Würde bis ans Ende … und darüber hinaus: Leidfaden 2016 Heft 04 [1 ed.] 9783666806162, 9783525402627, 9783647402628, 9783525806166

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Würde bis ans Ende … und darüber hinaus: Leidfaden 2016 Heft 04 [1 ed.]
 9783666806162, 9783525402627, 9783647402628, 9783525806166

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5. Jahrgang  4 | 2016 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus Alfried Längle Die Würde des Menschen  Susanne Conrad Würde und

J­ ournalismus – würdiger Journalismus  Bärbel Wardetzki Kränkungen am Arbeitsplatz untergraben unsere Würde  Renate Wendel »Ein sanfter Tod« – Simone de Beauvoir

Edition Leidfaden. Basisqualifikation Trauerbegleitung

Eva Chiwaeze Vom Eigenen und dem der anderen Supervision in der Trauerbegleitung 2016. 115 Seiten mit 5 Abb., kartoniert € 15,– D ISBN 978-3-525-40262-7 eBook: € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40262-8

Menschen, die Trauernde begleiten, sollten sich auf diese Aufgabe vorbereiten und sich dafür qualifizieren. Selbsterfahrung ist eine unabdingbare Voraussetzung, um zu begleiten. Durch die unbewusste Übertragung der eigenen Bedürfnisse, Ängste und Sicherheiten auf die Betroffenen und Angebote aus der eigenen Hilflosigkeit heraus behindern Begleitende, möglicherweise Trauerprozesse und schaden denjenigen, denen sie gut tun wollen. Supervision für die Begleitenden ist eine zuverlässige und in anerkannten Ausbildungen verpflichtende Möglichkeit, durch Reflexion solche Entwicklungen zu erkennen und zu vermeiden. Das Buch ermutigt zum einen Begleitende zur Supervision und beschreibt zum anderen Methoden, die in diesem Themenbereich sinnvoll eingesetzt werden können. Supervisorinnen und Supervisoren erhalten Anregungen zur Erweiterung ihrer Feldkompetenz im Bereich Trauerarbeit und Trauerbegleitung.

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

www.v-r.de

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EDITORIAL

Würde – bis zuletzt und darüber hinaus Kaum ein Begriff hat uns seit der Aufklärung so geprägt wie der Würdebegriff. Die Idee dazu findet sich schon in der christlichen Theologie der Antike, welche die Würde als Wesensmerkmal des Menschen auffasst. Die philosophische – im Unterschied zur theologischen  – Begründung der Menschenwürde geht auf Immanuel Kant zurück, indem er die Würde aus dem Kontext einer ­Gottesbeziehung herauslöste und sie zu einem grundsätzlichen Anspruch jedes Menschen sowie zu einem zentralen Prädikat jeden Gesellschaftsdiskurses machte. Würde ist ein Kind der Aufklärung. Menschenrechtsdeklarationen, Staatsverfassungen und Rechtsordnungen zeugen von einem fundamentalen Konsens darüber, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Warum also ein Heft, das sich dem Thema Würde widmet? 1. Weil der Würdebegriff bezüglich Reichweite und Bedeutung unklar ist. Wann beginnt der Schutz menschlichen Lebens? Was bedeutet Autonomie bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen? Immer wieder fordert uns der Würdebegriff heraus, ihn zu reflektieren und ihn in den konkreten Lebensbezügen mit Inhalten zu füllen – insbesondere wenn es um die Rechte und den moralischen Schutz von in Abhängigkeit stehenden Menschen geht. Das Nachdenken über die Würde ist kein Luxus, denn es führt uns, ja zwingt uns, zu Überlegungen, wie der Mensch sein kann und sein muss, um sein Menschsein vollziehen zu können. Nach Blaise Pascal »ist der Mensch zum Denken bestimmt – das ist seine Würde und Größe, seine Pflicht aber ist es, richtig zu denken«. Was aber ist das Richtige? Und was, wenn der Mensch die Fähigkeit zum Denken verloren hat: Wird durch den Verlust der Fähigkeit zur Vernunft und zum moralischen Handeln die Würde nichtig? Ist Würde bei näherer Betrachtung dann nur noch ein Schlagwort oder braucht es nicht gerade dann einen kritischen Blick auf die verschiedenen Perspektiven des Würdeverständnisses?

2. Die Angst vor Würdeverlust ist einer der häufigsten Ängste von Menschen. Daran ändern auch theologisch, philosophisch oder rechtlich hergeleitete Argumente zur Unveräußerlichkeit der Würde nichts. Man kann die Würde nicht verlieren – aber Würde ist verletzlich. Und real ist auch das schmerzliche Gefühl der verloren empfundenen Würde. Viele Menschen – in der alltäglichen Routine institutionalisierter Betreuung oft kaum wahrgenommen – leiden unter dem Gefühl des Würdeverlustes. Auch Betreuende nehmen die Verletzung der Würde über das Gefühl wahr. Deshalb ist es in der Betreuung und Behandlung von Menschen so bedeutsam, eine Kultur der Achtsamkeit und des Spürens für NichtStimmiges zu pflegen. Die Würde zu schützen heißt: Wir sind aufgefordert zum Fühlen, Innehalten, Nachdenken und Handeln. Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Praxisfeldern berichten in diesem Heft, dass Würde weit mehr ist als ein sprachlicher Konjunktiv, wie sich das Gefühl des Würdeverlustes zeigt, wie sie in der Verantwortung für den Schutz der Person nachdenken, handeln und was sie dem Gefühl des Würdeverlustes entgegenhalten. Mobilisiert ein Heft zum Thema Würde auch Ihre moralische Energie? Wir hoffen es.

Dorothee Bürgi

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Sylvia Brathuhn

Inhalt 1 Editorial 4 9

Alfried Längle Die Würde des Menschen Sarah Wort Ein viel benutzter Begriff stellt sich vor

10 Annedore Paeske

Eine Geschichte der Würdigung, der Würde und des gemeinsamen Weges

16 Irmgard Layes | Würde – ein Konjunktiv?

16 Irmgard Layes

Würde – ein Konjunktiv?

22 Settimio Monteverde

Lassen Sie die nicht hinein!

26 30

Susanne Conrad Würde und Journalismus – würdiger Journalismus Katrin Döveling Das Leben geht weiter, nur wie? – Trauer in Zeiten des Internet

34 Hedwig Neu

Desorientiert mit Würde

36 Georg Mock 39 Sandra Stephanie Mai | »Etwas von ihm ist eingefangen und bleibt für immer« – Wie erleben Angehörige von Patienten einer Palliativstation die Würdezentrierte Therapie?

Das Projekt »Medi-Container im Flüchtlingscamp Neuwied«

39

Sandra Stephanie Mai »Etwas von ihm ist eingefangen und bleibt für immer« – Wie erleben Angehörige von Patienten einer Palliativstation die Würdezentrierte Therapie?

45 Doris Pfabigan Worauf es letztlich ankommt

59 Daniela Ritzenthaler | Sexualität von Menschen mit einer Beeinträchtigung: Beeinträchtigte Sexualität?

43 Sylvia Brathuhn

Neue Gedanken zum Thema Kommunikation und Würde

45

Doris Pfabigan Worauf es letztlich ankommt

50 Christian Metz

Würde implizit

55 Bernd Kappis

Mit Achtsamkeit im Hier und Jetzt bleiben

59

Daniela Ritzenthaler Sexualität von Menschen mit einer Beeinträchtigung: Beeinträchtigte Sexualität?

62 Matthias Bormuth

Unabhängigkeit und Trost – Peter Nolls Diktate über Sterben und Tod

64 Renate Wendel

93 Aus der Forschung: Ein ethisches Gebot:

66 Kate Binnie

96 BVT-Nachrichten

»Ein sanfter Tod« – Simone de Beauvoir

Papas Tod, 1. April 2016

69 Bärbel Wardetzki

Kränkungen am Arbeitsplatz untergraben unsere Würde

72 Silke Andrea Mallmann

Freiwillig gezwungen?

76 Ulrich Peters

Würde und Strafvollzug

80

Margit Schröer und Susanne Hirsmüller »Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie er zu Lebzeiten aussah …«

85

Fortbildung: Warum eine Fortbildung

91

Rezension

zum Thema »Würde«?

Death Competence

101

Cartoon | Vorschau

102 Impressum 85 Fortbildung: Warum eine Fortbildung zum Thema »Würde«?

4

Die Würde des Menschen Alfried Längle Es darf als besondere Leistung des Deutschlands der Nachkriegszeit angesehen werden, nach den Erfahrungen der Gräuel und Vernichtung des Zweiten Weltkriegs sich auf die spezifische Charakteristik des Menschen zu besinnen und zum obersten Wert des Grundgesetzes zu erheben: die Würde des Menschen1. Sie wird als »unverletzliches und unveräußerliches Menschenrecht« angesehen, dazu angetan, die »Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt« (Abs. 2) zu schaffen. Ein solches Gewicht kommt ihr in der öffentlichen Anerkennung zu. Würde ist Wert Der Begriff »Würde« (althochdeutsch wirdî) ist sprachgeschichtlich verwandt mit dem Wort »Wert« und bezeichnete anfänglich den Rang, die Ehre, das Verdienst oder das Ansehen einer einzelnen Person. Auch in der adjektivischen Verwendung (zum Beispiel ein würdiges Begräbnis) wird die Entsprechung zum Wert und Verdienst eines Menschen hergestellt. Das bedeutet es auch, wenn wir die Leistung eines Menschen »würdigen« – ihr Wert wird gesehen, gelten gelassen und anerkannt. Eigenwert und Nutzwert Alle Dinge können unter dem Gesichtspunkt von Eigenwert oder Nutzwert betrachtet werden. Der Baum hat einen Wert in sich, der dem Menschen zum Beispiel in seiner Schönheit zugänglich ist. Er ist aber auch Apfelbaum und produziert Holz, macht Schatten – hat also auch einen Nutzwert für den Menschen. Auch Menschen haben Eigenwert und Nutzwert. Diese Unterscheidung ist für

das Verstehen der Würde grundlegend. Wird der Mensch in seiner Funktion gesehen, in der Erfüllung eines Zweckes, in einer Rolle etwa als Verkäufer, Managerin, Chauffeur oder Mutter, so besteht der Wert in der erbrachten Leistung. Dieser Wert kann durch Vergleiche mit anderen oder mit Zielbestimmungen gemessen werden und entsprechend ist die Bezahlung beziehungsweise die Anerkennung für die Erfüllung der Pflichten (beispielsweise als Mutter). Die Frage nach dem Eigenwert des Menschen richtet sich an das Menschenbild: Wodurch hat der Mensch Wert, worin ist sein ganz besonderer Wert begründet, der ihn als Menschen kennzeichnet? Ist es seine Intelligenz, seine Lebenserfahrung, sein Wissen, seine Schönheit? Man versteht sofort, dass das alles zu kurz greift. Der Wert des Menschen Schon in der ersten großen Abhandlung über die Würde des Menschen von Pico della Miran­ dola (1557) wird die Würde aus der Selbstbestim­ mung des Menschen abgeleitet. Immanuel Kant (1785) hat sie in der Vernunft des Menschen begründet gesehen. Denn dank ihrer kann sich der Mensch selbst sein eigenes Gesetz geben (was »Auto-­nomie« heißt) und moralisch gut oder böse handeln. Die Würde des Menschen besteht darin, dass er keinem fremden Zweck untergeordnet ist, sondern Zweck an sich ist. Darum ist jede Unterordnung des Menschen unter einen Zweck entwürdigend und unethisch. Friedrich Schiller (1793) leitet die Würde aus dem freien Willen des Menschen ab, durch den er sich dank der moralischen Kraft der Freiheit des Geistes über seine Naturtriebe erheben kann.

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 4–8, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

D i e W ü r d e d e s M e n s c h e n    5

Trotz unterschiedlicher Begriffe liegen diese Beschreibungen nahe beieinander.

Würde aus dem Wesen des Menschen Selbstbestimmung, Vernunft oder Freiheit haben eines gemeinsam: Die Würde des Menschen kommt aus ihm selbst, aus seinem Wesen. Sie ist intrinsisch begründet, hat mit ihm zu tun, kommt aus seinem Inneren. Im Vergleich dazu ist Ehre eine äußere Zuschreibung, ist der Wert, den jemand in der Gesellschaft zugesprochen bekommt. Würde ist der Eigenwert des Menschen. Der Eigenwert eines Menschen ist das, was ihn im Wesen ausmacht. Was aber macht den Menschen zu dem, wer er ist? Was ist sein Wesen? – In einer langen abendländischen Tradition wird der Begriff »Person« als Wesenscharakteristik des Menschen genannt (Spaemann 1996; Sturma 2001). Heidegger (1927/1979, § 9) bezeichnet als Wesen des Menschen die Existenz, das heißt, die Möglichkeit zu haben, sein Leben gestalten zu können.

u3d / shutterstock.com

Die Würde ist ihrer Herkunft nach unantastbar, letztlich spirituell. In solcher Größe wohnt der Mensch, auf solche baut er.

Die Person Das Wesen ist »das Eigentliche« des Menschen, das unabhängig in sich selbst steht. Wenn die Person als das Wesen des Menschen angesehen wird, ist sie das, was aus sich selbst in Erscheinung tritt. Die Person ist jener Wesens-»Kern« des Menschen, der in ihm auftaucht, aus sich heraus wirksam wird (neben und nicht abhängig vom Gelernten, Erfahrenen, Wissen und so weiter). Dank dieses freien Wesenskerns »hat« sich der Mensch, ist sich der Mensch selbst gegeben. Dieses Wesen ist der Mensch, es wird nicht von uns »gemacht«. Es stammt aus einer nicht fassbaren Tiefe und ist der willensbildenden Kraft des Ichs gegenübergestellt. Das Ich hat die Aufgabe, die Person (»sich!«) zu hören und zu vertreten. Aus diesem tiefen, inneren Verhältnis heraus kann man sagen, dass sich der Mensch selbst »innerlich gegenüber« hat. Anders gesagt: Der Mensch ist sich anvertraut, wie das Kind dem Erwachsenen; er hat die Möglichkeit, sich in Empfang zu nehmen, mit sich zu sein, »echt«, authentisch zu leben oder sich beiseite zu lassen und Impulsen, Ängsten, Aufträgen und so weiter zu folgen. Hier kommt die tiefste Handlungsfreiheit des Menschen zum Tragen: sich für sich zu entscheiden, also sich als Person in Empfang zu nehmen, oder sich zu verfehlen (­Kierkegaard 1960). Spricht, entscheidet oder handelt der Mensch aus seinem Wesen, ist er ursprünglich – ohne Bezug zur eigenen Tiefe jedoch eine Kopie, des Kernes beraubt wie eine Hülse. Die Person kommt uns zu, wenn es in uns anhebt zu sprechen. Fasse ich das, was sich da in mir anmeldet, so fasse ich mich als Person (Längle 2000). Es sind nicht die sich wiederholenden, automatischen Stimmen – es ist eine Stimme, die aus dem eigenen Gespür Stellung bezieht, die eine Stimmigkeit verlauten lässt. Diese Stimme ist meine Freiheit. Es ist der tiefste Punkt des Sich-gegeben-Seins.

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

6   A l f r i e d L ä n g l e

Die Würde des Menschen kommt aus ihm selbst, aus seinem Wesen. Sie ist intrinsisch begründet.

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D i e W ü r d e d e s M e n s c h e n    7

Christian Rohlfs, Sonnenuntergang (Zarathustra), 1917 / akg-images

Die Würde Dank dieser Fähigkeit hat der Mensch Würde. Sie ist letztlich begründet in der Wesensfreiheit des in mir »Sprechenden«, also noch tiefer als in der schon genannten Handlungsfreiheit. Diese Tiefe hat bereits spirituellen Charakter: Sie ist unfasslich für den Menschen, sie übersteigt die Fähigkeiten des Ichs (Längle 2008). Sie kommt aus dieser Fähigkeit, Stimmigkeit in sich vorzufinden, Sprechendes, das zu mir spricht. Diese Tiefe entzieht sich unserem eigenen Zugriff – vielmehr kommt sie uns zu, weil wir in ihr sind. Die Würde ist daher ihrer Herkunft nach unantastbar, letztlich spirituell. In solcher Größe wohnt der Mensch (»haust« er – bewohnt sein Haus), auf solche baut er. In der Würde steht der Mensch in einer Erweiterung seiner selbst, wird in eine unbestimmbare Größe hineingeboren. Die Würde ist eine Qualität der Person, zu der kein Fremder Zugang hat: die unantastbare, autonome, manche mögen vielleicht auch sagen: »heilige« Intimität der Person mit sich selbst, die aus diesem Sich-selbst-anvertraut-Sein und der Resonanz mit sich und dem Sein erwächst. Person ist eben ein Potenzial, das nicht zu fassen ist und jenseits der festgelegten Bedingungen des Menschen liegt, so wie der Ton der Flöte zwar aus ihr stammt, aber jenseits der Flöte zu liegen kommt. Gewissen und Scham Mit so verstandener Würde ist das personale Gewissen untrennbar verbunden. »Von Gewissen reden heißt, von der Würde des Menschen reden. Es heißt davon reden, dass der Mensch nicht Fall eines Allgemeinen, Exemplar einer Gattung ist, sondern jeder Einzelne als Einzelner selbst Totalität, selbst schon ›das Allgemeine‹.« – »Das Gewissen macht deshalb die Würde der Person aus, weil es allein den Menschen zum Richter letzter Instanz in eigener Sache macht« (Spaemann 1996, S. 181). Doch schränkt er ein: »nicht alles,

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

8   A l f r i e d L ä n g l e

was das Gewissen gebietet oder erlaubt«, sei deswegen schon gut (S. 185). Die Würde hat intimen Ursprung. Sie ist daher umhüllt von der Scham, wie auch Gewissen und Person. Denn was ursprünglich Eigenes ist, soll nicht dem allgemeinen Blick ausgesetzt sein; und was man nicht verantworten kann, da mag man auch sein Gesicht nicht zeigen. Dem Menschen die Würde belassen, heißt die Scham vor seiner Intimität zu hüten, was insbesondere beim Leiden, beim Lieben, beim Beten und beim Sterben von Gewicht ist. Man kann auch, ohne auf die innere Stimmigkeit zu achten, funktionieren – aber dann ist man nicht sich selbst, verfügt nicht über die Macht des inneren Wortes, kennt nicht den authentischen Schöpfungsakt der intima locutio (Längle 2013). Das trifft sich mit Bieris Verständnis der Menschenwürde. Er sieht die Menschenwürde in der Art der persönlichen Lebensführung begründet (im Kontext dieser Ausführungen würde das heißen: Umgang mit dem, was in der eigenen Intimität zu lauten anhebt – ob es aufgegriffen wird und wie es umgesetzt wird). Lebensführung kann aber auch misslingen – der Mensch kann seine Würde verlieren. Dies kann durch äußere Kräfte geschehen, aber auch selbstverschuldet sein. Würde ist eine Bedingung für ein glückliches Leben. Würde in der Praxis Wenn wir auf Würde treffen, ist Ehrfurcht die passende Haltung, verbunden mit Respekt und Scham. Scham ist eine angemessene Zurückhaltung für das Intime zur Erhaltung von Würde und Ansehen. Das gilt gleichermaßen für das eigene Intime wie jenes der anderen. – Man schämt sich, wenn man sich verletzt fühlt in seiner Würde als Person. Auch der Gruß ist Ausdruck der wertschätzenden Anerkennung dieser spirituellen Tiefe des Menschen. Darum nehmen sie zumeist Bezug auf die Transzendenz: »Grüß Gott, Tschüss, d. i. a deus«. Respekt ist das Wahren eines Abstands, der jeden in sich gegründet belässt: die

Intimsphäre, die eigene Meinung, sein/ihr Denken und Fühlen. So bewahrt die Würde die Tiefe des Menschseins und bringt die Größe menschlichen Daseins in die Welt. Alfried Längle, Universitätsprofessor Dr.  med., Dr. phil., Honorarprofessor, Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin, Klinischer Psychologe, Psychotherapeut, Lehrtherapeut (GLE). Er ist ao. Professor an der Psychologischen Fakultät der HSE-Universität Moskau, Gastprofessor an der Sigmund-Freud-Universität Wien, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE-Int) mit Sitz in Wien und in eigener psychotherapeutischer Praxis in Wien tätig. E-Mail: [email protected] Literatur Bieri, P. (2013). Eine Art zu leben – Über die Vielfalt menschlicher Würde. München. Deutsches Grundgesetz https://www.bundestag.de/bundestag/ aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01/245122 (Zugriff am 6. 8. 2016). Grimm, J., Grimm, W. (1960). Deutsches Wörterbuch, 16 Bän­ de. Band 30 (S. 2060–2088). Leipzig. Heidegger, M. (1927/1979). Sein und Zeit. Tübingen. Kant, I. (1785/2013). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Berlin. Kierkegaard, S. (1960). Werke, Band 1: Der Begriff Angst. Reinbek. Längle, A. (2000). Die »Personale Existenzanalyse« (PEA) als therapeutisches Konzept. In: Längle, A. (Hrsg.), Praxis der Personalen Existenzanalyse (S. 9–37). Wien. Längle, A. (2008). Die spirituelle Verwurzelung der Existenz  – Zum Verhältnis von Psychotherapie und Spiritualität am Beispiel der Existenzanalyse. In: Psychologie in Österreich, 28, 1, S. 18–25. Längle, A. (2013). Das Richtige spüren. Authentizität und Gewissen. In: Existenzanalyse 30, 2, S. 46–58. Pico della Mirandola, G. (1557/2016). Über die Würde des Menschen. Nebst einigen Briefen und der Lebensbeschreibung Pico della Mirandolas. Kulmbach. Schiller, F. (1793/2016). Über Anmut und Würde/­Kallias oder über die Schönheit. Neuausgabe von Karl-Maria Guth. Berlin. Spaemann, R. (1996). Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«. Stuttgart. Sturma, D. (Hrsg.) (2001). Person. ­Philosophiegeschichte  – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Pader­ born. Anmerkung 1 Die berühmte Formulierung des Art. 1, Abs. 1 des Deutschen Grundgesetzes lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«

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Ein viel benutzter Begriff stellt sich vor Sarah Wort deren Weg zu ihrer Kostbarkeit versperrt ist, sie konkret anzusehen, ohne Be-Wertung, ohne Neugierde, sie mit einem Blick zu umfangen, das sichert ihre Würde. Vielleicht können sie in diesem Angesehenwerden ihre eigene Würde wieder sehen und sich mit ihr verbinden. »›Vor siebenundzwanzig Jahren wurde ich auf der Grimmburg geboren. Ich habe es immer recht streng und einsam seitdem gehabt.‹ Sie schwieg. Und plötzlich sah er, wie ihr Blick, unter leicht ver­ finsterten Brauen, an seiner Seite suchte, – ja, ob­ wohl er, seiner Übung nach, ein wenig schräg vor ihr stand und ihr die rechte Schulter zuwandte, konnte er nicht verhindern, dass ihre Augen sich mit stillem Forschen auf seinen linken Arm, auf seine Hand heftete, die er weit rückwärts in die Hüfte gestemmt hatte. ›Haben Sie das seit Ihrer Ge­ burt?‹ fragte sie leise. Er erbleichte (…) Da nahm sie seine Hand, die linke, verkümmerte, das Gebre­ chen, die Hemmung bei seinem hohen Beruf, die er von Jugend auf mit Kunst und Wachsinn zu ver­ bergen gewöhnt war, – nahm sie und küsste sie.« Aus: Thomas Mann: Königliche Hoheit

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 9, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Wassily Kandinsky, Lyrisches, 1911 / akg-images

»Die deutsche Sprache sei eine würdelose Sprache«, das behauptete meine alte Deutschlehrerin Frau Dr. Mrosz. Was meinte sie damit? Wollte sie damit sagen, dass unserer Muttersprache das Gefühl für Anstand und Respekt fehlt? Dass sie keine Ausdrucksmöglichkeiten für Rücksichtnahme oder ethische Themen hat? Wenn ich dieser Annahme nachgehen wür­ de und in diese Richtung recherchieren würde, dann würden Sie als Leser nicht zufrieden sein und würden sagen, dass ich auf diese Weise das Thema verfehlen würde. Genau diese Ansammlung unnötiger Hilfsverben in diesem letzten Satz meinte Frau Dr. Mrosz und empfahl uns, statt der (un-)würdigen Hilfsverben die konjunktivische Form der Verben zu benutzen: nachginge, recherchierte, wären, sagten, verfehlte … Und so gebe ich ihr Recht und bemühe mich um eine würdelose Sprache. Aber was hat es denn mit dem Begriff der Würde auf sich? Blättern wir in den etymologischen Lexika. Im Keltischen bedeutet das Wort vert verkaufen, gwerth ist die Belohnung, im Altnordischen (verth) taucht es als Hauptwort »Kaufpreis«, »Bezahlung«, »Lösegeld« auf und wandelt sich im Althochdeutschen (werth, wird) zu etwas, was wichtig und kostbar ist. Diesem entbietet man dann wirdi, Ansehen. Etwas, jemanden zu würdigen heißt also, ihm Ansehen zu geben. So wird ein Wort zu einer Haltung. Menschen anzusehen, ganz konkret, deren Wert nicht auf den ersten Blick sichtbar oder verloren gegangen scheint, die krank, behindert, dement sind, deren Wichtigkeit Vergangenheit ist und

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Eine Geschichte der Würdigung, der Würde und des gemeinsamen Weges Würdigung durch Erinnerungsarbeit

Annedore Paeske

Deine Würde Ich halte Deine Würde in meinem Herzen. Als Deine Krankheit offenkundig wurde, zerbrach zugleich auch unsere gemeinsame Zukunft in Scherben. Plötzlich ging es nur noch um den Weg, der vor uns lag – uns zu halten im Bangen und im Hoffen. Als Dein Denken immer mehr versagte, war ich es, die Deine Verzweiflung und Deine Ängste a­ uffing und in meinen Händen barg. Der Bruch Deines leidenschaftlichen künst­ lerischen Schaffens wog bitter für Dich. Deine Selbstachtung war so zerbrechlich, weil Du immer mehr zerfielst in vollem Bewusstsein Deines endgültigen ­Loslassens. Mit Dir in Würde durch diese schmerzhaften Veränderungen des langsamen Abschieds zu gehen und zu spüren, was Dich dabei bewegt, hat uns tiefste Verbundenheit im Herzen ­geschenkt. Deine Würde war auch unsere Würde auf dem Weg des Freigebens zwischen Leben und Tod.

Brief an Dich Am Anfang trat völlig unvermittelt die unglaubliche Diagnose Deines unheilbaren Hirntumors in unser Leben. Es wurde plötzlich aus seinen Angeln gehoben und schob uns in eine nie ­gekannte Dimension von Leben. Je mehr Du im Laufe Deiner Krankheit Deine Autonomie verlorst, desto mehr wuchs meine Verantwortung, Deinen schmerzlichen Weg in Respekt Deiner Selbstachtung zu begleiten. Unsere Liebe ließ uns immer mehr auf unser inneres Wesen und unseren Zusammenhalt trotz zunehmender »weißer Flecken« in Deinem Denken schauen. Die Blickrichtung wandte sich mehr und mehr in unserer Begegnung nach innen. In Achtsamkeit versuchten wir gemeinsam mit Deinem Unterstützerkreis aus engen Freunden und Geschwistern auf Deine sich stets verändernden Krankheitseinbrüche so zu reagieren, dass Du Dich in Deinem Selbst respektiert fühltest. Du konntest zuweilen auch ungehalten werden, wenn Du Dich nicht verstanden fühltest oder Dich nicht angemessen verständlich machen konntest – Du, der Mann der Sprache und der Geisteswissenschaften. Nicht immer war es auch leicht, in Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Es gab Zeiten, in denen ich Dich schützen musste. Die Dimensionen unserer gelebten Partnerschaft wurden immer weiter, für mich ein Balanceakt des Hin- und Herschwingens zwischen den verschiedenen Aufgaben und Rollen und dabei einander uns doch immer auch als Liebespartner zu begegnen.

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 10–15, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

E i n e G e s c h i c h t e d e r W ü r d i g u n g , d e r W ü r d e u n d d e s g e m e i n s a m e n We g e s    1 1

Gemälde »Die Treppe« – Harald Paeske, 2008

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

1 2   A n n e d o r e Pa e s k e

Du kämpftest um den Erhalt Deiner Autonomie, Freiheit und Flexibilität im Leben, rebelliertest oft gegen Entscheidungen und wusstest doch, dass Vieles nicht mehr anders möglich war. Im Abstand der durchlebten Trauer könnte ich Dich heute wohl viel mehr lassen und wir könnten unsere Fassungslosigkeit und Ohnmacht gemeinsam mehr zulassen. Ich meinte sicherlich zu oft, Dich ermutigen zu müssen, im Leben zu bleiben, doch Du hattest schon längst Deine eigenen Entscheidungen über Leben und Tod im Inneren getroffen. Aber damals, aus Sorge um Dich und unter dem Druck, alles alleine tragen zu müssen, konnte ich die Situation wohl oft nur im Handeln für Dich ertragen. Vielleicht hättest Du gerne noch viel öfter Deine Grenzen selbst erfahren; nicht immer konnte ich das aushalten. Aber es gab auch viele Momente, die mir zeigten, dass Du in Deinem Seelenbewusstsein unversehrt warst und Deine inneren Gefühle Dich aus Deiner Krankheit heraushoben. Deine Persönlichkeit mit ihrem unversehrbaren Seelenkern zeigte sich im Licht Deiner Worte und Gedanken. Dann war es vorrangig, Dich in Deiner Autonomie zu unterstützen und Dich das tun zu lassen, was Dir wichtig war. Als Du schon schwerstkrank das Mauerwerk unseres Fachwerkhauses auf hohen Leitern reparieren wolltest, warst Du durch keine äußeren Einwände davon abzuhalten, obwohl Du durch häufige Gleichgewichtsschwankungen sehr beeinträchtigt warst. Wir konnten Dich dabei nur unterstützen, weil wir spürten, dass wir Dich in Deinem Tun lassen mussten. Dein Wunsch, das Haus für mich gut herzurichten und alle Arbeiten noch auszuführen vor Deinem Tod, hat mich tief berührt und beeindruckt. Es lag darin die tiefe Kraft des Wissens, dass Du alles Menschenmögliche noch für mich richten wolltest, egal, welche Kraft es Dich kosten möge. Nach Wochen der Höchstleistung warst Du zufrieden mit Deinem Werk und hast Dir alles befriedigt angeschaut. Jetzt konntest Du beruhigt ins Hospiz

gehen und mich in unserem Haus zurücklassen. Deine Würde bei Deinen letzten, Dir wichtigen Aktivitäten zu achten, ließ Dir, trotz des zunehmenden Zerfalls Deines Denkens und Sprachvermögens, Deine Selbstachtung und Deinen Stolz als der Mann, dem es unendlich schwerfällt, seine geliebte Frau in der Welt alleine zurückzulassen. »Man soll bauen, als wollte man ewig leben, und also leben, als sollte man morgen sterben« (nach Martin Luther). Bis fast zuletzt hast Du gemalt, auch wenn es für Dich immer schwerer wurde, Deine Ideen künstlerisch umzusetzen. Nicht mehr am Computer an Deinen Fotos arbeiten zu können, Deine geliebte Kamera nicht mehr handhaben zu können, war äußerst schmerzhaft auf Deinem letzten Weg. Du fühltest Dich abgeschnitten von Deinen künstlerischen Fähigkeiten, die Du vorher in Ausstellungen so hoffnungsvoll z­ eigen konntest. Im Hospiz, als Dein Lebenswillen zunächst ganz erschüttert war und Dein Blick leer wurde, konntest du nur allmählich über das Schauen Deiner Fotobildbände wieder ein Stück ins Leben zurückkehren. Für uns begann im Hospiz nach fast einem Jahr nochmal eine Zeit, in der ich wieder unbelasteter von äußeren Aufgaben unsere Liebesbeziehung mit Dir leben konnte, wo wir in lauen Sommernächten auf dem Balkon unsere »griechischen Abende« in innigem Zusammensein zelebrieren konnten. Gebrochen in Deinem künstlerischen Schaffen, erfuhrst Du im Hospiz dennoch in Deiner letzten Ausstellung und Vernissage am Ende Deines Lebens die Würdigung Deines Künstlerseins. Dein Künstlerherz fand Frieden in der Wertschätzung Deines Schaffens, das Du nicht fortführen konntest.

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E i n e G e s c h i c h t e d e r W ü r d i g u n g , d e r W ü r d e u n d d e s g e m e i n s a m e n We g e s    1 3

SchattenPerlen

Foto, Griechenland – Annedore Paeske (aus BildPoesieband »SchattenPerlen«, 2015)

Aus grauschattierten Tälern, trüben ­Ebenen und matten Hügeln blicken meine müden ­Augen. Der Schritt ins neue Leben, oft so schwerfällig, als ginge ich durch Morast. Grauverhangene Wolken am Himmel verheißen baldigen Regen. Sanfte Regentropfen prasseln auf dürres Land und glitzern auf Blättern im Regenbogenlicht. Zaghaft nehme ich mit Auge und Herz einen zartglänzenden Schimmer wahr, der auf der regennassen Natur liegt. Vielfarbige Glitzerperlen in allen Farbspektren öffnen meinen scheuen Blick für den Wandel der Natur. SchattenPerlen nennt sie mein Herz, wenn sie plötzlich in schattig-dunkle Lebens­ felder neuen Glanz zaubern, meinem Leben einen hellen Schimmer von Aufbruch verleihen – Perlenschatten.

Nach Deinem Tod und langen Monaten der Trauer und des Wandelns durch die Schatten der Nacht inspirierte mich unerwartet eine Lesung und ich suchte die Pfade Deines Künstlerseins erneut auf, tauchte hinein, verband mich mit Dir und schaffte Neues aus Deinem Vermächtnis für mich. Plötzlich durch einen äußeren Impuls fühlte ich mich magisch angezogen von dem Wunsch, meine Empfindungen des ersten Trauerjahres in Gedichten niederzuschreiben. So tauchte ich unvermittelt wieder ein in unsere Welt durch die Arbeit an einem neuen Buchprojekt zum Thema »SchattenPerlen« mit bebilderten Trauergedichten in Erinnerung an Dich. Die Arbeit daran ließ mich über lange Wochen die äußere Welt um mich vergessen. Du

warst so gegenwärtig für mich und ich spürte Deine Präsenz beim Schreiben meiner Worte ebenso wie bei den vielfältigen technischen Fragen des Layouts, mit denen ich mich zuvor nie beschäftigt hatte. Es waren Wochen des inneren, stillen Glücks, in denen ich mich noch einmal ganz eng mit Dir und unserem WIR der Erinnerungen verband. Ich spürte, dass ich durch mein Buchprojekt Deinem künstlerischen Schaffen einen neuen Platz schenken konnte und Du so in mir fortleben konntest. In der Weiterführung unserer gewürdigten Vergangenheit kann sich so für mich Zukunft neu gestalten und sinnstiftend wirken.

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

1 4   A n n e d o r e Pa e s k e

Erinnerungsprojekt »SCHATTEN PERLEN« Wie sanfter Trauerregen fiel das Projekt »SchattenPerlen« in mein Herz. Ich konnte die Worte greifen, die meine Trauer um Dich beschreiben. Sie fielen vom Himmel direkt in mich hinein und verbanden mich mit Dir in einem unsichtbaren Faden von Energie und Kraft. Es war, als würden wir gemeinsam an diesem Poesiebildband arbeiten und das Layout gestalten. Es fühlte sich an wie eine gemeinsame Kreation mit Dir zusammen, in innerer Konzentration geschaffen.

Ich halte unsere Erinnerungen in meinem ­Herzen, schützend und bewahrend. Die Leidenschaft zum künstlerischen Ausdruck floss in das Trauerprojekt »­SchattenPerlen«, das mir zuflog, wie aus unserer gemeinsamen schöpferischen Kraft gespeist. Ich konnte Dir in meinen Erinnerungen ­begegnen, die Bilder führten mich an unsere vertrauten Orte, unsere Seelenorte. Du streiftest mich bei der Gestaltung des Pro­ jektes ganz nah und ich konnte mit Dir nochmal im engen Austausch sein – unser Dialog auf Augenhöhe. Es war, als nährtest Du mich in diesem ­Erinnerungsprojekt durch ein unsichtbares Band, und ich schaute meinen Verlust aus der Tiefe ganz ehrlich an. Ich gab den Worten eine Gestalt und einen Ausdruck und konnte so nochmal viel tiefer Dein Künstler-Sein und unser gemeinsames kreatives Schaffen würdigen.

Brief an mich

Letztes Gemälde »Tranquera« – Harald Paeske, 2014

Nachdem das Buchprojekt nach intensiven Wochen beendet war, begann ein innerer Prozess des immer tieferen Fallens in ein dunkles Vakuum, in die Katakomben meiner Seele. Was vorher mich zusammenhielt und kraftgebend wirkte, zerplatzte nun plötzlich wie Luftblasen im Nichts. Ich konnte nicht ausweichen, konnte nicht zurück ins Leben gehen, bevor ich das Trauertal nicht ganz durchschritten hatte.

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E i n e G e s c h i c h t e d e r W ü r d i g u n g , d e r W ü r d e u n d d e s g e m e i n s a m e n We g e s    1 5

Es war wie ein hartes Aufschlagen in der Realität, in einem noch stärkeren Spüren des endgültigen Alleinseins, der Anerkennung des Todes meines geliebten Seelengefährten. Ich litt beim Durchstreifen meiner inneren Wüstenlandschaft an dem Entzweibrechen unseres WIRs und spürte meine tiefe Verlorenheit. Ich musste das dunkle Schattental alleine durchschreiten, die Leere des kargen Winters in meiner Seele wiegen und warten, bis sich ein neuer Boden unter mir auftat. Ganz langsam wich das schwarze Loch einer kreativen Leere als Nährboden für eine neue Saat heran und entpuppte sich allmählich für mich als ein Schatz zur Wandlung. Doch dazwischen gibt es viele Phasen der großen Treppe, die gegangen werden wollen mit kleinen oder großen Stufen, holprig oder leicht, schnell oder in schleppendem Gang. Am Anfang erschien mir die Trauer wie ein kontinuierlicher Weg, den ich voranschreitend in ein neues Leben gehe. Aber mittlerweile fühlt sich der Weg eher an wie ein verwinkeltes Labyrinth oder eine Spirale aus unebenen Steinen. Im ersten Trauerjahr scheine ich mich von den rationalen Bewältigungsstrategien des Krankheitsjahres mehr in die emotionalen Schichten meines Inneren begeben zu haben. In dieser Zeit konnte ich immer tiefer die abgründigen Gefühle, Ängste und die Verzweiflung meines geliebten Menschen nachempfinden und erst im Laufe der Zeit habe ich all das spüren und sehen können, wovor meine Augen im Krankheitsjahr verschlossen waren. Das zuvor Verdrängte brach sich in meinem Inneren Bahn und wollte angeschaut werden. Und so arbeite ich mich Schicht um Schicht in der Trauer weiter, im stetigen Wandel von Vor- und Zurückgehen. Es ist, als würde ich mich in einer Spirale von außen nach innen immer tieferen Schichten öffnen und diese in meine Trauer integrieren, bis ich am Ende den großen Schatz in meinem Herzen sicher bergen kann. In diesem Prozess wandelt sich auch der Blick auf die Würde miteinander stetig. Der schmerz-

hafte Weg zwischen Leben und Tod wird aus sich stets wandelnden, neuen Perspektiven immer wieder anders betrachtet. In jeder Schicht kann mehr zugelassen werden von den miteinander erlebten Gefühlen. Die letzte Lebensphase wird immer tiefer von meiner Seele durchdrungen, bis sich die Essenz des Seins immer feiner herauskristallisiert. Die gemeinsame Liebe und die Erinnerung an den geliebten Menschen können jetzt immer intensiver nach innen ins Herz genommen werden. Die Verarbeitung meiner Trauer zieht mich zurück ins Leben und möchte sich in kleinen Schritten aus der Einsamkeit herauswagen, um gemeinsam mit anderen Wege zu suchen und zu finden, mit meiner Trauer umzugehen. Das Öffnen und Teilen meiner Trauererfahrungen begleitet mich auf sanften Flügeln zurück in ein alleiniges Leben. Die Geschichte der Würde umfängt den geliebten Menschen, den ich verloren habe, ebenso wie mich als Liebespartner. Durch den Tod wandeln sich die Erinnerungen an unser gemeinsames Leben in meinem Inneren zu einer tiefen Würdigung all dessen, was das Sein des geliebten Menschen für mich ausmacht. Im Sinne von »Leben und Tod sind eins, so wie der Fluss und das Meer eins sind« (Khalil Gibran). Annedore Paeske studierte Germanistik und Pädagogik in Köln und arbeitet heute als Sonderpädagogin. Seit dem Tod ihres Mannes 2014 hat sie sich intensiv schreibend mit ihrer Trauer auseinandergesetzt. E-Mail: [email protected] Literatur Paeske, A. (2015). SchattenPerlen – BildPoesie mit Trauergedichten. Unveröffentliches Manuskript. Paeske, H., Paeske, A. (2011). ZwischenSichten – BildPoesie. Norderstedt.

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Würde – ein Konjunktiv? Irmgard Layes Die Stimme des Assistenzarztes klingt beinahe flehentlich, als er mich um Hilfe bei einem Patienten bittet. Es sei ein gewissermaßen geronto­ palliativer komplexer Fall, mittlerweile sei die Situation rund um den Patienten verfahren, der demente Herr selbst nicht kontaktfähig, seine Ehefrau schwierig. Mehrfach und von verschiedener Seite sei ihr erklärt worden, wie schwer krank und ohne Besserungsaussicht ihr Mann aus medizinischer Sicht sei, aber sie wolle es einfach nicht verstehen. Als ich das Patientenzimmer betrete, rückt die Ehefrau sich kerzengerade auf ihrem Stuhl zurecht und verschränkt die Arme vor der Brust. Der hilflos-besorgte Gesichtsausdruck, mit dem sie gerade noch ihren Mann betrachtet hatte, wechselt zu einer misstrauisch verschlossenen Miene, mit der sie mich abwartend mustert. Ich seufze innerlich und streiche in Gedanken den nächsten anstehenden Termin – dies wird wohl ein längeres Gespräch werden. Das ist auch der Fall, doch es gelingt, sich anzunähern, und während der nächsten Stunde wandelt sich langsam die anfänglich angespannte Atmosphäre. Es ist der Ehefrau möglich, durch all ihre Skepsis, Zweifel und Anklagen hindurch zu erkennen, dass ich durchaus würdigen möchte, welche Verunsicherung und enorme Belastung sie in der letzten Zeit durchlebt hat. Wir finden einen gemeinsamen Nenner aus Enttäuschung und Angst, der den schwierigen Kontakten bisher zugrunde liegt, und es gelingt uns, gemeinsam zu benennen, worüber sie enttäuscht und wovon sie geängstigt ist. So erreichen wir letztlich ein gutes Einvernehmen, die Ehefrau befürwortet die weiteren Behandlungsschritte der Symptomkontrolle und kann das Angebot zur medizinischen, pflegeri-

schen und sozialdienstlichen Unterstützung für die Zeit nach der geplanten Entlassung annehmen. Aber in meine Erleichterung über den guten Gesprächsverlauf mischt sich ihr abschließender Satz und bleibt mir ungut im Gedächtnis haften. Ohne Vorwurf, aber mit großer Resignation sagt sie: »Er ist ja nicht mehr er selbst. Wie er da liegt, das ist doch unwürdig.«  Tage später ist der Zustand des Patienten nur unwesentlich verändert, die Entlassungsplanung ist abgeschlossen und ich treffe die Ehefrau bei der letzten Visite am Bettende ihres Mannes sitzend an, sie betrachtet ihn mit distanziertem und resigniertem Blick. Ihre kürzliche Bemerkung von der Unwürdigkeit seines Zustandes steht ihr, so scheint es, deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich empfinde den starken Wunsch, sie darauf anzusprechen, halte es aber nicht für angemessen. Denn ich bin selbst im Unklaren darüber, was mich so umtreibt. Ist es mein Bedürfnis, sie möge weniger unglücklich über seinen Zustand sein? Oder mein Bedürfnis, sie möge das letztlich doch recht gute Ergebnis unserer Behandlung anerkennen? Immerhin konnten wir den Patienten ja soweit bessern, dass er schmerzfrei und mit ruhiger Atmung friedlich dösend im Bett liegen kann, in einem Zustand, den ich eigentlich nicht als unwürdig betrachten möchte. Ich weiß, es wäre unangebracht, die belastete Ehefrau mit einer Erörterung von etwas wie dem gegenseitigen Würdeempfinden zu behelligen. So bleibe ich stattdessen eine kleine Weile an der Seite des Patienten stehen, fasse seine schlaffe Hand. Dann folge ich einem Impuls, ihn kurz aufzuwecken und seine Reaktion zu prüfen. Tatsächlich reagiert er auf meinen Händedruck und meine laute Frage, wie es ihm gehe, indem er die

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 16–21, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Francisco Jose de Goya y Lucientes, Self-Portrait with Dr. Arrieta, 1820 / Bridgeman Images

Die Beeinträchtigung seiner Autonomie macht den Menschen W ü r d e   – e i n K o n j u n k t i v ?    1 7 in jeglicher Hinsicht vulnerabel und natürlich ist die Gefahr groß, dass dadurch seine Würde verletzt wird.

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Augen öffnet und mich ruhig und freundlich anschaut. Ermutigt von seiner adäquaten Reaktion nutze ich die Gelegenheit, um mir ein Bild von seiner Orientiertheit zu machen, und beginne eine kleine Konversation: »Herr Förster, Sie haben Besuch, Ihre Frau sitzt hier bei Ihnen, sehen Sie mal.« Er schaut umher, erkennt seine Frau, ein Lächeln geht über sein Gesicht, er nickt. Ob ich ihm ein paar weitere Fragen stellen könne, taste ich mich voran, wir hätten uns ja bisher noch nicht unterhalten. Erneutes Nicken. »Ich bin übrigens die Ärztin, Sie sind hier im Krankenhaus.« Er schaut mir prüfend ins Gesicht, dann werden langsam seine Lider wieder schwer und ich will gerade meinen Händedruck lösen, um ihn schlafen zu lassen, aber dann gibt er Antwort. »Ach so, die Frau Doktor.« Er spricht verlangsamt und flüsternd, aber verständlich. Jetzt ist seine Ehefrau aufgestanden und stellt sich dicht neben mich. Sie wirkt fast erschrocken. Ich mache noch einen Vorstoß. »Haben Sie Kinder?« »Nein, keine Kinder«, formuliert er langsam. »Was waren Sie denn früher von Beruf?« »Schreiner«. Erneut geht dabei ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, dann döst er wieder ein. Seine Gesichtszüge sind sehr entspannt. Als ich mich zu seiner Frau umdrehe, weiß ich ihren fassungslosen Gesichtsausdruck nicht recht zu deuten. Ist sie wieder enttäuscht? Noch während ich mich das frage, beugt sie sich zu ihrem schlafenden Mann hinunter, umarmt ihn lang, dreht sich dann zurück zu mir und strahlt. »Dass er das wusste! Dass er so gesprochen hat mit Ihnen! Dass er das alles richtig wusste! Es gibt ihn ja doch noch.« Wir verabschieden uns mit einem langen Händedruck. In einem späteren Kärtchen an die Station schildert die Ehefrau, dass die Pflegesituation zu Hause jetzt für alle gut sei, und sie bedankt sich für den schönen würdigen Zustand, in dem wir ihren Mann entlassen hätten. Als der Assistenzarzt mich fragt, was sie mit dieser Formulierung gemeint habe, antworte ich: »Es heißt ja, Schönheit liegt im Auge des Betrachters, und Würde vielleicht auch.«

Wenige Tage später telefoniere ich mit Herrn Horn. Er lässt sich ambulant von mir behandeln und begleiten, einen Krankenhausaufenthalt hatte er Wochen zuvor, unmittelbar am Tag seiner Diagnosestellung, kategorisch abgelehnt. Wenn er jetzt Lungenkrebs habe, teilte er damals mit, dann wisse er schon selbst, was zu tun sei, dafür brauche er kein Krankenhaus und keine Ärzte. Es hatte eines langen, klärenden Gesprächs bedurft, um einen Zugang zu der Position des Patienten zu finden. Umgekehrt als sonst, war dabei ich selbst die skeptische und besorgte Gesprächspartnerin gewesen, der Patient hingegen schien sich seiner Sache sicher. Mich hatten Gedanken an  eine Suizidgefahr des Patienten und Sorge vor seiner Fehleinschätzung der drohenden körperlichen Beschwerden beherrscht, unweigerlich würde ihm ohne ärztliche und klinische Behandlung eine schwere Leidenszeit mit Schmerzen, Luftnot und Schwäche bevorstehen. Meine Anstrengung, seine Position verstehen und nach Möglichkeit zu akzeptieren, und mein hartnäckiges Angebot, auch bei Behandlungsablehnung doch wenigstens lindernde Medikamente zuzulassen, würdigte der anfänglich sehr distanzierte Patient mit zuletzt sehr offenherziger Schilderung seiner Lebensumstände und Wertvorstellungen. Er beharrte auf seinem Entschluss, sich keiner Behandlung zu unterziehen und keinen Arzt zu konsultieren, außer eventuell und allenfalls künftig mich, falls ich lindernd und mit so wenig Schulmedizin wie möglich helfen könne. So war inzwischen ein Modus entstanden, in dem er sich einmal pro Woche anrufen ließ und seinen Zustand schilderte. Mittlerweile hatte er sogar, trotz seiner Ablehnung der Schulmedizin, einige Medikamente zur Besserung zunehmender Beschwerden akzeptiert, wenn auch jeweils mit viel Erklärungsbedarf und detailgetreuer Benennung der möglichen Nebenwirkungen. Dabei hatte er mit seiner eigenwilligen Sicht auf die Dinge eine passende Umgangsweise für sich gefunden, indem er mit Galgenhumor verkündete: »Wenn ich sowieso bald sterbe, dann kann ich ja

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Liegt die Schönheit im Auge des Betrach­ ters, dann liegt die Würde nicht nur, aber auch in der Wahrneh­ mung des Gegenübers.

© Ulrike Rastin

auch diese giftige Chemie einnehmen, wenn es mir davon noch eine Zeitlang etwas besser geht.« Am Tag meines neuerlichen Telefonates höre ich sofort, dass die Situation sich deutlich verändert hat. Seine Stimme ist brüchig und leise, seine keuchende Kurzatmigkeit erlaubt ihm nur abgehacktes Sprechen. Er sei schwach und seine Stimmung sehr labil. So anstrengend habe er sich das nicht vorgestellt. Zum ersten Mal klingen Angst und Verzagtheit aus seiner bisher so entschlossenen Haltung. Ich frage im Detail seine einzelnen Symptome ab und wir besprechen, wie und mit welchen Medikamenten oder Hilfsmitteln Besserung zu erreichen sein kann. In einer schweigsamen Pause, in der sein schwerer Atem seine Angst hörbar macht, biete ich ihm vorsich-

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tig an, sich vielleicht doch für einige Tage in stationäre Behandlung zu begeben. Die Antwort kommt prompt: Nein, auf keinen Fall. Eigentlich würde er zurzeit sowieso am liebsten aus dem Fenster springen, nur habe er ja leider nicht die Kraft, aus dem Erdgeschoss ins obere Stockwerk zu gelangen. Ich verberge mein Erschrecken darüber, dass meine frühere Sorge sich nun doch zu bewahrheiten scheint und er zu unguter Letzt den Suizid als einzigen Ausweg aus seinen Beschwerden betrachten könnte. Aus dem Gefühl heraus, dass Herr Horn und ich uns inzwischen gut kennen und immer sehr offen miteinander sprechen, quittiere ich seine Bemerkung spontan mit mutigem Galgenhumor und höre mich betont trocken sagen: »Ach, Herr Horn, wenn Sie’s jetzt wirklich darauf anlegen wollen, dann finden Sie bestimmt auch ohne das Fenster eine Möglichkeit.« In der Gesprächspause, die nun folgt, halte ich mit leisem Schreck über meine forsche Äußerung den Atem an und höre, wie auch er trotz seiner Luftnot kurz stockt. Gerade will ich eine abwiegelnde Bemerkung formulieren, da spricht er wieder, und jetzt klingt seine Stimme fest und gar nicht mehr brüchig: »Auf keinen Fall. Ich möchte das hier mit Anstand und Würde zu Ende bringen.« Bei einem nächsten Telefonat schildert er mir eine von außen betrachtet desolate häusliche Situation. Er sei jetzt mit seinem Bett in den Flur vor die Badezimmertür umgezogen, weil ihm der Weg dorthin sonst zu weit sei. Wenn er nicht schnell genug sei, nässe er sich ein. Die Ehefrau nächtige neben ihm auf einer Matratze auf dem Boden. Er ernähre sich nur noch schluckweise von Suppe, alles andere führe zu Erbrechen. Ich denke an meine letzte persönliche Begegnung mit Herrn Horn, wie der pensionierte Studiendirektor gepflegt, selbstbewusst und kontrolliert vor mir saß, ein würdevoller älterer Herr. Ich denke auch an seine Worte damals: »Das Krankenhaus würde mich vom Riesen zum Zwerg machen. Das wäre meiner nicht würdig.« Die Beschreibung seiner jetzigen häuslichen Situation

drängt mir den Gedanken auf, jetzt müsse er sich wohl doch klein gemacht fühlen, zwar nicht vom Krankenhaus, aber von seinen eigenen körperlichen Beschwerden. Ich stelle ihn mir ausgeliefert vor und seiner würdigen Haltung beraubt. Gerade will ich deshalb einen neuen Appell an ihn äußern, ob er nun wenigstens zusätzliche Hilfsmittel oder einen Pflegedienst akzeptieren wolle, da setzt er seine Schilderung mit klarer Stimme fort. Sie hätten ja ein so wunderbares Herbstwetter in letzter Zeit, er liege tagsüber viel auf der Veranda, genieße seinen Gartenblick und seine Blumenpracht, empfange Besuch von den Kindern, schmökere gemeinsam mit seiner Frau in alten Familienalben und schwelge in schönen Erinnerungen an Reisen und Urlaube. Seine Schmerzen und die Luftnot seien mit den jetzigen Medikamenten und in der ohnehin zumeist liegenden Position gut kontrolliert. Überhaupt gehe es ihm jetzt wieder viel besser, eigentlich fast richtig gut. Wenn ich verstünde, wie er das meine. Wir schweigen beide eine Weile und dann sage ich: »Ja, ich verstehe.« Herr Horn braucht keine weiteren Hilfsmaßnahmen. Er ist ein würdevoller älterer Herr. »Würde ist ein Konjunktiv.« Dieser Satz stammt vom Biologen und Verhaltensforscher Wolfgang Wickler (zitiert nach Dahl, 2010) als eine Art bissiger Kommentar zur Überstrapazierung des Begriffs Menschenwürde in bioethischen Debatten. Mir kommt dieses Wortspiel oft bei der Begegnung mit der menschlichen Verletzlichkeit einzelner Patienten in den Sinn. Ist sie denn unantastbar, die Würde des Menschen, oder ist diese Maxime doch eher ein Appell? Wie gut merken wir, wenn die Würde Gefahr läuft, verletzt zu werden? Ich erkenne in der täglichen Arbeit im Krankenhaus durchaus das Anerkenntnis der Menschenwürde als gemeinsame Basis unseres medizinischen und pflegerischen Handelns. Aber ich erkenne auch oft, wie trotzdem die Würde einer einzelnen Person, einer Persönlichkeit außer Acht gerät.

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Eine Metaanalyse des Bioethikers Albert Balaguer und seiner Arbeitsgruppe (RodríguezPrat et al. 2016) benennt ein multidimensionales Konzept aus Würde, Autonomie und Kontrolle als Basis der Wahrnehmung der persönlichen Identität. Dieser Darstellung kann ich gut folgen und möchte zugleich ergänzen, was mir in meiner Arbeit mit Patienten auffällt, deren Kontrolle und Autonomie krankheitsbedingt beeinträchtigt sind und die dennoch ihre Würde bewahren. Und dies, obwohl es zum allgemeinen Konsens zu werden scheint, dass nur ein Zustand vollständiger persönlicher Autonomie auch einen Zustand persönlicher Würde verkörpern könne. Die Beeinträchtigung seiner Autonomie macht den Menschen in jeglicher Hinsicht vulnerabel und natürlich ist die Gefahr groß, dass dadurch seine Würde verletzt wird. Stünde jedoch die Würde vollständig synonym für Autonomie und Kontrolle, dann wäre bei deren Verlust auch keine Würde, keine Wahrung der persönlichen Identität mehr möglich. Im Gegenteil dazu erlebe ich aber täglich, dass gerade im schweren Krankheitsfall und beim Verlieren bestimmter Fähigkeiten die eigene Persönlichkeit eines Patienten klarer in den Vordergrund tritt, dass sein Charakter deutlicher erkennbar wird. Vor allem zeigt sich das in der Art des eigenen Umgangs mit der Erkrankung und den eigenen Verarbeitungsprozessen. Aber auch stark eingeschränkte Patienten, die kaum noch in der Lage sind, ihre Persönlichkeitseigenschaften zu vermitteln, besitzen ja ihre persönliche Identität. Nur braucht diese Identität dann einen Umweg, um zum Ausdruck zu kommen und anerkannt werden zu können. Dieser Umweg ist die Umgebung des Patienten. Die Außenbetrachtung und Wahrnehmung des beeinträchtigten Patienten von Seiten der Angehörigen und der Behandler, deren Reaktion auf den Patienten, ihr Austausch mit ihm, dies alles macht dann eine Reflexionsfläche aus, anhand derer die Identität des Patienten und damit seine Würde gewahrt werden können. Je mehr die autonomen Fähigkeiten in den Hintergrund gedrängt werden, desto mehr

treten die äußere Beachtung und Anerkenntnis der Person in den Vordergrund als tragende Säule in der Erhaltung ihrer Würde. Wenn Autonomie und Kontrolle abhandengekommen sind und keine Würde mehr vermitteln können, bleibt die adäquate und wohlmeinende Beziehungsaufnahme mit dem mitmenschlichen Gegenüber, um die Bestätigung der Identität zu erfahren, um sich der fortbestehenden Würde der eigenen Person zu vergewissern. In meiner eigenen Erfahrung wird diese Art von Austausch und Beziehungsaufnahme zu einem Patienten sogar oft zu einem sich gegenseitig bestärkenden Vorgang. Auf schwer erklärliche Weise stärkt die Würdigung der Würde meines Gegenübers auch meine eigene Identität und Menschenwürde. Martin Buber scheint recht zu behalten: Der Mensch wird am Du zum Ich. Insofern scheint mir die Würde des Menschen tatsächlich ganz ähnlich der Schönheit. Liegt die Schönheit im Auge des Betrachters, dann liegt die Würde nicht nur, aber auch in der Wahrnehmung des Gegenübers. Womöglich ist die Würde dann oft ein Konjunktiv. Aber noch öfter ist sie ein Imperativ. Der Imperativ, den Anderen zu sehen, zu erkennen und zu würdigen. Irmgard Layes ist Leitende Ärztin der Abteilung für Palliativmedizin, Katholisches Klinikum Koblenz-Montabaur. E-Mail: [email protected]

Literatur Buber, M. (1923/1995). Ich und Du. Stuttgart. Dahl, E. (2010). Die Würde des Menschen ist antastbar. Spektrum der Wissenschaft, Mensch und Geist, März, 2010: http://www.spektrum.de/magazin/die-wuerde-des-menschen-ist-antastbar/1019958 Rodríguez-Prat, A., Monforte-Royo, C., Porta-Sales, J., Escri­ bano, X., Balaguer, A. (2016). Patient perspectives of dignity, autonomy and control at the end of life: Systematic review and meta-ethnography. PLoS ONE 11(3): e0151435. doi:10.1371/journal.pone.0151435.

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Lassen Sie die nicht hinein! Menschenwürde und moralische Geographien in der ambulanten Pflege

Settimio Monteverde Menschenwürde zu erhalten und zu fördern gehört zu den zentralen Orientierungen pflegerischen Handelns (SBK, 2013). Worin ein würdiger Umgang mit dem pflegebedürftigen Menschen besteht, kann sich je nach Pflegesetting auf unterschiedliche Aspekte beziehen. Sie alle sind ­begründet im Recht des Pflegebedürftigen, als leibliches, seelisches, geistiges und spirituelles Gegenüber wahrgenommen zu werden, welches sich in einem biographischen Kontinuum bewegt. Gerade für die ambulante Pflege stellen sich hier spezifische Herausforderungen. Sie lassen sich mit dem durch die Pflegeethikerin Joan ­Liaschenko geprägten Begriff der »moralischen Geographie« treffend beschreiben (Liaschenko 2001). Räume der Autonomie und der Fürsorge Der pflegebedürftige Mensch erfährt sich als Wesen, das verletzlich ist und auf professionelle Unterstützung in grundlegenden Handlungen des Alltags angewiesen ist. Trotz dieser mittels professioneller Pflege beantworteten Abhängigkeit (Schwerdt 2012) ist die Grundannahme der Freiheit und der Zukunftsoffenheit des pflegebedürftigen Menschen für die Gestaltung von Pflegebeziehungen unverzichtbar. Daraus erwachsen zwei Anspruchsrechte, welche die Menschenwürde konkretisieren: Erstens steht Menschenwürde für das Recht des Individuums, nicht erniedrigt oder gedemütigt zu werden sowie in seiner biologischen, psychischen und moralischen Integrität geschützt zu werden. Zweitens beinhaltet Menschenwürde

das Recht, nicht in Umständen leben zu müssen, die außerhalb des Sinnhorizonts menschlicher Existenz liegen wie zum Beispiel in Sklaverei, extremer Armut, hygienischen Verhältnissen, die mit der Gesundheit unvereinbar sind, oder mit unerträglichem Leiden. Das erste Anspruchsrecht kann als eine Art Raum der Autonomie verstanden werden, welcher jedes Individuum kraft seines Menschseins umgibt. Auf ein solches beruft sich auch das deutsche Grundgesetz, wenn es von der Unantastbarkeit der Menschenwürde ausgeht. Das zweite Anspruchsrecht lässt sich als Raum der Fürsorge verstehen. Dieses bringt den Staat mit ins Spiel, welcher als ultimativer Garant durch das fürsorgende Wirken seiner Institutionen die Menschenwürde der Individuen schützt. Der enthüllte Mensch Es ist unschwer erkennbar, dass die autonomieund fürsorgeorientierte Dimension von Würde auch Spannungen generieren kann. Diese werden im Alltag der ambulanten Pflege besonders gut sichtbar. Begibt sich eine Patientin in Spitalpflege, enthüllt sie sich dem pflegerischen Gegenüber in der Regel nur soweit, wie es die Pflegebedürftigkeit jeweils erfordert (Monteverde 2013). Im Spital ist eine moralische Geographie erkennbar, die mit klaren Demarkationen zwischen Arztperson, Pflegeperson und Patient operiert (vgl. Liaschenko 2001; Peter 2003). Alle weisen »Uniformen« auf, die Funktionen, Erwartungen, Rollen und Hierarchien symbolisieren. Zur Rolle des Pa-

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 22–25, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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tienten gehört im Spital typischerweise die Ent­ hüllung mit einem nach vorne halboffenen und nach hinten vollständig offenen Patientennachthemd, welches den Zugang zum Körper für therapeutische Verrichtungen erleichtern soll, zur Rolle der Arzt- und Pflegeperson hingegen die Verhüllung mittels Arztkittel und -hemd. Sowohl Ent- und Verhüllung dienen hier als Mittel zum Zweck, nämlich die professionelle Behandlung von Krankheit oder Wiederherstellung von Gesundheit. Obwohl die ambulante Pflege weitgehend »uniformfrei« ist, ist die Enthüllung des Patienten durch die Intimität der Begegnung in den eigenen vier Wänden ungleich stärker: ein aufgeräumter Tisch, Berge an nicht gebügelter Wäsche oder an Müll, vertrocknete Zimmerpflanzen oder ein gepflegter Garten. Sie haben symbolischen Gehalt für den Betrachtenden, welcher daraus eine Art Lebensentwurf des Pflegebedürftigen ablesen kann und daraus interpretieren kann, welche Kraft er oder sie hat, diesen auch zu leben. Folgendes Beispiel aus einer ethischen Weiterbildung mit Pflegeexpertinnen macht dies deutlich: Eine betagte Frau mit Verdacht auf eine dementielle Entwicklung lebt allein in einem Reihenhaus. Die ambulante Pflege kommt drei Mal die Woche vorbei. Der Wohnbereich ist in einem hygienisch grenzwertigen Zustand. Die Klientin ist sehr misstrauisch und lässt nur ungern Fremde in ihr Haus. Zur Pflegeexpertin kann sie aber eine gute Beziehung aufbauen und schließt nach etwas Zureden jeweils die Tür auf. Die Nachbarn werden bei den Behörden vorstellig. Sie haben Angst, die Frau könne vergessen, beim Kochen den Herd abzustellen. Die Behörden melden sich bei der Pflegenden und teilen ihr mit, dass eine Sozialarbeiterin sie auf dem nächsten Besuch begleiten würde, um ein Assessment zu machen bezüglich Betreuungsbedarfes im Fall von Selbst- und Fremdgefährdung sowie

Verdacht auf Verwahrlosung. Im Wissen um ihre Ablehnung von Besuchen wird die Klientin nicht informiert. Beim nächsten Besuch öffnet die Klientin – wie immer nach etwas Zureden – die Tür. Als sie beide Frauen vor sich sieht, schaut sie mit großen Augen zur Pflegeexpertin und sagt: »Was will die andere hier? Ich kenne sie nicht! Lassen Sie die nicht hinein!« Die Pflegeexpertin äußerte bei der Weiterbildung den Eindruck, von den Behörden für einen »Kontrollbesuch« instrumentalisiert zu werden, in den die Klientin niemals eingewilligt hätte, wenn sie vorgängig angefragt worden wäre. Die Anfrage der Behörde an die Pflegeperson erfolgte gerade aufgrund der Tatsache, dass Erstere einen guten Zugang zur Klientin aufbauen konnte. Diese Umstände waren es, die die Pflegende als Verletzung der Würde der Klientin empfand. Menschenwürde als Schutz vor Entblößung Gerade in der ambulanten Pflege ist der Grat schmal, auf dem die Enthüllung durch das Auge des Betrachtenden zur Entblößung werden kann. Dieser Grat ist Ausdruck der Spannung zwischen der Menschenwürde als Recht auf persönliche Integrität einerseits und auf Schutz vor Verwahrlosung andererseits. Er steht für eine – im Vergleich zur stationären Pflege – veränderte moralische Geographie, in welcher der Patient weder »geduldig« (lateinisch patiens) ist noch Gast, sondern Auftraggeber, Gastgeber und Pflegebedürftiger zugleich. Was es heißt, zu Hause »Patient«, »Pflege-« oder »Arztperson« zu sein, muss in den Interaktionen mit dem pflegebedürftigen Menschen jeweils sorgfältig ausgehandelt werden. Moralische Geographie in der ambulanten Pflege verlangt Feldarbeit, welche die von der stationären Pflege bekannten Demarkationen relativiert respektive mit den

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Betroffenen immer wieder neu aushandelt (vgl. ­Andrews 2006). Es gilt, vorhandene Räume der Selbst- oder Mitbestimmung sorgfältig auszuloten und aus dem erkannten Schutzbedarf angemessene Maßnahmen abzuleiten, die dem autonomen und sozialen Raum von Menschenwürde gleichermaßen Rechnung tragen. Dies wirkt dem Risiko von Würdeverletzungen entgegen: Die Enthüllung des Patienten in den eigenen vier Wänden wird zwar erkannt und zugelassen, sie führt aber nicht zur Entblößung. Im Fall der Klientin konkretisierte sich dies darin, dass die Pflegeexpertin soziale Kontakte mit den Nachbarn vermitteln konnte, sowie in einem Mahlzeitendienst, zu welchem die Klientin schnell das Vertrauen gewann.

Gerade in der ambulanten Pflege ist der Grat schmal, auf dem die Enthüllung durch das Auge des Betrachtenden zur Entblößung werden kann. Dieser Grat ist Ausdruck der Spannung zwischen der Menschenwürde als Recht auf persönliche Integrität einerseits und auf Schutz vor ­Verwahrlosung andererseits.

Settimio Monteverde, Prof. (FH), Dr. sc. med., MME, MAE, RN, lic. theol., ist Dozent mit Schwerpunkt Ethik im Studiengang Pflege an der Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit. Er ist Ko-Leiter Klinische Ethik am UniversitätsSpital Zürich. Zu seinen Interessen gehören Grundlagen der Pflege- und Medizinethik, ethische Fragen der Palliative Care sowie des Ethikunterrichts in der Grund- und Weiterbildung der Gesundheitsberufe. E-Mail: [email protected]

Ferdinand Hodler, Madame Valentine Gode Darel, Ill, 1914 / Bridgeman Images

Literatur Andrews, G. (2006). Geographies of health in nursing. In: Health & Place, 12, S. 110–118. Liaschenko, J. (2001). Nursing work, housekeeping issues, and the moral geography of home care. In: Weisstub, D. N., Thomasma, D. C., Gauthier, S., Tomossy, G. F. (Hrsg.), Aging: Caring for our elders (S. S. 123–138). Dordrecht. Monteverde, S. (2013). Die Versprachlichung verletzter Würde. Perspektiven für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung. In: Meireis, T. (Hrsg.), Das Konzept der Würde im vierten Lebensalter (S. 151–165). Zürich. Peter, E. (2003). The home as a site of care: Ethical implications for professional boundaries and privacy. In: Ethica, (15) 2, S. 57–69. SBK Schweizerischer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Fachmänner (2013). Ethik und Pflegepraxis. Bern. Schwerdt, R. (2012). Advanced nursing practice  – Pflegeethische Implikationen anhand eines Fallbeispiels. In: Monteverde, S. (Hrsg.), Handbuch Pflegeethik. Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern beruflicher Pflege (S. 42–57). Stuttgart.

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Würde und Journalismus – würdiger Journalismus Susanne Conrad Grenzüberschreitungen im Journalismus Immer wieder gibt es Meldungen dazu und manchmal erleben wir es sogar selbst: Da bildet sich auf der Autobahn plötzlich ein Stau – es geht nur noch im Schritttempo voran, weil Gaffer eine Unfallstelle nur langsam passieren. Immer häufiger werden Polizei und Rettungskräfte in ihrer Arbeit behindert, Verunglückte fotografiert oder gefilmt und die Bilder dann ins Netz gestellt. Nicht selten sind Unfallopfer schneller auf YouTube als im Krankenhaus. Das hat ein Stück weit mit menschlicher Neugier zu tun, geht aber weit darüber hinaus. Hier werden Grenzen überschritten, die ein rücksichtsvoller Umgang und Achtung vor der Würde des anderen eigentlich gebieten. Manchmal verhalten Journalisten sich wie Gaffer – das Opfer wird zur Beute, wird gejagt und »erlegt«. Aber das ist nicht die eigentliche Aufgabe des Journalismus. Er soll als sogenannte »Vierte Gewalt« im Staat anhand von Fakten informieren, zur Meinungsbildung der Bürger beitragen und die Mächtigen durch kritische Begleitung kontrollieren. Das bedeutet, Distanz zu wahren, nicht Partei zu ergreifen, sich »nicht mit einer Sache gemein, auch mit keiner guten Sache gemein zu machen«, wie der Journalist Hanns-Joachim Friedrichs es einmal formuliert hat. Gratwanderung Es ist ein ständiges Abwägen und ­Hinterfragen im Redaktionsalltag, denn oft ist es ein sehr schmaler Grat, auszuloten, wann man den Weg der Chronistenpflicht verlässt, der Sensationsgier des

Publikums nachgibt, sich zum Werkzeug einer bestimmten Seite machen lässt oder selbst manipuliert. Es ist nur eine dünne, manchmal kaum wahrnehmbare Linie zwischen den Persönlichkeitsrechten des Einzelnen und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Die Aufnahme des nackten, von Napalm verbrannten Mädchens, das schreiend auf die Kamera zuläuft, hat das Leiden, die Verzweiflung, den Schmerz eines Kindes für immer festgehalten. Es wurde zu einem Symbolbild der Grausamkeit des Vietnamkriegs. Bis heute ist Kim Phuc diesem Foto nicht entkommen. Ging hier das öffentliche Interesse über die Achtung der persönlichen Rechte? Die heute 53-Jährige meint »ja!«. Sie lebt weiter, mit den Brandnarben und den Schmerzen, setzt sich mittlerweile mit einer eigenen Stiftung für Kinder in Kriegsgebieten ein. Ihr Schicksal wurde zu ihrer Aufgabe. Das Foto des toten Uwe Barschel in der Badewanne im Genfer Hotel Beau-Rivage: Hier hatte sich ein Reporter Zutritt zu privaten Räumen verschafft und einen Menschen im Zustand der ultimativen Hilflosigkeit abgelichtet – im Tod. Hatte die Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der sogenannten Barschel-Affäre Anspruch darauf, dieses Foto zu sehen, oder wurde hier doch nur Sensationslüsternheit befriedigt? Bis heute wird darüber diskutiert. In ihrer Arbeit müssen Journalisten sich immer wieder selbst fragen: Was ist der Zweck meines Handelns? Worüber soll ich berichten, was zeigen und warum? Hanns-Joachim Friedrichs hat von der »Würde der Nachricht« gesprochen. Sie braucht Sachlichkeit, Distanz und Neutralität, keine »Hilfestellung«, kein Ausschmücken, ­keine

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 26–29, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Paul Klee, With the Eagle, 1918 / Bridgeman Images

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Die Forderung nach Transparenz, nach allumfassender und möglichst schneller Information sind die natürlichen Feinde von kritischer Distanz, Objektivität, dem Hinterfragen journalistischer Arbeit. Flut an Adjektiven, kein aufgesetztes Pathos, kein Tremolo in der Stimme. Journalisten sollten deshalb weder Jäger noch Moralapostel sein. Sie sollen »berichten, nicht richten«, sagt der frühere Leiter des ZDF-Studios in München, Ulrich Berls. Journalisten sind der Wahrheit verpflichtet – und nichts als der Wahrheit. Aber die hat es immer schwer gehabt, genauso wie ihre nahe Verwandte, die Würde. Auf drei Punkte möchte ich näher eingehen, die es Journalisten in ihrer Arbeit heute besonders schwer machen. 1. D  ie Schlacht um die öffentliche Aufmerksamkeit In der Flut von Ereignissen, die jeden Tag über uns hereinbricht, wird es immer schwieriger, die Aufmerksamkeit auf das Wichtige, das Relevante zu lenken, Interesse zu erregen. Und so überbieten sich die Medien in verbalen Superlativen, um überhaupt noch Gehör zu finden. Da wird ein Wintereinbruch schnell zur »Schnee­katastrophe«,

ein Unfall zur »Tragödie«, eine Fehlleistung oder Unregelmäßigkeit zum »Skandal«. Unter dem Druck von Quote und Auflage gilt es, ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Und dessen Interesse ist klar: Der Zuschauer oder Leser will emotional berührt, am besten mitgerissen werden, er will »nah dran« sein an den Ereignissen, so als ob er sie miterlebe. Um diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, sind Journalisten immer wieder ihrer eigentlichen Aufgabe, ihrer Verantwortung untreu geworden. Ein besonders eklatantes Beispiel, das schon fast dreißig Jahre zurückliegt, ist das Gladbecker Geiseldrama, eines der spektakulärsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte, bei dem Journalisten nicht nur eine unrühmliche Rolle spielten, sondern an dessen schrecklichem Verlauf sie auch Mitschuld tragen. Tagelang hielten im August 1988 zwei Bankräuber die Republik in Atem. Sie hatten Geiseln genommen und flüchteten durch Deutschland und die Niederlande, immer begleitet von einem Tross von Medienleuten. Einige Fotografen baten die Gangster damals, einer der Geiseln die

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­ istole doch noch einmal an den Kopf zu halten, P da man den entscheidenden Moment verpasst habe. Ein Zeitungsreporter setzte sich gar zu Tätern ins Auto, um ihnen den Weg zu zeigen und sie zu interviewen. Die Aussicht auf eine Exklusiv-Story ließ ihn und die anderen jede Rücksichtnahme gegenüber den Opfern vergessen. Am Ende fanden zwei Geiseln und ein Polizist den Tod. Die Würde stand hier auf verlorenem Posten. Dieser Sündenfall der Medienbranche hat zu nachhaltigen Diskussionen geführt, wie weit Berichterstattung gehen darf, wo ihre Grenzen sind. Wir führen diese Diskussion weiter, jeden Tag, auf vielen Feldern. Denn der Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums erstreckt sich nicht nur auf Verbrechen, sondern auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens: Ob im Dschungel-Camp, bei der Wahl des nächsten »Top-Models« oder im jüngsten Politskandal – die Würde der Akteure spielt nur eine nachgeordnete Rolle. Hier sei als ein Beispiel für viele der Umgang der Medien mit Bundespräsident Wulff genannt – und damit wären wir bei: 2. Medien als Kritik- und Kontrollinstanz Ganz sicher ist die kritische Begleitung politischer Prozesse, das Hinterfragen undurchsichtiger Umstände eine der wichtigsten Aufgaben des Journalistengewerbes. Aber auch hier weicht die Verpflichtung zu Sachlichkeit und Neutralität oft genug der Lust an der Skandalisierung. In unserem Rechtsstaat ist eines der wichtigsten Prinzipien die Unschuldsvermutung – fast ein Automatismus scheint dagegen die Schuldvermutung der Medien. Und sie entscheiden nicht selten, wen es wann trifft. So jedenfalls ist der bekannte Satz von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner zu verstehen: »Wer mit der Bild-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.« Der frühere Bundespräsident Christian Wulff und seine Familie haben das am eigenen Leib erfahren. Vom Strahlepaar wurden er und seine Frau zu Gehetzten im Skandalmo-

rast. Das Urteil, vor allem über ihn, war früh gefällt: Schuldig! Als Christian Wulff nach zweijährigen Ermittlungen 2014 schließlich von allen Vorwürfen freigesprochen wurde, da war der Aufzug längst im Untergeschoss angekommen. Wulff war von seinem Amt zurückgetreten, seine Familie zerstört, Häme über ihm ausgegossen, seine Würde mit Füßen getreten worden. Die Medien hatten ganze Arbeit geleistet – Distanz und Objektivität: Fehlanzeige. Ernüchtert hat Bettina Wulff in ihrem Buch »Jenseits des Protokolls« ihre Erfahrung so beschrieben: »Es ist alles ein großes Spiel, bei dem es nur ein Ziel gibt: Auflage zu machen! Und plötzlich Teil dieses Spiels zu sein, ein Spielball der gesamten Medien, denn da schließe ich andere Blätter mit ein, bei diesem Spiel irgendwie mitzumachen, um nicht gleich der Verlierer zu sein, das war für mich schon merkwürdig und hat mich von Beginn an überrumpelt.« Sie und ihr Mann hatten das Spiel mitgespielt und am Ende den Preis dafür zahlen müssen. Dieses Spiel der Medien, vor allem die öffentliche Demontage von Politikern, der längst nicht nur Christian Wulff zum Opfer gefallen ist, hat wiederum Auswirkungen auch auf das Meinungsbild und das Urteil der Bürger. Viele begegnen Politik und Politikern heutzutage mit Verachtung und Skepsis. Analysen des Mainzer Publizistikwissenschaftlers Hans Mathias Kepplinger machen deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten die politische Berichterstattung immer negativer wurde. Dazu kommt, dass nach Einschätzung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Thomas E. Patterson das Hauptmassenmedium, das Fernsehen, völlig ungeeignet ist, der Bevölkerung die komplexen Inhalte von Politik zu vermitteln. Politik ist vielschichtig und kompliziert, das Fernsehen dagegen sendet kurze Beiträge und muss vereinfachen. Zeit ist überhaupt ein Faktor, der in den Medien eine immer wichtigere Rolle spielt. Nichts ist älter als die Nachricht von gestern und für den Konsumenten offenbar nichts langweiliger als langatmige, komplizierte Darstellungen. Es muss

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  4  /  2 0 1 6

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schnell gehen – in jeder Hinsicht. Das Internet hat diesen Wettlauf gegen die Zeit noch verschärft. 3. Der Journalismus im Netz Die sozialen Medien sind kein Ort für profunde, hintergründige Informationen – 140 Zeichen und einen Hashtag bleiben für eine Mitteilung auf Twitter, ein kleines Nachrichtenfeld auf Facebook und das Video auf YouTube muss die Sinne »kitzeln«, damit es im Meer der Abermilliarden von »Posts« überhaupt wahrgenommen, damit es »geklickt« und »geliked« wird. »Gewinner« ist, wer die Ware »Neuigkeit« als Erster zur Verfügung stellt. Aber die Schnelligkeit geht auf Kosten der Gründlichkeit. Da bleibt keine Zeit, nach der Verlässlichkeit und Neutralität von Quellen zu fragen, Fakten zu prüfen, eine zweite Meinung einzuholen. Dazu kommt die Anonymität im Netz, hinter der sich Leichtfertige, Verantwortungslose, Einpeitscher gut verstecken können. Im Internet verbreiten sich Gerüchte und Lügen wie Lauffeuer, so wie beispielsweise die Nachricht eines Flüchtlingshelfers auf Facebook, der behauptete, vor dem LAGeSo, dem Berliner  Landesamt für Gesundheit und Soziales, sei ein geschwächter Syrer nach tagelangem Warten gestorben. Ein Aufschrei der Empörung, massive Kritik an den Behörden, landesweite Anteilnahme – bis sich herausstellte, dass die Geschichte des toten Flüchtlings frei erfunden war. Medien und Würde – wie geht das zusammen? Die Forderung nach Transparenz, nach allumfassender und möglichst schneller Information sind die natürlichen Feinde von kritischer Distanz, Objektivität, dem Hinterfragen journalistischer Arbeit. In einer Medienwelt, die den Gesetzen des Marktes folgt, hat derjenige Erfolg, der es versteht, Aufmerksamkeit zu erregen und die Lust an der Aufregung zu bedienen. Aber ­Tabubrüche, Wut und Entrüstung, Abscheu, Schadenfreude oder Häme lassen sich schwer vereinbaren mit Würde, Rücksichtnahme, Anstand und Respekt.

Kategorischer Imperativ Ich arbeite seit über dreißig Jahren als Journalistin – und auch wenn ich hier vor allem auf Entgleisungen und Fehlleistungen hingewiesen habe, muss ich feststellen, dass in unserer Medienlandschaft die seriösen Journalisten bei weitem überwiegen. Dass die Kollegen, die ich kenne und mit denen ich zusammenarbeite, ihr Tun ständig selbstkritisch hinterfragen. Aber man muss sich der Gefahren bewusst sein, um sie mit der gebotenen Sorgfalt und Sensibilität aufzuspüren und sich ihnen zu stellen. Journalisten müssen die Grundsätze des Presse­kodex des Presserats gewissermaßen »im Herzen« tragen. »Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse«, heißt es da. Und unter Punkt 9: »Es widerspricht journalistischer Ethik, mit unangemessenen Darstellungen in Wort und Bild Menschen in ihrer Ehre zu verletzen.« Die Achtung der Menschenwürde ist ein kategorischer Imperativ für jeden Medienschaffenden oder wie der Journalist Mathias Schreiber in seinem Buch über die Würde sagt: »Die moderne Medienwelt ist das dornenreiche Feld, über das die Würde zu schreiten versuchen muss.« Wir kämpfen dafür – vielleicht nicht immer erfolgreich, aber jeden Tag aufs Neue. Susanne Conrad, Studium der Literaturund Theaterwissenschaften, Germanistik, Anglistik und Philosophie, ist Moderatorin, Autorin und Redakteurin für verschiedene Sendungen des ZDF. Daneben Vorträge, Coaching sowie Moderationen verschiedener Veranstaltungen, u. a. »Deutsche Städte gegen Brustkrebs« – Informationsreihe für Brustkrebspatientinnen und Angehörige. Mitbegründerin und Vorstandsmitglied der Mainzer Palliativstiftung. Literatur Schreiber, M. (2013). Würde: Was wir verlieren, wenn sie verloren geht. München.

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Das Leben geht weiter, nur wie? Trauer in Zeiten des Internet Katrin Döveling Tod, Kriege und menschliches Leid, so scheint es, sind in unserem Leben durch Massenmedien omnipräsent. Nahezu täglich werden wir mit dem Thema Tod und Leid konfrontiert. Es mutet an, als haben wir uns an den täglichen Schrecken gewöhnt. Doch wenn das Thema auf einmal durch den Verlust einer nahestehenden Person in den eigenen direkten Familien- oder Freundeskreis rückt, dann wird es unmittelbar greifbar. Die Erfahrung, einen nahestehenden Menschen zu verlieren, gehört zu einer der einschneidensten Erlebnisse eines Menschen. Das Gefühl der Sicherheit schwindet. Tod als grundlegende menschliche Erfahrung (Bonanno und Keltner 2004; Neimeyer und Sands 2011) reißt Angehörige jeden Alters aus dem alltäglichen Leben; auf einmal ist nichts mehr, wie es war, und dennoch muss das eigene Leben weitergehen, nur wie?

gilt somit in der psychologischen Fachliteratur als grundsätzliche Copingstrategie. »If people exposed to an emotional event have an urge to affiliate, and if they experience recurrent emotion-related thoughts and images, the resulting interpersonal situation can be expected to involve what has been called the ›social sharing of emo­ tion‹« (Luminet et al. 2000, S. 663).

Trauer im Web 2.0

Das Teilen von Emotionen, das Social Sharing of Emotions (Rimé et al. 1998), zeigt positive Effekte auf die Emotionsregulation und kann das Auffinden von Bedeutungsstrukturen herbeiführen. Wird diese soziale Unterstützung in der realen Welt jedoch vermisst, so erfolgt zunehmend eine Zuwendung zu Online-Trauerportalen. Folgende Screenshots zeigen beispielhaft die Struktur der Foren, die es gestatten, vormals intime und private Gefühle mit Gleichgesinnten im »weltweiten Netz« zu teilen.

Dieser Artikel widmet sich dieser Frage vor dem Hintergrund der zunehmenden Relevanz sogenannter Trauerportale im Web 2.0. Denn Trauer, Trauerrituale, die Art und Weise, wie wir mit Trauer umgehen, sind keine rein privaten Phänomene. Sogenannte Trauerforen ermöglichen die Bearbeitung und das Teilen der Trauer und der damit verbundenen vielschichtigen Emotionen im virtuellen Raum des World Wide Web. Untersuchungen belegen, dass soziale Unterstützung als eine gewichtige emotionale Ressource zu verstehen ist (Döveling 2015a; Döveling 2015b; Döveling et al. 2016; Pierce et al. 1996; Stroebe und Schut 1999). Das Social Sharing of Emotions

Bild 1: Screenshot Trauerverlustforum

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 30–33, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

D a s L e b e n g e h t w e i t e r, n u r w i e ? Tr a u e r i n Z e i t e n d e s I n t e r n e t    3 1

Bild 2: Screenshot Meine Trauer.de

Psychologische Unterstützung durch das Web Aus medienpsychologischer Sicht wird dem Internet mittlerweile als potenziellem Ort psychosozialer Unterstützung vor allem hinsichtlich therapeutischer Behandlung von psychischer Krankheit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt (King und Moreggi 1998). Dabei herrscht generell Konsens, dass der Online-Austausch kurative Maßnahmen unterstützen kann (vgl. B ­ arak 1999). Doch Trauer stellt keine Krankheit dar, keine pathologische »Störung mit Krankheitswert« (FleckBohaumilitzky 2012, S. 67). Erstaunlicherweise haben jedoch Psychologen das Thema Trauer im Web noch nicht entsprechend für sich entdeckt. Dies verwundert, bedenkt man Möglichkeiten und Nutzen von Online-Gedenkseiten, Kondolenzbüchern, gar auch Möglichkeiten, den Verstorbenen online zu adressieren, Tonbandaufnahmen oder sogar Videos zu hinterlegen. Das Web bietet schier unerschöpfliche kommunikative Mittel. Nicht nur Tageszeitungen ermöglichen Hinterbliebenen die Gelegenheit, im virtuellen Web Abschied zu nehmen, ohne direkt vor Ort sein zu müssen. Tod und Trauer als basale, vormals intime menschliche Erfahrungen verlagern sich zunehmend ins Netz, sichtbar und mitfühlbar für jeden. In speziellen Trauerforen

werden tröstende Worte in Form von Gedichten und Versen online gestellt. Nicht nur Online-­ Tagebücher ermöglichen das Teilen der schmerzhaften Erfahrung, des Kampfes gegen den Tod, der Hoffnung, aber auch des unausweichlichen Verlusts und der damit verbundenen Emotionen wie der würdevollen und würdigenden Dankbarkeit gegenüber den Verstorbenen. Veröffentlichungen wie CDs und Bücher zum Thema bieten zudem weitere Unterstützung. Vor allem aber werden Trauerrituale online gepflegt, Gedenksteine veröffentlicht, virtuelle Kerzen angezündet, sogar Online-Blumen, -Bäume oder -Sterne für den Verstorbenen werden gepostet. Die Möglichkeiten der Trauerbearbeitung sind beträchtlich. Rituale verlagern sich ins Netz und schaffen durch das Teilen das Gefühl der Verbundenheit (Döveling 2015a; Döveling 2015b; Hård af Seger­ stad und Kasperowsk 2015; Döveling et al. 2016). Untersuchungen von OnlineTrauererfahrungen Vor diesem Hintergrund der aktuellen Tendenzen der Trauer im Netz widme ich mich in meinen Untersuchungen der Frage nach Motivstrukturen und inhärenten Emotionsprozessen (vgl. Döveling 2015a; Döveling 2015b; Döveling et al. 2016). Eine inhaltsanalytische Erfassung von Online-

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Trauererfahrungsberichten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (vgl. Döveling 2105a; N = 2127) zeigte unter anderem, dass es in der Tat vor allem mangelnde Unterstützung und Verständnis in der realen Welt sind, die viele Online-Trauernde thematisieren. Dabei werden aber nicht nur Worte ausgetauscht. Das Web überwindet die Grenzen der schriftlichen Kommunikation durch die Möglichkeit der visuellen Kommunikation mittels sogenannter Emoticons (Derks, Fischer und Bos 2008; Misoch 2006). Die assoziativ verbundene Logik der emotionalen Kommunikation, die in der direkten Kommunikation durch Gesichtsausdrücke oder Gesten enkodiert und dekodiert wird (vgl. Ekman 1984), lässt sich somit  – wenn auch in vereinfachter Form – im virtuellen Raum des Social Web finden. Im Sinne der continuing bonds (Klass, Silverman und Nickman 1996) ermöglicht das Internet zudem die direkte Adressierung des Verstorbenen. Dies erlaubt eine »Intimität aus der Distanz« (vgl. Horton und Wohl 1956), wie sie bis dato vor allem in der medienpsychologischen Literatur zur Rezeption von TV-Personen bekannt ist. Virtuelle Kerzen werden für die Verstorbenen angezündet, um gegenseitige Unterstützung zu demonstrieren. Zeitverläufe werden dargestellt, in denen Hinterbliebene nicht nur ihren Schmerz zum Ausdruck bringen, sondern ebenso den Verstorbenen adressieren können. Insgesamt ist festzuhalten, dass moderne Trauerforen Orte der Gemeinschaft darstellen, die eine Möglichkeit bieten, durch das Teilen der Emotionen eine Vertrautheit in der Gruppe herzustellen. Durch die Adressierung der Verstobenen wird demonstriert, dass diese weiter Teil des Lebens der Hinterbliebenen sind. Das virtuelle Netz wird damit nicht nur eine Begegnungsstätte von Trauernden, sondern ein Ort der »continuing bonds« (Klass et al. 1996). Das eigene Leben geht weiter, und durch die Plattformen werden die Erinnerungen an und die Verbindung mit

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dem Verstorbenen gepflegt und geteilt – wie eine Trauernde schreibt: »Du lebst weiter in meinem Herzen.« Das Internet bietet in Trauerportalen also eine Möglichkeit, sozio-emotionale Unterstützung zu geben und zu empfangen, Trauerrituale zu pflegen, das Leben des Verstorbenen zu würdigen und, auch wenn das eigene Leben nie mehr so sein wird wie zuvor, einen Ort der Begegnung zu finden, der Grenzen überwindet, räumliche wie zeitliche. Dr. phil. habil. Katrin Döveling, M. A. Dipl., ist Vertretungsprofessorin für Empirische Kommunikations- und Medienforschung an der Universität Leipzig. E-Mail: [email protected] Website: www.katrindoeveling.de Literatur Barak, A. (1999). Psychological applications on the internet: A discipline on the threshold of a new millennium. In: Applied and Preventive Psychology, 8 (4), S. 231–245. Bonanno, G. A., Keltner, D. (2004). The coherence of emotion systems: Comparing »on-line« measures of appraisal and facial expression, and self-report. In: Cognition and Emotion, 18, S. 431–444. Derks, D., Fischer, A., Bos, A. (2008). The role of emotion in computer-mediated communication: A review. In: Computers in Human Behavior, 24, S. 766–785. Döveling, K. (2015a). Emotion regulation in bereavement. Ssearching and finding emotional support in social net platforms, special issue: Memorial Culture. In: New Review of Hypermedia and Multimedia, 21 (1–2), S. 106–122. Döveling, K. (2015b). Help me. I am so alone. An analysis of online shared coping-processes of children and adolescents. In: Communications, European Journal of Communication, 40 (4), S. 403–423. Döveling, K., Hård af Segerstad, Y., Kasperowski, D. (2016). »Safe havens«. Online peer grief support and emotion regulation in coping with the loss of a close relative. Paper accepted in blind peer review, AOIR, 2016, Berlin. Ekman, P. (1984). Expression and the nature of emotion. In: Scherer, K., Ekman, P. (Hrsg.), Approaches to emotion (S. 319–344). Hillsdale, NJ. Fleck-Bohaumilitzky, C. (2012). Nicht jedermanns Sache. Indikatoren für Trauerbegleitung. In: Leidfaden  – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer, 1, S. 66–70. Hård af Segerstad, Y., Kasperowski, D. (2015). A community for grieving: Affordances of social media for support of bereaved parents. In: New Review of Hypermedia and Multimedia, 21 (1–2), S. 25–41. Horton, D., Wohl, R. R. (1956). Mass communication and para-social interaction: Observations on intimacy at a distance. In: Psychiatry, 19, S. 215–229.

King, S. A., S., Moreggi, D. (1998). Internet therapy and self-help groups – the pros and cons. In: Gackenbach, J. (Hrsg.), Psychology and the Internet: Intrapersonal, interpersonal, and transpersonal Implications (S. 221–244). Amsterdam u. a. Klass, D., Silverman, P. R., Nickman, S. L. (Hrsg.) (1996). Continuing bonds. New understandings of grief. Washington, DC, Bristol, London. Luminet, O., Bouts, P., Delie, F., Manstead, A., Rimé, B. (2000). Social sharing of emotion following exposure to a negatively valenced situation. In: Cognition and Emotion, 14 (5), S. 661–688. Misoch, S. (2006). Online-Kommunikation. Konstanz. Neimeyer, R. A., Sands, D. C. (2011). Meaning reconstruction in bereavement: From principles to practice. In: Neimeyer, R. A., Harris, D. L., Winokuer, H. R., Thornton, G. F. (Hrsg.), Grief and bereavement in contemporary society: Bridging research and practice (S. 9–22). New York, London. Pierce, G. R., Sarason, I. G., Sarason, B. R. (1996). Coping and social support. Handbook of coping. Theory, research, applications (S. 434–452). New York, NY. Rimé, B., Finkenauer, C. Luminet, O., Zech, E., Philippot, P. (1998). Social sharing of emotion. New evidence and new questions. In: Stroebe, W., Hewstone, M. (Hrsg.), European Review of Social Psychology (S. 145–189). Chichester. Stroebe, M. S., Schut, H. (1999). The dual process model of coping with bereavement: Rationale and description. In: Death Studies, 23, S. 197–224. Internetquellen www.trauer.org/ www.youngwings.de/ www.meinetrauer.de/ www.trauer-verlust-forum.de/

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Desorientiert mit Würde Begleitung alter Menschen mit der Diagnose Demenz mittels Validation nach Naomi Feil

Hedwig Neu Seit 2001 trainiere ich Pflege- und Betreuungspersonen sowie Angehörige von Menschen mit Demenz in Validation nach Naomi Feil. Validation (englisch: to value = wertschätzen) ist ein Konzept zur respektvollen empathischen Kommunikation mit alten Menschen mit Demenz. Die Kommunikationspartner der Betroffenen • lernen desorientiertes Verhalten als Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen zu entschlüsseln, • stellen sich empathisch auf ihr Gegenüber ein, • hören achtsam und aktiv zu, • bieten die Nähe an, die das Gegenüber braucht, • spiegeln Emotionen und Bedürfnisse auf der Basis von Empathie auch nonverbal und mittels Musik. Validation hilft alten Menschen mit Demenz, ihr Selbstwertgefühl zu stabilisieren, sich als Person, die respektiert und geliebt wird, zu erfahren und in Würde zu sterben. Mit folgendem Fallbeispiel wird ein Einblick in Validation vermittelt. Frau K., 92 Jahre, Diagnose: Spät beginnende Demenz vom Typ Alzheimer Frau K. lebt seit vier Jahren in einem Pflegeheim. Sie ist nicht nur kognitiv, sondern durch weitere Altersbeschwerden beeinträchtigt. Frau K. ist alterssichtig, schwerhörig, inkontinent. Sie leidet an Diabetes, an Herzinsuffizienz und ihre Mobilität ist eingeschränkt. Ihr Ehemann und zwei Geschwister sind in den letzten Jahren verstor-

ben. Aufgrund zunehmender Desorientiertheit musste sie in ein Altenheim ziehen. Frau K. tat sich schon immer mit Veränderungen schwer. Sie war nicht gewohnt, bedrängende Situationen und Gefühle an sich heranzulassen. Als ihr erstes Kind in der Nachkriegszeit tot geboren wurde, handelte Frau K. nach dem Augen-zuund-durch-Prinzip. Sie ging zur Tagesordnung über und wollte nicht auf ihren Verlust angesprochen werden. So ist sie auch als orientierte alte Frau mit den zunehmenden Einschränkungen durch das Älterwerden umgegangen. Frau K. empfand ihr Altsein genauso entwürdigend wie die sich ankündigende Demenz. Sie versuchte, ihre damit zusammenhängenden Ängste zu verdrängen. Mittlerweile ist Frau K. zeitverwirrt. Innerlich erlebt sie Episoden aus ihrer Vergangenheit wieder und drückt Gefühle und Bedürfnisse aus, die in ihrem früheren Leben nicht genug Beachtung gefunden haben. Frau K. braucht empathische Begleitung, um sich erleichtert zu fühlen und – wenn die Zeit gekommen ist – in Frieden sterben zu können. Frau K. sucht ihre Mutter Ich treffe Frau K. auf dem Flur des Altenheimes an. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie kommt mit ausgestreckten Händen auf mich zu, sichtbar um ihre Fassung ringend. »Frau K.«, sage ich, »was ist los?« Frau K. klagt: »Meine Mutter, wo ist meine Mutter? Eben war sie doch noch bei mir!« Ich korrigiere Frau K.s Wahrnehmung nicht, indem ich sie darauf hinweise, dass die Mutter nicht mehr lebt. Ich versuche

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 34–35, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

nicht, sie zu beruhigen, indem ich behaupte, dass die Mutter gleich wiederkommt. Ich passe mich mit Empathie an die Gefühle von Frau K. an und spreche diese aus. Gefühle sind immer wahr. Frau K. hat Heimweh und vermisst ihre Mutter. Deshalb fasse ich behutsam zusammen: »Sie vermissen Ihre Mutter, Frau K.?« »Oh ja«, sagt Frau K. und kommt mir so nah, dass ich sie in den Arm nehmen kann, »Sie fehlt mir so!« »Was fehlt Ihnen am meisten?«, frage ich. »Meine Mutter war immer für mich da!«, sagt Frau K. und erzählt, wie sie mit der Mutter zusammen Heidelbeeren gesammelt hat, um diese auf dem Markt zu verkaufen. Dabei beginnt ihr Gesicht zu leuchten. Ich berühre Frau K. einfühlsam mit beiden Händen an den Wangen und singe »Kommt ein Vogel geflogen«. Frau K. atmet erleichtert durch. Sie kann sich jetzt darauf einlassen, am Kaffeetrinken teilzunehmen und Kuchen zu essen. Wenn ihr Heimweh wieder aufkommt, kann ich sie wieder validieren. Bis zuletzt begleiten Mittlerweile kommt es vor, dass Frau K. sich immer weniger der Wörterbuchsprache bedient. Lautmalereien und sich wiederholende Bewegungen ersetzen die Sprache: »Herrje, je, Jesu«, wiederholt Frau K. immer wieder. »Herr Jesu?«, frage ich, dabei berühre ich sie sanft an der Schulter. Frau K. nickt zustimmend. Dabei schaut sie mich ernst an. »Hilft der Glaube?«, frage ich. Frau K. nickt. Ich stimme »Großer Gott, wir loben dich« an, ein Lied, das Frau K. von Kindheit an kennt. Frau K. singt einige Zeilen mit. Danach wirkt sie ruhiger und schläft ein. Validation nach Naomi Feil hilft nicht nur den Betroffenen. Sie hilft uns, die wir mit Menschen mit Demenz in Beziehung sind, die Hoffnung aufgrund der Diagnose nicht zu verlieren und in Kontakt zu bleiben. Wertschätzender, empathischer Kontakt lässt uns in Würde miteinander leben und, wenn es so weit ist, voneinander Abschied nehmen.

Oskar Schlemmer, Kleiner Kopf nach links geneigt, 1935 / akg-images

D e s o r i e n t i e r t m i t W ü r d e    3 5

Hedwig Neu ist Lehrerin für Pflegeberufe und »Validation-Teacher nach Naomi Feil«. Sie leitet das Autorisierte Validationszentrum (eine der drei Autorisierten Validationsorganisationen für Validation nach Naomi Feil in Deutschland) beim Landesverein für Innere Mission in der Pfalz e. V., einem diakonischen Träger unter anderem von acht Altenhilfezentren. Sie trainiert in Kursen, Seminaren und Workshops die Bezugspersonen von Menschen mit Demenz in der Anwendung von Validation nach Naomi Feil. E-Mail: [email protected] Literatur Feil, N., de Klerk-Rubin, V. (2013). Validation  – Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. 10. Auflage. München. Feil, N., de Klerk-Rubin, V. (2013). Validation in Anwendung und Beispielen. 7. Auflage. München. de Klerk-Rubin, V. (2014). Mit dementen Menschen richtig umgehen. Validation für Angehörige. 4. Auflage. München. Im Ernst-Reinhardt-Verlag sind in »Reinhardts Gerontologischer Reihe« weitere Print-, Audio- und Video-Medien erschienen, die für das Verständnis von Validation hilfreich sein können. Informationen zum Thema findet man außerdem auf der Website des Validation Training Institute: www.vfvalidation.org

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Das Projekt »Medi-Container im Flüchtlingscamp Neuwied« Ein ärztlicher Erfahrungsbericht

Georg Mock In diesem Artikel möchte ich über unser Projekt »Medi-Container im Flüchtlingscamp Neuwied« und meine Erfahrungen mit der Arbeit in medizinischer Flüchtlingsbetreuung berichten. Im Herbst 2016 haben sich mehrere Ärzte in Neuwied zusammengefunden, um sich konkrete Gedanken über die medizinische Versorgung der großen erwarteten Flüchtlingsströme zu machen. Damals war das folgende Szenario absehbar: Eine riesige Zahl von Flüchtlingen muss im Land versorgt werden, worauf die vorhandenen medizinischen Strukturen nicht adäquat vorbereitet sind (inzwischen sind die befürchteten Zahlen nach der rückläufigen Entwicklung im Jahr 2016 etwas nach unten korrigiert worden). Wie es begann Zu diesem Zeitpunkt gewannen wir den Eindruck, dass die Seite der politischen Verwaltung sich über diesen Aspekt nicht ausreichend Sorgen machte. Es schien, als ginge man davon aus, dass die vorhandenen Praxen und Krankenhäuser die Versorgung schon schaffen würden. Auch von Seiten der ärztlichen Standespolitik zeigten sich wenige Impulse zur Lösung des drohenden Problems. Dieses Gefühl war für uns Ärzte, die wir in einem sehr komfortablen deutschen Gesundheitssystem mit weitgehender Rundum-­Versorgung sozialisiert worden sind, neu und höchst besorgniserregend und so stellten wir uns mental auf katastrophale Versorgungslagen in den zu erwartenden Flüchtlingseinrichtungen ein.

Die ersten Berichte aus den bayrischen Auffangeinrichtungen ließen schreckliche Zustände mit multiplen schweren Erkrankungen als Konsequenz aus menschenunwürdigen Fluchtbedingungen erwarten. Dieser Gedanke, in unserer Stadt eine Masse von schlecht versorgten kranken Menschen beherbergen zu sollen, war für uns unerträglich und bildete den notwendigen Grundstock an intrinsischer Motivation, die unsere Projektgruppe bis heute in Schwung gehalten hat. Es bildete sich ein kleiner Kreis von sehr engagierten und effektiv arbeitenden Ärzten, die sich das Ziel setzten, innerhalb von drei Monaten eine funktionierende allgemeinmedizinische Basisversorgung in der geplanten Neuwieder Flüchtlingseinrichtung auf die Beine zu stellen. Wir entwickelten ziemlich schnell das Bewusstsein, dass wir zur Vermeidung einer humanitären Katastrophe sofort aus eigener Kraft tätig werden müssen. Auf diese Erkenntnis folgte eine Reihe von arbeitsreichen Wochen: Es wurde auf ehrenamtlicher Basis ein Sponsoring-System aufgebaut, da von offizieller Seite keine finanzielle Unterstützung absehbar war. Hier erwiesen sich die gängigen Social-Sponsoring-Clubs und einzelne aufgeschlossene Firmen aus dem lokalen Umfeld als unbürokratische Hilfe. Die Stadtverwaltung wurde dazu gebracht, einen leeren Container von ausreichender Größe in den Aufbauplan des Neuwieder Flüchtlingscamps zu integrieren. Wir richteten diesen Medi-Container in Eigenarbeit mit allem notwendigen Equipment zur medizinischen Versorgung ein, unter-

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 36–38, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

D a s P r o j e k t » M e d i - C o n t a i n e r i m F l ü c h t l i n g s c a m p N e u w i e d «    3 7

ßem Dank an alle verpflichtet, die unsere Idee bis heute in die Tat umzusetzen halfen. Ein Zwischenfazit Einerseits bin ich sehr beeindruckt von dem wirklich großzügigen, wie auch immer begründeten, Engagement der Ärzte und der Sprechstundenhilfen, die sich lediglich »für Gotteslohn« um die Versorgung der Flüchtlinge kümmern und ihnen damit auch wieder ein Würdeempfinden ermöglichen. Die Arbeit ist meines Erachtens in hohem Maße befriedigend, denn wir erleben dankbare Patienten, die unser freiwilliges Engagement äußerst schätzen und das auch mit ihren sprachlich begrenzten Mitteln immer wieder zum Ausdruck

© Georg Mock

stützt durch viele Sachspenden niedergelassener ­Ärzte aus der Umgebung. Die größte Schwierigkeit machte uns das Aufstellen eines funktionierenden Dienstplans, denn hier waren wir auf das vermutete und erhoffte Engagement seitens der ortsansässigen Ärzte und des Pflegepersonals angewiesen. Nach anfänglicher zögerlicher Zurückhaltung besonders seitens der Ärzte fanden sich durch intensive Kommunikationsarbeit jedoch eine ausreichende Zahl von Ärzten und Sprechstundenhilfen bereit, etwas von ihrer Freizeit für das Projekt zu investieren, sodass wir eine tägliche Sprechstunde von 18 bis 19 Uhr einrichten konnten. So haben wir es geschafft, unser selbst gestecktes Ziel in der anvisierten Zeitspanne zu erreichen, was uns zu gro-

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bringen. So gesehen macht mir in die Arbeit sogar Spaß, die Stimmung in unserem Medi-­Container ist in der Regel sehr gut, und wir empfinden diese medizinische Nothilfe als befriedigend und sinnvoll. Beruhigend dabei ist auch, dass sich das Ausmaß der festgestellten Erkrankungen und der Patientenzahlen als nicht so schlimm bewahrheitet hat, wie es im Herbst 2015 zu erwarten gewesen war. Andererseits hat es mich immer wieder erschüttert, wie gering die Zahl der bereitwillig helfenden Ärzte in unserem Stadtgebiet von Anfang an war und auch geblieben ist. In der Tat ruht unser Projekt auf wenigen verantwortungsbewussten Schultern und so möchte ich mich in meinen Schlussbetrachtungen auf die Menschen konzentrieren, die das Wagnis dieses ehrenamtlichen Engagements eingegangen sind. Was hat der Kontakt mit dieser exotischen und anfangs natürlich auch Unbehagen auslösenden Menschengruppe mit uns gemacht? Wir haben schon nach den ersten Sprechstunden gemerkt, dass wir mit den Flüchtlingen viel besser zurechtkommen, als wir befürchtet hatten, auch wenn die Sprachbarrieren sehr mühsam überwunden werden müssen. Und bei den oft grausamen Erfahrungen, die diese bedauernswerten Menschen in den vergangenen Monaten gemacht hatten, stießen wir auf durchweg sehr freundliche und dankbare Patienten, mit denen wir gut zusammenarbeiten können. Es wird viel gelacht, die Begrüßungen und Verabschiedungen sind meist herzlicher, als wir es von unseren deutschen Patienten so kennen. Mir vermitteln die Flüchtlinge oft das Gefühl, dass ich mit meiner Lebenssituation großes

Glück gehabt habe und meinem eigenen Schicksal immer wieder dankbar sein sollte. »Mitleid« mit Flüchtlingen klingt nach »Leid«, aber diese Konnotation ist in meinem Bewusstsein schon längst nicht mehr vorherrschend. Mitleid ist für mich ein Verstehensansatz, ruft mich auf zum Handeln und ist eine angestammte menschliche Regung, die mir in meiner psychologischen Innenbilanzierung weniger »Kosten« als »Gewinne« vermittelt: Jede Betrachtung über das Erleben von sozialem Glück beinhaltet das bekannte Forschungsergebnis, dass ein karitatives Engagement für Mitmenschen, denen es weniger gut geht als mir selbst, nachhaltig positiven Einfluss auf mein eigenes Glückserleben und meine gesamte Lebenszufriedenheit hat, vermutlich in wesentlich höherem Maße als eine weitere Steigerung meiner Gehaltsstufe oder meines Praxisgewinns. Hinzu kommt beim Umgang mit diesen Flüchtlingen, deren Schicksal bereits in jungen Jahren schreckliche Erlebnisse für sie bereitgehalten hat, ein immer wieder überraschendes Gefühl von Dankbarkeit, dass uns diese Erfahrungen von Krieg, Verfolgung und Flucht erspart geblieben sind und uns wie unseren Kindern hoffentlich auch für den Rest unseres Lebens erspart bleiben … Georg Mock ist nach zwanzigjähriger Tätigkeit in der Pädiatrie, der Inneren Medizin, der Urologie, der Chirurgie und der Psychotherapie in einer Praxis als Hausarzt mit den Qualifikationen Allgemeinmedizin, Palliativmedizin und Geriatrie tätig. E-Mail: [email protected]

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»Etwas von ihm ist eingefangen und bleibt für immer« – Wie erleben Angehörige von Patienten einer Palliativstation die Würdezentrierte Therapie? Ein Erfahrungsbericht aus der palliativpsychologischen Arbeit

Sandra Stephanie Mai Wenn Patienten die Würdezentrierte Therapie des vorläufigen Dokuments. Letztlich wird aus angeboten bekommen, beginnt unser Gespräch dieser schriftlichen Vorlage in Absprache mit dem oft mit dem Bild, dass die Persönlichkeit des Pa- Patienten das Generativitätsdokument erstellt, das tienten von der Erkrankung zugedeckt wurde. einer oder mehreren vorab benannten Person(en) Die Patienten berichten davon, wie viel Raum hinterlassen werden kann. die Symptome, die Leiden, die HilfsbedürftigDamit berührt die WzT im Kern die Essenz der keit, die Ungewissheiten und auch die organisa- Persönlichkeit der Patienten sowie den Wunsch torischen Fragen einnehmen. Wie sie teilweise nach Generativität. Was ist damit gemeint? Die viel mehr als Patient und weniger als Person, als Essenz der Persönlichkeit ist das im Laufe des Mensch wahrgenommen werden. Lebens entwickelte Selbst. Das, was mich ausMit der Würdezentrierten Therapie steht ausge- macht, was mich auch von anderen unterscheibildeten Fachkräften eine sinnstiftende Kurzinter- det, das, »wer ich bin«. Lei­der liegt das Wissen davention für Palliativpatienten rüber, »wer ich bin« im Kontext zur Verfügung. Würdezentrierte von Erkrankung und Leiden für Entscheidet sich eine Therapie (WzT) steht im Deut- ­Person dazu, eine Hin­ Patienten allzu häufig unter der schen für die in Kanada von Wahrnehmung dessen, »was ich terlassenschaft zu gene­ habe«, verborgen (­Chochinov Professor Harvey M. Chochi­nov entwickelte Dignitiy Th ­ erapy. rieren, wird darin auch 2012, S. 14). Durch das Erzählen In wenigen Kontakten wird mit im geschützten Raum gelingt es Liebe festgehalten. Patienten ein schriftliches VerPatienten, ihre Rollen, ihre Leismächtnis für geliebte Menschen gestaltet. Da- tungen, ihr Selbstbild aufrechtzuerhalten. Das bei bildet eine Auswahl an empirisch generier- anschließende Hören des eigenen Narrativs ist ten Fragen die Vorlage für ein circa einstündiges eine sinnstiftende Erfahrung in einer durch vieInterview, in dem sinnstiftende Lebensereignisse, le gesundheitliche Herausforderungen und defiwichtige Epochen, persönliche Leistungen sowie zitäre Erfahrungen gezeichneten Zeit. Es legt den Rollen stärkende und Selbstwert bewahrende Auf- Grundstein für das Eingehen auf den Wunsch gabenbereiche der Patienten besprochen werden. nach Generativität. Generativität, nach dem EntVon der Audioaufnahme dieses Gesprächs wird wicklungspsychologen Erik H. Erikson, bedeutet, ein Transkript erstellt, welches dann im Nachgang Liebe in die Zukunft zu tragen, sich um zukünfeditiert wird. Essenziell ist auch der nächste The- tige Generationen zu kümmern und demnach rapieschritt: das Vorlesen der editierten Version etwas zu hinterlassen (­Chochinov 2012, S. 16).

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 39–42, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Was bedeutet es für Angehörige, ein solches Dokument als Hinterlassenschaft zu bekommen? Ein Vermächtnis als Geschenk? Stütze und Trost in Zeiten der Trauer? Oder Ratschläge als Bürde für das weitere Leben? Im Rahmen einer Studie von Susan McClement (McClement et al. 2007) gaben in Kanada und Australien 60 Familienmitglieder Rückmeldung zu ihren Eindrücken zur WzT: 78 Prozent der Familienmitglieder gaben an, dass die WzT in ihrer Trauer hilfreich war. Die Rückmeldungen ergaben zudem, dass die hinterlassenen Dokumente zum Großteil an einem »sicheren Ort« aufbewahrt werden, zusammen mit wichtigen persönlichen Dingen oder Stammbüchern der Familie. Es wurden Kopien verteilt und häufig wurde das Dokument zur Grundlage für Grab­ reden und Nachrufe. Die von McClement beschriebenen Beobachtungen decken sich mit den Erfahrungen in der psychologischen Arbeit mit Palliativpatienten im Rahmen der Würdezentrierten Therapie. Die Angehörigen berichten davon, dass der schriftliche Nachlass ein wertvoller Schatz sei, der an einem besonderen Ort bewahrt werde. Sie er-

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Oskar Schlemmer, Profil in Gelb, 1922 / akg-images

Vor ein paar Wochen war es soweit: Ich bekam mein erstes für mich bestimmtes Generativitätsdokument überreicht. »Meine Güte ist das schwer!«, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte das Gefühl, leicht in die Knie zu gehen. Natürlich wog das 18-seitige Dokument nicht wirklich mehr als die Dokumente ähnlichen Umfangs, die ich zuvor und auch danach an Angehörige begleiteter Patienten weitergegeben habe. Es war das Gewicht der Schwere eines bevorstehenden Abschieds. Es war die Schwere der antizipierten Trauer. Es war feierlich und markierte dabei etwas Endgültiges, das kommen wird. Ungewiss, wann, und gewiss nicht mehr fern. Ich war plötzlich auch Angehörige, plötzlich nicht mehr in der sicheren und professionellen Rolle als Psychologin und Expertin für Würdezentrierte Therapie.

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zählen auch, dass der Inhalt des Dokuments Ge- Mal erfahren? Und ist dies sinnvoll? Oder ist hier spräche innerhalb der Familie anrege. Und Trost, der Empfänger zu schützen? Wenn beispielsweise immer wieder Trost. Gerade zurückbleibende El- ein Patient im Interview erzählt, das Kind sei der ternteile berichten von der Kraft des hinterlas- Grund der Trennung der Eltern oder der eigesenen geschriebenen Wortes für die verwaisten ne Alkoholismus entsprang der UnzufriedenKinder. »Es ist schön, beim Lesen seine Redens- heit mit der Beziehung: Ist es das, was hinterlasweise in Erinnerung gerufen zu bekommen und sen werden soll? Nein. Keines der Dokumente immer wieder bewusst werden darf dazu missbraucht werden, lassen zu können, was ihn aus- Die W ­ ürdezentrierte The­ eine Hinterlassenschaft als Abgemacht hat.« rapie berührt im Kern die rechnung zu formulieren. »Was Die WzT bedeutet jedoch ich dir schon immer mal sagen auch, sich mit dem Thema Hin- Essenz der ­Persönlichkeit wollte …« sollte entweder pro­ atienten. Die Essenz fessionell moderiert im Hier terlassenschaft zu beschäftigen, der P sich auch mit den Themen Abund Jetzt besprochen werden der Persönlichkeit ist schied, Trauer, Sterben und Tod das im Laufe des Lebens oder vielleicht doch lieber unauseinanderzusetzen. Eine Anausgesprochen bleiben dürfen. ­entwickelte Selbst. gehörige teilte mir mit, dass sie Im Fall eines von Vorwürfen zunächst »ganz schön schlugeprägten Interviews konnte in cken musste«, als sie die Interviewfragen im Zim- den weiteren Begegnungen zur WzT mit dem Pamer ihres Mannes liegen sah: »Wer es nicht rea- tienten erarbeitet werden, dass er in diesem Verlisieren will, wird hier unmittelbar mit dem Tod mächtnis keine Schärfe hinterlassen möchte. Das, konfrontiert.« Sie hat Recht. Die Bereitschaft zur was bleiben solle, sei die Liebe. Teilnahme an der WzT setzt zwar nicht immer, Die seit vielen Jahren mit onkologischen Paaber doch in der Regel die verbalisierte Akzep- tienten arbeitende amerikanische Psychologin tanz des eigenen Sterbens voraus. Nicht wenige Lori P. Montross Thomas (2015) beschrieb ihre Angehörige bringen nach dem Tod der Patienten grundlegende Beobachtung aus über 120 Patiennochmals explizit die Überzeugung zum Aus- teninterviews im Rahmen der WzT: »Was haben druck, dass die WzT für ihre Lieben ein wichti- wir entdeckt? Liebe. Ja, Liebe.« Obwohl keine der ger Schritt auf dem letzten Weg war und dass der Fragen des Interviewleitfadens explizit nach LieEindruck entstand, nach Fertigstellung des Do- be fragt, »explodieren« alle Dokumente, die sie kuments sei etwas abgeschlossen oder »rund«, erstellt und gelesen hat, vor Liebe. Dieser Beobso dass die Patienten schließlich loslassen und achtung ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Ent»gehen« konnten. scheidet sich eine Person dazu, eine HinterlasAufgrund des weitreichenden Einflusses der senschaft zu generieren, wird darin auch Liebe WzT über den Tod hinaus bedeutet die Arbeit festgehalten. Wenn nicht die Liebe zu einer bemit den Patienten zur Erstellung eines Doku- stimmten Person, dann die Liebe zum Leben an ments nicht nur, schnell in eine enge therapeu- sich. Und das ist sicher ein großer Trost für die, tische Beziehung mit dem Patienten zu gehen, die zurückbleiben: lesen zu dürfen, dass die Versondern auch, den Empfänger des Dokuments storbenen geliebt haben. »Wer lieben kann, ist zu bedenken. Der Fokus liegt daher bereits im glücklich« (Hermann Hesse). Interview auch auf der Person, die diesen geIn diesem Sinn bin ich nach meiner Erfahrung danklichen Nachlass bekommen soll. Weiß sie sehr davon überzeugt, dass die Würdezentrierte über dies oder jenes bereits Bescheid oder wird Therapie für die, die sich darauf einlassen könsie dies beim Lesen des Dokuments zum ­ersten nen, ein Weg ist, mit dem der Liebe über den Tod

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Sandra Stephanie Mai, Diplom-Psycho­ login, arbeitet seit 2011 in der Interdisziplinären Abteilung für Palliativmedizin der Universitätsmedizin Mainz. Sie ist Mitglied im Vorstand der Mainzer Hospizgesellschaft e. V. sowie Mitbegründerin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde e. V. mit Sitz in Mainz.

­ inaus Ausdruck verliehen werden kann. Die Erh fahrungen von Angehörigen weiter zu erforschen, ist eines der Ziele der ­Forschungsgruppe in Mainz. »Als Angehörige bin ich dankbar für dieses Dokument. Denn von anderen kann ich es schon nicht mehr bekommen.« Einige Tage nachdem sie das Dokument ihres Mannes bekommen hat, rief mich eine Angehörige an. Sie habe Hemmungen und traue sich nicht hineinzulesen. Was wohl darin zu lesen sei, war die Frage, die sie beschäftigte. Wieder einige Tage später rief sie erneut an. Von ihr stammt das Zitat im Titel dieses Erfahrungsberichts.

E-Mail: [email protected] Literatur Chochinov, H. M. (2012). Dignity Therapy – Final words for final days. New York. Hesse, H. (1986). Wer lieben kann, ist glücklich. F ­ rankfurt a. M. McClement, S., Chochinov, H. M., Hack, T., Hassard, T., Kristjanson, L. J., Harlos, M. (2007). Dignity Therapy: Family member perspectives. In: Journal of Palliative Medicine, 10 (5), S. 1076–1082. Montross Thomas, L. P. (2015). What are the most loving moments of your life? In: Journal of Palliative Medicine, 18 (5), S. 398.

© Christiane Knoop

Website mit Informationen zur Würdezentrierten Therapie: www.patientenwuerde.de

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Neue Gedanken zum Thema Kommunikation und Würde Sylvia Brathuhn Wir Menschen haben ein sogenanntes Denkwissen, das wir abrufen und ausdrücken können, wenn wir über ein bestimmtes Thema nachdenken. Häufig werden dann Gedanken und Meinungen repetiert, die sozusagen »ausdruckstauglich« sind. Fragt man zum Beispiel einen Arzt oder eine Ärztin in einem Kurs für Palliativmedizin, was sie unter Kommunikation verstehen und was dabei wichtig ist, dann sind die Antworten häufig sehr ähnlich. Sie entspringen dem Denken, der Ratio, dem Verstand. Mithilfe des kreativen Schreibens werden diese geordneten und abrufbaren Gedankengänge sozusagen »außer Kraft« gesetzt und machen etwas Neuem Platz: dem inneren Wissen. So haben sich Teilnehmer/-innen eines Aufbaukurses für Palliativmedizin dem Thema »Kommunikation und Würde« auf kreative Weise genähert. Zunächst ist es so, dass wir Europäer/-innen, wenn wir ein Wort schreiben, dies von links nach rechts, also waagerecht tun. Indem wir das Wort

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plötzlich von oben nach unten schreiben, also senkrecht, öffnen wir eine neue Perspektive. Die Teilnehmer/-innen werden dann eingeladen, zu den Anfangsbuchstaben des senkrecht geschriebenen Wortes KOMMUNIKATION Begriffe zu assoziieren, die sie mit diesem Thema verbinden. Dabei sollen keine langen Überlegungen stattfinden, sondern es geht darum, die spontanen Assoziationen auszudrücken. In einem zweiten Schritt sollen die Teilnehmer/-innen dann entlang den assoziierten Wörtern einen Fließtext schreiben, der am Ende das wiedergibt, was sie für innere Gedanken zur Kommunikation haben. In einem Nachgespräch stellen die Teilnehmer/-innen ihre Texte vor und resümieren die daraus für sie leitenden Erkenntnisse. Das Ergebnis ist immer wieder überraschend und es ist sehr besonders mitzuerleben, wie sich in Teilnehmer/-innen auch ein berührender Stolz ausdrückt über das selbst Geschriebene. Drei Resultate dieser kleinen, jedoch äußerst intensiven Übung finden Sie hier.

Ich versuche mich häufig kurz zu fassen. Ob ich das wirklich muss, weiß kein Mensch. Urvertrauen ist sehr wichtig, ein schnell gesprochenes NEIN kann dieses nehmen. Das Gespräch immer in Kapitel einteilen wollen, das geht nicht und passt auch nicht ­immer. Schon mal gar nicht, wenn es um den Tod geht. Ein Arzt ­sollte in einem solchen Gespräch, innig und original sein. Dann ist die Würde des ­Patienten behütet. Für Nebel ist in solchen Situationen keinen Platz.

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 43–44, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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ommen rganisation und utter nterhaltung ebeneinander deal onflikt usdruck atsächlich rreführen ptimal ochmal

Mit vielen anderen bin ich hierhergekommen, um über ­ Organisation zu sprechen, was ja sozusagen über den Mund geht. Ich fühle mich an meine Mutter und unsere Unterhaltungen erinnert, sehe vor mir, wie wir früher so nebeneinander saßen. Das war ideal. Ja, es führte auch manchmal zu Konflikten, je nachdem, welchen Ausdruck ich verwandte. Und tatsächlich waren meine Worte manchmal irreführend. Also ich bin gespannt, ob m ­ eine Kommunikation optimal wird. Wenn nicht, versuche ich es halt nochmal. Immer wieder. Das bin ich der Würde meiner Patienten schuldig.

Dr. Stefan Haupts

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Komische Dinge gelangen zu meinem Ohr und kommen dann aus meinem Mund raus und ich fühle mich mies. Unglaube steigt in mir auf und bringt mich zum Nachdenken. Innen fühle ich mich wie ein Kind, das alles toll ­findet. Ist das nicht oft so, dass man innen ganz nah an den Dingen ist und außen ganz fern? Würdige Momente sind Momente der inneren Nähe.

Dr. Sylvia Brathuhn, Diplom-Pädagogin, ist in der psychoonkologischen Beratung und Betreuung für krebskranke Menschen und ihre Angehörigen tätig; Bundesvorsitzende des Bundesverbandes Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesvorsitzende der Frauenselbsthilfe nach Krebs Rheinland-Pfalz/Saarland e. V., Mitglied der IWG (International Workgroup of Death, Dying and Bereavement); Trainerin in den Bereichen Sterben, Tod, Spiritualität und Kommunikation, Trauerbegleiterin. E-Mail: [email protected]

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Nagy Vincze-Adam / shutterstock.com

Dr. med. Allessandra Steffen

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Worauf es letztlich ankommt Die Bestätigung unseres Wertes ist der Sauerstoff unseres Lebens

Doris Pfabigan Betreuungs- oder pflegebedürftig, damit von der Hilfe anderer abhängig zu werden, meist verbunden mit dem Verlust von Handlungsfähigkeit und Körperkontrolle, wird von den Betroffenen oftmals als tiefe Kränkung und Verlust der Selbstachtung empfunden. Ist ein Umzug in eine Pflegeinstitution unumgänglich, beeinflussen Pflegende und andere helfende Berufe mit ihrem Verhalten, ihren Erwartungen und Zuschreibungen das Empfinden von Selbstachtung und Würde der pflegebedürftigen Menschen. Denn als sozial ausgerichtete Lebewesen sind wir nicht nur auf die Erfüllung körperlicher Grundbedürfnisse angewiesen, sondern auch auf gelungene Anerkennungsverhältnisse. In diesen finden wir Bestätigung für das grundlegende menschliche Bedürfnis, uns selbst als achtenswerte Person sehen zu können, und das ist, wie der Philosoph Tzvetan Todorov (1995) es ausdrückt, der Sauerstoff unseres Lebens. Die Forderung nach der Achtung der Würde kann wie folgt verstanden werden: uns so begegnen, dass wir auch in der Lebenssituation, in der sich die Verwundbarkeit unserer Existenz nicht länger verleugnen lässt, an einem akzeptablen Selbstbild, an der Selbstachtung festhalten können. Einzug in eine Einrichtung – Abschied von der Welt Ob sich ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Daheimseins nach dem Umzug ins Pflegeheim einstellt oder nicht, steht in engem Zusammenhang mit den Umständen der Entscheidungsfindung: Ist der Einzug ins Pflegeheim schon länger geplant und bewusst vorbereitet worden

oder nach einem akuten Geschehen unumgänglich geworden? In jedem Fall aber ist der Einzug in eine Einrichtung der stationären Altenpflege mit einem Abschied von der gewohnten Umgebung verbunden. Gehört für jüngere Menschen Mobilität sowohl im Beruf als auch in der Freizeit zum Alltag, so ist es für viele der heute hochbetagten Menschen oftmals der erste Ortswechsel ihres Lebens. Dieser ist insofern psychisch belastend, als Betroffene in dieser Situation »hautnah« mit Erfahrungen der Begrenztheit ihres Lebens konfrontiert werden und der Einzug ins Pflegeheim mitunter als persönliches Scheitern empfunden wird. Nicht zuletzt brechen mit diesem Ortswechsel häufig langjährige Kontakte ab, die auch Quelle der Sicherheit, der Anerkennung und Wertschätzung waren. Dem Alltag Bedeutung geben Im Pflegeheim werden die betroffenen pflegebedürftigen Menschen Teil einer Zufallsgemeinschaft, in der sie außer ihren körperlichen und/ oder kognitiven Beeinträchtigungen nicht mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als andere Zufallsgemeinschaften: unterschiedliche Sozialisationen, Bildungsbiographien und Berufskarrieren sowie unterschiedliche Interessen, Lebenspläne und Lebensziele. Das meist höhere Alter und das gemeinsam geteilte Schicksal, nicht mehr ohne fremde Hilfe leben zu können, sind als Anhaltspunkte zu schwach, um Sympathie oder gar Freundschaft zu entwickeln. Oftmals fehlt es den pflegebedürftigen Menschen auch an Energie, sich innerhalb der Einrichtung ohne Unterstützung ein neues Umfeld aufzubauen und auf

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 45–49, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Selbstbestimmung und fürsorgliches Handeln sind keineswegs als Gegensätze zu sehen, sondern bedingen einander.

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Kostyantyn Ivanyshen / Shutterstock

andere Menschen zuzugehen. Um die Eingewöhnung zu erleichtern gilt es, diese Ängste und Unsicherheiten ernst zu nehmen und den neu zugezogenen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Anwesenheit etwas zählt, und sie aktiv beim Einleben zu unterstützen. Nicht zuletzt deshalb, weil das Gefühl der Zugehörigkeit eine wichtige Voraussetzung für das Autonomieempfinden der pflegebedürftigen Menschen ist. Die Kunst der Pflegenden liegt in diesem Zusammenhang darin, durch Betätigungsangebote, die auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner ausgerichtet sind, Gelegenheiten für Begegnungen zu schaffen, sodass neu Zugezogene leichter einen Platz in der bestehenden Gemeinschaft finden. Möglichkeiten, sich an Alltagsverrichtungen zu beteiligen und sinnvolle Tätigkeiten nach Maßgabe vorhandener Fähigkeiten zu übernehmen, schaffen Gelegenheit, sich als individuelle Person darzustellen und aktiv am Leben teilzunehmen. Sinnvolle Beschäftigung ermöglicht es, dem eigenen Sein und dem gelebten Alltag Bedeutung zu geben, und ist eine wichtige Quelle für Selbstwertgefühl, Lebensfreude und für das Würdeempfinden. Fehlen dagegen adäquate Möglichkeiten und Angebote sinnvoller Beschäftigung, werden also Sicherheitserwägungen vorrangig gestellt oder aus Zeitgründen Alltagstätigkeiten von den Pflegepersonen übernommen, die von den Betreuten noch selbst vollzogen werden könnten, hat dies negative Auswirkungen. Es entsteht das Gefühl der Hilf- und Wertlosigkeit, verbunden mit Gedankenverlust und Verlust von Fähigkeiten, den Alltag zu bewältigen. Fürsorgliches Handeln als Ermöglichungsbedingung von Selbstbestimmung Fürsorgliches Handeln in Verbindung mit fachlicher Kompetenz trägt zur Stärkung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens der pflegebedürftigen Personen bei und macht in vielen

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

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Fällen Selbstbestimmung erst möglich. Selbstbestimmung und fürsorgliches Handeln sind also keineswegs als Gegensätze zu sehen, sondern bedingen einander. Pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen fällt es aufgrund der starken Abhängigkeit von Pflege- und Betreuungskräften oft schwer, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu äußern, nicht zuletzt aus Sorge, als lästig zu gelten und dafür bestraft zu werden (Pfabigan 2011). Aktives Zuhören, verbale und nonverbale Aufmerksamkeit sind wichtige Voraussetzungen, damit Bewohnerinnen und Bewohner ein Sicherheitsgefühl entwickeln und ihre Selbstbestimmung realisieren können. Schon die ursprüngliche Wortbedeutung von »frei«, die auf die indogermanische Wurzel prāi zurückgeht und soviel wie »schützen«, »schonen«, »gern haben« bedeutet, verweist darauf, dass Freiheit auf Zugehörigkeit und Gemeinschaft beruht und ihre Ausübung erst im geschützten Raum möglich wird.

Amedeo Modigliani, Woman with Blue Eyes, 1918 / Bridgeman Images

Sorge für ein geborgenes Aufgehobensein Wie Selbstbestimmung zählt auch der Wunsch nach Sicherheit zu den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen. Bei Verlusten beispielsweise der Seh- und der Hörfähigkeit oder der

Pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen fällt es aufgrund der starken Abhängig­ keit von Pflege- und Betreuungs­ kräften oft schwer, ihre Bedürf­ nisse und Wünsche zu äußern, nicht zuletzt aus Sorge, als lästig zu gelten und dafür bestraft zu werden.

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Orientierungsfähigkeit steigen die Abhängigkeit von verfügbaren Ressourcen und zugleich das Sicherheitsbedürfnis. Der Verlust von Kontrolle ist unabhängig vom Alter mit einer erheblichen Belastung für das psychische und physische Wohlbefinden verbunden. Das Bedürfnis nach Sicherheit, jederzeit bei Bedarf kompetente und angemessene Hilfestellung zu bekommen, ist einer der wesentlichen Gründe, warum sich viele pflegebedürftige Menschen für einen Heimeintritt entscheiden. Empirische Befunde belegen, dass bereits geringfügige Steigerungen der persönlichen Kontrolle erhebliche positive Konsequenzen für das Wohlbefinden alter Menschen haben (Kreimer 2004). Ein umfassendes Sicherheitsgefühl kann dann gewonnen werden, wenn beispielsweise das Hilfsteam jederzeit erreichbar ist, über hohe fachliche und soziale Handlungskompetenz verfügt oder wenn die pflegebedürftigen Personen wahrnehmen, dass sie verschiedenste Problembereiche an das Team adressieren können (Schneider et al. 2012). Es geht also keineswegs nur darum, dass die Umwelt für pflegebedürftige Personen sicher gestaltet ist (keine Kabel oder sonstige Stolperfallen, keine freiheitsbeschränkenden Maßnahmen). Um sich sicher und geborgen fühlen zu können, müssen sich pflegebedürftige Personen auch ernstgenommen wissen und sich fei von Angst fühlen. Angesichts der zahlreichen unwiederbringlichen Verluste und Trennungen, die das hohe Alter, die Pflegebedürftigkeit und der Einzug ins Pflegeheim mit sich bringen, entsteht das Bedürfnis nach Trost. Helfender Beistand, Linderung von Schmerzen und die Sorge für ein geborgenes Aufgehobensein helfen, das Selbstwertgefühl und das Würdeempfinden der pflegebedürftigen Personen zu stützen. Schlussbemerkung Mit dem Gesagten sollte deutlich gemacht werden, dass Pflege eben kein gewöhnlicher Dienstleistungsberuf ist wie viele andere auch. Einer der

wesentlichen Unterschiede liegt darin, dass mit dem Einzug ins Pflegeheim oftmals die wundesten Punkte des Menschen berührt werden, wie Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit, Abhängigkeit und Sterblichkeit. Diese Situation verlangt nach helfendem Beistand, in Form von vertrauensvollen beziehungsweise -aufbauenden Beziehungen sowie einer pflegerischen Ausrichtung, die sich stützend auf die Selbstachtung und das Würdeempfinden auswirkt. Ebenfalls deutlich werden sollte, dass Rechte und Standards notwenige, aber keine hinreichenden Bedingung zur Sicherung der Würde pflegebedürftiger Menschen sind. Die Kunst der fürsorglichen Praxis widersetzt sich jeglicher Standardisierung. Vielmehr sind Haltung und Motivation der Pflege- und Betreuungspersonen von enormer Bedeutung und diese wiederum werden von den Strukturbedingungen der Institutionen beeinflusst. Doris Pfabigan ist Philosophin und diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester. Sie arbeitete viele Jahre in der stationären und ambulanten Langzeitpflege und war seit 2002 in unterschiedlichen Projekten zu den Themen Gesundheitsförderung, Migration, Würde und Autonomie in der geriatrischen Langzeitpflege sowie Palliative Care tätig. Gegenwärtig arbeitet sie in der Gesundheit Österreich GmbH sowie als Lektorin an unterschiedlichen Bildungseinrichtungen. E-Mail: [email protected] Literatur Kreimer, R. (2004). Altenpflege: menschlich, modern und kreativ. Grundlagen und Modelle einer zeitgemäßen Prävention, Pflege und Rehabilitation. Hannover. Pfabigan, D. (2011). Würde und Autonomie in der geriatrischen Langzeitpflege. Eine philosophische, disziplinen- und methodenübergreifende Studie zu Fragen eines selbstbestimmten und würdevollen Alterns. Hungen. Schneider, W., Eschenbruch, N., Eichner, E. (2012). Wirksamkeit und Qualitätssicherung in der SAPV-Praxis – Eine explorative Studie. Ergebnisbericht. https://www.philso.uniaugsburg.de/lehrstuehle/soziologie/sozio3/forschung/pdfs/ SAPV-I_Endbericht.pdf Todorov, T. (1995). Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie. Berlin.

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Würde implizit Zum Menschenbild des personzentrierten Ansatzes

Christian Metz Von Würde keine Spur? In den theoretischen Grundlagen der personzentrierten Psychotherapie wird die Würde des Menschen nicht ausdrücklich benannt oder gar beschworen. Das mag erstaunen. Doch liefert das explizite Menschenbild einen wesentlichen Wegweiser für die psychotherapeutische Praxis: Personzentrierte Arbeit versteht sich als wissenschaftliche und praktische Frage nach der Person und bezieht sich damit auf eine Anthropologie, die in der Tradition abendländischen Denkens, näher hin des über die Theologie in die Philosophie eingegangenen Personbegriffs gründet. Carl Rogers betont mehrfach die Bedeutung der Selbstbestimmung – das betrifft sowohl Klient/ Klientinnen wie Therapeuten/Therapeutinnen. Personzentrierte Praxis ist auf eine Theorie gegründet, die auf empirischer Beobachtung und Forschung beruht, ihr Interesse bezieht sich auf den Therapieprozess und darauf, was konstruktive Wandlung fördert. Rogers versteht die Theorie der Klientenzentrierten Therapie »nicht als Dogma oder als Wahrheit«, vielmehr als Hypothesen, als ein Werkzeug, um unser Wissen fortwährend weiterzuentwickeln. Personzentrierte (und experienzielle) Psychotherapie kann mit Margret Warner (2000) als »eine Nation mit vielen Stämmen« beschrieben werden, die sich je nach Niveau und Maß ihrer Interventionen unterscheiden lassen. Die Aktu­ alisierungstendenz wird generell als vorrangiges Prinzip verstanden. Die Einbeziehung der »not­ wendigen und hinreichenden« Bedingungen (empathisches Verstehen, unbedingte positive Beachtung sowie die Kongruenz des Therapeuten,

vgl. Rogers 1957) begründen und ermöglichen konstruktive, auf Wachstum hin orientierte Beziehungen. Rogers hat die grundlegende Natur des Menschen dahingehend charakterisiert, dass er diese als fundamental vertrauenswürdig, konstruktiv, sozial und proaktiv auffasst. Gemeint ist hierbei die Kernnatur des Menschen und nicht alle verhaltensmäßigen Manifestationen, die zu unserer Bestürzung oft auch unendlich grausam, antisozial beziehungsweise verkümmert, verhärtet, verschüchtert erscheinen. Eine personzentrierte Haltung ist über jedwede Berufsgrenzen hinweg daran interessiert, unter die Oberfläche zu gelangen, nicht auf Diagnosen, Befunde und Zuschreibungen und Interpretationen fixiert zu sein, vielmehr »hinter die Kulissen zu blicken und dort nach unterentwickelten Potenzialen, nach nicht geborgenen Schätzen und nach Ressourcen zu suchen« (Stumm u. Keil 2014, S. 4). Die Beziehung selbst ist das Therapeutikum Der Ansatz heißt person-, nicht individuumszentriert. Personzentrierte Psychotherapie ist kein Einzeltherapieansatz mit individualistischer Schlagseite. Wer den Ansatz nur als am Einzelnen orientiert ansieht, verkennt die anthropologischen Grundlagen und Rogers’ »notwendige und hinreichende Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie« gründlich, von denen fünf der sechs Bedingungen von der Beziehung zwischen Therapeut/Therapeutin und Klient/-in und damit gewissermaßen von einem Beziehungssystem handeln (Rogers 1957).

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 50–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Die Praxis der Begleitung ist daher auch keine therapeutische Einbahnstraße: Experten-Überlegenheit, Deutungshoheit sowie Abstinenz im Sinne einer professionellen Distanz werden aus personzentriertem Verständnis radikal in Frage gestellt. Dies beinhaltet in der Tat eine »stille Revolution« im therapeutischen Selbstverständnis, die einer kopernikanischen Wende gleichkommt: Um wen oder um was dreht es sich in der Begleitung, Beratung, Therapie? (vgl. Rogers und Russell 2002). Der Unterschied von Problem(lösungs-)Zentriertheit und Expertenperspektive gegenüber personaler dialogischer Begegnung wirkt sich in der Praxis beträchtlich aus: Die Beziehung gilt im personzentrierten Sinn nicht nur als eine instrumentelle Voraussetzung für Persönlichkeitsveränderung, vielmehr ist die gelebte »reale« Beziehung selbst das Therapeutikum. Die therapeutische Präsenz, Momente intensiver Gegenwärtigkeit in der Beziehung können in sich heilsam sein. In der Beachtung der eigenen Resonanz der Begleiterin auf den Anderen in der momentanen Situation, mit der Möglichkeit von sich selbst öffnen, sich selbst einbringen und Beziehungsklären, nicht zuletzt in der Selbstfürsorge und Vitalität des Therapeuten/der Therapeutin, sind wesentliche Elemente einer dialogischen Beziehungsgestaltung wirksam. Es geht dabei vor allem um die Förderung der Auseinandersetzung des Klienten/ der Klientin mit sich selbst. So können alte Beziehungsmuster überwunden und neue, korrigierende Beziehungserfahrungen gemacht werden. In dem Maße, wie die

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Die therapeutische Präsenz, Momente intensiver Gegenwär­ tigkeit in der Beziehung können in sich heilsam sein.

­Rigidität der ­Kontakte mit anderen gewahr wird, ist auch eine gewisse Freiheit der Wahl eröffnet, neue und ungewohnte Interaktionserfahrungen zu wagen. Wenn beispielsweise eine erwachsene Frau erkennt, dass ihre depressive Mutter ihr als Kind nie genügend Aufmerksamkeit schenken konnte und dass sie noch dazu den abwesenden Vater als helfenden Partner der Mutter ersetzen musste, dann kann ihr verständlich werden, dass sie immer vermeidet, andere für sich zu beanspruchen. Die Probleme mit ihrem Partner, der »tausend Hobbys« hat und ihr wenig Aufmerksamkeit widmet, und die Tatsache, dass sie an ihrem Arbeitsplatz immer für andere da ist, von denen sie sich ausgenutzt fühlt, können in einem neuen Licht erscheinen, wenn einmal die Verbindung mit der Vergangenheit hergestellt ist. Der personzentrierte Personbegriff begründet ein Balancieren von Selbstständigkeit und Angewiesensein »Person« ist der Mensch nach zwei einander entgegenstehenden, dialektisch jedoch miteinander verschränkten Traditions- und Bedeutungssträn-

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

Alfred Henry Maurer, Two Heads, ca.1928 / Private Collection / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

Im ständigen Gegen­über der Begegnung geschieht die Aktualisierung der Möglich­ keiten der Person und wächst die Persön­lichkeit.

gen, wenn er sowohl in seiner individuellen Einmaligkeit, in seinem unaustauschbaren Wert und seiner unabdingbaren Würde gesehen wird (sub­ stanziales Personverständnis) wie auch in seiner Beziehungsangewiesenheit, also in seinem VonAnderen-her-Sein und seinem Auf-die-Anderenhin-Sein verstanden wird (relationales Person­ verständnis). Damit ist die Person ebenso durch Autonomie wie Solidarität, durch Souveränität wie Engagement gekennzeichnet. Zur Person gehören einerseits Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sowie Beziehungsoffenheit und Beziehungsangewiesenheit andererseits; Autonomie und Solidarität, Ich und Wir. Der Mensch ist von Anfang an Person als eigenständiges, unverwech-

selbares Individuum und ist auf die personale Gemeinschaft mit Anderen bezogen, ja auf solche Beziehung angewiesen. Wir sind aus Begegnungserfahrungen die geworden, die wir sind, und entwickeln uns durch solche Erfahrungen weiter: Die dialogische Frage »Wer bist du?« schließt die Frage nach dem »Woher« und nach dem »Wohin« ein. Erst durch die Beziehung zu anderen Personen entfaltet und verwirklicht der Mensch sein Personsein und wird zur Persönlichkeit. Ein solcher Personbegriff steht ebenso im Kontrast zu einem individualistisch-privatistischen wie zu einem kollektivistischen Menschenbild. Diese Spannung zwischen den beiden Personbegriffen – in der unaufhebbaren Dialektik von Auto-

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nomie und Selbstständigkeit versus Angewiesenheit und Bezogensein – gilt es auszuhalten und auszubalancieren; sie ist charakteristisch für das Personverständnis im personzentrierten Ansatz. Der Mensch trägt die Fähigkeit und Tendenz zur Entwicklung in sich selbst, doch er bedarf der Beziehung, damit diese Entwicklung tatsächlich stattfinden kann. In der Austragung dieser Gegensätze, nicht im Ausgleich, vielmehr im ständigen Gegenüber der Begegnung geschieht die Aktualisierung der Möglichkeiten der Person und wächst die Persönlichkeit. Hier sei zumindest angemerkt, dass der Mensch Person als Mann und Frau ist und geschlechtsspezifische Aspekte des Personseins eine zentrale Rolle für das Verständnis spielen. Emmanuel Levinas fasst die Beziehungsbedingtheit der Person noch radikaler als Martin Buber, weil er vom Anderen her denkt und dessen absolutes Anderssein zum Ausgangspunkt seiner Anthropologie macht: Grundlage des Selbstbewusstseins ist nicht die Reflexion (des Ich am Du), sondern die schon jeweils vorgegebene Beziehungserfahrung, die im Anderen ihren Ursprung hat (also Du–Ich statt Ich–Du). Der Andere ist damit nicht ein Alter Ego, sondern ein absolut Anderer, ein bleibendes Rätsel und somit ständige Herausforderung. Er »sucht uns heim«, wofür Levinas die Metapher »Antlitz« verwendet, die an den Ursprung des Personbegriffs erinnert. Dieses Antlitz spricht uns an und seine Not fordert uns heraus. Während die traditionelle abendländische Philosophie nichts als Egologie (bloße Rede vom Ich) gewesen sei, habe nun am Anfang aller Philosophie die Ethik zu stehen. Ver-Antwort-lichkeit ist demnach die Grundkategorie des Personseins: Aus der Begegnung erwächst die Verpflichtung zur Antwort (Schmid 1998; 2007). Personzentrierte Grundhaltungen in der »Arbeit mit der Beziehung und an der Beziehung« Mit den drei Bedingungen Authentizität (Kongruenz), nicht an Bedingungen gebundene Wert-

schätzung (Akzeptanz) und einfühlendes Verstehen (Empathie) hat Rogers (1957) die Haltung der Gegenwärtigkeit im Einzelnen beschrieben. Präsenz bezieht sich auf Kontakt und Kommunikation und hat eine körperliche Dimension. Konstitutiv für personale Begegnung ist unter anderem der leibliche Kontakt. Begegnung setzt physische Präsenz voraus, sie ist Berührung, Spüren und Gespürtwerden, »leibhaftes Zusammenspiel« (Buber). Psychotherapie ist somit ganzheitliche Therapie – Therapie der ganzen Person, sie ist offen für Fragen über das unmittelbar Erfahrbare und Verifizierbare hinaus, sie stellt sich Sinnfragen, Glaubensvorstellungen, Weltanschauungen, sie ereignet sich in der Gegenwärtigkeit (Präsenz), indem sie sich einlässt auf die Unmittelbarkeit der Begegnungserfahrung: den Anderen/die Andere so zu verstehen, wie er/sie sich zeigt (statt von mir auf ihn oder sie zu schließen und ihn/sie damit auf das mir Bekannte zu reduzieren) (vgl. Schmid 2007). In diesem Sinn sind die personale Grundhaltungen radikal Klienten-zentriert: Sie sind in einer expliziten Weise zum Ausdruck zu bringen, so dass sie vom Klienten als solche wahr- und angenommen werden können. Erst dann kann das Beziehungsangebot des Therapeuten beim Klienten wirksam werden. Gegenwärtigkeit ist eine Lebenseinstellung, ein »way of being«, ja ein »way of being with« (­Rogers 1980), eine Weise des Miteinanderseins (vgl. Schmid 1994, S. 228–244). Damit ist eine Grundhaltung beschrieben, die auf einem Grund­ vertrauen in die Person beruht, die eigene und die des Anderen, was sie scharf von der meist durch Misstrauen geprägten Haltung in der Gesellschaft, im Berufs- und oft auch im Privatleben, unterscheidet. Statt Menschen als unfähig, belehrungsbedürftig, destruktionsgeneigt und daher auf Kontrolle und Führung durch Experten angewiesen zu betrachten, geht die personzentrierte Sichtweise davon aus, dass die konstruktive Tendenz zur Aktualisierung Vertrauen verdient, findet sie nur einigermaßen geeignete (Beziehungs-) Bedingungen vor.

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Praxis-Reflexionsfragen Für die Praxis ist entscheidend, ob bei der Durchführung von Psychotherapien eine operationale Philosophie zum Tragen kommt, das heißt eine Auffassung, die nicht nur gedanklich als Ideal gepriesen wird, sondern fest im Bezugssystem des jeweiligen Psychotherapeuten verankert ist, also auch in Stressreaktionen spontan abrufbar ist. So können wir uns fragen: • Inwieweit existiert in mir die Überzeugung, dass ich durch mein (psychotherapeutisches) Wirken überhaupt Wachstumsprozesse bei meinen Klientinnen/Klienten bewirken kann? • Liegt meinem Wirken die feste Annahme zugrunde, dass ich positive Veränderungen bei Klienten/Klientinnen durch ein Beziehungsangebot anregen kann, das auf unbedingt positiver Beachtung, einfühlendem Verstehen, Echtheit beruht? • Kann ich bei meinem Gegenüber auch die Erhaltungstendenzen ausreichend würdigen, ohne sie (ausschließlich) als Widerstand, Abwehrverhalten oder Unfähigkeit zur Veränderung zu bewerten? Neben der Annahme einer aktualisierenden Tendenz lassen sich auch noch andere »Glaubenssätze« als Axiome festmachen, die als personzentrierte Philosophie dem psychotherapeutischen Handeln zugrunde liegen können: • Eine ethische Position, in der die Achtung der Würde und Selbstbestimmung der Klienten primär sind, • eine experienzielle Philosophie, mit der Betonung der Fähigkeit des menschlichen Organismus zu erleben und das Erlebte explizierend zu symbolisieren – als Maßstab für Sinn- und Bedeutungsgebung sowie für das eigene Handeln –, und schließlich • der Mensch als wählendes, wertendes Wesen, das sich Stellung nehmend in der Welt bewähren muss (existenzielle Position) (vgl. Stumm und Keil 2014, S. 4–14).

Zu betonen ist abschließend, dass die Aktualisierungstendenz nicht nur eine entfaltende Tendenz, sondern auch eine erhaltende Funktion beinhaltet. Krisenzeiten, Notlagen, traumatische Erschütterungen, chronische Mangelbedingungen und psychische Beeinträchtigungen legen nahe, dass Entfaltungsprozesse oftmals eingeschränkt sind. Nicht wenige Menschen aktualisieren sich gewissermaßen in einem (chronischen) Überlebensmodus, in dem wenig Platz für progressive Prozesse ist. Es ist für die Einschätzung der Wirksamkeit unserer therapeutischen Praxis von hoher Relevanz, dass bereits ein Erhalten des Status quo als ein Erfolg zu werten ist. Nicht in allen Fällen ist daher therapeutischer Optimismus angebracht. Dr. Christian Metz ist Programmbereichsleiter des Kardinal König Hauses für Hospiz, Palliative Care, Demenz; Psychotherapeut und Supervisor in eigener Praxis; Ausbilder und Lehrtherapeut im Psychotherapeutischen Fachspezifikum des FORUM (Personzentrierte Psychotherapie, Ausbildung, Praxis); Trainer der Akademie für Sozialmanagement (ASOM); Wien. E-Mail: [email protected] Literatur Buber, M. (1923/1995). Ich und Du. Stuttgart. Kriz, J., Slunecko, T. (Hrsg.) (2007). Gesprächspsychotherapie. Die therapeutische Vielfalt des personzentrierten Ansatzes. Wien. Rogers, C. (1957/1991). Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsveränderung durch Psychotherapie. In: Rogers, C. R., Schmid, P. F. (Hrsg.), Personzentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis (S. 165–184). Mainz. Rogers, C. R. (1980). A way of being. Boston. Rogers, C. R., Russell, D. (2002). Carl Rogers: The quiet revolutionary. An oral history. Roseville. Schmid, P. F. (1994). Personzentrierte Gruppenpsychotherapie, Bd. 1: Solidarität und Autonomie. Köln. Schmid, P. F. (1998). Im Anfang ist Gemeinschaft. Stuttgart. Schmid, P. F. (2007). Begegnung von Person zu Person. In: Kriz, J., Slunecko, T. (Hrsg.), Gesprächspsychotherapie. Die therapeutische Vielfalt des personzentrierten Ansatzes (S. 34–47). Wien. Stumm, G., Keil, W. W. (Hrsg.) (2014). Praxis der Personzentrierten Psychotherapie. Wien. Warner, M. (2000). Person-centred psychotherapy: One nation, many tribes. In: The Person-Centered Journal, 7 (1), S. 28–39.

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Mit Achtsamkeit im Hier und Jetzt bleiben Bernd Kappis Achtsamkeit (englisch: mindfulness) ist eine spirituelle Praxis mit Wurzeln in der mehr als 2500 Jahre alten buddhistischen Meditation. Jon Kabat-Zinn, der Begründer der westlichen Achtsamkeitspraxis, beschreibt Achtsamkeit als eine spezifische Form der bewussten Aufmerksamkeitslenkung. Das Ziel ist dabei die bestmögliche Verbundenheit mit dem gegenwärtigen Moment, mit dem, was gerade in Geist und Körper geschieht und damit mit dem Leben. Definition: Achtsamkeit ist das absichtsvolle Len­ ken der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick, ohne dass dabei das Erleben bewertet oder darauf reagiert wird.

Ganz anders verhält es sich mit fehlender oder mangelhafter Gegenwärtigkeit. Dies führt oft zu Verhaltensweisen im unflexiblen »AutopilotenModus«. Besonders bei emotionalen Erlebnissen wie Grübeleien, Sorgen oder Ängsten funktioniert unser Erleben und Handeln oft automatisiert, schematisch und unreflektiert. Wir sind dann in einem starren Kontroll-, Kampf- oder Vermeidungsmuster. Obwohl unser Leben ausschließlich in der Gegenwart – hier und jetzt – stattfindet, neigt unser Verstand oft dazu, sich mit der Vergangenheit oder der Zukunft zu beschäftigen. Wir können mit alten Geschichten hadern (»warum habe ich dies und das gemacht?«) und uns viele Gedanken über »ungelegte Eier« machen (»wenn es so und so wird, was soll ich dann nur tun?«).

© Sylvia Brathuhn

Meditation und Achtsamkeit Unter Meditation wird üblicherweise die Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Objekt, etwa den Atem, einen Klang, ein Mantra oder ein inneres Bild verstanden. Bei dieser Form der Meditation werden alle Regungen des »unbändigen Geistes« als Ablenkungen angesehen und sollen nicht weiter beachtet werden. Demgegenüber wird in der Achtsamkeitsmeditation die Aufmerksamkeit auf den Atem nur zu Beginn eingesetzt, um damit zur Ruhe zu kommen. Dann werden aber alle inneren Erlebnisse in das achtsame Gewahrsein einbezogen. Auftretende Körperempfindungen, Gedanken oder Gefühle sollen nicht unterdrückt oder ignoriert werden, sondern man soll sie sogar willkommen heißen und absichtsvoll betrachten. Es kann sich dabei um Gedanken (zum Beispiel Verunsicherung

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oder Wertlosigkeit), psychische Erlebnisse (zum Beispiel Angst, Ärger oder Trauer) oder körperliche Empfindungen (zum Beispiel Schmerzen oder Unwohlsein) handeln. Eine akzeptierende und durchaus mutige Haltung (»alles darf so sein, wie es ist«) gegenüber den in diesem Augenblick auftretenden körperlichen, psychischen und gedanklichen Erlebnissen bildet die Voraussetzung für deren Veränderung. Ein hilfreiches Bild ist ein Beobachter, der ohne Bewertung des Erlebten am Ufer sitzt und den Strom der Erlebnisse betrachtet, ohne sie zu bewerten oder darauf reagieren zu müssen. Die Gegenwärtigkeit des Erlebens – das Gewahrsein – wird betont, indem die Wirklichkeit von Augenblick zu Augenblick mit bedingungsloser Aufmerksamkeit betrachtet wird, so, wie sie eben ist. Das Benennen der Gedanken, der jeweils aus ihnen entstehenden Gefühle und der Reaktionen auf diese Gefühle hilft dabei, Distanz zu den Erlebnissen zu gewinnen und Einsichten in eigene Vorstellungen, Wünsche und Ängste zu erhalten (»Ich denke, dass ich es nicht aushalte. Daraus ent­ steht so ein Gefühl, das ich unbedingt vermeiden

will. Mein Geist sagt mir: Angst ist gefährlich.«). Diese Distanzierung von Gedanken und Gefühlen und deren Differenzierung bilden die Grundlage zu flexiblem und situationsangemessenem Handeln, das nicht von Sorgen oder Ängsten blockiert ist. Achtsamkeit als eine Haltung Achtsamkeit wird manchmal als eine »Technik« missverstanden, wir meinen damit aber eher eine Fähigkeit, die durch wiederholtes und andauerndes Üben entwickelt werden kann. Kabat-Zinn beschreibt Achtsamkeit als eine Haltung oder eine »Art des Seins« und formuliert sieben Grundprinzipien der Achtsamkeitspraxis (Tabelle). Allerdings: Auch täglich meditierende buddhistische Mönche sind mit ihrem Geist und mit ihrem Erleben nicht immer ausschließlich in der Gegenwart. Diese Tatsache kann den Übenden entlasten. Bei andauernder Übung wird es gelingen, öfter und schneller zu erkennen, dass das gegenwärtiges Erleben von der Vergangenheit oder der Zukunft bestimmt wird und genau das loszulassen.

Sieben Grundprinzipien der Achtsamkeit Prinzip

Haltung

Nicht-Beurteilen

Mein Geist reagiert auf innere und äußere Ereignisse. Ich erlaube mir dabei, die Haltung eines neutralen Beobachters einzunehmen. Ich vermeide »Schubladendenken«.

Geduld

Ich erkenne, dass jedes Ding sich dann entfaltet, wenn der richtige Moment gekommen ist (Larve – Schmetterling). Ich nehme auch Ungeduld mit mir selbst wahr.

Anfängergeist bewahren

Ich versuche, ohne vorgefasste Meinungen, Ansichten oder Konzepte zu sein. Damit bin ich offen für alles, was um mich herum passiert und sich entwickelt. Ich versuche, neugierig und unbefangen wie ein Kind zu sein.

Vertrauen

Ich habe Vertrauen in die eigene Weisheit. Und auch in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten.

Nicht-Greifen

»So wie es jetzt gerade ist, ist es okay.« Ich will mich und die Dinge nicht dauernd anders haben, als sie sind. Es gibt keinen Ort, an den es zu gehen gilt. Es gibt nichts zu tun und nichts zu bekommen. Ich muss keinem Ziel folgen. Ich erkenne das Streben nach einem bestimmten Ergebnis und kann dann immer wieder loslassen.

Akzeptanz

Ich bin bereit, alle Aspekte des Lebens so anzunehmen, wie sie sind. Auch das eigene Selbst.

Loslassen

Ich lasse immer wieder los, weil sich ständig alles ändert. Ich halte nicht an einem guten Zustand oder einer Sache fest. Durch Festhalten wird das Denken auf die Vergangenheit, die unveränderbar ist, gerichtet.

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© Christiane Knoop

M i t A c h t s a m k e i t i m H i e r u n d J e t z t b l e i b e n    5 7

Obwohl unser Leben ausschließlich in der Gegenwart – hier und jetzt – stattfindet, neigt unser Verstand oft dazu, sich mit der Vergangenheit oder der Zukunft zu beschäftigen. Warum Achtsamkeit hilfreich ist Die Veränderung des Modus vom »tun« zum »sein« führt zu einer neuen Art der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Hierzu ermöglicht der Aufbau eines Beobachter-Selbst eine flexiblere und mehr akzeptierende Sichtweise der eigenen Person. Die verbesserte Lenkung der Aufmerksamkeit bewirkt, dass Aufschauklungsprozesse frühzeitig erkannt werden. Die übliche Reaktionsweise, nämlich Vermeidung oder Kontrolle unangenehmer Erlebnisinhalte, kann dann geändert werden. Durch Differenzierung und Distanzierung lernen Menschen einen neuen Umgang mit Situationen, die vorher unerträglich erschienen. Achtsames Gewahrsein kann die Beeinträchtigung durch Gefühle und Gedanken, die mit stressbedingten Symptomen oder Krankheitssymptomen einhergehen, reduzieren, ohne dabei die körperliche Krankheit zu heilen. Außerdem kann die verbesserte Wahrnehmung von körperlichen und psychischen Zuständen zu angemessenerem Krankheitsverhalten führen und dysfunktionales Schonen oder Durchhalten verändern. Achtsamkeit praktizieren und lernen Beim Üben von Achtsamkeit werden formelle und informelle Übungen unterschieden. Formelle Me-

ditationen werden anfangs oft angeleitet und beziehen sich auf einen spezifischen Inhalt, zum Beispiel Atemmeditation, Bergmeditation oder achtsame Körperwahrnehmung mit dem sogenannten Body-Scan. Informelle Übungen sind kürzer und bestehen aus Alltagshandlungen, die achtsam ausgeführt werden. Das können alle alltäglichen Handlungen sein, die üblicherweise ohne große Achtsamkeit ausgeführt werden: ein Glas Wasser trinken, eine Treppe hochgehen, die Zähne putzen, Geschirr abspülen, ein Lied im Radio hören, kochen, die Schuhe binden und so weiter. Es genügt, die gewohnte Aktivität immer bewusst zu verlangsamen oder kurz zu unterbrechen, um den gegenwärtigen Moment bewusst wahrzunehmen (Körpererleben, Körperspannung, Fühlen, Denken). Dabei sind ein waches Interesse und die Haltung des »forschenden Geistes« hilfreich. Eine Mini-Achtsamkeitsübung dauert nur wenige Sekunden und kann mit dem Akronym ­S-T-O-P erinnert werden: S bedeutet »Stop!«, halte das an, was du gerade tust. T bedeutet »take a conscious breath«, nimm einen bewussten Atemzug und spüre bewusst die Ein- und Ausatmung. O bedeutet »observe«, beobachte, was in deinem Körper und Geist gerade vorgeht. P bedeutet »proceed«, fahre fort mit bewusstem und gütigem Verhalten. Es existiert eine Reihe von Angeboten zum Erlernen von Achtsamkeit. Neben Büchern, Bro-

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schüren und CDs gibt es Kurse, die oft mehrere Wochen dauern. Durch ein solches Gruppenprogramm kann die persönliche Motivation gesteigert und das Lernen erleichtert werden. Weil es keine formalen Voraussetzungen gibt, um einen Achtsamkeitskurs anzubieten, sollte die jeweilige Qualifikation der Kursleiterinnen und Kursleiter kritisch geprüft werden. Wirksamkeit und Grenzen von Achtsamkeit Achtsamkeit ist nicht mit Wellness zu verwechseln, sondern ein wissenschaftlich gut untersuchtes Verfahren. Achtsamkeitstraining ist ein wirskames Mittel, um das Stressempfinden zu verringern und damit emotionale Selbstregulation zu verbessern. Das von Kabat-Zinn entwickelte Acht-Wochen-Programm der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction) konnte seine Wirksamkeit in vielen wissenschaftlichen Studien bei verschiedenen Patientengruppen belegen. Dr. Paul Grossmann, Psychologe in Basel, der Achtsamkeit als »radikal subjektive Erfahrung« beschreibt, betont die ursprünglich im Buddhismus bestehende Verknüpfung von Achtsamkeit mit ethischen Werten wie Mitgefühl, Freundlichkeit, Offenheit, Toleranz, Geduld und Mut. Und zwar jeweils auch mit sich selbst. Diese Aufzählung ethischer Werte lässt sich bedenkenlos um die Dimension Würde ergänzen und bereichert so die Anwendung achtsamkeitsbasierter Verfahren im Kontext von Tod und Sterben. Ein Beispiel aus der Praxis. Herr Hubert K. ist Buchhalter in einem großen Unternehmen, das vor kurzem mit einem internationalen Unternehmen fusioniert hat. Das Arbeitsaufkommen ist dadurch nicht nur größer geworden, sondern auch komplexer und unübersichtlicher. Immer häufiger bleibt Herr  K. lange an seinem Arbeitsplatz und nimmt auch Arbeit mit nach Hause. Er, der eigentlich immer gern arbeite, leide seit Wochen

unter Schlafstörungen, Gereiztheit und Rückenschmerzen. Sorgfältige Untersuchungen finden keine organische Ursache seiner Beschwerden. Herr K. stellt sich wegen der Rückenschmerzen in der Schmerzambulanz vor und nimmt an einem Achtsamkeitskurs teil. Während er anfangs noch skeptisch und eher widerständig ist, lässt er sich nach und nach auf die Übungen ein. In den Zwischengesprächen berichtet er, dass er sehr aktiv die STOPÜbung einsetze. Sie ermögliche es ihm, aus dem Hamsterrad der quälenden Gedanken auszusteigen und wenigstens in der Nacht etwas Ruhe zu finden. Rein äußerlich ist zu beobachten, dass sich im Gespräch die Haltung von Herrn K. geändert hat. Während er zu Beginn eher verspannt und angespannt an den Sitzungen teilnahm, ist jetzt eine aufrechtere Haltung zu beobachten und auch der Blick ist lebendiger. Herr K. berichtet, dass er sich wieder mehr in sich selbst beheimatet fühle und wieder klarer denken könne. Wohin sich sein Weg entwickele, sei noch nicht klar, doch er sei auf dem Weg und das sei wichtig.

Bernd Kappis, Krankenpfleger, Diplom-­ Psychologe, Psychologischer Psycho­ the­rapeut (Verhaltenstherapie), Zusatz­­­be­zeichnung Spezielle Schmerzpsychotherapie (DGPSF), ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Mainz. Er leitet außerdem Präventionskurse zur Stressbewältigung, Entspannung und Achtsamkeit und ist Dozent in verschiedenen Aus-, Fort- und Weiterbildungen. E-Mail: [email protected] Literatur Kabat-Zinn, J. (1999). Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit. Freiamt. Kbat-Zinn, J. (2004). Die heilende Kraft der Achtsamkeit. Freiamt. Kabat-Zinn, J. (2007). Achtsamkeit & Meditation im täglichen Leben. Freiamt.

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Sexualität von Menschen mit einer Beeinträchtigung: Beeinträchtigte Sexualität? Daniela Ritzenthaler Ethische Spannungsfelder Die Sexualität von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung1 war lange Zeit kaum ein Thema in der Behindertenhilfe. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen wurden entweder als »ewige Kinder« wahrgenommen, von denen man annahm, dass sie asexuell lebten, oder in den sozialen Institutionen, in welchen sie lebten, wurde das Thema Sexualität tabuisiert. Deshalb der provokative Titel: Handelt es sich um eine beeinträchtigte Sexualität? Tatsächlich ist es gemäß Otto Speck (2005) nur ungefähr 10 Prozent aller Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung überhaupt körperlich möglich, den gesamten Geschlechtsakt zu vollziehen. Gleichzeitig geht man heute davon aus, dass alle Erwachsenen das Recht auf eine gelebte und selbstbestimmte Sexualität mit ihrem jeweiligen Partner haben. Dieses Recht wird ebenfalls in der UN-Behindertenkonvention bekräftigt, welche Deutschland und vor kurzem auch die Schweiz ratifiziert haben. Der Artikel 23 der Konvention fordert: »Die Vertragsstaaten treffen geeignete und wirksame Massnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen« (Schweizerische Eidgenossenschaft, Homepage Internationales Recht)2. In der Praxis dürfen demnach weder Sozialpädagogen noch Institutionen durch strukturelle Gewalt das Leben einer erfüllten Sexualität einschränken oder verhindern. Gleichzeitig ist vor wenigen Jahren in den Schweizer Medien über den Fall eines Sozialthe-

rapeuten ausführlich berichtet worden, der über hundert Personen sexuell missbraucht hat. Den Fachpersonen ist durch diesen Fall bewusst geworden, dass sie ihre Schutzpflicht gegenüber den Menschen mit Beeinträchtigung sehr ernst nehmen müssen und dass präventive Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt dringend umgesetzt werden müssen (vgl. Limita 2011). Damit entstehen in der Praxis brisante ethische Fragestellungen rund um das Ausleben der Sexualität von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Sexualisierte Gewalt oder sexualisierte Grenzverletzungen gehen oft von Fachpersonen aus, aber auch Mitbewohner können Täter von Grenzverletzungen sein. Dieser Artikel möchte ethische Spannungsfelder zwischen Schutz vor sexualisierter Gewalt und dem Recht, Sexualität selbstbestimmt zu leben, aufzeigen. Institutionelle Rahmenbedingungen In vielen sozialen Institutionen ist es noch immer nicht ohne Einschränkungen möglich, Intimität und Sexualität zu erleben. So fehlt es entweder an Einzelzimmern oder an der Möglichkeit, Besuch zu empfangen, wann immer jemand möchte. Eine Studie von Seifert (2006, S. 206) zeigte, dass nur ein Viertel der Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die in Deutschland in einem Wohnheim lebten, die Erlaubnis hatten, dass der Partner bei ihnen übernachten darf. Ein brisantes Thema ist die Zusammenarbeit mit Angehörigen. Diese reagieren sehr unterschiedlich, wenn Betreuungspersonen sexuelle Bedürfnisse von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ansprechen. In unserem Kultur-

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Partnerwahl und Sexualassistenz Viele Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer kognitiven Beeinträchtigung berichten von der Erfahrung, dass es für ihre beeinträchtigten Kinder sehr schwer sei, eine Part-

© m.schröer

kreis ist es unüblich, dass sich Eltern in die Sexualität ihrer Kinder »einmischen«. Bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ist dies oft der Fall, denn wenn sie die Beistandschaft für ihre erwachsenen Kinder innehaben, haben sie ihnen gegenüber noch immer eine Schutzpflicht.

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S e x u a l i t ä t v o n M e n s c h e n m i t e i n e r B e e i n t r ä c h t i g u n g    6 1

nerin oder einen Partner zu finden. Manchmal gelingt es, und eine Beziehung kann gelebt werden – ein Idealfall. Oft stellen sich Stolpersteine in den Weg, sei es, weil die Eltern Mühe haben, die Partnerschaft zu bejahen, sei es, weil die Person keine Partnerin findet. Gerade in diesen Fällen stellt sich die Frage, ob bei starkem Wunsch nach sexuellen Beziehungen eine Sexualassistentin besucht werden kann/soll. Sexualassistentinnen bieten sexuelle Handlungen an gegen ein Entgeld. Sie sind – im Gegensatz zu Prostituierten – auf Menschen mit einer Beeinträchtigung »spezialisiert« und sie haben eine kurze Ausbildung zur »Sexualassistenz« absolviert, bei der ihnen auch gewisse Grundlagen über Beeinträchtigungen vermittelt wurden. Die Sexualassistenz ermöglicht Menschen, die ein starkes sexuelles Bedürfnis haben, ihre Sexualität außerhalb einer langfristigen Beziehung zu leben. Oft stellt dies für jene Menschen die einzige Möglichkeit dar, Sexualität zu erleben. Gleichzeitig bleibt es eine »gekaufte« Sexualität, welche nicht mit einer Liebesbeziehung gleichgesetzt werden kann. Dies würden sich jedoch viele Menschen mit einer Beeinträchtigung wünschen. Es stellt sich ebenfalls die Frage nach den Motiven der Sexualassistentinnen und -assistenten. Es besteht die Gefahr von Grenzverletzungen und von Eigeninteressen, welche sie in die Dienstleistung einbringen. Diese Gefahr ist Beziehungen mit starkem Machtgefälle inhärent – insbesondere bei sexuellen Handlungen. Diesen Punkten gilt es Rechnung zu tragen bei der Evaluation, ob Sexualassistenz die richtige Antwort auf ein sexuelles Bedürfnis eines Bewohners ist. Schlussfolgerungen Die ethische Debatte um Zustimmung in Sexualität und Schutz vor sexualisierter Gewalt ist bedeutend und hat eine gewisse Schwere. Gleichzeitig sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass Verliebtsein in erster Linie ein wunderbares Gefühl ist. Auch Menschen mit einer kognitiven

Beeinträchtigung sollte zumindest dieses wunderbare Gefühl der Liebe und des Verliebtseins ermöglicht werden. Um im Einzelfall entscheiden zu können, ob eine Person fähig ist, in Sexualität einzuwilligen, ob eine Sexualassistentin einbezogen werden soll, sollten Fachpersonen (Ärzte oder Heilpädagoginnen) gemeinsam ein sexualpädagogisches Projekt durchführen und im nächsten Schritt bei Zweifeln eine ethische Diskussion führen mit der betroffenen Person und gegebenenfalls mit den Angehörigen. Wie so oft können nur die Betrachtung des Einzelfalls und eine gute Kommunikation, allenfalls ein ethisches Entscheidungsfindungsgespräch, welches die Bedenken und Bedürfnisse aller ernst nimmt, zu tragfähigen Lösungen beitragen. Daniela Ritzenthaler, Dr. des., Heil­ päda­gogin, Erwachsenenbildnerin HF. Zurzeit Dozentin für angehende Sozialpädagogen/-pädagoginnen und Kindererzieher/-innen. Zudem tätig in der Ethikbildung und -beratung in Langzeitpflegeinstitutionen. E-Mail: [email protected] Literatur Limita (Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung) (Hrsg.) (2011). Achtsam im Umgang  – konsequent im Handeln. Institutionelle Prävention sexueller Ausbeutung. Zürich. Seifert, M. (2006). Wie lebt es sich in Wohngemeinschaften? Eine Nutzerbefragung in Berlin. In: Geistige Behinderung, 45, 3, S. 200–212. Speck, O. (2005). Viele Eltern haben Angst. In: Walter, J. (Hrsg.), Sexualität und geistige Behinderung (S. 17–21). Heidelberg. Tschan, W. (2012). Sexualisierte Gewalt. Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Bern. Anmerkungen 1 »Menschen mit Beeinträchtigungen« ist ein Sammelbegriff. Selbstverständlich gibt es sehr unterschiedliche Arten von Beeinträchtigungen, welche sich auch sehr unterschiedlich auf die Sexualität auswirken können. Dieser Artikel geht nur auf Rahmenbedingungen der Sexualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ein. 2  https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/201 22488/ (Zugriff am 4.7.2016).

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

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Unabhängigkeit und Trost – Peter Nolls Diktate über Sterben und Tod Matthias Bormuth Im Jahr 1983 erschien ein besonderes Buch des Abschieds. Mit 54 Jahren hatte Peter Noll, Strafrechtsprofessor in Zürich, von seinem unheilbaren Blasentumor erfahren. Das ärztliche Angebot, über eine Operation sein Leben verlängern zu können, schlägt Noll aus: »Ich will nicht in die chirurgisch-urologisch-radiologische Maschine hineinkommen, weil ich dann Stück um Stück meiner Freiheit verliere.« Er fürchtet, über eine Operation in die »passive Patientenrolle« gedrängt zu werden: »Ständig wird etwas mit ihm gemacht, doch nie auf Grund seiner eigenen Entschlüsse, sondern immer auf Grund von diagnostischen oder therapeutischen Erwägungen der Ärzte oder ganz einfach wegen der Organisation des Betriebs.« In diese Situation will der Individualist nicht kommen; er will die »Rolle des Gesunden und des Normalen« so lange als möglich einnehmen, dabei wohl wissend, »todkrank, aber eben nicht Patient« zu sein. Die verbleibenden neun Monate, die er nur mit starken Schmerzmitteln übersteht, will Noll noch intensiv leben und zu »Diktaten über Sterben und Tod« nutzen. Ihn fasziniert die Unabhängigkeit, mit der Michel de Montaigne schon um 1580 sein Leben bis hinein in die letzte Lebensphase in Essays beschrieb: »Ein besseres Leben kann man sich eigentlich nicht vorstellen, befreit von allen Zwängen und Pflichten, nur der lustvollen Selbstdisziplin des Denkens folgend. Ständig hat er mit dem Tod sich beschäftigt, und seine Weisheit beweist, dass diejenigen, die sagen, der Tod sei kein Thema, dumm sind.« Seine größte Sorge gilt der Möglichkeit, unter bürokratisch legitimierten Ordnungs- und Machtstrukturen, wie er sie in Gesellschaft, Universität,

Kirche und Medizin biographisch erfährt, zum Mittel degradiert zu werden, ohne noch eigene Zwecke setzen zu können. Der Jurist kritisiert die gesellschaftliche Neigung, sich den bürokratischen Herrschaftsstrukturen im Glauben anzupassen, sie würden den besten Handlungsablauf garantieren: »Die meisten halten es für beruhigend, dass überall die Apparatschiks die Macht haben; denn diese, meint man, machen keine Dummheiten. Das Gegenteil ist der Fall.« Peter Noll bezeichnet die bürokratisch verwaltete Welt, welche die Handlungsmacht verteilt und kontrolliert, als gottlos, da sie ohne die Möglichkeit der persönlich verantworteten Gewissensentscheidung auszukommen scheint. Das selbstständige, nur einer höheren Person, Gott verantwortliche Individuum ist in ihr überflüssig, nur mehr der soziale Rollenträger zählt. Dagegen heißt es: »Mit Gott kannst du gegen die ganze Welt allein sein, mutig, hochmütig, demütig. Die gottlose Welt, die wir ja nun wirklich haben, ist eine Welt der Machtsysteme, in denen keiner sich auflehnt, alle sich anpassen, alle die anonyme Macht und den gedankenlosen Zwang eines nichtdenkenden Apparats oder Systems vermehren. Da ist mir sogar die Vorstellung eines Vatergottes lieber. Welche Art von Gewissen er auch immer schaffen mag, es ist immer noch besser als die Gewissenlosigkeit, die den Sachzwängen, den Machtapparaten, den anonymen Systemen sich anpasst.« Entsprechend entzieht Noll sich nicht nur dem klinischen Betrieb, der ihn passiv mache, sondern ebenso den täglichen Gewohnheiten des religiösen Lebens. Er möchte das individuelle Moment im Glauben stärken: »Der Gemeinde soll mit-

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 62–63, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Matthias Bormuth ist Inhaber der Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideen­geschichte am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. E-Mail: [email protected]

»diese Musik selber ist ein Triumph über den Tod, und solange sie erklingt, ist der Tod überwunden, auch für denjenigen, der sie im Sterben noch hört«.

Gripped in the claw of the constellation Scorpius, WISE. / Universal History Archive/UIG / Bridgeman Images

geteilt werden, was ich denke über Sterben und Tod und wie ich das Sterben erlebt habe. Es soll eine Aufforderung an das Publikum sein, sich mit dem – abgesehen von der Geburt – wichtigsten Ereignis auseinanderzusetzen.« Dabei setzt sich Noll von allen gedanklichen Formen eines letzten Trostes ab, den die christliche Religion angesichts des Todes zu spenden gewohnt ist. Als Protestant schätzt er die Musik als einzige Kunstform, die aus dem Protestantismus hervorgegangen ist, um das Geheimnis des Todes und was nach ihm sein könnte auf nichtsprachlicher Ebene auszuloten. Angesichts der Pläne für die Trauerfeier, die man in der Züricher Hauptkirche für ihn abhalten soll, schreibt er nüchtern wie begeistert über die Passagen, in denen Bach in der h-Moll-Messe die Auferstehung in Musik fasst: »Der triumphale Sieg über den Tod, der im ›Resurrexit‹ zum Ausdruck kommt, entspricht genau dem christlichen Glaubensbekenntnis. Dieses kann ich aber nicht unterschreiben (…). Es tönt fade, wenn ich sage: diese Musik selber ist ein Triumph über den Tod, und solange sie erklingt, ist der Tod überwunden, auch für denjenigen, der sie im Sterben noch hört oder im Gedanken daran stirbt, dass andere sie bei seiner Beerdigung hören werden. Für mich ganz persönlich jedenfalls ist diese Musik, besonders diese, ganz eng damit verbunden, dass ich mein Sterben und meinen Tod nicht mehr – oder noch nicht – fürchte. Wenn nach dem Tod etwas Neues beginnt, dann werde ich mich davon umso lieber überraschen lassen.«

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»Ein sanfter Tod« – Simone de Beauvoir Renate Wendel heiten ihres Lebens hervor und würdigt auf sehr besondere Weise ihre Lebensleistungen. Ihre Beschreibungen sind einfühlsam und wertfrei und zeigen alle Facetten dieses Menschen, der ihr das Leben schenkte. In diesem Prozess erkennt die Tochter auf schmerzhaft-intensive und auf zunehmende Weise den Mensch in der Mutter. Im Verlauf dieses Prozesses ändert sich auch ihr persönliches Verhältnis zur Mutter und sie ist in der Lage, den körperlichen Zerfall, den sie realistisch beschreibt und der auch mit dem Zerfall des Wesens der Mutter einhergeht, einschließlich des Verlustes des Schamgefühls, zu ertragen, damit umzugehen und zu würdigen. Das auf und ab der Gefühlslage, ihr tiefer Wunsch, der Mutter Hoffnung zu geben in einer aussichtslosen Lage, gehen manchmal fast über

willma … / photocase.de

Simone de Beauvoir wird von der Nachricht über den Unfall ihrer betagten Mutter überrascht, unterbricht ihre Tätigkeit – und gewissermaßen auch ihr Leben –, um nach Paris zurückzukehren und sich gemeinsam mit ihrer Schwester um die kranke Mutter zu kümmern. Durch den Unfall wird die fortgeschrittene Krebserkrankung der Mutter aufgedeckt und Simone bemerkt und spürt Veränderungen bei ihrer Mutter auf, denen sie bis dato keine Bedeutung geschenkt hatte. Durch das beharrliche Zusammenfügen unzähliger Einzelheiten schafft sie ein realistisches Bild ihrer sehr kranken, hilfsbedürftigen, schwachen Mutter: das Bild einer Sterbenden. Gleichzeitig beschreibt de Beauvoir die Lebensgeschichte ihrer Mutter, hebt die Besonder-

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 64–65, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

ihre Kräfte. Sie verschweigt die Diagnose, nimmt die Ängste der Mutter wahr, steht ihr bei und wechselt sich immer wieder mit ihrer Schwester ab. Fortwährend versucht de Beauvoir ihre Mutter zu motivieren, obwohl ihr der Genesungswunsch, der Mut und die Geduld der Mutter bei allen diagnostischen und operativen Maßnahmen sinnlos erscheinen. Sie schafft der Sterbenden die Möglichkeit, von allem, von Freunden, Nachbarn und Erinnerungen, Abschied zu nehmen. De Beauvoir beschreibt kritisch die Rolle der Ärzte und würdigt gleichzeitig die Leistung aller Pflegekräfte und Physiotherapeuten. Ihre eigene Hilflosigkeit, ihre Ängste, das Gefühl von Mitleid, Verwirrung und Ohnmacht fließen ein. Es gelingt der Tochter, dem Sterben durch ihre detaillierten Beschreibungen das Angstmachende zu nehmen. Im Sterben der Mutter setzt sich Simone de Beauvoir mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinander und erfährt beziehungsweise durchläuft dadurch ihren eigenen Umwandlungsprozess. Angesichts der toten Mutter formuliert de Beauvoir die Ambivalenz ihrer Gefühls- und Gedankenwelt: »Derart wenig überraschend und derart unvorstellbar war dieser Leichnam, der an Mamas Stelle auf dem Bett lag. Ihre Hände, ihre Stirn waren kalt. Sie war es noch und war doch für immer verschwunden.« Nach dem Tod der Mutter quälen sie über viele Jahre Selbstvorwürfe wegen Vernachlässigung, Unterlassung und Unachtsamkeit. Gleichzeitig findet Simone de Beauvoir Halt in dem Wissen, dass sie ihrer Mutter in den letzten Wochen ihres Lebens wirklichen Beistand gegeben hat. Ein persönliches Fazit: Aus den Erfahrungen der Sterbebegleitung meiner eigenen Mutter erwuchs in mir der Wunsch, die Weiterbildung Palliativmedizin zu durchlaufen. Nachdem ich diese nun beendet habe, beurteile ich das Buch »Ein sanfter Tod« als gelungene und intensive Auseinandersetzung mit dem Sterben. Es gibt dem Leser dabei eine Hilfestellung und zeigt unterschiedli-

Simone de Beauvoir, 1972 / INTERFOTO / Blackpool

» E i n s a n f t e r To d «   – S i m o n e d e B e a u v o i r    6 5

Simone de Beauvoir (1972)

che und mögliche Wege, dem Sterbenden Würdigung und Entlastung zu geben. Denen, die Sterbende begleiten, kann es wiederum das eigene Schuldgefühl schmälern, dessen Ursprung häufig in der übermächtigen Verantwortung liegt, die man beim und nach dem Sterben des nahestehenden Menschen empfindet. Es ist oft das Schuldgefühl, das einen großen Teil der Trauer ausmacht. Sterben ist ein Teil des Lebens. Niemand trägt Schuld am Sterben an sich. Jedoch jeder trägt Verantwortung im Leben – für andere und noch mehr für sich selbst. Dr. med. Renate Wendel ist Ärztin für Chirurgie, Teilgebiet Spezielle Unfallchirurgie, und arbeit seit 25 Jahren in eigener Praxis. E-Mail: [email protected] Literatur Beauvoir de, S. (1964/2009). Ein sanfter Tod. Reinbek.

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Papas Tod, 1. April 2016 Kate Binnie Dieses Jahr fallen Muttertag und der Geburtstag meines Sohnes auf einen Tag. Es ist sein fünfzehnter. Ein wunderschöner Märztag. Früh stehe ich auf, raus mit den Hunden, während die Familie noch schläft. Hinüber zum Auenhafen durch die milchigen Bodennebel der Sonne entgegen. Am Fluss bleibe ich stehen und denke »Ein schöner Tag zum Sterben«. Ich strecke mei-

ne Arme in die Höhe, grüße die Sonne und denke an Papa, der im Hospiz liegt. »Wird es heute sein?«, frage ich mich … Seit Wochen ist es nun schon tagtäglich dasselbe – eine scheinbar endlose Grenzsituation. Nichts wird sich jemals ändern. Zu Hause angekommen, finde ich eine Menge verpasster Anrufe auf dem Handy vor und das

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 66–68, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Pa p a s To d , 1 .  A p r i l 2 0 1 6    6 7

m.schröer

Telefon klingelt. »Ihr Vater hat gerade seinen letzten Atemzug getan«, sagt mir eine Schwester. Eine halbe Stunde nachdem mein Vater gestorben ist, komme ich im Hospiz an. Meine Mutter ist schon da. Sie war schon unterwegs dorthin. Die Schwestern haben sie an der Tür abgefangen, um ihr die Nachricht zu überbringen. Die vergangene Nacht war die erste, die sie mal wieder zu Hause in ihrer Wohnung verbracht hat, einmal nicht bei ihm – und natürlich ist er gestorben, während sie nicht da war, so wie das oft der Fall ist. Ich höre sie, bevor ich die blauen Plastikvorhänge passiere, die den Raum abschirmen. Leise heult sie. Keine Worte. Ein Klagegesang, selbsterklärend, gleichbleibend durch alle Kulturen, durch alle Zeiten. Sie liegt quer über ihm, streichelt seinen Körper, panisch, tastend, mit den Händen unter seine Kleider, in seine Windel, über seine Haare. Leise gehe ich hinein und spüre, dass ich etwas Bedeutendem, Würdigem und Vertraulichem beiwohne – es ist so wie damals, als ich sie versehentlich beim Sex überraschte. Ich sehe, wie sie sein Gesicht mit Küssen bedeckt, murmelnd, ich schnappe Worte auf, »Ich danke dir« und »Mein Schatz« und »oh, oh«, und ihr Gesicht ist so traurig, Tränen strömen aus ihren Augen und Rotz aus der Nase, sie wischt es weg. Dann schaue ich Papa an. Er sieht genauso aus wie gestern. Weiße, glatte Haut. Breiter Brustkorb, spindeldürre Beine und Arme, der Mund offen, die Augen halb geöffnet. Er ist der Gleiche und irgendwie doch nicht. Ich gehe ans Bett und nehme seine Hand.

Sie ist warm, genauso warm wie gestern. Mama sieht zu mir. Ich streichle ihr über den Kopf. Sie fährt fort in ihrer Trauer. Ich werde von Entsetzen erfasst. Papas Brust rührt sich nicht. Kein Atemzug kommt aus seinem schwarzen, kaputten Mund. Gestern hat mich sein fauliger Atem noch wütend gemacht, krank, müde und verzweifelt, bloß hoffend, dass es bald zu Ende sein möge. Jetzt ist es soweit – und ich suche dringend nach einem Hinweis auf Atmung, auf Leben. Wortlos fahren meine Mutter und ich fort mit den Dingen, die wir tun müssen. Sie reibt seine Hände, seine Arme, seine Brust und verweilt mit ihrem Gesicht auf seinem Bauch, drückt es gegen die wärmste Stelle, unterhalb des Brustbeins, dort, wo die Eingeweide liegen. Langsam werden seine Hände weiß, und als ich seine Hand fallen lasse, fällt sie einfach ganz und gar. Nicht so wie bei jemandem, der gerade in den Schlaf geglitten ist. Immer wieder schaue ich in seine Augen. Noch gestern hatten sie das verblichene Blau eines getrockneten Vergissmeinnicht, das mir folgte auf meinem Weg von der Tür zum Bett zum Stuhl. Nun sind sie grau und von einem gelben Film bedeckt, als hätte er eine Augenentzündung. Sie sind auf grausame Art und unwiderruflich tot. Ich begreife den Ausdruck »das Licht ist erloschen«. Ich untersuche seinen Kopf. Sein Haar riecht, wie es immer riecht, vollkommen nach Papa. Es ist weich und rein. Ich lehne mein Gesicht gegen seinen Kopf und stelle mir das Gehirn da drinnen vor, immer noch rosa, aber ohne wogende Nervenaktivität. Ich spüre es. Es ist, als ob der Strom abgeschaltet wurde. Hirnmasse, die träge und statisch wird, einfach nur Fleisch. Ich untersuche seine Füße. Erst vor ein paar Tagen hatte ich seine Fußnägel geschnitten. Fußnagelstücke schossen in die Ecken des Zimmers wie die Geschosse eines Luftgewehrs. Papa hatte geschmunzelt. Ich hatte seine Füße mit Ölen massiert und Kaschmirsocken über seine frisch

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6 8   K a t e B i n n i e

geglätteten Fersen gestülpt. Noch immer sind seine Füße sauber und gepflegt und weiß, aber sie sind kalt geworden. Auch ich will meinen Kopf in die Kuhle unterhalb seiner Rippen legen, auf Wärme prüfen – ja, sie ist noch da. Die Zeit lief jetzt. Ich wusste, wir würden bald gehen müssen, also arbeiteten wir schneller. Wir wechselten sein Hemd, wir wuschen sein Gesicht. Ich bürstete sein Haar mit der Bürste, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, als ich neun Jahre alt war, und von der er sich nie getrennt hatte. In seinem Bett fand ich das olivfarbene Handkreuz, das ich ihm vor einigen Wochen geschenkt hatte und das er damals höflich beiseite gelegt hatte. Ich ging in den Garten hinaus und pflückte Rosmarin und Traubenhyazinthen und kleine gelbe Blumen, die ich ihm auf die Brust legte. Als ich zu gehen versuchte, traf ich den diensthabenden Arzt auf dem Flur. »Ich weiß manchmal wirklich nicht, was ich sagen soll«, sagte er. Er fühlte sich sichtlich unwohl. »John«, sagte ich (ich dachte ihn jetzt so gut zu kennen, nachdem ich hier zwei Wochen rumgehangen hatte), »drücken Sie mich einfach mal.« Ich merkte, dass es ihm schwerfiel, aber er versuchte es, beugte den Oberkörper geringfügig vor. Ich fühlte mich dämlich und ein bisschen wütend. Am liebsten hätte ich gesagt: »Oh Mann, verflixt noch mal … Mein Papa ist gerade gestorben. Ich weiß, du bist professionell, aber ich will nichts als bloß eine Scheißumarmung.« Aber natürlich, armer John. Jeden Tag, jede Nacht stirbt jemandes Papa, Kind oder Ehefrau unter seinen Augen. Wie viele Umarmungen kann er leisten und dabei weiter funktionieren? Mir ist klar, dass ich einen Fehler gemacht habe, und bin doch in diesem akuten Moment, der sich wie Panik anfühlt, gleichzeitig verzweifelt auf der Suche nach Hilfe. Ich bin ein Kind in Angst. Ich kehre zurück zu Papa, auf der Suche nach der Umarmung, die ich nie mehr spüren werde. Meine Mutter ist noch da, weiter küssend, festhaltend, prüfend. Ich bin so müde. Ich verstehe, dass er tot ist, und weiß, es ist unwiderruflich so,

wirklich. Und nichts von dem, was die Leute sagen, klingt jetzt echt für mich. Dass nur die Person nicht mehr da sei. Oder dass ihr Geist noch im Raum zu spüren sei. Ich fühle die überwältigende, erschreckende Erkenntnis, dass Papa da auf dem Bett liegt und dass die Kraft, die ihn lebendig gemacht hat, für immer geendet hat. Es fühlt sich nicht im Geringsten spirituell an. Es fühlt sich einfach an wie ein plötzliches, niederschmetterndes totales Nichtvorhandensein. Immer wieder versuche ich vergeblich zu gehen. Heute ist der fünfzehnter Geburtstag meines Sohnes und ich habe ihm einen Schokoladen­ kuchen versprochen. »Drei Eier«, sagt mir meine Mutter über Papas Körper hinweg, »und Butterglasur« (sonst backt sie immer den Kuchen). Und: »Bunte Schokolinsen müssen oben drauf.« Noch einmal gehe ich zurück. Es ist das letzte Mal, dass ich Papa sehe. Aber er ist schon kälter und toter und Hände und Füße verändern ihre Farbe. Sein Bauch ist jetzt fast ganz kalt. Ich weiß, dass ich mich jetzt zusammenreißen und gehen muss. Also straffe ich die Schultern und lasse meine Mutter im Zimmer zurück. Sie wartet auf meinen Bruder, der bald kommen wird, ernst, schwankend, seinen Teenagersohn im Geleit. Auch sie müssen den toten Körper in Augenschein nehmen, um zu begreifen, was geschehen ist. Sie müssen ihren zutiefst eigenen Weg in und durch die Trauer gehen. Ich gehe hinter den Schwestern her, die, über den Visitenwagen gebeugt, frisch an ihr Tagwerk gehen, das Reinigungspersonal beginnt mit seinen Runden. Und ich fahre heim. Ich sehe Leute in ihren Autos in den Seitenstraßen, Blinker an, sie gehen in Geschäfte, führen ihre Hunde aus im Frühlingssonnenschein. Und es ist erst Mittagszeit. Übersetzung: Dr. Christina Gerlach (Mainz) Kate Binnie, Studium der Musik und Englischen Literatur, ist Musiktherapeutin und Yogalehrerin in Oxford (England). E-Mail: [email protected]

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Kränkungen am Arbeitsplatz untergraben unsere Würde Bärbel Wardetzki »Die Würde des Menschen ist unantastbar« heißt es in unserem Grundgesetz. Doch stimmt das mit der Wirklichkeit überein? Gibt es nicht immer wieder Situationen, in denen unsere Würde bedroht oder untergraben wird und wir dafür sorgen müssen, sie zu schützen oder wiederherzustellen? Wie sehr unsere Würde gefährdet ist und wie leicht sie verletzt werden kann, weiß jeder Mensch aus erlebten Kränkungen, die unterschiedlichste Gefühle hervorrufen. In Kränkungssituationen sind wir immer einer Art von Entwürdigung ausgesetzt, entweder durch den anderen oder durch uns selbst. Kränkungsgefühle sind Reaktionen auf Ereignisse, durch die wir uns seelisch verletzt fühlen und die unser Selbstwertgefühl angreifen. Diese Ereignisse können sich in Form von Kritik, Zurückweisungen, Ablehnung, Ausschluss, Ignoranz oder Verleumdung zeigen und werden von uns als Entwertung erlebt. Kritik kann uns beispielsweise entwürdigen, wenn sie vor Dritten geschieht und alle erfahren, wie fehlerhaft wir sind. Wir schämen uns, schauen den anderen nicht mehr ins Gesicht und würden am liebsten »im Boden versinken«. Doch nicht nur die Entwürdigung von außen schmerzt uns, auch wir selbst gehen unwürdig mit uns um. Selbstkränkung ist Teil einer Kränkungsreaktion: Wir werten uns ab, sehen unsere Minderwertigkeit bestätigt und verfallen in Selbstzweifel. Wir befinden uns in einer narzisstischen Krise, in der unser Selbstwertgefühl sinkt und auf die wir entweder mit Rachegelüsten oder Selbstmitleid reagieren. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich viel Mühe mit der Ausarbeitung eines Auftrags gegeben und

diese wird nun von Kollegen oder dem Chef verrissen, obwohl Sie mit Lob und Anerkennung gerechnet haben. Sie fühlen sich unverstanden und Ihre Arbeit ebenso wie Ihre Person abgelehnt. Sie stellen sich in Frage und zweifeln an sich und Ihrer Kompetenz. Ihre positive Selbsteinschätzung wird geschwächt, Sie fühlen sich wertlos, und das umso stärker, je mehr Ihre Selbstachtung von einem gelungenen Ergebnis abhängt. »Ich habe die Arbeit mit nach Hause genommen. Es war mir wirklich wichtig, diesen Auftrag gut durch­ dacht und sauber vorbereitet abzugeben. Als ich das Ergebnis dann meinem Chef überreichte, leg­ te er es, ohne reinzuschauen, auf den Schreibtisch und sagte nur: ›Dafür habe ich jetzt keine Zeit.‹ Ich stand da wie ein Trottel. Nein! Ich reiße mir kein Bein mehr aus« (Lothar B., 46 Jahre, Quali­ tätsmanagement). Kränkungen schwächen direkt unser Selbstwertgefühl, da wir uns nicht respektiert, wertgeschätzt, angenommen und verstanden fühlen. Also genau das nicht erfahren, was zur Würde gehört. Daraus resultiert eine tiefe Verunsicherung unserer Person, verbunden mit Gefühlen von Ohnmacht, Enttäuschung, Schmerz, Wut und Verachtung. In unserer Gekränktheit wenden wir uns trotzig von unserem Gegenüber ab, denn mit »so jemandem« wollen wir nichts mehr zu tun haben. Im Arbeitsbereich ist das jedoch schwierig zu verwirklichen, da wir jeden Tag dieselben Kollegen treffen und uns immer wieder mit demselben Chef auseinandersetzen müssen. Wir entkommen ihnen daher nur durch die »innere Emigration« in Form von Passivität, Kontakt-

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wertschätzenden Kontakt, bekommen wir nicht mehr. Nicht selten ist das der Beginn eines späteren Mobbings, bei dem nur noch die Trennung als letzte Lösung bleibt. Besonderheiten von Kränkungen am Arbeitsplatz

Oskar Schlemmer, The Staircase / Bridgeman Images

Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Kränkungen am Arbeitsplatz nicht nur ein persönliches Problem sind, da durch schwelende oder aktuelle Kränkungskonflikte sowohl die Zusammenarbeit als auch die Qualität der Arbeit negativ beeinflusst werden. Im schlimmsten Fall ist sogar der Erhalt der Arbeitsgruppe oder der Institution als Ganzer gefährdet. Nicht selten brechen Teams durch ungelöste Kränkungskonflikte auseinander und gefährden dadurch Arbeitsplätze. Leidet beispielsweise der Vor­ gesetzte unter der größeren fachlichen Kompetenz eines Mitarbeiters und lässt dieser ihn noch dazu seine Überlegenheit spüren, verarbeitet er diese Tatsache womöglich als persönliche Kränkung, die in der Folge seine Führungsfunktion beeinträchtigt. Entweder wird er sich beschämt zurücknehmen und das Feld diesem Mitarbeiter überlassen, also seine Führungsaufgaben indirekt abgeben, oder er wird aus der Verletzung heraus die Zügel stark anziehen und autoritär signalisieren, wer »hier der Chef ist«. Das kann dazu führen, dass der Mitarbeiter sich nun seinerseits gekränkt fühlt, weil ihm Kompetenzen entzogen werden, seine Selbstverantwortung

verweigerung oder Dienst nach Vorschrift. Die Beziehung ist gestört und das lassen wir die anderen spüren. Doch nicht selten erleben wir dann eine erneute Kränkung, weil wir ausgeschlossen oder nicht ernst genommen werden. Denn als gekränkte Mitarbeiter sind wir ein Problem, dem man gern aus dem Weg geht. Wir sind nicht ansprechbar für eine konstruktive Konfliktlösung, sondern verschanzen uns in unserer Opferrolle. Das, was wir brauchen, nämlich den

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eingeschränkt wird und sich die Stimmung in der Abteilung verschlechtert. Die Folgen sind höchstwahrscheinlich Entlassungen oder Kündigungen von Mitarbeitern oder der Führungskraft und damit das Ende so mancher Projekte. Umgang mit Kränkungen Aktuelle Kränkungsreaktionen gehen häufig auf frühere verletzende und entwürdigende Erfahrungen zurück, die das Selbstwertgefühl angegriffen haben. Diese bleiben als sogenannte »offene Gestalten« unabgeschlossen im Unterbewusstsein bestehen und bilden den wunden Punkt, an dem durch aktuelle Auslöser alte Verletzungen aktiviert werden. Das erklärt auch unsere häufig überstarken Emotionen auf Kränkungserlebnisse. Denn wir reagieren nicht nur auf das aktuelle Ereignis, sondern auf alle alten Verletzungen, die am selben Punkt ansetzten. Die Person, von der wir uns gekränkt fühlen, steht dann stellvertretend für alle anderen, die uns bisher gekränkt haben. Das macht Kränkungssituationen so unberechenbar. Denn wodurch der andere sich verletzt fühlt, wissen wir nicht und können es daher auch nicht verhindern. Was wir jedoch von Vorgesetzten ebenso fordern müssen wie auch von uns selbst, ist, dass wir andere Menschen achtungs- und würdevoll behandeln. Das Zauberwort heißt Wertschätzung und bedeutet eine Wohl-wollende Haltung einem Menschen gegenüber. Wir müssen nicht alles am anderen gutheißen, aber Entwertungen, Beleidigungen und Demütigungen gefährden das Wohl und müssen unterlassen werden. Anschreien ist ein schlechter Umgangston, Ignorieren ist Seelentod und jemanden aufgrund von Fehlern abzukanzeln ist unqualifiziert. Auf der anderen Seite sollten wir vermeiden, jemanden nur aufgrund seiner hohen Kränkbarkeit zu schonen – nach dem Motto: »Ich sage lieber nichts, weil der andere dann tagelang beleidigt ist.« Dadurch unterstützen wir die Kränkungsbereitschaft nur, ändern aber nichts an der Beziehung und lösen den Konflikt nicht.

Je genauer wir unsere eigene Kränkbarkeit und unsere wunden Punkte kennen, umso besser werden wir Kränkungssituationen meistern können. Dau gehört auch, um das Kränkungspotenzial des eigenen Verhaltens zu wissen. Selbstreflexion ist ein wichtiges Thema für den Menschen, für die Führungskraft ist es unumgängliche Aufgabe. Häufig ist Führungskräften dies aber nicht bewusst, womit sie indirekt zu einem konfliktreichen Arbeitsklima beitragen. Sie übersehen die kränkende Wirkung von unklaren Kommunikationsstrukturen, unzureichenden Arbeitsaufträgen, mangelnder Transparenz und Führungssicherheit sowie von persönlichen Eigenheiten wie Wutausbrüchen, ungerechter Behandlung, Launenhaftigkeit und vieles mehr. Sind sie zudem blind für ihre eigene Kränkbarkeit, laufen sie Gefahr, in die Dynamik der Gekränkten hineingezogen zu werden. Sie werden entweder zu Opfern durch die Entwertungen der anderen oder zu Tätern für die, die sich durch die Chefs gekränkt fühlen. Der Konflikt kann auf diese Weise nicht geklärt werden, da alle Parteien im sogenannten Dramadreieck gefangen sind. Dann kämpft jeder nur noch um sein Recht und sein Überleben. Von Würde ist nichts mehr zu spüren. Zu einer befriedigenden Konfliktlösung gehört die Deeskalation des Kränkungskonflikts, indem es als gemeinsames Problem versöhnlich angegangen wird. Wichtig sind dabei vertrauensbildende Maßnahmen, die eine sichere Basis schaffen, um mit der anderen Person in einen konstruktiven Dialog zu treten. Wertschätzung und die Wiederherstellung der Würde aller Beteiligten gehören dazu, um einen Weg zu Verständigung und Versöhnung zu bahnen. Dr. Bärbel Wardetzki, Gestalttherapeutin, Supervisorin, Coach, arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis in München. E-Mail: [email protected] Website: www.baerbel-wardetzki.de

Würde bis ans Ende … und darüber hinaus

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Freiwillig gezwungen? Würde im Spannungsfeld von selbstbestimmter Sexarbeit und Frauenhandel

Silke Andrea Mallmann Die Frau am Tisch im Frauenhaus mir gegenüber ist zierlich. Wider Erwarten spricht sie gut Deutsch. Die Übersetzerin neben ihr merkt es und zieht sich zurück. Auf der Stirn hat die Frau eine Narbe. Woher sie so gut Deutsch spreche, frage ich sie. Sie habe sechs Jahre in Deutschland in der Prostitution gearbeitet, bevor sie nach Österreich gekommen sei. Und das, frage ich, und deute auf die Narbe. Ein Unfall, sagt sie, schon lange her. Ob sie einen Zuhälter gehabt habe, will ich wissen. Sie verneint, sie habe nie einen Zuhälter gehabt – glücklicherweise. Nur ihr Exfreund, und der sei ein Idiot. Er habe ihr das Geld abgenommen. Also doch Zuhälter, sage ich. Nein, sagt sie. Ich habe das freiwillig gemacht. Aber ich wollte das nie. Aber was hätte ich anders tun können? Ich bin allein, ich hatte keine andere Wahl. Dieses Gespräch fand erst vor einer Woche statt. Es ist ein typisches Gespräch, wie ich es in den letzten Jahren immer wieder geführt habe. Eigentlich leite ich eine Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Die Dame, mit der ich sprach, ist nach der offiziellen juristischen Definition des Palermo-­Protokolls wahrscheinlich kein Opfer von Zwangsprostitution. Aber sie ist auch nicht das, was man generell als freie, selbstbestimmte Sexarbeiterin bezeichnet. Es gibt wohl kein Thema, das gesellschaftlich so kontrovers diskutiert wird, wie das Thema Prostitution, Sexarbeit oder Sexdienstleistung.

Die Ansätze der Diskussion sind genauso vielfältig – soziologisch, moralisch, feministisch, kulturell, historisch, menschenrechtlich – wie die Palette der Frauen, die sich in der Prostitution befinden: selbstbestimmte, unabhängige Frauen, die für sich entschieden haben, dass sie gern sexuelle Dienstleistungen anbieten, weil sie für sie gute Verdienstmöglichkeit darstellen. Es gibt aber auch viele darunter, die aus einem Anlass zur Prostitution gekommen sind und mittlerweile einen Ausstieg nicht mehr erwägen, oder Frauen, die aus finanzieller Not in der Prostitution eine Möglichkeit sehen, kurz- oder langfristig eine Einkommensmöglichkeit zu haben, bis hin zu versklavten und entrechteten Zwangsprostituierten und Opfern von Menschenhandeln. Genauso divergierend wie diese Beweggründe sind die Sichtweisen der Betroffenen und Experten auf das Phänomen Prostitution. Die Lager bewegen sich von der Meinung, »Prostitution ist ein Beruf wie jeder andere auch« bis zu »Prostitution ist immer Gewalt an Frauen«. Verletzt Prostitution die Würde des Menschen? Der Erhalt der Menschenwürde in der Prostitution werde maßgeblich dadurch bestimmt, dass die Frauen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, argumentieren die Prostitutionsbefürwor­ter/-in­ nen. Wenn eine Frau sich frei und unabhängig für die Arbeit als Sexarbeiterin entscheide, müsse man diese selbstbestimmte Entscheidung akzeptieren. Klar abzugrenzen davon s­ eien Frauen­

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 72–75, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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handel und Zwangsprostitution, in der Frauen zum Objekt gemacht, abhängig, verdinglicht, entwürdigt werden. Prostitution sei in jedem Fall sexuelle Ausbeutung und Ausdruck einer Geschlechterhierarchie in der Gesellschaft und verletze die Menschenwürde, denn eine Person dürfe nicht zum Objekt der Begierde einer anderen Person degradiert werden, so argumentieren die Prostitutionsgegner/-innen. Zurzeit scheinen die Fronten im gesellschaftlichen Diskurs zwischen Befürwortern und Prostitutionsgegnern verhärtet. Die Diskussion ist emotionsgeladen, haben doch beide Positionen ihre Berechtigung. Die Gefahr liegt in der Verabsolutierung und einer fehlenden inhaltlichen Differenzierung zwischen freien, unabhängigen, selbstbestimmten Sexdienstleisterinnen auf der einen, Opfern von Frauenhandel und Zwangsprostitution auf der anderen Seite sowie der großen Gruppe der Frauen, die ich als »pseudo-freiwillig« bezeichne und die meiner Meinung nach den Großteil der in der Prostitution tätigen Frauen ausmachen. Vom Mythos der Freiwilligkeit Die meisten der Frauen, für die ich den Begriff »Pseudo-Freiwillige« verwende, kommen aus osteuropäischen Ländern. In den ersten Gesprächen geben sie meistens an, dass sie freiwillig den Weg in die Prostitution genommen haben; keine von ihnen sei von einer anderen Person gezwungen worden. Manchmal enthüllt sich erst nach Jahren des Vertrauensaufbaus die wirkliche Motivation. In fast allen Fällen wird deutlich, dass es für die Frauen zum Zeitpunkt der Entscheidung keine wirkliche Wahlmöglichkeit gegeben hat. In vielen Fällen erfolgte die Entscheidung in absolut existenzieller, persönlicher oder familiärer Krise (Armutsprostitution), in Abhängigkeit von ausbeuterischen Beziehungen oder im völligen Auf-sich-allein-gestellt-Sein. Grundlegendes Motiv war die Auswegs- und Hilflosigkeit und das Gefühl, unter den gegebenen Bedingungen keine Zukunft zu haben. Das Versprechen und

die ­Hoffnung, in der Prostitution schnell zu Geld zu kommen, und der vorgegaukelte Erfolg von Freundinnen gaben in vielen Fällen den nötigen Mut, um in den Westen aufzubrechen. Die Realität zeigt, dass sich der Traum vom großen, schnellen Geld nur in einigen wenigen Fällen oder nur kurzfristig erfüllt. Es ist legitim, von einer Metaebene aus zu argumentieren, dass diese Frauen natürlich eine andere Option gehabt hätten. Das persönliche Erleben der meisten Frauen ist aber ein anderes: Für sie gab es in dem Moment keine andere Möglichkeit und damit keine freie, selbstbestimmte Wahl. Diese Frauen – anders als die freie, selbstbestimmte Prostituierte – erleben sich im Laufe ihrer Tätigkeit ähnlich wie Zwangsprostituierte, als Objekt, das gefangen ist in einem ausbeuterischen System. Zunehmende Forderungen bei Betreibern oder Freunden, bei denen sie Schulden haben, machen sie zusätzlich verletzlich und verführen sie – des Geldes wegen –, ohne Schutz zu arbeiten und sich zu sexuellen Leistungen überreden zu lassen, die sie nachher bereuen und für die sie Scham und Ekel empfinden. Viele bleiben jahrelang in der Prostitution, weil Ausstiegsunterstützung und Ausstiegszenarien fehlen. Das Argument, damit der eigenen Familie in Osteuropa zu helfen, ein Haus für später zu bauen, den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen, gibt ihnen Kraft weiterzumachen und hilft trotz Scham, das Gefühl von Würde aufrechtzuerhalten. Obwohl die menschliche Würde ein generelles Gut ist, das niemandem abgesprochen werden kann, ist das subjektive Erleben von Würde in der Prostitution stark mit der Erfahrung von subjektiver Kontrolle und Einflussnahme verbunden. Je hilfloser, abhängiger und ohnmächtiger eine Frau sich fühlt, je mehr sie zum Objekt degradiert wird, desto mehr fühlt sie sich entwürdigt. Dass die Rahmenbedingen der Prostitution an sich in vielen Fällen nicht nur im Bordell­betrieb, sondern auch in der Gesellschaft ein entwürdigendes Umfeld schaffen (kaum rechtliche Absicherungen), erhöht die subjektiv erlebte Hilf­losigund damit Abhängigkeit.

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Egon Schiele, Frau mit verschränkten Händen, Rückenansicht. 1917 / INTERFOTO / IMAGNO / Austrian Archives

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Gebraucht und nicht gewollt: das gesellschaftliche Dilemma Im gesellschaftlichen Diskurs erleben viele dieser Frauen nach wie vor – sowohl im Heimatland wie auch in Westeuropa – eine moralische Stigmatisierung. So werden Prostituierte oft unabhängig davon, welcher Umstand sie zur Prostitution geführt hat, im gesellschaftlichen Diskurs immer noch zur

Gruppe der »affect aliens«, der »emotional Anderen oder Fremden« (Ahmed 2010) gezählt. Sie unterliegen einer soziologischen Gruppenkonstruktion innerhalb einer Gesellschaft, zu der Menschen gezählt werden, die die »guten Gefühle« der Bevölkerungsmehrheit stören und deshalb ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt werden. Auch wenn juristisch argumentiert wird, dass die Menschenwürde einem Menschen generell nicht

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entzogen werden kann, erleben viele der betroffenen Frauen – von der freiwilligen Sexarbeiterin bis hin zur Zwangsprostituierten – genau diesen Entzug von Würde. Nicht allein durch Freier, Bordellbetreiber, Zuhälter oder aufgrund ungewollter sexueller Kontakte, sondern aufgrund der nach wie vor existierenden Stigmatisierung und Moralisierung, die sie in die Gruppe der »affect aliens« drängen. Während die Errichtung von Großbordellen als Belebung des Wirtschaftsstandortes gepriesen wird, bleibt die gesellschaftliche Anerkennung den Prostituierten selbst landläufig versagt. Gerade diese Doppelmoral, mit der das Phänomen Prostitution in unserer Gesellschaft nach wie vor behandelt wird, ist stigmatisierend und entwürdigend. Opfer oder Überlebende? Von der Gefahr der Verabsolutierung des Opferbegriffs Parallel dazu werden in der derzeitigen Diskussion von Prostitutionsgegnern und -gegnerinnen oftmals alle Frauen, die der Prostitution nachgehen, als Opfer struktureller Gewalt gesehen. Diese Argumentation ist meiner Meinung nach in Ansätzen nicht falsch, dennoch warne ich vor einer Absolutierung. Grundsätzlich alle Frauen, die der Prostitution nachgehen, als Opfer zu sehen, birgt die Gefahr, den Opferbegriff zu verflachen und den Frauen Unrecht zu tun, die wirklich durch Zwang, Täuschung, Druck und Abhängigkeit in die Prostitution gelangt sind. Eine generelle Viktimisierung schadet den wirklichen Opfern von Zwangsprostitution und Frauenhandel, weil sie das erfahrene Unrecht, den Betrug, die Gewalt und die damit erlebte Hilflosigkeit und Entwürdigung generalisiert und minimiert. So wichtig es für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution ist, juristisch und gesellschaftlich zwischen Täter und Opfer klar zu unterscheiden, so bedeutsam scheint es aus sozialpsychologischer Sicht, nicht beim Opfer­ begriff stehenzubleiben. Gerade gehandelte, entrechtete, missbrauchte, gedemütigte oder geschlagene Frauen, die Frauenhändlern und Zuhältern

in die Finger gefallen sind, sind nicht nur Opfer, sondern immer auch Überlebende. Überlebende, einer massiven Unrechtssituation, die oftmals gesellschaftlich wie juristisch nicht anerkannt wird. Diese Frauen haben vielfach eine innere Kraft, die ich bewundere. Es ist eine Kraft, die in Gerichtsverfahren, wenn sie ihre Peiniger anzeigen sollten, oftmals wieder auf die Probe gestellt wird: Man schenkt ihnen keinen Glauben, macht sie mitverantwortlich für das, was ihnen passiert ist, unterstellt ihnen Dummheit, Naivität und Mittäterschaft und so weiter. Würde erwächst aus gesellschaftlicher Anerkennung und meiner Meinung nach im Fall der Prostitution auch aus klarer Differenzierung: • Freie, selbstbestimmte Prostituierte haben das Recht, in ihrer Entscheidung akzeptiert zu werden. • Überlebende von Menschenhandel und Zwangsprostitution haben das Recht auf juristische Anerkennung als Opfer. • Frauen, die »pseudo-freiwillig« in die Prosti­ tution geraten sind, haben das Recht auf Anerkennung, dass sie Abbild einer Ungerechtigkeit sind, die aus einer strukturellen Gewalthierarchie und einem ausbeuterischen Globalisierungskonzept heraus entstanden ist. MMag. Silke Andrea Mallmann, Ordensfrau (Missionschwestern vom Kostbaren Blut, Wernberg), Studium der Pädagogik und Psychologie, Schwerpunkt Psychotraumatologie, hat langjährige Auslandserfahrung in Südafrika, Mosambik, Namibia, Angola, Albanien. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut für Psychologie und Institut für Bildungswissenschaften der Universität Klagenfurt und Leiterin der Beratungsstelle Talitha, ein Projekt der Kärntner Caritas für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Kärnten. E-Mail: [email protected] Literatur Ahmed S. (2010). The pomise of happiness. Durham/London.

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Würde und Strafvollzug Ulrich Peters In der Bundesrepublik Deutschland gibt es insge­ samt 184 Justizvollzugsanstalten (JVA) mit unterschiedlichen Haftformen. In diesem Artikel geht es in erster Linie um den Strafvollzug in der JVA Werl. Es handelt sich hierbei um die größte Verbüßungsanstalt des geschlossenen Vollzugs im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit fast 1000 Haftplätzen. In der Regel werden dort längere Freiheitsstrafen vollzogen, und dies bei Inhaftierten, die schon mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Außerdem sind in einem gesonderten Hafthaus noch Sicherungsverwahrte untergebracht. Diese haben ihre Freiheitsstrafe bereits verbüßt. Da man bei der Verurteilung jedoch der Auffassung war, dass bei ihnen ein besonderer Hang besteht, weiterhin gravierende Straftaten zu begehen (Sexual- und/ oder Gewalttaten), wurden neben der Anordnung der zeitigen Freiheitstrafe die anschließende zeitlich unbefristete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. In Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Diesen Text oder ähnliche Formulierungen finden wir in zahlreichen Verfassungen auch anderer demokratischer Staaten. Es stellt sich die

Frage, gilt dies auch für Personen, die massiv Gesetze missachtet und erheblich gegen Grundrechte (zum Beispiel dem Recht auf körperliche Unversehrtheit) der Bürgerinnen und Bürger verstoßen haben? Mit dieser Fragestellung waren in der Vergangenheit zahlreiche Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht beschäftigt. In allen Entscheidungen wurde deutlich, dass dies selbstverständlich auch für Personen gilt, die sich in Unfreiheit und unter staatlicher Obhut befinden. Für die Bundesrepublik Deutschland gilt außerdem, dass andere Grundrechte (wie Postgeheimnis oder Freizügigkeit) nur aufgrund eines Gesetzes während der Zeit der Unterbringung eingeschränkt werden dürfen. Bis vor einigen Jahren hatte die Bundesrepublik ein einheitliches Strafvollzugsgesetz, das den Vollzug der Freiheitsstrafen regelte. Seit vor einigen Jahren eine Föderalismusreform erfolgte, ist nun jedes Bundesland für die eigene gesetzliche Regelung zuständig. Die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen sind bundesweit weitestgehend identisch. So wird auch das Vollzugsziel in allen Bundesländern ähnlich formuliert. Danach soll der oder die Inhaftierte befähigt werden, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. Des Weiteren dient die Inhaftierung auch dem Schutz der Bevölkerung vor ­weiteren Straftaten.

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Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird ausgeführt: »Würde umfasst Sein und Habitus geistig und sittlich autonomer Wesen, in denen sich ihr innerer Wert ebenso kundtut wie ihr Anrecht auf Selbstachtung und Achtung seitens der Umwelt.« Im Folgenden beschäftigen wir uns mit der Fragestellung, ob sich Inhaftierte während des Vollzuges der Freiheitstrafe als sittliche und autonome Wesen erleben können, die einen inneren Wert haben, und ein Recht auf Selbstachtung und Achtung seitens der Umwelt besteht. Dazu müssen wir uns gedanklich in den Strafvollzug begeben und die einzelnen Abläufe und das Leben in der »totalen Institution« unter die Lupe nehmen. Der Verurteilte wird dem Strafvollzug zuge­ führt oder er stellt sich zum Strafantritt. Die Entscheidung darüber, in welcher Anstalt die Freiheitstrafe vollstreckt wird, trifft die Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft) entsprechend dem Vollstreckungsplan. In der Regel soll dies heimatnah erfolgen. In der Anstalt werden zunächst die persönlichen Daten aufgenommen und eine Akte angelegt. Danach erfolgt die Zuführung zur Kammer. Dort muss der Verurteilte seine komplette Kleidung ausziehen und abgeben. Die Bediensteten schauen in den Körperöffnungen nach, ob verbotene Gegenstände mit eingebracht wurden (zum Beispiel Drogen, Geld, Handy, Waffen). Eheringe und Uhren von geringerem Wert dürfen behalten werden. Das gilt auch für Familienfotos. Danach wird die Anstaltskleidung ausgehändigt. In den ersten Wochen werden die Insassen auf der Zugangsabteilung untergebracht. In dieser

Zeit führen die unterschiedlichen Fachdienste mit ihnen Gespräche, nachdem zuvor der Anstaltsarzt die gesundheitliche Untersuchung durchgeführt und die Haftfähigkeit festgestellt hat. Sinn der Gespräche mit den Fachdiensten ist eine ausführliche Einschätzung über den bisherigen Werdegang des Insassen und eine erste Analyse über die Sozialprognose und das Aufstellen eines Vollzugplanes. Jeder Fachdienst (ärztlicher Dienst, pädagogischer Dienst, psychologischer Dienst, seelsorgerischer Dienst, Sozialdienst und die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung) machen Vorschläge im Rahmen eines Behandlungsplanes, welche Maßnahmen für den Inhaftierten sinnvoll erscheinen. Dies könnten zum Beispiel sein: berufsnaher Arbeitseinsatz in der Schreinerei, Schuldnerberatung, Suchtberatung, Sozialtherapie, Förderung der Außenkontakte, sorgfältige Entlassungsvorbereitungen, Unterbringung in einer Wohngruppe, soziales Training und Erprobung in Vollzugslockerungen. Die Inhaftierung wird aus verständlichen Gründen als gravierender Einschnitt wahrgenommen. Der Betroffene wird aus seinem gewohnten Umkreis gerissen und häufig von jetzt auf gleich in ein ungewisses, von starren Regeln gekennzeichnetes neues Umfeld gebracht. Fast alle seine persönlichen Gegenstände werden ihm abgenommen. Wer berufstätig war, verliert seine Arbeitsstelle. Seine Kontakte werden deutlich eingeschränkt oder brechen vollkommen ab. Er unterliegt einem Tagesablauf, über den er weitgehend nicht mehr selbst bestimmen kann. Seine persönlichen Daten, seine Vorgeschichte, sein gesamter Lebenslauf und seine strafrechtliche Vorbelastung werden in einer Akte dokumentiert

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und sind für alle Anstaltsbediensteten einsehbar. Er wird zur Einhaltung der Hausordnung aufgefordert. Sein Haftraum wird in unregelmäßigen Zeitabständen auf verbotene Gegenstände untersucht. Bei Verstößen gegen die Hausordnung können Disziplinarverfahren eingeleitet und es kann eine Bestrafung (zum Beispiel Arrest oder Freizeitsperre) verhängt werden. Im geschlossenen Vollzug werden ein- und ausgehende Briefe kontrolliert. Dies alles geschieht nicht, um den Gefangenen die Würde zu nehmen, obwohl es von Außenstehenden und insbesondere von den Betroffenen selbst so gesehen wird. Viele dieser Regelungen und Vorschriften wurden geschaffen, um die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Verschärfungen von Vorschriften und Regelungen sind häufig eine Folge von spektakulären Auffälligkeiten der Strafgefangenen (Geiselnahmen, Ausbrüche und gravierende Straftaten während der Beurlaubungen). In den letzten Jahren wurde aus diesem Grund über Beurlaubungen aus dem geschlossenen Vollzug restriktiver entschieden. Trotzdem bietet das Strafvollzugsgesetz noch zahlreiche Möglichkeiten, um den schädlichen Einfluss, der zwangsläufig mit der Inhaftierung verbunden ist, zu reduzieren. Im Rahmen der Kontaktförderung sind neben den Regelbesuchen noch Sonderbesuche und Besuchsverlängerungen möglich. Außerdem können geeignete Inhaftierte zu den nicht überwachten Langzeitbesuchszellen zugelassen werden. Über die Eignung wird im Rahmen einer Konferenz entschieden. Dabei können sich alle Bediensteten, die an der Behandlung der Inhaftierten beteiligt sind, schriftlich oder mündlich äußern. Ausschluss­

kriterien sind in erster Linie ein positives Drogenscreening oder die Befürchtung von aggressiven Übergriffen auf die Besucher. Die Bediensteten bemühen sich, den Gefangenen eine Arbeit zu vermitteln, die ihren Fähigkeiten entspricht. Diese arbeiten überwiegend innerhalb der Anstalt in Unternehmerbetrieben oder Eigenbetrieben (Bäckerei, Schlosserei, Schneiderei, Küche). Einige wenige Gefangene sind auch unter Aufsicht außerhalb der Anstalt beschäftigt. Auch Berufsausbildungen mit Lehrabschluss sind möglich. Häufig erfolgt in diesen Fällen eine vorgeschaltete schulische Förderung in der Schulabteilung. Bei Drogenabhängigkeit und Drogengefährdung werden die Inhaftierten von internen und externen Suchtberatern betreut und begleitet. Für eine Vermittlung in eine Therapiestelle wird Hilfestellung geleistet. Im Freizeitbereich sind zahlreiche sportliche Aktivitäten auf dem Sportplatz und in der Sporthalle möglich. Auch Kraftsport ist im Angebot. Anregungen der Inhaftierten im Freizeitbereich werden berücksichtigt. Gesprächsgruppen werden oftmals auch von externen Kräften angeboten. Wenn keine Missbrauchs- und Fluchtgefahr besteht, können nach einer gewissen Haftzeit und gründlicher Prüfung die Inhaftierten im Rahmen der Progression in den offenen Vollzug verlegt werden, wo dann auch Beurlaubungen bei weiterhin positiver Entwicklung zum Standard gehören. Für die Gefangenen ist sicher auch von sehr großer Bedeutung, dass sie sich gegen Haftbedingungen und Einzelentscheidungen nicht nur an die Dienstaufsicht (Justizministerium), den Gefangenenbeirat und den Petitionsausschuss

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wenden können. Jeder Inhaftierte kann außerdem einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen und, insbesondere wenn er den Eindruck hat, nicht menschenwürdig behandelt oder untergebracht zu sein, sich an das Bundesverfassungsgericht wenden. Dort wurde vor einiger Zeit entschieden, dass es menschenunwürdig sei, wenn Inhaftierte in zu kleinen Zellen mit anderen Gefangenen untergebracht werden und/ oder eine räumliche Trennung vom Toilettenbereich (mit eigenständiger Entlüftung) nicht gewährleistet ist. In solchen Fällen wird die Justiz verpflichtet, Schadensersatz zu leisten und bei Überbelegung, wenn keine andere Unterbringung möglich ist, den Gefangenen zu entlassen. Beim Umgang mit Inhaftierten geht es auch immer um Nähe und Distanz. Fingerspitzengefühl und Sensibilität sind wichtige Voraussetzungen, um die Würde der Inhaftierten zu bewahren. Ihre Entwicklung war im Kindesalter und in der Jugendzeit häufig gekennzeichnet von wechselnden Bezugspersonen und wenig Zuverlässigkeit der Erwachsenen ihnen gegenüber. Auf Vertröstungen reagieren sie oftmals aufgrund der negativen Erfahrungen verstört. Von daher sollte dies bei allen organisatorischen Schwierigkeiten vermieden werden. Für die Gefangenen ist es oftmals leichter zu ertragen, eine klare negative Entscheidung zu bekommen, als monatelang im Ungewissen zu bleiben. Wenn es den Bediensteten gelingt, Gefangenen nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe zu begegnen, ist schon viel gewonnen. Abschließend sollte nicht unerwähnt bleiben, dass bei aller Professionalität die Beschäftigten im Strafvollzug manchmal auch an ihre Grenzen stoßen. Ich will dies an zwei Beispielen nä-

her erläutern. Zu Beginn der Haftzeit wird den Mitarbeitern der Fachdienste die Personalakte des Inhaftierten vorgelegt. Auch wenn man weiß, dass ein wichtiger Grundsatz heißt: Trennung von Tat und Täter, ist dies emotional nicht immer leicht. Insbesondere wenn im Urteil sehr detailliert Grausamkeiten geschildert werden, die kaum vorstellbar sind, kann das unmittelbar darauf folgende Gespräch als sehr belastend empfunden werden. Hilfreich ist es dann, einige Tage abzuwarten, bevor das Zugangsgespräch geführt wird. Ein anderes Beispiel ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Eine junge Sozialarbeiterin wurde von einem Gefangenen in unvorstellbarer Weise in schriftlicher und mündlicher Form vulgär beleidigt. Die Betroffenheit der Kollegin war aus verständlichen Gründen sehr groß. Sie hat daher Strafanzeige erstattet. Im Rahmen einer Hauptverhandlung wurde eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten gegen den Gefangenen verhängt. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Sozialarbeiterin und dem Inhaftierten war auf diesem Hintergrund nicht mehr möglich. Im Rahmen einer Konferenz wurde daher entschieden, dass ein männlicher Kollege zuständig wurde. Ulrich Peters war vierzig Jahre bis zu seiner Pensionierung als Sozialarbeiter in der Justizvollzugsanstalt Werl in den unterschiedlichen Haftbereichen (Wohngruppenvollzug, Sicherungsverwahrung, Zugangsbereich und Regelvollzug) beschäftigt. E-Mail: [email protected]

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»Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie er zu Lebzeiten aussah …« Würdevoller Umgang mit dem Leichnam

Margit Schröer und Susanne Hirsmüller »Wer einmal selbst einen liebsten Menschen zwi­ schen Totenlager und Grab eigenhändig versorgte, weiß mit allen Sinnen um die Sterblichkeit und die tätige Sorge, die zur Kunst des Lebens und Leidens gehörte. Beides war – und ist es immer noch – ein Fundament der conditio humana, unseres Mensch­ seins« (B. Duden, 2007).

© m.schröer

Carmen Thomas veröffentlichte 1994 das Buch: »Berührungsängste? Vom Umgang mit der Leiche«, in dem sie neben Fachinformationen und eigenen

Recherchen zahlreiche Berichte von Betroffenen über Erlebnisse mit Verstorbenen zusammenfasste. Hier wurde erstmals eine Art Checkliste abgedruckt, die den Leser dazu anregen sollte, sich Gedanken über die eigenen Wünsche im Hinblick auf sein Versterben und die Zeit danach zu machen. Sind die Nahestehenden und die professionellen Mitarbeitenden im Gesundheitswesen mittlerweile aufmerksamer und sensibler für diesen so wichtigen Zeitraum zwischen Versterben und Bestattung?

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© m.schröer

Die Beziehung zum Verstorbenen endet nicht » I c h m ö c h t e i h n l i e b e r s o i n E r i n n e r u n g b e h a l t e n , w i e e r z u L e b z e i t e n a u s s a h  … «    mit dem Tod, ihre Bindung bleibt bestehen, sie entwickelt sich weiter, Zuneigung und Liebe sind weiterhin bedeutsam. Allerdings müssen diese nun anders gelebt werden.

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Zwischen Tod und Bestattung

© Christian Schulz. Szenenfoto aus »Ich sehe Dich«

Übergangsriten überführen den ­Verstorbenen symbolisch in die andere Welt, dienen somit der endgültigen Trennung und helfen bei der ­Neuorientierung der Beziehungen.

Diese »Zwischenzeit« ist für Nahestehende eine ganz besondere Zeit: Der tote Mensch ist für die Angehörigen zwar noch anwesend, aber eben gleichzeitig auch schon abwesend. Noch ist er sichtbar und »handgreiflich« präsent, berührbar, noch ist er ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Der Leichnam ist zwar nicht identisch mit der lebenden Person, aber ein Mensch ist auch nicht unabhängig von seinem Körper zu denken. Im Kopf der Angehörigen wird er oft noch »lebendig gedacht«, sie sprechen mit ihm, manchmal decken sie zum Essen seinen Platz am Tisch mit. In fast allen Kulturen muss der Statuswechsel von der Gemeinschaft der Lebenden in die Welt der Toten von den noch lebenden Hinterbliebenen – die ebenfalls einen Statuswechsel vollziehen, nämlich den vom An- oder Zugehörigen zum

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» I c h m ö c h t e i h n l i e b e r s o i n E r i n n e r u n g b e h a l t e n , w i e e r z u L e b z e i t e n a u s s a h  … «    8 3

Hinterbliebenen – gestaltet werden und dabei hat der sorgsame Umgang mit dem Leichnam eine wichtige Funktion. Entsprechende Übergangsriten überführen den Verstorbenen symbolisch in die andere Welt, dienen somit der endgültigen Trennung und helfen bei der Neuorientierung der Beziehungen (zum Verstorbenen und zwischen den Über-Lebenden). In Deutschland haben viele über Fünfzigjährige noch keinen Toten gesehen, geschweige denn das Sterben eines Menschen miterlebt. So ist ihr Verhalten in dieser für sie unbekannten Situation von Unsicherheit und Hilflosigkeit geprägt sowie von ihrem Wunsch nach Nähe und einem für sie passenden Abschied, aber eben auch der Angst vor der Konfrontation mit dem Leichnam und sogar vor dem angeblichen Leichengift. Ihre Beziehung zum Verstorbenen endet nicht mit dem Tod, ihre Bindung bleibt bestehen, sie entwickelt sich weiter, Zuneigung und Liebe sind weiterhin bedeutsam. Allerdings müssen diese nun anders gelebt werden, andere Ausdrucksmöglichkeiten und ein eigener Weg des Umgangs gefunden werden. Ohne Unterstützung beziehungsweise Anleitung reduziert sich dies leider häufig auf das Auswählen aus den zahlreichen Möglichkeiten der Bestattungsgestaltung aus dem Hochglanzkatalog des Bestatters. Schwerkranke und Sterbende – nicht nur in Institutionen – machen sich manchmal Gedanken über den Umgang mit ihrem Körper nach dem Versterben durch die Professionellen (Pflegende, Bestatter …). Entsprechende Fragen zeugen davon. Sie wünschen sich einen achtsamen Umgang und Begleitung und wollen nicht einfach unbemerkt, ohne Abschied der Mitbewohner, »entsorgt« werden. Aufbahrungsräume in Einrichtungen des Gesundheitswesens sollen warm, freundlich und gut zugänglich sowie interkulturell gestaltet werden, da diese letzten Bilder in den Köpfen der Nahestehenden zurückbleiben. Auch wenn keine Angehörigen da sind, muss mit dem toten Körper eines Menschen würdig umgegangen werden bei

der Versorgung, der Einsargung, der Beförderung und der Bestattung. Professionelle in der Versorgung toter Menschen sollten sich immer mal wieder fragen: Wie würde ich diesen Leichnam berühren, versorgen, transportieren …, wenn es ein geliebter Angehöriger von mir wäre? Ein sorgsamer und individueller Umgang gehört in der hospizlich-palliativen Pflege zur Grundhaltung aller Mitarbeitenden. Nicht nur während der Zeit der Begleitung des Sterbenden, sondern auch nach seinem Tod wird der Mensch als Individuum gewürdigt. Daher erfolgt seine Versorgung, soweit dies bekannt ist, so wie er es sich für sich selbst gewünscht hat oder, falls nicht, wie die Nahestehenden es sich wünschen. Dabei ist es üblich, den An- und Zugehörigen anzubieten, bei der Versorgung (warum sagt man bei Verstorbenen eigentlich nicht mehr Pflege?) des Toten dabei zu sein oder mitzuhelfen. Meist steht ein schön gestalteter Abschiedsraum zur Verfügung oder der Verstorbene bleibt in Hospizen oder auf Palliativstationen in seinem Zimmer, bis sich die Nahestehenden verabschiedet haben. Empfehlungen Bestatter und Begleiter (Haupt- und Ehrenamtliche aus Palliative Care und Pfarrgemeinden) sollten Hinterbliebene gezielt auf die vorhandenen Möglichkeiten der individuellen Abschiednahme – insbesondere in den eigenen vier Wänden – hinweisen und entsprechende Angebote machen. Hier liegt eine besondere Verantwortung bei den Kirchen und ihren Seelsorgenden. In der vertrauten Umgebung ist es für Trauernde leichter, ihre authentische und individuelle Abschiedsform zu finden und Schritt für Schritt zu durchleben. Viele Menschen brauchen hier die Unterstützung durch andere, die um diese Möglichkeiten wissen, um dann ihre Wünsche, ihren eigenen Weg  – abhängig von der Beziehung und den aktuellen Gefühlen zum Verstorbenen – umzusetzen.

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Es ist, je nach Bundesland, möglich, Verstorbene 24 bis 72 Stunden zu Hause – auch nach dem Versterben im Krankenhaus oder Altenheim – aufzubahren, um sich in Ruhe zu verabschieden. Diese leibhaftige Erfahrung erfolgt in dem Wissen, dass es das Letzte ist, was man konkret für diesen Menschen tun kann. Beim eigenhändigen Umsorgen des Leichnams kann die Wertschätzung gegenüber dem Körper in vielen zärtlichen Gesten beim Schließen der Augen und des Mundes, beim Waschen und Ankleiden, beim Aussuchen von Sargbeigaben, aber auch beim Klagen und Danken, sogar bei möglichen Versöhnungen am Totenbett ihren Ausdruck finden. Neben den engen Angehörigen können auch andere Nahestehende in dieser intimen Atmosphäre Abschied nehmen, gemeinsam Rituale finden, über den Toten und sein Leben nachdenken, erzählen und ihn in die Erinnerung nehmen. Bei der zuwendenden Fürsorge für einen toten Menschen ist immer sein Glaubens- und kultureller Hintergrund respektvoll zu berücksichtigen. Exkurs: Totensorge Die nächsten Angehörigen haben das Totensorgerecht. Es umfasst jegliche Fürsorge für den Toten unter Achtung seines letzten Willens und seines fortwirkenden Persönlichkeitsrechts. Rechtlich gesehen ist der Tote kein Subjekt mehr, daher ist der Begriff »Menschenwürde« nach Ansicht verschiedener juristischer Experten nicht zutreffend. Stattdessen wird zum Beispiel der neue Begriff »Totenwürde« in den Bestattungsgesetzen von Bundesländern und kommunalen Friedhofsordnungen verwendet. Er betont die besondere Schutzwürdigkeit des toten Körpers und »die Würde, die jeder Tote genießt und auf die er Anspruch hat« (Groß et al. 2013). Das Bestimmungsrecht des Toten gilt über den Tod hinaus, das heißt, seine Bestimmungen bezüglich des Abschiednehmens und der Bestattung bleiben gültig.

Fazit Die Hinwendung zum Verstorbenen und würdevolle Versorgung des toten Körpers ist sowohl eine individuelle als auch soziale und kulturelle Aufgabe, die in unserer Zeit neu ins Bewusstsein aller geholt werden sollte. Margit Schröer ist Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin, Psychoonkologin, Supervisorin und Ethikerin im Gesundheitswesen. Sie hat über 30 Jahre als leitende Psychologin in einem großen Krankenhaus in Düsseldorf gearbeitet und vor 24 Jahren die örtliche Hospizgruppe mitgegründet. Sie ist pensioniert, lehrt an zwei Universitäten und ist Mitglied in drei Ethikkomitees an Düsseldorfer Klinken. E-Mail: [email protected] Dr. Susanne Hirsmüller ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe und Psychoonkologin und Ethikerin im Gesundheitswesen. Seit 2006 leitet sie das stationäre Hospiz am Evangelischen Krankenhaus in Düsseldorf und den zugehörigen ambulanten ehrenamtlichen Hospizdienst. Seit sie den Master of Science in Palliative Care erworben hat, ist sie in diesem postgraduierten Studiengang in Freiburg als Dozentin tätig. Sie ist seit 2013 Vorsitzende des Ethikkomitees der Stiftung Evangelisches Krankenhaus Düsseldorf. E-Mail: [email protected] Literatur Arndt, Sr. Benedicta (2006). Vom Leib zum Leichnam  – Vom würdigen Umgang mit dem Verstorbenen. In: Knipping, C. (Hrsg.), Lehrbuch Palliative Care. Bern. Duden, B. (2007). Geleitwort. In: Riemann, D., Wo die Lebenden den Toten begegnen … (S. 9). Hannover. Fiedler, A. (2001). Ich war tot und ihr habt meinen Leichnam geehrt. Unser Umgang mit den Verstorbenen. Mainz. Groß, D.; Tag, B.; Thier, M. (2013). »Menschenwürde« und normative Grundfragen im Hinblick auf den Verstorbenen. In: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin (S. 697–730). Berlin. Tausch-Flammer, D.; Bickel, L. (1995). Wenn ein Mensch gestorben ist – wie gehen wir mit dem Toten um? Freiburg. Thomas, C. (1994). Berührungsängste? Vom Umgang mit der Leiche. Köln (Hallo Ü-Wagen 19.11.1992 aus Alpen). Wagner-Rau, U. (2015). Zeit mit Toten. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz. Gütersloh.

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FORTBILDUNG

Warum eine Fortbildung zum Thema »Würde«? Marion Berthold und Martin Letschert Die Idee, eine Tagesfortbildung zum Thema »Würde« anzubieten, entwickelte sich aus wiederkehrenden Gesprächssituationen mit Ehrenamtlichen in Sterbe- und Trauerbegleitung. Inhalte dieser Gespräche waren häufig die von ihnen als unwürdig empfundenen Umstände, sogenannte würdelose Situationen, im Umgang mit den Betroffenen. Angehörige etwa sprachen über den Sterbenden hinweg mit der Ehrenamtlichen, äußerten sich über ihn, als sei er schon nicht mehr gegenwärtig, mutmaßten den Zeitpunkt seines Ablebens, regelten bereits Einzelheiten der Beerdigung. Andere Steine des Anstoßes lagen im Bereich von Pflege des Sterbenden oder Gestaltung der Umgebung des Sterbebettes. Im Verlauf der Gespräche tauchte oft die Aussage auf: »Dieser Umgang entspricht nicht ihrer/ seiner Würde.« Unter diesem Mangel litten die Begleiter oftmals mehr als unter dem Leid in der Verlust- oder Sterbesituation. Es schien uns sinnvoll, in diesen Zusammenhängen auf Spuren- und Klarheitssuche zu gehen, uns selbst und andere zu befragen: • Woran mache ich Würdelosigkeit fest? • Was bedeutet oder ist Würde? • Wie kann ich Würde wahren? Erste spontane eigene Assoziationen, verstärkt durch Äußerungen von Menschen in unserem Umfeld, zeigten, dass es offensichtlich leichter ist, sich dem Thema über den Mangel, den Verlust, die Verletzung der Würde zu nähern als über ihre Definition oder positive Füllung. Auch die Sichtung von Literatur zum Thema offenbart, wie fragil das kostbare Gut der Menschenwürde ist. »So wird sie (die Würde) in der Presse und in der Politik oft im Mund geführt und ebenso oft verletzt«

(Baer und Frick-Baer 2009 S. 7). Ein Grund mehr, sich dem Thema zu nähern. Unantastbar? Der so selbstverständlich wirkenden und darum kaum hinterfragbar erscheinenden Aussage des Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« stellen sich in der Realität in unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen rasch gegenläufige Erfahrungen entgegen. So spricht etwa Ulrike Meinhof in ihren Beobachtungen und Reflexionen zur politischen Situation der Bundesrepublik aus den 1960er Jahren im Titel einer Aufsatzsammlung die Erkenntnis aus: »Die Würde des Menschen ist antastbar« (Meinhof 1994). Diese in politisch-rechtsstaatlichen Zusammenhängen gemachte Erfahrung korrespondiert durchaus mit dem in ganz anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen bei den Ehrenamtlichen gewonnenen Eindruck der Antastbarkeit und der Verletzbarkeit von Menschenwürde. Unsere eigene Haltung als Fortbilderin/Fortbilder Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verständnis von Würde ließ rasch zum Vorschein kommen: Auch mir kann es passieren, die Würde eines anderen zu missachten, weil sie meinem Maßstab nicht entspricht. Ein Beispiel aus dem Berufsalltag: Erstgespräch für eine Sterbebegleitung in einem Pflegeheim. Dort treffe ich einen 59-jährigen Mann. Er liegt mehr, als dass er sitzt, in einem Stuhlwagen. Bekleidet ist er mit einem fleckigen Unterhemd,

Leidfaden, Heft 4 / 2016, S. 85–90, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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bei mir aus. Genau dieses Mitleid reduziert ihn auf die von mir wahrgenommenen Mängel, ohne zu hinterfragen, ob sie für ihn eine Bedeutung haben. Indem ich hier mein persönliches Wertesystem als Maßstab anlege und nicht seine Individualität und seine Lebensgeschichte einbeziehe, beschneide ich diesen Mann in seiner Würde.

kallejipp / photocase.de

einer Trainingshose und er ist schlecht rasiert, der Urinbeutel hängt an der Lehne des Stuhlwagens, seine mit Pflaster geklebte Brille sitzt schief. Der Mann ist nicht vollständig orientiert, zu spüren ist seine ängstliche Unruhe. Meine erste Wahrnehmung gilt der Ungepflegtheit des Mannes, seiner kaputten Brille, dem »Nicht-weg-Können«. Das löst Mitleid

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Was heißt würdigen? »Jemanden würdigen« bedeutet zunächst ganz schlicht, ihm Ansehen1 zu geben. Der Mensch will angeschaut werden. Und indem wir den anderen als den in seinem Eigensein einzigartigen Menschen anschauen, nehmen wir seine Würde in den Blick, nehmen wir sie ernst (vgl. Müller 2004, S. 26 ff.). Das geht über den Augen-Blick hinaus, der am Äußeren haften bleibt. Es will das Dahinterliegende wahrgenommen und geachtet sein und indem dies geschieht, nähern wir uns der Ganzheit des Menschen an. Im Augen-Blick, in der Art, wie wir andere ins Auge fassen, will ergänzt sein, was dahinter liegt, was nicht direkt sichtbar ist: • Die Geschichte dieses Menschen. Sie ist mir als seinem Gegenüber zwar unbekannt, existiert aber dennoch und ist präsent in den Spuren, die sie in sein Gesicht, seine Gestalt und seine Ausstrahlung eingezeichnet hat. • Die Zusammenhänge, in denen dieser Mensch lebt – auch diese sind mir nicht zwangsläufig bekannt, bilden ihn aber ebenso wie seine Geschichte. • Das lebenslange Erfahrungs- und Beziehungsgeflecht, in dem sich dieser Mensch entwickelt hat; das darin ruhende Wissen, was ihm wert und wem er wert ist. Das schließt Umwertungen und möglicherweise Entwertungsgefühle und -vorgänge ein. Zugrunde gelegt sei hier Sillmann: »Für mich stellt die Würde meinen persönlichen, fundamentalen Wert als Mensch dar, von dem es abhängt, wie ich mich wahrnehme und verhalte und wie ich mein Verhalten und meine Interaktionen mit anderen messe und bewerte. Für mich gibt es Ereignisse, welche diese Würde positiv beeinflussen, und Ereignisse, die sie negativ beeinflussen« (zitiert nach Baer und FrickBaer 2009, S. 8). Das Gefühl, etwas wert zu sein, wird sich so in vielen Zusammenhängen auch im Verhalten, das

aus der Haltung erwächst, er-finden. Dies gilt im Besonderen für Schwerstkranke, Sterbende und Trauernde, die oftmals diesen ihren Wert verloren zu haben glauben. Der Workshop Ziel Im Workshop »Würde« sollten die Teilnehmer Gelegenheit haben, sich ihrer Einstellung und Haltung zur Würde bewusst zu werden und sie zu reflektieren. Im Fortgang sollen das Wissen um das Dahinterliegende sowie das Gespür für das nicht sofort Sichtbare des Menschen gesichert werden, um beides wieder in die Begegnung mit dem Gegenüber einzubinden und aufleben zu lassen. Ablauf Anfangs erwärmten sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, indem sie den Raum gehend erkundeten, die anderen Teilnehmer wahrnahmen und einander in der ihnen angemessen erscheinenden würdevollen Art begrüßten sowie im Anschluss ihre Assoziationen und Meinungen zum Begriff »Würde« schweigend und unkommentiert auf einer Wandzeitung dokumentierten. Gefühle auslösen und Wünsche benennen Die Begegnung mit »Gramp« gab dann der Auseinandersetzung mit Würde konzentrierte Anschauung und Realität. Die Teilnehmer erhielten in Kleingruppen drei aus dem Buch »Gramp« herausfotografierte Bilder, die einen alten Mann in einer gemeinhin als unwürdig bezeichneten Situation darstellen. Mit den Impulsfragen »Was sehen Sie?«, »Was fühlen Sie beim Anschauen des Bildes?«, »Was löst es in Ihnen aus?« spürten die Teilnehmer ihrer Einstellung und Haltung nach. Überwie-

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gend lösten die Bilder bei den Teilnehmer große Empörung aus. Sie entrüsteten sich über äußere Umstände wie »das Bettlager des Alten auf einer Matratze auf dem Fußboden« oder den lieblos mit abgewandtem Gesicht der Pflegerin dargereichten Teebecher. Ihr Unbehagen gegenüber der Situation und die Abwehr gegen solche Verhältnisse bündelten sich in der Vermutung, »es könne sich hier nur um einen Fall von Obdachlosigkeit und Alkoholismus« handeln. Sie empfanden Mitleid für Gramp, entwickelten aber auch Phantasien bezüglich seiner Verantwortung und waren schnell bereit, ihm ein hohes Maß an Schuld für diese Situation zu geben. Nach der Ergebnissicherung im Plenum unter dem Aspekt »Durch Anschauen jemandem Ansehen geben« nahmen die Teilnehmer einen Positionswechsel vor: Mit der Absicht, das Anschauen aus dem puren An-Blick zu lösen und für das Dahinterliegende zu öffnen, versetzten sie sich in Gramp und schrieben einen Brief an wahlweise einen guten Freund/seine Ehefrau/einen Enkel des Inhalts: »Was ich mir in unserem Kontakt wünsche«. Anschließend lasen die Teilnehmer sich in Paararbeit ihre Briefe vor und der Zuhörende spiegelte, was er gehört hat – eine gute Möglichkeit, beiden in besonderer Weise den Zugang für das bei Gramp Dahinterliegende zu öffnen. Im Plenum wurden das Resümee der einzelnen Teilnehmer und die Essenz der Aussagen zusammengetragen. Die Teilnehmer knüpften in ihren Briefen an die von ihnen für Gramp getroffenen biographischen Zuschreibungen an und formulierten den Wunsch nach Gesehenwerden, Kontakt und liebevoller Zuwendung, benannten Ängste vor Kälte, Gleichgültigkeit und Fremdbestimmung (»Andere könnten bestimmen, was für mich menschenwürdig ist«). Überwiegend jedoch ließen sie ihn seinen Lebensweg als Abstieg begreifen und widmeten sich ausführlich der Schuldfrage.

Was bedeutet »Ergänzen« im Umgang mit Würde? Es erschien uns wichtig, die Teilnehmer bei ihrem Blick auf Gramp aus ihren Phantasien und bewertenden Vermutungen zu lösen. Vielmehr sollten sie das Zusammenkommen mit dem Partner als Gelegenheit begreifen, im Anschauen und in der Begegnung seine Würde zu achten. Dazu sind zwei gedankliche Schritte erforderlich: 1. Der Wahrnehmung des vordergründig Sichtbaren soll das Wissen um das Dahinterliegende in jedem Menschenleben ergänzend hinzugefügt sein; darin geschieht eine Annäherung an die Ganzheit des Gegenübers. 2. Mich im konkreten Kontakt mit meinem Sichtbaren und Dahinterliegenden neben den Anderen zu stellen und darin eine im Augenblick der Begegnung entstehende neue Ganzheit herzustellen. Dieser Ganzheit werden wir uns immer nur annähern können, oft genug will sie auch neu gefunden werden. Sich jedoch im dargelegten Sinn ergänzend begegnen und anschauen zu können, ermöglicht die Wahrung der Würde beider ­Partner. So wurden die Teilnehmer eingeladen, bei freier Themenwahl auf der Hälfte eines DIN-A3-­Bogens ein Bild zu malen. Danach tauschten jeweils zwei Gruppenmitglieder ihre Bilder mit dem Auftrag, ihrer Wahrnehmung und Intuition zu folgen und das Bild des Partners auf der zweiten Hälfte zu ergänzen, wobei der jeweilige Übungspartner das Gestalten zuschauend miterlebte. Der anschließende Austausch zentrierte sich um die Frage: »Was freut Sie an meiner Ergänzung?«, »Was ärgerte Sie an meiner Ergänzung?«, »Wie geht es Ihnen jetzt damit?« Mit Rücksicht auf das persönliche und private Erleben wurde nur die Essenz der Zweiergespräche ins Plenum getragen. Aspekte dieser Essenz wurden geäußert etwa als Erfahrung von Entgegenkommen und Akzep-

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tanz, die Einsamkeit aufheben, als Entdeckung von Ähnlichkeit in der Vielfalt (»In der Vielheit entdecke ich Ähnliches und kann mitschwingen«) und als Aushalten von Gegensätzen und Fremdem (»Ergänzung ist anders und passt doch. Wie schön!«) Erfahrungen mit Würde und Nicht-Würdigung Um das bisher auf verschiedenen Erlebnisebenen Erarbeitete in die Nähe des gelebten Alltags zu bringen, erzählen sich die Teilnehmer im Zweiergespräch vom bedenkwürdigen Umgang mit Mitmenschen. Das Bedenkwürdige wird durch das tatsächliche Aufnehmen und in die Hand Nehmen eines Stolpersteins sinnlich erfahrbar gemacht. Die Aufnahme eines Steines lenkt den Blick auf die belastenden Fußangeln des alltäglichen mitmenschlichen Umgangs und macht somit die bleibende Fragilität des WürdeBegriffes fühlbar. Auch hilft die Übung den Teilnehmern, sich dessen bewusst zu bleiben, dass trotz aller guten Einsichten und Absichten in ihrem Lebensalltag Würde-Stolpersteine vorkommen. Zum Schutz der Teilnehmer bleiben die Aussagen in der Vertraulichkeit des Zweiergesprächs. Wie geht das: Ansehen geben? Mit der Intention, selbsterfahrend durch Anschauen Ansehen zu erhalten, wurden die Teilnehmer zu einer Paarübung angeleitet. Während dieses Impulses saßen sich die Teilnehmer gegenüber, schauten sich an, ohne miteinander zu sprechen, und sagten nacheinander wertschätzend, was sie gesehen haben. Der Austausch unter den Blickpunkten »Was habe ich erlebt?« und »Wie fühle ich mich damit?« fand zunächst in der Dyade statt, um anschließend im Plenum zusammengefasst zu werden. In der Zusammenfassung wurden von der Kursleitung unter anderem die Aspekte »Hier

und Jetzt«, »Das, was ich dahinter ahne«, »Ergänzung« und »Ganzheit« fokussiert. Die Teilnehmer formulierten das Ungewohnte des Angeschautwerdens und die damit verbundene anfängliche Unsicherheit und Irritation. Weiter beschrieben sie Äußerlichkeiten, wie die schön geschwungene Augenbraue, aber auch die im Blick liegende Vorsicht und die dahinter zu ahnende Verletzbarkeit. Die Tatsache, angeschaut worden zu sein und zu hören, was ihr Gegenüber gesehen hat, berührte die Teilnehmer tief und wohltuend. Ergebnisse Die letzte Kleingruppenarbeit wurde mit dem Ziel gestaltet, dass die Teilnehmer den Tag reflektieren, ihn in Beziehung setzen zur Sterbe- und Trauerbegleitung, ihre Haltung überprüfen und sich ihres Zuwachses bewusst werden. Methodisch geschah dies, indem die Kursleitung die einzelnen Tagesstationen Revue passieren ließ, der die Teilnehmer mit diesen Fragen folgen sollten: »Was ist am Ende des Tages an meiner Haltung zur Würde anders?«, »Wodurch wurde die Veränderung ausgelöst?«, »Was nehme ich davon in meine nächste Sterbe- oder Trauerbegleitung mit?« Die Ergebnisse wurden im Plenum zusammengetragen und im Gespräch akzentuiert und vertieft. In der abschließenden Runde hatten die Teilnehmer noch einmal die Möglichkeit, ihre Befindlichkeit in den Blick zu nehmen, ihr Ausdruck zu geben sowie ein Feedback zum Tag zu formulieren. Wesentliche Erkenntnis des Tages für die Teilnehmer war, wie leicht der erste Anblick eines Menschen sie zu Annahmen und Vermutungen verführt, aus denen Haltungen wie Mitleid oder Verachtung erwachsen, die einer würdevollen Begegnung nicht dienlich sind. Als hilfreich und weiterführend empfanden sie die Bewusstwerdung des oben Beschriebenen und die Erfahrung, sich von der Ausschließlichkeit des ersten Eindruckes und des bloß Sicht­

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baren lösen zu können, wie auch die Möglichkeit, innerlich einen Schritt zurückzutreten und das Ganze des Menschen in ihren Eindruck miteinzubeziehen. Ausklang Ausgeklungen ist der Tag mit dem Lied von Klaus Hoffmann »Mitten im Winter«. Es besingt die ungewöhnliche Liebe zwischen einem jungen Mann und einer siebzigjährigen Frau: »(…) macht das eine Lady, eine alte noch dazu, was soll’n die Leute sagen, die schauen uns doch zu (…) mitten im Winter wurde es warm (…) mitten im Winter schmolz das Eis.« Wir entschieden uns für dieses Lied als in doppeltem Sinn erscheinenden Ausklang des Tages: Die bisher bewusst nicht eingesetzte akustische Empfindung von Tönen und der Stimme des Interpreten bot zum einen noch einmal einen anderen, vertiefenden, sinnlichen Zugang zum Thema. Zum anderen manifestiert sich in der Botschaft des Liedes die Erkenntnis, dass es letztlich die Liebe ist, die nicht beim ersten An-Blick stehen bleibt. Oder mit Worten einer Teilnehmerin als Ertrag des Tages formuliert: »Versuchen, nicht nur nach dem Augenschein zu urteilen. Genau hinsehen. Den Menschen in seinen Bedürfnissen wahrnehmen.« Fazit Als Fazit halten wir fest: Es ist gelungen, die Teilnehmer für das Thema zu erwärmen und aufzuschließen. In einer ersten Annäherung und Auseinandersetzung mit dem Thema »Würde« hat dieser Workshop den Teilnehmern neue Erkenntnisse erschlossen und es ihnen ermöglicht, bisherige Sichtweisen zu hinterfragen und zu verändern. In der Reflexion des Workshops wurde uns deutlich, dass diese erste Annäherung der Vertiefung bedarf und die Haltung, einander im Geiste der Ergänzung zu begegnen, weitere Einübung

braucht. Offen geblieben ist der Aspekt, wie die Begleiter in äußerlich unveränderbaren Situationen ihre eigene Würde wahren können. Die zufriedenen Rückmeldungen der Teilnehmer lassen uns den Workshop gut abschließen. Und wir freuen uns darauf, ein weiterführendes Angebot zum Thema »Würde« zu entwickeln und durchzuführen. Marion Berthold arbeitet als Koordinatorin in einem ambulanten Hospizdienst. Sie ist Lehrerin im Gesundheitswesen, Krankenschwester/Palliative Care, Systemische Therapeutin, Traumazentrierte Fachberaterin und Trauerbegleiterin. E-Mail: [email protected] Martin Letschert war bis zum Ruhestand Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Ratingen. Er ist Trauerbegleiter und bietet Bibliodrama in Gemeinde und Erwachsenenbildung an. Er ist Gründungsvorsitzender der Hospizbewegung Ratingen. E-Mail: [email protected] Literatur/CD

Baer, U., Frick-Baer, G. (2009). Würde und Eigensinn. Wein­ heim, Basel. Jury, M.; Jury, B. (1982). Gramp: Ein Mann altert und stirbt. Die Begegnung einer Familie mit der Wirklichkeit des Todes. Berlin/Bonn. Meinhof, U. (1994). Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken. Berlin. Müller, M. (2004). Dem Sterben Leben geben. Gütersloh. Anmerkung 1 Ethymologische Ableitung: