer und immer wieder mit seiner ganzen Kraft mit dem Kopf auf die Eisentür schlägt, blutet und benommen zusammensinkt. Fotos, die am frühen Morgen des 2. Dezember aufgenommen wurden, legen

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nahe, „dass die Folter mindestens viereinhalb Stunden andauerte.“ (McKenzie 2013, 268).

Abbildung: Salon.com: The Abu Ghraib Files

Diese Videos sind in den USA, so McKenzie, nie im Fernsehen gezeigt worden. Sie sind wohl über das Onlinemagazin Salon.com einsehbar (The Abu Ghraib Files 2006), aber auch außerhalb der USA gehören sie zu den selten gezeigten Dokumenten. Was hindert selbst Morris daran, sie in seinen Film aufzunehmen? Bilder von Misshandlungen scheinen in ihrer Ansprache an den Betrachter zumindest ein Stück neutralisierbar, indem ihre Verursacher angeklagt werden. Man kann seine Hoffnung darauf setzen, dass die Opfer überleben, man kann seine Hoffnung darauf setzen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Beides sind jedoch Perspektiven des Zuschauens, nicht oder nicht unbedingt die des Opfers. In der Selbstzerstörung von M- aber ist der Betrachter plötzlich gezwungen, die Perspektive des Opfers einzunehmen. Sicher kann man noch auf den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung verweisen. Aber die eigentliche Not, dass ein Opfer der Folter für sein Leid, ja seine Subjektivität keinen anderen Ausdruck mehr findet als die Selbstzerstörung, kann dies nicht mehr verdecken. Hier, an diesen Videos, wird deutlich, wie leicht es sich ZERO DARK THIRTY und STANDARD OPERATING PROCEDURE machen, wenn sie die Perspektive der Täter nie verlassen. Es sind US-amerikanische Filme, die ihren Patriotismus nie gefährden. Sie sind der Idee der Nation aus Griffith’ BIRTH OF A NATION und ihrem konstitutiven Rassismus sehr nah, sie sind

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von einer Frage nach der Gemeinschaft, wie sie bei Rossellini zu stellen möglich war, weit entfernt.

T HE A CT

OF

K ILLING (O PPENHEIMER )

Die Zahl der Menschen, die bei den rechtsgerichteten Massaker in Indonesien 1965/66 ermordet wurden, wird auf zwischen 500 000 und eine Million geschätzt. Manche sprechen sogar von über zwei Millionen Toten. Folter, Vergewaltigung und andere Formen der Misshandlung gingen damit einher. Die, die mit dem Leben davongekommen waren, schufteten oft über Jahre als rechtlose Zwangsarbeiter auf den Plantagen. Dabei gab es von Anfang an nur sehr wenig Widerstand von Seiten der Opfer, die vor allem aus den Gewerkschaften, der Kommunistischen Partei, der Gruppe der Intellektuellen und der ethnischen Minderheit chinesischstämmiger Indonesier kamen. Es war kein Bürgerkrieg. Möglich wurde diese massive Gewalt, wie Christian Gerlach argumentiert, durch eine temporäre Kombination von vom Militär kontrollierter und manipulierter Gewalt, der Gewalt von religiösen Gruppen, von politischen Parteiapparaten und dem, was Gerlach Volkszorn nennt (Gerlach 2011, 117). Gefördert wurde diese Gewalt durch die Unterstützung der USA und anderer westlicher Staaten für das Regime von General Suharto, der im Herbst 1965 mit einem Putsch an die Macht gekommen war. Er stürzte Sukarno, den ersten Präsidenten der vormals holländischen Kolonie, der begonnen hatte, eine vom Weltmarkt unabhängigere Entwicklungspolitik zu propagieren. Das Ausmaß der direkten Beteiligung der CIA ist wegen der andauernden Geheimhaltung der Akten noch nicht genau bestimmbar. Belegt ist allerdings, dass der USamerikanische Geheimdienst dem indonesischen Militär eine Todesliste mit etwa 5000 Namen übergab und die Lieferung von Handfeuerwaffen organsierte (Gerlach 2011, 100 f). In den fast 50 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat es in Indonesien keine öffentliche Auseinandersetzung über die Verbrechen gegeben. Die Eliten von damals sind großenteils heute noch an der Macht, die Täter brauchen keine Verfolgung zu fürchten und stellen oft noch ihre Verbrechen aus. Die Überlebenden und Verwandten der Opfer leben noch heute in Angst. Benedict Anderson nennt impunity, Straflosigkeit, deshalb auch als ein prägendes Merkmal der indonesischen Gegenwart (Anderson 2012). Acht Jahre lang hat Joshua Oppenheimer an einem Film

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über diese Massaker gearbeitet. THE ACT OF KILLING wurde 2012 uraufgeführt und erhielt auf der Berlinale 2013 den Publikumspreis für Dokumentarfilm. Der Film wurde dadurch auch in Indonesien bekannt. Obwohl mehrfach durch Organe des indonesischen Staates unterbunden, hat es inzwischen mehrere hundert Aufführungen des Films gegeben, wie das International Centre for Documentary and Experimental Film der University of Westminster auf seiner Website angibt. Doch ist THE ACT OF KILLING nicht nur ein wichtiger filmischer Beitrag, um in Indonesien und in anderen Ländern über die Ereignisse dieser Jahre zu sprechen. Der Film ist auch eine vielschichtige und irritierende Auseinandersetzung über die Rolle des Films in Situationen massiver Gewalt: in ihrer Entstehung, in ihrer Verleugnung und in ihrer Erinnerung. Oppenheimer begleitet Anwar Congo, einen Anführer eines paramilitärischen Todeskommandos, seinen Freund Herman Koto und andere Teilnehmer an den Folterungen, Vergewaltigungen und Morden bei der Rekonstruktion ihrer Verbrechen. Da sie in einer Gesellschaft leben, in der sich die herrschende Elite und ihre Ideologie kaum verändert hat, fürchten sie auch keine Folgen, wenn sie über die 40 Jahre zurückliegenden Taten sprechen. Die Rolle des Films ist dabei komplex. Für Congo und Koto ist Film ein wichtiger Teil ihres Lebens. Vor dem Ausbruch der Gewalt lebten Congo und seine Freunde als kleinere Gangster, als freemen, in Medan, der drittgrößten Stadt Indonesiens, im Norden von Sumatra. Sie gingen gern und oft ins Kino und hatten ihren Treffpunkt dort. James Dean, John Wayne oder Victor Mature waren ihre Vorbilder. Sie verstanden sich als Gangster wie im Film, sie kleideten sich nicht nur wie die filmischen Vorbilder, sie entnahmen den Filmen auch Formen des Agierens, sogar Methoden der Folter und des Tötens. Congo sagt zum Beispiel in der 160 Minuten langen Fassung des Films, auf die ich mich beziehe, dass er die Methode der Strangulierung eines Opfers mit einem Draht zuerst in einem Film gesehen habe (01:14:14). Im Reenactment, das Congo, Koto und andere realisieren, übernehmen sie ganze Handlungsstränge aus Filmen, etwa wenn Koto in der Inszenierung eines Alptraums von Congo eine rächenden Tochter eines ermordeten Kommunisten spielt: ganz nach einem Script aus Cecil B. DeMilles SAMSON AND DELILAH und wahrscheinlich ohne dies selbst zu merken. Damit ist auch schon eine weitere Rolle, die der Film hier einnimmt, angesprochen: Er liefert eine Sammlung an Bildern und Narrativen, die möglicherweise schon bei der Entstehung der Alpträume von Koto eine

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Rolle spielen und die bei ihrer theatralen Aufführung im Film aufgegriffen, zitiert und neu erfunden werden. Hier bekommt der Film auch die Rolle, die wir ihm gerne zuschreiben möchten: eine Möglichkeit zu sein, seine Erfahrungen auszudrücken und sie damit auch durchzuarbeiten. Schließlich bilden filmische Zitate aber auch das Material, mit dem Congo und Koto skurrile Szenen erfinden, in denen sie sich als Helden feiern lassen. Diese Ebenen gehen aber bisweilen nicht nur ineinander über, sie überlagern sich und werden in dem Film auch zunehmend ununterscheidbar. Wenn einige Dutzend Mitglieder einer halbstaatlichen, paramilitärischen Organisation sich treffen und eine Versammlung abhalten, in der sie spielen, wie sie sich in die Rage für ein Mordkommando trieben, brüllen sie sich zunehmend selbst in eine aktuelle Mordlust hinein. Oder wenn Congo und Koto Folterungen nachspielen, einige Male sogar im Studio des Nationalen Fernsehens, erinnern die Beteiligten sichtlich ihre eigenen Erfahrungen. Wenn sie ein Massaker in einem Dorf nachstellen, beginnen die Kinder zu weinen. Eine ältere Frau fällt in Ohnmacht. Oppenheimer hat seinen Film dabei so geschnitten, dass der Zuschauer mit in diese Ununterscheidbarkeit hineingezogen wird und sie in der Schlussphase als eine ursprüngliche Verstricktheit des Selbst in seiner eigenen Szene der Gewalt erfährt. Im Audiokommentar zum Film insistiert Oppenheimer darauf, dass in all diesen inszenierten Performances der Gewalt nur Täter und deren Verwandte und Freunde auftreten. Nur einmal sei dieser Grundsatz unbeabsichtigt durchbrochen worden, als ein Mann ein Opfer der Folter spielte, dessen Vater als Kommunist ermordet worden war. Ebenfalls im Audiokommentar, der als ein Gespräch zwischen Oppenheimer und Werner Herzog, der als einer der executive producers in den credits genannt wird, aufgezeichnet wurde, sagt der Filmemacher, dass die gefilmten Szenen Congo und den anderen immer wieder vorgeführt wurden und diese darauf die nächsten Szenen entwickelten. Sie wurden bei laufenden Kameras improvisiert. Oppenheimer entwickelt seine Dokumentarfilme in enger Kooperation mit den Menschen, von denen sie handeln. 2003 wurde sein Film GLOBALISATION TAPES uraufgeführt, der zusammen mit Landarbeitern auf Sumatra entstand. Während dieser Arbeiten ist auch der Kontakt zu Congo entstanden. Eines von Congos Motiven für die Transformation seiner Erinnerungen und seiner Alpträume in einen Film ist die Hoffnung, sie dadurch mildern zu können. Er wolle einen Familienfilm aus den Massakern machen, sagt er

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einmal. Offensichtlich erhofft er sich Entlastung, wenn die Erzählung dazu führt, dass er die Erinnerungen und die Alpträume mit anderen teilen kann. Sein filmisches Gedächtnis liefert ihm hierfür vielfältiges szenisches Material, Kostüme, Requisiten, Plots. Die zu dieser Hoffnung führende Idee kann doppelt sein, sie kann mit der Vorstellung verbunden sein, dass das Gefilmte einen fiktionalen und damit weniger bedrohlichen Status erhält, sie kann aber auch damit verbunden sein, dass das Teilen der Erfahrung selbst entlastend wirkt. Es gibt sicher einen Punkt, an dem sich diese beiden Aspekte ineinander falten, da die Erfahrung der Intersubjektivität und die Erfahrung der Fiktionalität oder der Gemachtheit der eigenen Vorstellungen eng miteinander verbunden sind. Wie Peter Fonagy und Mary Target erläutern, wird die Fähigkeit, die äußere Welt von den eigenen Vorstellungen und Phantasien zu unterscheiden, vom Kind vor allem durch das Spiel mit den Bezugspersonen entwickelt (Fonagy/Target 2007). Diese These beruht auf der Annahme, dass die Erfahrungswelt des Kindes nicht, wie es den Pädagogen und Psychologen lange erschien, ich-, sondern wirzentriert ist. In diesem Sinne erfährt das Kind sich und die Welt zunächst im Modus der Äquivalenz, was sowohl einschließt, dass die eigenen Gedanken nicht als etwas von der Welt Unterschiedenes erfahren werden als auch die Annahme, dass alle anderen die eigenen Gedanken teilen. Die Differenzierung dieser Welten geschieht nun auf zwei verknüpften Wegen: zum einen beginnt das Kind ein Gefühl für das eigene Selbst zu bekommen, indem seine Affekte und Handlungen von den Menschen seiner Umgebung markiert gespiegelt werden, indem es also sowohl eine Kontingenz im Sinne des Anschlusses der Reaktion des anderen auf das eigene Tun wie auch eine Differenz erfahren kann, die zeigt, dass der andere spezifisch und die Affekte zugleich modifizierend reagiert. Um aber dieses intersubjektive Erleben als solches wahrzunehmen und vom Zustand der Welt zu unterscheiden, braucht es Formen der Interaktion, die das nicht nur verdeutlichen, sondern auch die damit verbundene Not des Verlustes einer Idee der Verfügung ertragbar machen. Fonagy und Target sehen im gemeinsamen Spiel, also in der Entwicklung eines pretend mode des Denkens, den zentralen Ort dafür. Erst wenn wir die Erfahrung eines mit anderen geteilten Als-Ob machen, kann ein Bewusstsein dafür entstehen, dass die Welt nicht nur anders sein kann als das, was man über sie denkt, sondern auch dafür, dass das Spiel der eigenen Phantasie gleichwohl wertvoll oder befriedigend

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ist. Zusammen mit der Erfahrung der markierten Spiegelung kann so ein Gefühl für das eigene Selbst entstehen. In einer ähnlichen Doppelbewegung wie beim Bild, jedoch in anderen Formen sich medienspezifisch verwirklichend, entsteht also in der zum Spiel gewordenen Szene eine Erfahrung des eigenen Selbst. Dabei muss die Szene aber als Szene oder Spiel erfahren werden. Es entsteht also so etwas wie ein Bewusstsein der doppelten Inszenierung: Ein Spiel setzt voraus, dass es als eine fiktive Gemeinschaft mit anderen angesehen wird und dass diese Gemeinschaft selbst Spiel ist. Auf der anderen Seite erlaubt aber auch das Spiel, eigene Gefühle und Gedanken als von der Wirklichkeit unterschiedene wahrzunehmen, indem sie eben im Modus des mit anderen teilbaren Als-Ob erscheinen können. Sie bekommen gerade durch diese intersubjektive Evidenz einen objektiven und gegenständlichen Charakter, werden also auch ein Stück veräußert. Nur kann eben auch dies wiederum zur Erfahrung des eigenen werden, indem man sich mit seinen eigenen vergegenständlichten Phantasien konfrontiert. Diese in einer Szene oder szenischen Inszenierung nicht zur Ruhe kommende Doppelbewegung erhält durch die filmische Aufnahme eine weitere Dynamik, da hier nun das Zugleich innerhalb der Szene als Agierender und außerhalb der Szene als Spielender zeitlich differenziert und intensiviert wird. Es ist aber auch möglich, durch die Theatralisierung des eigenen Handelns es sich als eine Art Spiel zu vergegenwärtigen, dem nicht der Status der Wirklichkeit zukommt. Denn wenn die Differenz zwischen Phantasie und Wirklichkeit über das Spiel erlernt wird, dann ist es auch möglich, das eigene Handeln gleichsam im falschen Modus darzustellen und dadurch in seinen Konsequenzen zu entschärfen. Differenzierungen gehen nie nur in eine Richtung, es sind Resultate von Schnitten, agential cuts (Barad 2007), die Spannungen aufmachen, keine Bausteine oder Wurzeln. THE ACT OF KILLING hat seine bedrückende Intensität in dieser ständig changierenden Bewegung der szenischen Transformation von Realität in Spiel und Spiel in Realität. Es ändert sich nicht der Status der Wirklichkeit als Produkt von Inszenierungen, nur oszilliert die Bedeutung der Inszenierungen durch ihre unterschiedlichen Konsequenzen. Gewalt ist eine szenische Inszenierung, und die Rekonstruktion dieser Inszenierung bleibt Inszenierung. Das unterscheidet sie nicht von den Inszenierungen des Alltags oder den Ereignissen, die Orte zu Schauplätzen machen. Es gibt immer wieder längere Passagen, die aus der engeren Erzählung ausgenommen sind

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und Szenen in Einkaufszentren, in der Natur oder auch ein abgestürztes Flugzeug zeigen. Menschen versammeln sich um das Wrack, betrachten die Szene und werden für Oppenheimers Kamera selbst Teil der Szene. Szenischer Natur sind auch die Landschaften und selbstverständlich auch zwei operettenhafte Inszenierungen, die an verschiedenen Stellen in den Film montiert sind. In einer von Ihnen sieht man die haushohe Plastik eines Fisches, in dessen Maul ein mit rotem Teppich bespannter Steg führt, auf dem mehrere Frauen in Abendkleidern tanzen. Congo mit breitkrempigem lila Hut und Koto in schrillen Frauenkleidern in derselben Farbe genießen das Spektakel. Die andere hat den Charakter einer Apotheose. Am Fuße eines Wasserfalls tanzen erneut einige Frauen in Abendkleidern, daneben aber auch ein Arbeiter und ein Bauer, die mit ihren geschminkten Gesichtern, die Hämatome und andere Verletzungen andeuten, und der um beide Hälse gewundenen Drahtschlinge als Opfer von Congo kenntlich sind. Sie nehmen die Schlinge ab und einer von Ihnen überreicht Congo eine Medaille für seine Verdienste: „Du bist so frei wie die wilde See und hast keinen Grund dich zu verbergen. Ich danke Dir dafür, dass Du mich umgebracht hast.“

Abbildung: Anwar Congo und Herman Koto in THE ACT OF KILLING von Joshua Oppenheimer

Mag Congo das Projekt der Verfilmung seiner Vergangenheit als Mörder und Folterer mit der Hoffnung begonnen haben, sich dadurch seiner Alpträume entledigen zu können, so drängt die Theatralisierung seiner Gedanken und die Konfrontation mit den Aufzeichnungen doch dahin, dass er selbst immer weniger die Distanz zwischen sich und seinen Opfern halten

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kann. Es beginnt mit einer nächtlichen Szene, in der er zeigt, wie er Menschen den Kopf abgeschlagen hat. Fast unmerklich rutscht er dabei von der Position des Täters in die des Opfers, legt seinen Kopf auf einen Baumstumpf und stürzt schließlich zuckend zu Boden (01:30:40). Die letzten etwa 30 Minuten des Films sind weitgehend der Reinszenierung von Szenen der Folterung gewidmet. Die erste endet damit, dass ein Opfer auf einen Tisch gebunden wird und Congo eine Drahtschlinge um seinen Hals legen lässt, während er sich unter den Tisch legt, den Draht umfasst und das Erdrosseln nachspielt. Die Kamera zeigt nur den Täter, seine Mühe, seine Ekstase, seine Erschöpfung. Die beiden anderen sind Inszenierungen, in denen Congo und Koto jeweils als Täter oder Opfer auftreten. Zuerst ist Congo Täter. Koto trägt eine Puppe im Arm: ein Kind, das er schützen möchte. Congo entreißt es ihm, sticht die Puppe mit seinem Messer, in seine Arme, seine Augen, seine Beine. Dabei wirft er dem an den Stuhl gefesselten Koto vor, dass er ihn zwinge, so unmenschlich zu handeln und er deshalb auch die Verantwortung trage. Er inszeniert damit eine in der Folter immer wieder zur Wirkung kommenden Weise des performativen Widerspruchs. Es wird dem Opfer Subjektivität und Verantwortung für etwas zugesprochen, auf das es gar keinen Einfluss hat. Und obwohl es keine Verantwortung haben kann, wird es gerade dadurch desubjektiviert und die Hemmung, es zu misshandeln, reduziert. In der folgenden Szene ist Congo das an einen Stuhl gefesselte Opfer, ihm gegenüber sitzt ein Mann an einem Tisch, vor ihm eine Schreibmaschine, ein weiter Mann hält ein Messer an Congos Kehle. Koto wirft Congo vor, in Indonesien amerikanische Filme verbieten zu wollen. Dann werden ihm die Augen verbunden und eine lange Drahtschlinge wird um seinen Hals gelegt. Das eine Ende ist außerhalb des Blickfelds befestigt, das andere nimmt Koto in die Hand und beginnt zu ziehen. Zweimal wird diese Szene gespielt. „Es hat sich komisch angefühlt. Für einen kurzen Augenblick war ich weg. Nicht nochmal“, sagt Congo jetzt zu Koto. Im Aufbau des Films folgt hier zunächst die erwähnte opernhafte Szene vor dem Wasserfall, in der ein Opfer Congo für seinen eigenen Tod dankt, bevor gezeigt wird, wie Oppenheimer Congo die Aufnahmen der inszenierten Folter zuhause am Fernseher zeigt. Congo ruft seine Enkelkinder herbei und setzt sie zwischen sich und den Bildschirm auf seine Knie, als menschliches Schutzschild, wie Oppenheimer in seinem Kommentar sagt. Es ist mitten in der Nacht, die vielleicht sechsjährigen Jungs sind aus dem Schlaf geweckt

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worden. „Schaut euch das an: Opa wird verprügelt. Tut Opa euch Leid, na Yan?“ Die Kinder sind zu müde, sich auf diese fremde Inszenierung einzulassen. Nachdem sie wieder im Bett sind, sagt Congo zu Oppenheimer: „Ich kann das fühlen, was die fühlten, die ich gefoltert habe.“ Es ist dies eine der wenigen Stellen des Films, an denen Oppenheimer bei laufender Kamera interveniert und Congo entgegenhält: „Du weißt, es ist nur ein Film. Sie wussten, dass sie umgebracht werden.“ Beginnt Congo an dieser Stelle die Verantwortung zu übernehmen, wenn er daraufhin sagt: „Ich habe das so vielen Menschen angetan, Josh“? Oder sind wir nicht die ganze Zeit schon Zeuge eines Prozesses, in dem Congo eine Antwort auf seine Erinnerungen dadurch sucht, dass er sie mit anderen teilen und sich von ihnen zu entlasten sucht? Was heißt das, Verantwortung zu übernehmen? Oder ist es vielleicht dieser Film, der die Verantwortung übernommen hat, den Erinnerungen eines Mannes in einer Form Ausdruck gegeben zu haben, die vielen anderen helfen kann, ihre Erinnerungen, ihre Not, ihre Alpträume mitzuteilen?

Abbildung: Anwar Congo und Herman Koto in THE ACT OF KILLING von Joshua Oppenheimer

Es folgen noch zwei Szenen, bevor der Abspann beginnt, der viele an der Herstellung Beteiligte ohne Namen aufführt, weil sie sonst in Indonesien um ihr Leben fürchten müssten. Die erste der Szenen zeigt den körperlich fülligen Koto, wie er mit nacktem Oberkörper beidhändig auf die Trommeln seiner Schlagzeugbatterie einschlägt. Die zweite spielt auf dem Dach eines Hauses, das dem ehemaligen Kino gegenüberliegt und in dem sich in der Zeit des Mordens das Hauptquartier von Congos Gruppe befand. Heute

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wird es als Geschäft für Taschen benutzt. Zu Beginn des Films schon demonstrierte Congo hier, wie er mit dem Draht Menschen strangulierte. Er lächelte dabei, ebenso wie sein Freund, der das Opfer mimte. Jetzt erscheint Congo nachdenklicher, älter, gebrochen. Noch einmal beginnt er mit einer Rechtfertigung: „Mein Gewissen sagt mir, dass sie umgebracht werden mussten.“ Doch bei der fragmentarischen Reinszenierung des Mordens, beim Aufgreifen des Drahtes und der Säcke, in denen die Leichen weggeschafft wurden, überfällt Congo ein Würgekrampf. Sein Körper artikuliert seine eigene Abscheu, speit sich selbst aus. „Was ist das, das in uns lügt, stiehlt, hurt und mordet?“ lässt Georg Büchner den Helden der Französischen Revolution Danton fragen. Die Antwort, die er sich angesichts des terreur selbst gibt, sieht den Menschen als Handlanger fremder Kräfte: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ (Büchner 1988, 100) Vielleicht müssen wir die Frage heute umdrehen: Was ist das in uns, das nicht aufhört, uns beim Morden, Vergewaltigen und Foltern zuzusehen? Was ist die Kraft der Phantasie, die uns immer wieder in die Szene der Gewalt eintauchen lässt wie in einen Malstrom? Was ist das, das es macht, dass wir sie nicht vergessen, das sie uns wiederholen, erinnern und von einem szenischen Medium ins andere zirkulieren lässt, von der Handlung in das Theater, vom Theater in den Film, vom Film in die Handlung? Als Freud sich fragte, ob er „Jenseits des Lustprinzips“ ein anderes, dem Lustprinzip vielleicht sogar vorausgehendes Prinzip für das Leben annehmen müsse, etwas, das er dann Todestrieb nannte, als er sich diese Frage stellte, kam er auf eine ähnliche Beobachtung. Wie kommt es, dass zumindest der Erwachsene sich „die schmerzlichsten Eindrücke zum Beispiel in der Tragödie nicht erspart“ und das „doch von ihm als hoher Genuss empfunden werden kann.“ (Freud 1920g, 15) Diese Gedanken stehen am Ende seiner bekannten Beschreibung des Spule-Spiels seines Enkelkindes. Freud hatte den Jungen dabei beobachtet, wie er wiederholt eine Spule über den Rand seines Bettes warf und dann wieder zurückholte. Was ihn, der dies als ein Spiel verstand, das den Fortgang der Mutter und ihre Wiederkehr ausdrückte, irritierte, war der Umstand, dass der Junge das Wegwerfen der Spule öfter und offensichtlich mit nicht weniger Genuss vollzog als das Heranholen. Was sich in Freuds Beschreibung nur andeutet, ist der Gedanke, dass es zunächst gar nicht um die Abwesenheit der Mutter geht, sondern um eine Szene, in der es auch um die An- und Abwesenheit des Selbst geht.

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Das Selbst ist nicht jenseits der Szene, es ist schon immer in ihr. In dem Moment, indem es eine Initiative ergreift und die Spule wegwirft, taucht es als Selbst in der Szene auf, als Differenz in einer Relation, die keine stabilen Positionen oder Identitäten kennt. Das Kind versichert sich seines Selbst als Teil der Relation, seine eigene Anwesenheit in ihr und damit auch sein Auftauchen und Überleben, dadurch, dass es etwas, das ein Teil seines Selbst war, wegwirft. Dies ist der Vorgang der Abjektion, den Julia Kristeva als ursprüngliche Spaltung in ein Ich und ein anderes beschreibt (Kristeva 1982). Sie muss nicht immer die intensive Form des Ausspeiens annehmen, wie sie Oppenheimers Film am Ende in Congos Würgekrampf zeigt. Doch ist diese Abjektion vielleicht nur so etwas wie die Grundform einer Verwerfung. Winnicott hatte sie nicht als Ausstoßen nach außen, sondern als inneren Bereich des aus der Kommunikation Ausgeschlossenen gedacht. Vom incommunicado aus entstünde die Kommunikation ganz selbstverständlich. Es muss etwas geben, das uns zusieht, wie wir handeln, etwas, das nie ganz in der Szene sein kann, selbst wenn es erst in der Szene emergiert. Die Not, in die das Subjekt kommt, wenn das incommunicado aufbricht, sei schlimmer als vergewaltigt oder von Kannibalen gefressen zu werden, sagt Winnicott. Abjektion als das Ausspeien des eigenen wäre dann ein Versuch, einen Rest vor dem Aufbrechen zu retten. In einer der Inszenierungen seiner Alpträume sieht man Congos Kopf am Rand eines Waldes aus einem Baumstumpf herausschauen. Neben ihm Koto in einem roten Kleid, hochtoupierter Perücke und viel Schminke. Vor ihm liegt eine Leiche mit geöffnetem Leib. Koto nimmt ein blutendes Stück Leber daraus und führt es an seinen und dann an Kotos Mund: „Schau dir dein Blut an!“ Dasselbe mit einem anderen Stück Fleisch: „Schau mal, dein Penis! Ich steck ihn Dir ins Maul!“ (01:39:40) Der Film schneidet daraufhin auf die schon erwähnte Kulisse des riesigen Fisches und auf die Frauen, die auf dem Laufsteg Tanzbewegungen einüben. Danach gibt es aber noch eine Einstellung auf den Ort, diesmal ohne Coto und Congo. Affen kommen und essen das rohe Fleisch. Muss man den Kannibalismus als letzten Ausdruck der grausamen und perversen Intimität der Täter mit dem Opfer verstehen? Jedenfalls ließe sich kaum eine Szene denken, die dem Hungertod weiter entgegenstünde, zu dem uns McQueens Film über ein Opfer der Folter geführt hat. Szenen sind Schwellen, in denen das Subjekt ebenso auftaucht wie verschwindet. Wir sind vielleicht nicht von fremden Kräften besessen, die uns

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an Drähten ziehen, aber von Szenen, in denen wir in einem Wechsel von An- und Abwesenheit des Selbst gefangen sind. Wir können von ihnen nicht lassen, weil sie es auch sind, in denen wir auftauchen. Szenen der Gewalt sind Szenen, in denen die Erwartung des Gehaltenwerdens, die Erwartung, dass das Eintauchen nicht schwieriger ist als das Auftauchen, die Erwartung des Gehaltenwerdens als Zugleich von Selbst und anderen, in denen diese Erwartung gebrochen wird. Wir müssen sie uns vorspielen, wir müssen sie reinszenieren, weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, das Fallen aufzuhalten oder zumindest zu mindern, weil die Reinszenierung so etwas wie eine Rekonstruktion der ausgefallenen Intersubjektivität und des verweigerten Mitgefühls bedeuten kann. Rossellini schrieb, der Film werde zur Universität des Diebstahls und des Mordes, wenn er die ästhetische Frage nicht aus der ethischen entwickle. Eine in diesem Sinne verstandene ästhetische Qualität des Films hängt entscheidend davon ab, welche Möglichkeit er dem Zuschauer bietet, selbst auf die Ansprache zu antworten und damit selbst aus der Szene, in die er ihn eintauchen lässt, aufzutauchen.

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LA MACCHINA AMMAZZACATTIVI (1952) (Italien, R: Roberto Rossellini) LA PASSION DE JEANNE D'ARC (1928) (Frankreich, R: Carl Theodor Dreyer) MY NEIGHBOR MY KILLER (2009) (USA/Frankreich, R: Anna Aghion) NINETEEN EIGHTY-FOUR (1984) (Großbritannien, R: Michael Radford) NUIT ET BROUILLARD (1955) (Frankreich, R: Alain Resnais) PAISÀ (1946) (Italien, R: Roberto Rossellini) PRZESŁUCHANIE (Verhör) (1982) (Polen, R: Ryszard Bugajski) RED DUST (2004) (Großbritannien/Südafrika, R: Tom Hooper) ROMA CITTÀ APERTA (1946) (Italien, R: Roberto Rossellini) SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975) (Italien, R: Pier Paolo Pasolini) SAMSON AND DELILAH (1949) (USA, R: Cecil B. DeMille) STANDARD OPERATING PROCEDURE (2008) (USA, R: Errol Morris) СТАЧКА (Streik) (1924) (UdSSR, R: Sergei Eisenstein) STROMBOLI, TIERRA DI DIO (1950) (Italien, R: Roberto Rossellini) THE ACT OF KILLING (2012) (Dänemark/Norwegen/Großbritannien, R: Joshua Oppenheimer) THE HURT LOCKER (2008) (USA, R: Kathryn Bigelow) TOTÒ TERZO UOMO (1951) (Italien, R: Mario Mattòli) UNITED '93 (2006) (USA/Großbritannien/Frankreich, R: Paul Greengrass) VERTIGO (1958) (USA, R: Alfred Hitchcock) WAS WO (1985) (BRD, R: Samuel Beckett) Zero Dark Thirty (2012) (USA, R: Kathryn Bigelow)

Medienkulturanalyse Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-482-9

Reinhold Görling, Timo Skrandies, Stephan Trinkaus (Hg.) Geste Bewegungen zwischen Film und Tanz 2009, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-918-3

Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier, Timo Skrandies (Hg.) Erzählen im Film Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik 2009, 280 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1134-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-01 12-06-57 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626275476|(S.

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Medienkulturanalyse Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-342-6

Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999 2005, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-344-0

Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur 2005, 350 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-343-3

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2) ANZ2654.p 370626275484