Kinder und Jugendliche - ein Trauerspiel: Leidfaden 2012 Heft 04 9783666806001, 9783579068077, 9783579066349, 9783579068459, 9783525806005

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Kinder und Jugendliche - ein Trauerspiel: Leidfaden 2012 Heft 04
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EDITORIAL1

»Kinder und Jugendliche – ein Trauerspiel« Dieser Hefttitel hat im Redaktionsteam einige Diskussionen ausgelöst. Kinder sind doch kein Trauerspiel! – sollte es nicht besser »TrauerSpiel« heißen? In Anführungszeichen oder ohne? Die Sorge wegen Missverständnissen war groß. Dabei gingen uns bei diesem Titel durchaus unterschiedliche Gedanken durch den Kopf. Zum einen beobachten wir immer wieder die spielerische und teilweise leichte Art, mit der insbesondere Kinder ihren Umgang mit dem Thema Tod und Trauer gestalten. Zum anderen ist es an einigen Stellen nach wie vor ein Trauerspiel, welche Unsicherheiten bei Erwachsenen zu beobachten sind, wenn es darum geht, Kindern und Jugendlichen in diesem Kontext zu begegnen. Immer wieder wird aus gutgemeinten Gründen (Kinder zu behüten und zu schützen) versucht, sie »außen vor« zu halten, was faktisch oft zu einer Ausgrenzung führt, die nicht selten Schuldgefühle bei Kindern befördert. Nach wie vor sind unvorteilhafte Beschönigungen zu beobachten, wie z. B. »Oma ist eingeschlafen«; und man fragt sich, wie diese Kinder eigentlich selbst beruhigt einschlafen können, nachdem sie erfahren haben, dass Oma nach dem Ein- oder Entschlafen eingegraben oder verbrannt wurde. Der kindlichen Frage danach, wohin wir einmal gehen, wird nicht selten mit der gleichen Unsicherheit und Ängstlichkeit begegnet, wie die Frage danach, woher wir kommen. Zum Thema »Wie kommen wir auf die Welt?« ist es für Kinder allerdings durch Schule und Medien deutlich einfacher geworden, verlässliche Antworten zu bekommen, als zum Thema »Wie kommen wir von dieser Welt?«. Es ist aber auch das Entstehen vielfältiger Angebote zu beobachten, die sich dem Thema trauernde Kinder und Jugendliche widmen. Trauergruppen, Trauerreisen, Trauercamps, Trauerforen, Trauerseminare, Trauerliteratur usw. – viele solcher und weitere Angebote präsentieren sich

als speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten. Nach unserer eingangs beschriebenen Beobachtung sind allerdings die Erwachsenen eher diejenigen, die Hilfe benötigen. Deshalb richtet sich dieses Heft auch nicht vornehmlich an Kinder und Jugendliche, sondern an diejenigen, die sich mit kindlicher und eigener Trauer auseinandersetzen möchten. Ziel sollte es sein, Erwachsenen Mut zu machen, Kindern und Jugendlichen in Krisenzeiten offen und gegebenenfalls auch rat- und ahnungslos zu begegnen und diese bei ihren Themen eher als Lehrmeister denn als Lehrling zu begreifen. Deshalb sind wir sehr glücklich darüber, dass es uns gelungen ist, für dieses Heft, neben namhaften Autoren aus der Welt der Erwachsenen, auch Jugendliche zu gewinnen, die von ihren Erfahrungen berichten, sowie Erwachsene, die ihre eigenen Erfahrungen aus der Kindheit zu diesem Thema reflektiert haben. Gerade die Berichte der Jugendlichen können natürlich als Anregung auch für andere Kinder und Jugendliche hilfreich sein. Wie hoffen mit der Auswahl an Texten Anstöße zu geben, Neugier zu wecken und evtl. mehr spannende Fragen als langweilige Antworten liefern zu können. Daneben möchten wir ein bisschen Übersicht anbieten und etwas zum Nachschlagen, zu Angeboten von OnlinePlattformen, Angebote für Pädagogen oder eine Übersicht zu Projekten an und mit Schulen. Viel Freude beim Lesen wünschen Ihnen Lukas Radbruch und Heiner Melching

Lukas Radbruch

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Heiner Melching

Inhalt

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18 Heiner Melching Kinder und Hunde gehen immer

»Kinder und Jugendliche – ein Trauerspiel« Rebecca Stry Young Carers – Kinder und Jugendliche, die ein schwer erkranktes Familienmitglied pflegen

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Erfahrungsbericht von Felix und Charlotte

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Romina Mangler Meine Schulzeit »danach«

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Sabina und Rebecca Stry Trauerseiten im Internet – Möglichkeiten und Gefahren

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Philipp Stenger Online-Hilfe in der Not

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Lana Reb Trauerbegleitung im Netz

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Ulrike Bilger und Leonie Klom Alles ist anders

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Annette Dobroschke-Bornemann Kindertrauer online

Stephanie Witt-Loers Schulprojekte zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer

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Wolfgang Holzschuh Geschwister – zwischen Liebe und Konkurrenz

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Daniela Schartmann-Unrath Anleitung zum Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen für Pädagogen

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Andrea Dechamps Kinder im St. Christopher’s Hospice in London

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Peter Holz Dafür bist du noch zu klein

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63 Fritz Roth

Beate Alefeld-Gerges Zwischen Sandsack und Kummerbergen

Wenn Kinder trauern (dürfen)

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Elke Mainz »Meine Oma kocht jetzt im Himmel für die Engel Semmelknödel!«

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Heiner Melching / Bodo Wartke Von Tränen – gerührt und nicht geschüttelt

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Lukas Radbruch Kinderbuchempfehlungen

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Peter Holz Praxistipp für die Arbeit mit Trauergruppen

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Impressum

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Till Quadflieg Wäre ich doch lieb gewesen

Nora Pfahl Ein Dialog, der ohne Worte auskommt

Insbesondere die Äußerungen trauernder Jugendlicher deuten stark darauf hin, dass ihnen sehr daran gelegen ist, Vertrauen, Zutrauen und Wertschätzung zu erfahren. Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 4–9, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Bildnachweis: Christina Schneider/Cultura RF/Avenue Images

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Kinder und Hunde gehen immer Kritische Gedanken zum großen Angebot für trauernde Kinder und Jugendliche

Heiner Melching

So lautet ein Spruch, der in Fundraising-Kreisen recht geläufig ist. Vielleicht gilt dies ja auch für den Bereich der Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen. Zumindest ein Blick über die Schulter unseres »Big Brothers«, alias Google, legt diesen Verdacht nahe. Gibt man dort als Suchbegriff »Kinder und Trauer« ein, so erhält man ca. 18,8 Millionen Einträge, beim Suchbegriff »Erwachsene und Trauer« sind es hingegen nur noch ca. 4,4 Millionen – immerhin noch knapp vor dem Ergebnis von »Hunde und Trauer«, welches mit 3,5 Millionen Einträgen knapp dahinter rangiert. Es liegt sicherlich in der Natur des Menschen begründet, dass uns das Leid von Kindern stärker berührt als das von Erwachsenen. Hier werden rudimentäre Instinkte des Behütens und Beschützens in uns geweckt, und es bietet sich obendrein die Möglichkeit, durch vermeintlich helfende Interventionen die eigene Bedeutung aufzuwerten, was gewiss nichts Verwerfliches und ebenso menschlich ist. Gleichwohl verbirgt sich an dieser Stelle aber auch die Gefahr, Abhängigkeiten und ungewollte Hierarchien zu etablieren bzw. die scheinbar »Kleinen« noch kleiner aussehen zu lassen und die »Großen« noch größer. Es stellt sich also die Frage nach dem wirklichen Unterstützungsbedarf trauernder Kinder und Jugendlicher sowie danach, an welcher Stelle auch Zurückhaltung geboten sein kann. Vor dem Hintergrund, dass es in Bezug auf Trauer vornehmlich darum gehen sollte, mehr zu »normalisieren« und weniger zu »pathologisieren«, könnte sich also auch die Frage des

Interventionsverzichts stellen. Denn die Art und Weise, in der Kindern und Jugendlichen nahezu manisch und mit besonderer Betonung die Binsenweisheit vorgetragen wird, dass Trauer doch etwas ganz Normales sei, muss diese eigentlich genau daran zweifeln lassen. Erleben sie doch in anderen »normalen« Lebenssituationen nichts Vergleichbares. Bei der ersten großen Liebe etwa wird Jugendlichen durchaus zugetraut, dieses Mysterium eigenständig und ohne professionelle Hilfsangebote zu ergründen. Insbesondere die Äußerungen trauernder Jugendlicher deuten stark darauf hin, dass ihnen sehr daran gelegen ist, Vertrauen, Zutrauen und Wertschätzung zu erfahren. Generell ist es aber so, dass es als deutlich wertschätzender empfunden wird, um Hilfe gebeten zu werden, als Hilfe angeboten zu bekommen. Das eine macht eben tendenziell eher »größer« und das andere eher »kleiner«. Hier liegt auch ein großer Vorteil in Selbsthilfegruppen und Foren, bei denen Trauernde auch Ratgeber und Helfer für andere sind. Es besteht also die Möglichkeit, dass der Motor, der zu dem inzwischen großen Angebot für trauernde Kinder und Jugendliche geführt hat, nicht in der Nachfrage, sondern im Angebot zu suchen ist. Dieser Mechanismus wäre auch nichts Ungewöhnliches in einer von Angeboten dominierten Welt, die stets darum bemüht ist, neue Nachfragen zu schaffen, die uns suggerieren sollen, dass wir schon ewig auf dieses oder jenes Produkt gewartet hätten. Die Frage nach dem »wirklichen Unterstützungsbedarf« trauernder Kinder und Jugendli-

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Heiner Melching

cher kann also nicht anhand des Angebotes eruiert werden. Bleibt, neben verschiedenen noch nicht ausgeschöpften wissenschaftlichen Methoden, die Möglichkeit, die Betroffen selbst zu befragen bzw. zu Wort kommen zu lassen. Im Rahmen eines Trauerseminars für trauernde Eltern und Geschwister haben Kinder und Jugendliche (verschiedener Gruppen im Alter von 10 bis 18 Jahren) z. B. folgende Wünsche an ihre Eltern formuliert: • »Dass ich wie eine größerer, älterer Mensch behandelt werde.« • »Dass ich auf jede Frage eine gute Antwort bekomme.« • »Dass man sich für mich Zeit nimmt, wenn es nötig ist – und mich in Ruhe lässt, wenn dieser (Ruhe-)Zeitpunkt kommt.« • »Zeit nehmen  – in Ruhe lassen  – VERTRAUEN.« • »Keine Vorwürfe wegen zu wenig Beschäftigung mit Trauer.« • »Unsere Eltern sollen wieder fröhlicher werden.« • »Keinen Elefanten aus einer Mücke machen.« • »Mich ernst nehmen und versuchen, sich in mich hineinzuversetzen.« In einer anderen Gruppe, die ich gemeinsam mit einer Tanzpädagogin geleitet habe, wurden die Wünsche der Jugendlichen am Ende des Seminars den Eltern in Form einer Tanzchoreografie dargeboten. Und auch hier ging es um die Sehnsucht nach Vertrauen, Nähe und Distanz. Der Tenor entsprach in beiden Fällen demjenigen, den ich auch in vielen Gruppen trauernder Geschwister erlebt habe: der Wunsch danach, ernst genommen zu werden, Ver- und Zutrauen zu erfahren sowie eine große Sorge um die Familie. Einen ähnlichen Eindruck erhält man beim Lesen des Buches »Und wenn ich falle?« von Marie-Therese Schins, in dem trauernde Jugendliche ihre eigenen Erfahrungen niedergeschrieben haben.

Zu bedenken bleibt natürlich, dass all diese vorliegenden Äußerungen einer bestimmten Klientel entspringen, nämlich von Kindern und Jugendlichen, die bestehende Angebote für Trauernde aufgesucht haben. Wobei nach meiner Erfahrung nicht selten ein beträchtlicher, zumeist subtiler Druck seitens des Umfeldes die Kinder und Jugendlichen in diese Gruppen oder Seminare hat gehen lassen. Die Frage nach dem Bedarf bleibt dabei unscharf und es ist sicherlich nicht möglich, den quantitativen Bedarf zu ermitteln, da vermutlich sehr viele auf eine Frage im Sinne von: »Würdest du dir im Trauerfall auch professionelle Hilfsangebote wünschen?« mit ja antworten würden. Hingegen lassen sich durchaus begründete Vermutungen darüber anstellen, welche qualitativen Anforderungen an solche Angebote gestellt werden sollten und ob die vorliegenden Konzepte in der Mehrzahl den inhaltlichen Bedürfnissen trauernder Kinder und Jugendlicher entsprechen. Auf die Frage danach, was in der Trauer am meisten geholfen hat, habe ich von Kindern und Jugendlichen mehrheitlich die Aussage erhalten: Familie und Freunde. Professionelle Angebote kamen in der Regel erst später, gelegentlich noch hinter dem Hund. Hieraus ergibt sich natürlich noch keine Kritik an den Angeboten, die ja unterstützend und nicht ersetzend wirken sollen, aber es zeigt die Bedeutung des sozialen Umfeldes und es stellt sich die Frage nach der Zielgruppe von Angeboten für trauernde Kinder und Jugendliche. Bei der Begleitung trauernder Geschwister ließ sich für mich sehr präzise beobachten, dass diese in erheblichem Maß davon profitierten, wenn sie feststellen konnten, dass sich ihre Eltern zunehmend stabilisierten und wieder an Verlässlichkeit zurückgewonnen haben. Somit liegt es nahe, dass Geschwistern, die in der Literatur nach wie vor häufig als »doppelte Verlierer« bezeichnet werden, weil sie neben einem Geschwister auch noch (zumindest zeitweise)

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ihre Eltern (als verlässliche Bezugspersonen) verloren haben, die größte Hilfe dadurch erwiesen werden kann, dass man versucht, deren Eltern (bzw. Bezugspersonen) zu unterstützen und zu stabilisieren. Ganz abgesehen davon, dass Kinder und Jugendliche sich äußerst ungern als »Verlierer« oder als »Schattenkinder« bezeichnen lassen, könnte man sie also durch qualifizierte Unterstützung der Eltern zumindest zu »halben Gewinnern« werden lassen. Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen mir vor allem solche Angebote, die das familiäre System außer Acht lassen, als zweifelhaft. Der Nutzen von Angeboten, bei denen trauernde Kinder und Jugendliche gegebenenfalls 14-tägig für zwei Stunden auf hohem Niveau »bespielt« werden, das soziale Netz aber außen vor bleibt, wird nach meiner Einschätzung gemeinhin deutlich überschätzt. Hingegen erscheint es mir wichtig, auf zwei Tücken hinzuweisen, die auch die besten Angebote in sich bergen. Zum einen besteht die Gefahr, dass bei Eltern die Hoffnung gestärkt wird, Teile der ungeliebten Auseinandersetzung mit ihren Kindern (zum Thema Tod und Trauer) an »Profis« delegieren zu können und sie sich dadurch selbst von einer wesentlichen Verantwortung befreit fühlen. Zum anderen ist es, unter der Prämisse, dass Trauer auch für Kinder eine normale Reaktion auf einen Verlust darstellt, eine große Herausforderung, solche Angebote einem Kind oder Jugendlichen in offener Weise anzubieten, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, es liege ein »unnatürliches« Problem vor, welches einen externen Interventionsbedarf erfordere. In der Praxis sieht es häufig so aus, dass Kindern mit einer zielgerichteten Intention ein bestehendes Angebot »schmackhaft« gemacht wird; insbesondere durch Äußerungen wie: »Da gibt es einen Verein (oder ein Zentrum), in dem viele andere Kinder sind, denen etwas Ähnliches passiert ist wie dir  – und da sind Erwachsene, die sich damit auskennen und dir bestimmt helfen können.« Die Botschaft, die beim Kind da-

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Bildnachweis: Fotex

Kinder und Hunde gehen immer

Auf die Frage danach, was in der Trauer am meisten geholfen hat, habe ich von Kindern und Jugendlichen mehrheitlich die Aussage erhalten: Familie und Freunde.

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Bildnachweis: Pablo Picasso, Boy with a pipe/Bridgeman Art Library

Bei rational kaum fassbaren Themen, z. B. beim Thema Tod, spielen Wahrnehmungsfähigkeiten und Fantasie eine entscheidende Rolle. Hier sind Kinder den Erwachsenen in aller Regel weit voraus.

Kinder und Hunde gehen immer

bei ankommt, sieht nicht selten folgendermaßen aus: »Diejenigen, die immer für mich die verlässlichen Ansprechpartner waren (Eltern), sind es bei diesem Thema offensichtlich nicht mehr – und darüber hinaus scheint bei mir etwas nicht mehr ›normal‹ und behandlungsbedürftig zu sein.« Ähnliche kindliche, auf sich selbstbezogene Interpretationsweisen sind bekannt von Familien, die Erziehungsberatungsstellen aufgesucht haben. Auch hier haben Kinder in der Mehrzahl die Ursache für das Aufsuchen der Beratungsstellen in eigenen Defiziten gesehen und weniger in der Überforderung ihrer Eltern. Somit ist neben der Qualität von Angeboten auch die Art und Weise ihrer Vermittlung von entscheidender Bedeutung. Wenn Letzteres in einer offenen Weise gelingt, bei der Kinder und Jugendliche als Fachleute für ihre Situation anerkannt werden und diesen ein Höchstmaß an Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die Inanspruchnahme überlassen wird, ist davon auszugehen, dass von dieser Seite aus auch die Frage nach der Qualität von Angeboten eine entscheidende Antwort erfährt. Allerdings lassen sich auch durch eine hohe Anerkennung und Inanspruchnahme durch Kinder und Jugendliche noch keine verlässlichen Aussagen zur Wirkung in Bezug auf die Beeinflussung von Trauerprozessen solcher Angebote machen. Unabhängig davon, ob sich eine Intervention entlastend, belastend oder gar nicht auswirkt, werden einige Kinder und Jugendliche spezielle Zentren für Trauernde auch deshalb aufsuchen, weil sich dort durch vorhandene Räumlichkeiten und Equipment völlig andere Möglichkeiten des Spiels und des Austausches bieten als zu Hause  – und zwar ganz unabhängig davon, ob hier ein Zusammenhang zur aktuellen Trauersituation besteht. Egal wie viele und qualifizierte Angebote für trauernde Kinder und Jugendliche sich auf dem Markt befinden, wird dies nicht eine Auseinandersetzung innerhalb von Familie und Gesell-

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schaft mit dem Thema Sterben, Tod und Trauer ersetzen. Vielleicht liegt sogar die größte Chance dieser Angebote darin, den Dialog befördern zu können. Hierzu bedarf es einer Haltung, die Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte Partner anerkennt und zur Grundlage hat, dass diese nicht weniger über das Thema wissen als Erwachsene. Es gilt, das Wissensgefälle aufzugeben, da die Erwachsenenwelt den Kindern ja nur auf der »Verstandesebene« voraus ist. Bei rational kaum fassbaren Themen, z. B. beim Thema Tod, spielen Wahrnehmungsfähigkeiten und Fantasie eine entscheidende Rolle. Hier sind Kinder den Erwachsenen in aller Regel weit voraus. Es geht also darum, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen, bei dem wir Kindern mit einer Art »kindlicher Neugier« und wahrhaftigem Interesse begegnen und sie lieber offen nach ihren Vorstellungen befragen sollten, anstelle sie mit gutgemeinten Ratschlägen und Erklärungsversuchen vorschnell zu überschütten. Eine offene Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer gehört als Selbstverständlichkeit in die Schulen, Kindergärten, in das Gesundheitswesen, die Kirchen und die Politik, ebenso wie in die Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Familie. Und zwar nicht erst, wenn eine akute Krise ansteht. Nur so kann die Normalität von Trauer glaubwürdig vermittelt werden. Ansonsten wird der Interventionsdrang der Erwachsenenwelt eher an das »Pfeifen im Dunkeln« erinnern, welches mehr der Besänftigung eigener Ängste und Hilflosigkeit dient als der Hilfe von Kindern und Jugendlichen. Das visionäre Ziel von Angeboten sollte darin liegen, sich selbst überflüssig zu machen, anstelle an der eigenen Unersetzbarkeit zu arbeiten. Heiner Melching ist Sozialpädagoge und seit 1995 in verschiedenen Bereichen der Trauer- und Krisenbegleitung tätig. Von 1999 bis 2008 war er Geschäftsführer und Leiter der Beratungsstelle des Vereins Verwaiste Eltern und Geschwister Bremen e.V. Seit 2009 ist er Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). E-Mail: [email protected]

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Schulprojekte zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer Stephanie Witt-Loers

Sterben, Tod und Trauer gehören auch zum Lebensfeld Schule. Unterschiedlichste Verlusterfahrungen der dort lernenden und arbeitenden Menschen fließen mit ihren Belastungen sowie der Notwendigkeit der Anpassung an neue Lebenssituationen in den Lebensbereich Schule ein. Meist ist es der Tod eines Mitschülers, Lehrers oder eines nahen Angehörigen, der einzelne Menschen aus dem Lebensraum Schule oder die gesamte Schulgemeinschaft mit Sterben, Tod und Trauer konfrontiert. Die Chancen, die sich durch die Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer in der Schule für alle Beteiligten eröffnen, sind vielfältig. So können beispielsweise die Enttabuisierung, frühzeitige Sensibilisierung, Vorbereitung, Informationen, die Stärkung sozialer Verantwortung und Empathie sowie Ressourcenarbeit dazu beitragen, den Bereich Sterben, Tod und Trauer, der zu unser aller Leben gehört, in den prägenden Lebensraum Schule einzubinden und einen Umgang damit erleichtern. Lange haben die notwendigen schulpädagogischen Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex zu wenig Beachtung gefunden. In den letzten Jahren sind jedoch ein zunehmendes schulisches Interesse an präventiven Projekten zum Thema sowie gleichzeitig der Wunsch nach Begleitung und Beratung in akuten Krisenfällen festzustellen. Besonders aufmerksam wurden Verantwortliche im schulischen Bereich nach den Ereignissen von Winnenden, als auf tragische Weise klar wurde, dass der Tod auch in größerem Ausmaß nicht vor der Schule halt

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 10–17, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

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Schulprojekte zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer sind vielfach durch Initiativen von Hospizen entstanden. Schon frühzeitig wurde hier die Notwendigkeit gesehen, sich auch in der Schule mit wichtigen Lebensfragen wie Sterben, Tod und Trauer zu befassen.

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Bildnachweis: @Harald Theissen/Okapia

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macht. Zudem wurde durch andere Amokläufe an Schulen, den Mord an Mirco, die Loveparade in Duisburg oder den Suizid des Fußballers Robert Enke einer breiten Öffentlichkeit deutlicher, dass es erforderlich ist, den Themenbereich in die Gesellschaft zu integrieren und einer Auseinandersetzung nicht auszuweichen. Die Schule und die Schulpädagogik haben ihre Verantwortung auf diesem Gebiet erkannt. Zahlreiche Bundesländer haben in den Lehrplänen für alle Schulformen die Themen Sterben, Tod und Trauer als festen Bestandteil in Fächern wie Religion, Deutsch, Ethik oder Philosophie aufgenommen. Schulprojekte zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer sind vielfach durch Initiativen von Hospizen entstanden. Schon frühzeitig wurde hier die Notwendigkeit gesehen, sich auch in der Schule mit wichtigen Lebensfragen wie Sterben, Tod und Trauer zu befassen. Es besteht eine Fülle an Projekt- und Hilfsangeboten, die die schwere Thematik in den unterschiedlichsten Facetten in den Lebensraum Schule einbringen. Nicht immer stehen Lehrer und Eltern Schulprojekten vorbehaltlos gegenüber. Meist können jedoch durch Transparenz und Informationen Skepsis und Ängste abgebaut werden. Im Rückblick, so das Fazit fast aller Durchführenden, werden die Projekttage von den Beteiligten positiv bewertet. Allen präventiven Projekten gemeinsam ist das Ziel, einen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer zu finden, und nicht erst dann, wenn das Thema gerade akut ist. Informationen und die aktive vorzeitige Auseinandersetzung mit verschiedensten Aspekten des Themenbereichs sollen in aktuellen Notsituationen unterstützen. Ängste sollen abgebaut, Hilfen zur Krisenbewältigung entwickelt und wichtige soziale Fähigkeiten erlernt werden, wie z. B. die Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, zu trauern oder Empathie zu entwickeln. Das präventive Projekt Hospiz macht Schule wird bundesweit seit 2008 mit ca. 500 ehrenamt-

lichen Hospizmitarbeitern aller Bundesländer in den Grundschulklassen 3 und 4 durchgeführt und war eines der ersten Projekte dieser Art. Entwickelt von der Hospizbewegung Düren e.V. wird es heute von der Bundes-Hospiz-Akademie durchgeführt. Hospiz macht Schule ist eine Projektwoche, die von zuvor befähigten und ehrenamtlich engagierten Menschen aus örtlichen Hospizgruppen in Kooperation mit den Grundschulen nach einem feststehenden Curriculum realisiert wird. An jedem Tag der Projektwoche geht es um einen neuen Themenschwerpunkt: Werden und Vergehen, Krankheit und Leid, Sterben und Tod, Traurigsein, Trost und Trösten. Die Themen werden den Schülern z. B. durch Geschichten, Bilderbücher, Filmausschnitte, eine Fragestunde mit einem Arzt sowie durch Informationen zu Bestattung oder Jenseitsvorstellungen anderer Religionen nahe gebracht. Zudem bekommen die Kinder die Gelegenheit, sich kreativ mit den Themen auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse der einzelnen Tage werden den Eltern in einer Abschlussveranstaltung präsentiert. Das Schulprojekt Leben bis zuletzt ist eine Initiative des Lukas-Hospiz Herne und des Journalistenteams Zirkel. An dem über die Schulformen hinweg angelegten Projekt sind insgesamt zehn Gymnasien, Gesamt-, Real- und Hauptschulen beteiligt. Die über 400 Schüler der Klassen 7 bis 12 arbeiteten insgesamt zehn Wochen lang an den Themen Sterben und Tod. Sie besuchten das Hospiz und führten unter anderem Interviews in Fußgängerzonen durch, um sich mit anderen Menschen zu den Themen Sterben, Tod und Trauer auszutauschen sowie der Sprachlosigkeit der Gesellschaft beim Thema Sterben entgegenzuwirken. Gemeinsam haben die Schüler ein Buch geschrieben, das die verschiedensten Aspekte des Themenkomplexes individuell in Form von journalistischen Texten, Kurzgeschichten, Gedichten, Fotos, Bildern, Collagen aufgreift. Genutzt werden kann das Buch auch als Impuls für andere Projekte zum Themenbereich. So-

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bald die zum Projektzeitpunkt jüngsten Klassen die Schulen verlassen haben, soll das Projekt erneut anlaufen. Bis dahin besteht weiterhin enger Kontakt zwischen den Schulen und dem Hospiz. Im Rahmen von themenbezogenen Unterrichtseinheiten besuchen Schüler das Hospiz. Zudem werden die Schulen in akuten Situationen durch Begleitung und Beratung unterstützt. Strings war Teil eines über zwei Jahre laufenden, von der Stadt geförderten Großprojekts an einem Gymnasium in Stuttgart. Ziel war es zu erfahren, wo die Themen Tod und Trauer sowie der Umgang damit im schulischen Kontext Platz finden können. Letztendlich war die Schulgemeinschaft überrascht über die Vielfalt der Ansätze, die sich im Unterricht integrieren lassen. Das dreimonatige Teilprojekt Strings in den Fächern Deutsch, Musik, Sport/Tanz beispielsweise ermöglichte es Schülern über Klassen- und Stufenverbände hinweg, sich mit dem

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Themenbereich zu beschäftigen und das Ergebnis einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Aus musikalischen Improvisationen des Kurses Musik der Stufe 12 zum Thema Abschied, Tanzimprovisationen zum Thema Halten und Loslassen einer Klasse 10 im Fach Sport sowie die Textwerkstatt einer Klasse 10 im Fach Deutsch »Trauer ist wie …« entstand eine einstündige Aufführung. Das Gesamtprojekt hatte eine lange Vorlaufzeit. Zunächst wurde die Projektidee in allen Klassen vorgestellt, um zu erfahren, ob die Schüler Interesse daran haben. Das Projekt selbst wurde dann in regelmäßigen Sitzungen gemeinsam mit den Lehrern erarbeitet. Interessant aus kulturellem Blickwinkel ist auch das Projekt Ich komm als Blümchen wieder, an dem sich 30 Institutionen und ca. 500 Kinder, Jugendliche und eine Seniorengruppe aus Bremen beteiligt haben. Mit professionellen Künstlern erarbeiteten die Projektteilnehmer ihre

Bildnachweis: Lukas Radbruch

Allen präventiven Projekten gemeinsam ist das Ziel, einen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer zu finden, und nicht erst dann, wenn das Thema gerade akut ist.

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te über Altersstufen und Bildungsgrade hinweg möglich sind, lässt eine Initiative des Ökumenischen Kinder- und Jugendhospizdienstes Mannheim erkennen. Aus der Idee zu dokumentieren, wie es möglich ist, sich gemeinsam mit Schülern zum Themenkomplex auseinanderzusetzen und die Thematik in den Schulalltag zu integrieren sowie einen Anstoß zu eigenen Schulprojekten zu geben, ist der Film Ungeküsst zurück entstanden. Er gibt einen Einblick in die Gefühle von Kindern und Jugendlichen, zeigt, welche Verluste sie beschäftigen und welche Vorstellungen sie zu Tod und Trauer haben. Zudem sind kreative Auseinandersetzungsmöglichkeiten zu sehen. Der Film kann ergänzend zur thematischen Arbeit im Unterricht eingesetzt werden.

Bildnachweis: H. Melching

Vorstellungen zu Leben und Tod. Eine ähnliche präventive künstlerisch-kreative Auseinandersetzung zum Themenbereich bietet das Hospiz Leverkusen für alle Schulformen an. Hospize haben nicht immer die Kapazitäten oder die Intention, den Bedarf der Schulen zu decken, und unterstützen deshalb mit Einzelprojekten, Hilfen zur Selbsthilfe, Fortbildungen und akuten Begleitungen in Notfällen, so wie beispielsweise das Hospiz Horn in Bremen oder der Kinder- und Jugendhospizdienst in Mannheim. Weiteres Ziel ist, Pädagogen im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer zu stärken und Schulen zu ermutigen, selbst individuelle Schulprojekte zu entwickeln. Dass den Schülern und Lehrern angepasste Schulprojek-

Im Rahmen von themenbezogenen Unterrichtseinheiten besuchen Schüler das Hospiz.

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Die Arbeit in Schulen sollte unbedingt durch Fortbildungen für Lehrer ergänzt werden. Zudem sollten Eltern Themen und Abläufe von Projekten transparent gemacht und sie auf Wunsch umfassender informiert werden. Fortbildungsangebote für Pädagogen sind erforderlich, damit fachliche und persönliche Kompetenzen zur Thematik aufgebaut und gefördert werden können. Einige Schulprojekte bieten parallel Fortbildungsmöglichkeiten für Pädagogen, die neben dem Aufbau persönlicher Kompetenzen auch Selbsterfahrung zur eigenen Sterblichkeit sowie Fachwissen vermitteln und methodisch-didaktische Praxishilfen für Notfälle oder präventive Projekte und mehr Sicherheit im Umgang mit der Thematik geben sollen. Auch die Bistümer, Sinus-schulische Krisenintervention sowie Institute für Lehrerfortbildungen oder andere Anbieter geben qualifizierte Weiterbildungsmöglichkeiten zur Thematik. Projekte, die mehrere und unterschiedliche Module zum Themenbereich anbieten, ermöglichen eine breite Einsatzmöglichkeit sowie eine individuelle Ausgestaltung und Anpassung an die besonderen Bedürfnisse und Kompetenzen einer Schule. So sind, um nur einige zu nennen, Projekte wie z. B. das KiSchuh, ein Kindergarten- und Schulprojekt zum Thema Sterben, Tod und Trauer des Katharinen-Hospiz am Park in Flensburg, das Projekt Wie ist das mit dem Tod, ein Kindergarten- und Grundschulprojekt des Bundesverbandes Verwaister Eltern in Deutschland e.V. in Leipzig, und Sinnvoll Trauern sowie das im Jahr 2011 begonnene Projekt Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit (GmS) so flexibel konzipiert, dass Projekttage und -wochen durch einzelne Module frei gestaltbar sind. Erweiterungen durch eigene Ideen und die Gestaltung nach individuellen Bedürfnissen, präventiv oder akut, sind hier möglich und werden ausdrücklich begrüßt und für sinnvoll erachtet. Ein sehr umfassendes und durch seine Flexibilität herausragendes Projekt ist das KiSchu. Im KiSchu werden Kinder, Eltern und Pädago-

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gen auf vielfältige Weise einbezogen. Das KiSchu bindet zudem die ganze Bandbreite der Schulformen von der Grundschule bis hin zur Berufsschule ein und läuft mittlerweile seit über vier Jahren an bisher ca. 36 Schulen. Die Module sind für verschiedene Altersstufen konzipiert und können situationsadaptiert modifiziert werden. Das Projekt baut im Wesentlichen auf drei Säulen: Projekteinheiten in Schulen (präventiv oder akut), Pädagogenschulungen, die akuten, präventiven oder nachsorgenden Charakter haben können, und Elternabende bzw. Projekteinheiten, in die Eltern eingebunden werden. Der Start für das österreichische Modulprojekt Lebensschule – Jugendliche begegnen dem Tod fand vor neun Jahren in der Steiermark statt. Vier weitere Bundesländer Österreichs setzen es inzwischen ebenso um. Bedarf an Projekten besonders für Jugendliche besteht auch in der Bundesrepublik. Bisher gab es für diese Altersgruppe individuelle Angebote einzelner Initiatoren. Dazu gehören z. B. das Projekt und das daraus entstandene gleichnamige Buch Durchkreuztes Leben – Gedenkstätten am Straßenrand, ein Projekt über Straßenkreuze und was es bedeutet, mit dem plötzlichen Tod eines Angehörigen zurechtzukommen, oder als weiteres fächerübergreifendes Projekt Uns allen blüht der Tod, das Zehntklässler einer Haupt- und Realschule anspricht. Mit zukünftig bundesweit geplanten Projekten wie GmS oder mit Umgang mit Sterben, Tod und Trauer kommen weitere Projekte für Jugendliche hinzu. Das im Aufbau befindliche Gemeinschaftsprojekt Umgang mit Sterben, Tod und Trauer – Ein Konzept für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9–13 des Zentrums für Palliativmedizin der Uniklinik Köln und des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes e.V. soll Jugendlichen künftig an einem Projekttag eine persönliche Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer ermöglichen und sie dabei unterstützen, individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Verlust zu entwickeln.

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Stephanie Witt-Loers

Ausgangspunkt zum bundesweit geplanten GmS – Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit – Die Unsicherheiten des Lebens und Sterbens teilen war die Idee von Hospiz macht Schule. Das dialogisch angelegte Gemeinschaftsprojekt der Malteser Abteilung Schule Willich, der Malteser Fachstelle Hospizarbeit, Palliativmedizin und Trauerbegleitung in Köln wird durch Prof. Dr. A. Heller der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt in Wien wissenschaftlich begleitet und befindet sich im Aufbau. Kooperationen mit Sinus e.V. – schulische Krisenintervention bestehen ebenso wie eine enge Zusammenarbeit mit dem deutschen Kinderhospizverein. Dabei werden bereits entwickelte Modelle und vorhandene Materialien der Malteser Dienste wie z. B. das oben benannte Projekt des Katharinen-Hospizes ebenso einbezogen sowie neue entwickelt. Deshalb gehören Projektworkshops und Foren als wiederkehrende feste Elemente zur Projektstruktur, um mit örtlichen Diensten, Einrichtungen der Malteser sowie anderen Projektentwicklern in den kollegialen Austausch zu kommen. Hierzu besteht bereits eine Ideenbörse über Intranet. Ziele des GmS sind u. a., altersstufenangepasste Module für unterschiedliche Schulformen und Unterrichtsformate zu entwickeln, die jeweils um Angebote für Lehrer und Eltern ergänzt werden. Das Projekt soll nicht statisch sein und ist in Bezug auf die Projektstruktur selbstreflektierend angelegt. Ein besonders wichtiger Punkt erscheint mir, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter professionell und intensiv in schulischer Krisenintervention fortgebildet werden, um im Akutfall auf Anfragen von Schulen auf eine breitere beraterische Kompetenz zurückgreifen zu können. Sinus – schulische Krisenintervention ist kein Schulprojekt im vorgenannten Sinn, aber eine wichtige Unterstützung für Schulen nach besonders kritischen oder gewaltsamen Ereignissen an der Schule. Diese erfordern schnelle, professionelle Unterstützung bei akutem Handlungs- und Informationsbedarf, wie z. B. nach einem Amoklauf, Suizid eines Schülers oder Lehrers oder Ge-

waltverbrechen. Krisenintervention erfordert andere Kompetenzen als Trauerbegleitung, deshalb bietet Sinus Schulen neben psychosozialer Intervention nach kritischen Ereignissen auch Pädagogenfortbildungen zur Krisenintervention an. Unterstützung finden Schulen zum Thema Sterben, Tod und Trauer auch beim Museum für Sepulkralkultur in Kassel. Es bietet Grundschulen den Museumskoffer Vergissmeinnicht, eine didaktische Materialsammlung für Kinder von 5 bis 12 Jahren, die nicht nur in Kassel, sondern mittlerweile auch in vielen anderen deutschen Städten ausgeliehen werden kann. Der Koffer ist vielseitig einsetzbar, da er als Ergänzung und Veranschaulichung des Themas im Unterricht, im Rahmen einer Projektwoche oder in einem akuten Trauerfall in der Klasse verwendet werden kann. Er beinhaltet Bilder, Arbeitsblätter, Objekte, Filme und Musikstücke sowie ein Handbuch. Für Jugendliche eignet sich eine spezielle Führung durch das Museum. Hier können Unterrichtsinhalte in alternativer Form aufgegriffen werden. Zudem ist das Museum Kooperationspartner für Schulen, die sich an Schülerwettbewerben zum Thema beteiligen möchten. Darüber hinaus ist das Museum für Sepulkralkultur Anbieter von Lehrerfortbildungen. Schulen sowie Schulämter aus anderen Bundesländern können vom Museum direkt vor Ort unterstützt werden. Ein Projekt mit einem anderen Ansatz ist die interaktive Ausstellung über das Davor und Danach Erzähl mir was vom Tod. Angelehnt an die Metapher der »letzten Reise« werden über begehbare Rauminszenierungen und Stationen unterschiedliche Aspekte und Themen, die zum Tod und zum Leben gehören, spielerisch und anschaulich thematisiert, so beispielsweise Alter, Zeit, Vergänglichkeit, Erinnerung, Bestattungskultur, um nur einige zu nennen. Die Ausstellung ist als Gemeinschaftsprojekt verschiedener Schulen gut geeignet und kann beim Kindermuseum im FEZ-Berlin (Kinder-, Jugend- und Familienzentrum) ausgeliehen werden.

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Heft 4 / 2012

S c h u l p r o j e k t e z u m U m g a n g m i t S t e r b e n , To d u n d Tr a u e r

Empfehlenswerte und umfassende Handreichungen für Pädagogen, die kostenlos heruntergeladen werden können sind: Tod und Trauer in der Schule, Information für Lehrkräfte und Schulleitung sowie Tod und Trauer in der Schule. Auf der Internetseite des Referats Schulpastoral der Diözese Rottenburg-Stuttgart finden sich zudem umfangreiche professionell ausgearbeitete Materialien und Informationen zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in der Schule für den präventiven und akuten Einsatz. Weitere Hinweise zu Broschüren finden sich im Anhang. Der Bedarf an Schulprojekten zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist noch lange nicht gedeckt. Die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Schulprojekte und Ansätze zeigen die unterschiedlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten, das Thema in den Lebensbereich Schule einzubinden. Deshalb ist es meiner Ansicht nach wertvoll, dass nebeneinander verschiedene Projekte und Konzeptionen bestehen. Parameter der Qualitätssicherung sollten vor dem Einsatz eines Schulprojekts ausführlich erörtert werden. Dazu gehören beispielsweise die Qualifikationen der Projektleiter und Durchführenden. Wenn Schule neben der Wissensvermittlung als ein sozial-emotionaler Lebensbereich erfahren werden kann, in dem wesentliche Lebensfragen und Anliegen der darin lernenden und arbeitenden Menschen Raum finden, wird sich dies letztendlich auch auf unsere Gesellschaft und die Haltung gegenüber kranken, sterbenden und trauernden Menschen auswirken. Nicht alle qualifizierten Projekte und Initiativen konnten hier vorgestellt werden. Die Auswahl zeigt jedoch deutlich, wie viel sich in den letzten Jahren auf diesem Gebiet entwickelt hat und zurzeit noch im Aufbau befindet. Dies macht Hoffnung, dass in Zukunft Sterben, Tod und Trauer nicht mehr zu den Tabuthemen unserer Gesellschaft zählen und so trauernde Kinder, Jugendliche wie Erwachsene sensibler wahrgenommen und hilfreich unterstützt werden können.

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Stephanie Witt-Loers ist Kinder- und Familientrauerbegleiterin und Trauerbegleiterin in eigener Praxis. Sie ist Fachbuchautorin, Leiterin von Kindertrauergruppen am Kinder- und Jugendhospiz Balthasar und anderen Institutionen sowie Trauerbegleiterin für ambulante Trauertherapie im Auftrag verschiedener Jugendämter. Als Dozentin und Fortbildungsreferentin ist sie für Lehrer, Erzieher, Psychologen, Hebammen, Ärzte, Sozialpädagogen, Seelsorger, Studenten, Bestatter und Hospizmitarbeiter tätig. E-Mail: [email protected] – Homepage: www.dellanima.de

Projekte Hospiz macht Schule: www.hospizmachtschule.de Leben bis zuletzt: www.lukas-hospiz.de Mein Leben lang: www.meinlebenlang.de Projekte des Ökumenischen Kinder- und Jugendhospizdienstes Mannheim: www.kinderhospizdienst-mannheim.de Ich komm als Blümchen wieder: www.quartier-bremen.de Wie ist das mit dem Tod: www.sinnvolltrauern.de Uns allen blüht der Tod: www.obs-neunkirchen.de Hospiz Horn Lehrerfortbildungen: www.hospiz-horn.de Horus-Hospiz Projekte: www.horus.commas25.neusta.de Hospiz Leverkusen: www.hospi-leverkusen.de KiSchu: www.katharinen-hospiz.de GmS: Dirk Blümke: E-Mail: [email protected] Lebensschule – Jugendliche begegnen dem Tod: www.hospiz-stmk.at Durchkreuztes Leben – Gedenkstätten am Straßenrand: www.osthessen-news.de Umgang mit Sterben, Tod und Trauer – Ein Konzept für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9–13: www.dhpv.de Sinus-schulische Krisenintervention: www.schulische-kri-senintervention.de Begleitende Materialien und Ausstellungen Museum für Sepulkralkultur/Ausstellungen/Fortbildungen/ Vergissmeinnichtkoffer: www.sepulkramuseum.de Erzähl mir was vom Tod: www.fez-kindermuseum.de Materialien und Informationen zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in der Schule: http://www.schulpastoral. drs.de/umgangtrauer.htm Filme und Begleitbuch für Pädagogen: »Im Alter stirbt doch keiner«. www.Lilo-Filmverlag.de Broschüren »Tod und Trauer in der Schule, Information für Lehrkräfte und Schulleitung«. Download als pdf-Datei unter www.km-bw.de oder www.schule-bw.de »Tod und Trauer in der Schule«: www.trauernde-kinder-kiel.de »Helft Kindern, den Tod zu begreifen«, www.bestatter.de Projektbroschüre: »Gibt’s im Himmel Spaghetti«, »Kleiner Eltern-Leitfaden für den Umgang mit Trauerfällen«: www.kinder-und-trauer.de

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Young Carers – Kinder und Jugendliche, die ein schwer erkranktes Familienmitglied pflegen Ein Gruppenangebot im St Christopher’s Hospice in London

Rebecca Stry

Mit diesen Worten beschreibt ein 14-jähriges Mädchen ihre Situation als Kind, das pflegende

Tätigkeiten für ihre erkrankte Mutter auf sich nimmt. Sie ist eine von etwa 225 000 minderjährigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die sich zu Hause um ein erkranktes Familienmitglied kümmern (vgl. Metzing 2006/2007). In Großbritannien werden diese pflegenden Kinder als »Young Carers«1 bezeichnet und sind dort seit nun etwa 15 Jahren Gegenstand von wissenschaftlichen Forschungen, aus denen ver-

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Bildnachweis: St. Christopher’s Hospice, London

»Wenn man so dabei ist, dann ist das automatisch so, es kommt immer was dazu – so wie die künstliche Ernährung oder der Katheter oder so, es wird immer mehr gemacht und man nimmt es einfach so an und macht es dann.« (Metzing 2006/2007, S. 81)

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schiedene Gruppenangebote für diese Zielgruppe hervorgegangen sind. In Deutschland werden Kinder und Jugendliche bislang nicht in dieser Weise als spezifische Gruppe pflegender Angehöriger wahrgenommen. Die meisten der Young Carers pflegen ein Elternteil, das an einer psychischen oder chronisch körperlichen Erkrankung leidet. Viele der Kinder und Jugendlichen wachsen mit der Krankheit des Familienmitglieds auf. Die pflegerischen Tätigkeiten empfinden sie oftmals als Normalität und Selbstverständlichkeit.

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nachvollziehen können. Einige tauschen sich nicht mit ihren Klassenkameraden über ihren Alltag aus, weil sie sich einerseits unverstanden fühlen und andererseits keine Informationen über die Gegebenheiten in der Familie freigeben möchten, die sie so sehr von anderen Familien unterscheidet. In vielen Familien wird nicht offen über darüber gesprochen, wie ernst die Erkrankung tatsächlich ist. Den Sozialarbeitern und Pädagogen des St Christopher’s Hospice war es ein Anliegen, diese Kinder und Jugendlichen zusammenzuführen und ein Gruppenangebot zu schaffen, bei dem sie sich über ihre Erfahrungen und Sorgen ausEinblicke in die Young Carers Group tauschen können. in London Schon vor dem ersten Gruppenabend wurde Sozialarbeiter des St Christopher’s Hospice in das Team aus Sozialarbeitern, Pädagogen und London2 sind bei der ambulanten Betreuung Ehrenamtlichen vor eine große Herausfordevon krebserkrankten Eltern und deren Fami- rung gestellt. Einige Eltern wollten nicht, dass lien immer wieder auf Kinder und Jugendli- ihr Kind erfährt, dass Mama oder Papa an der che gestoßen, die in Folge der Krankheit sterben wird. VerDie meisten der Young CaErkrankung der Mutter oder ständlicherweise wollten sie es rers pflegen ein Elternteil, den Kindern selbst im richtigen des Vaters Aufgaben übernehdas an einer psychischen men, die alters- und rollenunAugenblick erklären. Deshalb oder chronisch körperlichen wurden nicht der bevorstehentypisch sind. Der Begriff »Pflege« ist dabei sehr weit gefasst. Erkrankung leidet. Viele der de Tod und Abschied zum TheKinder und Jugendlichen So kann es sein, dass die Kinma der Gruppe gewählt, sonder dem Elternteil bei der Kör- wachsen mit der Krankheit dern die Rolle und Gefühle der des Familienmitglieds auf. Kinder in der Familie mit einem perpflege helfen, Mahlzeiten zubereiten oder sie zu Arztter- Die pflegerischen Tätigkei- schwer erkrankten Familienmitminen begleiten. Wieder andeten empfinden sie oftmals glied. re kümmern sich um den Wo- als Normalität und SelbstDie Gruppe mit Kindern cheneinkauf, beantworten die zwischen 12 und 18 Jahren wurverständlichkeit. Post und versorgen die jüngede wegen einer Projektfinanren Geschwister. Nach und nach werden diese zierung auf drei Monate befristet und fand einKinder auch zu Experten der Krebsbehandlung, mal monatlich für ca. drei Stunden statt. Jeder indem sie die schwierigsten Medikamentenna- Abend stand unter einem anderen Motto, das men aussprechen können und ganz genau wis- die altersspezifischen Bedürfnisse der Kinder sen, wann ihre Mutter welches Medikament in und Jugendlichen berücksichtigte. welcher Dosierung einnehmen muss. Nach einer Kennenlernphase leiteten die PäAll diese Kinder und Jugendlichen befinden dagogen und ehrenamtlichen Mitarbeiter ein sich durch die Aufgaben, die sie wahrnehmen, Gruppengespräch an, bei dem sich die Kinder und das Erleben der Erkrankung in der Familie und Jugendlichen darüber austauschten, was es in einer Situation, die Gleichaltrige nur schwer für sie bedeutet, ein schwerst erkranktes Fami-

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Rebecca Stry

lienmitglied zu haben, wie sich die gesamte FaNach dem offiziell angeleiteten Angebot, vermilie durch die Krankheit verändert und welche bringen die Kinder und Jugendlichen noch Zeit Gefühle und Erfahrungen dies mit sich bringt. miteinander, die sie frei gestalten. Sie sprechen In den Gesprächen stellte sich heraus, dass die miteinander über normale Themen wie Sport Kinder und Jugendlichen eine Mischung von und Hobbys, aber hier und dort hört man, wie unterschiedlichen Sorgen und Gefühlen belas- sie über Diagnosen sprechen und wie sie ihren ten. Traurigkeit, Wut, Eifersucht auf Klassenka- Alltag meistern. Einige wenden sich mit Frameraden mit gesunden Eltern, aber auch Freu- gen und Gedanken an die Ehrenamtlichen und de über schöne Erlebnisse wechseln sich stetig pädagogischen Mitarbeiter. Ihnen erzählen sie ab. Einige erzählten, dass es für sie besonders Dinge, die sie sich nicht getraut haben, vor der schlimm sei, dass die Mutter durch die Chemo- Gruppe zu sagen. Am Ende jedes Gruppentherapie die Haare verloren habe. Wieder ande- abends tauschen die Jugendlichen Handynumre finden es unangenehm, wenn sie den Vater mern, Skype- und Facebook-Namen aus. im Rollstuhl schieben und von Leuten aus der Nachbarschaft dabei gesehen werden. Ziele der Young Carers Group An jedem Gruppenabend wurde mit den Kindern und Jugendlichen mit kreativen Me- Das Ziel des Gruppenangebots besteht darin, thoden gearbeitet. Eine Musiktherapeutin des den jungen Menschen zu zeigen, dass sie in ihrer Hospizes hat beispielsweise jedem Kind ein Ins- Situation als Pflegende nicht allein sind. Auch bei trument gegeben und jeden für sich und doch anderen Kindern ist ein Familienmitglied schwer alle zusammen spielen lassen. Gemeinsam ha- erkrankt. Durch die Gruppe schließen sie Kontakte zu Gleichgesinnten und ben sie ein Lied komponiert – die Hymne der Young Carers, Nach und nach werden die- professionellen Ansprechpartse Kinder auch zu Expernern, Freundschaften werden deren Melodie und Text diese ten der Krebsbehandlung, geschlossen und es entsteht ein tapferen Kinder in ihrer Einzigindem sie die schwierigsten Netzwerk mit möglichen Unterartigkeit verbindet. Jeder hat eine Collage ange- Medikamentennamen aus- stützern in Krisensituationen. fertigt, auf der er sich mit Sym- sprechen können und ganz Zudem nehmen die Kinder und Jugendlichen durch die kreatibolen mit seiner speziellen fagenau wissen, wann ihre ven Angebote nach jeder Grupmiliären Situation auseinanderMutter welches Medikasetzt. Das jüngste Gruppenmit- ment in welcher Dosierung pensitzung etwas Selbstgestaltetes, was ihre Gefühle und Geglied, ein zwölfjähriger Junge, einnehmen muss. danke darstellt, mit nach Hauhat eine Uhr aus einem Magazin ausgeschnitten, sie aufgeklebt und im anschlie- se. Dadurch wird den Familien ein Gespräch ßenden Gespräch erklärt: »Ich weiß nicht, wie viel ermöglicht, bei dem sie sich über Themen rund Zeit ich noch mit meiner Mutter habe.« Er spricht um die Krankheit und die Auswirkungen auf die aus, worüber einige nicht sprechen und nach- Familie austauschen können. Die Gruppe findet im stationären St Chrisdenken wollen, aber was die meisten insgeheim beschäftigt. Ein Jugendlicher erklärt, dass für topher’s Hospice statt. Die Kinder und Jugendihn die Uhr etwas anderes symbolisiert. »Wir alle lichen lernen das Hospiz als einen Ort kenmüssen schneller erwachsen werden. Wir haben nen, an dem ihre Gefühle liebevoll aufgefangen schon Ängste erlebt und Dinge getan, woran ande- und zugelassen werden, und als einen Ort, an re Kinder und Jugendliche in unserem Alter noch dem sie Spaß haben können. Sie werden mit dem Hospiz und dessen Mitarbeitern vertraut. nie einen Gedanken verschwenden mussten.«

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Schließlich werden einige der Kinder zu einem späteren Zeitpunkt wieder in das Hospiz kommen, nämlich dann, wenn ihr erkranktes Elternteil stationär aufgenommen wird, um dort am Lebensende versorgt zu werden und dort zu sterben.

bereitet. Es geht vor allem darum, dass sie Strategien kennen lernen, wie sie gut auf sich selbst achten, ihre Gefühle ausdrücken und an wen sie sich wenden können, wenn es ihnen schlecht geht. Dieses Wissen können sie auch in der Trauer anwenden.

Herausforderungen eines solchen Gruppenangebots

Übertragung auf Deutschland – Young Carers in Deutschland

Die Young Carers Group ist keine feste, geschlos- Es stellt sich die Frage, inwiefern ein solches sene Gruppe. Auch wenn es einen »harten Kern« Gruppenangebot in Deutschland anwendvon Kindern und Jugendlichen gibt, die an al- bar wäre. Rund 1,5 % aller Kinder in Deutschlen Gruppenterminen teilnehland nehmen pflegerische AufSchließlich werden einige men, stoßen immer wieder angaben für einen Angehörigen der Kinder zu einem dere Kinder dazu. Wieder andewahr (vgl. Metzing 2006/2007). re verlassen die Gruppe, weil sie späteren Zeitpunkt wieder Auch wenn diese Zielgruppe in das Hospiz kommen, spüren, dass es nicht das Richin Deutschland nach und nach nämlich dann, wenn tige für sie ist, oder auch, weil in das öffentliche Bewusstsein ihr erkranktes Elternteil das Elternteil verstorben ist und rückt, gibt es hierzulande zu stationär aufgenommen sie nicht mehr länger pflegenwenig Unterstützungsangebode Angehörige sind. Außerdem te und Austauschmöglichkeiten wird, um dort am wurde die Gruppe von Monat für diese Kinder und JugendliLebensende versorgt zu Monat größer. Bei der erschen. zu werden und dort zu ten Veranstaltung sind vier junDie deutsche Pflegewissensterben. ge Menschen gekommen. Beim schaftlerin Dr. Sabine Metzingnächsten Termin waren es schon 17 (vgl. Payne Blau3 hat sich in ihrer Promotion erstmals den et al. 2012). Bei solch einer großen Gruppe ist Kindern und Jugendlichen als pflegende Angees schwierig, eine vertrauensvolle Stimmung zu hörige in Deutschland zugewandt und den Blick schaffen, in der jeder das Gefühl hat, sich öffnen der Öffentlichkeit auf sie gelenkt. Dank ihrer zu können. Kleingruppenarbeit für die jeweili- wissenschaftlichen Arbeit konnte ein Unterstütgen Altersgruppen war die Lösung. zungsangebot für familienorientierte Hilfe konEinige der Kinder und Jugendlichen wuss- zipiert werden.4 Auch die Gesundheitswissenschaftlerin Nora ten bereits, dass ihre Mutter oder ihr Vater an der Erkrankung sterben wird. Andere wuss- Großmann widmet sich beruflich minderjähriten es nicht, ahnten es aber. Die Kinder und Ju- gen Kindern, die sich um pflegebedürftige Angendlichen sollten im Gruppengeschehen selbst gehörige kümmern. Sie ist Mitbegründerin und entscheiden, worüber sie sprechen wollten. Die Projektkoordinatorin von Young Carers DeutschThemen Sterben und Tod wurden nur sehr sel- land in Bad Bramstedt.5 Einmal wöchentlich ten und eher oberflächlich angesprochen. Zu bietet sie drei Gruppen für Kinder und Jugendligroß war die Bedrohung, die diese Themen bei che unterschiedlicher Altersgruppen unter dem den jungen Menschen auslösten. Deshalb hat die Motto »Um wen kümmerst du dich? Und wer Young Carers Group die Kinder und Jugendli- kümmert sich um dich?« an. Sie beschreibt ihre chen nur indirekt auf Trauer und Abschied vor- Arbeit mit folgenden Worten:

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Bildnachweis: St. Christopher’s Hospice, London

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»Die Rückmeldung von Eltern und Kindern ist sehr positiv. Die Kinder erleben in der Gruppe ihren persönlichen geschützten Raum. Hier dürfen sie alle Sorgen fallen lassen, lachen, spielen und einfach nur Kind sein. Die Kinder wissen, dass sie hier Fragen stellen dürfen, dass sie ihre Gefühle benennen dürfen und nichts den Raum verlässt. Manche Kinder nutzen die Gruppe bewusst, um ihre Probleme zu äußern und sich auszusprechen, andere Kinder nutzen die Gruppe, um sich fallen zu lassen, zu spielen und frei von der sonstigen Verantwortung zu sein.«6 Bisher gibt es leider noch keine flächendeckende Organisation, die die Situation betroffener Kinder und Jugendlicher in Deutschland erfasst und Hilfsangebote koordiniert. Dr. Sabine MetzingBlau formuliert drei Wünsche für die pflegenden Kinder und Jugendlichen in Deutschland: »Enttabuisierung des Themas, ein gesellschaftliches Bewusstsein für dieses Phänomen und vor allem Regelfinanzierung für Hilfsangebote«.7 Rebecca Stry ist Diplom-Sozialpädagogin und Trauerbegleiterin. Sie arbeitet im Theodorus-Hospiz in Berlin. Ihr abschließendes Studienpraktikum hat sie im St Christopher’s Hospice in London absolviert. E-Mail: [email protected]

Literaturhinweise Metzing, S.: Die Familie zusammenhalten. Pflegende Kinder und Jugendliche. Die Schwester, Der Pfleger, 46, 2006/20007, S. 80–85. Metzing, S.: Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige. Erleben und Gestalten familialer Pflege. Bern 2007. Payne, M., Dechamps, A. et al.: Young carers in palliative care: A groupwork project. 2012 (in press). Pühler, S.: Kindern die Krankheit der Eltern erklären. Wenn Eltern lebensbedrohlich erkranken. Bundes-Hospiz-Anzeiger, Vol.1, 10/2012, S. 16. Unterstützungsangebote SupaKids in Hamburg findet in Kooperation der DRKSchwesternschaft Hamburg e.V. und der Universität Witten/Herdecke gGmbH statt. www.supakids.de Young Carers Deutschland in Bad Bramstedt. www.youngcarers.de Hilfe für Kinder krebskranker Eltern in Frankfurt. www.hilfefuer-kinder-krebskranker-eltern.de Flüsterpost e.V. – Unterstützung für Kinder krebskranker Eltern in Nürnberg. www.kinder-krebskranker-eltern.de Anmerkungen 1 2

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Young Carers = junge Pflegende Das St Christopher’s Hospiz wurde 1967 als weltweit erstes Hospiz von der Sozialarbeiterin und Ärztin Dame Cicely Saunders gegründet. Es ist für seine Verbindung von professioneller Arbeit mit liebevoller Pflege bekannt. Dr. Sabine Metzing-Blau ist Juniorprofessorin an der Universität Witten/Herdecke für Pflegewissenschaft. Sie forscht und lehrt im Themenfeld »Kinder und Jugendliche«. Z. B. SupaKids: www.supakids.de www.youngcarers.de Großmann: E-Mail-Korrespondenz, März 2012. Metzing: E-Mail-Korrespondenz, Februar 2012.

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Erfahrungsbericht von Felix und Charlotte 11. November 2010, 10 Uhr. Eigentlich ein Morgen wie jeder andere. Und doch wieder nicht. Denn statt wie alle anderen Mitschüler in der Schule zu sitzen und einen Vokabeltest zu schreiben, befanden wir uns im Krankenhaus. Nichtsahnend hatte ich mich erst eine halbe Stunde zuvor, nach einem Anruf des behandelnden Arztes meiner Mutter, mit einem engen Bekannten der Familie und meiner Freundin auf den Weg gemacht. Und nun standen wir plötzlich auf dem Krankenhausflur, und das völlig Unerwartete wurde plötzlich zu meiner neuen Realität. Ein Morgen, der begonnen hatte wie jeder andere auch, verwandelte sich in den schlimmsten Tag meines bisherigen Lebens. Nach der Nachricht des Oberarztes, dass meine Mami eine halbe Stunde zuvor verstorben sei, wollte ich einfach nur raus. Raus aus dem riesigen Krankenhausgebäude, weg von dem widerlichen Gestank nach Desinfektionsmittel, einfach nur weg. Wie in Trance haben wir alle das Krankenhaus verlassen und uns wieder ins Auto gesetzt. Die Nachricht, dass die Mama von meinem Freund erst kurze Zeit vor unserem Eintreffen im Krankenhaus verstorben war, traf uns alle drei überraschend und absolut unerwartet. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kommen mir die Erlebnisse im Krankenhaus immer noch wahnsinnig unreal vor. Alle Erinnerungen sind verschwommen, und doch bemerke ich immer wieder, dass sich jedes noch so kleine Detail ins Gedächtnis eingebrannt hat. Nachdem ich in knappen Worten erfahren hatte, was los war, war ich zunächst einfach nur geschockt. Ich habe wie in Watte gepackt mitbekommen, dass der Bekannte gegen die Krankenhauswände geschlagen hat, während Felix einfach nur still neben mir stand. Wir sind im Fahrstuhl nach unten gefahren und haben das Krankenhaus auf kürzestem Weg verlassen. Keiner von uns hätte es noch länger in dem Gebäude

ausgehalten, und zu jedem von uns ist die Realität langsam durchgedrungen, während wir zum Auto gegangen sind. Erst da habe ich mich getraut, meinem Freund das erste Mal richtig ins Gesicht zu schauen. Dieser leere Blick in seinen Augen und sein Gesichtsausdruck haben mir schon fast Angst gemacht. Ich hab ihn einfach nur in den Arm genommen, gesagt hat keiner etwas. Die ganze Autofahrt war es still und die Situation kam mir absolut unwirklich vor. Was soll es für einen Sinn haben, dass ein 16-jähriger Junge von einem Tag auf den nächsten alleine ohne seine Mutter dasteht? Fragen dieser Art sind mir die ganze Zeit über durch den Kopf gespukt und lassen mich seither nicht wirklich los. An die Heimfahrt und den Tag an sich kann ich mich kaum noch erinnern. Seitdem ich erfahren hatte, was passiert war, befand ich mich wie in einer Trance. Das Einzige, an das ich mich erinnern kann, war das Gefühl einer unendlichen Leere, die mich erfasst hatte. Was um mich herum passierte, habe ich überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Ich habe nur gespürt, wie mir die Tränen durchs Gesicht gelaufen sind und

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 23–27, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Bildnachweis: Avenue Images/Cultura RM

Seitdem ich erfahren hatte, was passiert war, befand ich mich wie in einer Trance. Das Einzige, an das ich mich erinnern kann, war das Gefühl einer unendlichen Leere, die mich erfasst hatte. Was um mich herum passierte, habe ich überhaupt nicht mehr wahrgenommen.

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Charlotte meine Hand gestreichelt hat. Ansonsten gibt es in meinem Kopf nur noch Momentaufnahmen, die ich bis heute nicht hundertprozentig einordnen kann. Im Nachhinein kann ich sagen, dass der ganze Tag an mir vorbeigezogen ist, als ob er nicht der Realität entspräche. Während wir bis zum frühen Abend damit beschäftigt waren, meinen Vater und die restliche Familie zu informieren und Dinge zu regeln, hätte meine Mutter genauso gut noch im Krankenhaus liegen können. Es hätte für mich in der Situation keinen Unterschied gemacht. Erst als ich abends nach Hause kam, ist dieses Gefühl der Ohnmacht wieder näher an mich herangerückt. Besonders in dem Moment war ich froh, nicht ganz alleine sein zu müssen, weil meine Freundin natürlich bei mir geblieben war und meine Familie gleich nebenan wohnte. Aber trotz dieser Nähe konnte ich es viele Wochen lang nicht ertragen, mehr als nötig mit dem Thema konfrontiert zu werden. Ich wollte einfach nicht darüber reden oder ständig von einer Realität hören, die ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wirklich erfasst hatte. Generell bin ich kein Typ, der andere Menschen gerne an seinen Problemen teilhaben lässt, ich mache schwierige Situation lieber selbst mit mir aus. Trotzdem war es ein schönes Gefühl zu wissen, jemanden hinter sich stehen zu haben. Natürlich ist es normal, dass in den Tagen nach so einer schrecklichen Nachricht nicht viel Platz für Normalität ist. Es gab einfach so viel zu regeln und ich habe immer versucht, für Felix da zu sein, so gut ich es konnte. Ich weiß, dass er mit der Situation überfordert war, insbesondere als es darum ging, die Beerdigung zu organisieren, aber gerade deshalb bewundere ich es bis heute, wie stark und erwachsen er gehandelt hat. Keiner, weder seine Familie noch sonst wer, wäre je auf die Idee gekommen, so eine Beherrschtheit von ihm zu erwarten. Dennoch habe ich das Gefühl, dass er es sich einfach selbst zum Ziel gemacht hat, stark zu sein. Und ich kenne ihn mittlerweile gut ge-

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nug, um zu wissen, dass er nicht aufgeben würde, wenn es sich um etwas handelt, das ihm so wichtig ist. Zu dem Zeitpunkt war mir das allerdings noch nicht so ohne Weiteres bewusst. Ich habe mehrere Monate mit der Befürchtung gelebt, dass er doch noch abrutschen könnte und anfangen würde Drogen zu nehmen oder die Schule zu schwänzen. Diese Ängste kamen hauptsächlich daher, dass ich nicht verstehen konnte, wie man mit einem solchen Erlebnis nach außen hin dermaßen sachlich umgehen kann. Auch in der Schule und in unserem Freundeskreis bin ich oft darauf angesprochen worden, dass man Felix zu keinem Zeitpunkt anmerkt, was ihm passiert ist. Immer wieder habe ich mir Sorgen gemacht, dass er die ganze Trauer in sich hineinfrisst und dass es nicht gesund sein kann, so etwas mit sich alleine auszumachen. Aber mittlerweile weiß ich es besser. Man muss nicht über alles reden, damit es besser wird. Jeder Mensch scheint seine eigene Methode zu entwickeln, mit der Trauer und einem solchen Verlust fertig zu werden. Daher habe ich es mir irgendwann einfach zum Ziel gemacht, einfühlsamer zu werden und ihm auf die Weise zu helfen, die er wirklich braucht. Das ist eine Sache, die ich jedem raten würde, der sich in einer ähnlichen Situation befindet. Man muss bestimmte Arten zu trauern einfach akzeptieren, auch wenn man sie selbst in keinster Weise nachempfinden kann. Als Freund, Verwandter oder Bekannter muss man einfach lernen, aufmerksam zu sein und sich nach dem Anderen zu richten. Nur dann kann man wirklich helfen. Und meist bringt es schon viel, einfach nur da zu sein. Eine meiner größten Ängste war es die ganze Zeit über, wieder in die Schule gehen zu müssen. Nicht weil ich Angst gehabt hätte, im Unterricht zu viel verpasst zu haben und nicht mehr mitzukommen, sondern weil ich keine Lust hatte, wie ein Aussätziger behandelt zu werden. Ich hatte vielmehr Angst davor, dass meine wahren Freunde mich plötzlich wie einen Fremden be-

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handeln würden, und ich wollte nicht, dass sich irgendetwas ändert. Daher war es mir eine große Hilfe, dass meine Freundin bereits eine Woche vor mir wieder zur Schule gegangen ist, um dort bereits den ersten Ansturm an Fragen und Mitleid abzufangen. Besonders schwierig ist die Situation dadurch geworden, dass mein Klassenlehrer wider Vereinbarung der ganzen Klasse mitgeteilt hat, was mir passiert ist. An der Schule verbreiten sich solche Geschichten natürlich wie ein Lauffeuer und ich wollte unter keinen Umständen bekannt werden als der Junge, dessen Mutter gestorben ist. Ich muss ehrlich sagen, dass die ersten Tage in der Schule für mich nicht unbedingt einfach waren. Aber nach mehreren Fehltagen war es einfach nicht mehr länger möglich, der Schule fernzubleiben. Bereits im Voraus habe ich mir viele Gedanken um den ersten Tag gemacht, allerdings mehr auf Felix bezogen als auf mich. Daher war ich zu Beginn ziemlich überrumpelt von dem, was im Nachhinein natürlich logisch klingt. Schon während der Fahrt zur Schule bin ich auf den ersten Mitschüler getroffen, der selbstverständlich sofort Fragen hatte. Mir wäre es umgekehrt natürlich genauso gegangen, von daher habe ich mich bemüht, alles, so gut es ging, zu erklären. Was mir in dem Moment wirklich geholfen hat, war, dass dieser Mitschüler auch zu den engeren Freunden zählte. Das hat es mir viel leichter gemacht, alles direkt auszusprechen. Er ist auch mit mir zusammen in die Schule gegangen und somit waren die meisten anderen Schüler erst mal ein wenig abgeschreckt, direkt auf mich loszustürmen. Obwohl sich dieser Ansturm natürlich nicht lange vermeiden ließ. In jeder Unterrichtsstunde, in jeder Pause, überall wurde ich darauf angesprochen. Teilweise von Leuten, die nicht einmal Felix’ Namen kannten. Auf der einen Seite fand ich es wirklich toll, so viel Anteilnahme zu sehen, und war gerne bereit, Auskünfte zu geben, aber im Nachhinein kann ich überhaupt nicht mehr sagen, wie oft ich an diesem Tag das Gleiche erzählt habe. Wie schon gesagt,

kann ich es gut verstehen, dass alle wissen wollten, was los war und wie es Felix ging, aber ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich schon nach den ersten Stunden anfing genervt zu sein. Aus dem einfachen Grund, dass ich auf so viele, unglaublich dumme Gerüchte traf. Ausgelöst von einem einzigen Lehrer, der offensichtlich einen so hohen Mangel an Einfühlungsvermögen besitzt, dass er es für richtig hält, wider Absprache der Klasse mitzuteilen, was passiert war. In dem Moment, als ich die Gerüchte zu Ohren bekam, habe ich sie einfach nur als Respektlosigkeit aufgenommen. Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass nichts davon böse gemeint war, aber es hat mich unglaublich geärgert zu hören, wie ein so schreckliches Ereignis zu einer »interessanteren« Geschichte ausgeschmückt wurde. Damit konnte ich absolut nicht umgehen und kann es bis heute nicht nachvollziehen. Dennoch war es im Großen und Ganzen wirklich toll zu spüren, wie viel Rückhalt und Hilfe richtige Freunde bieten können. Und ich denke, die Reaktionen der meisten Leute waren genau die, die Felix brauchen konnte. Besonders von engeren Freunden wurde mir immer wieder gesagt, dass sie ihn jetzt nicht belästigen wollten und dass er sich Zeit nehmen solle. Wenn er aber irgendetwas bräuchte, seien sie sofort für ihn da, er solle sich nur melden. Solche Freunde zu haben, ist meiner Meinung nach absolut beneidenswert, und selbst wenn nicht jeder Einzelne viel tun konnte, so sind es doch (wir) alle zusammen gewesen, die die Situation für Felix ein wenig erträglicher machen konnten. Wie bereits gesagt war ich froh, dass meine Freundin schon eine Woche vor mir in die Schule gegangen ist, damit sie für mich den ersten Ansturm an Fragen bewältigen konnte. Fragen, die ich so vielen Leuten überhaupt nicht beantworten wollte. An meinem ersten Tag in der Schule betrat ich diese mit einer Mischung aus Angst und Lampenfieber. Und obwohl mir Charlotte täglich aus der Schule berichtet hatte, strömten mir tausend Fragen durch den Kopf: »Wie wer-

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Bildnachweis: neuebildanstalt/Bornkassel

E r f a h r u n g s b e r i c h t v o n Fe l i x u n d C h a r l o t t e

den alle auf mich reagieren? Habe ich zu viel verpasst? Kann ich jetzt überhaupt an Schule denken oder mich auf den Unterricht konzentrieren?« Also überzeugte ich mich selbst: »Was muss, das muss, egal, wie aufgeregt man ist.« Da mein Lehrer ja schon selbständig entschieden hatte, was das Beste für mich war, bereitete ich mich mental schon auf das Schlimmste vor. Gott sei Dank kam es letztendlich doch anders als erwartet. Der Großteil der Leute sprach mich gar nicht darauf an, entweder lag es daran, dass Charlotte schon alles geklärt hatte, oder sie trauten sich einfach nicht. Mir tat es gut, mit diesem Thema zumindest in der Schule in Ruhe gelassen zu werden und so einen Haufen Ablenkung finden zu können, da der Tod meiner Mutter ansonsten dauerpräsent in meinem Leben ist und jede Auseinandersetzung damit schmerzhaft ist. Dennoch gab es natürlich von vielen Seiten Mitleid. Von allen natürlich in guter Absicht, hat es mir jedoch nicht in allen Fällen geholfen. Allen voran einer meiner Lehrer, der sich berufen fand, mit mir ein Gespräch unter vier Augen zu führen und zu erklären, was gut für mich sei. In einer solchen Situation wird man mit Samthandschuhen angefasst, was mir eher unangenehm war, als dass es mich weitergebracht hat. Man möchte nicht wie ein Aussätziger behandelt werden. Ich hatte mir erhofft, in der Schule den Alltag wiederzufinden, der für mich zu Hause nicht mehr existierte. Diese Hoffnung wurde für

mich in der ersten Zeit von einem einzigen Lehrer zerstört und es macht mich noch heute wütend, dass er nie begriffen hat, was er eigentlich angerichtet hatte. Weiterhin konnte ich auch mit dem Mitleid derer, mit denen ich normalerweise nichts zu tun habe, eher wenig anfangen. Viele Menschen, die ich nur flüchtig kannte, meinten plötzlich mich zu kennen und mir wichtige Ratschläge geben zu müssen. Ich weiß natürlich, dass das nur nett gemeint war, aber was mir wirklich geholfen hat, war der Rückhalt meiner Familie, meiner Freundin und meiner engsten Freunde. Das Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine dasteht, ist um Weiten hilfreicher als tausend Beileidsbekundungen von Menschen, die man gar nicht richtig kennt. Über mich selbst kann ich sagen, dass es die Ablenkung war, die mir geholfen hat, das Schlimmste zu überstehen. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je weniger ich über das Thema sprechen musste, desto besser ging es mir. Für mich selbst hat das absolut nichts mit Verdrängen zu tun. Ich weiß einfach, dass Mami sich immer für mich gewünscht hat, dass ich glücklich bin. Und auch wenn es an manchen Tagen schwieriger ist als an anderen, dieses Ziel werde ich nie aus den Augen verlieren.

Felix und Charlotte sind seit 2010 zusammen, seine Mutter starb nach etwas mehr als einem halben Jahr Beziehung unerwartet in Folge einer Krankheit.

K i n d e r u n d J u g e n d l i c h e – e i n Tr a u e r s p i e l

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Meine Schulzeit »danach« Romina Mangler

Ich war 18, als meine Schwester verunglückte. In der 12. Klasse und noch ein Jahr vom Abitur entfernt. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass es gerade nichts Wichtigeres in meinem Leben gibt als diese Prüfung. Immerhin wurde mir das mehrmals täglich gesagt. Meine Schwester starb an einem Freitag. An die Tage danach kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Alle Bilder und Gedanken, die sich in meiner Erinnerung auftun, sind wie in Watte gepackt und dumpf. Kaffee kochen  … Unmengen von Kaffee kochen. Unmengen von Menschen in unserem Haus. Kaffee für alle kochen. Ich glaube, ich war ungefähr eine Woche zu Hause, dann ging ich wieder zur Schule. Abitur … ja, da war ja was. Ich war unheimlich nervös vor meinem »ersten Schultag danach«. Was würde mich erwarten? Was wollte ich, was mich erwartet? Ich wusste selbst nicht, was ich schlimmer finden würde: Aufmerksamkeit, Mitleid oder business as usual  … Ich glaube, Lehrer können in diesem Moment nichts wirklich richtig machen … keiner kann das. Die meisten (Schüler und Lehrer) taten so, als wäre nichts gewesen, und in einer Ecke meines Herzens war ich froh darüber. Froh, dass wenigstens ein Teil meines alten Lebens scheinbar noch da war … unverändert. Ich hatte immer so ein Bild im Kopf: Jeden Morgen trete ich aus der Haustüre in eine andere Welt hinaus. Die Zeit läuft dort schneller, alles ist bunter, lauter, heller  … fröhlicher. Ein bisschen wie früher. Ich fühle mich ganz wohl dort, weil ich mich da auskenne. Ich kenne diese Welt ja von früher … von »davor«. Nachmittags muss ich wieder aus dieser Welt raus – hinein in die andere. Durch die Haustüre in die dunkle,

dumpfe, in Watte gepackte Welt. Dort ist alles neu. Und die Menschen darin, die ich eigentlich kennen müsste, weil es doch meine Eltern sind, sind mir so fremd. Das tägliche Weltenwandern ist anstrengend. Nicht die Schule. Es sind vielmehr die Gefühle in mir, die mich zermürben. Ich bin traurig. Ich bin fröhlich. Ich bin traurig, weil ich fröhlich bin. Ich fühle mich schlecht, weil ich lieber in der bunten Welt bin als zu Hause. Ich bin wütend. Wütend auf meine Eltern, die nicht mehr stark sind. Auf die ich mich nicht mehr verlassen kann. Wütend auf meine Schwester, die mein altes Leben mitgenommen hat. Wütend auf mich, weil ich wütend bin. Gefühlschaos. An anderen Tagen völlige Leere – irgendwie »leergefühlt«. Es muss so ein leergefühlter Tag gewesen sein, etwa ein halbes Jahr nach dem dem Tod meiner Schwester. Meine Sportlehrerin versuchte, mich zu einem enthusiastischeren Volleyballspiel zu motivieren. Ich dachte wohl sowas wie: »Scheiß auf Volleyball, du alte Kuh. Ich hab gerade andere Probleme, als diesem dämlichen Ball hinterherzurennen  …« und sah wahrscheinlich auch so aus, was sie wiederum anspornte, mich weiter anzufeuern. Mir wurde alles zu viel und ich verließ fluchtartig die Sporthalle, um mich in der letzten Ecke der Umkleidekabine zu vergraben. Sie ging mir etwas verdutzt nach, fragte, was los sei. Schweigen meinerseits. Das kann doch nicht wahr sein? Wie kann sie mich fragen, WAS los ist, wenn es doch grade nur ein riesengroßes WAS in meinem Leben gibt? Vergessen. Hat sie ES tatsächlich schon vergessen? Die Antwort darauf kam prompt, als sie sagte: »Ist es immer noch wegen der Sache mit deiner Schwester?« – Das hat gesessen. Klar fand ich es

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 28–33, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Bildnachweis: ALIMDI.NET/Thomas Knauer

Alle Bilder und Gedanken, die sich in meiner Erinnerung auftun, sind wie in Watte gepackt und dumpf.

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Romina Mangler

ganz angenehm, dass in meiner Schulwelt alles ein bisschen beim Alten geblieben war, aber auf eine naive Art und Weise dachte ich, dass der Tod meiner Schwester trotzdem bei allen so präsent ist wie bei mir. Und natürlich war ich froh, dass das Thema nicht vor der ganzen Klasse diskutiert wurde, aber für mich war es auch unausgesprochen doch immer da. Meine Noten hatten sich nicht verändert, ich war nicht auffällig – für mich war das, glaube ich, so eine Art unausgesprochener Deal mit den Lehrern: Ich gliedere mich ein, mache euch keinen Ärger, ihr erwartet nicht mehr von mir als das, was ich von mir

aus tue, und ihr bewertet das, was ich leiste, immer in Anbetracht meiner Lage. Davon ging ich aus … Für die Lehrer wirkte meine Angepasstheit wohl eher wie »alles gut verkraftet – weiter im Programm wie bisher«. Irgendwie kann ich ihnen das im Nachhinein nicht verübeln. Damals fühlte ich mich aber sehr unverstanden und zutiefst enttäuscht. Unser Deal, mein Deal, wurde nicht eingehalten. Ich hatte das Bedürfnis, meinen Gefühlen Luft zu machen und mich und meine Situation wieder in die Lehrerköpfe zu bringen. Deshalb schrieb ich einen Brief an die Lehrer meiner Schule.

Gaggenau, 19. November 2003 Sehr geehrter Herr Purkl, sehr geehrte Lehrer des Goethe-Gymnasiums, Ich habe mir lange überlegt, ob ich diesen Brief schreiben soll oder nicht, aber ich habe gemerkt, dass mir das Thema doch sehr am Herzen liegt. Ich hoffe, ich stoße damit auf einige offene Ohren. Ich möchte hiermit niemanden angreifen, dieser Brief soll lediglich als Anregung zum Nachdenken und möglicherweise zum Handeln dienen. Seit dem Unfalltod meiner Schwester am 23. Mai diesen Jahres wird mir zunehmend bewusst, dass Tod und Trauer bedauerlicherweise immer noch Tabuthemen in unserer Gesellschaft sind. Oft muss ich feststellen, dass viele Menschen nicht in der Lage sind, mit Trauernden umzugehen; größtenteils wohl aus Unsicherheit und Unwissenheit. Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass es keineswegs leicht ist, auf einen Trauernden zuzugehen, und es generell schmerzhaft ist, sich mit dem Tod und seinen Folgen für jeden Betroffenen zu befassen. Jedem von uns wird dadurch bewusst, wie schnell sich doch alles ändern kann, wie schnell sein geordnetes Leben aus allen Fugen geraten kann, wie schnell alles zusammenbrechen kann. Zugegeben, trotz meiner eigenen Situation fällt es mir selbst noch schwer, auf andere Trauernde zuzugehen. Es gibt kein Standardrezept für das richtige Verhalten in solch einer Situation, wir sind selbst betroffen und schockiert, haben Angst, etwas falsch zu machen und den Trauernden zu verletzen. Deshalb schweigt man, ohne zu wissen, dass es somit für den Trauernden noch schwerer wird, seine Last zu tragen. Wenn keiner auf einen zugeht, sondern einfach so weitermacht wie bisher, fühlt man sich schnell unverstanden und mit seiner Trauer alleine. Man hat das Gefühl, jeder habe »es« schon wieder vergessen und man müsse wieder funktionieren wie bisher, was aber völlig unmöglich ist, weil einfach nichts mehr ist wie bisher. Gerade für Pädagogen halte ich es deshalb für wichtig, sich zu überwinden und auf betroffene Schüler zuzugehen. Dabei geht es nicht darum, den Schülern gutgemeinte Ratschläge zu erteilen, da es diese schlicht und ergreifend nicht gibt. Es geht auch nicht darum zu versuchen, dem Schüler Trauer abzunehmen oder Ähnliches; selbst wenn man dies gerne tun

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Meine Schulzeit »danach«

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würde. Sinn der Sache ist es, dem Schüler einfach zu signalisieren, dass Sie sehr betroffen sind von dessen Verlust, dass Sie für ihn da sind, wenn er mit Ihnen eventuell darüber sprechen möchte, dass Sie nicht von ihm fordern, so weiterzumachen wie bisher, dass Sie akzeptieren, dass die Verarbeitung der Trauer ein langer und schmerzvoller Prozess ist, der sich nicht zeitlich begrenzen lässt, und man auch nach Wochen oder Monaten noch nicht über einen solch schweren Verlust hinweg ist. Meiner Meinung nach reicht es sogar aus zuzugeben, dass man selbst keine Worte für alles findet. Auch Ihre eigene Hilflosigkeit zeigt dem betroffenen Schüler, dass Sie sich über dessen Situation Gedanken machen und ihn nicht einfach vergessen. Ich spreche hiermit nicht nur für mich, da ich traurigerweise nicht die Erste in solch einer Situation bin und ich wohl auch nicht die Letzte sein werde, die einen geliebten Menschen, sei es Bruder/Schwester, Vater/Mutter oder auch Freund/Freundin usw., verlieren wird. Da die Schule für uns alle ein Ort ist, an dem wir zumindest die Woche über den größten Teil unserer Zeit verbringen, halte ich es für umso wichtiger, auch über solche außerschulischen Dinge frühzeitig zu reden und das Thema nicht erst anzuschneiden, wenn sich die Schulnoten verschlechtern. Schüler, die einen geliebten Menschen verloren haben, sind, denke ich, in einer besonders schwierigen Situation. Sie müssen trotz aller Veränderung in ihrem Leben auf schulischer Ebene theoretisch so weitermachen wie bisher. Natürlich ist es wahrscheinlich für alle von Ihnen (zumindest hatte ich das Gefühl) kein Thema, wenn ein betroffener Schüler in den ersten Wochen unkonzentriert ist oder sich nicht wie bisher am Unterricht beteiligt. Leider lässt sich die Trauerzeit nicht auf einige Wochen reduzieren, weshalb ich es gerade deshalb für enorm wichtig halte, auf die entsprechenden Schüler zuzugehen, um wie schon gesagt zu signalisieren, dass Sie ihn und seine schwere Situation nicht vergessen haben. Ich selbst werde Mitte Dezember an einem Trauerseminar in Bad Segeberg (bei Hamburg) für so genannte »verwaiste Geschwister« teilnehmen, um mich dort mit anderen betroffenen Geschwistern auszutauschen und zu lernen mit meiner eigenen Trauer und den Reaktionen der Menschen um mich umzugehen. Falls Interesse an derartigen Seminaren für Lehrer besteht (was mich sehr freuen würde!), wäre ich bereit, bei der Hauptstelle der »Verwaisten Eltern« (Verein, der diese Seminare anbietet) in Hamburg um weitere Informationen zu bitten. Wie gesagt würde ich ein Interesse von Ihrer Seite sehr begrüßen, weil mir speziell dieses Thema sehr am Herzen liegt und ich glaube, dass auf dem Gebiet der Trauerarbeit noch viel getan werden muss. Viele Grüße, Romina Mangler (Klasse 13)

Wenige Lehrer sprachen mich danach auf den Brief oder meine Situation an, aber das war irgendwie o. k. Ich hatte gesagt, was mir auf der Seele lag. Heute kann ich sagen, dass mir meine Englischlehrerin eigentlich am besten geholfen hat, mir das Weltenwandern zwischen Schule und Zuhause zu erleichtern. Sie hatte mir gleich zu Anfang eine sehr persönliche E-Mail

geschrieben, in der sie sich sehr menschlich und sogar verletzlich zeigte – was ich sonst nicht von Lehrern gewohnt war. Seither hatte ich immer das Gefühl, dass uns etwas verbindet. Lehrer wirken oft so unnahbar – manchmal mehr Lehrer als Mensch. Und in einer Trauersituation wirkt das unangebracht. Man braucht keine Motivation, keine Lösungen, keine Ratschläge  …

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Romina Mangler

nur das Gefühl, dass man nicht alleine ist mit seinem Gefühlschaos und dass all diese Gefühle in Ordnung sind. Gedanken zum Thema »Angebote für trauernde Jugendliche« Nach dem Tod meiner Schwester war ich einige Zeit lang in einem Internetforum für verwaiste Geschwister unterwegs. Zuerst hat mich die Masse derer, denen es so geht wie mir, fast erschlagen. Man fühlt sich immer so allein mit seinen Problemen und plötzlich sind da hundert Leute, die genau die gleichen Gefühle haben wie man selbst. Mit der Zeit bemerkte ich, wie ich

mich weiterentwickelte in meiner Trauer. Neue Leute kamen ins Forum, mit Fragen und Gefühlen, die man noch kannte, aber stellenweise nicht mehr hatte. Man sieht sich dann im Forum »wachsen«. Die Leute dort wachsen allerdings (oder natürlich) in einer anderen Geschwindigkeit als man selbst. Bei einigen hatte ich das Gefühl, dass sie regelrecht auf der Stelle traten, weil sie immer damit beschäftigt waren, an Todestage und Geburtstage zu erinnern und sich so sehr mit den »Neuen« wieder nach unten ziehen ließen. Das hat mir bewusst gemacht, dass man eigentlich auch außerhalb des Forums wächst. Manchmal auch vielleicht deshalb, weil man »draußen« auf Unverständnis

Bildnachweis: Max Ferguson, Skateboard I/Bridgeman Art Library

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Ich bin traurig, weil ich fröhlich bin. Ich fühle mich schlecht, weil ich lieber in der bunten Welt bin als zu Hause.

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Meine Schulzeit »danach«

und mangelndes Einfühlungsvermögen stößt und lernt damit umzugehen. Nach einigen Monaten war ich kaum noch im Forum. Trotzdem empfand ich die Zeit dort sehr hilfreich, weil es einem Schutz und Verständnis bietet, wenn man noch sehr verletzlich ist. Durch dieses Internetforum wurde ich auch auf die Trauerseminare in Bad Segeberg aufmerksam. Meine Mutter und ich beschlossen, gemeinsam nach Hamburg zu fahren und an so einem Seminar teilzunehmen. Im Nachhinein war das, glaube ich, das Beste, was ich tun konnte. Ich kann es nicht so recht beschreiben, aber in den Tagen dort bin ich so über mich hinausgewachsen, habe vor einer Gruppe gespro-

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chen, konnte meine Gefühle ausdrücken  … Es war alles viel einfacher, weil ja alle traurig waren und man sich nicht erklären musste. Wir haben in der Gruppe gelacht und das übliche schlechte Gewissen, weil man fröhlich ist, wenn man doch eigentlich gerade traurig sein sollte, war einfach nicht da. Es war ein bisschen so, als wäre ein störendes Geräusch plötzlich weg, das einen schon die ganze Zeit daran gehindert hat, an etwas konzentriert zu arbeiten. Romina Mangler lebt und arbeitet als freiberufliche Informationsdesignerin in Stuttgart. Im Frühjahr 2003 verunglückte ihre jüngere Schwester Renita mit 15 Jahren bei einem Zugunfall. E-Mail: [email protected]

Text von Romina Mangler für ihre Schwester, Renita Mangler geboren 11. 04. 1988, gestorben 23. 05. 2003 Entstanden während eines Trauerseminars in Bad Segeberg (Dezember 2003) Ich sitze hier, schaue aus dem Fenster und versuche meine wirren Gedanken, die unentwegt durch meinen Kopf rasen, zu ordnen. Wenn ich aus dem Fenster schaue, erblicke ich eigentlich nichts Außergewöhnliches. Bäume, Gras, den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Durch die Jalousie hat das ganze Bild, das ich hier vom Fenster aus sehe, graue Streifen. So als wäre es in regelmäßigen Abständen immer wieder unterbrochen. Mit kommt der Gedanke, dass ich dieser unterbrochenen Landschaft irgendwie sehr ähnlich bin. Normal eigentlich, nichts Besonderes, aber an einigen Stellen fehlen Stücke. Ich sah nicht immer so aus. Dieses zerstückelte Wesen hat die Trauer aus mir gemacht. Die fehlenden Stücke, das bist Du! Dieses Bild meiner selbst ist neu für mich und es macht mich sehr unsicher. Aber es ist die Realität, an die ich mich wohl gewöhnen muss. MIR FEHLT ETWAS, DU FEHLST MIR. Und doch kann ich die Landschaft draußen erkennen. Ich weiß, es sind Bäume, auch wenn Stücke fehlen. Ich weiß, es ist Gras und es ist der Himmel, den ich sehe. Ich denke, ich beginne zu verstehen, dass ich trotzdem, trotz der fehlenden Stücke, ich selbst bin. Einmalig jetzt. Geprägt. Gezeichnet. Ich weiß, dass mir etwas fehlt, dass ich etwas verloren habe. Aber ich kann mich erkennen.

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Bildnachweis: Your_Photo_Today

Mir hat der Erfahrungsaustausch im Internet mit anderen betroffenen Eltern sehr geholfen. Dieser virtuelle Kontakt kann aber meiner Meinung nach ein persönliches Gespräch »von Mensch zu Mensch« nicht ersetzen.

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Trauerseiten im Internet – Möglichkeiten und Gefahren Eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter

Sabina und Rebecca Stry

Rebecca: Als Daniel starb, war ich überrascht, dass ausgerechnet du Hilfe und Unterstützung im Internet gefunden hast. Schließlich warst du damals im Umgang mit den neuen Medien nicht besonders versiert. Sabina: Nach Daniels Tod fühlte ich mich allein. Viele Freunde waren mit seinem Tod und unserer Trauer überfordert und zogen sich von uns zurück. Ich kannte niemanden, der ebenfalls sein Kind verloren hatte. Im Internet stieß ich auf die Homepage des Vereins Leben ohne Dich. Ganz langsam entdeckte ich diese Homepage für mich. Anfangs las ich nur die Gedichte, die von anderen betroffenen Eltern dort eingestellt wurden. Dann schaute ich mir die Fotos der verstorbenen Kinder an und las ihre Geschichte. Irgendwann verfolgte ich die Postings im offenen Forum und im Gästebuch und schließlich meldete ich mich im geschützten Forum an, das nur für betroffene Eltern zugänglich ist. In vielen Postings erkannte ich mich wieder und es tat mir gut zu lesen, dass es »irgendwo da draußen« Menschen gab, die ebenfalls trauerten, ähnlich fühlten, ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich fühlte mich ihnen verbunden. Deshalb habe ich dir auch vorgeschlagen, dich im Geschwisterforum anzumelden. Rebecca: Das habe ich getan. Ich habe viel in dem Forum gelesen und habe darin vergeblich nach Trost gesucht. Ich war eher erschrocken darüber, wie viele Familien von dem Tod eines Kindes betroffen sind, wie vielen Geschwisterkindern es schlecht geht und welche Probleme noch auf mich zukommen könnten.

Sabina: Ich kenne dieses »Erschrecken« auch, aber, auch wenn es hart klingt: Mich hat es beruhigt, dass ich nicht die Einzige bin, die ein Kind verloren hat. Im Eltern-Forum habe ich mich – im Gegensatz zu dir – allerdings eher an den Müttern und Vätern orientiert, die auf dem Trauerweg schon weiter waren als ich. Sie haben mir gezeigt, dass auch nach dem Tod eines Kindes ein glückliches Leben möglich ist. Rebecca: Mir fällt nach wie vor der Gedanke schwer, meine Trauer im Internet zu verbalisieren. Meine Trauer ist etwas Intimes, etwas ganz Privates. Ich will nicht, dass gerade das für Fremde zugänglich ist. Das Internet ist so anonym, dass ich nicht einmal weiß, ob die Leute, die meinen Beitrag lesen, überhaupt selbst betroffen sind oder sich vielleicht nur dafür ausgeben. Sabina: Diese Gefahr birgt das Internet. Man muss damit rechnen, dass es leider auch immer wieder Menschen gibt, die sich auf solche Seiten einschmuggeln und vorgeben, Eltern eines verstorbenen Kindes zu sein, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Das erschüttert natürlich das Vertrauen in solche Internetangebote. Rebecca: Ich war überrascht, wie engagiert in den Foren geschrieben wird. Nicht selten wird die Trauer der anderen gewertet und die Beiträge im Einzelnen werden verrissen. Ich war geschockt darüber, dass die individuelle Trauer eines Einzelnen zu einem Streit unter vielen Unbeteiligten führen konnte. Sabina: Einige lassen sich dazu hinreißen, unsachliche Kommentare und »Ratschläge« abzu-

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 34–37, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Sabina und Rebecca Stry

Bildnachweis: Zoonar.com/MING Teck Kang

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Mir fällt nach wie vor der Gedanke schwer, meine Trauer im Internet zu verbalisieren. Meine Trauer ist etwas Intimes, etwas ganz Privates. Ich will nicht, dass gerade das für Fremde zugänglich ist. geben. Die Anonymität des Internets senkt die Hemmschwelle. Für viele Menschen, inzwischen auch für mich, gehört das Internet ganz selbstverständlich zum Leben dazu. Wir nutzen die sozialen Netzwerke, Foren, Portale, Blogs, Homepages. Dadurch entwickelt sich auch eine neue Trauerkultur. Und es entstehen neue Orte der Trauer: Es gibt virtuelle Friedhöfe, für den Verstorbenen können virtuelle Kerzen angezündet werden. Diese Orte sind jederzeit erreichbar. Rebecca: Immer wieder bin ich im Internet auf Gedenkseiten gestoßen, die Eltern für ihre verstorbenen Kinder eingerichtet haben. Diese Seiten sind sehr liebevoll gestaltet. Das Leben der Kinder wird dort mit Bildern, Texten und Musik dokumentiert. Einige von ihnen waren etwa

in meinem Alter, als sie gestorben sind. Ich habe mich immer gefragt: Hätten diese Jugendlichen es gewollt, dass Fotos von ihnen für jeden Menschen mit Internetzugang sichtbar sind? Sabina: Nach dem Tod des Kindes kehrt irgendwann der Alltag wieder ein. Irgendwann spricht außerhalb der Familie kaum noch jemand über das Kind. Für uns Eltern ist das, als wäre es ein zweites Mal gestorben. Irgendwann kommt der Moment, an dem das Kind länger tot ist, als es gelebt hat – ein unerträglicher Gedanke. Durch ein bildliches Gedenken oder eine eigene Homepage setzen die trauernden Eltern ihrem Kind ein Denkmal. In diese Seiten arbeiten sie ihre Liebe ein, geben ihrer Trauer Ausdruck und setzen ein Zeichen: »Schaut her. Das ist mein Kind. Es hat gelebt und ich liebe es.« So entsteht eine

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Tr a u e r s e i t e n i m I n t e r n e t – M ö g l i c h k e i t e n u n d G e f a h r e n

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virtuelle Unsterblichkeit. Ob die Kinder bzw. Jugendlichen diese Öffentlichkeit für sich gewollt hätten, werden wir nie erfahren. Für mich wäre das Einrichten einer Homepage für Daniel undenkbar. Ich habe für mich andere Möglichkeiten gefunden, um sein Andenken zu bewahren – fernab vom Internet. Das muss aber jeder für sich selbst entscheiden. Rebecca: In dem einzigen Beitrag, den ich im Forum schrieb, habe ich geschildert, was unserer Familie geschehen ist. Ich war aufgeregt und gespannt, wie die anderen darauf reagieren würden. Ich habe viel Anteilnahme und nette Worte erhalten. Und trotzdem hat es mich gestört, dass doch keiner der »User« weiß, was für ein großartiger Mensch mein Bruder, mein Daniel, tatsächlich war. Sabina: Mir hat der Erfahrungsaustausch im Internet mit anderen betroffenen Eltern sehr geholfen. Dieser virtuelle Kontakt kann aber meiner Meinung nach ein persönliches Gespräch »von Mensch zu Mensch« nicht ersetzen. Für mich war das Lesen auf der Leben ohne DichHomepage daher nur der Einstieg. Dort werden Kennenlerntreffen, Selbsthilfegruppen, Trauerseminare und Ferienreisen für Trauernde angeboten. So haben Eltern die Möglichkeit – wenn

sie wollen –, den nächsten Schritt zu gehen. Aus der Anonymität herauszutreten in den persönlichen Kontakt. Rebecca: In den Foren gibt es viele »alte TrauerHasen«, die schon seit vielen Jahren fast täglich einen Beitrag schreiben. Auch sie berichten nach so vielen Jahren noch davon, wie sehr sie trauern. Das hat mir Angst gemacht. Muss ich jetzt auch so lang trauern? Dauert es wirklich Jahre? Dies erschien mir damals wie eine Ewigkeit. Heute weiß ich es besser. Die Trauer wandelt sich und bleibt dennoch über all die Jahre ein treuer Begleiter. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass es auf Trauerseiten im Internet Menschen gibt, die ihre Trauer zu ihrem einzigen Lebensinhalt gemacht haben. Sabina: Ich lese inzwischen nur sehr selten auf der Homepage, was ich als normale, »gesunde« Entwicklung sehe. Dafür begleite ich seit fünf Jahren die Berliner Selbsthilfegruppe des Vereins. Die Begegnung mit realen Menschen, mit trauernden Eltern aus »Fleisch und Blut«, ist für mich intensiv und erfüllend und durch einen virtuellen Austausch nicht zu ersetzen. Allerdings gibt es unsere Selbsthilfegruppe nur, weil ich damals den für mich richtigen und wichtigen »Klick« auf die Leben ohne Dich-Homepage gewagt habe.

Sabina Stry ist Trauerbegleiterin und arbeitet bei »TrauerZeit – Zentrum für trauernde Kinder und Familien Berlin Brandenburg e.V.«. Sie ist zweite Vorsitzende des Vereins »Leben ohne Dich e.V.« und leitet gemeinsam mit ihrem Ehemann die Berliner Selbsthilfegruppe des Vereins. E-Mail: [email protected]

Rebecca Stry ist Diplom-Sozialpädagogin und Trauerbegleiterin. Sie arbeitet im Theodorus-Hospiz in Berlin. Ihr abschließendes Studienpraktikum hat sie im St Christopher’s Hospiz in London absolviert. E-Mail: [email protected]

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Online-Hilfe in der Not Erfahrungen eines Peer-Beraters bei Youth-Life-Line

Philipp Stenger

Eine letzte Mail »Ich werde mich heute Abend mit Schlaftabletten umbringen.« Dieser knappe und nüchtern formulierte Satz aus einer sehr kurz gehaltenden Mail ließ mich an diesem Tag nicht mehr los.

Geschrieben wurde er von Laura, einem 15-jährigen Mädchen, das noch zur Schule geht, sich gern mit Freunden trifft und einem besonderen Jungen hinterher schwärmt. Der Suizidversuch, der glücklicherweise nur ein Versuch geblieben ist, kam plötzlich. Nach

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 38–39, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Bildnachweis: Philip Stenger/Youth Life Line

Warum sollte man so etwas machen? Die Antworten hierauf sind wohl so verschieden wie unsere PeerBerater. Meine persönliche Motivation ist aber nach wie vor unverändert geblieben: Ich möchte etwas Sinnvolles machen und einfach helfen.

Online -Hilfe in der Not

einem kurzen Mailverlauf schrieb Laura mir eines Tages einfach eine Art Abschiedsbrief und versuchte sich noch am selben Tag zu töten. Sie wurde darauf in einem Park gefunden, versorgt und bald in die Psychiatrie gebracht, von der aus sie sich wieder bei mir gemeldet hat.

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beruhigt mich auch der Gedanke, dass ich jeder Zeit mit meinen Beraterkollegen oder mit den Teamleiterinnen über Probleme und schwere Fälle sprechen kann. Natürlich gehen mir dabei immer noch viele Sachen zu Herzen, aber durch diese ganzen Maßnahmen kann ich besser damit umgehen.

Hilfe und Stütze Ausbildung und Motivation Diese und ähnliche Fälle sind bei Youth-LifeLine (YLL), einer Mailberatung für Jugendliche, Alltag. Hier beraten Peer-Berater (also Jugendliche von 15 bis 25 Jahren), unter der Leitung von zwei Teamleiterinnen, Jugendliche, die von den verschiedensten Problemen geplagt werden. Die Bandbreite ist hierbei ziemlich groß und reicht von Depressionen über das »Ritzen« bis hin zur Suizidalität. Das Ganze geschieht per Mail, also anonym, was für viele die Hemmschwelle verkleinert, aber für uns auch ein direktes Eingreifen unmöglich macht. Trotzdem ist unsere Arbeit für viele Jugendliche eine große Hilfe. Wir können zuhören, unterstützen, Mut machen und gemeinsam mit unseren Klienten große Problemberge abtragen und dafür Hoffnung wieder aufbauen. Die Grenzen, denen wir dabei zwangsläufig begegnen, sind für mich eine große Hilfe. So muss z. B. ein Peer-Berater in das YLL-Büro kommen, um eine Mail abschicken zu können, was mir dabei hilft, meinen Kopf auf dem Weg nach draußen wieder frei zu machen. Außerdem

Vor über einem Jahr wurde ich zum Peer-Berater ausgebildet. Hier wurde uns beigebracht, wie wir auf Suizid, »Ritzen« und Depression reagieren können, was unsere Möglichkeiten bei einer Mailberatung sind und eben auch, wo unsere Grenzen liegen. Dabei war ich mit meinen (damals) 19 Jahren sogar noch einer der Ältesten. Bei uns arbeiten viele Jugendliche, die neben dem privaten Schulund Unistress noch ihre Zeit hergeben, um sich mit diesen schweren Themen zu beschäftigen. Warum sollte man so etwas machen? Die Antworten hierauf sind wohl so verschieden wie unserer Peer-Berater. Meine persönliche Motivation ist aber nach wie vor unverändert geblieben: Ich möchte etwas Sinnvolles machen und einfach helfen. Gerade weil ich im Unialltag häufig Konkurrenzdenken und Leistungsdruck begegne, ist es schön, wenn man sich durch menschliches Handeln wieder mehr als Mensch fühlen kann. Und was kann denn menschlicher sein als zu helfen?

Philipp Stenger wurde 1990 geboren und studiert seit 2010 Allgemeine Rhetorik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er startete seine Ausbildung zum ehrenamtlichen Krisenbegleiter bei Youth-Life-Line im November 2010 und schloss diese im Februar 2011 ab. Seitdem ist er Peer-Berater bei Youth-Life-Line und konnte bereits einige Erfahrungen sammeln.

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 38–39, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

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Trauerbegleitung im Netz Die Onlineberatungsstelle www.youngwings.de

Lana Reb »hallo. ich bin emily. wisst ihr das ist jetzt wirklich sehr schwer. Mein Papa ist tot, ich liebe ihn. Ich vermisse ihn so sehr. Er war der einzige, dem ich vertrauen konnte. Ich will bei ihm sein. Diese Leere, diese Lücke, die er hinterlassen hat, ist einfach zu groß. Ich hab keine Kraft mehr, mein kopf tut so weh … ich will dass alles nicht mehr, was soll ich nur machen? und die probleme in der schule machen mich auch total fertig!« Emily ist 15 Jahre alt, als ihr Vater an einem Herzinfarkt verstirbt und sie mit ihrer Mutter und der zwei Jahre jüngeren Schwester zurückbleibt. Die erste Zeit habe sie, wie sie schreibt, einfach so weitergemacht, als sei nichts passiert, habe nicht darüber gesprochen und vor ihren Freundinnen so getan, als würde sie gut mit dem Tod ihres Vaters zurechtkommen. Doch dann habe sie gemerkt, dass es ihr immer schlechter ging, und sie habe beschlossen, dass sie Hilfe brauche. Eine Therapeutin aufzusuchen, sei für sie ausgeschlossen gewesen, und so habe sie »einfach gegoogelt«. Täglich gehen auf YoungWings eine Vielzahl von Anfragen von Jugendlichen wie Emily ein. Sie haben ihre Mutter oder ihren Vater, die beste Freundin oder einen anderen geliebten Menschen durch Tod verloren und fühlen sich mit ihrem Schmerz allein und unverstanden. Die Gründe, warum sich die Jugendlichen im Internet Hilfe suchen, sind offensichtlich: Es ist das Medium, das ihnen vertraut ist und das für sie

Die Gründe, warum sich die Jugendlichen im Internet Hilfe suchen, sind offensichtlich: Es ist das Medium, das ihnen vertraut ist und das für sie ganz selbstverständlich zum Alltag gehört.

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 40–43, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

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Bildnachweis: Heiner Melching/Salvador Dalí, Porträt von meinem toten Bruder

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Lana Reb

Gemalt von Sebastian Richter, 6 Jahre, nach dem Tod seines Opas

ganz selbstverständlich zum Alltag gehört. Sie schätzen die Anonymität und die ständige Verfügbarkeit, vielen fällt zudem das Schreiben über ihre innersten Gefühle leichter, als darüber zu reden. »Das ist ja peinlich und man weiß nicht, was man da alles erzählen muss, wenn man zu so einer Psychologin geht«, schreibt Emily. »Hier muss ich nicht überlegen, was ich erzähle, niemand kann mich sehen und wenn ich heulen muss, dann ist es auch egal.« Es ist zudem zu vermuten, dass die Entscheidung für eine Beratung im Internet auch damit im Zusammenhang steht, dass die Jugendlichen die Art und Häufigkeit des Kontakts selbst bestimmen können und damit Kontrolle über ihr Handeln haben. Dies scheint nach der Erfahrung des Kontrollverlustes von besonderer Bedeutung zu sein. Die Online-Beratungsstelle www.youngwings.de der Nicolaidis Stiftung wurde im Jahr 2004 gegründet und richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 21 Jahren, die um eine Bezugsperson trauern. Betreut werden sie von einem Beraterteam, bestehend aus 18 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern mit pädagogischen, sozialpädagogischen und therapeutischen Berufsbildern sowie Studierenden der entsprechenden Fachrichtungen, die für ihre Tätigkeit als Online-Berater geschult und

laufend fortgebildet werden. Das Angebot von YoungWings versteht sich als »Hilfe zur Selbsthilfe«, das darauf ausgelegt ist, den Jugendlichen darin zu unterstützen, seinen eigenen Weg zu finden, mit dem Verlust umzugehen. Es unterscheidet sich von anderen Online-Angeboten, die meist auf eine Kurzzeitintervention abzielen, insofern, als dass YoungWings langfristig als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Dies wird von den Jugendlichen aufgrund ihrer Erfahrung, dass Unterstützung und Verständnis in ihrem Umfeld nach kurzer Zeit abbrechen, als sehr hilfreich empfunden. »Mein Vater ist gerade mal vier Monate tot und ich merke genau, dass die in der schule denken, ich sollt jetzt wider normal sein«, schreibt Emily einer anderen Jugendlichen im Forum, die daraufhin antwortet: »wenigstens weiß ich jetzt, das es bei dir genauso ist. Gut, dass hier alle verstehen, das ich immer noch dauernt heulen könnt.« YoungWings bietet ein öffentliches Forum, einen wöchentlichen Gruppenchat sowie eine geschützte Einzelberatung mit einem Berater an. Die Website ist mit derzeit nahezu 1400 registrierten Usern, mehreren Tausend Forenbeiträgen sowie durchschnittlich 70 parallel laufenden Einzelberatungen für viele betroffene Jugendliche zu einer wichtigen Anlaufstelle geworden,

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bei der sie rund um die Uhr Hilfe suchen können. Wendet sich ein Jugendlicher an YoungWings, so erhält er nach maximal 24 Stunden eine Antwort eines Beraters, auch am Wochenende und an Feiertagen. Das Anliegen, mit dem sich die Jugendlichen an YoungWings wenden, ist meist ähnlich: Sie sind auf der Suche nach anderen, mit denen sie sich austauschen können, und nach jemandem, der ihnen zuhört und Verständnis zeigt. So eröffnen die meisten ein neues Thema im öffentlichen Forum und fragen parallel eine Einzelberatung an. Hierbei werden sowohl Forenbeiträge als auch die Einzelberatung jeweils vom gleichen Berater begleitet, so dass der Jugendliche über den ganzen Beratungsprozess hinweg einen festen Ansprechpartner hat. Für eine Vielzahl der Ratsuchenden ist der Kontakt im Internet das erste Mal, dass sie überhaupt von ihrer Situation, von ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung erzählen: »das hab ich noch nie jemand erzählt. eigentlich weiß keiner, wie es mir wirklich geht, auch meine Mutter nicht. Ich mag sie nicht noch mehr belasten, sie hat doch eh schon so viel am hals seit Papa tot ist. zum glück habe ich meine beste Freundin, die lenkt mich ab, aber die weiß auch nicht, wie sie mit mir umgehen soll, redet ständig von Jungs, das interessiert mich grad gar nicht, ich tu aber trozdem so«, schreibt Emily an ihren Berater. Emily schreibt am Anfang fast jeden Tag, sie erzählt von ihrer Traurigkeit, davon, dass sie auf einmal Angst in der Dunkelheit hat, dass sie nicht schlafen kann und dass sie sich nicht in die Schule traut, weil sie sich nicht konzentrieren kann. Sie vertraut ihrem Berater ihre Schuldgefühle, ihre Sorge um ihre Mutter und ihre Angst, falsch zu trauern, an: »Immer wenn ich mal lache dann fühle ich mich schlecht, weil ich doch eigentlich traurig sein muss.« Emilys Berater versucht, gemeinsam mit ihr zu überlegen, was ihr in ihrer aktuellen Situation helfen könnte. Hierbei bleibt

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er stets bei seiner Rolle als Begleiter und aktiver Zuhörer. Immer wieder schreibt Emily, dass sie niemanden hat, dem sie sich anvertrauen kann. Dieses Gefühl teilt sie mit den meisten trauernden Jugendlichen, die sich an YoungWings wenden. Die sicherlich kritisch zu sehende Entwicklung, dass Jugendliche mehr virtuelle Kontakte pflegen, als sich auf reale Beziehungen einzulassen, ist bekannt. Insofern ist die Frage durchaus berechtigt, ob ein Beratungsangebot im Internet diesen Trend verstärkt. Bei näherer Betrachtung jedoch wird deutlich, dass viele Jugendliche ohne das Online-Angebot gänzlich ohne passende Hilfe blieben. Dies betrifft erfahrungsgemäß nicht nur solche Jugendliche, die aufgrund schwieriger familiärer und sozialer Umstände auf wenig protektive Faktoren zurückgreifen können. Es betrifft auch diejenigen, die in einem sicheren und stabilen Umfeld leben. Die Dauer der Beratungen ist sehr unterschiedlich und reicht von wenigen Beiträgen bis hin zu Begleitungen, die bis zu zwei Jahre laufen. Dabei bleibt die Internetplattform auch in Phasen, in denen es den Jugendlichen besser geht, eine wichtige Anlaufstelle: »hey, ich wollt euch mal schreiben, dass es mir grad ganz gut geht, ich war heut mit mama am grab und eigentlich war es ganz okay«, erzählt Emily im Forum. Und ihrem Berater schreibt sie: »ich wollt mal danke sagen fürs zuhören. Ihr wart die ersten, die mir nicht erklärt haben, dass ich hier nicht an der richtigen Stelle bin. Hilft mir echt hier zu schreiben.«

Lana Reb, Päd. M. A., ist seit 2002 bei der Nicolaidis Stiftung für den Kinderund Jugendbereich sowie für die Beratung hinterbliebener Elternteile verantwortlich. E-Mail: [email protected] Nicolaidis Stiftung GmbH Adi-Maislinger-Str. 6–8 81373 München Tel.: 089–74 363 207

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Alles ist anders Hilfe für trauernde junge Menschen im Internet

Ulrike Bilger und Leonie Klom

Im Jahr 2003 war die Zeit gekommen. Die etablierte Hospizgruppe Freiburg wurde in der Stadt als kompetente Anlaufstelle zu den Themen Sterben, Tod und Trauer wahrgenommen. Als damit verbunden die Nachfrage von Ärzten, Therapeuten und Lehrern nach Angeboten für trauernde Kinder und Jugendliche anstieg, entschloss sich die Hospizgruppe Freiburg, die Initiative Alles ist anders zu gründen. Zu Beginn stellte sich die Frage, wie man trauernde Jugendliche im Alter zwischen 13 und 17 Jahren am besten erreichen könnte. Durch die Erfahrungen in der Hospizgruppe war klar, dass Jugendlichen mit Arbeit in Gruppen und Beratungsgesprächen nicht geholfen sein würde. Da im Jahre 2003 das Internet bereits etabliert war, digitale soziale Netzwerke wie Facebook und Studi-VZ jedoch noch nicht, entwickelte sich die Idee, eine digitale Plattform für trauernde Jugendliche anzubieten. Dies geschah in Form einer Website, die aus den drei Säulen Information, Live-Chat und Forum bestand. Die Informationen zum Thema Trauer sollten vor allem die Bezugspersonen der Jugendlichen ansprechen, um diesen Hilfestellung und Sicherheit im direkten Umgang zu vermitteln. Der Live Chat spricht hingegen die Jugendlichen direkt an. Konzeptionell ist er ähnlich aufgebaut wie eine geleitete Selbsthilfegruppe. Er findet einmal wöchentlich für eine Stunde statt. Besonders daran ist, dass die Moderatoren selbst junge Trauernde sind, die jedoch nicht mehr akut trauern. Begleitet werden diese durch monatliche Teamsupervision und jährliche Intensivtage, in

denen die Moderatoren immer wieder die Möglichkeit bekommen, sich in Selbstreflexion zu üben und ihre eigene Trauer erneut anzusehen. Dies ist besonders wichtig, um den Chattern gerecht zu werden. Der Chat wird bewusst nicht von Therapeuten betreut, da das Konzept von Alles ist anders Trauer als eine natürliche Reaktion auf Verlust ansieht – nicht als eine krankhafte Störung. Im Forum bekommen die trauernden Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Gedanken in langen Texten zu formulieren. Hierbei entsteht oft ein reger Austausch der Trauernden untereinander. Das Forum ist im Gegensatz zum Chat immer erreichbar. Es wird ebenfalls vom Chatmaster-Team betreut, so dass das Team auch über die Inhalte des Forums informiert ist und dadurch oftmals auch Themen des Forums im Chat aufgreifen kann. Zur Anmeldung reicht eine E-Mail Durch die Moderation kommt es nur sehr selten zu Zwischenfällen in Form von Fakes oder Störern. Falls sie doch einmal auftreten, sind sie problemlos aus Forum und Chat zu löschen. Chat und Forum sind bewusst niederschwellige Angebote. Eine Anmeldung erfolgt per E-Mail. Es müssen nur ein Username und ein Passwort angegeben werden. Hier ein typisches Beispiel aus der jahrelangen Chat-Erfahrung: Die 14-jährige Marie hat vor zwei Monaten ihre Mutter durch Krebs verloren. Die Mutter war bereits mehrere Jahre lang schwer krank gewesen, zuerst mit einem Karzinom in der Brust, später dann mit

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Alles ist anders

Im Forum bekommen die trauernden Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Gedanken in langen Texten zu formulieren. Hierbei entsteht oft ein reger Austausch der Trauernden untereinander.

mer noch sehr traurig ist. Das verunsichert sie, weil der Tod der Mutter inzwischen ja eine Weile zurückliegt. Das Umfeld signalisiert ihr, dass die Zeit der Trauer nun vorbei zu sein hat. Marie spürt aber, dass es anders ist, und findet im Chat den Raum, wo die Trauer willkommen ist und sein darf. Damit ist das Ziel vom Internetangebot Alles ist anders erreicht.

Ulrike Bilger leitet die Hospizgruppe Freiburg e.V. und die Internetinitiative Alles ist anders. E-Mail: [email protected] Leonie Klom ist Moderatorin des Chats. Homepage: www.allesistanders.de

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Bildnachweis: ##### Paul/F1online Bildagentur RM

Metastasenbildung im Gehirn und in den Knochen. Als Marie sich anmeldet, wirkt sie sehr gefasst und will sich anfangs nur sehr oberflächlich und sachlich austauschen. Sie nimmt ein paar Mal am Chat teil, findet andere Jugendliche, die Gleiches erlebt haben, tauscht mit ihnen E-Mail-Adressen aus und sie verabreden sich online. Sie kommt jetzt nicht mehr wöchentlich in den Chat. Doch an besonderen Tagen, wie dem Todestag der Mutter, vor Weihnachten oder auch kurz vor ihrem Geburtstag, nimmt sie wieder am Chat teil und holt sich Rat. Vor allem die Chat-Master sind hilfreich für Marie, weil sie merkt, dass es Zeiten gibt, in denen sie im-

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Bildnachweis: Bildagentur online/Chromorange

4Elementar 6 ist für trauernde Mädchen und Jungen das feinfühlige Reagieren auf ihre Bedürfnisse, insbesondere auf das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität, um dann mit ihnen gemeinsam an einer Anpassung an die durch den Verlust veränderte Situation zu arbeiten.

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Kindertrauer online Können Internetangebote hilfreich in die Begleitung von Kindern und Familien integriert werden?

Annette Dobroschke-Bornemann

Aufgrund der durch Trauer beim Sterben eines nahen Menschen veränderten Lebensbedingungen ist das an sich gesunde System Familie herausgefordert. Beratung, Begleitung und Unterstützung von Kindern muss immer dieses sowie das gesamte private und professionelle Bezugssystem im Blick haben, es bewusst fördern und als starke Ressource einbeziehen. Das professionelle Bezugssystem besteht zumeist aus Mitarbeitenden des Pädagogikbereichs (Erzieher/-innen, Lehrer/-innen) sowie des Gesundheits- und Sozialwesens und der Seelsorge. Ein umfassendes Hilfe- und Stärkungsangebot (statt einzelner Aktivitäten) bedenkt bereits in der Akutsituation die Prävention einer erschwerten bzw. komplizierten Trauer. Einzelaspekte des Systems können sein: • Telefonberatung • Psychosoziale Einzel- und Familienberatung sowie ggf. Therapie • Altersspezifische Gruppen für trauernde Kinder, Jugendliche und Junge Erwachsene mit entsprechendem Methodeninventar • Trauerseminare für erwachsene Angehörige/Bezugspersonen • Angehörigen-Schulungen (»Wie kann ich mein Kind in seiner Trauer unterstützen?«) • Gemeinsame Unternehmungen für das System Familie • Familienmediation • Kreativ- und Bewegungsangebote für Einzelne und Familien • Sensibilisieren und Ermutigen des Umfeldes (Klassengemeinschaft etc.)

• Gedenkgottesdienste • Coaching, Supervision sowie Fort-, Weiter- und Ausbildung für professionell Begleitende • Erarbeiten von Qualitätsstandards • Evaluation, begleitendes Forschen • Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit • Internet: Information, Beratung, Rituale, Nutzen von Foren, Chatrooms Insbesondere im Bereich der Angehörigen-Schulung (nicht zu verwechseln mit Trauergruppen für die erwachsenen Angehörigen der Kinder) liegt ein großes Potenzial zur Entwicklung der Familie. Durch Schulung der anderen Professionen, die durch die speziellen Bedürfnisse von Mädchen und Jungen rund um die Bereiche Sterben, Tod und Trauer besonders gefordert sind (wie z. B. der Pädiater auf der Kinderintensivstation oder die Erzieherin in der Kita), werden diese entlastet als auch gestärkt. Das Motto ist »Ganzheitlich denken und planen – individuell begleiten« (TABEA e.V. 2006). Das Begleiten von Mädchen und Jungen Die Trauer von Kindern verläuft, anders als die der sie begleitenden erwachsenen Familienmitglieder, immer diskontinuierlich bezüglich Dauer und Intensität. Daher benötigen Kinder altersgerechte Erklärungen und Angebote. Wie Mädchen und Jungen trauern, statt lediglich auf die Situation und die sie Begleitenden zu reagieren, ist durch verschiedene Ent-

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Annette Dobroschke -Bornemann

wicklungsschritte beeinflusst. Konzepte hierzu sind u. a. das Entwickeln des individuellen Bindungsstils, des Todesverständnisses (welches Nonfunktionalität, Irreversibilität, Universalität und Kausalität umfasst), das Internalisieren konkreter und abstrakter Begrifflichkeiten oder die psychosoziale Entwicklung nach Erikson mit der Entfaltung der Ich-Identität (vgl. u. a. Lammer 2004; Specht-Tomann und Tropper 2011; Worden 2011). Elementar ist für trauernde Mädchen und Jungen das feinfühlige Reagieren auf ihre Bedürfnisse, insbesondere auf das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität, um dann mit ihnen gemeinsam an einer Anpassung an die durch den Verlust veränderte Situation zu arbeiten. Mädchen und Jungen benötigen Raum und Zeit, all ihre Fragen rund um den Verlust zu stellen und zu deren Realisierung zu wiederholen, damit sie nach und nach ein adäquates Verständnis entwickeln können. Sie brauchen Unterstützung, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu benennen, auszudrücken und mit diesen hilfreich umzugehen ebenso wie Erinnerungen an die verstorbene Person zu festigen, die sie sonst im Laufe ihres Lebens wieder verlieren würden. Sinnfragen sowie Hilfs- und Hoffnungsperspektiven müssen thematisiert und reflektiert sowie Haltungen erarbeitet und Ressourcen gestärkt werden. Hilfreiche Übungen und Rituale bzw. Arbeitsblätter finden sich u. a. bei Hövelmann (2009) und Tausch-Flammer (1994). Dies geschieht in geborgener Atmosphäre durch verschiedene altersspezifisch gewählte kreative Elemente, Rituale, das Reden »nebenbei«, also nebenbei in Übungen oder beim Spiel statt in Gesprächsgruppen wie bei Erwachsenen. Das gemeinsame Vollziehen von Handlungen stärkt das soziale Miteinander und wirkt dem Gefühl der Isolation entgegen. Den verbalen und nonverbalen kindlichen Äußerungen annehmend und verstehend zu begegnen ist die tiefste Form des Trostes. Das heißt, das Entscheidende innerhalb der Beglei-

tung geschieht in der Interaktion von Mensch zu Mensch. Begleitungsqualität Die professionelle praktisch-pädagogische Begleitung von trauernden Mädchen, Jungen, Jugendlichen und Erwachsenen geschieht in kontinuierlicher gegenseitiger Beeinflussung mit und durch Theorien und Ergebnisse der Trauerforschung unter Einbeziehung des die Trauernden umgebenden Systems. Die Intervention wird idealerweise mit Hilfe des zirkulären Problemlöseprozesses (Stimmer 2006) fortwährend reflektiert und neu gestaltet, da methodisches Handeln in sozialen Bezügen nicht unilinear verlaufen kann. Didaktisch orientiert sich die Qualifizierung der Begleiter/-innen an dem Leitziel der umfassenden beruflichen Handlungskompetenz, welche sich gliedert in Fachkompetenz, Personalkompetenz und Sozialkompetenz. Handlungskompetente Begleitende benötigen Beobachtungs- und Analysefähigkeit, Fähigkeit zur pädagogischen Beziehungsgestaltung sowie zur Planung, Durchführung und Evaluation pädagogischer Prozesse. Professionelles Handeln rund um trauernde Kinder und Familien konstruiert sich als Interaktions- und Kommunikationshandeln, an dem beide Personen (Begleitete und Begleitende) mit ihrer ganzen Persönlichkeit beteiligt sind und sich kontinuierlich weiterentwickeln. Möglichkeiten und Grenzen des Internets für trauernde Familien Trauernde Kinder und Familien nutzen das Internet als Informations- und Kommunikationsmedium. Speziell für Kinder gestaltete Internetangebote nehmen kindliche Sprache und Fragestellungen auf, empfehlen hilfreiches Umgehen mit der Trauer, stellen Kinder- und Jugendliteratur vor und informieren persönlich sowie professionell Begleitende über das Besondere der Trauer

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Bildnachweis: »Der Platz ist leer«, Elias Bornemann

Kindertrauer online

Mädchen und Jungen benötigen Raum und Zeit, all ihre Fragen rund um den Verlust zu stellen, damit sie nach und nach ein adäquates Verständnis entwickeln können. von Kindern und Jugendlichen. Häufig werden ergänzend kreative Ausdrucksmöglichkeiten angeboten. Dies sind z. B. das Steigenlassen von Luftballons oder das Entzünden von Gedenkkerzen jeweils direkt auf unserer KindertrauerHomepage (www.kindertrauer.de). Das Internet mit sehr reichem Angebot unterschiedlicher Schwerpunkte ist grundsätzlich rund um die Uhr, kostengünstig, auf Wunsch niederschwellig-anonym und ortsunabhängig erreichbar. Das entlastet in der Regel auch die Zeit- und Kraftreserven der ebenfalls trauernden Eltern(teile), die es nicht immer ermöglichen können, ihre Kinder zu einer Trauergruppe zu bringen.

Das Internet kommt sowohl dem diskontinuierlichen Trauererleben von Kindern und Jugendlichen entgegen als auch deren Bedürfnis, trotz aller Schwere »cool« zu sein. Durch das Treffen und Sprechen mit anderen trauernden Mädchen und Jungen in einem Chatroom kann ebenso ein Gemeinschaftsgefühl entstehen wie bei der möglichen innerfamiliären internetgestützten Ritualgestaltung wie z. B. dem virtuellen Luftballon-steigen-Lassen und dem parallelen Austausch. Als Quelle schnell verfügbarer Informationen ist es für Trauernde selbst sowie für die Professionen, die den Familien begegnen, eine gute

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Annette Dobroschke -Bornemann

erste Orientierung z. B. bezüglich der Fragen »Was brauchen trauernde Kinder?« und »Wo gibt es Unterstützungsmöglichkeiten?«. Dem Internetangebot sind natürliche Grenzen gesetzt Nicht leisten können Internetangebote, trotz Dauerverfügbarkeit, eine qualifizierte individuelle Begleitung, die den oben genannten Bedürfnissen von trauernden Mädchen und Jungen sowie der benannten Begleitungsqualität entspricht. Insbesondere kann die entscheidende Wirkung, die durch die Begleitungsbeziehung entsteht, virtuell genauso wenig erreicht werden wie das Entlasten anderer begleitender Professionen. Zudem muss beachtet werden, dass eine gemäß der technischen Internetstandards hoch bewertete Webseite mit professionellem Design nichts aussagt über deren inhaltliche Qualität. Zu prüfen ist, ob den Angeboten ein pädagogisch-didaktisches Konzept mit spezifischer Fachkompetenz zugrunde liegt. Vielen Internetangeboten fehlt zudem die Einbindung in ein Netz von qualifizierten Begleitern/Begleiterinnen und Unterstützungsangeboten, das unbedingt benötigt wird, um Kinder und Jugendliche nicht mit aufgrund der Internetnutzung zusätzlich aufgewühlten Gedanken und Gefühlen allein zu lassen. Ungünstig ist deshalb, wenn bei Webseiten keine Verantwortlichen für die Trauernden erreichbar sind. Zuweilen handelt es sich bei Webseiten lediglich um eine irgendwann als Einzelaktion erstellte Homepage, die gar nicht oder aber nicht durch qualifizierte Begleiter/-innen betreut wird. Fazit Kinder- und Jugendtrauerbegleitung gelingt im System – das Einbeziehen des persönlichen und professionellen Bezugsystems ist also unabdingbar. Dies ist im Rahmen eines alleinstehenden

Internetangebots kaum realisierbar. Gleichwohl kann das Internet ein speziell für trauernde Kinder und Jugendliche ergänzendes bzw. den niedrigschwelligen Einstieg ermöglichendes, attraktives und leicht zugängliches Modul innerhalb des gesamten Pools unterschiedlicher Unterstützungsmöglichkeiten sein. Es bedarf aber einer qualitativen Weiterentwicklung spezialisierter Internetangebote hinsichtlich deren pädagogischer Konzeption. Auch sollte eine qualifizierte Begleitung der sich über das Internet meldenden trauernden Mädchen und Jungen gewährleistet sein. Die Internetpräsenz sollte ebenso wie die Kinder-Trauergruppe jeweils nur die nach außen sichtbare Spitze eines durchdachten, speziell konzipierten und breit gefächerten Angebots sein.

Annette Dobroschke-Bornemann, Diplom-Pädagogin, Ev. Theologin, ist Leiterin des TABEA e.V. mit den Arbeitsbereichen Beratungsstelle für Trauernde, Ambulante Pädagogische Hilfen, (Kinder-)Hospizdienst und assoziierter Akademie. Sie ist Dozentin für Palliative Care (SGB V) & Trauerbegleitung (BVT), Notfall-Seelsorgerin, systemische Familientherapeutin (i. A.), Psychoonkologin, Entspannungstherapeutin und Mediatorin. E-Mail: [email protected] Homepage: www.TABEA-eV.de; www.Kindertrauer.de

Literaturhinweise Hövelmann, S.: Trauernde Kinder begleiten. Eine Aufgabe für Pädagogen und Angehörige. Essen 2009. Lammer, K.: Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung (3. Auflage). Neukirchen-Vlyn 2004. Specht-Tomann, M.; Tropper, D.: Wir nehmen jetzt Abschied. Kinder und Jugendliche begegnen Sterben und Tod. Ostfildern 2011. Stimmer, F.: Lexikon der Sozialpädagogik und Sozialarbeit (3. Auflage). München 2006. Tausch-Flammer, D.; Bickel, L.: Wenn Kinder nach dem Sterben fragen. Freiburg 1994. Witt-Loers, S.: Sterben, Tod und Trauer in der Schule. Eine Orientierungshilfe mit Kopiervorlagen. Göttingen 2009. Worden, W. J.: Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch (4., überarbeitete und erweiterte Auflage). Bern 2011.

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Anleitung zum Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen für Pädagogen Eine Übersicht

Daniela Schartmann-Unrath

Publikationen für Pädagogen Eine Dissertation an der Hochschule Weingarten thematisiert die »Trauerarbeit von Eltern und Geschwistern nach dem Tod eines Schulkindes – eine empirische Untersuchung« (Nitsche 2010). Es handelt sich um eine teilstandardisierte Umfrage, die deutschlandweit an betroffenen Eltern im Jahr 2009 durchgeführt wurde. Insgesamt wurde die Schule der verstorbenen Schüler von den Eltern in der Begleitung als wenig hilfreich erlebt. Ebenso fühlten sich Geschwisterkinder in ihrer Trauer von ihren Schulen vollkommen unzureichend begleitet (in 80 % keine Hilfestellung, in 40 % keine Kommunikation), obwohl Schulen über Handlungsmöglichkeiten verfügen, zeitnah und adäquat auf den Tod eines Mitschülers bzw. einer Mitschülerin zu reagieren. In der Zeit zwischen Todestag und Beerdigung nahmen Schulen Kontakt zu den Eltern auf (telefonisch und mit Beileidsbriefen) und beteiligten sich an der Trauerfeier. Zwei Drittel der Schulen haben den Tod des Mitschülers nach den Angaben der Eltern in ihrer Schule thematisiert, jedoch wurde die Unterstützung als unzureichend erlebt. In einer Umfrage der Universität Düsseldorf mit der Fragestellung, was Kinderärzte und Allgemeinmediziner voneinander lernen können, wurden 13- und 15-Jährige befragt. Unter dem Fragenkomplex »Wenn es eine/n Arzt/Ärztin speziell für Deine Altersgruppe gäbe, wie wichtig wäre Dir seine/ihre Kompetenz in […]?« wurden bei frei zu benennenden Themen von

15-Jährigen unter anderem auch »Umgang mit Trauer und Tod« benannt (Hemming 2007). In den zahlreichen Publikationen seit den 1990er Jahren zum Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen wird der Fokus jedoch auf den Umgang mit dem Thema in der Familie gesetzt und der Kontext Schule und Pädiatrie nur wenig beachtet. Viele Publikationen basieren auf Erfahrungsberichten und nicht auf systematischen empirischen wissenschaftlichen Untersuchungen. Veröffentlicht wurden praktische Vorschläge für Erzieherinnen (Witt-Loers 2009), Lieder und Geschichten (Ennulat 2002), Handlungsanweisungen zur Krisenintervention bei Suizid in der Schule (Evangelisch-Lutherische Kirche und Katholisches Schulkommissariat Bayern 2007; Krol 2009; Ministerium für Kultus, Jugend und Schule Baden-Württemberg 2006) und Unterrichtsmaterialien für Pädagogen (Ministerium für Kultus, Jugend und Schule BadenWürttemberg 2006). An der Universität Bern/ Schweiz wurde 2004 eine Studie am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie durchgeführt, die die psychologischen Faktoren untersucht, die im Zusammenhang mit dem Tod eines Elternteils im Jugendalter stehen (Schwartz 2004). Das Ergebnis der Befragung von 39 Jugendlichen, die einen Elternteil verloren hatten, zeigte, dass die Unterstützung durch nahestehende Personen, Persönlichkeitsvoraussetzungen und entwicklungsabhängige Bedürfnisse eine wichtige Rolle im Bearbeitungsprozess der Trauer spielen.

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Bildnachweis: Briton Riviere, His only friend/Bridgeman Art Library

Geschwisterkinder fühlten sich in ihrer Trauer von ihren Schulen vollkommen unzureichend begleitet.

Fortbildungs- und Informationsangebote

die vorhandenen Fortbildungs- und Informationsangebote in Nordrhein-Westfalen (NRW) zu recherchieren: • Internetrecherche mit den Suchbegriffen »Trauerbearbeitung Fortbildung Kinder Jugendliche« • Internetrecherche mit den Suchbegriffen »Pädiater Umgang Tod Trauer Kinder Jugendliche Fortbildungen« • Kontakt zum Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW und der Ko-Leitung des Kompetenzteams Aachen mit dem Schwerpunkt Fortbildungsfragen • Befragung von Referenten des Bundesverbandes Verwaiste Eltern e.V. • Befragung von Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen mit langjähriger Berufserfahrung nach bestehenden Fortbildungsmöglichkeiten und der Thematik im Curriculum ihrer Ausbildung

Als Vorarbeiten im Rahmen einer Dissertation wurden folgende Umfragen durchgeführt, um

Das Ministerium für Schule und Weiterbildung in Düsseldorf erklärte, durch die Kompetenz-

Literatur, die auf aktuellen Forschungsergebnissen fußt, bezieht sich auf pädagogischen Umgang an Förderschulen mit fortschreitender Erkrankung, Sterben und Tod (Jennessen 2008). Die Thematik der Trauer von Heranwachsenden wird außerdem in einer Hausarbeit, die Trauer im Rahmen von Unterricht an einer Schule für Körperbehinderung untersuchte, zurunde gelegt (Schulz 2003). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den vergangenen zwanzig Jahren aufgrund von Erfahrungen zum Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen Ratgeber verfasst wurden, die in den letzten zehn Jahren um den Aspekt der pädagogischen und pädiatrischen Praxis erweitert wurden. Diese Entwicklung lässt auf eine zunehmende Relevanz des Themas schließen.

A n l e i t u n g z u m U m g a n g m i t To d u n d Tr a u e r

und Standardorientierung gebe es im Bereich der Lehrerausbildung kaum inhaltliche Themenvorgaben, so dass spezialisierte Themen, wie der Umgang mit Tod und Trauer, in den staatlichen Vorgaben der Lehrerausbildung nicht zu finden seien. Im Bildungsportal des Ministeriums für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (2004) zeigt sich, dass die Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen die Thematik Tod und Trauer nur am Rande vorsieht und sich fachspezifisch auf die evangelische und die katholische Religion und das Fach Praktische Philosophie in der Sekundarstufe I und II beschränkt. In der Umfrage unter Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen wurde jedoch eine Reihe von Angeboten in NRW entdeckt, die im Folgenden beschrieben werden: Für das Fach Religion stehen einige Materialien für den Unterricht zur Verfügung (Baudler 1990; Berg 1995; Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung e.V.  – HAGE 2003; Küsters u. Mingenbach 2004, 2005). Bestattungen und deren Rituale werden als Themen angeboten, um beispielsweise über kulturelle Unterschiede, zeitgeschichtlichen Wandel und ethische Überlegungen zum Umgang mit Tod und Trauer Denkanstöße zu geben und Positionierungen zu ermöglichen. Texte von Popsängern über deren Vorstellungen über ihre Bestattung und Pressemitteilungen über den Umgang mit sterblichen Überresten von Diktatoren werden als Vorlage für Diskussionen verwendet. Aus Eigeninitiative von Lehrerinnen entstehen kreative Projekte, in denen Lektüre mit Malaktionen und Exkursionen zum Bestatter oder auf den Friedhof angeboten werden (Goecke 2008). Arbeitsauftrag ist bei einem Friedhofsbesuch einer gymnasialen Unterstufenklasse eine Dokumentation verschiedener Gräber. Bestattungsart, gefundene Symbole und Formulierungen auf Grabsteinen sollen benannt und beschrieben werden. Die schulpsychologische Beratungsstelle der Landeshauptstadt Düsseldorf bietet Pädagogen

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und Schülern Hilfe in Krisen an. Das Konzept für die Krisenintervention sieht Vorsorge, Fürsorge und Nachsorge vor. In diesem Rahmen werden Fortbildungen, Fachtagungen, Gruppen- und Einzelgespräche bedarfsorientiert angeboten. Unter anderem hat die Beratungsstelle eine Broschüre »Umgang mit Trauer bei Kindern und Jugendlichen« entwickelt (Hagenhoff u. Puschmann 2010). In dieser Beratungsstelle wird nach persönlicher Auskunft der Psychologinnen seitens der Lehrkräfte ein großer Informationsbedarf zum Thema Tod und Trauer beobachtet. Häufig würden Fragen zum Thema Suizid von Jugendlichen gestellt. Im Rahmen einer Fortbildungsreihe für Lehrkräfte zum Aufbau von Krisenteams in Schulen wird im Umgang mit Trauer in der Schule weitergebildet. Die Sozialpädagogin einer Beratungsstelle in NRW, die ein Projekt für trauernde Kinder und Jugendliche betreut, betonte den Bedarf an Fortbildung und Fallbesprechungen, der durch die geringen personellen Kapazitäten nicht zu decken sei. Regional tätige Mitarbeiter aus dem Jugendhilfebereich erfragten Literaturhinweise in Form von Fachliteratur sowie Kinder-, Bilderund Sachbücher. Beratungsgespräche würden meist von Pädagogen in Anspruch genommen, die »nah am Thema dran« seien und eine hohe Sensibilität und Fachwissen für den Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen mitbringen würden. Das Curriculum für das Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik sei generalistisch und nach der Ausbildung finde in den jeweiligen Arbeits- und Berufsfeldern eine Spezialisierung durch Eigeninitiative statt. Die evangelische Kirche im Oberbergischen Kreis bietet unter der Überschrift »Krisenintervention« Fortbildungen an. Dort wird von Notfallseelsorgern u. a. das Thema Tod und Trauer in der Schule angesprochen. Im Hauptseminar der Katholischen Religionslehre kann nach Absprache die Thematik Umgang mit Tod und anderen Krisen in der Schule behandelt werden. Grundlage ist dort das Handbuch »Wenn der

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Daniela Schartmann-Unrath

Notfall eintritt« (Evangelisch-Lutherische Kirche u. Katholisches Schulkommissariat 2007). Es werden grundlegende Informationen, z. B. entwicklungspsychologische Kenntnisse zum Verhalten von Kindern und Jugendlichen bei Tod im nahen Umfeld, und Denkanstöße geboten sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten, Rituale und Textmaterialien für die Trauerarbeit im Praxisfeld Schule vorgestellt. Außerdem haben 2009 verschiedene Träger aus dem Umfeld der Kirchen und der Hospizbewegung Projekte für Schulen konzipiert, die mit wachsender Anfrage beantwortet werden. In Nordrhein-Westfalen sind dies beispielsweise die Projekte Hospiz macht Schule (Janetzky 2009) und Kinder-Trauer-Koffer (Schmitz 2009). Darüber hinaus wiesen Lehrerinnen aus NRW auf Angebote in anderen Bundesländern hin, die an nordrhein-westfälischen Schulen zur unterstützenden Information genutzt würden. Das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg hat im März 2006 eine Handreichung für Lehrkräfte und Erzieher/ -innen mit dem Titel »Vom Umgang mit Trauer in der Schule« herausgegeben (Ministerium für Kultus, Jugend und Schule Baden-Württemberg 2006). Die formulierten Ziele sind die Sensibilisierung für den Umgang mit Trauer, das Wecken von Verständnis für die Betroffenen, der offene Umgang mit Trauer und der Rückgriff auf kollegiale und außerschulische Hilfe. In Bayern gibt es als Impulse für »Tage der Orientierung« bei Tod an der Schule von der Krisenseelsorge im Schulbereich (KiS) ein detailliert ausgearbeitetes Programm für Schulen Abschied nehmen – in die Zukunft schauen (Bürkel 2002). Angeregt durch spektakuläre Todesfälle im schulischen Kontext wurde der Blick für den »unspektakulären« Tod an der Schule geschärft. Um den Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer, meist aus dem Fach Religion, in diesem Zusammenhang zu professionalisieren, entstand die Idee, eine Krisenseelsorge aufzubauen. Bayrische Schulreferenten in Kooperation mit kirchli-

chen Mitarbeitern entwickelten eine Ausbildung zum KiS-Mitarbeiter. Diese Fachleute wiederum bieten regionale Lehrerfortbildungen an. Die Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln der Universität Witten/Herdecke mit dem Vodafone Stiftungsinstitut, dem Lehrstuhl für Kinderschmerztherapie und der Pädiatrischen Palliativmedizin bot erstmalig 2011 einen Palliativkurs für Lehrer, Erzieher, Musik-, Kunsttherapeuten, Klinikclowns und verwandte Berufsgruppen in der pädiatrischen Palliativversorgung an. Dies weist auf die große Nachfrage aus diesen Berufsgruppen hin. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Für pädagogische Mitarbeiterinnen aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen gibt es bei Bedarf und Interesse ausreichend Fortbildungs- und Informationsangebote in Nordrhein-Westfalen. Die Vielzahl der möglichen Angebote beruht jedoch nicht auf einem spezifischen Curriculum. Der Umgang mit Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen wird nicht grundsätzlich ausgespart, er wird jedoch auch nicht regelhaft in die Ausbildung einbezogen. Daniela Schartmann-Unrath, DiplomPsychologin. Seit 2006 in der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum der RWTH Aachen schwerpunktmäßig in der Patienten- und Angehörigenberatung und -begleitung und in der Lehre tätig. E-Mail: [email protected]

Literaturhinweise Baudler, G.: Sterben – Trauern – Leben. Zeitschrift für die Praxis des Religionsunterrichts, 2/1990. Berg, H. K.: Tod. Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht, 4/1995. Bürkel, B.: Abschied nehmen – in die Zukunft schauen. 2002. Zugriff unter http://www.notfallseelsorge.de/Besondere%20Einsaetze/kinder.htm Ennulat, G.: Kinder in ihrer Trauer begleiten. Ein Leitfaden für Erzieherinnen. Freiburg 2002. Evangelisch-Lutherische Kirche und Katholisches Schulkommissariat Bayern: Wenn der Notfall eintritt. Handbuch. 2007 Goecke, M.: Trauer. Unterrichtsprojekt in einer 5. Klasse eines Gymnasiums in NRW. Otto-Hahn-Gymnasium, Bensberg: 2008.

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A n l e i t u n g z u m U m g a n g m i t To d u n d Tr a u e r

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Hagenhoff, B.; Puschmann, E.: Umgang mit Trauer bei Kindern und Jugendlichen. Zugriff am 09. 03. 2010 unter http:// www.duesseldorf.de/schulpsychologie/lehrer/index.shtml Hemming, B.: Aufbau einer erfolgreichen interdisziplinären Jugendsprechstunde: Was können Pädiater und Allgemeinmediziner voneinander lernen? 2007. Zugriff unter http://www.forum-jugendmedizin.de/files/Hemming.pdf Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung e.V. (HAGE): Abschied. Mit Kindern über Leben und Sterben nachdenken. (Unterrichtshilfe für Kinder im Grundschulalter. Vol. 1). Kassel 2003. Janetzky, B. A.: Hospiz macht Schule – Projektwoche. 2009. Zugriff unter http://www.grabauf-grabab.de/2009/07/hospiz-macht-schule/ Jennessen, S.: Schule, Tod und Rituale. Systemische Perspektiven im sonderpädagogischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer (4. Auflage). Oldenburg 2008. Krol, D.: AMOK. Pädagogisch handeln nach schulischen Notfällen. 2009. Zugriff unter http://www.v-r-schule.de Küsters, M.; Mingenbach, H.-M.: In Würde sterben. Sterbehilfe und Sterbebegleitung in der Diskussion. (Unterrichtsmaterialien. Religion betrifft uns. Vol. 6). Aachen 2004.

Bildnachweis: Moise Kisling, A young girl seated with Marguerites/Bridgeman Art Library

Um den Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer, meist aus dem Fach Religion, zu professionalisieren, entstand die Idee, eine Krisenseelsorge aufzubauen.

Ministerium für Kultus, Jugend und Schule Baden-Württemberg: Vom Umgang mit Trauer in der Schule. 2006. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen: Fächerspezifische Vorgaben. Studium der Praktischen Philosophie für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen sowie den entsprechenden Jahrgangsstufen der Gesamtschulen. Unveröffentlichtes Manuskript 2004. Nitsche, N.: Trauerarbeit von Eltern und Geschwistern nach dem Tod eines Schulkindes. Eine empirische Untersuchung. Norderstedt 2010. Schmitz, J.: Trostpflaster. Kinder-Trauer-Koffer. 2009. Zugriff unter http://www.kirche-im-bistum-aachen.de/kiba/ dcms/traeger/100/infocenter/startportal/ Schulz, T. K.: Sterbebegleitung und Trauerarbeit im Rahmen von Unterricht an einer Schule für Körperbehinderung. Unveröffentlichte schriftliche Hausarbeit im Rahmen der 1. Staatsprüfung für Lehramt. Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften 2003. Schwartz, L.: Tod eines Elternteils und dessen Bewältigung durch Jugendliche. Bern 2004. Witt-Loers, S.: Sterben, Tod und Trauer in der Schule. Eine Orientierungshilfe. Göttingen 2009.

K i n d e r u n d J u g e n d l i c h e – e i n Tr a u e r s p i e l

Die Arbeit mit Kindern, die das Sterben 56 oder den Tod eines Erwachsenen miterleben, ist ein wesentlicher Teil unserer ganzheitlichen Herangehensweise an die Familien.

Kinder im St. Christopher’s Hospice in London Andrea Dechamps Wartezimmer in den Arztpraxen in England haben oft Spielecken für Kinder, ein paar Kinderbücher, bunte Bauklötzchen. Das Café in unserer Nachbarschaft hat eine Ecke mit Kinderstühlen und Wachsmalstiften. Ausgewiesene Plätze für Kinder. Hier bei St. Christopher’s, einem Hospiz für erwachsene Patienten und ihre Familien, scheint es auf den ersten Blick keinen solchen Platz für Kinder zu geben. Unser Tageszentrum (Anniversary Centre) sieht in erster Linie wie ein Raum für Erwachsene aus. Ist es das wirklich? Derzeit sind mehr Kinder als je auf den Stationen und im Tageszentrum zu sehen. Sie sitzen mit den Erwachsenen mit am Tisch, benutzen das Internet, spielen mit dem Goldfisch. Ab und zu erscheinen Spielsachen aus dem Schrank. Kinderbereich abtrennen oder nicht – das ist eine interessante Diskussion. Wir hier bei Christopher’s Hospice erleben jedenfalls, dass unser Ansatz funktioniert. Als wir das neue Tageszen-

trum entworfen haben, haben wir uns dafür entschieden, einen flexiblen Multifunktionsraum zu schaffen. Dies beruht auf unserem starken Ethos, dass wir das Erleben des Hospizes für die Familien normalisieren wollen. Auf gewisse Weise imitiert das Hospiz die gemeinsamen Räume in einem ganz normalen Familienheim, wo manchmal Spielsachen den Boden bedecken und zu anderen Zeiten die Kinder auf die Unterhaltung der Erwachsenen Rücksicht nehmen müssen. Interessanterweise kriegen die Kinder in St. Christopher’s das sofort mit, dies sind vertraute Regeln. Kinder fügen sich ein und wir erleben nie, dass sie uns stören. Im Gegenteil, wir genießen es, dass sie um uns herum sind. Vor kurzem fragte ein Neunjähriger, ob er unsere Geschäftsführerin sehen könnte, um ihr für die Pflege seiner Mutter zu danken. Natürlich spricht dies Bände über das betreffende Kind. Es ist auch ein Beispiel dafür, wie wir es

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Bildnachweis: Christiane Knoop

K i n d e r i m S t . C h r i s t o p h e r ’s H o s p i c e i n L o n d o n

mit unserem Ansatz geschafft haben, einen Kontext und einen Container zu schaffen, die es dem Kind ermöglichten, sich so auszudrücken. Die Arbeit mit Kindern, die das Sterben oder den Tod eines Erwachsenen miterleben, ist ein wesentlicher Teil unserer ganzheitlichen Herangehensweise an Familien. Unsere Betonung liegt auf der Zusammenarbeit mit Eltern in der Unterstützung ihrer Kinder, indem wir ihre natürliche Resilienz anzapfen. Eltern bleiben hierbei immer »Experten« für ihr besonderes Kind. Wenn allerdings die Eltern dazu aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage sind, und dies kommt nicht selten vor, sind es oft die Sozialarbeiter oder manchmal eine Krankenschwester, die dem Kind erzählen, dass »deine Mutter stirbt«. Dies sind schwierige Unterhaltungen, die wir nach Möglichkeit auf eine kind-, alters-, kontextangemessene und kultursensitive Art führen. Und eher auf einer Bank im Garten als im Sprechzimmer. St. Christopher’s Arbeit mit jungen Pflegenden ist an anderer Stelle in diesem Heft beschrieben (s. Artikel von Rebecca Stry). Das Kerzen-Projekt (Candle Project) ist unser Trauerangebot für Kinder. Neben Maßnahmen für einzelne Kinder und Familien liegt der Fo-

kus auf Öffentlichkeitsarbeit, Fortbildungen und Beiträgen zur politischen Diskussion im Bereich Trauerbegleitung bei Kindern. Wie bei unserer Arbeit mit Erwachsenen wird dies zunehmend außerhalb der vier Wände des Hospizes verlagert. Schließlich hat das Schulprojekt von St. Christopher’s bis jetzt Kinder aus dreißig örtlichen Schulen in gemeinsame Projekten mit Patienten gebracht – sehr erfolgreich unter anderem im Hinblick auf die Öffentlichkeitswirkung! Alle Kinder, entweder Angehörige oder aus der örtlichen Gemeinde, in Trauer oder mit einem geliebten Menschen, der stirbt, ob einfach zu Besuch oder mit einem Termin mit einem Mitarbeiter – alle sind sie ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit in St. Christopher’s Hospice. Andrea Dechamps ist Direktorin der Sozialarbeit, Trauerbegleitung und Wohlfahrt im St Christopher’s Hospice in London. E-Mail: A.Dechamps@stchristophers. org.uk

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Bildnachweis: Karl Lochen, Geschwister/Bridgeman Art Library

5 8 Zeit sind alle Betroffenen In dieser dünnhäutig und verletzlich. Was bisher getragen hat, muss sich verändern. Das braucht Zeit, viel Zeit.

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Geschwister – zwischen Liebe und Konkurrenz Wenn ein Bruder oder eine Schwester stirbt …

Wolfgang Holzschuh

Geschwisterlich Die Bücher und Filme über den Zauberlehrling Harry Potter waren ein Hype. Zu der Zeit sah ich im Fernsehen eine Unterhaltungssendung, in der Harry und seine Familie zu Gast waren: eine Familie namens Potter mit Harry, dem jüngsten von drei Buben. Der Moderator fragte: »Harry, was würdest du zaubern, könntest du es ebenso wie der Zauberlehrling?« Seine Antwort: »Ich würde meine Brüder in Frösche verwandeln.« Damit hatte der Moderator nicht gerechnet. Und Harrys Brüder schauten ziemlich betreten drein. So sind Geschwisterbeziehungen: »Klein-Harry« nutzte die Gelegenheit, seinen Brüdern eins auszuwischen. Geschwister weisen physische und genetische Ähnlichkeiten auf, teilen dasselbe Zuhause, unter Umständen Zimmer und Spielzeug, verleben eine gemeinsame Kindheit und gebrauchen dasselbe Familienidiom. Brüder und Schwestern sind im gleichen soziokulturellen und familiären Beziehungskontext verortet. Dennoch sind Geschwisterbeziehungen nicht bloß harmonisch; sie sind vielmehr gekennzeichnet durch Zuneigung und Rivalität, Liebe und Aggression. Gern wird in kirchlichen Kreisen Geschwisterlichkeit als idealtypische Verbundenheit herausgehoben. Das ist aber nur die eine Seite. Schon die Bibel zeigt uns noch eine andere: Sie erzählt vom ersten Mord in der Menschheitsgeschichte, und der geschieht am Bruder: Kain bringt Abel um – aus Neid (Genesis 4). In der Josephsgeschichte bekommt Jakob noch in hohem Alter einen Sohn. Der Vater liebt Joseph unter allen Söhnen am

meisten. Und genau dafür wird Joseph von seinen Brüdern gehasst. So verkaufen sie ihn an ein wanderndes Volk nach Ägypten. Dem Vater aber erzählen sie, er sei von einem wilden Tier getötet worden (Genesis 37). Geschwisterbeziehungen bergen die ganze Palette menschlicher Regungen. Durch die gemeinsamen Eltern sind sie aneinander gebunden: Der geschwisterliche Kampf um Gunst und Liebe der Eltern beginnt schon im Kleinkindalter und endet mitunter erst am Sterbebett der Eltern beim Verteilen des Erbes. Geschwister suchen einander nicht aus: Einerseits begleiten sie sich durchs Leben – keine andere Beziehung von gleichem »Fleisch und Blut« dauert über so lange Zeit an. Andererseits erfahren sie sich als Konkurrenten. Geschwisterbeziehungen sind ambivalent. Abschied Wenn ein Kind stirbt, ist das schmerzhaft für alle in der Familie: Eltern, Geschwister, Großeltern … In der geraden Linie wird die Erwartung enttäuscht, dass das Leben weitergeht. Statistisch gesehen können sich Familienmitglieder in den wenigsten Fällen auf den Tod eines Kindes vorbereiten. Meist tritt der Tod bei Kindern und Jugendlichen plötzlich ein – durch Unfall oder Suizid. Erkrankt ein Kind schwer und wird diagnostiziert, dass es in absehbarer Zeit sterben wird, dann ist es für alle Beteiligten möglich, den Abschied zu gestalten und antizipatorisch zu trauern. Anders der Tod, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt: Wenn z. B. der Sohn nach dem gemeinsamen Familienfrühstück mit

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dem Motorrad tödlich verunglückt. Die unfassbare Wirklichkeit zu realisieren, erfordert von der trauernden Familie eine unglaubliche Anpassungsleistung. Denn ihr letztes Bild ist das eines lebenden und gesunden Menschen. Umso wichtiger ist in der Situation, dem verstorbenen Kind noch einmal bewusst »von Angesicht zu Angesicht« zu begegnen: es tot sehen, berühren  … Den Tod mit den Sinnen »greifen«, um das Unbegreifliche mehr und mehr zu »be-greifen«. Findet kein Abschied vom Leichnam statt, versucht die Fantasie, die Lücke zu schließen. Dies kann Angehörige veranlassen zu glauben, dass das Kind gar nicht tot ist bzw. nicht im Grab liegt. Beim Abschied geht es zudem um Zugehörigkeit: Alle, die zur Familie gehören, haben ein Recht darauf – auch die Geschwisterkinder. Gern werden Kinder ausgeschlossen, um sie zu schonen. Dabei liegt das Problem erfahrungsge-

mäß nicht bei den Kindern, sondern bei den Erwachsenen. Kinder passen sich an, fügen sich ein und orientieren sich an den Trauerverhaltensweisen der Erwachsenen. So kann das Geschwisterkind beim Abschied z. B. noch etwas Gutes für den verstorbenen Bruder tun: etwas in den Sarg mitgeben (ein selbstgemaltes Bild, ein Stofftier, einen Brief, eine CD  …). Das Geschwisterkind kann aktiv mit einbezogen werden, z. B. beim gemeinsamen Versorgen des toten Geschwisters (waschen, anziehen, singen, vorlesen  …), beim Mitwirken an der Bestattung (Sarg gestalten …) und bei der Entscheidung darüber, was mit dem Zimmer/Nachlass gemacht wird. Ehrliche, alters- und erfahrungsgemäße Informationen und Mitgestaltungsmöglichkeiten unterstreichen die Wichtigkeit der lebenden Geschwister und stützen deren Selbstwertgefühl. Selbstverständlich ist dabei jeglicher Zwang fehl am Platz.

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Die trauernden Eltern sind derart mit dem verstorbenen Kind beschäftigt, dass kaum Aufmerksamkeit für die lebenden Kinder übrig bleibt.

Bildnachweis: Harold Copping, The Dunce/Bridgeman Art Library

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Trauer Trauerzeit ist Krisenzeit. Alle in der Kernfamilie sind davon betroffen und versuchen, das innerpsychische und soziale Gleichgewicht irgendwie wiederzufinden. Geschwister trauern unterschiedlich, je nach Alter/Reife und vorangegangenen Erfahrungen mit Abschieden. Männer trauern anders als Frauen. Die Unterschiedlichkeit wird zum Problem, wenn die andere Weise des Trauerns in Frage gestellt und nicht geachtet wird. Denn das Leiden jedes Einzelnen will anerkannt und gewürdigt werden. Geschwisterkinder werden oft übersehen und gelten als »doppelte Verlierer«: Einerseits verlieren sie Bruder oder Schwester, andererseits ihre Eltern, so wie diese ihnen vor dem Verlust zugewandt waren. Die trauernden Eltern sind derart mit dem verstorbenen Kind beschäftigt, dass

kaum Aufmerksamkeit für die lebenden Kinder übrig bleibt. »Mama, muss ich auch erst sterben, damit du mich so lieb hast wie meinen toten Bruder?« Die Rivalität um die Liebe der Eltern hört mit dem Tod nicht auf. Das macht diese Frage deutlich. Geschwisterkinder schonen ihre Eltern und halten ihre eigene Trauer zurück. Sie merken schnell, dass sie ihre Eltern nicht zusätzlich belasten dürfen. Verhaltensauffälligkeiten haben Signalcharakter: Sie wollen »gesehen« werden, nicht »übersehen«. Meist aber funktionieren die Geschwisterkinder: tun so, als ob nichts passiert wäre, stabilisieren sich in ihren Sozialkontakten, sind mal aggressiv, mal niedergeschlagen … Oft fühlen sie sich (mit-)schuldig am Tod von Bruder oder Schwester, da sie qua Beziehungsstruktur als Rivalen um die Gunst der Eltern werben. Ältere Geschwister, die sich für die jüngeren verantwortlich fühlten, und Geschwister, deren Bruder oder Schwester sich selbst getötet hat, fühlen sich schuldig. Manche glauben, es wäre in ihrer Macht gelegen, den Tod zu verhindern. Geschwisterkinder erleben ihre Eltern erschöpft und überfordert. Die Doppelbelastung von Berufsleben zum Erwerb des Lebensunterhalts und akuter Trauer wird am Arbeitsplatz meist kaum angemessen gewürdigt. So bleibt nur wenig Raum zum Trauern. Viele Paare sind den Belastungen nicht gewachsen: Mangelndes bis fehlendes Verständnis für die Art und Weise, wie der andere Partner den Verlust meistert, und sich daraus ergebende Vorwürfe können Ursachen für Trennung bzw. Scheidung sein. Eltern erinnern sich gegenseitig beständig an den Verlust: Ihr Kind als Frucht ihrer Liebe ist tot. Wenn sie den Schmerz nicht gemeinsam tragen können, sucht sich einer der Partner einen neuen: einen, der ihn an diesen Schmerz nicht erinnert. Geschwisterkinder erleben dadurch einen weiteren Verlust. Und auch dafür fühlen sie sich mitverantwortlich und haben Schuldgefühle. Trauer ist wie eine tiefe Wunde. Zuerst »tut es nur weh«. In dieser Zeit sind alle Betroffe-

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nen dünnhäutig und verletzlich. Was bisher getragen hat, muss sich verändern. Das braucht Zeit, viel Zeit. Und geschieht mit Widerstand, weil das schmerzhaft ist. Achtsam will die Wunde versorgt werden – durch Trauern. Das heißt, das, was sich auf dem Trauerweg zeigt, nach und nach herankommen lassen und zulassen. Dann kann es sich allmählich lösen. Erst dann kann sich langsam etwas Neues formen und die Wunde von innen heraus zu heilen beginnen. Handlungsimpulse Geschwister trauern in Abhängigkeit zum familiären Umfeld. Darum ist alles, was die Eltern stützt, zugleich förderlich für die Kinder. Wenn Eltern ihre Trauer zulassen und zumuten, sind sie ihren zurückbleibenden Kindern ein positives Modell. Dann kann sich die Trauer allmählich lösen und die Eltern können sich wieder mehr den Lebenden zuwenden. Eine vertrauensvolle Atmosphäre und offene Kommunikation in der Familie wirken entlastend auf alle Mitglieder: ansprechen, nicht ausweichen, Missverständnisse ausräumen, falsche Schonhaltung abbauen. Und nach und nach das Miteinander entdecken. Hilfreich sind Gespräche und Begegnungen von Geschwistern mit Angehörigen, Freunden, Lehrern … – mit Menschen, die die Geschwisternöte einfühlsam wahrnehmen, die Bewältigungsstrategien wertschätzen, die Fragen zulassen – ohne vorschnelle Antworten, die sich aufkommenden Gefühlen von Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut (Schreien, Schimpfen …) aussetzen und sie mit aushalten, die Schuldgefühle ernst nehmen und Geschwister darin entlasten. Ein Austausch mit Betroffenen schafft Gemeinschaft: Da wächst die Erfahrung, dass es andere Brüder und Schwestern gibt, die es ähnlich schwer haben. Das kann tröstlich sein. Bei jüngeren Kindern kann der Trauerausdruck gefördert werden: durch spielen, malen, singen und musizieren, (Bilder-)Bücher an-

schauen und vorlesen, sich bewegen, Rituale einhalten (Kerze anzünden, Gedenkecke einrichten und pflegen, Grab gemeinsam besuchen …). Immer wieder ein Gesprächsangebot über das verstorbene Geschwisterkind setzen, z. B. »Heute gibt es Kartoffelsalat: Erinnerst du dich? Das war das Lieblingsessen von Thomas …« Ein soziales Umfeld, das in alltagspraktischen Dingen zur Hand geht (einkaufen, bei Hausaufgaben helfen, Fahrten zum Musikunterricht oder Sportverein übernehmen …), ist eine zentrale Stütze, gerade am Anfang. Alltag normalisiert das Familienleben: Den Alltagsrhythmus beibehalten mit Entspannungszeiten, Hobbys … – das wirkt auf die Geschwisterkinder stabilisierend. Sozialkontakte beugen der Isolierung vor und bieten die dringend benötigte Sicherheit im Beziehungsumfeld. Die vertraute Umgebung, die beständig an das verstorbene Geschwister erinnert, bringt und hält die Trauer in Gang; Umzug – weg vom Ort der Erinnerung – bewirkt das Gegenteil. Trauer um ein Geschwister gelingt, wenn Trauer sein darf und dem Bruder oder der Schwester ein Platz »im Herzen« gegeben wird. Aber Geschwistertrauer bleibt ambivalent – »Klein-Harry« lässt grüßen!

Dr. Wolfgang Holzschuh, Pastoraltheologe, Trauerforscher, Diakon und Supervisor (DGSv), tätig in Aus- und Fortbildung, Pfarreiseelsorge und Supervision. E-Mail: [email protected] Homepage: www.trauergeschichten.de

Literaturhinweise Arbeitshilfe »Trauerbegleitung. Kinder und Trauer«. Regensburg 2003 (zu beziehen über: [email protected]). Holzschuh, W. (Hrsg.): Geschwister-Trauer. Erfahrungen und Hilfen aus verschiedenen Praxisfeldern. Regensburg 2000. Sohni, H.: Geschwisterdynamik. Gießen 2011. Filmtipp »Im Winter ein Jahr«. Constantin Film. Regie: Caroline Link. 2008.

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Bildnachweis: Okapia

Nach einem einschneidenden Erlebnis wie dem Tod eines nahen Menschen brauchen Kinder und Jugendliche Hilfe. Dabei ist entscheidend, sie möglichst früh zu unterstützen.

Zwischen Sandsack und Kummerbergen Betreuung von trauernden Kindern und Jugendlichen

Beate Alefeld-Gerges

Kinder und Jugendliche sind die Experten auf ihrem Trauerweg – Erwachsene nur Begleiter und Unterstützer. Eine unglaubliche Geschichte Wir schreiben das Jahr 1981. In dieser Zeit lebte ein 13-jähriger Junge in Amerika, seine Freunde nannten in Dougy. Er hatte einen inoperablen Tumor im Kopf. Er verstand nicht, warum die Menschen um ihn herum, seine Eltern, sei-

ne Freunde, die vielen verschiedenen Ärzte und anderen Menschen, die die ganze Zeit im Krankenhaus um ihn herum waren, nicht mit ihm über den Tod sprachen. Er schrieb seine Fragen auf. Was ist Leben? Was ist Tod? Warum müssen Kinder sterben? Diese Fragen schickte er an Elisabeth, die sich um sterbende Menschen kümmerte. Elisabeth lieh sich die Filzstifte von ihren Kindern aus und schrieb und malte ihre Antwort. Sie schrieb, »dass alles im Leben ein Kreislauf ist: Der Tag folgt auf die Nacht, der Frühling

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Beate Alefeld-Gerges

auf den Winter – verschwindet ein Boot hinter dem Horizont, so ist es nicht einfach ›weg‹ – aber wir sehen es nicht mehr, wie wir die Sonne nicht mehr sehen während der Nacht« (KüblerRoss 2003). Für Dougy fühlte es sich gut an, dass er sich mit jemandem darüber austauschen konnte. Darum war er auch froh, als eine Freundin von Elisabeth ihn im Krankenhaus besuchte. Beverly war Krankenschwester und in ihrem Alltag im Krankenhaus hatte sie schon viele Menschen beim Sterben begleitet. Für Beverly war es wichtig, den sterbenden Menschen nicht in einem verlassenen Zimmer sterben zu lassen, sondern deren Bedürfnisse auch im Sterbeprozess ernst zu nehmen. Beverly war sehr beeindruckt von Dougy, er ging so offen mit dem Sterben um, er konnte trotz seiner Situation anderen Kinder auf der Station Mut machen und sie merkte auch, dass die Kinder unter sich viel ehrlicher und offener waren. Als Dougy dann einige Monate später starb, entschloss sich Beverly, Kinder zu betreuen, bei denen jemand gestorben war. Sie wollte den Kindern Raum geben, ganz offen und auf ihre persönliche Art zu trauern. Sie fing in ihrem Wohnzimmer mit drei Kindern an, aber schnell wurden es immer mehr Kinder, die kommen wollten. Da der Funke dieser Arbeit auf viele Menschen übersprang, unterstützen viele Menschen Beverly und sie bekam ein Haus zur Verfügung gestellt, wo sie viele Kinder begleiten konnte. Weil es Dougys Weisheit war, die sie inspirierte, diese Arbeit anzufangen, nannte sie es das Dougy Center. Das Konzept geht um die Welt Eine unglaubliche Geschichte, aber eine wahre Geschichte. Heute begleitet das Dougy Center in Portland 400 Kinder und 250 Angehörige jeden Monat. Es gibt 27 Gruppen, differenziert nach Alter und

Todesart (Krankheit, plötzlicher Tod, Selbsttötung). Seit 1982 haben sich 500 Gruppen weltweit gegründet, die nach den Ideen des Dougy Centers arbeiten (vgl. www.dougy.org). Auch bei mir ist der Funke dieser Arbeit übergesprungen, als ich 1999 ein halbes Jahr im Dougy Center Praktikum gemacht habe. Das Konzept ist so einfach: die Kinder dort abholen, wo sie gerade in ihrem Trauerprozess stehen. Ihnen Raum geben für ihre ganz individuelle Trauer. Dasein, zuhören, wahrnehmen. Die Kinder sind die Experten für ihre Trauer, nicht wir. Bei jeder Ehrenamtschulung und bei vielen Einzelberatungen mit Eltern stelle ich fest, dass gerade dies den Erwachsenen schwerfällt. Wichtig ist, den Kindern zu vertrauen, dass sie die Kraft haben, ihren eigenen Weg zu gehen. Auch die Idee, dass Kinder mit Kindern viel besser kommunizieren können und dass sie sich viel weniger isoliert fühlen, wenn sie Kinder treffen, die Ähnliches erlebt haben, hat mich überzeugt. Ich erlebe jeden Tag in meinem Alltag, dass die Kinder dies im Trauerland besonders schätzen. Denn in der Schule und im Hort sind sie Sonderfälle, bei denen die Mitschüler sich oft hilflos fühlen und sich eher zurückziehen. Trauerland – Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche e.V. betreut zurzeit 180 Kinder und Jugendliche in einer bedeutenden Übergangsphase bei dem Tod eines nahestehenden Menschen. Die ganze Welt gerät aus dem Gleichgewicht und das System Familie oft ins Wanken. Wir von Trauerland möchten die Kinder auf ihrem Trauerweg begleiten und bestärken, dies in ihrem eigenen Rhythmus, unter ihren ganz individuellen Voraussetzungen zu tun. Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch die Möglichkeit in sich trägt, Lösungen für Probleme zu finden. Bei einem gut begleiteten Trauerprozess reifen die Kinder und Jugendlichen, was ihnen dabei helfen kann, die immer wieder anstehenden Übergänge, die zu jeder Biografie gehören, gut in ihr Leben zu integrieren und als Entwicklungschance zu nutzen.

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Bildnachweis: B. Alefeld-Gerges

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Mädchen und Jungen fassen ihre Trauer nicht unbedingt in Worte oder zeigen sie mit Weinen. Sie nutzen hierfür andere Ausdrucksmöglichkeiten wie Spielen, Toben, Schreien oder Malen.

Kinder trauern anders Nach einem einschneidenden Erlebnis wie dem Tod eines nahen Menschen brauchen Kinder und Jugendliche Hilfe. Dabei ist entscheidend, sie möglichst früh zu unterstützen. Denn werden sie mit ihren Gefühlen allein gelassen oder dürfen sie ihre Emotionen nicht zeigen, erfahren sie große Einsamkeit und Hilflosigkeit. Kinder trauern anders als Erwachsene. Während trauernde Erwachsene vielfach über einen längeren Zeitraum traurig sind, lassen Kinder ihre unterschiedlichen Gefühle nebeneinander stehen. Genauso spontan, wie sie sich in ihre Trauer hineinbegeben, können sie im nächsten Moment auch wieder fröhlich sein und lachen. Dieser abrupte Wechsel verwirrt Erwachsene oft. Zumal die Mädchen und Jungen ihre Trauer nicht unbedingt in Worte fassen oder mit Weinen zei-

gen. Sie nutzen hierfür andere Ausdrucksmöglichkeiten wie Spielen, Toben, Schreien oder Malen – oft sieht es so aus, als trauerten sie gar nicht. Manche Kinder ziehen sich auch zurück. Kinder sind im »Hier und Jetzt« verankert und leben sehr situativ. Sie brauchen Bewegung, Spiel und Freiraum, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Erwachsene verstehen meist nicht, wie Kinder in solchen Situationen teilweise ein so heiteres und unbeschwertes Verhalten zeigen können, das sehr im Widerspruch zu ihren Empfindungen bezüglich Trauer und Schmerz steht. Für Kinder sind Bewegung und das freie Spiel wichtige Elemente, um die bestehende Situation bewältigen zu können. Wenn man im Umgang und Gespräch mit den Kindern offen ist, zeigen und sagen sie oft von selbst, wie weit sie gehen wollen und ab wann es genug ist. Kinder sind in solchen Situa-

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Bildnachweis: K. Dlubis-Mertens

6Trauernde 6 B e a t e AKinder l e f e l d - Gbrauchen erges in erster Linie Zeit, Zuversicht, Zuneigung und Freiräume. Dies sind Faktoren, die in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich sind. Gerade Zeit und Freiraum fehlen immer mehr.

Zwischen Sandsack und Kummerbergen

tionen sehr feinfühlig und spüren vor allem das Unausgesprochene, das von ihnen ferngehalten werden soll. Sie benötigen die Auseinandersetzung mit dem Thema, um mit der Situation umgehen und sie verarbeiten zu können. Entgegen der Annahme der meisten Erwachsenen führt der vermeintliche Schutz eher zu Misstrauen und Irritation bei den Kindern. Ganzheitlicher Ansatz ist wichtig Natürlich ist es sehr wichtig, die ganze Familie in die Begleitung einzubeziehen. Darum ist es uns auch wichtig, dass die Eltern ihre Kinder nicht nur abgeben, sondern in einer parallelen Angehörigengruppe auch über ihre Trauer und Anliegen mit anderen Betroffenen sprechen. Wir bestärken die Angehörigen auch, gemeinsame Rituale zu finden; manchmal ist das möglich. Manchmal sind die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder so unterschiedlich, dass es sinnvoller ist, getrennte Rituale zu entwickeln. In den letzten Jahren haben wir den Familien auch immer Möglichkeiten angeboten, gemeinsam als Familie an einem Wochenende Gemeinsam stark teilzunehmen, bei dem der Fokus auf das Miteinander in der Familie gelegt ist. Diese intensiven Wochenendseminare bewirken oft sehr viel und sind eine gute Ergänzung zu den Gruppenangeboten. Brauchen trauernde Kinder Profis? Trauernde Kinder brauchen in erster Linie Zeit, Zuversicht, Zuneigung und Freiräume. Dies sind Faktoren, die in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich sind. Gerade Zeit und Freiraum fehlen immer mehr. Bei den Erstkontakten mit den Familien geht es natürlich erst einmal darum, wie die Hauptbezugspersonen die Kinder auffangen können. Oft brauchen die Erwachsenen auch nur eine Bestätigung, dass sie die Kinder gut betreuen und auf einem guten Weg sind.

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Es gibt aber auch Eltern, die so sehr mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt sind, dass sie nicht in der Lage sind, auf die Kinder einzugehen. Zumal unsere Erfahrung auch ist, dass sich Kinder schnell für ihre Eltern verantwortlich fühlen und lieber funktionieren und Rollen übernehmen, damit sie ihre Eltern entlasten. In solchen Fällen schauen wir, ob es Menschen im sozialen Umfeld gibt, die die Kinder unterstützen können. Leider ist unsere Erfahrung, dass es dieses soziale Netzwerk oft nicht gibt. Wenn dies der Fall ist, brauchen Kinder Profis. Als ich vor fast 13 Jahren mit der Begleitung von trauernden Kinder, Jugendlichen und deren Familien in Bremen angefangen habe, habe ich gedacht, dass Trauerland den Bedarf in Bremen abdecken kann. Von dieser Vorstellung musste ich mich endgültig verabschieden. Obwohl wir die letzten Jahre stetig gewachsen sind und unsere Angebote immer erweitert haben, haben wir im Bereich Gruppen und Einzelberatung Wartelisten. Wir versuchen mit niederschwelligen Angeboten wie z. B. mit unserer Kinder-Internetseite www.kindertrauerland.org den betroffenen Kindern Möglichkeiten an die Hand zu geben, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Beate Alefeld-Gerges, Sozial-Pädagogin, Trauerbegleiterin nach Dr. J. Canakakis und Systemische Familienaufstellerin. Sie gründete 1999 in Bremen den Verein Trauerland-Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche e.V. und arbeitet dort bis heute in der Begleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. E-Mail: [email protected] Literaturhinweise Chappell, B.; Grolland, E. A.: Children helping children with grief: My path to founding the Dougy Center for grieving children and their families. Portland 2007. Kübler-Ross, E.: Der Dougy-Brief – Worte an ein sterbendes Kind. Güllesheim 2003. Specht-Tomann, M.; Tropper, D.: Zeit zu trauern. Kinder und Erwachsene verstehen und begleiten. Düsseldorf 2001.

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Wäre ich doch lieb gewesen Schuldgefühle und Verlusterfahrungen

Till Quadflieg

»Wäre ich doch lieb gewesen.« Dieser Ausspruch, einem Kind in den Mund gelegt, zeugt doch schon von einem fortgeschrittenen Entwicklungsstand. Was offenbart ein solcher Satz? Zum einen, dass der Sprecher oder die Sprecherin in jedem Fall älter als drei Jahre ist. Dieses Kind sagt »ich«, d. h., dieses Kind ist reflexiv. »Wahrheit, Gerechtigkeit, Gutheit, Schönheit, Personenwürde sind nur für Wesen verbindlich, die sich zu sich selbst verhalten, sich deshalb Ansprüchen stellen und sich ihnen unterwerfen können. Die Fähigkeit, sich zu sich selbst zu verhalten, ist die Fähigkeit der Reflexivität. Sie schließt Reflexion (das Über-sich-Nachdenken; T. Q.) zwar ein, ist jedoch nicht nur Denkvollzug, sondern jene ursprüngliche Auszeichnung des Menschen, zu sich selbst ein Verhältnis zu haben« (Badry 1994, S. 130). Somit offenbart der Ausspruch »Wäre ich doch lieb gewesen!« ein Kind, das schon in moralischen Kategorien denken kann, ein Kind, das zudem nach einem Verhältnis zu sich, zu seiner Welt und den Geschehnissen sucht. Wahrheit, Gerechtigkeit, Gutheit, Würde sind moralische Begriffe, um die man auch intuitiv weiß; Schuld ist ein moralischer Begriff, mit dem ein Schuldgefühl einhergeht, ebenso wie es auch ein Gerechtigkeitsgefühl und ein Wahrheitsgefühl gibt. Neben den Begriffen stehen somit Empfindungen, ein Gewissen, welches sich regt oder beruhigt. Doch das Schuldgefühl hat neben der Orientierung, der Korrektur und dem Antrieb zur Entschuldigung für Handlungen und Geschehenes auch noch eine andere Funktion. Das schlech-

te Gewissen plagt, das Schuldgefühl quält; doch es gibt Plagen und Qualen, die schlimmer sind als Schuld und die wir durch Schuldgefühl vermeintlich lindern können. Ich gehe davon aus, dass zum größten Teil erwachsene Menschen dieses Heft lesen, darum bemühe ich an dieser Stelle zur Verdeutlichung ein Beispiel aus der Erwachsenenwelt. Ich denke, fast jeder Mensch im Erwachsenenalter kennt Trennungen von geliebten Menschen und Partnern, vielleicht durch Tod, doch das spielt in diesem Beispiel keine Rolle. Nach der großen Liebe folgt die Trennung, d. h., einer der beiden Liebenden ist nicht mehr liebend und beschließt das Ende der Beziehung. Für den Verlassenen, den, der im Regen stehen bleibt, beginnt nun die Auseinandersetzung mit der Ohnmacht. Zunächst wird diese geleugnet, es werden Blumen gekauft, Briefe geschrieben, es wird Besserung beteuert. Dann bricht sich Wut ihre Bahn und es beginnen die gelebten Feindseligkeiten und dann irgendwann, nach allem Aktionismus, kommt der Tag, an dem Menschen sich selbst der Schuld des Scheiterns dieser Beziehung bezichtigen oder aber die Schuld dem Partner zuschreiben. Hier entfaltet Schuld eine ganz andere Wirkung, hier ermöglicht sie dem Wertenden bzw. Urteilenden die Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit, das Gegenteil von Ohnmacht. Wenn ich durch ein bestimmtes Verhalten schuld am Scheitern einer Beziehung bin, dann kann ich durch anderes Verhalten das Scheitern verhindern, dann bleibe ich handlungsfähig.

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 68–71, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Wä r e i c h d o c h l i e b g e w e s e n

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Bildnachweis: Horace de Callias, The widows walk/Bridgeman Art Library

Hätte ich nicht um das Fernsehprogramm gestritten oder hätte ich, wie von mir erwartet, die Oma im Krankenhaus besucht, »wäre ich doch lieb gewesen«, dann wäre die Oma nicht gestorben.

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Till Quadflieg

Bildnachweis: Christiane Knoop

Für den Verlassenen, den, der im Regen stehen bleibt, beginnt nun die Auseinandersetzung mit der Ohnmacht.

In jedem Fall rehabilitiert Schuld meine Handlungsfähigkeit und stellt in dem Chaos einer Trennung wieder Ordnung her. Lässt mich wieder Herr in meinem Hause sein, lässt mich die Kontrolle wiedererlangen und beruhigt mein Leben, da nun wieder »logische« UrsacheWirkungs-Prinzipien zu erkennen sind und damit auch wieder Sinn(-zusammenhänge) hergestellt werden kann (können). Nichts anderes machen Kinder auch, nur eben etwas einfacher oder für uns Erwachsene etwas drastischer. Wenn die Oma stirbt, kann es z. B. sein, dass ein Kind den Zusammenhang zu nichtgemachten Hausaufgaben herstellt. Für uns »Großen« ist das Quatsch und natürlich haben Hausaufgaben und der Tod der Großmutter nichts miteinander zu tun, doch darum geht’s auch gar nicht. Versetzen wir uns in die Lage eines Kindes. Die Abhängigkeit vom »Rudel« ist in Kindertagen groß. Die Eltern, die Großeltern, Onkeln und Tanten gehören wie selbstverständlich dazu, schließlich sind sie ja im Leben des Kindes meist schon immer da gewesen. Und die Erfahrung, dass wichtige, schon immer dagewesene Menschen plötzlich nicht mehr da sind und manchmal auch für immer nicht mehr da sind, ist neu. Gemischt mit der meist nicht wirklich souverän gelebten und kommunizierten Trauer der wichtigen Erwachsenen entsteht hier eine extrem verunsichernde Situation, die auch für das Kind beunruhigend ist. Vielleicht denkt das Kind an den gestern Abend stattgefundenen Streit um das Fernsehprogramm oder die Unlust, noch mal die Oma im Krankenhaus zu besuchen, oder, oder, oder … Schnell ist der kindliche Ursache-WirkungsZusammenhang hergestellt: Hätte ich nicht um das Fernsehprogramm gestritten oder hätte ich, wie von mir erwartet, die Oma im Krankenhaus besucht, »wäre ich doch lieb gewesen«, dann wäre die Oma nicht gestorben. So fühlt sich das Kind zwar schuldig, aber das Gefühl des Aus-

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geliefertseins an das Schicksal wäre schlimmer. Diese Erfahrung des Ausgeliefertseins machen wir nur in existenziellen Situationen. Karl Jaspers nennt diese Situationen »Grenzsituationen«: »Vergewissern wir uns unserer menschlichen Lage. Wir sind immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten. Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: Ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. Das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie« (Jaspers 1950). Ich bin mir sicher, dass das Bewusstwerden in dem hier gemeinten Sinne eine bittere, aber für ein menschliches Leben konstitutive Aufgabe ist, der sich ein Mensch nur stellen kann. Kinder brauchen den Schutz, die Verlässlichkeit, die Sicherheit der Familie und die Menschen, die sorgend um sie sind, um die Schutzlosigkeit, die Unzuverlässigkeit und die Unsicherheit menschlichen Lebens zu betasten und schließlich zu begreifen. Es ist Aufgabe von uns Erwachsenen, mit den Kindern ihre Verluste zu beklagen und zu betrauern, damit sie die Zartheit und Verletzlichkeit, jedoch auch das Geschenk, die Einmaligkeit des Lebens, (er)fassen können. Trost, vor allem vorschneller Trost und der Verweis auf religiöse Hoffnungsbilder, wie Himmel und Paradies, sind vielleicht manchmal rascher Trost, aber nicht nachhaltig, nicht fundamental, nicht (lebens-)grundlegend für die kommenden Lebensjahre.

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»Wäre ich doch lieb gewesen.« Dieser Satz offenbart die ganze Verzweiflung, die ganze Verunsicherung, zu der ein kleiner Mensch nur fähig ist. Die Frage nach Sinn, diese Sehnsucht nach Erklärung, verdient allen Respekt von uns, den »Großen«, den scheinbar schon (besser) Wissenden. Ich möchte behaupten, dass auch die Wenigsten von uns Erwachsenen die Lektion »Grenzsituation« gelernt haben, mich eingeschlossen. Denn nach meinem Geschmack singen auch wir »Großen« noch allzu oft das Lied von Pippi Langstrumpf: »Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!« Lernen wir mit unseren Kindern auch die andere Strophe des Lebens kennen: »Manchmal macht die Welt mit uns, was ihr gefällt.« Ich denke, das ist die schwere Strophe Text zu der wunderbaren Melodie des Lebens, die zu »singen« wir gezwungen sind. Ein kindgerechter Umgang auch mit den Themen Sterben, Tod und Trauer zeichnet sich durch ein zugewandtes Interesse an den Sinnsuchbewegungen und den subjektiven Theorien des Kindes aus. Vielleicht ist es auch schon so einfach wie banal, Kindern in Grenzsituationen nicht der Weltenerklärer zu sein, sondern das verlässliche »Forschungsschiff« und der Mitsuchende auf den »Weltmeeren« individueller Lebensgestaltung.

Till Quadflieg ist Gesundheits- und Krankenpfleger,Diplom-Berufspädagoge (FH), Weiterbildung Palliative Care, Kursleiter für Palliativ-Care, Berater für Ethik im Gesundheitswesen (Cekib), Koordinator der Hospizbewegung im Kreis Warendorf e.V. E-Mail: [email protected]

Literaturhinweise Badry, E.: Pädagogik – Grundlagen und Arbeitsfelder (2., überarb.Auflage). Neuwied u. a. 1994. Jaspers, K.: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge. Zürich 1950.

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Bildnachweis: Bridgeman Art Library

Der Kleine war nicht auf der Beerdigung. Die Erwachsenen waren sich einig: Dafür bist du noch zu klein.

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Dafür bist du noch zu klein Bilder aus einem Totenhaus

Peter Holz

Aus dem Manuskript Für die Richtigkeit des Protokolls: Personen in der Reihenfolge ihres Abtretens Der Bruder, Der Vater, Die Mutter, Der Kleine Zur Einstimmung Ende April 1974, ein wunderschöner Frühlingstag, die Wettervorhersage spricht von Temperaturen über 20 Grad. Der Kleine, gerade vier geworden, steht in der guten Stube vor der Anrichte und kramt heimlich in einem Stapel Polaroid-Fotos herum, die auf der Beerdigung des Bruders gemacht wurden. Der Bruder wurde, 13-jährig, fünf Tage vorher auf dem Weg vom Gitarrenunterricht nach Hause von einem Auto überfahren. Der Kleine war nicht auf der Beerdigung. Die Erwachsenen waren sich einig: Dafür bist du noch zu klein. Bild 1: Tapfer Das erste Bild, das dem Kleinen in die Hände fällt, zeigt den Vater von rechts im Halbprofil, wie er tapfer an der Grube steht, sich zusammennimmt, sich zusammenreißt. Wie ein steifer Stock steht er da, stocksteif, wie man so sagt: Lippen tapfer aufeinandergepresst, Hände tapfer zu Fäusten geballt, Unterbauchmuskulatur tapfer angespannt, Lendenwirbelsäule und Kreuzbein tapfer versteift, Arschbacken tapfer zusammengekniffen, den Kopf tapfer in einem 45-Grad-Winkel nach unten in die Grube geneigt. Den Sarg mit dem Bruder drin kann man nur erahnen, der ist längst versenkt, ruht auf

dem Grund der Grube und wartet darauf, dass der frische Mutterboden auf ihn geworfen und ihn bedecken wird. Der Kleine stellt das Foto kerzengerade auf die Anrichte, lehnt es gegen einen Kerzenleuchter und stellt sich ebenso tapfer vor die Anrichte wie der Vater vor das Grab, steht ebenfalls frei, ohne sich irgendwo anzulehnen oder festzuhalten. Der Kleine gibt sich alle Mühe, die tapfere Haltung des Vaters so gut es irgend geht nachzuahmen: Lippen tapfer, Fäuste tapfer, Unterbauch tapfer, Lendenwirbelsäule und Kreuzbein tapfer, Arschbacken tapfer, Kopf tapfer. »Ach, so geht das«, schießt es ihm durch den Kopf, es schießt zwischen die Lungen, knapp am Herzen vorbei und schließlich schießt es durch den Unterbauch und die Lendenwirbelsäule knapp oberhalb der Arschbacken ins Kreuzbein, wo es steckenbleibt, sich einnistet und auf lange, lange Zeit zur Unruhe kommt. Ach, so geht das also, das, wovon keiner genau weiß, wie das geht. Bild 2: Der Zinnsoldat Auf dem nächsten Bild soll der Vater eine Schaufel nehmen, diese Schaufel mit dem frischen Mutterboden von dem Haufen neben der Grube füllen – Häschen in der Grube, saß und schlief, saß und schlief –, neben der Grube, in der jetzt der Bruder liegt. Der Vater soll die Muttererde auf den Sarg werfen aus der Schaufel, die er gar nicht anfassen kann, weil seine Hände immer noch zusammengekrampft sind mit aller Kraft, immer noch, seit er vor einer knappen Stunde

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 72–75, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

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Pe t e r H o l z

»Salmon in frozen waterfall«, 70 x 100 cm, Öl auf Holz, gemalt vom Autor dieses Artikels

den Friedhof betreten hat. Er steht und steht, alle wissen, dass er jetzt die Schaufel nehmen muss, diese gottverfluchte Schaufel muss er nehmen, weil man das so macht, weil das Schaufelnehmen und Mutterboden-ins-Grab-Schmeißen dazugehört. Aber der Vater bewegt sich nicht, kann sich nicht mehr bewegen. Steht stocksteif. Die Mutter ist es dann wohl gewesen, die den Vater weitergeschoben und ein, zwei Schau-

feln Muttererde in die Grube geworfen hat, die auch den Vater weitergeschoben hat zum Dorfgasthof, zum Bohnenkaffee, zum Butterkuchen, zu den Pumpernickelschnitten mit Hackepeter, zum Mariacron. Die Mutter war es schließlich auch, die den Vater, völlig erledigt, völlig erledigt, todmüde, todmüde, die den Vater dann wohl auch nach Hause geschoben hat, in das alte, neue Zuhau-

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Dafür bist du noch zu klein

se, das ab sofort ein Totenhaus zu sein hat. Tür zu. Stille. Tod. – Aber Heitschi Bumbeitschi bum bum, aber Heitschi Bumbeitschi bum bum – Bild 3: Das leere Gesicht Das nächste Bild zeigt die Mutter im Dorfgasthof beim sogenannten Leichenschmaus. Der Gastwirt hat schon viele solcher Veranstaltungen ausgerichtet und weiß, wie man das auf dem Dorf macht. Die Mutter wurde in einem Augenblick fotografiert, der den Eindruck erwecken muss, sie fühle sich vollkommen unbeobachtet. Auf dem zu beschreibenden Foto hält die Mutter eine Kuchengabel mit einem Stück Butterkuchen in der rechten Hand und will es wohl zum Mund führen. Sie richtet ihren Blick aber nicht auf das Kuchenstück, auch nicht auf die Nachbarin, die sie am Arm berührt und auf die einredet, sondern sie starrt durch die weiße Tischdecke und den Tisch, durch den Parkettboden des Saals, durch das Fundament des Dorfgasthofes, durch den Erdboden, den kalten Erdboden, in dem der Sohn jetzt auf dem Friedhof schläft, ja, schläft. Die Kälte dieses Erdbodens ist das Einzige, was sich im Gesicht der Mutter spiegelt, die Kälte des Erdbodens, die ihr vom ersten Todesaugenblick des Sohnes an vertraut und willkommen ist, nichts anderes spiegelt sich auf und in ihrem Gesicht, nichts, nicht das Geringste, sie redet wohl mal mit Verwandten, Bekannten, Nachbarn, dem Vater, auch wohl mal mit dem Kleinen, aber spiegeln tut sich in ihrem Gesicht nicht das Geringste – bis auf die Kälte des Todeserdbodens, in dem der Sohn jetzt schläft. In der Tat hat die Mutter am Tag der Nachricht des Todes des Sohnes jegliches Fühlen, das sich in ihrem Gesicht hätte spiegeln können, vollkommen eingestellt. Der Kleine führt seine Augen ganz dicht ran an das Foto der Mutter, dieses Porträt aus Stein und Eis, so dicht, dass seine Nase das Fotopapier berührt. Seine Nase schmiegt sich an den Hals der Mutter, sucht in der ehemals warmen

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Region drei Zentimeter oberhalb des linken Schlüsselbeins Mamas vertrauten Schmuseduft, der sich vor fünf Tagen mit einem Schlag verflüchtigt hat. Seine Augen suchen irgendeine, irgendeine, ir-gend-ei-ne Regung im Gesicht der Mutter, in den Augenwinkeln, an den Augenbrauen, um die Nase herum, die Augen des Kleinen suchen und suchen sich selbst in den Augen der Mutter, wie er sich möglicherweise im Glanz dieser Mutteraugen spiegelt. Nichts. Die Augen der Mutter glänzen nicht mehr. Die Stirn, ja, vielleicht an der Stirn, dass sich da was kräuselt oder dass da zumindest was zuckt – nichts. Das Gesicht der Mutter, die Mutter, ist und bleibt leer, kalt und leer. Nichts. Die Mutter ist und bleibt entzogen, ist und bleibt verschwunden. – Zigeunerjunge, Zigeunerjunge, die spieltest am Feuer Gitarre – Aber du bist doch da, Mama – doch die Mutter ist und bleibt verschwunden. Aber du bist doch da, Mama – doch die Mutter ist und bleibt verschwunden. Aber du bist doch da, Mama – doch die Mutter ist und bleibt verschwunden. Aber dafür bist du noch zu klein. Dr. Peter Holz, Jahrgang 1970, malt, schreibt, arbeitet und lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Bremen. 1974 wurde sein Bruder Frank im Alter von 13 Jahren bei einem Autounfall getötet. Der Tod des Bruders wurde in seiner Herkunftsfamilie nie gemeinsam besprochen, geschweige denn betrauert, sondern totgeschwiegen, abgespalten und/oder depressiv verarbeitet. Peter Holz hingegen geht mittlerweile den kreativen Weg des Sprechens, Schreibens und Malens. Er hat in Vechta, Bremen, Leeds (GB) und Aarhus (DK) Germanistik, Philosophie und Semiotik studiert. Er arbeitet als Schreibcoach und Kommunikationstrainer für Hochschulen und Universitäten sowie als Dozent für den Verein Verwaiste Eltern und Geschwister e.V. und die Initiative Regenbogen e.V. E-Mail: [email protected] Homepage (als Künstler): www.holzaufholz.de Homepage (als Schreibcoach): www.textfluss-bremen.de

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Wenn Kinder trauern (dürfen) Fritz Roth

Viele Menschen schauen weg, wenn in der Familie oder der Nachbarschaft jemand gestorben ist. Sie verdrängen ihre eigenen Gefühle und haben auch kein Gespür mehr dafür, wie sich ihre Mitmenschen nach einem Verlust fühlen. Darunter leiden wir alle, vor allem natürlich Kinder. Dabei ist es gar nicht so schwer, das Richtige zu tun, da zu sein, zu erklären und zu trösten. Sein wir mutig und lassen wir Kindern die Freiheit, auf ihre Art zu trauern. Marianne war vier Jahre alt, als ein älterer Mann aus ihrer Nachbarschaft starb. Sie kannte ihn nur als den »krummen Friedrich«, der in dem Haus mit dem katzenkopfgepflasterten Hof wohnte. Als Friedrich starb, wurde er in der kleinen Scheune aufgebahrt, mit offenem Tor zum Hof hin. Mariannes Oma Ria nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zum Abschiednehmen. Damals, vor 25 Jahren, gab es noch eine Gemeindeschwester. Lucana stand in ihrer Schwesterntracht am Kopfende des Sarges und las Gebete und Abschiedsworte aus einem schwarzen Buch. Der ganze Ort erwies dem »krummen Friedrich« die letzte Ehre: Angehörige, Freunde und Nachbarn. Marianne stand dicht bei ihrer Oma, unsicher, die Situation war ihr fremd. Leise fragte sie: »Oma, was macht der Mann da? Warum schläft er in der Scheune?« Die Oma flüsterte: »Er schläft nicht, er ist gestorben.« Dann ging Marianne an den Sarg und streichelte die Hand des Opas, die sie so oft gehalten hatte, wenn sie spazieren gegangen waren. Sie war so kalt, doch Marianne konnte auf ihre Art den Unterschied zwischen Tod und Leben »begreifen«. Später erklärte die Oma ihr, dass die Seele vom Friedrich jetzt bestimmt im Himmel sei und sein Körper

nicht mehr lebe und nun beerdigt würde. Daran war nichts Befremdliches, nichts Traumatisches. Es war einfach so. Heute ist Marianne selbst Mutter, wohnt in einem modernen Mehrfamilienhaus in Köln und hat eine fünfjährige Tochter. Eines Tages passiert es: Die alte Dame, die unterm Dach des großen Mehrfamilienhauses wohnt, stürzt im Treppenhaus und kommt ins Krankenhaus. Anna bekommt nicht mit, wie die Sanitäter »Oma Oben« abholen. Sie weiß nur, dass sie auf einmal nicht mehr da ist. Marianne erklärt ihrer Tochter, dass die alte Dame aus der Dachwohnung auch nicht mehr wiederkommt. Sie war alt, krank und ist im Krankenhaus gestorben. »Wo ist sie jetzt?«, will Anna wissen. »Im Himmel, ganz bestimmt«, antwortet Marianne. Damit ist Annas Frage aber nicht beantwortet, sie will wissen, ob sie sie dort besuchen kann, wie in ihrer Wohnung unterm Dach, wo sie nach dem Kindergarten oft heißen Kakao mit ihr getrunken hat. Marianne erinnert sich an ihre erste Begegnung mit einem Toten. Früher war es ganz normal, dass Kinder mit Verstorbenen in Kontakt kamen. Es gehörte einfach mit zum Leben. Heute sterben die meisten Menschen im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Nur selten nimmt dann die ganze Familie Abschied. Auch wenn der Tote im eigenen Haus liegt, in vertrauter Umgebung gestorben ist, dürfen Kinder oft nicht selbst Abschied nehmen. Kinder sollten die Chance haben zu begreifen, dass ihr Opa oder ihre Oma gestorben ist und nicht mehr aufwacht.

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 76–78, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Früher war es ganz normal, dass Kinder mit Verstorbenen in Kontakt kamen. Es gehörte einfach mit zum Leben.

We n n K i n d e r t r a u e r n ( d ü r f e n )

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Bildnachweis: Okapia

Leon geht jeden Freitag mit seiner Mutter Miriam in den Park. Freitags kommt sie früher von der Arbeit, dann können sie den ganzen Nachmittag spielen und toben. Leon freute sich immer sehr auf die Freitage. Das ist seit kurzem anders. Als vor ein paar Monaten Leons Ball die Wiese herunterrollte und bei der Bank am Flussufer liegen blieb, lernte Leon Wilhelm kennen. Den alten Mann, der dort immer saß und die Enten fütterte. Er lächelte ihm scheu zu, schnappte seinen Ball und rannte davon. Am nächsten Tag sah er den alten Mann wieder dort sitzen. Er hob die magere Hand und winkte Leon und seiner Mutter zu. Leon winkte zurück. In den folgenden Wochen wurde aus dem Grüßen eine lockere Freundschaft und Leon ließ seinen Ball absichtlich die Wiese herunterkullern. Dann setzte er sich zu dem alten Mann und sie unterhielten sich. Wilhelm erzählte, dass er früher Frachterkapitän war und lange Seereisen unternommen hatte. Wunderbare fremde Länder hatte er bereist, die merkwürdigsten Menschen getroffen und die schönsten Sonnenuntergänge über der Südsee gesehen. Wilhelm war wie ein Geschichtenbuch, das Leon jeden Freitagnachmittag aufschlagen konnte. Nur viel spannender. Eines Freitags blieb die Bank leer. Wilhelm kam nicht mehr. Leons Mutter fand heraus, dass Wilhelm gestorben war. Seine Nachbarn hatten ihn eines Morgens am Zeitungsstand vermisst und aus Sorge den Hausmeister gebeten, die Wohnung aufzuschließen. Leons Mutter war beinahe genauso traurig wie Leon, denn sie hatte sich über diese ungewöhnliche Freundschaft gefreut, hatte Leon doch nie seinen Großvater kennen lernen können.

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Fr i t z R o t h

Nun stellte Leon Fragen. »Wo ist Wilhelm? Warum kommt er nicht mehr? Er weiß doch, dass wir jeden Freitag hier sind.« Und dann: »Warum ist Wilhelm tot? Ist er jetzt im Himmel? Gibt es dort auch Enten? Sieht er mich, wenn ich ihm winke?« Miriam gab sich Mühe, die Fragen zu beantworten, aber es gelang ihr nicht besonders gut. Eine solche Situation ist ja auch nicht alltäglich, so etwas kann man nicht üben. Kinder haben ihre ganz eigenen Fragen über Tod und Sterben. Leon wurde immer stiller und zog sich in sich zurück. Für ihn war es, als ob er seinen Großvater verloren hätte. Miriam suchte Hilfe für sich und Leon und sie fand sie bei Domino, dem Zentrum für trauernde Kinder. Domino bietet Einzel- und Gruppenbetreuung für Kinder und Jugendliche an. Hier können Kinder so trauern, wie sie es brauchen. Mit Ritualen, Rollenspielen, Malen, Schreiben oder langen Spielphasen können Gefühle ausgelebt werden. Auch für Aggressionen ist Platz. Wen man zu uns, zum Haus der menschlichen Begleitung in Bergisch Gladbach, den Hang hinauffährt, kommt man an einem kleinen Holzhaus vorbei. Das ist die Villa Trauerbunt. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen von Domino habe ich hier schon vor vielen Jahren angefangen, der Trauer von Kindern eine Heimat zu geben. Die Mitarbeiter von Domino wissen, dass Kinder auf ihre eigene Art trauern – authentisch und spontan. Kinder verbergen manchmal ihre Traurigkeit. Sie können ihre Trauer nicht so ausdrücken, dass Erwachsene sie als solche wahrnehmen. Wenn es einen Trauerfall in der Familie gegeben hat, versuchen Kinder oft, besonders artig zu sein. Sie wollen ihre Eltern, die selbst in Trauer sind, nicht noch mehr belasten. Es gibt keine Altersbegrenzung für den Umgang mit dem Tod. Jeder Mensch ist in der Lage, die Erfahrung eines Verlusts zuzulassen.

Ich kann Eltern nur raten, Kindern die Begegnung mit Verstorbenen zuzumuten. Die Eltern müssen damit rechnen, dass Kinder mit der Situation anders umgehen, als sie erwarten. Sie trauern anders: Ein zweijähriges Kind krabbelt womöglich durch den Saal oder fährt mit seinem Dreirädchen um den Sarg herum. Ein vieroder fünfjähriges Kind versucht vielleicht, dem Opa Wärme einzustreicheln, und erkennt, dass er tot ist. Es versteht dann, was Tod ist. Ein siebenjähriges Kind weint und schreit, zeigt seine Gefühle und dreht sich im nächsten Moment möglicherweise um, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und will ein Eis haben. Selbstverständlich sollen Kinder nicht mit verstümmelten Unfallopfern oder Ähnlichem traumatisiert werden. Aber dass der Tod zum Leben gehört und etwas Natürliches ist, das können auch Kinder schon begreifen. Im Gegensatz zu uns rationalen Erwachsenen kommen Kinder damit erstaunlich gut klar, wenn man sie lässt. Kinder akzeptieren und Erwachsene diskutieren und meinen leider allzu oft, besser zu wissen, wie andere sich zu verhalten haben. Kinder sind natürliche Trauerbegleiter, von denen wir viel lernen können.

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Fritz Roth ist Bestatter und Trauerbegleiter aus Bergisch Gladbach. E-Mail: [email protected]

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Zu meiner Freude ließen sich alle auf die Bewegung ein.

Ein Dialog, der ohne Worte auskommt Tanzen in der Trauer

Nora Pfahl

Eng und dunkel ist es hier. In meinem Kokon fühle ich mich sicher. In dem Wissen, dass noch andere um mich herum liegen, fühle ich mich nicht so allein. Ich bleibe noch eine Weile, um Kraft zu tanken. Das Atmen hilft mir dabei. Ich atme tief durch meine Nase ein und bemerke beim Ausatmen, wie sich mein Kokon ein kleines Stückchen weitet. Der entstandene Raum erlaubt es mir plötzlich, meinen Arm etwas zu bewegen. Mit jedem Atemzug weitet sich die Hülle um mich herum und der Raum wird stetig größer.

Ich bemerke einen entstandenen Riss in der Schale, durch den nun ein warmes Licht dringt. Ich taste mit einer Hand vorsichtig durch den kleinen Spalt und spüre einen Sonnenstrahl direkt auf meiner Haut, der mir die nötige Kraft und den Mut gibt, mich aus meiner Schale zu lösen. Ich drücke mich mit meinen Füßen ab und durchbreche mit der Schulter die Schale so, dass durch das entstandene Loch die Sonne den ganzen Raum erhellt. Langsam und mit Zuversicht klettere ich heraus. Ein Gefühl von Leichtigkeit durchfährt mich und füllt meinen Körper mit

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Nora Pfahl

Bildnachweis: N. Pfahl

Er befreite sich aus seinem Kokon mit geschlossenen Augen, stand erst und bewegte sich dann wie befreit durch den Raum.

frischer Energie. Meine Beine tragen mich und geben mir Halt. Ich bewege meinen Kopf, meine Arme, meine Schultern, meinen Rücken, meine Beine, meine Füße und spüre, dass es so weit ist: Und dann breite ich meine Arme aus und fliege los. Als Tanzpädagogin arbeite ich schon seit vielen Jahren mit Jugendlichen zusammen. Das Trauerseminar in Bad Segeberg war für mich jedoch ein ganz besonderer Moment und eine unvergessliche Erfahrung, in der ich Tanz und Trauer verbinden konnte. Ich war eingeladen worden, an einem Wochenende in der Gruppe der Jugendlichen von 12 bis 18 Jahren einen Tanzworkshop anzubieten. Die unterschiedlichsten Schicksale der Teilnehmer berührten mich sehr und ich spürte die bedrückende Last, die jeder Einzelne mit sich trug. Wege aus dem Kokon So begann ich die erste Tanzeinheit ganz vorsichtig und beobachtend, um mich besser in jeden Einzelnen hineinversetzen zu können. Zu

meiner Freude ließen sich alle auf die Bewegung ein. Ich bemerkte bei einigen schon nach kürzester Zeit, dass es ihnen richtig gut tat und der Tanz als Abwechslung zu den Gesprächen willkommen war. Ich verließ mich voll und ganz auf meine Intuition und begleitete die Jugendlichen durch eine beeindruckende erste Stunde. Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir ein 13-jähriger Junge, der vorher noch im Sitzkreis wie gelähmt auf seinem Stuhl saß, den Blick zum Boden gerichtet und bis auf seinen Namen nichts sagte. Schon bei den ersten tanzenden Bewegungen war er dabei, und es tat ihm sichtlich gut, etwas auszudrücken, ohne dabei zu sprechen. Als ich dann in der zweiten Einheit die Fantasie der Jugendlichen angeregt und die Metamorphose eines Schmetterlings mit ihnen getanzt habe, kam der Junge so richtig aus sich heraus. Er befreite sich aus seinem Kokon mit geschlossenen Augen, stand erst und bewegte sich dann wie befreit durch den Raum. Schmetterling war das Thema des Wochenendes gewesen und ich selbst hatte erst leise Zweifel, ob sich die Jugendlichen darauf auch als Thema für den Tanz einlassen würden.

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Bilder: N. Pfahl

Ein

Ich nutze meinen Körper als Instrument, die Musik als D i a l o g , d e r o h n e Wo r t e a u s k o m m t Stütze meiner Seele und tanze für dich, für euch und für mich als Ausdruck meiner tiefsten Gefühle.

Mein Zweifel verflog, als ich die Gruppe so sensibel und feinfühlig im Umgang miteinander beim Tanzen beobachten durfte. Am gleichen Abend baten die Jugendlichen mich um eine zusätzliche Tanzstunde, da sie eine eigene, kleine Choreografie erarbeiten wollten. Ich beobachtete eine ausgelassene Stimmung und die gemeinsame Freude beim Tanz. Zusammen mit den Trauerbegleitern der Gruppe beschlossen wir, den Tanz für die Begegnung mit den Eltern am nächsten Tag zu wählen. Bewegung als Botschaft Es war das ganze Wochenende Thema gewesen, dass es aus verschiedenen Gründen manchmal schwierig für die Jugendlichen sei, ihre Trauer den Eltern gegenüber in Worte zu fassen. Für die Begegnung waren sich alle einig: Ich nutze meinen Körper als Instrument, die Musik als Stütze meiner Seele und tanze für dich, für euch und für mich als Ausdruck meiner tiefsten Gefühle. Gemeinsam entwickelten die Jugendlichen eine Präsentation, die als Dialog ohne Worte mit den Eltern enden sollte. Alle waren gespannt und

auch sehr aufgeregt, ob es so funktionieren würde. Die Jugendlichen tanzten für sich und ihre Eltern mit so viel Gefühl und Botschaft, ganz ohne Worte und doch mit geballtem Ausdruck. Am Ende gingen sie einen Rhythmus klatschend auf ihre Eltern zu, die im Echo darauf antworteten. Die Eltern verstanden die Sprache ihrer Kinder und reagierten voller Mitgefühl. Immer näher kamen sie sich, bis Jugendliche und Eltern sich gegenüberstanden. Als sie dann ihre Arme füreinander öffneten, war es für einen kurzen Moment ganz still im Raum. Und dann folgten die Umarmung und das gemeinsame Lachen und Weinen sowie die Freude darüber, zusammen zu sein. Unvergesslich wird dieses Ereignis in meiner Erinnerung bleiben und für die Jugendlichen hoffentlich ein kleiner Leidfaden auf ihrem schweren Weg der Trauer. Nora Pfahl studierte Tanz an der Hochschule der Künste in Arnheim und arbeitet seitdem international als Tanzpädagogin, Tänzerin und Choreografin. E-Mail: [email protected]

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Abschiede gehören zum Leben. Jedes Kind wird im Laufe seiner Kindheit Verluste erleben und nicht erst der Verlust eines geliebten Menschen hat Trauer zur Folge.

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»Meine Oma kocht jetzt im Himmel für die Engel Semmelknödel!« Kinder in ihrer Trauer begleiten

Bildnachweis: Lucy Citti Ferreira, Girl with cat/Bridgeman Art Library

Elke Mainz Ein Anruf einer mir unbekannten Familie: »Wir sitzen hier im Familienkreis. In einer Stunde ist die Beerdigung des Großvaters und wir werden uns einfach nicht einig, ob die Kinder mit zur Beerdigung gehen sollten. Was sollen wir tun?« Die Anfrage spiegelt die weitgehende Tabuisierung des Todes und der Trauer im Umgang von Erwachsenen mit den Kindern wider. Es liegt an uns, wie es gelingt, dass sich Kinder auf eine selbstverständliche Weise auch diesen zum Leben gehörenden Themen nähern. Und es setzt zunächst einmal die Beschäftigung von uns Erwachsenen mit der Endlichkeit des Lebens voraus, um Kinder in angemessener Weise begleiten und unterstützen zu können. Abschiede gehören zum Leben. Jedes Kind wird im Laufe seiner Kindheit Verluste erleben und nicht erst der Verlust eines geliebten Menschen hat Trauer zur Folge. Kinder zeigen auch Trauer nach einem Umzug, der Trennung ihrer Eltern, dem Weggang eines älteren Geschwisters oder dem Tod eines Haustieres. Wie können wir mit den Kindern sprechen? Vor allem Eltern möchten ihre Kinder vor diesem schwierigen Thema schützen und sie möglichst sorgenfrei aufwachsen lassen. Verständlicherweise ist es für jeden Erwachsenen ein sehr schwerer Schritt, mit ihren Kindern über den Tod zu sprechen. Insbesondere dann, wenn eine wichtige Bezugsperson versterben wird, fällt es enorm schwer, dies den Kindern nahe zu bringen. Wie die Erwachsenen müssen aber auch Kinder die Chance eines angemessenen Abschieds von der geliebten Person erhalten. Die einfachste Art der Information besteht darin, direkt, klar und ehrlich zu sein. Kinder spüren, wenn wir ihnen etwas verschweigen. Sie fühlen sich übergangen und mit ihren Gefühlen oft auch sehr allein gelassen und sie entwickeln nicht selten skurrile Fantasien, die meist schlimmer als die Wirklichkeit sind.

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 82–86, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

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Eltern wissen oft auch nicht, wie sie antworten sollen, wenn ihre Kinder sie nach dem Verbleib der Verstorbenen fragen. Da wir alle die Antwort nicht kennen, ist es empfehlenswert, hier auch nichts vorzugeben, dem Kind zu erklären, was wir jeweils dazu denken, und zurückzufragen, was das Kind denn selbst dazu glaubt. Für viele Menschen ist die Vorstellung, dass der Verstorbene in den Himmel kommt, es ihm dort gut geht, ein großer Trost, und manche wiederum haben ganz andere Annahmen und Bilder dazu. Kinder entwickeln in der Regel automatisch ihre eigenen tröstenden und letztlich für sie hilfreichen Bilder. Und wie ist das nun mit der Beerdigung? Kinder sollten unbedingt die Chance erhalten, sich vom Verstorbenen zu verabschieden, und daher in Begleitung einer Person ihres Vertrauens an der Beerdigung teilnehmen, wenn sie es wünschen. Wie bei uns Erwachsenen helfen Rituale auch den Kindern, die Realität des Todes allmählich zu begreifen und zu verarbeiten. Kinder fürchten sich mehr vor dem Unbekannten als vor Abläufen, an denen sie teilhaben dürfen. Voraussetzung ist die genaue Information über die Zeremonie, so dass sie sich mit ihren kreativen Ideen in die Gestaltung einbringen und auch ihre Teilnahme an der Beerdigung leichter entscheiden können. Trauerreaktionen Grundsätzlich sind die Vorstellungen über den Tod je nach Alter und Entwicklungsstand eines Kindes sehr unterschiedlich und dementsprechend auch seine Reaktionen auf den Verlust eines Menschen. Wenn es in der Familie gelingt, offen über das Geschehen, die verstorbene Person und Gefühle zu sprechen und sie auch zu zeigen, kommen Kinder trotz ihrer Trauer in der Regel erstaun-

lich gut mit dem Tod eines nahen Angehörigen zurecht. Erst wenn kindliche Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. sozialer Rückzug, Aggressivität, Einnässen oder Nägelkauen länger andauern, sollten Eltern professionelle Hilfe aufsuchen. Fallbeispiele aus meiner Arbeitspraxis Beispiel 1 Eine 35-jährige alleinerziehende Mutter ist an einem Brustkrebsrezidiv erkrankt und weiß, dass sie bald sterben muss. Die Trennung der Eltern erfolgte kurz nach der Geburt ihres jetzt fünfjährigen Sohnes; sie waren nicht miteinander verheiratet. Die kranke Mutter möchte nicht, dass ihr Sohn nach ihrem Tod vom Kindsvater aufgenommen wird, da sie sich nach jahrelangen Trennungsauseinandersetzungen immer noch sehr verletzt fühlt. Sie fragt mich, wie ihr Kind alternativ eine angemessene Fürsorge nach ihrem Tod erfahren kann. Im Verlauf nur eines Gesprächs und u. a. mittels einer Familienaufstellung auf dem Familienbrett wird ihr deutlich, dass der getrennte Partner trotz allem aber ein guter Vater für das gemeinsame Kind bleiben kann. Vater und Kind haben regelmäßigen Kontakt und auch eine positive Bindung miteinander. Das Kind ist darüber hinaus sehr gut in die Familie seines Vaters integriert und liebevoll aufgehoben. Sie ist sehr erleichtert mit ihrer Erkenntnis und empfindet nach einer langen und aufwühlenden Zeit der Unsicherheit in Bezug auf das Wohlergehen und die Zukunft ihres Kindes eine große Beruhigung. Ich empfehle ihr, ihre Entscheidung auch dem zuständigen Jugendamt vor Ort mitzuteilen, das in diesem Fall ohnehin spätestens nach ihrem Tod die Familiensituation zum Wohle des Kindes überprüfen wird. So wird der Familie ein mühsamer Weg der Klärung erspart und das Kind kann sich mit gutem Gefühl auf seinen Vater und dessen Familie einlassen, weil seine Eltern trotz ihrer Trennung verantwortungsvoll

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Bildnachweis: Foto von Elke Mainz

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eine gemeinsame Entscheidung in seinem Interesse getroffen haben.

Die Kinder zeigen sich zunächst im ersten Kontakt gemeinsam mit ihrem Vater extrem zurückhaltend. Sobald ich mit den Kindern ohne Beispiel 2 ihren Vater spreche, berichten die Fünf- bis Ein Vater von vier Kindern sucht mich auf, weil Zehnjährigen sehr offen und beeindruckend seine Frau aufgrund ihrer Krebserkrankung von ihren Belastungen und Gefühlen in Bezug schon bald versterben wird, sie selbst sich aber auf die sterbende Mutter, der Zweijährige hört bisher weigerte, mit ihm darüber zu sprechen. aufmerksam zu, während er abseits mit Autos Er berichtet von den sehr unterschiedlichen Re- spielt. aktionen seiner Kinder auf den nahenden Tod Für das nächste Gespräch bitte ich die Kinihrer Mutter und seiner großen Unsicherheit als der, einen »Kummerkasten« zu basteln, in den Vater im Umgang damit. sie ihre Sorgen auf Zetteln aufgeschrieben hiWir besprechen zunächst, wie er mit seiner neinlegen können. Schon beim nächsten TerFrau ins Gespräch kommen und er den Ab- min zeigen sie mir ihren sehr liebevoll gemeinschied der Kinder von ihrer Mutter unterstützen sam angefertigten Karton und sie bestehen kann. Ihm gefällt ganz bedarauf, einander ihre Sorgen sonders die Idee, jedem Kind vorzulesen bzw. von mir vorWie die Erwachsenen eine »Schatzkiste« gemeinlesen zu lassen. Die Inhalte müssen aber auch sam mit seiner Frau anzufersind sehr ähnlich: Sie berichtigen, in die sie dann für sie Kinder die Chance eines ten von schlaflosen Nächten, bedeutsame Dinge, Erinneangemessenen Abschieds furchterregenden Träumen rungen, Briefe usw. mit seiund ihrer großen Angst vor von der geliebten Person dem bevorstehenden Verner Hilfe hineinlegt. Die Eltern kommen noch lust ihrer Mutter. Über die erhalten. am selben Abend miteinanAngst, Freunde zu verlieren der ins Gespräch. Die gemeinsame Sorge um wegen ihrer unkontrollierbaren Wutausbrüche, das Wohlergehen ihrer Kinder und deren Zu- oder die Befürchtung, den Anforderungen in kunft erleichtert ihnen den notwendigen Aus- der Schule aufgrund der mangelnden Konzentausch. Darüber hinaus ist der Vater froh, selbst tration nicht gerecht zu werden. auch etwas tun zu können und seiner Frau bei Die größeren Kinder bestehen darauf, zusätzihrer Aufgabe zur Seite stehen zu dürfen. lich einzeln mit mir zu sprechen, und berichten

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in diesen Einzelgesprächen vom Geschwister- Briefe über ihre Erfahrungen in ihrem neuen streit in Bezug auf die Erkrankung und den na- Alltag ohne die Mutter, der Jüngste thematisiert henden Tod ihrer Mutter. Sie befürchten zudem seine Erlebnisse im Zusammenhang mit der Erdie wohl übliche Kritik untereinander, wenn sie krankung und dem Verlust seiner Mutter im deswegen weinen müssen, und möchten daher Spiel mit Puppenstube und Krankenhaus. Daihre Tränen nur im Gespräch rüber hinaus findet ein Ausmit mir laufen lassen. tausch mit den unterschiedEin trauerndes Kind Kurz darauf verstirbt die lichen Klassenlehrern der braucht Menschen, die Kinder bzw. Erziehern im Mutter sehr plötzlich im sich nicht abwenden, Krankenhaus. Auf dem Weg Kindergarten statt, die sich dorthin kommt der Vater sondern bereit sind, sich noch unsicher im Umgang spontan mit den Kindern zu mit den trauernden Kindern mit der eigenen Trauer fühlen. mir und wir besprechen geauseinanderzusetzen. meinsam mit den Kindern, Sobald sich die Gesprächswie der letzte Kontakt für jeinhalte im Verlauf schwerdes Kind individuell gestaltet werden kann. Sie punktmäßig über den Kontext »Verlust der entscheiden sich sehr unterschiedlich: Eines Mutter« hinaus entwickeln und der Vater eine möchte der Mutter eine Rose auf den Bauch le- intensivere Erziehungsberatung für sich selbst gen, die noch schnell unterwegs besorgt wird. in seiner neuen Situation wünscht, verweise ich Das andere verabschiedet sich dann gemein- die Familie für eine vertiefende Arbeit weiter an sam mit dem zweijährigen Bruder jeweils an eine entsprechende Familienberatungsstelle in einer Hand des Vaters in sicherer Entfernung Wohnortnähe sowie an einen niedergelassenen vom Türrahmen aus mit den Worten »Tschüss Kindertherapeuten, da bei einem der Kinder das Mama!« und die Sechsjährige möchte unbedingt nächtliche Einnässen sowie Schulleistungsproeine halbe Stunde ganz allein bei der Mutter im bleme seit dem Tod der Mutter anhalten. Zimmer bleiben, was sie ganz offensichtlich entlastet. Fazit Der Vater bittet mich später darum, ihn im Umgang mit seinen Kindern in Bezug auf die Ein trauerndes Kind braucht Menschen, die sich anstehende Beerdigung zu unterstützen. Wir nicht abwenden, sondern bereit sind, sich mit schauen auch hier nach den unterschiedlichen der eigenen Trauer auseinanderzusetzen. Wenn Bedürfnissen und Wünschen der Kinder. An Kinder das Gefühl haben, dass es jemanden gibt, diesem Gespräch nimmt der Großvater der Kin- der verstehen will und zuhören kann und auch der väterlicherseits teil, so dass wir gemeinsam offen mit dem Thema umgeht, fühlen sie sich schauen können, wo auch er seinen Sohn und nicht so hilflos und allein und können den Verlust trotz ihres Schmerzes besser verkraften. die Enkelkinder entlasten kann. Nach der Beerdigung bestehen die Kinder auf weiteren Terminen, in denen sie gemeinsam Elke Mainz ist Kinder- und Jugendpsyund einzeln über ihre Gefühle und Bedürfnisse chotherapeutin und Familientherapeutin. Sie arbeitet in einem SAPV-Team in sprechen möchten. Die Kinder nutzen ihre Terder Begleitung von Familien mit minmine sehr unterschiedlich: Sie malen ihre Situderjährigen Kindern sowie in einer Psychoonkologischen Schwerpunktpraxis ation, berichten von ihrem Geschwisterstreit, mit an Krebs erkrankten Eltern und dez. B., wer welche Kleidungsstücke der verstorberen Kindern. nen Mutter tragen darf. Die Älteren schreiben E-Mail: [email protected]

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Von Tränen – gerührt und nicht geschüttelt Ein beeindruckendes Konzert und ein Interview mit Bodo Wartke

Heiner Melching

Als ich im Februar dieses Jahres wieder einmal schlossen haben und es für die Teilnehmer nach ein Konzert meines absoluten Lieblingskabaret- Momenten der Schwere zum Ende der Treffen in tisten, Bodo Wartke, besucht habe, überraschte der Regel deutlich »leichter« wurde. Besonders dieser mich und das Publikum im ausverkauf- schön an der Darbietung dieses Stückes ist für ten Theater Die Wühlmäuse in Berlin auf ganz mich die nötige Normalität, die der Trauer dabesondere Weise. Zum Ende des Konzertes Kla- durch zuteilwird. Das Lied Christine kam, wenn viersdelikte, in dem Bodo Wartke seinem Pu- auch durch ein gefühlvolles Lied über die Zeit blikum einen feinsinnigen Mix aus »spöttisch- (»Sie«) musikalisch vorbereitet, ohne besondere liebevollen« und komischen Liedern mit teilwei- Ankündigung oder »Vorwarnung« daher. Kein se überraschenden Pointen und gewohnt virtuo- »Sie müssen jetzt stark sein« oder »jetzt kommt sem Klavierspiel dargeboten hatein schweres Thema – wem es te, spielte er ein Lied für seine vor Ich hatte große Sorge, dass zu schwer wird, der kann den dieses Lied für das Publiüber dreißig Jahren verstorbene Saal verlassen« –, nein es kam kum eine Zumutung sein Schwester Christine (Liedtext am auf wunderbar unspektakukönnte. Die Menschen Ende des Artikels). Das Publiläre Weise in das Konzert, als kum, welches bis dahin nicht sel- kennen mich ja über meine würde die Trauer ganz normal ten Tränen gelacht hatte, konnte zum Leben dazugehören. Ein lustigen Lieder und kom(und wollte) in vielen Fällen selbimen ins Konzert, um sich darüber hinaus für mich perge nun vor Rührung nicht untersönlich grandioser Nebenefzu vergnügen. drücken. Neben dem Mut, sein fekt war natürlich auch, dass Publikum einem solchen Wechselbad der Ge- Bodo Wartke sich ohne langes Zögern bereit erfühle auszusetzen, hat mich besonders beein- klärt hat, mir in einem persönlichen Interview druckt, dass es dem Künstler gelungen ist, die für den Leidfaden die vielen Fragen, die sich mir Stimmung im Saal (aus)zu halten und diese dazu stellten, zu beantworten. durch das letzte Lied (vor den vielen Zugaben) wieder zu einer Leichtigkeit hinzuführen, die H. M.: Herr Wartke, haben Sie Geschwister? es dem Publikum ermöglichte, erneut von Her- B. W.: (ohne Zögern) Ja, ich habe eine verstorzen zu lachen und mit einem guten Gefühl nach bene Schwester. Hause zu gehen. H. M.: Ist es für Sie einfach auf diese Frage zu Dieser »Stimmungsbogen« hat mich auch an antworten? Und wenn ja, seit wann? den Verlauf vieler Gruppenabende mit trauern- B. W.: Ich beantworte diese Frage seit ein paar den Eltern und Geschwistern erinnert, bei denen Jahren so. Davon handelt ja auch die letzte StroLachen und Weinen sich nicht gegenseitig ausge- phe im Lied Christine. Der Grund, warum ich

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 87–95, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Bildnachweis: Nele Martensen

dieses Lied geschrieben habe, war die frappierende Erkenntnis: Nur weil meine Schwester gestorben ist, bin ich deshalb kein Einzelkind. Dieser Gedanke ist für mich sehr tröstlich und das ist ja auch die Quintessenz des Liedes, in dem es am Ende heißt: »Ich hab eine Schwester. Die ist zwar nicht mehr hier. Aber sie ist da.« H. M.: Wie und seit wann ist dieses »da« für Sie spürbar? B. W.: Ich glaube, es ist seit Christines Geburt immer so gewesen – dass sie »da« war. Ich war mir dessen nur nicht bewusst. Jetzt bin ich es aber – und das fühlt sich sehr schön an. H. M.: Gab es dafür einen Auslöser? Wie hat Christine sich gemeldet und sich ihren Platz in Ihrem Bewusstsein ergattert? B. W.: Auslöser war ein Gespräch, in dem ich es in einem Nebensatz fallen gelassen habe, dass ich eine verstorbene Schwester habe, und mein Gegenüber dann sagte: »Dann Sind Sie ja gar kein Einzelkind, wie bisher gesagt.« Und dann – zack – war es mir absolut klar. H. M.: Im Lied heißt es: »Ich erinner mich nicht mehr. Ich war noch zu klein.« Gibt es dennoch Erinnerungen oder eine Idee aus heutiger Sicht dazu, welche Rolle Christine in Ihrer Familie gespielt hat, als Sie noch ein Kind waren? B. W.: Ich habe Christine ja leider nie persönlich kennengelernt und sie auch nicht gesehen. Somit war sie in der Zeit meiner Kindheit für mich am sichtbarsten durch die Trauer meiner Mutter, die für mich deutlich zu spüren und fast allgegenwärtig war. Und jetzt, seit der Erkenntnis, die mich zu diesem Lied inspiriert hat, ist es oft so, dass ich mir ausmale, wie es wäre, wenn ich jetzt eine Schwester hätte, mit der ich Dinge besprechen könnte, wie würde sie darüber denken? Oder vor allem wenn ich halt so (lacht) – also wenn mir meine Eltern mal schwer auf die Nerven gehen –, was hin und wieder vorkommt, dann denke ich mir oft, wie schön wäre es jetzt, eine Verbündete zu haben – eine Kumpanin. H. M.: Aber Geschwister sind ja nicht nur Verbündete, sondern gelegentlich auch Konkurren-

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ten. Die Beziehungen sind ja in der Regel recht rum ich das Thema damals nicht so aufs Tapet ambivalent. gebracht habe. B. W.: Ja, das erlebe ich auch im Freundeskreis, H. M.: Aber durch das Lied haben Sie es – viedass die Beziehungen zwischen den Geschwis- le Jahre später – zum Thema gemacht, und dazu tern oft sehr schön, aber oft auch schwierig noch öffentlich. sind. B. W.: Dieses Lied scheint sehr heilsam für meiH. M.: Christine wurde einen Monat und einen ne Mutter zu sein. Ich hab mir natürlich totale Tag alt, und Sie haben sie nie gesehen. Bedauern Sorgen gemacht bei der Premiere – wie findet sie Sie es, nicht mehr als ein »Fantasiebild« von ihr das? Sie war natürlich da. gehabt zu haben? Und wissen Sie, welche Über- H. M.: Sie wusste aber von dem Lied. legungen Ihrer Mutter ausschlaggebend dafür B. W.: Ja, ich hatte ihr erzählt, dass ich vorhabe, waren, Ihnen Christine nicht zu zeigen? dieses Lied zu schreiben – da war sie erst sehr B. W.: Meine Schwester ist an einem Gende- skeptisch; und als wir das Lied dann aufgenomfekt gestorben, einer Trisomie 13, und kam mit men haben, habe ich sie gefragt, ob sie die unbeschweren Organfehlbildungen arbeitete Aufnahme bereits höViele Menschen erzählen auf die Welt. Meine Mutter hat ren möchte, damit sie das Lied mir nach Konzerten sehr mal gesagt, dass sie unter andedann schon kennt. Das fand sie rem keine Augen hatte. persönliche Dinge und be- super und da habe ich ihr die H. M.: Haben Sie versucht sich Aufnahme zugeschickt. Genau richten davon, wie gut es vorzustellen, wie sie ausgesehen so habe ich es auch bei meinem ihnen tut, darüber reden hat oder jetzt aussehen würde? Vater gemacht. Ich war dann und trauern zu können. B. W.: Natürlich habe ich mir nicht dabei, als meine Mutter darüber Gedanken gemacht, wie wohl ein Kind das Lied zum ersten Mal gehört hat; sie hat mir ohne Augen aussehen mag – aber ein konkretes erzählt, dass sie dabei erwartungsgemäß in TräBild, wie sie z. B. heute aussehen würde, habe ich nen ausgebrochen ist – aber es war für sie auch mir nicht gemacht. schön. Sie mag dieses Lied und ist davon ergrifH. M.: Hätten Sie als Kind – natürlich aus der fen. Sie hört es ganz oft und zeigt es auch Freunheutigen Erinnerung heraus – gerne mehr erfah- den und Verwandten. ren? Gab es das Bedürfnis, »näher dabei« zu sein? H. M.: War das auch ein bisschen Ihre Absicht B. W.: (überlegt) Das ist aus heutiger Sicht beim Schreiben des Liedes? Haben Sie es für schwer zu sagen. Ich erinnere mich sehr kon- Ihre Mutter geschrieben – evtl. als Geschenk kret daran, als meine Mutter und ich am Ge- oder nachträglichen Trost, den das Kind Bodo burtstag meiner Schwester (zwei Tage vor mei- Wartke nicht leisten konnte? nem Geburtstag) vor ihrem Grab standen und B. W.: Ich habe das Lied für mich selber gemeine Mutter da völlig zusammengebrochen ist schrieben – aber es freut mich natürlich, dass es und ich als kleiner Junge natürlich völlig über- so ist. fordert und hilflos in dieser Situation war und H. M.: Wie ist es für Ihren Vater – dem in dem meine Mutter auch nicht trösten oder stützen Lied ja eine gewisse Dickköpfigkeit beschieden konnte. Es reichte früher oft schon, das Thema wird? anzusprechen, und meine Mutter brach in Trä- B. W.: (lacht) Er findet das Lied schön. Auch nen aus – sie hat es lange nicht verwunden. Ich wenn er sich nicht gerade leicht damit tut, über hatte dann das Gefühl, wenn über Christine ge- Gefühle zu sprechen, merkt man an bestimmten sprochen wird, geht es meiner Mutter schlecht – Gesten, dass es ihn sehr bewegt. Er ist mehr ein und wahrscheinlich ist das auch ein Grund, wa- sachlicher Typ und hat mir noch viele »Fakten«

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über Christine erzählt – z. B. auch ihren Zweit- besteht die Möglichkeit, über einen Liebesliednamen (der von ihm stammt) – ich habe auch generator »das Liebeslied« in mehr als achtzig einen und mein Vater auch; er steht auf Zweit- verschiedenen Sprachen und Dialekten zu hönamen. Er hat mir die genauen Daten zur ihrer ren und zu verschenken. Im Programm »AchilGeburt und den Todeszeitpunkt genannt, den lesverse« werden Ihre Liebeslieder in verschieTaufspruch usw. Das zeigt, dass Christine auch dene Kategorien eingeteilt. Ist das Lied Christine bei ihm über all die Jahre eine große Präsenz be- in gewisser Weise auch ein Liebeslied? Aus der halten hat. Das hat er mir alles einfach so – ohne Kategorie der »erinnernden Liebe«? dass ich danach fragen musste – gegeben. B. W.: Ja, das kann man sicherlich so sagen. Ich Über das Wort »Dickköpfigkeit« hat er sich hab das so zwar bisher noch nicht gesehen – allerdings tatsächlich mokiert, weil er sich da- aber ich stimme mal spontan zu. durch in Misskredit gezogen fühlte. Ich habe das H. M.: Wie waren die Reaktionen aus dem Puaber liebevoll gemeint, was ich ihm natürlich blikum? Die Gästebucheinträge, die ich auf Ihrer mitgeteilt habe. Dickköpfigkeit bedeutet ja auch, Website dazu gelesen habe, waren ja ausnahmsdass man für Ideale und Überzeugungen ein- los positiv. steht – und »gerade« bleibt. In diesem Punkt bin B. W.: Ich hatte große Sorge, dass dieses Lied ich ja auch ganz dankbar, dass ich da vermutlich für das Publikum eine Zumutung sein könnauch etwas von ihm mitbekommen habe. Trotz- te. Die Menschen kennen mich ja über meine dem wäre es ihm lieber, wenn ich diese Stelle in lustigen Lieder und kommen ins Konzert, um dem Lied anders formuliert hätte. sich zu vergnügen. Und mit so einem Lied rechH. M.: Aber Sie haben das Lied net erst mal keiner. Während Das Schreiben des Liedes ja in erster Linie für sich selbst des Liedes kehrt eine absoluwar ein wichtiger Vergeschrieben. Hat es Ihnen gete Stille ein und viele Konzertarbeitungsprozess – deshalb holfen, jetzt eine Ausdrucksbesucher fangen an zu weinen. stehe ich inzwischen auch Und dafür sind sie aber dankform für diese »Katastrophe« in Ihrer Kindheit gefunden zu habar – die Menschen, mit denen an einem anderen Punkt. ben? ich spreche und die sich im Während ich das Lied B. W.: Ja, diese Ausdrucksform Gästebuch äußern, sind dankgeschrieben habe, bin ich ist mir ja sehr vertraut. Auch in hingegen durch einiges hin- bar dafür, dass ich sie so tief beanderen Liedern habe ich über rühre. Ich habe ganz tolle Redurchgegangen. Verluste geschrieben – z. B. von aktionen bekommen – gerade Liebesbeziehungen – und damit den Trennungs- von Menschen, die ein ähnliches Schicksal mit schmerz verarbeitet. Mit Liedern etwas Schreck- mir teilen. Sie fühlen sich sehr getröstet durch liches in etwas Schönes zu verwandeln hilft mir das Lied, weil ich ihrem und meinem Schickund tröstet mich. sal dadurch Ausdruck verleihe. Ich versuche H. M.: Zum Thema Trauer und Liebe fällt mir dabei ja nicht jemanden zu trösten, indem ich immer ein Aufsatz von W. R. Inge aus dem Jahr sage, es ist alles gar nicht so schlimm. Doch, es 1927 ein, in dem er Trauer als »erinnernde Lie- ist so schlimm, wie es ist – aber allein die Tatbe« bezeichnet. Sie haben ja neben den »leicht sache, dass man mit seinem Schicksal nicht albösen« und satirischen Texten auch stets Lie- lein ist, tröstet. Viele Menschen erzählen mir beslieder in Ihren Programmen. Ihre Website nach Konzerten sehr persönliche Dinge und ist auch über den aussagekräftigen Domain- berichten davon, wie gut es ihnen tut, darüber titel: www.bodowartkesingtlieberwiederueber- reden und trauern zu können. Ein Mädchen, wiegendliederueberliebe.de zu erreichen. Dort deren Schwester gestorben ist, hat mir erzählt,

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wie verstanden und gesehen sie sich durch das Lied gefühlt hat – in der Schule fühlte sie sich hingegen überhaupt nicht verstanden. Oder jemand, der seinen älteren Bruder verloren hat, der für ihn eine ganz wichtige Bezugsperson war, als er dann so alt geworden war, wie sein Bruder es war, als dieser gestorben ist – das war für ihn ganz schlimm, weil er da seinen Bruder überlebt hat und er nun älter war als sein älterer Bruder. Es gibt auch Familien, in denen etwas Ähnliches passiert ist, die dieses Lied zum Anlass nehmen, das erste Mal darüber zu sprechen. Das finde ich sehr schön – und dass diese Menschen eben mitgehen auf diese emotionale Achterbahnfahrt. Im Gästebuch meiner Homepage wird kein Lied öfter besprochen als dies. Und auch mir geht es mit dem Lied gut – in dem Moment, in dem ich das Lied singe, leide ich nicht darunter – ich singe es wirklich gerne, es tröstet mich. Das Schreiben des Liedes war ein wichtiger Verarbeitungsprozess – deshalb stehe ich inzwischen auch an einem anderen Punkt. Während ich das Lied geschrieben habe, bin ich hingegen durch einiges hindurchgegangen. Da sind beim Texten und Komponieren so einige Tränen geflossen. Da habe ich ganz bewusst und aktiv um meine Schwester getrauert. Und das Ergebnis ist so erfüllend, weil ich merke, dass ich musikalisch genau das zum Ausdruck bringen kann, was ich fühle. H. M.: Wie kam die Melodie zum Text – oder der Text zur Melodie? B. W.: (schmunzelt) Das ist wirklich sehr Interessant. Die Melodie von Christine ist mir als Teenager eingefallen – da war ich 13 oder 14 Jahre alt, als ich das Thema komponiert habe. Ich wusste damals aber noch nicht, wohin mit der Melodie – bzw., was daraus einmal werden wird. Ohne eine Idee davon, ob sich noch mal ein Text dazu gesellt oder ob es ein Instrumentalstück wird, lag es lange Zeit in der Schublade. Und als ich dann den Text zu Christine schrieb und auf der Suche war nach einer Melodie –

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zack war sie wieder da – und ich dachte, »Ja! Das passt ja, das ist genau das, diese Melodie bringt genau das zum Ausdruck, worum es in dem Lied geht.« D. h., ohne es zu wissen, habe ich bereits vor ca. 18 Jahren die Melodie zu diesem Lied komponiert. Allerdings früher im 4/4-Takt und jetzt ist die Melodie im 6/8-Takt, der dem Ganzen eine größere Beschwingtheit und Leichtigkeit verleiht – was mir sehr wichtig war. H. M.: Das Lied muss ja auch im Zusammenspiel mit den anderen Stücken im Konzert und auf der CD funktionieren. Wie wichtig ist die Reihenfolge? B. W.: Ganz wichtig. Das war eine der größten Herausforderungen – herauszuarbeiten, welches Stück davor und welches danach passt. Im Konzert ist es noch einfacher als auf der CD, weil ich mir dort für den Übergang zum nächsten Stück (mit dem Titel »Stille«) ganz bewusst viel Zeit lassen kann. Ich hole da ein neues Instrument und lasse dem Publikum ausreichend Zeit für die entstandenen Gefühle. Diese Zeit braucht das Publikum – und ich brauche sie auch. Auf der CD ist das natürlich schwieriger – da kann man ja keine fünfminütige Pause aufnehmen. Also haben wir das Folgestück für die CD ganz anders beginnen lassen als im Konzert – behutsamer ohne den deutlichen Beat. H. M.: Gab es überhaupt irgendeine negative Reaktion auf das Stück – sei es nach einem Konzert oder als Reaktion auf die CD? B. W.: Nein – überhaupt nicht. Ich wusste ja auch nicht, wie die Reaktionen sein werden. Ich habe es einfach ausprobiert. Eigentlich geht es ja immer nur über das Ausprobieren – und dann weiß man es eben. H. M.: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf Ihr Familienleben – das Leben mit einer toten Schwester – mit Christine. In dem Lied heißt es an einer Stelle in Bezug auf Ihre Mutter: »Ich saß stundenlang auf ihrem Schoß. Sie hielt mich fest und sie ließ mich seitdem nicht mehr los.« Wie war dieses »nicht mehr loslassen« für Sie – als Kind – und heute?

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B. W.: Meine Mutter hat sich immer eine große sund zu werden.« Darauf sagte sie zu mir: »Das Familie gewünscht und hätte gerne viele Kinder stimmt, aber mit dem, was du machst, sorgst gehabt, am liebsten sechs – und nun war ich das du vielleicht dafür, dass manche gar nicht erst einzige lebende Kind. Da habe ich schon mit- krank werden.« unter das Gefühl gehabt, dass die ganze »Last« H. M.: Häufig werden Eltern nach dem Tod oder Verantwortung auf meinen Schultern liegt. eines Kindes sehr viel besorgter und ängstlicher Alle Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche gegenüber dem lebenden Kind. Hatte Ihre Mutwaren nun ja auf mich gerichtet. Meine Mutter ter oft Angst um Sie? hat sich, neben der Fürsorge für mich, dann aber B. W.: Bestimmt war sie besorgt. Aber da hatauch sehr in ihren Beruf gestürzt, den sie mit te sie mit mir auch Glück, da ich an den wirkLeidenschaft und in vorbildlicher Weise ausge- lich gefährlichen Dingen, wie Rauchen, Alkohol, übt hat. Vermutlich hat sie dadurch auch einiges Mopedfahren, selber nie großes Interesse hatte. kompensiert. Später war dann die Tatsache, dass Einmal hatte ich allerdings einen sehr schweren der Weg, den ich beruflich eingeschlagen habe, Unfall, da bin ich mit dem Snowboard in volzunächst nicht der war, den sie sich für mich ge- ler Fahrt gegen den Pfeiler eine Liftanlage gewünscht hätte, für sie nicht ganz einfach. Eine ballert. Da muss mein Schutzengel Verstärkung akademische, am liebsten megehabt haben, da dieser Unfall Es wird in unserer Gesell- in den meisten Fällen zum Tod dizinische Laufbahn wäre ihr schaft ja häufig versucht, zunächst sehr viel lieber geweoder zumindest zu einer Quersen. Aber sie hat es dann doch schnittslähmung geführt hätte. das Miterleben von Tod akzeptieren können und heute und Sterben vor allem von Ich bin dann sehr schnell mit ist sie schon sehr stolz auf mich Kindern fernzuhalten. Und dem Hubschrauber ins Kranund auf das, was ich da mache, die Frage ist, ob das gut ist. kenhaus geflogen worden, und wie auch mein Vater. Somit hat zum Glück konnte alles wieder sie mich dann schon von ihrem Schoß gelas- ordentlich zusammengeschraubt werden. Da sen – aber wir haben immer noch ein enges und war meine Mutter dann sehr schnell im Flugsehr gutes Verhältnis. zeug und ist in die Schweiz geflogen, um bei mir H. M.: Gab es auch Momente, in denen Sie sich zu sein. nicht ganz sicher waren, ob der Plan Ihrer Mut- H. M.: Glauben Sie, dass die frühe Konfrontater doch der bessere für Sie gewesen wäre? tion mit dem Tod Ihrer Schwester für Sie perB. W.: Ja klar, vor allem als ich versucht habe, sönlich Auswirkungen darauf hatte, wie Sie mit das Musikstudium mit einer inzwischen sehr späteren Verlusten umgegangen sind? Also die hohen Anzahl von Auftritten zu verbinden. Da Frage danach, ob Trauer kumuliert? gab es den Punkt, an dem ich mich vor einer B. W.: Das ist schwer zu sagen. Vielleicht ist es drohenden Überbelastung schützen musste und tatsächlich so, dass, wenn man einmal im Lemich dann dafür entschieden habe, ausschließ- ben mit so einem schweren Verlust konfrontiert lich Kabarettist zu sein. Aber gerade in Zeiten war, dass es einen dann bei späteren Verlusten des Zweifelns habe ich dann Unterstützung von nicht mehr so »kalt erwischt« – man nicht mehr meiner Mutter bekommen. So hat sie mir eines so überrascht ist. Es wird in unserer Gesellschaft der schönsten Komplimente gemacht, als ich ja häufig versucht, das Miterleben von Tod und mit allem haderte und zu ihr sagte: »Vielleicht Sterben vor allem von Kindern fernzuhalten. hätte ich doch lieber wie du Medizin studieren Und die Frage ist, ob das gut ist. Ich persönlich und Arzt werden sollen. Das ist so sinnvoll und glaube, wenn wir früh realisieren, dass der Tod man kann kranken Menschen helfen wieder ge- ein Teil des Lebens ist, hilft es uns, das Leben

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H e i n e r M e l c h i n g / B o d o Wa r t k e

mehr wertzuschätzen und manche Dinge nicht mehr als selbstverständlich hinzunehmen. H. M.: Gab es nach dem Tod von Christine, den Sie ja nicht unmittelbar miterlebt haben, weitere Konfrontationen mit dem Tod? B. W.: Während meines Zivildienstes im OP eines Krankenhauses bin ich das erste Mal direkt damit konfrontiert worden. Zwar waren meine Großeltern, die ich sehr mochte, bereits gestorben, aber da war ich nicht dabei, die habe ich zuletzt vor ihrem Tod gesehen. Und jetzt im Krankenhaus haben wir eine verstorbene Frau in den Keller gebracht und in den Kühlraum gelegt. Das war das erste Mal, dass ich einen toten Menschen gesehen und auch berührt habe. Das war zwar auch ein bisschen gruselig, hat mir aber doch in erster Linie Ehrfurcht und Respekt vor dem Leben beschert. Ebenso erging es mir bei der Arbeit im OP, wo ich zunächst befürchtete, dass ich das alles ganz ekelig finden würde, dann aber eher fasziniert und ehrfürchtig das »Wunder des Lebens« bestaunt habe. Ist doch schon verblüffend, was z. B. so eine simpel und schlicht wirkende Niere alles leistet. H. M.: Wenn Sie sagen, dass das Begreifen der Realität des Todes uns dabei hilft, das Leben

mehr wertzuschätzen, hat dann auch der Tod von Christine bei Ihnen einen solchen Effekt bewirkt? B. W.: Ich denke, das Entscheidende ist, was man mit seinen Erfahrungen macht. Alles, was mir im Leben widerfahren ist, Gutes wie Schlechtes, versetzt mich in die Lage, das zu tun, was ich mache, und der zu sein, der ich bin – und ich bin der, der ich bin. Ohne Christine hätte ich dieses Lied natürlich nie geschrieben – und vielleicht auch einige andere nicht. Oder ich hätte sie ganz anders geschrieben. H. M.: Haben Sie etwas von Christine gelernt? B. W.: Gute Frage. (Stille) Im Grunde ist es das, worüber wir ganz am Anfang sprachen, die Quintessenz des Liedes. Nur weil ein Mensch gestorben ist, ist er noch nicht weg. Oder wie in dem Lied, sie ist zwar nicht mehr hier, aber sie ist da. Und ich bin kein Einzelkind – ich bin nicht allein. H. M.: Lieber Herr Wartke, herzlichen Dank für dieses Gespräch. B. W.: Gerne. Bodo Wartke E-Mail: [email protected] www.bodowartke.de

Christine Ich erinner mich nicht mehr. Ich war noch zu klein. Ich war gerade einmal drei und der Ält’re von uns zweien. Drei Jahre scheint wie ein beträchtlicher Betrag zu dir im Vergleich, denn du wurdest nur einen Monat und einen Tag.

Dass es passieren würde, war im Grunde klar und von Anfang an absehbar, trotzdem brach es über uns herein wie eine Lawine. Ich hab dich nie gesehn, Christine.

L E I D FA D E N – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R

Heft 4 / 2012

Vo n Tr ä n e n – g e r ü h r t u n d n i c h t g e s c h ü t t e l t

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Als Mama an dem Tag nach Hause kam, nahm sie mich wortlos in den Arm und ich saß stundenlang auf ihrem Schoß. Sie hielt mich fest und sie ließ mich seitdem nicht mehr los. Man macht trotz aller Melancholie so gut es geht im Leben eben irgendwie zum bösen Spiel gute Miene, funktioniert wie eine Maschine, sucht Halt in Gestalt von alltäglicher Routine, wahrt die äuß’re Fassade, doch ist innerlich Ruine. Du fehlst uns, Christine. Ab und zu frag ich mich: was wäre wenn? Wie es wohl wär’, dich hier zu haben, wie es wohl wär’, dich zu kenn’. Was glaubst du, wie sehr wären wir einander gleich? Wo wärst du jetzt? Wie wärst du heute? Vielleicht hättest du die Dickköpfigkeit von unserem Vater oder machtest ab und zu genau wie ich Theater, höchst wahrscheinlich wärst du eine ziemlich flotte Biene, wie unsere Mutter früher, Christine. »Haben Sie Geschwister?«, werd ich manchmal gefragt. Nein, ich sei Einzelkind, hab ich früher immer gesagt. Dabei war das ja aber eigentlich gar nicht wahr: »Ich hab eine Schwester. Die ist zwar nicht mehr hier. Aber sie ist da.« Text und Musik: Bodo Wartke © Copyright 2012 Reimkultur Musikverlag GbR, Hamburg/Alle Rechte vorbehalten!

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Kinderbuchempfehlungen Lukas Radbruch

Roter Faden Kinderbücher zu Tod und Sterben, Bilderbücher zu Beerdigungen – geht denn so was? Auf den ersten Blick scheint es kein erfolgversprechendes Konzept für einen Buchverlag. Warum gibt es dann also eine zunehmende Zahl von Büchern für Kinder und Jugendliche, zum Lesen oder Vorlesen, zu diesem Thema? Vielleicht ist auch dies ein Erfolg der Hospizbewegung und eines tabuloseren Umgangs mit diesem Thema in der Gesellschaft. Allerdings sind diese Bücher nicht als Kochbücher geeignet, sie bieten keine einfachen Rezepte, und sie führen nicht dazu, dass nach dem Lesen die Trauer bei den Kindern und Jugendlichen einfach und schnell überwunden wird. Diese Bücher sind kein Kriseninstrument, das im Ernstfall aus der Werkzeugkiste genommen wird und dann die Probleme löst. Wenn solche Bücher aber unter den anderen Büchern im Bücherschrank im Kinderzimmer stehen und auch zum Lesen oder Vorlesen benutzt werden, dann können sie dabei helfen, dass der Umgang mit Tod und Sterben als normal empfunden wird. Eine umfassende Liste würde den Rahmen sprengen, aber wir möchten hier unsere persönlichen Favoriten vorstellen.

So wie du bist (Autor: Debi Gliori, Übersetzerin: Jutta Treiber), Originaltitel: No matter what, 32 Seiten, Verlag Betz, 1999, vom Hersteller empfohlenes Alter: 4 bis 5 Jahre, 12,95 Euro, ISBN: 9783219108026 Das liebevoll gemachte Bilderbuch erzählt die Geschichte vom kleinen Fuchs, der seine Mutter fragt, ob sie ihn denn auch lieb haben wird, wenn … Tod und Sterben wird in dem Kinderbuch gar nicht als Begriff genannt, aber die Botschaft, dass die Erinnerung und die Liebe der Eltern auch alle Krisen überdauert, kommt klar an. Besonders für die ganz Kleinen ist dies ein wunderbares Buch zum Vorlesen, das auch einen ganz behutsamen Einstieg in ein Gespräch über den Umgang mit Krankheit und Tod ermöglicht.

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 96–97, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

Kinderbuchempfehlungen

Die besten Beerdigungen der Welt (Autor: Ulf Nilsson, Illustratorin: Eva Eriksson, Übersetzer: Ole Könnecke), Originaltitel: Alla döda sma djur, 40 Seiten, Verlag Moritz, 2011, vom Hersteller empfohlenes Alter: 5 bis 7 Jahre, 13,95 Euro, ISBN: 9783895651748 Eine Geschichte von Freunden, die beim Spielen einen toten Maulwurf finden und ihn gern richtig beerdigen möchten. Und weil das so schön war, möchten sie gern noch eine Beerdigung machen und suchen noch mehr tote Tiere, egal ob Fliege, Käfer oder Vogel. Sie basteln sich einen richtigen kleinen Beerdigungskoffer. Beerdigungen als Kinderspiel – warum auch nicht? Besonders schön ist die überraschende Wendung am Ende.

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Hat Opa einen Anzug an? (Autorin: Amelie Fried, Illustrator: Jacky Gleich), 32 Seiten, Verlag Carl Hanser, 1997, vom Hersteller empfohlenes Alter: 4 bis 5 Jahre, 13,90 Euro, ISBN: 9783446190764 Im Gegenteil zu den anderen Büchern ist dieses Buch mehr wie eine Gebrauchsanweisung geschrieben. Was passiert eigentlich genau, wenn Opa gestorben ist? Warum tun die Erwachsenen diese komischen Dinge? Wie passt das alles zusammen? Dies Buch bietet einfache Erklärungen zu den Abläufen und Gebräuchen um Tod und Beerdigung. Beim ersten Mal Vorlesen kann das schon ein bisschen Überwindung kosten, aber viele Kindern haben schon eine Beerdigung erlebt, zumindest aus der Peripherie heraus, von Großeltern oder entfernteren Verwandten oder bei den Familien von Freunden und Klassenkameraden. Für sie bietet das Buch Erklärungen, die ihnen helfen, die Vorgänge zu verstehen.

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Praxistipp für die Arbeit mit Trauergruppen Scrabble mal anders

Peter Holz

Ich habe dieses Schreib- oder eher Wort-Spiel sowohl in Trauergruppen als auch in Fortbildungs-Workshops für Trauerbegleiter/-innen angewendet. Es eignet sich hervorragend für eine Gruppe, in der sich die Teilnehmer/-innen noch nicht so gut kennen. Ich stelle zwei Varianten vor. Sie brauchen: • pro Person einen dicken Filzstift, • reichlich Karteikarten (DIN A6), • etwas Platz auf dem Boden. Variante 1 Jeder Teilnehmer notiert auf jeder Karte möglichst groß einen Buchstaben des Vornamens des gestorbenen Menschen. Die Buchstaben werden dann untereinander auf den Boden gelegt. Die Teilnehmer bekommen eine bis drei Minuten Zeit, auf weitere Karteikarten Wörter zu schreiben, die mit einem Buchstaben des Vornamens beginnen und die sie mit dem gestorbenen Menschen assoziieren. Als Beispiel der Name meines 1974 gestorbenen Bruders FRANK: F reiheit R uhe A npassung N ähe K ummer Falls Sie es den Teilnehmern leichter machen wollen, können Sie folgende Vereinfachung anregen:

Die assoziierten Wörter müssen nicht unbedingt mit einem Buchstaben aus dem Vornamen des Verstorbenen beginnen. Es können auch Wörter sein, die in der Mitte einen Buchstaben des Vornamens haben. Beispiel: Unbegrei-F-lich Ersta-R-rt Gr-A-bstein Schweigen-N Peinlich-K-eit Sind alle Teilnehmer fertig mit dem Beschriften der Karten, sollten Sie wieder eine bis drei Minuten Zeit geben, so dass alle die Wörter der anderen lesen und darüber nachdenken können – und zwar ohne Wörter! Wird zu schnell gesprochen, kann das Sprechen die Stimmung zerstören und die Gefühle »verscheuchen«. Nach der Schweigephase können die Teilnehmer über die assoziierten Wörter berichten, die sie notiert haben, und möglicherweise die entstehenden Gefühle zur Sprache bringen. Je nach Stimmung in der Gruppe können sich die Teilnehmer auch über die Begriffe austauschen, die die anderen notiert haben. Variante 2 Diesmal wird jeder Buchstabe des Vor- und Nachnamens des Gestorbenen auf eine Karteikarte geschrieben. Die Teilnehmer legen gemeinsam aus den Buchstaben irgendwelche Wörter, dadurch entsteht aus den Namen der Verstorbenen etwas Neues. Um die Wörter zu

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 98–99, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

P r a x i s t i p p f ü r d i e A r b e i t m i t Tr a u e r g r u p p e n

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Je nach Stimmung in der Gruppe können sich die Teilnehmer auch über die Begriffe austauschen, die die anderen notiert haben.

legen, müssen sich die Teilnehmer untereinander austauschen und vielleicht mal hier um ein A bitten und dort mal ein O abgeben. Um den Anfang und den Spielverlauf zu erleichtern, können Sie als Leiter/-in ein Wort mit relativ vielen Buchstabenkarten hochkant legen, an das die Teilnehmer dann »andocken« können, etwa TRAUERWOCHENENDE. Ich habe den Teilnehmern immer auch je einen Joker zugesteckt, der für jeden beliebigen Buchstaben eingesetzt werden kann. Die Übung hat u. a. folgende Effekte: • kommunikativer Austausch: Die Teilnehmer kommen, vor allem bei der 2. Variante, automatisch miteinander ins Gespräch; • Gemeinsamkeit: Jede/r lernt einen Teil der Trauergeschichte der anderen kennen; • Fokussierung: Sie vermeiden ein Ausufern der Erzählungen, denn durch die Konzentration auf die Namen des Verstorbenen ist die Zahl der assoziierten Wörter begrenzt. Es fällt Ihnen somit leichter, allen Teilneh-

mern der Gruppe etwa gleich viel Raum zu geben. • Gefühle in Bewegung: Durch das Beschriften der Karten und das Auslegen auf dem Boden sind die Teilnehmer automatisch körperlich aktiv (aufstehen, umhergehen, sich bücken, schreiben). Durch die körperliche Bewegung kann innere Spannung abgebaut werden. Manchen Teilnehmern (aus meiner Erfahrung v. a. Männern) fällt es dadurch leichter, ihre jeweiligen Gefühle wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen.

Dr. Peter Holz hat Germanistik, Philosophie und Semiotik studiert. Er arbeitet als Schreibcoach und Kommunikationstrainer für Hochschulen und Universitäten sowie als Dozent für den Verein Verwaiste Eltern und Geschwister e.V. und die Initiative Regenbogen e.V. E-Mail: [email protected] Homepage (als Künstler): www.holzaufholz.de Homepage (als Schreibcoach): www.textfluss-bremen.de

K i n d e r u n d J u g e n d l i c h e – e i n Tr a u e r s p i e l

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Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., Alpha Rheinland, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn, E-Mail: [email protected] Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, Alpha Rheinland, Von-Hompesch-Str. 1, 53127 Bonn Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin der Universität Bonn, Von-Hompesch-Str. 1, 53123 Bonn; E-Mail: [email protected] Dr. Sylvia Brathuhn, Bundesverband für Frauenselbsthilfe nach Krebs e.V., Schweidnitzer Str. 17, 56566 Neuwied, E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Thorsten Adelt (Bonn), Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Markus Melchers M. A. (Bonn), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Eichenau) Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Phyllis Silverman (USA), Dr. Margret Stroebe (Niederlande) Redaktion: Karola Müller, 5 Dundridge Court, Flat 1, Dundridge Estate, Harberton, Totnes TQ9 7PP, Großbritannien, E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint 4-mal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresabezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. InstitutionenPreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 172,00, Einzelheftpreis € 19,95 D / € 20,60 A / SFr 26,90 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inclusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. www.vr-leidfaden.de Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen; Tel.: (0551) 5084-40, Fax: (0551) 5084-454 ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-80600-5 Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, 72127 Kusterdingen; Tel.: 07071/9353-16, Fax: 07071/9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck: Göttinger Tageblatt Mediengruppe, Druckhaus Göttingen Printed in Germany

Leidfaden, Heft 4 / 2012, S. 100–104, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 2192–1202

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Vorschau Heft 1|2013 Thema: Rituale – zwischen Pathos und Folklore

Ein Ritual zeigt mehr als 1000 Worte Rituale und Hirnforschung Rituale in Organisationen Wie sie Veränderungsprozesse unterstützen können

Heft 1 | 2013 | ISSN 2192-1202

Leidfaden

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Trauer als Initiationsgeschehen Ursprünge von Ritualen in der Kindheit Abwehr von Gefühlen der Angst und der Ohnmacht

»Du bleibst ein Teil von mir« Die Integration der Repräsentanzen des Verstorbenen

Rituale in der Begleitung Sterbender Verletzte Seelenanteile Die Gefahr von Ritualen bei Traumata

Handlungen der Trauer – Traumaprävention durch Rituale Rituale als Mittel zum Zweck

Rituale – zwischen Pathos und Folklore

Rituale – hilfreiche Begleiter in Übergangszeiten des Lebens

Lauter Schmerz – wohin mit dir?

Heilende Rituale

Dia de muertos

Erfahren in Stille – Erkennen aus Stille

Den Tod ansagen und anderes Vergessenes

In einer Zwiebel zur letzten Ruhe

Spazieren als Ritual: Der inneren Kompassnadel folgen lernen

Rituale – Kraftquelle oder Dekoration? Unsere Eltern bestimmen, wie wir trauern Die Bedeutung von Ritualen

Rituale in Bewegung als Ausdrucksmittel und heilsamer Anker Eva. Briefe mit Würfeln Miteinander gestalten

K i n d e r u n d J u g e n d l i c h e – e i n Tr a u e r s p i e l

Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen

Als Organ der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität e.V. (IGGS) hat die Zeitschrift die Verankerung von Spiritualität im Gesundheitswesen zum Ziel. „SPIRITUAL CARE“ erscheint 3x jährlich als Print- und Online-Ausgabe mit einem Umfang von ca. 96 Seiten – 2013 mit folgenden Themenheften:

• Heft 1: Spirituelle Anamnese • Heft 2: Spiritualität in der Kardiologie • Heft 3: Spiritualitäten und Psychotherapien Leser und Autoren der Zeitschrift sind Wissenschaftler und Praktiker aus Pflege, Medizin, Seelsorge, Psychotherapie, Sozialer Arbeit und anderen Gesundheitsberufen. Weitere Informationen finden Sie unter:

www.spiritual-care-online.de Wir freuen uns auf Ihren Besuch! Abonnement SPIRITUAL CARE (Online + Print-Ausgabe) zum Jahresbezugspreis von € 82,50 inkl. Versandkosten Preis für Studenten und Auszubildende gegen Bescheinigung € 64,– inkl. Versandkosten Einzelheft € 29,90 zzgl. Versandkosten

Für Mitglieder der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität e.V. (www.iggs-online.org) ist der Abopreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.

W.Kohlhammer GmbH 70549 Stuttgart Tel. 0711/7863-7280 · Fax 0711/7863-8430 [email protected] www.kohlhammer.de

Jo Eckardt

WOHNST DU JETZT IM HIMMEL? Ein Abschieds- und Erinnerungsbuch für trauernde Kinder 4. Auflage / 64 Seiten / gebunden mit zahlreichen farbigen Bildern € 14,95 (D) / € 15,40 (A) / CHF 21,90 ISBN 978-3-579-06807-7 Einfühlsam und unaufdringlich bietet Jo Eckardt Kindern ab etwa 8 Jahren Raum und Anregungen, sich kreativ mit dem Verlust auseinander zu setzen. Als eine Art Erinnerungsalbum ermöglicht dieser kindgemäß gestaltete Band, sich dem verstorbenen Menschen noch einmal zu nähern und einen Teil von ihr oder ihm im Herzen aufzubewahren.

W h

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Ab 28. Januar 2013 lieferbar

Ab 18. März 2013 lieferbar

Dada Peng

Stephanie Witt-Loers / Birgit Halbe

MEIN BUCH VOM LEBEN UND STERBEN

KINDERTRAUERGRUPPEN LEITEN

160 Seiten / mit 8-10 Illustrationen / gebunden € 14,99 (D) / € 15,50 (A) / CHF* 21,90 ISBN 978-3-579-06634-9

Ein Handbuch 256 Seiten / gebunden / mit CD-ROM € 24,99 (D) / € 25,70 (A) / CHF 35,50 ISBN 978-3-579-06845-9

Dada Peng, Chansonnier und Songwriter, Moderator und ehrenamtlicher Mitarbeiter und Unterstützer eines Hospizes hat der frühe Krebstod seiner Eltern zu einer intensiven Auseinandersetzung mit demThema Sterben animiert – und zwar auf eine unkonventionelle, packende und bereichernde Weise. Mit seinem »buch vom leben und sterben« will er – besonders jungen Menschen – Trost spenden und Denkanstöße geben.

Welche Grundsätze und Rahmenbedingungen sind bei der Trauerarbeit mit Kindern wichtig? Wie wird gestaltet man eine Stunde in der Kindertrauergruppe? Dieses einzigartige Handbuch beantwortet solche Fragen umfassend und praxisorientiert. Darüber hinaus erschließt es grundlegende Aspekte und Rahmenbedingungen der weitergehenden Arbeit mit Eltern bzw. anderen Bezugspersonen trauernder Kinder.

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