Geld und Leid – das leidige Geld. Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Trauer: Leidfaden 2016 Heft 02 [1 ed.] 9783666806148, 9783579086347, 9783525402672, 9783579082202, 9783579086316, 9783525806142

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Geld und Leid – das leidige Geld. Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Trauer: Leidfaden 2016 Heft 02 [1 ed.]
 9783666806148, 9783579086347, 9783525402672, 9783579082202, 9783579086316, 9783525806142

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5. Jahrgang  2 | 2016 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Geld und Leid – das leidige Geld Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Trauer

David Roth Der Tod kostet

mehr als das Leben, er kostet Geld  Ansgar ­Belke Depression und Trauer als Folge von Wirtschafts- und Finanzkrisen  Deniz Utlu »­Emotionale Trauer« oder »ökonomische Trauer«?  Christoph Radbruch und

Ulrike ­Petermann Hospize und

Trauer als Spendenmarkt  Barbara Djaja Trauerbegleitung – am Leid der anderen Geld verdienen

*empf. Verkaufspreis

Trauer kommt in jedes Leben – doch sie muss nicht ausschließlich Krise bedeuten

Antje May MASCHA, DU DARFST STERBEN Wenn der Tod Erlösung ist 192 Seiten / gebunden mit Schutzumschlag € 16,99 (D) / € 17,50 (A) / CHF* 22,90 ISBN 978-3-579-08634-7

Monika Müller / Matthias Schnegg

Unwiederbringlich Von der Krise und dem Sinn der Trauer

Antje Mays Buch ist der berührende Nachlass einer Mutter, die die Zeit der Begleitung ihrer komatösen Tochter dokumentiert sowie den schwierigen Entscheidungsprozess, diese letztendlich aufzugeben. In der aktuellen Debatte um die Sterbehilfe liefert Antje May nachdenkenswerte Impulse und Anregungen.

2016. Ca. 176 Seiten, kartoniert ca. € 13,– D / € 13,40 A ISBN 978-3-525-40267-2 Erscheint im August 2016

Dass durchlittene Trauer nicht nur die Erfahrung abgrundtiefer Erschütterung sein muss, sondern – irgendwann – das Leben reicher und tiefer machen kann, zeigt dieses Hoffnung machende Buch auf einfühlsame Weise. Trauer als Ausdruck eines schwerwiegenden Verlustes ergreift den ganzen Menschen. Seele und Körper sind gleichermaßen erschüttert. Alles scheint aus den Fugen geraten zu sein. Und diejenigen, die um die Trauernden sind, haben oft Mühe, angemessen zu reagieren. Den Betroffenen, aber auch Außenstehenden erscheint das Trauern oft als verlorene Zeit und nicht als Chance, neue Lebenswirklichkeiten zu entdecken. Letztlich geht es darum, die Erinnerung an den geliebten Menschen konstruktiv-kritisch in das eigene Leben einzufügen. Monika Müller und Matthias Schnegg nutzen ihre langjährige professionelle Erfahrung in der Begleitung von Sterbenden und Trauernden für dieses Buch, das sie sowohl für Trauernde als auch für deren Angehörige, Freunde, Kollegen, Nachbarn geschrieben haben.

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

www.v-r.de

Die engagierten Bestatter Nicole Rinder und Florian Rauch bieten in ihrem Praxis-Ratgeber ganzheitliche Ansätze, um die Zeit der Trauer individuell zu begehen. Für Angehörige, Trauerbegleiter und Menschen, deren Tod bevorsteht und die ihr »letztes Fest« aktiv mitgestalten möchten.

Sterbehilfe – Trauerrituale – Nahtoderfahrungen Herbert Koch GOTT WOHNT IN EINEM LICHTE ... Nahtoderfahrungen als Heraus-forderung für die Theologie 144 Seiten / gebunden € 16,99 (D) / € 17,50 (A) / CHF* 22,90 ISBN 978-3-579-08220-2 Herbert Koch beschreibt das Phänomen Nahtoderfahrungen und skizziert den Stand der Forschung. Er zeigt, dass schon in der Bibel von ähnlichen Phänomenen die Rede ist, und macht schließlich deutlich, auf welche Fragen die Theologie eine Antwort geben muss, wenn das Bewusstsein mit dem Tod nicht endet. Ein hochspannendes und theologisch berührendes Buch.

Alle auch als E-Book erhältlich

Leidfaden_2016_2_140x230_mit_08634_08631_08220.indd 1

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Florian Rauch / Nicole Rinder DAS LETZTE FEST Neue Wege und heilsame Rituale in der Zeit der Trauer 176 S. / mit zahlr. farbigen Abb. / Klappenbr. € 16,99 (D) / € 17,50 (A) / CHF* 22,90 ISBN 978-3-579-08631-6

GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

www.gtvh.de 29.03.2016 14:41:49

12.04.16 12:05

EDITORIAL

Geld und Leid – was für eine Kombination! Manche würden wohl »Geld und Freude« für eine ebenso gelungene Titelkombination halten. Doch es ist ja sprichwörtlich, dass Geld allein nicht glücklich macht (wenn auch Zyniker sagen, dass es einem zumindest erlaubt, sich sein Unglück auszusuchen). Und unser Journal befasst sich ja per definitionem mit Krisen, Leid und Trauer. Bei unseren Überlegungen, wo überall eine Beziehung zwischen Geld und Leid bestehen könnte, einigten wir uns auf drei wesentliche Bereiche: Wenn jemand stirbt, entstehen Kosten: Kosten für die Bestattung, sei es für das Bestattungsinstitut und seine oft differenzierten Angebote (siehe den Artikel von David Roth), für einen Friedhofsplatz zur Erdbestattung, für ein Urnengrab oder in jüngerer Zeit sogar für die Herstellung eines Diamanten aus der Asche des Verstorbenen (siehe den Artikel von Eva Kersting-Rader). Dass die manchmal enormen Kosten auch zu Überlegungen nach Einsparungsmöglichkeiten führen, zeigt das Angebot sogenannter Discount-Bestatter (siehe den Artikel von Karl Steenebrügge). Die Verlagerung der Beerdigung in andere Länder – nicht nur als Teil der Begräbniskultur, sondern auch aus Kostengründen – schildert Haluk Yildiz am Beispiel der Türkei. Auch in der Hospizversorgung spielen finanzielle Gesichtspunkte zunehmend eine Rolle, Hospiz- und Palliativversorgung wird (auch) zu einem Geschäft. Mit der Situation in den USA hierbei beschäftigt sich Holly Young und mit dem Kampf um Spenden Christoph Radbruch. Die Einwerbung von Vermächtnissen aus Testamenten wird in Deutschland als unüblich, vielleicht sogar als zu weitgehend gesehen werden, aus England berichtet Particia Kelham, dass dies ein ganz normaler Teil des Fundraising für das St Christopher’s Hospiz ist.

Wenn jemand für die Bewältigung seiner Trauer professionelle Hilfe wünscht oder braucht, können erneut Kosten entstehen. Wie weit kostenlose oder mit Kosten verbundene Trauerberatung sinnvoller ist, beleuchtet Barbara Djaja. Der zweite Aspekt im Zusammenhang von Geld und Leid liegt in individuellen finanziellen Krisen. Ein Beispiel hierfür ist die Spielsucht mit ihren psychosozialen Folgen (siehe den Artikel von Werner Gross). Aber auch die Auswirkung des Todes eines Kindes und eine anschließende Depression der Eltern, Arbeitslosigkeit, finanzielle Verarmung, Scheidung sind Gegenstand von Untersuchungen (siehe den Artikel von Arnold Langenmayr). Der eher makroökonomische Aspekt hat besonders nach 1929 in Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise Interesse auf sich gezogen. Welche Auswirkungen generelle ökonomische Krisen (Depressionen) auf das Leben des Einzelnen bis hin zu depressiver Erkrankung, Suizid und so weiter haben können, beleuchtet Ansgar Belke, speziell bezogen auf Griechenland tut dies Danai Papadatou. Eine generell skeptische Sicht auf die westliche kapitalistische Gesellschaft und ihre übermäßige Fixierung auf Geld bietet Arno Gruen. Der leider vor kurzem verstorbene Arno ­Gruen liefert damit auch ein eindruckvolles Plädoyer für unsere gesellschaftliche Verpflichtung, die Schwächeren in der Gemeinschaft nicht in ihrem Leid alleine zu lassen.

Arnold Langenmayr

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Lukas Radbruch

Inhalt 1 4 18 Ansgar Belke | Depression und Trauer als Folge von Wirtschafts- und Finanzkrisen

9

Editorial David Roth Der Tod kostet mehr als das Leben, er kostet Geld Haluk Yildiz Der ökonomische Aspekt beim Umgang mit Tod und Sterben im Islam

13 18

Karl Steenebrügge Tief versenkt – halb geschenkt? Ansgar Belke Depression und Trauer als Folge von Wirtschafts- und Finanzkrisen

26

Danai Papadatou Die Wirkung der Griechenlandkrise auf die Hinterbliebenen – eine Betrachtung

34 36

Eva Kersting Diamonds are forever Arnold Langenmayr Sozialökonomische Krise als Folge des Verlusts eines Kindes

36 Arnold Langenmayr | Sozialökonomische Krise als Folge des Verlusts eines Kindes

43 Edgar Drückes Stationäre Hospizarbeit

41

Deniz Utlu »Emotionale Trauer« oder »ökonomische Trauer«?

84  Aus der Forschung | Schottland: Wie wirken sich Verluste wirtschaftlich aus?

43 49 55 59

Edgar Drückes Stationäre Hospizarbeit Holly Yang Hospiz in den USA Christoph Radbruch und Ulrike Petermann Hospize und Trauer als Spendenmarkt Philippa Kelham Erbschaftsspenden am St. Christopher’s und ein Leitfaden zum Spendensammeln durch Erbschaften

63

Arno Gruen Empathie versus Kognition: Die Spaltung unseres Bewusstseins

72

Sylvia Brathuhn und Caroline Mohr Frauenselbsthilfe nach Krebs – ein Verein ohne Mitgliedsbeiträge?

77 81

Werner Gross Rien ne va plus – oder: Wer spielt, verliert sich … Barbara Djaja Trauerbegleitung – am Leid der anderen Geld verdienen

84

Aus der Forschung: Schottland: Wie wirken sich

87

Fortbildung: Umgang mit Entscheidungsträgern



91

95

Verluste wirtschaftlich aus?

Nachrichten Vorschau

96 Impressum

63 Arno Gruen | Empathie versus Kognition: Die Spaltung unseres Bewusstseins

4

Der Tod kostet mehr als das Leben, er kostet Geld David Roth Wirtschaftsleben, einen legitimen Anspruch auf Gewinne haben. Die Frage ist nur: Welche Leistungen erbringt ein Bestatter und was kosten diese Leistungen? Und ist der Preis angemessen oder wird da mit dem Leid der Menschen Reibach gemacht? Jeder seriöse Bestatter wird diese Fragen aufrichtig beantworten. Man sollte allerdings nicht erst anfangen sie zu stellen, wenn der Trauerfall da ist. Stirbt ein Mensch, dann leiden die Hinterbliebenen und sie müssen auch noch dafür bezahlen, dass der Tote unter die Erde gebracht wird. Es gibt Angehörige, die den Abschied als doppelte

© 2016 Pütz-Roth

Der Tod eines geliebten Menschen ist immer ein Schock. Auch wenn der Vater oder die Mutter lange krank waren, wir können uns nicht vorstellen, dass unsere Lieben sterben, bis es dann passiert. Tod und Trauer sind unberechenbare Größen in unserem durchökonomisierten Leben und vielleicht tun wir uns deshalb so schwer damit. Die meisten Menschen sind vom Tod entfremdet und genau deshalb ist es nötig, offen darüber zu reden, auch über die ökonomische Seite des Sterbens. Bestattungsunternehmen sind ­kommerzielle Betriebe, die nicht nur kostendeckend arbeiten müssen, sondern die, wie alle Teilnehmer am

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 4–8, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

D e r To d k o s t e t m e h r a l s d a s L e b e n , e r k o s t e t G e l d    5

Belastung empfinden. Dafür habe ich VerständEs geht es nicht darum, einen Sarg auszusunis. Hier hilft Transparenz. chen. Es geht darum, gemeinsam herauszufinWas tut ein Bestatter eigentlich? Wir laden die den, was Trauernde wollen, was ihnen gut tut. Wir Menschen bei uns im Haus der menschlichen Be­ bieten keine Konzepte an, weil es keine Schublagleitung in Bergisch Gladbach dazu ein, hinter den für den Tod geben kann. Wir bieten Begleidie Kulissen zu schauen. Wir holen die Toten tung an, die sich ganz diesem einen Menschen ab, wir waschen sie, kleiden sie ein und betten widmet, der versucht den Tod zu verstehen. Der sie in den Sarg. Bei uns bieten wir Räume zum Abschied ist ein besonderer Tag. Da muss der Abschiednehmen an. Die Trauernden können so kommerzielle Hintergrund ganz weit zurückviel Zeit mit den Toten verbringen, wie sie wol- rücken und mit ihm alle Regeln. Üblicherweise len, bis sie eben bereit sind loszuglaubt man ja, dass Trauernde beDer Abschied ist ein lassen. Wir organisieren Trauervormundet werden müssen, an die besonderer Tag. feiern, schalten Todesanzeigen, Hand genommen und geführt. Das Da muss der betten den Sarg in die Erde und ist nicht so. Trauernde sollen im bieten Begleitung für Trauernde Gegenteil ermutigt werden, nicht kommerzielle an, wenn sie es wünschen. All das Hintergrund ganz weit das zu tun, was sie müssen, sonkönnen wir! Aber niemand muss zurückrücken und mit dern das, was sie möchten. Wir hödiese Leistungen bei uns kaufen. ren zu: Was hat den Verstorbenen ihm alle Regeln. Unsere Beratungsgespräche beausgemacht? Wir ermuntern: Tun ginnen immer damit, dass wir den Leuten klar- Sie nichts, weil es sich angeblich so gehört. Wamachen, dass kein Zeitdruck herrscht, dass bei rum nicht etwas selber machen? Liebe kann man uns im Haus nicht nur Raum für ihre Toten ist, nicht delegieren. sondern auch Raum für ihre Trauer. Es geht darum, Gemeinschaft zu erzeugen, Leider nutzen manche Bestatter die Not der die Hinterbliebenen dürfen nicht die AlleingeTrauenden aus, um Totenhemden, Messingbe- bliebenen sein. Gemeinsam setzen wir uns dafür schläge und teure Eichensärge zu verkaufen. In ein, persönliche Vorstellungen zu verwirklichen. den Gesprächen geht es dann fast nur um Kosten Angeblich unumstößliche Regularien kann man für Anzeigen, Blumengestecke, Särge und Grab- hinterfragen – zum Beispiel ist es durchaus mögstellen. Es wird suggeriert, dass Liebe und Wert- lich, dass ein Verstorbener mehr als 36 Stunden schätzung sich in den Ausgaben für die Beerdi- zu Hause bleibt, damit man ausreichend gemeingung widerspiegeln müssen. Das ist eine Form same Zeit hat. von modernem Ablasshandel und natürlich völSie sollten wissen, dass sie auch beim Bestatliger Unsinn. ter die Wahl haben und woraus sie auswählen Liebe und Wertschätzung lassen sich nicht können. Der Wert eines geglückten Abschieds in Euro ausdrücken. Niemand sollte sich durch ist nicht in Geldeinheiten messbar. Je persönliVerwandte und Bekannte ‒ und schon gar nicht cher sie den Abschied gestalten, je mehr sie auf durch Bestatter – unter Druck setzen lassen, eine ihr Herz hören, desto besser. Ich habe manchmal pompöse Trauerfeier auszurichten und den Ver- den Eindruck, die Leute warten darauf, dass ihstorbenen im Luxussarg zur letzten Ruhe zu bet- nen jemand die Erlaubnis gibt, auf ihre Gefühten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn einem le zu hören. Wir tun das und dafür stellen wir Trauernden nach dieser Art Beerdigung ist und nichts in Rechnung. man darin Erfüllung findet, kann man das alles Wir müssen im Alltag funktionieren und effiziso in die Wege leiten. Nur sollte man sich nicht ent sein. Stirbt ein Angehöriger ersten Grades, beeinreden lassen, dass müsste so sein. kommen wir vom Arbeitgeber zwei Tage Urlaub,

Geld und Leid – das leidige Geld

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keine perfekten Vorträge sein. Das schlagen wir den Trauernden vor. Wir forcieren auch nicht den Kauf eines teuren Sarges. Wir raten dazu, einen preiswerten Holzsarg zu nehmen und ihn selbst zu gestalten, so dass ein Unikat daraus wird, ein Unikat wie der Mensch, der darin liegt. Auch wenn man die Gestaltung des Sarges nicht in die Hand nehmen will oder kann, kann man vieles selbst entscheiden. Man kann die Kleidung für den Toten aussuchen, und zwar im eigenen Kleiderschrank. Niemand muss ein Totenhemd kaufen. Kissen und die Decke für den Sarg können aus dem Wohnzimmer stammen. Auch schlagen wir den Trauernden vor, beim Waschen der Toten dabei zu sein und sie selbst in ihrer Lieblingskleidung einzukleiden und dann in den Sarg zu betten. Früher war es selbstverständlich, dass Angehörige diese Aufgaben übernahmen. Waschung und Einkleidung waren Rituale, die dabei halfen, den Tod zu begreifen im wahrsten Sinne des Wortes durch das Anfassen des Leichnams. Diese Rituale waren ein letzter Liebesdienst. Heute verschwinden die Toten häufig mit dem Erscheinen der Bestatter, die viel zu oft dazu raten, den Toten so in Erinnerung zu behalten, wie er war. Einen Toten nach bestem Wissen und Gewissen zu versorgen, kann sehr tröstlich sein. Wir raten den Hinterbliebenen, einige Zeit am offenen Sarg zu sitzen und sehr persönlich Abschied zu nehmen. Die Trauerden können jederzeit zu uns kommen und ihre Toten sehen, ohne dass dafür Kosten entstehen. Auch im Krankenhaus lassen wir uns nicht vorschreiben, wann wir zu Besuch kommen dürfen. Warum sollten wir das beim Abschiednehmen zulassen? Zu überlegen, wie man gern behandelt werden will und wie ein in© 2016 Pütz-Roth

so hat es der Gesetzgeber geregelt. Natürlich ist das viel zu wenig Zeit. Zeit ist unsere kostbarste Ressource und wir sollten sie uns nehmen, wenn jemand gestorben ist. Wir können einem Toten nichts Gutes mehr tun, aber wir können für uns etwas sehr Wertvolles gewinnen, wenn wir auf unsere Wünsche hören, wenn wir die Trauer annehmen und nicht versuchen, die Situation möglichst schnell hinter uns zu bringen. Natürlich kann man alles an den Bestatter delegieren und viele Bestatter drängen darauf, ihre ganze Angebotspalette in Anspruch zu nehmen, und viele Trauernde buchen gern vermeintlich günstige Angebote, auch weil sie nichts über die Branche wissen und auch gar nicht wissen wollen. Wir nehmen davon Abstand. Natürlich können auch wir einen hochprofessionellen Trauerredner vermitteln, doch bevor wir das tun, ermuntern wird dazu, selbst in der Trauerhalle oder am Grab ein paar Worte zu sagen. Wäre es nicht schön und heilsam, wenn jeder Anwesende ein paar Erinnerungen erzählen würde, das müssen

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fach einstellt. Wenn die Beerdigung vorbei ist, die Gäste wieder abgereist sind und man dann plötzlich allein dasteht, dann stellen sich nicht selten Gedanken ein, wie: »Eigentlich hätte ich mir den Abschied ganz anders vorgestellt.« Gute Bestatter helfen dabei, sich diese Gedanken vorher zu machen. Es gibt Bestatter, die sehr günstig sind und sehr gute Arbeit leisten, und es gibt Bestatter, die sehr teuer sind und ihr Geld nicht wert. Preise vergleichen hilft oft nicht weiter, weil der Wert der Leistung oft nicht vergleichbar ist. Hinsehen hilft. Aber bitte nicht erst hinsehen, wenn der Trauerfall eingetreten ist. Bei guten Bestattern kann man jederzeit hinter die Kulissen schauen, sie sind Teil der Gemeinde, fördern die Gemeinschaft durch Veranstaltungen und nehmen am Leben teil. Der anonyme Billigbestatter aus dem Internet wird sich nicht in die Karten schauen lassen. Billig bedeutet, dass man nicht jederzeit überprüfen kann, wie mit dem verstorbenen Angehörigen umgegangen wird.

© 2016 Pütz-Roth

dividueller Abschied aussehen könnte, ist an dieser Stelle der beste Rat, den ein Bestatter geben sollte. Tut er das nicht, sollte man darüber nachdenken, das Bestattungsunternehmen zu wechseln. Diese Rituale haben einen ökonomischen Aspekt. Durch das Selbermachen lassen sich die Kosten senken. Wir sollten aufhören, die Bedeutung dieser alten Rituale zu unterschätzen. Perfekte Särge, aufwendig gestaltete Traueranzeigen und übergroße Blumengestecke helfen in der Regel nicht weiter. Im Leben mag es möglich sein, für Bedeutung zu bezahlen. Der Tod ändert das. Bedeutsamkeit kann man an dieser Stelle nicht kaufen. Setzen Sie sich ein paar Stunden an den offenen Sarg, lassen Sie den Augenblick auf sich wirken. Anfängliche Angst wird schnell vergehen und Erinnerungen weichen. Lassen Sie Gefühle zu. Was spürt man im Angesicht des Todes? Trauer, Wut, aber auch Freude über die gemeinsam verbrachten Stunden. Diese Erfahrungen sind sehr kostbar, sie lehren uns, dass auch unsere eigene Lebenszeit begrenzt ist und wir sorgfältig mit ihr umgehen sollten. Vielleicht sorgfältiger, als wir das bisher getan haben. Was ist eine solche Erfahrung wert? Sie lässt sich nach ökonomischen Gesichtspunkten nicht bewerten. Unser Ziel ist es, den Menschen, die zu uns kommen, diese Erfahrungen zu ermöglichen. Die Ökonomie zwingt uns dazu, über Preise nachzudenken, zu vergleichen und zu verhandeln. Sollten wir nicht eher über Werte nachdenken? »Die Zeit heilt alle Wunden«, diesen Satz hört man oft nach Beerdigungen. Noch häufiger ist dieser Satz: »Das Leben geht weiter.« Ja, man kann das so sehen. Man sollte sich aber nicht darauf verlassen, dass Trost etwas ist, was sich irgendwann in der Zukunft ein-

Geld und Leid – das leidige Geld

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Ein guter Bestatter ist daran zu erkennen, dass immer am Bett vorgesummt hat. Diesen Moment er Zeit gibt, darüber nachzudenken, was für den werden wohl alle für immer in guter Erinnerung Trauernden bedeutsam ist. Die willkürliche Gren- behalten. ze von 36 Stunden wird er ignorieren, wenn er Der Trend, anonym zu bestatten, ist zum Glück wünscht, länger mit seinem verstorbenen Ange- rückläufig. Viele dieser Beerdigungen wurden übhörigen zusammen zu sein. Auch muss ein Toter rigens rückgängig gemacht, da die Menschen genicht in Wochenfrist unter die Erde gebracht wer- spürt haben, dass ein Grab als Erinnerungsplatz den. Ein guter Bestatter wird Mut machen, einen ihnen gut tun würde. Niemand muss heute mehr eigenen Weg für den Umgang mit der Trauer zu aus Kostengründen auf ein Grab verzichten, denn finden. auch die anfallenden Folgekosten lassen sich beEr wird auch zur Seite stehen, wenn Wünsche grenzen. von der Friedhofsordnung oder von den VorstelFolgender Gedanke kann bei der Planung einer lungen der Behörden abweichen. Der Abschied Beerdigung helfen, sich für das Richtige zu entvon einem Toten ist ein unwiederbringlicher Mo- scheiden. Das Richtige ist in jedem Fall eine inment. Lassen Sie sich nicht mit einem 45 Mi- dividuelle Entscheidung. Es gibt keine goldene nuten-Slot in der örtlichen Trauerhalle abspei- Regel und keinen Mittelweg. Wichtig ist, sich sen. Gestalten Sie die Trauerfeier rechtzeitig zu informieren, zu wisIm Leben mag es selbst, je persönlicher, desto bessen, was möglich ist, und zu entmöglich sein, für ser. Vielleicht hilft der Gedanke, scheiden, was man will. eine Trauerfeier wie einen letzten Bedeutung zu bezahlen. Betrachten Sie die Trauerfeier Geburtstag zu feiern, mit Anspraals letztes Geschenk des Toten an Der Tod ändert das. chen, Anstoßen und zwanglosem seine Familie und Freunde. MenBedeutsamkeit kann Zusammensein. schen kommen zusammen, die man an dieser Stelle Teilweise ist das zur Verfügung sich viele Jahre nicht gesehen hanicht kaufen. stehende Geld nach einer langen ben. Sie erinnern sich an die schöPflegephase aufgebraucht. Wir leben immer län- nen und traurigen Stunden des Lebens mit dem ger und am Ende wird häufig, koste es, was es Verstorbenen, weinen und lachen zusammen, wolle, an der Lebenserhaltung gearbeitet, auch spüren Gemeinschaft und Zusammengehörigwenn ein würdiger, selbstbestimmter Tod viel- keit. Und sie werden daran erinnert, dass unsere leicht das bessere Schicksal gewesen wäre. Ver- Lebenszeit begrenzt ist und wir sie sinnvoll nutständlich, dass die Angehörigen jetzt bei der Be- zen sollten. erdigung versuchen, die Kosten gering zu halten. Eine berührende Beerdigung ist keine Frage David Roth, geboren 1978, Bestatter des Geldbeutels. Dem Toten kann man materiell und Trauerbegleiter, Diplom-Betriebswirt; Ausbildung zum Trauerbegleiter nichts Gutes mehr tun. Man kann für sich selbst bei Jorgos Canacakis. Nach dem Tod und für die Freunde und Verwandten einen beseines Vaters Fritz Roth übernahm er dessen Platz in der Geschäftsleitung des deutsamen Erinnerungsmoment schaffen, der Bestattungshauses Pütz-Roth. Er hält nichts mit teurem Blumenschmuck oder einer Vorträge über die Themen Sterben, Tod und Trauer und leiEinladung zu einem opulenten Leichenschmaus tet Seminare in der dem Haus angeschlossenen »Privaten zu tun haben muss. Es geht um eine liebende Ges- Trauerakademie Pütz-Roth«. Mit seiner Lebenspartnerin hat er vier kleine Kinder. te wie zum Beispiel ein gemeinsam gesungenes E-Mail: [email protected] Lied. Bei uns haben mal die Enkelkinder einer Verstorbenen am offenen Sarg das Schlaflied gesungen, das ihre Oma ihnen in früher Kindheit

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Der ökonomische Aspekt beim Umgang mit Tod und Sterben im Islam Haluk Yildiz »Wir kommen von Allah und kehren zu IHM zurück.« Dieser Koranvers wird als Trost an Hinterbliebene ausgesprochen, wenn ein Muslim verstirbt. Laut einer Überlieferung des Propheten Mohammed sollten Muslime dort beigesetzt werden, wo sie gelebt und gearbeitet haben. Der Prophet und seine Gefährten wurden bis auf wenige Ausnahmen auch immer dort beigesetzt, wo sie verstorben sind. Denn die ganze Erde, ja sogar das ganze Universum ist Gottes Eigentum, der Mensch ist nur ein Treuhänder auf Erden. Daher kann der Mensch überall begraben werden, weil die ganze Erde gleichwertig ist und es keinen Unterschied macht, wo man begraben wird. Wichtig für einen Muslim ist, dass die Hinterbliebenen bestimmte religiöse Gebote bei der Bestattung einhalten beziehungsweise erfüllen. Für Hinterbliebene, deren Angehörige fern der Heimat sterben, ist es sowohl von größerer Bedeutung als auch erheblich schwieriger, diese Pflichten zu erfüllen, zumal ein Todesfall im Ausland für Angehörige stets mit viel Kummer und Schmerz verbunden ist. Die Aufgaben, die auf Hinterbliebene zukommen, deren Bruder oder Schwester im Glauben in einem »fremden« Land mit einer anderen Sprache und einer anderen Religion verstirbt, lassen sich in folgenden drei Punkten zusammenfassen: • religiöse Pflichten • Formalitäten mit Ämtern und Behörden • rechtliche Angelegenheiten Die Erledigung all dieser Aufgaben und Formalitäten erfordert Geschick, Spezialkenntnisse und

Erfahrungen. Wer darüber nicht verfügt, kann diese Aufgaben nur mit großen Schwierigkeiten bewältigen. Gerade für Hinterbliebene in der Fremde ist es jedoch umso schwieriger, sich um all diese Angelegenheiten in einer Zeit kümmern zu müssen, in der sie sich in tiefster Trauer über den Verlust eines Angehörigen befinden. Laut Schätzungen leben in Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Der Großteil von ihnen wird nach dem Tod zur Beisetzung in sein Heimatland überführt. Welche Gründe gibt es dafür? Hauptsächlich sind es emotionale Gründe, warum Muslime ihren verstorbenen Angehörigen zur Beisetzung in ihr Heimatland überführen lassen, obwohl mittlerweile ausreichend Möglichkeiten für islamische Beisetzungen in Deutschland existieren.

Bei einem Sterbefall beauftragen islamische Sterbekassen für die Überführung und Formalitäten naheliegende Bestattungsfirmen, die in diesem Bereich erfahren sind.

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 9–12, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Viele Muslime haben in ihrem Heimatort Familiengrabstätten, auf denen die meisten Familienmitglieder beigesetzt werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen Muslime auf einem islamischen Friedhof in Deutschland beigesetzt werden. Insbesondere ist es der Fall, wenn zum Beispiel Verstorbene keine Angehörigen in Deutschland haben oder Kinder vor ihren Eltern sterben und die Eltern ihr verstorbenes Kind regelmäßig besuchen möchten. Ein weiterer wichtiger Aspekt, warum Muslime ihren verstorbenen Angehörigen zur Beisetzung in ihr Heimatland überführen lassen, ist ein finanzieller. Eine Überführung ist zumeist wesentlich günstiger als eine Beerdigung in Deutschland. Es gibt in Deutschland mehrere von Muslimen eingerichtete Bestattungskostenunterstützungskassen, die eine spezielle Bestattungsvorsorge für Muslime in Deutschland anbieten. Sie funktionieren wie Versicherungen auf Gegenseitigkeit, also nach dem Solidaritätsprinzip. Die Bestattungskostenunterstützungsvereine sind religiöse Hilfsgemeinschaften für die in Deutschland lebenden Muslime. Um im Sterbefall den Hinterbliebenen sowohl finanziell als auch mit Erfahrung Beistand zu leisten und um zu sichern, dass ein Muslim/eine Muslima nach islamischem Ritus bestattet wird, wurden diese, zumeist von größeren islamischen Dachverbänden, als Hilfs- und Solidaritätsorganisationen ins Leben gerufen. Wie in einem Verein stellt man dort einen Antrag auf Mitgliedschaft. Für die Mitgliedschaft gibt es folgende Bedingungen: 1. Der Antragsteller muss muslimischen Glaubens sein. 2. Er muss im Besitz einer mindestens auf ein Jahr befristeten Aufenthaltserlaubnis sein und seinen Wohnsitz in Deutschland haben. 3. Er muss den Aufnahmeantrag ausfüllen und eine einmalige Aufnahmegebühr zahlen. Diese richtet sich nach der ältesten Person auf dem Aufnahmeantrag.

4. Zahlung eines  jährlichen Unkostenbeitrags zum jeweils angegebenen Zeitpunkt. Dieser liegt im Durchschnitt bei ca. 50 bis 60 Euro pro Familie, also für das Ehepaar, die Kinder bis 18 Jahre und bei manchen Kassen auch für studierende Kinder bis zum 27. Lebensjahr. Bei einem Sterbefall beauftragen islamische Sterbekassen für die Überführung und Formalitäten naheliegende Bestattungsfirmen, die in diesem Bereich erfahren sind. Diese bieten den Hinterbliebenen für diese schweren Stunden Beistand an und stehen ihnen mit ihrem Team aus gut ausgebildeten, erfahrenen und einfühlsamen Mitarbeitern zur Verfügung. In Anatolien war es stets guter Brauch, den Angehörigen in Sterbefällen mit aller gebotenen Einfühlsamkeit beizustehen, sich mit um die Beerdigung zu kümmern und alles dafür zu tun, dass Angehörige würdig trauern können. Diese schöne Tradition führen die islamischen Bestattungsunternehmen in Europa seit ca. dreißig Jahren fort. In diesem Zusammenhang werden folgende Leistungen erbracht: • Erledigung der erforderlichen Formalitäten wie sämtliche Behörden- und Verwaltungsangelegenheiten. Übernahme der behördlichen Kosten, die bei Konsulaten und den zuständigen deutschen Behörden entstehen. • Vorbereiten des Leichnams entsprechend den islamischen rituellen Vorschriften. Übernahme der Kosten hinsichtlich Waschung, Leichentuch und Überführungssarg des Verstorbenen. • Erledigung der notwendigen Aufgaben, die für eine reibungslose Überführung erforderlich sind. Dazu gehört, dass der Leichnam entsprechend den europäischen Standards versargt wird. • Transport des Leichnams mit einem Leichenwagen zum Flughafen. • Flugtransport des Sargs bis zum Ort der Beerdigung im Heimatland. Dabei werden die

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Überführungskosten des Verstorbenen bis zum Bestattungsort übernommen. Ebenso werden die Kosten des Hin- und Rückflugs für eine Begleitperson übernommen. Es werden also durch die islamischen Sterbekassen und deren Vertragspartner für die Hinterbliebenen sowohl alle Formalitäten bestens erledigt als auch die finanziellen Ausgaben geregelt. Im Detail müssen folgende wichtige Pflichten von Muslimen im Sterbefall eines Angehörigen erfüllt werden: Die rituelle Waschung bei Muslimen Der Sterbende wird auf dem Sterbebett auf seine rechte Seite in Richtung Mekka gedreht. Das Glaubensbekenntnis, die »Schahada«, wird gesprochen, während der Sterbende noch bei Bewusstsein ist. Nach Versterben eines Muslims werden seine Augen geschlossen, und damit der Mund des Verstorbenen nicht geöffnet ist, wer-

Wie islamisch üblich wird eine Beerdigung am ­Sterbeort empfohlen. Wenn keine Verwesungs­ gefahr besteht, kann der Leichnam auch an einen anderen Ort überführt und dort bestattet werden.

Geld und Leid – das leidige Geld

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den die Kiefer mit einem Tuch aneinandergebunden. Danach wird der Verstorbene ausgezogen, mit den Füßen in Richtung Mekka gelegt und mit einem Leinentuch bedeckt. Schließlich wird der Leichnam mit temperiertem Wasser sowie Seife rituell von Kopf bis Fuß gründlich gewaschen. Muslimische Männer waschen männliche und muslimische Frauen weibliche Verstorbene. Ausgenommen von der rituellen Waschung sind Totgeburten oder Märtyrer, die auf dem Schlachtfeld oder bei der Erfüllung beruflicher Pflichten für das Allgemeinwohl getötet wurden. Der Tote wird sodann in ein weißes Leinentuch eingehüllt und beerdigt. Die islamische Beerdigung Wie islamisch üblich wird eine Beerdigung am Sterbeort empfohlen. Wenn keine Verwesungsgefahr besteht, kann der Leichnam auch an einen anderen Ort überführt und dort bestattet werden. Das rituelle Totengebet wird im Freien vor der versammelten Gemeinde abgehalten. Anders wie beim rituellen Gebet in einer Moschee müssen die Anwesenden dabei stehen, ein Niederwerfen ist nicht gestattet. Der Sarg wird in der Regel von männlichen Angehörigen zunächst bis zum Transportfahrzeug und dann zum Grab getragen. Die Gemeindemitglieder begleiten den Leichnam bis zum Grab. Es ist islamisch nicht gut angesehen, während der Überführung und des Tragens sowie am Todesort klagend laut zu weinen oder zu schreien, leises Weinen ist jedoch erlaubt. Der Verstorbene wird in den Leinentüchern, mit der Fußseite zuerst, in die Gruft gelegt. Diese ist so ausgerichtet, dass der Verstorbene auf der rechten Schulterseite liegt und das Gesicht im Grab nach Mekka zeigt. Dann werden am Grab Koransuren rezitiert. Dies geschieht durch einen Vorbeter, einen Imam, oder durch die Hinterbliebenen. Zuletzt wird mithilfe der Anwesenden das Grab mit der Erde gefüllt, die vorher ausgehoben wurde.

Anstieg muslimischer Bestattungen in Deutschland Trotz der derzeit großen Anzahl an Überführungen erwarten Experten in den nächsten Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg islamischer Bestattungen in Deutschland. Man geht davon aus, dass vor allem die Muslime, die in der dritten und vierten Generation hier geboren und aufgewachsen sind, sich für eine Beisetzung in Deutschland entscheiden werden. Aktuelle Entwicklungen, dass muslimische Grabfelder in manchen großen Kommunen knapp werden, sprechen für diese Einschätzung. Mit der Überarbeitung ihrer Bestattungsgesetze und der Anpassung von Friedhofssatzungen tragen immer mehr Bundesländer und Kommunen dieser Entwicklung Rechnung. Zum Teil wurde die Sargpflicht aufgehoben, was einem zentralen Aspekt islamischer Bestattungen entspricht; auf vielen Friedhöfen gibt es mittlerweile spezielle Grabfelder, die nach Kaaba ausgerichtet sind. Auch spezielle Räumlichkeiten für rituelle islamische Waschungen werden immer häufiger angeboten. Diese positive Entwicklung hat mit der Zunahme islamischer Bestattungen in Deutschland und der Arbeit zahlreicher islamischer Verbände, Organisationen und Arbeitsgemeinschaften zu tun. Unter anderem bemühen sie sich in Kooperation mit städtischen Friedhofsverwaltungen darum, Muslimen in Deutschland Beisetzungen nach islamischen Regeln zu ermöglichen. Das sind gute Entwicklungen im Bereich der Inklusion, auch wenn es nach dem Ableben eines muslimischen Mitbürgers geschieht. Haluk Yildiz studierte Germanistik, BWL, Vergleichende Religionswissenschaft, Islamwissenschaft und Philosophie. Er ist Unternehmensberater mit dem Schwerpunkt Strategie- und Projektmanagement; Generalsekretär der Bestattungsunterstützungskasse Muslimischer Sozialer Bund e. V.; Parteivorsitzender der Bundespartei BIG – Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit; Stadtverordneter im Bonner Stadtrat. E-Mail: [email protected]

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Tief versenkt – halb geschenkt? Sind Billigbestattungen aus dem Internet wirklich günstiger?

Karl Steenebrügge Zum Glück trifft es uns nur sehr selten: Ein Familienmitglied stirbt – und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Für die meisten ist es ein Bedürfnis, sich liebevoll um den letzten Abschied zu kümmern und ihrer Trauer Zeit und Raum zu geben. Anderen, deren Lebenslinien sich vielleicht vor Jahrzehnten getrennt haben, wird per Gesetz eine kostspielige und lästige Pflicht auferlegt. Holte man sich früher bei Verwandten und Bekannten Rat, geht für viele heute der Blick ins Internet. Gibt man die Worte »Bestattung« und den Wohnort in die Suchmaschine ein, erhält man viele Treffer. Ganz oben stehen sogenannte »gesponserte Links«, die nichts anderes sind als bei der Suchmaschine gekaufte Werbung. Unter diesen gekauften Links finden sich beim Stichwort »Bestattung« insbesondere Vergleichsportale und Discount-Bestatter aus ganz Deutschland. Hier erscheinen dann Schlagwörter wie »Bestattungen ab 444 €« oder »Komplettangebot Erdbestattung ab 699 €«. Die Webseiten dieser Billiganbieter wirken auf den ersten Blick seriös. Als »Qualitätssiegel« wird beispielsweise die Mitgliedschaft bei der Industrie- und Handelskammer optisch herausgestellt, die in Wahrheit eine gesetzlich festgelegte Zwangsmitgliedschaft für jeden Handelsbetrieb ist. Ebenso taucht das Label »Erfolgsfaktor Familie« öfter auf. Dies ist jedoch eine Initiative des Bundesfamilienministeriums, zu dem sich jedes Unternehmen ungeprüft anmelden kann. Auch das Phänomen der gekauften Sterne von Bewertungsportalen ist der Branche nicht fremd. Klickt man auf eines der vermeintlichen Billigangebote, sieht man schöne Fotos und fragt sich, warum die Nachbarin beim örtlichen Bestat-

ter so viel bezahlt hat. Als konditionierte Internet-User denken wir schnell: Im Internet kann der moderne Mensch doch so billig einkaufen. Jetzt noch schnell auf den Auftragsbutton klicken und, das kennt man ja von allen Onlineshops, das Kästchen »Ich habe die allgemeinen Geschäftsbe­ dingungen gelesen und erkenne sie an« anklicken. Schon ist die Bestattung schnell und preiswert geregelt. Wer macht sich schon die Arbeit, langweilige Geschäftsbedingungen zu lesen? So hätten es die Discount-Anbieter gern und mancher lässt sich verleiten. Wie die Bestattung dann allerdings ausgeführt wird und welche Kosten nachher wirklich zu zahlen sind, hat mit den schönen Fotos und dem günstigen Startpreis meist wenig zu tun. Nun könnte mancher Leser zu Recht sagen: Ja, das gilt für die Discount-Anbieter, aber mit Vergleichsportalen im Internet habe ich gute Erfahrungen gemacht. Für den Kauf bestimmter Produkte, die genau definiert sind, mag das stimmen. Das Handy »X« von der Firma »Y« ist immer gleich, egal, bei welchem Onlineshop ich es kaufe. Eine Bestattung aber ist ein extrem erklärungsbedürftiges Produkt, ein Konglomerat unterschiedlichster Warenlieferungen und Dienstleistungen. Frau A kann ganz andere Vorstellungen davon haben, wie eine würdige Bestattung aussehen muss, als Herr B – und beide haben Recht. Branchenunabhängig stellt sich bei Vergleichsportalen im Internet immer die Frage nach der Seriosität des jeweiligen Portals. Für Bestattungen gibt es neutrale Portale, die von Fachverbänden oder Verbraucherinitiativen betrieben werden. Diese Seiten geben allgemeine Informationen und bieten Kontaktmöglichkeiten, um bei seriö-

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sen Anbietern konkrete Angebote anfordern zu können. Bei den Suchmaschinen wesentlich höher gelistet sind allerdings Portale, die den Preis in den Vordergrund stellen. Blickt man hinter die schöne Fassade stellt man fest, dass bei vielen dieser Preisportale anscheinend der eigene wirtschaftliche Erfolg der Portalbetreiber einen wesentlich höheren Stellenwert einnimmt als der Nutzen für den Verbraucher. Hier begegnet uns wieder dasselbe Phänomen wie bei den Discount-Bestattern: Dem Kunden wird mit sehr gut aussehenden »Qualitätssiegeln« vorgegaukelt, es handele sich um neutrale Bewertungen. Ebenso »vergessen« die Portalbetreiber zu erwähnen, dass entweder nur Anbieter gelistet werden, die vorher dafür bezahlt haben oder später dem Portalbetreiber eine Provision für die Vermittlung des Auftrags zahlen müssen. Schaut man nun, welche Anbieter diese Billigportale bevölkern, findet man zuerst wieder die bekannten Discount-Bestatter. Je nach Größe des in die Suchmaschine eingegebenen Ortes folgen dann einige wenige lokale Unternehmen oder Firmen aus dem Umland. Allen gemeinsam ist, dass die angegebenen Preise genau wie bei den Discount-Bestattern als reine Lockvogelangebote zu bewerten sind. Eine weitere Gemeinsamkeit ist nicht so offensichtlich: Oft sind die lokalen Billiganbieter in den Preisportalen dieselben Akteure, die auch als Subunternehmer der Discount-Anbieter vor Ort tätig werden. Dass eine traditionelle Bestattung hohe Kosten verursacht, scheint den meisten Menschen bewusst zu sein. Bei einer repräsentativen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts TNS-Emnid im Jahre 2008 schätzten die Befragten die kompletten Bestattungskosten unerwartet realistisch auf etwa 6000 Euro, allerdings war den meisten Befragten unbekannt, welchen Anteil die einzelnen Komponenten einer Bestattung am Gesamtpreis haben. Wo aber kommt der Preisunterschied zwischen den traditionellen Bestattern und den InternetAnbietern her? Die Antwort ist: Es gibt keinen

Preisunterschied; zumindest nicht, wenn man eine mehr oder weniger traditionelle Bestattung in der Nähe des Wohnortes wünscht. Lediglich diejenigen, die keinerlei emotionale Bindungen an die verstorbene Person haben und denen es nur auf eine möglichst billige »Problemlösung« ankommt, können in Einzelfällen im Internet An-

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Otto Dix, Trauerzug, 1923 / Sammlung Henri Nannen / akg-images / Erich Lessing / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

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bieter finden, die den Leichnam im Ausland preisgünstig »entsorgen«. Viele Billiganbieter und Preisportale nutzen die Unwissenheit der Bevölkerung über die genaue Kostenverteilung bei einer Bestattung für ihre Zwecke aus. Die Kosten einer klassischen Bestattung basieren auf drei Säulen: den Waren-

lieferungen und Dienstleistungen des Bestattungsunternehmens, den Krematoriums- und Friedhofsgebühren sowie sogenannten Drittleistungen wie Sargträgerdienste, Blumen, Traueranzeigen, Leichenschmaus und Grabstein. Nimmt man die Leistungen einer klassischen Bestattung zum Maßstab, die früher von der gesetzlichen

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Die Ausführung der Bestattung ist bei manchen Billig-Anbietern etwas anders, als der Kunde sich das vorstellt. Da kommt nicht der berühmte schwarze Wagen mit den beiden dunkel gekleideten Herren und holt den Verstorbenen ab.

Krankenkasse übernommen wurden, ergibt sich je nach Bestattungsort heute ein Wert von etwa 5000 bis 6000 Euro. Der wesentlichste Faktor, warum die DiscountAngebote auf den ersten Blick soviel günstiger erscheinen, sind die Friedhofs- und Krematoriumsgebühren der deutschen Städte und Gemeinden. Anders als in unseren Nachbarländern sind die Gebühren der meist kommunalen Friedhöfe extrem hoch. Hallennutzungs-, Grab- und Beisetzungsgebühren von insgesamt über 2000 Euro sind in Deutschland keine Seltenheit. Darüber aber schweigen die Discount-Anbieter. Den kleinen Stern mit dem Hinweis »zuzüglich Friedhofsgebühren« übersehen die meisten. Interessanterweise waren sich bei der Emnid-Erhebung 81 Prozent der Befragten darüber im Klaren, dass »Discount-Bestatter« nicht alle Kosten angeben. Trotzdem scheint bei vielen am Computer der Verstand auszusetzen, schnell geklickt ist halb gewonnen. Die Abbildungen auf den Internetseiten suggerieren, es handele sich um den Preis für eine klassische Bestattung mit Trauerfeierlichkeiten und repräsentativer Dekoration am Wohnort. Der Internet-User assoziiert für sich zusätzlich »mit vielen Blumen, Grabkosten, Trauerbriefen und Zeitungsanzeigen«. Eine klassische Bestattung eben. Die günstigen Angebote im Internet enthalten aber meist nur die absolut notwendigen

Dinge wie einfachsten Sarg, Einsargung, Überführung zum Krematorium und eventuell die Sterbefallanzeige beim Standesamt. Der für die allermeisten betroffenen Menschen wichtigste Faktor wird völlig außer Acht gelassen: das Beratungsgespräch. Wenn ein Angehöriger gestorben ist, haben viele Menschen das Bedürfnis, sofort mit jemandem zu sprechen, der helfen kann. Aus diesem Grund sind seriöse Bestattungsinstitute rund um die Uhr erreichbar. Das erste Beratungsgespräch nimmt in der Regel mindestens zwei Stunden in Anspruch. Es wird geklärt, welche Wünsche die betroffene Familie überhaupt hat, wie man diese realisieren kann und was es kostet. Häufig wird die endgültige Entscheidung über Art und Ort der Bestattung erst nach reiflicher Beratung und Überlegung in der Familie getroffen. Falls die Familie finanziell nicht gut gestellt ist, berät ein seriöser Bestatter auch über die Möglichkeiten eines Antrags beim Sozialamt. Außerdem übernimmt er die komplette Organisation der Bestattung vor Ort. Danach bleibt er Ansprechpartner der Familien in vielen Fragen, denn nur den wenigsten reicht ein einmaliges Beratungsgespräch. Diesen Service, der für den örtlichen Bestatter selbstverständlich ist, gibt es bei den DiscountBestattern in der Regel nicht. Falls diese Beratungsgespräche anbieten, wird es sehr schnell sehr teuer. Hier kommen dann die Allgemeinen Ge-

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schäftsbedingungen zum Tragen. Da gibt es hohe Fahrtkosten und Stundensätze. Manchmal werden dem Kunden als »besonderer Service« auch kostenpflichtige Telefonnummern für Rückfragen angeboten. Was die Beratung am Telefon gekostet hat, erfährt der Kunde dann erst später, wenn die Telefonrechnung kommt. Natürlich wird der ein oder andere lokale Anbieter, den man in einem Vergleichsportal gefunden hat, auch ein »kostenloses Beratungsgespräch« anbieten. Ob der Kunde aber wirklich in seinem Sinne beraten wird, ist fraglich. Ziel des Gesprächs dürfte meist weniger die neutrale Beratung, sondern der Verkauf gewinnbringender Zusatzleistungen sein, um den Verlust aus dem Lockvogelangebot zu kompensieren. Die Ausführung der Bestattung ist bei manchen Billig-Anbietern etwas anders, als der Kunde sich das vorstellt. Da kommt nicht der berühmte schwarze Wagen mit den beiden dunkel gekleideten Herren und holt den Verstorbenen ab. Von Pflegekräften in Krankenhäusern, Seniorenhäusern und Hospizen hört man immer wieder eine andere Version: Ein gewöhnlicher, in die Jahre gekommener Lieferwagen fährt vor. Ein Mann steigt aus und sagt: »Können Sie mir gerade helfen, mein Kollege wollte mit einem anderen Auto kommen und hat eine Autopanne.« Auch sollte die verstorbene Person nicht zu groß oder zu korpulent sein. In den Geschäftsbedingungen eines Anbieters findet sich die Angabe: »Sarg bis 185 cm Größe«, wobei sich die Frage stellt: Was machen die Mitarbeiter des Anbieters, wenn sie erst bei der Abholung merken, dass der Sarg zu klein ist. Pflegekräfte berichten in diesem Zusammenhang von sehr interessanten Erfahrungen. Bundesweit bekannt geworden ist der Diebstahl eines Lastwagens, in dem zwölf Särge mit Verstorbenen transportiert wurden, die dann nach einer Woche in einem Wald in Polen wieder auftauchten. Ohne dass der Kunde des Internetanbieters genauere Details erfährt, gelangt der Sarg oder die

Urne zum Beisetzungsort. Versetzen wir uns nun in die Situation eines Kunden, der ein »Supergünstigpaket« bestellt hatte. In der Vorstellung des Kunden steht der Sarg oder die Urne in einer schön geschmückten Friedhofshalle, der Pfarrer oder Redner ist da und die Träger stehen mit dem Katafalkwagen für den Trauerzug bereit. Das suggerierten die Bilder auf der Internetseite. Aber niemand ist da. Das Behältnis mit dem Leichnam oder die Aschenkapsel aus dem Krematorium stehen auf dem Boden, die Halle ist abgeschlossen und keiner weiß Bescheid. Es sind auch keine Trauergäste da. Man hätte vielleicht doch das Angebot genau lesen müssen und das Paket »Trauerfeier« dazu bestellen. Aber dann wäre die Bestattung vielleicht viel teurer geworden als beim traditionellen Bestatter. Dem Discounter kann man keine Vorwürfe machen, der hat nur geliefert, was bestellt war. Diese überspitzte Darstellung zeigt das Hauptproblem bei Billigbestattern: Da keine kundenorientierte Beratung stattfindet, weiß der Kunde nicht, auf was er alles achten muss und welche Wahlmöglichkeiten es gibt. Vielleicht kennt er aus eigener Erfahrung oder vom Hörensagen den Ablauf einer Bestattung und meint, vieles sei selbstverständlich. Er merkt nicht, und keiner sagt es ihm, dass er gedanklich Äpfel mit Birnen vergleicht. Eine Discount-Bestattung mag auf den ersten Blick zwar billig sein, aber das bei Internetgeschäften gesetzlich verbriefte Umtauschrecht ist bei einer Bestattung naturgemäß unmöglich. Der letzte Abschied lässt sich nicht wiederholen. Karl Steenebrügge, geboren 1958, verheiratet, zwei Kinder, Diplom-Kaufmann, in fünfter Generation GesellschafterGeschäftsführer des Bestattungshauses Bakonyi in Aachen, eines der ältesten Bestattungshäuser im Rheinland, gegründet 1846. Erbauer des ersten privaten Abschiedsraumes im Großraum Aachen 1990. Gründungsmitglied der Aachener Hospizgespräche. Vorkämpfer für einen menschenfreundlichen, würdigen Umgang mit Tod und Sterben. E-Mail: [email protected]

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Depression und Trauer als Folge von Wirtschafts- und Finanzkrisen Das Beispiel Griechenland

Ansgar Belke Makroökonomische Veränderungen wie wirtschaftliche Depression und Börsencrashs können Auswirkungen auf das Privatleben, die Stimmungslage und die Einstellung zum Leben des Einzelnen haben. Zumindest geht dies aus Presseartikeln und auch aus wissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln hervor: »Professor says investors’ grief over stock losses similar to the sorrow over losing a loved one« (»Professor gibt an, dass Trauer um einen Aktienverlust mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen zu vergleichen sei«) (Ambrose 2010). Es wird im Zusammenhang mit ökonomischen Krisen also explizit von Trauer der Investoren und der »normalen« Bevölkerung gesprochen. Westeuropa und die USA sehen sich aktuell einem schmerzhaften Prozess des Schulden­ abbaus (Deleveraging) gegenüber, der noch Jahre dauern kann. Den Verlust, den diese Staaten beziehungsweise ihre handelnden Akteure empfinden, resultiert aus dem Ende des über die letzten Jahrzehnte finanziell starkgehebelten Modells – dieses hatte es ihnen ermöglicht, über ihre Verhältnisse zu leben – und aus dem Prestigeverlust, der auf dem Scheitern ihrer ökonomischen Modelle gründet. Staatliche und private Budgets werden weiter gekürzt werden müssen. Es war sogar lange nicht ausgeschlossen, dass Euro-Mitgliedstaaten insolvent werden und die Eurozone verlassen müssen (Booth 2011). Fünf Phasen der Krisenreaktion Für die handelnden Akteure in Wirtschaft und sonstiger Bevölkerung sind die Stufen des Kum-

mers oder sogar der Trauer einander recht ähnlich und folgen dem zeitlichen Muster: denial (Leugnen), anger (Zorn), bargaining (Verhandeln), Depression und acceptance (Akzeptanz) (beispielsweise Kübler-Ross 1997). In der ersten Phase des denial wird gefragt: »(w)ho wants to believe the above? When faced with a truly awful prospect we explore and then cling to any theory or hope that reality may be different«1 (Booth 2011). Selbst wenn die Politiker das Ausmaß »ihres« Verlustes realisieren, beschränkt das denial der Bevölkerung ihre Handlungen. Orwell’sches »Doublethink« beherrscht die Szenerie. Die Realität stimmt jedoch letztlich nicht hiermit überein. »All financial crises have banks at their core and the normal response is to nationalise them so as to recapitalise quickly and get credit flowing again. Fiscal authorities did not fully capitalise banks in the US, and Fed chairman Ben Bernanke has instead had to take a longer route, adopting highly unorthodox and riskier policies to help push up asset prices so as to stop and reverse bank balance sheet losses«2 (Booth 2011). Wenn aber die Fiskalpolitik für sich genommen das Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandspunkt nicht mehr glaubwürdig auf ein nachhaltig niedriges Niveau bringen kann, können Bail-outs letztlich nur Zeit kaufen (Belke und Dreger 2011; Belke und Gros 2015). Einem Land wie Griechenland bleiben dann nur noch zwei Politikinstrumente: eine Schuldenumstrukturierung oder eine Abwertung (Booth 2011). Über die Phasen anger und bargaining gelangen die betroffenen Individuen sowie ihre

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 18–25, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Gesamtheit, die Bevölkerung der betroffenen Staaten, dann zu Depression und Trauer. Depression impliziert das Aufgeben der Hoffnung; es ist der Status einer großen Betrübtheit. Er umfasst Inwärtsgewandtheit, Aktivitätsmangel und Apathie. Zuneigung wird aufgegeben und die Trauernden werden gedankenverloren und unkommunikativ. Eine Volkswirtschaft in Depression ist eine Wirtschaft ohne Investitionen, ohne Hoffnung und ohne genug Arbeitsplätze (Booth 2011). Unglücklicherweise kann Depression auch lange andauern. Darüber hinaus hat es wenig Sinn, jemanden in Depression zu früh aufzumuntern. Denn die Depression stellt einen wichtigen Prozess des reassessment (Neubewertung) dar. In einer Volkswirtschaft müssen Vermögensbestände erst teils voll abgeschrieben werden, bevor sich neue Aufwertungsmöglichkeiten eröffnen können. Das deleveraging (Schuldenabbau) muss substanziell vorangeschritten sein, bevor eine substanzielle wirtschaftliche Erholung einsetzen kann (Booth 2011). Spätestens hier wird die Analogie des psychologischen und des volkswirtschaftlichen Begriffs der Depression deutlich. Akzeptanz ist die finale Stufe der Trauer, wenn Personen sich mit der neuen Realität abgefunden haben. Es ist der Ausgangspunkt für das re­ building (Wiederaufbau) von Leben. Acceptance in Westeuropa und den Vereinigten Staaten wird wieder entstehen, wenn Wahlergebnisse wahrscheinlich werden, die Politiker zu Reformen befähigen, die das nötige deleveraging ermöglichen, und das Entstehen neuer Ungleichgewichte ver-

hindert wird. Full acceptance wird aber möglicherweise nie eintreten und selbst eine substantial acceptance wird Jahre benötigen (Booth 2011). Da sich verschiedene Personen in unterschiedlichen emotionalen Stufen befinden, können Märkte zu einem gegebenen Zeitpunkt durchaus eine Kombination aller fünf Stufen widerspiegeln. Aber das denial ist nach aller Erfahrung mit der aktuellen Krise bisher das dominierende. »Some countries have been through more loss within living memory and are better at grieving, but not so in western Europe and the US … this may take a long time«3 (Booth 2011). Investoren Viele Investoren befinden sich ebenfalls in tiefer Trauer (so wörtlich in der Finanzpresse!) – wegen hoher auf das Jahr 2008 zurückgehender Verluste am Aktienmarkt. Und: »their sorrow is so similar to what we feel after a divorce or death in the family that we’re likely working through the five stages of grief«4 (­Ambrose 2010). Verluste können Investoren paralysieren und sie unfähig machen, Entscheidungen zu treffen. Psychologen empfehlen ihnen regelmäßig kleine Schritte zur Einkommensaufbesserung, um aus diesem Stadium ausbrechen zu können (Ambrose 2010). Ein Beispiel für einen derartigen kleineren Schritt ist die Umfinanzierung einer Hypothek, wenn der Hypothekenzins gefallen ist. Aber warum verweigern so viele Investoren das Weitergehen? Viele betrauern den von ihnen erlittenen Verlust, gerade weil ihre wirtschaft­

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liche Bilanz so kurz davor war, Lebensziele zu erreichen – Ziele, die sie Jahre nach der Lehman-Pleite trotz stark erholter und neue Rekordhöhen anstrebender Aktienmärkte nie mehr zu erreichen glauben. Was dies besonders beschwerend macht, ist, dass sich viele Investoren immer noch in den Stufen des grief and mourning befinden; »dealing with a past so traumatic that, emotionally, it’s like there was a death in the portfolio«5 (Jaffe 2013). Die Fachliteratur der Verhaltensökonomik liefert schon seit langem den Befund, dass Investoren vor allem Verluste internalisieren und sie bei weitem persönlicher nehmen als Gewinne. Diese Erfahrungen bewirken schmerzhafte psychische Narben, besonders wenn die Wunden so tief sind wie diejenigen von 2008 (Jaffe 2013). Durch diesen Verlust werden die Investoren häufig emotional für ihr Leben gezeichnet und halten nach Gründen Ausschau, damit mit Sicherheit künftig verhindert wird, dass sie derartigen Schmerz noch mal erleiden müssen. Um an der Wall Street zu gewinnen, muss man gegen sehr grundlegende menschliche Emotionen verstoßen. Es ist zu investieren, obwohl man denkt, jeder an der Wall Street sei ein Schurke, alle Akteure seien niederträchtig und man verliere all sein Geld. Das ist natürlich schon grundsätzlich schwierig, besonders jedoch, wenn man seelisch so tief verwundet ist (Jaffe 2013). Die Volkswirtschaft verliert auf diese Weise vollwertige und dynamische Investoren.

Jenzig71 / photocase.de

Die »normale« Bevölkerung Kotsopoulou und Koutsompou (2014) untersuchten, wie die griechische Bevölkerung die gegenwärtige unerfreuliche Situation in ihrem Land erlebt und wie sie mit ihr umgeht. Vor dem Hintergrund des von ihnen durchgeführten Literaturüberblicks und durch ihre

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alltägliche Interaktion mit einem hohen Prozent- tung, Sicherheit und Selbstverwirklichung gleich. satz der betroffenen Personen (Fallstudien) ge- Selbst obwohl sich dies letztlich wegen der Krilingt es ihnen zu zeigen, dass es in der Tat große se nicht erfüllte, unterliegen viele Griechen imSchwierigkeiten gibt, mit den gegenwärtigen Um- mer noch dieser sozialen Obsession für teure Imständen umzugehen. Denn »(the) Greeks are not mobilien, Autos, Markenprodukte und anderes. able to move forward in the steps of the grieving Sie sehen sich folglich seit Beginn der Krise deprocess«6 (Kotsopoulou und Koutsompou 2014). pressiven Gefühlen ausgesetzt (Kotsopoulou und Im Folgenden werden die psychologischen Effek- Koutsompou 2014). te der Finanzkrise auf die griechischen BürgerinGrief ist eine natürliche Reaktion auf Verlust. nen und Bürger näher erörtert. »It’s the emotional suffering you feel when someBekannt ist, dass während der Finanzkrise die thing or someone you love is taken away«7 (KotDepressionsrate und der Konsum von angstlösen- sopoulou und Koutsompou 2014). Je signifikanden und antidepressiven Medikamenten in Grie- ter der Verlust, desto intensiver ist der grief. Mit chenland stetig anstiegen. Dieser Blick auf die weiter oben eingeDie Finanzkrise Prozess setzte jedoch nicht erst in führten stages of grief kann man droht einem Großteil der Krise ein. Bereits vorher bedavon ausgehen, dass die griechider griechischen fanden sich Depression und die sche Bevölkerung den Schock und Bevölkerung die Verwendung von Antidepressiva die Phase des Leugnens bereits zu im Aufwärtstrend, wohl als Re- wichtigste Ausprägung Beginn der Krise überwunden hasultat bestimmter Lebensbedinben. Von einem Tag auf den anmenschlichen Lebens gungen, dem gesteigerten Fokus deren änderten sich die Leben der zu entziehen: das auf Konsumgüter, der Abwesen- Überleben durch Arbeit. meisten Griechen. Sie verloren den heit von Freizeit, Einsamkeit und Glauben und das Vertrauen in ihre Isolation. Infolge der Krise stürzte die Bevölke- Regierung und allgemein wegen der systemischen rung jedoch von einem Tag auf den anderen ab- Korruption auch in das politische System. Die berupt an das andere Ende der Skala: Überlebensri- gleitenden Verringerungen der Löhne und Pensiko, Arbeitslosigkeit, Einkommen in freiem Fall sionen sowie die schlecht laufende Konjunktur und Überlebenskampf. Diese Risse in der Kons- verstärken den Verlust. truktion der sozialen Identität und die UnfähigDen Status des anger erfahren die Griechen keit zur Trauer sind wichtige Elemente bei einer auch heute noch in ihrem Alltag: »(a)nger comes Erhöhung der Depressionsraten (Kotsopoulou as a result of the realization of death, in this case, und Koutsompou 2014). this feeling begun to express itself through the Die Finanzkrise droht einem Großteil der discussions people have in their everyday lives, griechischen Bevölkerung die wichtigste Aus- the numerous blogs through which they express prägung menschlichen Lebens zu entziehen: das the feelings of irritation, and annoyance«8 (KotÜberleben durch Arbeit. Die anhaltende Furcht, sopoulou und Koutsompou 2014). Darüber hidass Menschen selbst essenzielle »Güter« wie naus fanden in Athen fast täglich als Ausdruck Würde, Autonomie und Selbstachtung verlieren, des anger Demonstrationen statt. Das Gefühl des genauso wie die Unfähigkeit des Einzelnen, die- anger siedet in der Mehrheit der griechischen Beses Risiko zu adressieren, sind Hauptursachen völkerung und macht sie nicht gerade glücklich der Depression (Kotsopoulou und Koutsompou und psychisch gesund. Am bittersten stimmt aber, 2014). Die neue soziale Identität in Griechenland dass die griechische Bevölkerung realisiert hat, trägt dazu bei. In den letzten zehn Jahren setzte dass auch bei Protesten kein besseres Ergebnis die soziale Wahrnehmung Geld mit Selbstach- herauskommt (Kotsopoulou und Koutsompou

Geld und Leid – das leidige Geld

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2014). Das gilt selbst für die neue, zweite Tsipras- betreibt (Kotsopoulou und Koutsompou 2014). Regierung, die sich zu durchgreifenden Reformen Mehr als 65.000 von ihnen schlossen allein im bekennen musste. Jahr 2010, was zu einer »Disaffektation« der PerDie negotiation-Stufe drückt(e) sich durch sonen führte, die von den KMU abhängig waren die schier unendliche Zahl an Radio- und Fern- (Mylonas 2011). sehrunden mit Ökonomen, Politikern SozioloDie Migration jüngerer Personen mit hohem gen, Professoren und Journalisten sowie Blog- Bildungsgrad ist stark angestiegen (»brain drain«), gern über mögliche Lösungen zur Verhinderung während diejenigen, die im Ausland studieren eines Abwürgens der griechischen Volkswirt- oder arbeiten, veranlasst werden, nicht nach Grieschaft aus. Und am Ende der Diskussionen ver- chenland zurückzukehren. Diejenigen, die zuvor bleibt anger als einziges Element und nichts bleiben wollten, gehen nun (Berne 1964). Es kam Essenzielles passiert (Kotsopoulou und Kout- zudem während der Krise zu einer Verschlechtesompou 2014). rung der health care services, ausgedrückt durch Die nächste Stufe ist die Depres­ einen verringerten Zugang zum Von einem Tag auf sion, die die Griechen täglich und Gesundheitswesen und einen Anden anderen änderten auf verschiedene Weise erfahren. stieg der HIV-Infektionen von sich die Leben der Beispielsweise erreichten die Sui2010 bis 2011 um 52 Prozent (Alameisten Griechen. zide Rekordniveaus, indem sie von manou et  al. 2011; Kotsopoulou Sie verloren den 2009 bis 2010 um 25 Prozent und und Koutsompou 2014). Schließvon 2010 bis 2011 um zusätzliche lich wurden DrogenpräventionsGlauben und das 40 Prozent anstiegen (Alamanou zentren und psychiatrische KliniVertrauen in ihre et al. 2011). Die Obdachlosigkeit ken aufgrund von Einsparungen Regierung. stieg von 2009 bis 2011 um 25 Progeschlossen. Unter diesen Umstänzent. Neben der Vorkrisen- und der »versteckten« den erscheint es nur natürlich und logisch, dass immigrationsbedingten Obdachlosigkeit gibt es ein Großteil der griechischen Bevölkerung entnun eine Generation von »Neo-Obdachlosen«. täuscht und depressiv wird und, wenn man sie Letztere umfassen die Personen mit mittleren und nicht immer durch neue Programme daran hinsogar höheren Bildungsstufen, die vorher zur so- derte, sogar in Trauer verfallen würde (Kotsopouzialen Mittelklasse gehörten (Malkouzis 2014). lou und Koutsompou 2014). Dazu kommen Bettler, Raubüberfälle und eine Da aber jedes neue Griechenland-Programm allgemeine Wertekrise: »there is no respect in hu- (Belke und Dreger 2011) den Prozess der Trauer man life, people can be assassinated by Greeks or weiter aufschob und im Fall des aktuellen dritforeigners for a small amount of money, (there ten Griechenland-Programms immer noch veris) unemployment, poverty, social deregulation, schiebt, fallen viele griechische Bürgerinnen rise of neo­fascism«9 (Kotsopoulou und Koutsom- und Bürger in den Schockzustand zurück, »folpou 2014). Hierbei handelt es sich unzweifelhaft lowed by experiencing feelings of worthlessness, um Faktoren, die mit Trauer einhergehen. Die thoughts of doom, hopelessness, and most imArbeitslosigkeit hat sich in den ersten drei Jahren portant: a sense of helpless human, passivity and der Austerität bis Sommer 2012 verdoppelt, und inability to find the same individual solutions«10 das unter massiv verringertem sozialen Schutz. (Kotsopoulou und Koutsompou 2014). Das ErDa die Krise andauert, werden diese Arbeitslo- gebnis sind depressive Gefühle und die Unfähigsen zu Langzeitarbeitslosen. Dies stranguliert ten- keit, ein neues seelisches Gleichgewicht zu identidenziell die untere Mittelklasse, die traditionell fizieren und auch zu erreichen (Kotsopoulou und die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) Koutsompou 2014).

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Greece, West Macedonia, Kastoria / INTERFOTO / Danita Delimont / Walter Bibikow

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Verallgemeinerung: Gesundheitliche Auswirkungen ökonomischer Krisen Die gängige Sicht bis zum Übergang in das 21. Jahrhundert war, dass sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung bei abflauender Wirtschaftsaktivität regelmäßig verschlechtert und vice versa. Ein bedeutender Vertreter dieser Sicht, Harvey Brenner, führte eine Reihe von Studien durch (Brenner 1971, 1979, 1987). Diese zeigen, dass Rezessionen und andere Quellen wirtschaftlicher Instabilität die allgemeine Mortalitätsrate, deaths from many causes, Morbidität, Alkoholismus und die Einweisungen psychiatrische Kliniken erhöhen. Dabei handelt es sich durchweg um Variablen, die mit Depression und Trauer hoch korreliert sind. Diese Zusammenhänge wurden lange allgemein akzeptiert, obwohl bereits in den 1920er Jahren angestellte Untersuchungen (Ogburn und Thomas 1922 sowie Thomas 1927), positive Bezie­ hungen zwischen ökonomischer Aktivität, Mortalität und unterschiedlichen spezifischen Todesur-

sachen aufdecken konnten. Untersuchungen auf Grundlage der von Ruhm (2015) beschriebenen Methoden und Daten für eine Vielzahl von Regionen liefern schließlich starke Evidenz dafür, dass während wirtschaftlicher Expansionen (»konjunktureller Booms«) die Mortalität steigt und verschiedene bedeutende Todesursachen an Einfluss gewinnen und vice versa bei wirtschaftlicher Abschwächung (»Rezessionen«). Health lifestyles liefern einen potenziellen Mechanismus für die abgeleiteten makroökonomischen Effekte. Es gibt zum Beispiel viel empirische Evidenz dafür, dass riskante Verhaltensweisen wie schweres Trinken und Rauchen in schlechten ökonomischen Zeiten abnehmen, während gesundheitsfördernde und gegen Depression und Trauer wirkende Aktivitäten wie Sporttreiben und soziale Interaktion zunehmen (Xi 2013). Die Frage ist nun, ob das Auftreten einschneidender Krisen diese Regelmäßigkeiten durchbricht. Trotz einer umfangreichen und immer noch wachsenden Literatur zu den Effekten makroökonomischer Umweltbedingungen auf die

Geld und Leid – das leidige Geld

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physische und psychische Gesundheit wissen wir bisher erstaunlich wenig darüber, ob das in einem Umfeld »standardmäßiger« wirtschaftlicher Fluktuation beobachtete Muster in Krisenzeiten bestätigt, abgeschwächt oder gar umgekehrt wird. Ruhm (2015) fasst frühere Forschung zusammen und verwendet nationale und regionale Daten für die USA von 1976 bis 2013, um zu untersuchen, ob sich die Mortalitätseffekte ökonomischer Krisen von denen typischer ökonomischer Schwankungen unterscheiden. Seine vorläufige Schlussfolgerung ist, dass ökonomische Krisen Mortalitätsraten (und auch andere Indikatoren von Gesundheit) in derselben Weise beeinflussen wie weniger schwere Einbrüche wirtschaftlicher Aktivität: Sie führen zur Verbesserung physischer (und damit wohl auch psychischer) Gesundheit. Ausgeprägte Rezessionen in den Vereinigten Staaten scheinen einen negativen Effekt auf die Mortalität zu haben. Dieser ist etwa zweimal so groß wie der Effekt der steigenden Arbeitslosenraten für sich genommen. Demgegenüber wird die höhere prognostizierte Suizidrate in Perioden typischer ökonomischer Schwäche während schwerer Rezessionen annähernd kompensiert. Kein konsistentes Muster findet sich hingegen im Fall regional begrenzter ökonomischer Krisen, die auf dem US-Bundesstaaten-Niveau stattfinden (Ruhm 2015). Letzteres ist nach Belke und Gros (2015) vergleichbar mit dem nationalen Niveau in der Eurozone (siehe zum Beispiel die Griechenland-»Tragödie«). Diese Einflüsse variieren über verschiedene Todesursachen hinweg. Und die nationalen Regressionskoeffizienten tragen für Herztode und Morde (die beide aus Depression und Trauer erfolgen können) das umgekehrte Vorzeichen. Dies legt nahe, dass der Schutzeffekt höherer Arbeitslosenraten für diese Kategorien teilweise überkompensiert wurde (Ruhm 2015). Es wird weitere Forschung benötigt, um die Unterschiede zwischen den Effekten nationaler und eher regionaler ökonomisch bedingter Traumata zu verstehen und die Quellen der Hetero-

genität über verschiedene Todesursachen hinweg zu identifizieren. Auch ist die Definition einer ökonomischen Krise nicht eindeutig. Es wäre deshalb sinnvoll festzustellen, ob die Ergebnisse gegenüber alternativen Krisendefinitionen robust sind. Auch sollte bei der Auslegung der zuvor dargestellten Ergebnisse berücksichtigt werden, dass ökonomische Krisen idiosynkratische Elemente beinhalten, die die Mortalität beeinflussen können. Beispielsweise zog der Kollaps der Sowjetunion – teils bedingt durch fallende Alkoholpreise – alkoholverursachte Probleme nach sich. Umgekehrt führte der isländische Bankenzusammenbruch 2008 zu einer Abwertung der heimischen Währung, die Alkohol- und Zigarettenpreise erhöhte. Dies wiederum reduzierte den Alkoholkonsum und das Rauchen (Ruhm 2015). Trotz dieser Einwände liefern neuere Analysen hinreichend starke Evidenz dafür, dass der schützende Effekt von Rezessionen auf die physische (und damit wohl auch psychische) Gesundheit allgemein nicht auf typische Konjunkturschwankungen beschränkt ist, sondern sich auch auf Perioden ökonomischer Krisen bezieht. Dies gilt zumindest dann, wenn Letztere nicht zu einem Kollaps der Gesundheits-Infrastruktur oder einer starken Änderung relativer Preise führen (Ruhm 2015). Letzteres scheint aber in Griechenland gegenwärtig der Fall zu sein, obwohl die Pharmazie-Hersteller seit Beginn der Rettungsprogramme gegen einen zu starken Preisverfall durch die Troika-Konditionen lobbyieren. Prof. Dr. Ansgar Belke hat den J­eanMonnet-Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomik, an der Universität Duisburg-Essen inne und ist Direktor des Instituts für Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft (IBES). Er ist Forschungsprofessor am Centre for European Policy Studies (CEPS), Brüssel, und Präsident der European Economics and Finance Society (EEFS) und Mitglied zahlreicher anderer Gremien. Seine Hauptinteressengebiete sind die internationale Makroökonomik, die monetäre Ökonomik, die europäische Integration und die angewandte Ökonometrie. E-Mail: [email protected]

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Deutsche Übersetzung englischsprachiger Zitate (von Karola Müller) 1 »Wer will schon solchen Tatsachen ins Auge sehen? Angesichts einer wirklich furchtbaren Zukunftsperspektive prüfen wir jede Theorie und klammern uns an jeden Hoffnungsschimmer, der eine andere Wirklichkeit verheißen könnte« 2 »Jede Finanzkrise ist letztendlich im Handeln der Banken begründet und demnach besteht die übliche Reaktion in einer solchen Situation in deren Verstaatlichung. Dies ermöglicht eine schnelle Rekapitalisierung und Erneuerung des Kreditflusses. In den USA führten die Finanzbehörden jedoch keine vollständige Kapitalisierung der Banken durch. Daher war der Fed-Vorsitzende Ben Bernanke gezwungen, sich extrem unorthodoxer, langwieriger und riskanter Methoden zu bedienen, um Aktienpreise in die Höhe zu treiben, einen weiteren Niedergang von Bankbilanzen zu verhindern und so einen gegenläufigen Prozess anzuregen« 3 »Es gibt Länder, die im Verlauf ihrer Geschichte so viel Leid durchlebt haben, dass sie dem Trauerprozess besser begegnen können. In Europa und den USA ist dies aber nicht der Fall und kann lange Zeit dauern« 4 »Ihre Trauer ist so eng verwandt mit der Reaktion auf eine Scheidung oder einen familiären Todesfall, dass wir vermutlich die fünf Stadien der Trauer durchleben« 5 »die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit scheint so traumatisch besetzt, als hätte es im Wertpapierdepot einen Todesfall gegeben« 6 »die Griechen sind nicht in der Lage, in ihrem Trauerprozess den nächsten Schritt zu tun« 7 »Es ist das emotionale Leid, das auf den Verlust eines geliebten Menschen oder etwas sehr Wertvolles folgt« 8 »Wut ist eine Reaktion auf das Gewahrwerden des Todes. In diesem Fall drückte sich dies in der Alltagskommunikation aus: beispielsweise in Form von Diskussionen und Blogs, in denen sich Gefühle wie Ärger und Verdruss Luft machten« 9 »Es herrscht kein Respekt für das menschliche Leben. Menschen können von Griechen oder Ausländern für einen kleinen Geldbetrag ermordet werden, (es gibt) Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Deregulierung, Aufstieg des Neofaschismus« 10 »gefolgt von einem Gefühl der Wertlosigkeit, Gedanken an Untergang und Hoffnungslosigkeit sowie vor allem einer Einsicht in die menschliche Hilflosigkeit, Passivität und Unfähigkeit, die gleichen individuellen Lösungen zu finden«

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Die Wirkung der Griechenlandkrise auf die Hinterbliebenen – eine Betrachtung1 Danai Papadatou »Der Kampf, sein Leben von Neuem aufzu­ bauen, ist angsteinflößend. Man kämpft gegen die größte Angst von allen an, nicht die Angst vor dem Tod, sondern die Angst vor dem Leben, die Angst, das ganze Leben in Angst zu verbringen. Wegen dieser Angst sterben wir Stück für Stück jeden Tag.« (Christos Economou 2014) 2010 hat der griechische Premierminister George Papandreou bekanntgegeben, dass sein Land nicht mehr in der Lage sei, die finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden. Er beantragte ein Referendum, in dem die Griechen über ihre Zukunft in der Eurozone entscheiden sollten, aber unter dem enormen Druck der Staatsoberhäupter der Eurozone und griechischer Politiker trat seine Regierung zurück. In den darauffolgenden Wochen beschloss die neue Regierungskoalition zusammen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF), der Europäischen Kommission (EK) und der Europäischen Zentralbank (EZB) (auch »Troika« genannt) eine Schuldenvereinbarung. Es folgte ein zweites Memorandum. Extreme Sparmaßnahmen wurden auferlegt und die Lebensbedingungen der meisten Griechen veränderten sich grundlegend innerhalb kürzester Zeit. Durch die Medien und den politischen Diskurs wurden zuerst Schreckensmeldungen verstärkt, die später der wenig überzeugenden »Geschichte des Erfolgs« der wirtschaftlichen Zukunft Griechenlands wichen. Nachdem die Griechen viele Verluste erlitten hatten, kam es im Januar 2015, inmitten von enormen Protesten, zum Regierungswechsel. Die

linke »Syriza« wurde neue Regierungspartei mit Alexis Tsipras als Regierungschef. Dieser machte die Linderung der humanitären Auswirkungen der Krise zu seiner Priorität. Schon kurz nach dem Regierungswechsel stimmten 63 Prozent der griechischen Bevölkerung in einem Referendum gegen Sparmaßnahmen. Nach harten Verhandlungen mit den Gläubigern war der neue Premierminister dazu gezwungen, die strengen Konditionen eines dritten Memorandums zu akzeptieren. Auf dem EU-Gipfeltreffen standen der drohende finanzielle Zusammenbruch und das Ausscheiden Griechenlands aus der europäischen Währung (»Grexit«) im Raum. Das Hashtag #thisisacoup (»Das ist ein Staatsstreich«) wurde über Twitter auf der ganzen Welt verbreitet und reflektiert die internationale Stimmung gegen die Schikane der Gläubiger, der Griechenland und seine linke Regierung ausgesetzt war, und gegen die Sparmaßnahmen, die nicht nur finanzielle Probleme lösen sollten, sondern auch Macht und Kontrolle über Griechenland darstellten. Auswirkungen auf Sozioökonomie und psychische Gesundheit Die sozioökonomische Wirkung war tiefgreifend. Über 250.000 Unternehmen haben Insolvenz angemeldet. Die Arbeitslosenquote ist von 7,8 Prozent im Jahr 2008 auf 27,5 Prozent im Jahr 2013 gestiegen und war 2014 immer noch die höchste in Europa (26,5 Prozent, Eurostat 2015a). Gleichzeitig hat die Unterbeschäftigung dazu geführt, dass Angestellte ausgenutzt werden, da sie mehr arbeiten und dabei weniger Bezahlung bekommen. Bedauerlicherweise erhalten nur 8,9 Pro-

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 26–33, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Athens, a beggar passing an advertising Jochen Wijnands / akg-images / Horizons

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schaftliche Situation griechischer Haushalte sind 6,3 Millionen Griechen (mehr als die Hälfte der Bevölkerung) von Armut gefährdet. Arme Familien sind auf Essen angewiesen, das von der Kirche, den Gemeinden und verschiedenen NonProfit-Organisationen zur Verfügung gestellt wird. Heutzutage wächst eins von drei Kindern in einer Familie auf, in der zu wenig Geld für die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens vorhanden ist. Die Griechen haben vielfältig auf diese Verarmung reagiert. Einige wenige Studien von Sozialpsychologen haben diese Reaktionen auf die Krise und die Faktoren, die den Aktivismus gegen Sparmaßnahmen beeinflussen, untersucht (zum Beispiel Chryssochoou et al. 2013). Große landesweite Datensätze weisen auf eine Zunahme von schwerer Depression, Suizidgedanken und Suizidraten hin (Economou et al. 2013a, 2013b; Madianos et al. 2011; Stavrianakos et al. 2014).

Bis zum Beginn der Krise lebten die Menschen mit der Illusion der Un­ verwundbarkeit. Plötzlich erlebten sie eine grundlegende Veränderung von einem Leben, das sich normal und sicher anfühlte.

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© Ulrike Rastin

zent der Arbeitslosen die zweijährige Arbeitslosenunterstützung (360 Euro im Monat). Die Jugendarbeitslosigkeit stieg laut konservativen Schätzungen auf 58,3 Prozent an und führte zur Migration von über 200.000 Jugendlichen seit Beginn der Krise (Smith 2015). In Griechenland ist das jährliche Einkommen auf das Niveau vor 2003 abgesunken, während die Steuern so stark angestiegen sind, dass viele sie nicht mehr zahlen können (Eurostat 2015b). Die minimale Bezahlung für über 25-Jährige liegt heute bei 586 Euro. Viele Familien berichten, dass ihr Einkommen nicht ausreicht, um Grundbedürfnisse zu decken, und dass sie Verwandte nach Geld gefragt oder Familienvermögen verkauft haben. Die Mittelklasse, die vor der Krise einen gewissen Lebensstandard hatte, ist derzeit hoch verschuldet oder lebt zum ersten Mal in ihrem Leben in Armut. Laut eines aktuellen Berichts des Parlamentarischen Haushaltsbüros über die wirt-

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Die Finanzkrise hat anscheinend unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. So offenbaren Beschäftig­ te beispielsweise häufig Depressionen, die mit Arbeitsplatzunsicherheit und erhöhter Arbeitsbelastung assoziiert sind, während Depressionen bei Arbeitslosen mit Arbeitslosigkeit, Verlust von Einkommen und Entzug von Gesundheitsleistungen verknüpft sind. Verheiratete haben ein erhöhtes Risiko für schwere Depressionen im Vergleich mit ledigen Personen. Sie müssen mit finanziellen Problemen und Streitigkeiten mit dem Ehepartner über tägliche wirtschaftliche Schwierigkeiten umgehen. Junge Menschen vergleichen sich mit älteren Erwachsenen und entwickeln eher Depressionen, da sie eine höhere Arbeitslosenquote und begrenzte Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung haben. Seit Beginn der Krise hat die Prozentzahl der Suizide um mehr als 35 Prozent zugenommen. Griechenland hatte immer eine der niedrigsten Suizidraten der Welt, zum größten Teil aufgrund von engen Familienverbunden und einem erweiterten Unterstützungssystem, das in Zeiten von Not aktiviert wird, aber auch aufgrund einer hohen Dunkelziffer. Die alarmierende Zunahme von Suiziden, Suizidversuchen und Suizidgedanken macht das Thema zu einem Public-Health-Problem. Die Auswirkungen der Verschuldung sind gleichermaßen tiefgreifend. Eine systematische Überprüfung der Literatur (Turunen und Hiilamo 2014) weist darauf hin, dass Schulden und unbezahlte finanzielle Verpflichtungen mit geringerer subjektiver Gesundheit, geringerem Gesundheitsverhalten und mit zunehmenden Suizidgedanken und Depressionen in den folgenden Jahren verknüpft sind. Verluste aufgrund von wirtschaftlicher Not Bis zum Beginn der Krise lebten die Menschen mit der Illusion der Unverwundbarkeit. Plötzlich erlebten sie eine grundlegende Veränderung von

einem Leben, das sich normal und sicher anfühlte, zu einem Leben, das durch die erdrückenden Gefühle von Bedrohung, Unsicherheit und Verwundbarkeit gekennzeichnet ist. Die vertraute Welt der meisten Leute wurde durch Sparmaßnahmen zerschlagen, die als extrem und ungerecht wahrgenommen wurden und auch weiterhin so wahrgenommen werden. Heutzutage sind die Griechen mit vielen Verlusten konfrontiert, die man im Sinne des Verständnisses in drei Kategorien einteilen kann. a. Krisenbedingte Verluste Hierunter fällt ein breites Spektrum an Verlusten im Leben: der Verlust der Arbeit, des Einkommens und des Lebensstandards, die Insolvenz des eigenen Ladens, der Firma oder des Unternehmens, der Verlust von eigenem oder Familienvermögen, die Trennung von Familien und die Migration. Dazu gehört auch das Wegfallen von wertgeschätzten Bindungen zur Arbeitsstelle, zu Kollegen, Freunden und Familienmitgliedern, zur Heimat, dem Zuhause, dem eigenen Land, das man verkaufen muss, um Steuern, Darlehen und Schulden zu bezahlen. Diese Verluste führen zu Leid und manchmal auch zu Traumata, die die Menschen in ihrer Fähigkeit, zu planen und sich eine Zukunft auszumalen, beeinträchtigen. Besonders Kinder sind verletzlich, wenn es um Veränderungen innerhalb der Familie und die Not der Eltern geht. Sie sind oft gereizt, schlechter Stimmung, haben somatische Beschwerden, Depressionen, sie ziehen sich von ihren Freunden zurück, werden straffällig, verschlechtern sich schulisch und zeigen sogar suizidales Verhalten, wenn die psychische Gesundheit bereits vorher beeinträchtigt war (Kolves 2010). Selbst die Griechen, die weniger dramatische Verluste erleiden, sind indirekt vom Leid ihrer Verwandten, Freunde und Kollegen oder von der Verzweiflung der Obdachlosen, Hungernden und Drogenabhängigen betroffen.

Geld und Leid – das leidige Geld

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b. Symbolische Verluste Symbolische Verluste sind mit den faktischen Verlusten verknüpft und für einige noch schmerzlicher und schwieriger zu ertragen. Für die arbeitslose Jugend beispielsweise, die wiederholt von Arbeitgebern abgewiesen wird, ist dies mit dem Verlust von persönlichen Zielen, Träumen, einem Sinn im Leben und dem Verlust der Unabhängigkeit und Autonomie verknüpft. Sie haben oft keine andere Wahl, als zurück zu ihren Eltern zu ziehen und von diesen finanziell abhängig zu sein. Die Gesellschaft erwartet von ihnen, dass sie unablässig selbstmotiviert und effizient ihr Ziel von einem Job in Griechenland oder im Ausland verfolgen, was die Entmutigung und die Angst der griechischen Jugend vor einer unsicheren Zukunft verstärkt. Im Gegensatz zu dem Verlust durch einen Todesfall gibt es weder für die faktischen noch für die symbolischen Verluste Rituale oder eine Trauerzeit, die den Übergang zu einer neuen Realität ebnen könnte. Daraus folgt, dass die Trauer sich nie rechtfertigen lässt (Doka 2002) und der Verlust nicht offen anerkannt, öffentlich betrauert oder sozial unterstützt wird. c. Ungewisse Verluste Die meisten Griechen erleben zusätzlich zu den faktischen und den symbolischen Verlusten ungewisse Verluste. Diese sind unsichere oder mögliche Verluste, in dem Sinne, dass sie eintreten könnten oder auch nicht (Boss 2006). In Zeiten von wirtschaftlichen Krisen sind ungewisse Verluste sehr verbreitet, denn die Menschen leben ständig mit der Unsicherheit, ob sie ihren Arbeitsplatz verlieren, ihre Darlehen, Schulden, Steuern und täglichen Ausgaben bezahlen können, ob sie ins Gefängnis kommen, in Armut leben oder ihr Haus und ihr Vermögen konfisziert werden. Diese Unsicherheit verfolgt Einzelpersonen und Familien und führt dazu, dass es extrem schwierig ist, mit ungewissen Verlusten umzugehen.

Ungewisse Verluste lösen eine Trauer aus, die erstarrt, traumatisch oder intermittierend ist. Diese Verluste führen zu einer zunehmenden Traumatisierung, besonders wenn der politische und mediale Diskurs Angst, Schuld und Schrecken hervorruft und soziale Vorstellungen einer drohenden Katastrophe und Zerstörung schürt. Angst und Schrecken paralysieren den Menschen in seiner Fähigkeit zu denken, zu reflektieren und die neuen Lebensbedingungen zu verstehen. Um mit der ständigen Unsicherheit und Unklarheit leben zu können, bedarf es der Fähigkeit, das Chaos, die Ungewissheit und das Unbekannte einzudämmen. Anthropologen benutzen das Konzept der Liminalität, um unklare Situationen zu beschreiben. Das lateinische Wort limen bedeutet Schwelle. Menschen, die in einem liminalen Raum leben, befinden sich dazwischen, am Rand, an der Schwelle ohne einen klaren Übergang, der den Wechsel von der Vergangenheit zu einer neuen Gegenwart und einer unbekannten Zukunft markiert. Während diese Übergangssituation extreme Angst hervorrufen kann, kann sie ebenso der Auslöser für die existenzielle Suche nach dem Sinn in einem Leben sein, von dem nicht vorherzusehen ist, wie es sich entwickeln wird. Dies wirkt zwar sehr ungeordnet, gibt jedoch Raum für kreative Lösungen und Möglichkeiten, sich einen neuen Weg durch das Leben zu bahnen. Trauerunterstützung in Zeiten von wirtschaftlicher Not Durch Sparmaßnahmen kam es zu enormen Ausgabensenkungen im Gesundheitssektor (zum Beispiel wurde das öffentliche Krankenhausbudget zwischen 2009 und 2011 um 26 Prozent reduziert), wodurch viele öffentliche Krankenhäuser schließen mussten oder zusammengelegt wurden und nun mit begrenzten Mitteln, reduzierter Anzahl an Mitarbeitern und langen Wartelisten für Patienten arbeiten. Die Gesundheit der

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griechischen Bevölkerung sowie der Zugang zum Gesundheitsdienst sind ernsthaft beeinträchtigt (Kentikelenis et al. 2014; Simou und Koutsogeorgou 2014). Genau wie in anderen Ländern, die mit einer bedeutenden Wirtschaftskrise konfrontiert waren, haben die Sterberaten in Griechenland in den letzten 6 Jahren zugenommen (Kateilidou et al. 2014). Klinische Erfahrungen zeigen, dass Familien mit der Pflege eines sterbenden Patienten zunehmend allein gelassen werden. Die Patienten werden oft nach Hause geschickt, wenn »nichts mehr für sie getan werden kann«, damit die Betten für andere Patienten frei werden. Palliative Care ist immer noch nicht offiziell im Gesundheitssystem verankert, sondern wird durch eine ambulante Palliativversorgung gewährleistet, die in einem akademischen Umfeld agiert. Es gibt zwei Palliativ-Hausbetreuungsdienste, die von zwei gemeinnützigen Organisationen geleitet werden: Galilee für erwachsene Krebspatienten und Merimna für Kinder mit einer lebensbedrohlichen Krankheit und für ihre Familien. Zu Hause haben Familien, die sich an der Schwelle zur Armut oder darunter befinden, keinen Zugang zu Grundversorgungsmitteln, ihnen fehlt es an Nahrung, Wärme, Elektrizität und an allem, was notwendig ist, um ihren Liebsten einen würdevollen Tod zu gewährleisten. Familien erhalten meist Trauerunterstützung von ihrer erweiterten Familie und orthodoxe Christen von ihrer Kirche. Die einzige umfassende Trauerunterstützung in Griechenland wurde von Me­ rimna entwickelt (Merimna 2015; Papadatou 2012). Sie haben in Athen und Thessaloniki einen Standort und bieten kostenlose Trauerberatung an. Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise haben wir Veränderungen sowohl in Trauermustern von

Tamara Kulikova

Es wäre zu einfach, anzu­nehmen, dass die sozioökonomische Not allein zu Suizid­versuchen und Suiziden führt, da an solch einer extremen Handlung viele Faktoren beteiligt sind.

hinterbliebenen Familien als auch in deren Unterstützungsbedarf festgestellt. So gibt es mehr Anfragen nach Unterstützung bei plötzlichen Todesfällen, die von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen als traumatisch erlebt werden. Diese Tode sind häufig auf Herzinfarkte, akute Erkrankungen, die kurz nach der Diagnose zum Tod führen, auf Suizide, Tötungsdelikte oder tödliche Verkehrsunfälle zurückzuführen. Manchmal ist die Todesursache aber auch unklar. Nach dem Tod ihres Ehemanns durch einen Verkehrsunfall bat die Ehefrau um Trauerunterstützung für ihre beiden Kinder. Während der klinischen Bewertung wurde klar, dass es sich bei dem »Unfall« wahrscheinlich um einen geplanten Suizid des Ehemanns handelte, der enorme finanzielle Probleme hatte. Durch seinen tödlichen »Unfall« wurde der Ehefrau seine Lebensversicherung ausgezahlt, so dass sie ihre Schulden bezahlen und damit der Enteignung des Familienwohnsitzes entgehen konnte. Außerdem konnte sie dadurch ihre Kinder vor dem Stigma des Suizids schützen. Unsere klinische Erfahrung bestätigt Forschungsdaten, die darauf hinweisen, dass griechische

Geld und Leid – das leidige Geld

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Männer mit jungen Kindern – von denen in der griechischen Kultur erwartet wird, dass sie die Versorger und Beschützer ihrer Familien sind – eher zur Selbstzerstörung neigen als Frauen. Es wäre zu einfach, anzunehmen, dass die sozioökonomische Not allein zu Suizidversuchen und Suiziden führt, da an solch einer extremen Handlung viele Faktoren beteiligt sind (zum Beispiel Persönlichkeitsmerkmale, vergangene Erfahrungen mit Traumata, Stressfaktoren, ­Mangel an zwischenmenschlicher Verbundenheit, psychische Gesundheit in der Familie, frühere Suizidversuche, Zugang zu Mitteln, um Suizid zu begehen). Dennoch müssen die Auswirkungen einer nationalen steuerlichen, sozialen und humanitären Krise berücksichtigt werden. Diese Auswirkungen stehen im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Repräsentation der katastrophalen Zerstörung, die durch die Medien und Politiker bestärkt wird und dazu führt, dass verletzliche Menschen verzweifeln und psychische Probleme entwickeln, die vor der Krise nicht sichtbar oder zumindest effektiv gehandhabt wurden. Einige hinterbliebene Familien erleben eine Überbelastung an Leid. Diese Überbelastung ist unter alleinerziehenden Elternteilen recht verbreitet. Der hinterbliebene Ehepartner, meist die Mutter, kämpft durch den Verlust von Einkommen und Besitz ums tägliche Überleben und ist oft gezwungen, bei Verwandten einzuziehen, bis sie – meist zum ersten Mal in ihrem Leben – »irgendeinen« verfügbaren Arbeitsplatz findet. Wenn sie Glück hat und angestellt wird, wird sie meist unterbezahlt wegen fehlender Erfahrung und ist gezwungen, unter ungewollten Lebensbedingungen zu leben. Darüber hinaus werden hinterbliebene Kinder mit radikalen Lebensveränderungen konfrontiert und erleben zusätzlich Unsicherheit wegen der emotionalen Nichtverfügbarkeit des überlebenden Elternteils. Zu Familien mit dem Risiko von Anpassungsschwierigkeiten und Schwierigkeiten bei der Trauerbewältigung gehören:

• Familien, die vollkommen von ihrer Trauer eingenommen sind, paralysiert sind von der Ungeheuerlichkeit ihrer Verluste und eine undifferenzierte Verbundenheit mit der verstorbenen Person verspüren, die für eine idealisierte Vergangenheit der Stabilität, Ordnung und Berechenbarkeit steht. • Familien, die ihre Trauer über mehrfache Verluste unterdrücken und zu früh verzwei­ felt versuchen, Ordnung wiederherzustellen, während sie mit der unsicheren und unvorhersehbaren Realität konfrontiert sind. Sie konzentrieren sich auf alltägliche Angelegenheiten und schieben die Trauer von sich. Die Trauerunterstützung für Kinder ist für sie eher »eine weitere Aufgabe, die gemeistert werden muss«, als eine Gelegenheit zu trauern und von der professionellen Hilfe zu profitieren. In diesen Familien leben die Kinder mit der Angst, dass ihr überaktives und übergestresstes Elternteil auch sterben wird und dass sie allein gelassen werden. • Familien, die nicht in der Lage sind, eine tröstende Verbundenheit zu der verstorbenen Person aufzubauen. Sie nehmen der verstorbenen Person übel, dass sie gestorben ist und sie allein gelassen hat mit Schulden, ohne Einkommen und ohne Rente und dass sie nun allein mit miserablen Lebensbedingungen klar kommen müssen. Hinterbliebene Familien erleben den Mangel an nachhaltiger Unterstützung und ein tiefes Gefühl der Einsamkeit, das zum sozialen Rückzug führt, und das in einer Zeit, in der sie Unterstützung dringend gebrauchen können. Verwandte und enge Freunde sind von ihren eigenen krisenbedingten Sorgen vereinnahmt, sind möglicherweise depressiv und nicht in der Lage, Unterstützung zu geben. Oder die Hinterbliebenen versuchen, ihre Verwandten und engen Freunde zu schützen, und wollen sie nicht mit der eigenen Trauer überlasten. Paradoxerweise vermeiden sie es, an Trauerunterstützungsgruppen teilzunehmen, entweder weil sie

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ihre krisenbedingten Verluste aufgrund von Stolz oder der Angst, stigmatisiert zu werden, nicht öffentlich teilen wollen oder weil sie sich selbst davor schützen wollen, den Traumata der anderen hinterbliebenen Familien ausgesetzt zu sein. Klinikärzte, die die Hinterbliebenen unterstützen, müssen mit den gleichen krisenbedingten Herausforderungen, Verlusten und Widrigkeiten umgehen. Dazu gehören Gehaltskürzungen, Unterbeschäftigung, Unsicherheit, ob ihre Beschäftigung bestehen bleibt, und weitere persönliche und familiäre Verluste, Veränderungen und Bedrohungen. Es kommt häufig zur Verwischung der Rollen mit den Menschen, denen sie helfen, was den therapeutischen Prozess möglicherweise negativ beeinflusst und zu zunehmendem Stress führt, sowohl für die hinterbliebene Person als auch für den Trauerbegleiter oder Therapeuten: »Wir sind jetzt gleich. Nicht einmal unsere Rollen unterscheiden uns. Wir teilen alle ähnliche Qualen und Unsicherheiten und sind gleichermaßen betrof­ fen von enormen Lebensveränderungen.« Übersetzung von Julia Feldhuis Danai Papadatou ist Professorin für Klinische Psychologie an der Fakultät für Pflegewissenschaft der Nationalen und Kapodistrischen Universität von Athen. Die Schwerpunkte ihrer klinischen und wissenschaftlichen Arbeit liegen in der Kinderpalliativversorgung, Trauer in der Familie, Trauma in der Gemeinschaft nach Katastrophen und Umgang von Mitarbeitern im Gesundheitsdienst mit Tod. Sie ist Gründerin und Präsidentin von »Merimna«, einer gemeinnützigen Organisation, die als einzige häusliche Kinderpalliativversorgung und Trauerbegleitung anbietet. E-Mail: [email protected] Literatur Boss, P. (2006). Loss, trauma, and resilience. New York. Chryssochoou, X.; Papastamou, S.; Prodromitis, G. (2013). Facing the economic crisis in Greece: The effects of grievances, real and perceived vulnerability, and emotions towards the crisis on reactions to austerity measures. In: Journal of Social Science Education, 12 (1), S. 41–49. Doka, K. J. (2002). Disenfranchised grief: New directions, challenges, and strategies for practice. Illinois. Economou, Ch. (2014). Something good will come through the sea (published in Greek – Το καλό θα’ρθει από τη θάλασσα). 2nd edition. Athen.

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Geld und Leid – das leidige Geld

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Diamonds are forever Ökonomie und Trauer mit Hilfe eines Erinnerungsdiamanten

Eva Kersting

© Arthur de Leur / LifeGem

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Als ich von einem der Heftherausgeber gefragt wurde, ob ich einen Artikel zu diesem Thema schreiben könnte, habe ich zuerst gedacht: Gefühle sind nicht in Euro zu messen. Welch ein Unsinn, aus der Asche eines Verstorbenen einen Diamanten pressen zu lassen. Da gibt es mal wieder schlaue Leute, die Trauernden Geld aus der Tasche ziehen. Mit dieser ziemlich festgefahrenen Meinung bin ich erst einmal auf Recherche gegangen. Zuerst habe ich das Internet befragt, bin aber nicht recht fündig geworden. Dann habe ich einen Kollegen gefragt. Seine Antwort: »Oh Eva, da kannst du besser die Finger von lassen.« So angesprochen, hatte mich der Mut schon fast verlassen. Aber nur fast. Bevor ich ins Grübeln kam, habe ich das Krematorium angerufen und nach deren Erfahrungen gefragt. Auch hier war die Antwort unbefriedigend. Als Information habe ich erfahren, dass 700 Gramm Asche beziehungsweise ein Fünftel der Asche für die Herstellung eines Erinnerungsdiamanten benötigt wird. Die-

se wird vom Krematorium sofort abgefüllt und mit der Urne an den Bestatter weitergeleitet. Der Bestatter übergibt die separate Asche einer Firma, die sich auf Erinnerungsdiamanten spezialisiert hat. Es gibt Firmen in den Niederlanden und der Schweiz. In Deutschland haben wir eine Bestattungspflicht. So weit – so gut. So viele Fragen und endlich Antworten Schließlich habe ich mich mit Herrn de Leur der Firma »LifeGem« unterhalten. Der hatte auf alle meine Fragen eine Antwort. Gleich zu Anfang unseres Gesprächs habe ich mich als sehr kritisch gegenüber dieser Bestattungsart geoutet. Daraufhin hat er herzlich gelacht und mich eingeladen, ruhig alle Fragen zu stellen. Eine meiner Fragen war, wie denn der Ablauf sei. Herr de Leur antwortete, dass, sobald die Urne in den Niederlanden sei, das niederländische Bestattungsgesetz gilt. Das heißt, es besteht keine Bestattungspflicht. Die restliche Asche würde, wenn gewünscht, auf ein Streufeld gebracht. Auch ist es möglich, eine »normale« Bestattung in Deutschland mit allen Ritualen durchzuführen, da ja nur eine kleine Menge Asche für den Erinnerungsdiamanten benötigt wird. Eine andere Frage von mir war, wer denn eine Diamantbestattung wünscht. Ist das altersabhängig? Zu meiner Überraschung berichtete er, dass seine älteste Kundin 94 Jahre alt war. Es war ihr Wunsch, da die Töchter weit voneinander entfernt leben, so dass eine Pflege des Grabes nicht möglich gewesen wäre. Auch seien diese schon älter gewesen und körperlich nicht mehr fit.

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 34–35, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

D i a m o n d s a r e f o r e v e r    3 5

Meine nächste Frage ging tiefer. Ich fragte, ob die Trauer denn so gelebt beziehungsweise abgeschlossen werden könne. Der Verstorbene ist stetig präsent. Seine Gegenfrage an mich: Ist die Trauer abgeschlossen, wenn der Angehörige auf dem Friedhof liegt? Zwischen Hunderten von unbekannten Menschen und deren Gräbern? Seit Jahrhunderten werden unterschiedlichste Erinnerungsformen gelebt, zum Beispiel wurden Haarlocken von Verstorbenen entnommen und getragen. Das zeigt auch der Erinnerungsdiamant von Ludwig van Beethoven (1770–1827). Angehörige müssen Haare von ihm aufgehoben haben. Sonst wäre die Pressung eines Diamanten von ihm nicht möglich gewesen. Dieser wurde aus seinen Haaren gestaltet. Die Diamantbestattung ist nur die neueste Form, diese gibt es seit 2004. Legen Sie fest, wie Sie bestattet werden möchten Meiner Meinung nach wird es zukünftig immer individuellere Bestattungsarten geben, dazu zählt auch die Diamantbestattung. Bei allen Trends und Möglichkeiten ist es viel wichtiger, sich darüber Gedanken zu machen, wie man selbst beerdigt werden möchte. Und dies natürlich den Familienmitgliedern mitzuteilen. Auch denke ich, dass es ganz wichtig ist, seinen Wunsch schriftlich zu formulieren und eventuell dies mit einem Bestattungsunternehmen festzulegen. Wenn der Tod eintritt, sind die Angehörigen meist in einer Art Schock und dankbar für eine klare Wunschäußerung. Ökonomie und Trauer? Es kann auch durchaus ökonomisch sein, alternativ zur Bestattung eine Diamantbestattung in Auftrag zu geben. Die günstigste Form für einen Erinnerungsdiamanten in den Niederlanden liegt bei rund 3.500 Euro. In der Schweiz gibt es auch die Möglichkeit, eine Skulptur entstehen zu lassen, das ist etwas günstiger. Gegenge-

rechnet liegen die Gebühren für den Friedhof bei etwa 1.500 Euro; ein Grabstein und die Pflege des Grabes für 25 Jahre dazugerechnet ergeben einen ähnlich hohen Betrag. Aber rechnet man so überhaupt? Warum soll Trauer ökonomisch sein? Aus meiner Zeit als Schülerin weiß ich noch, dass Ökonomie etwas mit richtigem Wirtschaften zu tun hat. Im Duden heißt es zu Ökonomie: Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit, sparsames Umgehen mit etwas oder auch rationelle Verwendung. Und klären wir noch den Begriff »Trauer«: Trauer ist der Schmerz, der zurückbleibt, wenn ein Mensch stirbt, den man liebt. Na prima, habe ich gedacht. Es stimmt also. Trauer ist nicht in Euro zu bewerten. Es ist nicht möglich, Trauer sparsam zu leben oder eine rationelle Verwendung dafür zu finden. Trauer ist die intensivste Form des Lebens. Nach meiner Meinung ist es nicht möglich, sie sparsam oder bewusst zu leben. Sie nimmt sich ihren Raum in allen Lebensbereichen. Immer. Wenn ich aber aufrechne, was mich eine »normale« Bestattung oder eine Diamantbestattung kostet, dann kann auch eine Diamantbestattung ökonomisch sein. Je nach Bedürfnissen und Lebensformen. Und damit kann sie eine Möglichkeit sein, die ich bewusst in Erwägung ziehe. Eine der Stimmen, die sich für eine Diamantbestattung entschieden hat, war: Ich habe meiner Frau versprochen, immer bei ihr zu sein. Auf diese Weise kann ich mein gegebenes Versprechen halten. Auch das ist Ökonomie, eine gute Seelenhygiene. Heute, etliche Gespräche, Telefonate und Informationen später, spüre ich nichts mehr von meiner einstigen Ablehnung und stehe dem Thema offen gegenüber. Ich finde es bereichernd, dass jeder seine Möglichkeit der Trauer leben kann. Eva Kersting-Rader ist Trauerbegleiterin, Bestatterin und in Ausbildung zur Kunsttherapeutin. E-Mail: [email protected]

Geld und Leid – das leidige Geld

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Sozialökonomische Krise als Folge des Verlusts eines Kindes Arnold Langenmayr Ein Beispiel Vor einer Reihe von Jahren hielt ich mich gern am Wochenende in einem kleinen Ferienhäuschen in der Eifel auf. Besonders genoss ich, mir bei schönem Wetter vor dem dortigen Gartenhäuschen den Grill anzumachen und bei einem guten Buch zu warten, bis alles ordentlich durchgebraten war. Im Souterrain des von mir bewohnten Zweiparteienhäuschens lebte ein alleinstehender Mann, der im Dorf keinen guten Ruf hatte. Vor allem störte, dass er nicht arbeitete, von Sozialhilfe lebte, ziemlich isoliert war und keinen gepflegten Eindruck machte. Nach einiger Zeit ergab es sich, dass er, immer wenn er meinen Grill roch, aus seinem Souterrain nach oben kam, sich einen Stuhl mitbrachte und sich häuslich bei mir niederließ. Da ich eigentlich lieber allein sein wollte und mich darauf auch immer schon die ganze Woche freute, war mir das nicht angenehm. Ich dachte, dass es darum gehe, dass er hungere, und bot ihm ein Steak an in der Hoffnung, dass er sich dann auch wieder zurückzöge. Aber schnell merkte ich, dass es darum nicht allein ging. Er wollte offenbar Gesellschaft, erzählen, Kontakt. Vielleicht hatte er auch den Eindruck, dass ich schon von Berufs wegen dafür besonders in Frage kommen müsste. Eines Tages kam er und hatte ein Buch in der Hand, sein Familienbuch. Er blätterte darin und sagte mir: »Hier steht meine kleine Yvonne, die ist uns mit zwei Jahren verstorben.« Dabei kullerten offensichtlich völlig ungekünstelt Tränen über sein Gesicht. Nach einigen Minuten fuhr er fort: »Und hier ist Johanna, die hat mir zwei Jahre später das Jugendamt weggenommen. Und hier sind noch drei Kinder, hat mir auch das Jugendamt

weggenommen, kriege ich aber vielleicht wieder.« Im weiteren Verlauf erzählte er, dass er verheiratet war, einen Job als Rollladenbauer hatte, aber nach dem ersten Kindesverlust sich krank und deprimiert fühlte. Tatsächliche Erkrankungen stellten sich bald auch ein, vor allem Probleme mit der Lunge. Er konnte nicht mehr arbeiten. Zunehmende Spannungen in der Familie führten dazu, dass ihn seine Frau verließ und wegzog. Die anderen Kinder kamen in Pflegestellen. Er wurde Sozialhilfeempfänger mit immer weniger Ansehen, verlor auch seine damalige Wohnung, wozu sehr ungewöhnliche Verhaltensweisen beigetragen haben mussten. So hatte er in einem kalten Winter die Fußbodendielen herausgerissen und verfeuert, da er für Brennholz kein Geld hatte (so seine Begründung). Danach konnte die Wohnungsbehörde froh sein, ihn in dem kleinen Ferienhaus im Souterrain unterbringen zu können. Dort lebte er mit einer Reihe unkastrierter Katzen und entsorgte die jährlichen Würfe im nächsten Fluss. Kontakt hatte er im Ort immer dann, wenn jemand ein Problem mit einem technischen Gerät hatte. Wie ich selbst an einem nicht mehr funktionsfähigen Diktiergerät der Universität merken konnte, war er binnen kurzem in der Lage, solche Instrumente wieder in Gang zu bringen. Als ich schon lange nicht mehr an dieser Örtlichkeit gewesen war, erfuhr ich, dass er verstorben war. Seine Wohnung war eine einzige Müllhalde gewesen, in der Toilette war schon seit Jahren nicht mehr sauber gemacht worden, die Hausbesitzer mussten sehr viel Geld für ein Entsorgungsunternehmen aufwenden. Merkwürdig war allerdings eines: Wenn man sich durch den ganzen Müll durchgekämpft hatte,

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 36–40, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

K.-U. Häßler / Fotolia

Peter August Böckstiegel, Die Eltern, um 1919 / akg-images / VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Der Verlust eines Kindes hat deutliche langfristige ökonomische Konsequenzen für die Eltern, die weit über die eigentliche Trauerperiode hinausgehen.

S o z i a l ö k o n o m i s c h e K r i s e a l s Fo l g e d e s Ve r l u s t s e i n e s K i n d e s    3 9

stand man plötzlich vor einer Couch, deren Lehne sehr sauber und regelmäßig gereinigt aussah und auf dieser Lehne waren vierzehn Puppenfiguren der üblichen Größe mit blitzsauberen Kleidchen aufgereiht, die einige dort Tätige sich sofort aneigneten. Unwillkürlich erinnerte ich mich bei dieser Erzählung von den vielen Puppen an das kleine zweijährige Mädchen, das die Familie viel zu früh verlassen hatte. Eine Hypothese Was könnte man vermuten? Der Verlust des Kindes hatte zu einer depressiven Verstimmung bei den Eltern und auch zu Spannungen in der Ehe geführt. Ein Zusammenhang zwischen Kindesverlust und späterer Scheidung ist empirisch nachweisbar (Langenmayr 2013, Najman et al. 1993). Auch dass das Immunsystem auf schmerzhafte Verluste reagiert, ist seit den Untersuchungen von Robert Ader und der von ihm begründeten Psychoneuroimmunologie nicht zu leugnen. Dies hatte zum Verlust des Arbeitsplatzes bei dem sonst technisch begabten Mann geführt. Ein finanzieller Engpass war die Folge und dies zusammen mit den unaufgearbeiteten psychischen Verstimmungen in der Ehe, vielleicht verbunden mit Schuldzuweisungen, hat zur Scheidung geführt, möglicherweise jetzt oder schon vorher zur Vernachlässigung der anderen Kinder, vielleicht zum emotionalen Rückzug von Kindern generell. So musste das Jugendamt eingreifen. Ob Psychotherapie zu dem Zeitpunkt noch genützt hätte, ist schwer zu sagen. Weitere finanzielle Verelendung und Verlust der Wohnung folgten. Doch sind solche im Einzelfall plausiblen Zusammenhänge auch in wissenschaftlichen Untersuchungen und an größerer Zahl nachweisbar? Weg von Spekulationen, hin zu wissenschaftlichen Erkenntnissen Hierzu liegt in jüngster Zeit eine großangelegte Untersuchung eines Forscherteams (van den

Berg, Lundborg und Vikström 2012) vor, aber erstaunlicherweise nicht aus dem Bereich der Psychologie, sondern der Volkswirtschaftslehre. Bemerkenswert an der Untersuchung ist, dass viele Variablen in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt wurden sowie Störfaktoren ausgeschlossen wurden (beispielsweise gleichzeitig mit dem Tod des Kindes eingetretene, aber davon unabhängige Beeinträchtigungen der Eltern). Die Forscher werteten mehrere schwedische Register aus und hatten so die Daten von jeweils zwischen 1000 und 2000 Müttern, Vätern und Kindern (zwischen 1 und 24 Jahren verstorben) zur Verfügung, um sie mit einer Stichprobe ohne solchen Verlust zu vergleichen. Ergebnisse Der Verlust eines Kindes hat deutliche langfristige ökonomische Konsequenzen für die Eltern, die weit über die eigentliche Trauerperiode hinausgehen. Sie haben ein deutlich geringeres Einkommen in den Folgejahren, verlassen eher ihre Arbeitsstelle, werden eher geschieden und psychisch krank. Am stärksten war die Arbeitslosigkeit bei Müttern im dritten Jahr nach dem Tod des Kindes gestiegen (um 6,3 Prozentpunkte), bei Vätern im zweiten Jahr (um 4,3 Prozentpunkte). Noch sieben Jahre nach dem Tod des Kindes verdienten die Väter durchschnittlich 10 Prozent, die Mütter 12 Prozent weniger als vor dem Kindstod. Vorzeitiges Ausscheiden aus dem Dienst und Verlassen der Arbeit durch Krankheit sind Hauptfaktoren für die Verringerung des Einkommens. Jedoch auch bei denjenigen Eltern, die beschäftigt bleiben, sinkt das Einkommen langfristig. Die Einkommenseffekte sind unabhängig davon, ob das verlorene Kind zu Hause lebte oder nicht, was zeigt, dass der Trauerprozess der entscheidende Auslöser für die Verringerung der Einkommensverhältnisse war. Väter zeigen langfristige gesundheitliche Probleme. Charakteristika des Kindes wie Alter, Rangplatz in der Geschwisterreihe oder Fa-

Geld und Leid – das leidige Geld

4 0   A r n o l d L a n g e n m a y r

miliengröße spielen keine Rolle. Bezüglich des Geschlechts des verlorenen Kindes ergeben sich tendenzielle Hinweise darauf, dass das Arbeitseinkommen von Vätern in Familien mit zwei Kindern nach dem Verlust eines Sohnes stärker beeinträchtigt ist als nach dem Verlust einer Tochter. Wenn sowohl das verlorene Kind als auch das übriggebliebene ein Mädchen war, ist der Effekt auf das väterliche Einkommen relativ am geringsten. Ähnliches zeigt sich in der Auswirkung auf die Mütter. Erklärbar wird dies durch den Wunsch nach zwei Geschlechtern unter den Kindern und einen leicht stärkeren Wunsch nach Jungen. Der Verlust von Einzelkindern zeigt sowohl für das Einkommen des Vaters als auch das der Mutter geringere Konsequenzen, was die Autoren damit erklären, dass der Kinderwunsch in solchen Familien von vorneherein geringer ausgeprägt war. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung nahm nach dem Verlust eines Kindes zu, und dies auch längerfristig. Gesundheitliche Risiken der Eltern wurden mit dem Kriterium von Klinikaufenthalten erfasst. Diese nahmen bei den Müttern im ersten Jahr nicht zu, aber in den Folgejahren deutlich, bei den Vätern bereits im ersten Jahr nach dem Verlust, nach dem zweiten war bei ihnen kein Effekt mehr festzustellen. Die Geburtenrate stieg im Jahr des Verlusts nicht an, in den Folgejahren beträchtlich. Analysen der Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen zeigen, dass die Verringerung der Einkommensverhältnisse maßgeblich am Auftreten von Scheidungen beteiligt ist, nicht umgekehrt. Eltern, die in der Situation beschäftigt bleiben, zeigen keinen so starken Scheidungs­ anstieg. Der Anstieg der Scheidungsrate betrug im ersten Jahr nach dem Verlust ca. 3 Prozentpunkte und nahm bis zum siebten Jahr noch zu. Ob der Tod eines Kindes erwartbar war oder nicht, spielt für den langfristigen Effekt auf das elterliche Einkommen keine Rolle, was zeigt, dass es nicht um äußere Umstände des Todes geht, sondern um den Trauerprozess als solchen.

Zusammenfassend: Einkommensreduktion nach Kindesverlust geht oft auf Ausscheiden aus dem Beruf zurück. Dieses hängt mit verringerter psychischer und körperlicher Gesundheit zusammen (diesbezügliche Hospitalaufenthalte). Scheidungen nach Tod eines Kindes sind die Folge der verringerten Einkommensverhältnisse und nicht umgekehrt. Anregungen für die Praxis Ein bisschen schade an der sonst sehr beeindruckenden Untersuchung ist, dass die Effektstärken nicht gemessen wurden, was angesichts der großen untersuchten Fallzahl die Einschätzung der praktischen Relevanz der einzelnen gefundenen Zusammenhänge noch besser ermöglichen würde. Doch auch so sind die Schlüsse, die die Autoren für die Praxis aus ihren Erkenntnissen für die Trauerberatung ziehen, plausibel: Man kann die Eltern beraten, dass sie, auch nach Verlust eines Kindes, ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt aufrechterhalten. Teilzeitangebote statt völliger Aufgabe des Jobs wären hilfreich. Und schließlich bietet sich noch die Möglichkeit der Therapie, um eine Abwärtsspirale zu verhindern. Prof. Dr. Arnold Langenmayr ist Psychologe und Psychotherapeut. Er lehrt an den Universitäten Duisburg-Essen und Trier, arbeitet als Therapeut in eigener Praxis und ist Mitglied des Bundesverbands Trauerbegleitung e. V. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Trauer, Trauerberatung, Familienkonstellation und Psychosomatik. E-Mail: [email protected] Literatur Langenmayr, A. (2013). Einführung in die Trauerbegleitung. Göttingen. Najman, J. M.; Vance, J. C.; Boyle, F.; Embleton, G.; Foster, B.; Thearle, J. (1993). The impact of a child death on marital adjustment. In: Social Science and Medicine, 37, S. 1005‒1010. Van den Berg, G. J.; Lundborg, P.; Vikström, J. (2012). The economics of grief. Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) DP No. 7010, Nov. 2012.

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  2  /  2 0 1 6

»Emotionale Trauer« oder »ökonomische Trauer«? Gedanken zur gesellschaftlichen Trauer im Gegensatz zur gesellschaftlichen Lüge

Deniz Utlu Nach den Morden des »Nationalsozialistischen Untergrunds« beziehungsweise nach ihrer Selbst-Aufdeckung im November 2011 hatte ich erwartet, dass ein Beben durch Deutschland geht. »Erwartung« ist das falsche Wort. Ich habe nicht erwartet. Ich habe gebraucht: eine Staatskrise, den Rücktritt von Politikern, dass der Verfassungsschutz aufgelöst wird. Ich habe es gebraucht, dass aus dieser Staatskrise heraus das politische System dieses Landes, einschließlich aller drei Gewalten, einschließlich des Grundgesetzes, überprüft wird. Eine Gesellschaftskrise habe ich gebraucht, eine Erschütterung, eine Fassungslosigkeit, die aber nicht zum Wegsehen, sondern genauen Hinschauen führt und Fragen aufwirft: Wie kommen diese rassistischen Bilder in unsere Köpfe? Wie muss sich das Bildungssystem ändern? An welcher Stelle scheitere ich in meinem Umgang mit und meiner Sicht auf (angebliche) Migranten in diesem Land? Was habe ich, ich persönlich, zu genau diesen Nazi-Morden beigetragen? Bei öffentlichen Gedenkveranstaltungen stellen die Veranstaltungsgäste und Gastgeber selten diese Fragen. Oft ist es wichtig, welches Ansehen Deutschland im Ausland hat. Das Gedenken folgt einer Rechnung: Welche Form des Gedenkens, in welchem Maß, wie kommuniziert, steigert die Attraktivität Deutschlands, auch als Wirtschaftsstandort? Die Opfer und ihre Angehörigen sind nicht Zweck, sie sind Mittel, manchmal sogar Störfaktor. Wenn die Rechnung ergibt, dass sich das Gedenken nicht lohnt, etwa weil es von der Bevölkerung nicht angenommen wird, fällt es weg oder wird

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 41–42, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

eben ökonomischer gestaltet. So wurde der Wunsch des Vaters von Halil Yozgat, einem jungen Mann, der in seinem Internetcafé ermordet wurde, die Straße des Tatorts in Halil-Straße umzubenennen, abgelehnt. »Soziale Abwägungen« hätten ergeben, dass die Bewohner der Straße dagegen seien. Das ist die Sichtweise einer »ökonomischen Trauer«. »Emotionale Trauer« kennt keine »soziale Abwägung«. Emotionale Trauer konfrontiert die Gesellschaft mit einer intentionslosen, unmaskierten Ehrlichkeit und stößt so, wenn sie zugelassen wird, bereits Veränderungen an. Der Pleonasmus »emotionale Trauer«, ein Begriff der Philosophin Judith Butler, weist auf eine paradoxe Trennung von Trauer und Emotion hin. Wenn Trauer doch per Definition einen emotionalen Zustand beschreibt, ist das Adjektiv »emotional« hier nur eine Wiederholung. In der Politik beobachte ich aber eben nicht selten eine emotionslose Trauer in verschiedenen Facetten, zum Beispiel eben auch eine »ökonomische Trauer«, wie im Fall der Halil-Straße: Hier wird abgewogen, wann, wie viel und in welcher Art Trauer eingesetzt werden kann, um bestimmten politischen und ökonomischen Zielen zu dienen. Wo wir Trauer ernst nehmen, gibt es aber nichts abzuwägen, da gibt es nur ein aufmerksames Zuhören. Dann stellt »emotionale Trauer« auch eine Ressource für die Gesellschaft dar, denn sie ermöglicht Veränderung, indem sie eine Erschütterung auslöst, die ehrlich ist – die erschütterte Gesellschaft kann zusammenrücken und emotional reifen. Wichtig ist allerdings, dass »emotionale Trauer« für die Gesellschaft eine politische Ressource darstellt. Etwas anderes wäre es zu sagen: »Emotionale Trauer« soll als politische Ressource verwendet werden. Denn mit Trauer soll die Politik gar nichts machen, außer die Rahmen­ bedingungen für ihre Zulässigkeit zu schaffen.

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  2  /  2 0 1 6

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Deniz Utlu, geboren in Hannover, lebt als Autor in Berlin. 2014 erschien sein erster Roman, »Die Ungehaltenen«, in dem es um Trauer und Wut eines jungen Mannes geht, dessen türkischer Vater stirbt. E-Mail: [email protected]

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Stationäre Hospizarbeit Ihre Abhängigkeit von Spendenmitteln und die hierdurch bedingte Einflussnahme auf die Entwicklung unserer Sterbekultur

Edgar Drückes Bevor wir uns explizit der in der Überschrift dieses Artikels genannten Themenstellung annähern, ist es aus Gründen der Verständlichkeit erforderlich, einen Rückblick auf die Entwicklung der Sterbekultur in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten zu halten. Dadurch wird es möglich, den Zusammenhang zwischen der Todunerfahrenheit der heutigen Gesellschaft und dem Verdrängen und Verleugnen von Sterben und Tod aufzuzeigen. Auf der Basis dieser Darstellung wird verdeutlicht, wie es der Hospizarbeit gelingen konnte, Einfluss auf die Sterbekultur unserer heutigen Zeit zu nehmen. Sterben im Mittelalter So wie jede Zeit ihre bestimmte Art des Lebens hat, hat sie auch ihre eigene Art des Sterbens (Zulehner, Becker und Virt 1991, S. 21). Geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass sich der Umgang mit Sterben und Tod verändert hat. Die Menschen sterben heute anders als in den vergangenen Jahrhunderten. Schauen wir ins Mittelalter zurück, so ist »eine Form der künstlerischen Darstellung des Sterbens die der Ars moriendi, die Kunst, christlich zu sterben. In diesen (bildhaften, d. Verf.) Darstellungen ist das Bett des Sterbenden umstanden von den Angehörigen, die zum Teil helfen und lindern, zusprechen und trösten oder beten« (Engelke, Schmoll und Wolff 1979, S. 10 f.). Dabei findet das Sterben dort statt, wo der Sterbende gelebt hat – in seinem Zuhause. Die Lebensgemeinschaft des Mittelalters ist also übergangslos zu einer Sterbegemeinschaft

geworden. Dies führte dazu, dass Tod und Sterben nicht tabuisiert, sondern als zum Leben dazu gehörig betrachtet wurden (Engelke et al. 1979, S. 7). Auch in den Jahrhunderten der Neuzeit (1500– 1850) starben die Menschen in ihrem häuslichen Umfeld, so dass das Sterben in der Mitte der Gesellschaft verankert blieb. Entwicklung der Sterbekultur in den vergangenen siebzig Jahren Die Entwicklung in den letzten hundert Jahren, besonders in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, brachte eine grundlegende Veränderung der Sterbekultur mit sich (Mittag 1994, S. 2). Immer weniger Menschen sterben heute in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Zuhause. Für diese Enthäuslichung des Sterbens gibt es mehrere Ursachen (Zulehner et al. 1991, S. 21). Ein Grund ist in den sich erheblich verändernden Familienstrukturen zu erkennen. Lebten früher viele Menschen im Verbund der Großfamilie, in dem mehrere Generationen ihre Lebenszeit unter einem Dach verbrachten, leben heute die meisten Menschen in Kleinfamilien oder Einpersonenhaushalten. Durch die Industrialisierung mit verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen konnten sich Familienmitglieder leichter auf eigene Beine stellen und auch die Arbeit der Frauen nahm kontinuierlich zu. Das hatte zur Folge, dass sich die Zahl der pflegenden Angehörigen in der Familie verringerte. Die Enthäuslichung des Sterbens ist also auch eine Kehrseite unserer sozialen Errungenschaften (vgl. Zulehner et al. 1991, S. 22‒24).

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 43–48, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

INTERFOTO / National Trust Photo Library

Verdrängung und Verleugnung machen zunehmend Mitmenschlichkeit und Anteilnahme Platz, so dass von einer sich derzeit ändernden Sterbe­ kultur gesprochen werden kann. Daneben trug auch der medizinisch-technische Fortschritt zur Enthäuslichung des Sterbens bei (Zulehner et al. 1991, S. 25). Durch den Sieg über die gefürchteten Infektionskrankheiten der Vergangenheit stieg die Lebenserwartung des einzelnen Menschen stetig an. Waren diese Krankheiten früher die Geißel der Menschheit, so sind es heute, auch durch die höhere Lebenserwartung bedingt, die chronischen Erkrankungen. Diese können meist nicht geheilt, aber zunehmend besser behandelt werden. Dies führte dazu, dass Menschen immer älter, aber nicht gesünder wurden. Der Anteil pflegebedürftiger Personen steigt stetig an. Siechtum und Sterbevorgang werden im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten verlängert und die Aufenthalte in Krankenhäusern nehmen zahlenmäßig zu. Viele Menschen sterben dadurch in stationären Einrichtungen, insbesondere in Senioren- und Pflegeheimen. Durch diese stattgefundene Entwicklung blieb der einzelne Bürger zunehmend todunerfahren.

Sterben wurde im Alltagsbewusstsein immer weniger gegenwärtig. Die heutige Gesellschaft hat die Vertrautheit mit dem Tod verloren, die in historischen Gesellschaften noch auffindbar war. Sterben und Tod waren ein stets vorhandener und vertrauter Teil des Lebens. Heute sterben ca. 80 Prozent der Menschen in stationären Einrichtungen – meist in Krankenhäusern, Senioren- und Pflegheimen. Das Sterben wurde von seinem ursprünglichen Ort, dem Zuhause des Menschen, in verschiedene Institutionen verlagert (Mittag 1994, S. 12). Sterben und Tod kehren ins gesell­ schaftliche Bewusstsein zurück In jüngerer Zeit lässt sich jedoch eine gesellschaftliche Entwicklung beobachten, die Sterben und Tod wieder vermehrt ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückholt. Dies wird auch mit der Arbeit der Hospize in Verbindung gebracht. Verdrängung und Verleugnung machen zuneh-

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mend Mitmenschlichkeit und Anteilnahme Platz, so dass von einer sich derzeit ändernden Sterbekultur gesprochen werden kann. Die Hospizbewegung, die in Deutschland Mitte der 1980er Jahre entstanden ist, hat bis heute eine sehr erfolgreiche Entwicklung erfahren. Überall in Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten ambulante und stationäre Hospizdienste entstanden. Hospize werden als ein medizinisch ausgerichtetes Programm verstanden, das viele Fachbereiche in sich vereinigt. Das Ziel besteht darin, sterbenskranken Menschen und ihren Angehörigen eine fachgerechte Fürsorge zur Verfügung zu stellen, die es ihnen möglich macht, so bewusst wie möglich am Leben teilzuhaben bis zu dem Zeitpunkt, da der Tod eintritt. Das Hospiz ist dabei behilflich, das Auftreten von Not, physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Art, wie sie im Verlauf der Krankheit, des Sterbens und der Trauer auftreten können, zu lindern (Buckingham 1993, S. 35). Die Aufgabe der Hospize erschöpft sich jedoch nicht in der Betreuung und Begleitung der Kranken und ihrer Angehörigen, sondern sie wirkt darüber hinaus in die Öffentlichkeit durch Menschen, die sich in den Hospizen engagieren; durch Angehörige, die Erfahrungen in den Hospizen machen und diese in die Gesellschaft hineintragen. Der Einfluss der Hospizarbeit auf gesellschaftliche Veränderungen speist sich allerdings nicht nur durch die in Hospizen gemachten Erfahrungen, sondern auch durch die Verpflichtung der stationären Hospize, 10 Prozent ihrer gesamten Kosten aus Spendenmitteln selbst zu decken. Die Hospize sind somit auf die Öffentlichkeit angewiesen, sie müssen sich in den Gemeinden verankern, müssen informieren, aufklären, werben, damit diese 10 Prozent der Kosten für eine würdevolle Begleitung der Kranken und ihrer Angehörigen aus der Mitte der Gesellschaft zurückfließen können. Somit ist auch der zu finanzierende Eigenanteil der stationären Hospize eine Ursache für die positive gesellschaftliche

Entwicklung, die sich seit Jahren in einer sich stetig verändernden Haltung gegenüber Sterben und Tod zeigt. Die Hospize haben durch ihre Arbeit mit dazu beigetragen, dass Sterben und Tod – zumindest teilweise – in die Gesellschaft zurückgeholt werden konnten. Die weit verbreitete Verdrängungs- und Verleugnungshaltung gegenüber dem Sterben verändert sich allmählich in eine mitmenschliche Anteilnahme. In der Erwachsenenbildung und in Schulen, in den Medien, in der Aus- und Fortbildung von Ärzten und Pflegepersonal hat das Thema menschenwürdiges Sterben einen festen Platz gefunden. Das Leben im Hospiz ist eine Welt, die das erfahrbar macht, ein Beispiel für eine Lebensgemeinschaft, die neben Freude auch das Leid und Sterben in die Mitte zurückholt. Hospize sind überflüssig, wenn es uns gelingt, in den Familien- und Lebensgemeinschaften wirklich mitfühlend zu leben. Wenn es gelingt, Strukturen zu schaffen, die es wieder möglich machen, dass Sterbenskranke möglichst bis zu ihrem Tod zu Hause leben können. Die politische Förderung der ambulanten Versorgung kranker und sterbender Menschen zu Hause ist somit auch einer von mehreren wichtigen Schritten, um Sterben und Tod wieder in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Bedenken aufgrund neuer gesetzlicher Bestimmungen Es stellt sich die Frage, ob die neue gesetzliche Grundlage zur Finanzierung stationärer ­Hospize Einfluss auf die positive Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre nehmen wird. Mit Zustimmung von Union, SPD und Grünen hat der Deutsche Bundestag Ende 2015 das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland beschlossen. Das Gesetz ist am 01.01.2016 in Kraft getreten. Die neue gesetzliche Regelung verbessert die Finanzierung der stationären Hospize durch die gleichzeitige Anhebung der monatlichen Bezugsgröße nach

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§ 18 Absatz 1 SGB IV von 7 auf 9 Prozent und die Erhöhung der zuschussfähigen Kosten von 90 auf 95 Prozent. Der von den stationären Hospizen selbst zu finanzierende Eigenanteil reduziert sich dadurch von 10 auf 5 Prozent. Betrachtet man die neue gesetzliche Bestimmung unter dem bisher Geschilderten, dass zwischen der Übernahme eines finanziellen Ei­ genanteils und der dadurch erforderlichen Öffentlichkeitsarbeit der Hospize ein Zusammenhang hinsichtlich der veränderten Haltung ge­genüber Sterben und Tod in der Gesellschaft besteht, so wird ersichtlich, dass Bedenken, ob durch die neue gesetzliche Regelung das bisher Erreichte erhalten beziehungsweise weiter ausgebaut werden kann, gerechtfertigt sind. Der Vorteil des neuen Gesetzes liegt darin, dass es die finanzielle Sicherheit der Hospize erhöht. Das gilt insbesondere für Hospize, die neu gegründet werden und die somit noch keine ausreichende Zeit für Öffentlichkeitsarbeit hatten, um für ihre Anliegen zu werben. Vor diesem Hintergrund gesehen, fördert die Neuregelung auch die Hospizarbeit in der Bundesrepublik Deutschland – ein wichtiges gesellschaftspolitisches Ziel. Meiner Meinung nach dürfen wir aber nicht den Zusammenhang zwischen der Spendenabhängigkeit stationärer Hospize und der dadurch erforderlichen Öffentlichkeitsarbeit, die einen positiven Einfluss auf die Entwicklung einer menschenwürdigen Sterbekultur in der Gesellschaft hat, außer Acht lassen. In einer reichen und finanziell gut ausge-

statteten Gesellschaft dürfte es durch geeignete Aktivitäten der stationären Hospize meist kein Problem sein, einen gewissen Eigenanteil zur Finanzierung der Hospizarbeit aufzubringen. Es ist auch der erzwungenen Aktivität der stationären Hospize zu verdanken, dass sich in unserer modernen Industriegesellschaft im Umgang mit Sterben und Tod nach und nach ein neues Bewusstsein bildet. Das Aufbringen eines finanziellen Eigenanteiles verhindert darüber hinaus die Kommerzialisierung des Sterbens. In diesen sensiblen Lebensbereich dürfen Gewinn- und Profistreben keinen Einzug halten. Aufgrund des aufzubringenden Eigenteils stationärer Hospize, der in seiner vollen Höhe den mit den Kostenträgern vereinbarten Tagesbedarfsatz schmälert, sind Hospize immer defizitär angelegt. Hierdurch wird verhindert, dass Hospize aus rein wirtschaftlichen Überlegungen gegründet werden. Da die allermeisten Hospize einerseits durch ihre eigene Kostenstruktur – viele Hospize beschäftigen mehr Personal in Betreuung und Pflege als durch die Kostenträger refinanziert wird – und andererseits durch zu niedrige Tagesbedarfsätze oft mehr als 10 Prozent ihrer Kosten selbst aus Spenden tragen müssen, ist die Besserstellung der Finanzierung stationärer Hospizarbeit durch die Kostenträger zu begrüßen. Soll die gesellschaftspolitische Aufgabe stationärer Hospize erhalten bleiben und ist weiterhin ein politisches Interesse an einer sich stetig positiv verändernden Haltung Sterben und Tod gegenüber vorhanden, ist es für die Zukunft erforderlich, dass der neu festgelegte Eigenanteil von 5 Prozent erhalten bleibt. Nur wenn das gewährleistet ist, werden sich die Hospize in ausreichendem Maße in den Gemeinden, in der Öffentlichkeit verankern, werden sie ihre Arbeit in die Gesellschaft hineintragen und dadurch weiterhin ihren positiven Einfluss auf die gesellschaftliche Haltung gegenüber Sterben und Tod ausüben können.

Foto: Edgar Drückes

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Gedenkstein für die im Hospiz verstorbenen Gäste vom Bildhauer Heinz Anneser

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Stele »Zuwendung« vom Steinmetz und Stein­bildhauer K. J. ­Schneider, Siegburg

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Die nachstehende Erörterung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr soll sie exemplarisch aufzeigen, wie Öffentlichkeitsarbeit gestaltet werden kann und wie darüber die finanzielle Mittel akquiriert werden können. Das Elisabeth-Hospiz benötigt eine jährliche Spendensumme von ca. 240.000 Euro. Diese Summe entspricht nicht dem gesetzlich festgelegten Eigenanteil von 5, sondern sogar von ca. 15 Prozent. Die Ursache liegt in dem besonders hohen Personalschlüssel in Betreuung und Pflege. Zusätzliche Stellen wurden geschaffen, die nicht von den Kostenträgern, den Kranken- und Pflegekassen refinanziert werden. Der Träger des Hospizes ist der Förderverein »Freundeskreis ElisabethHospiz e. V.«, in dem zurzeit ca. 1200 zahlende Mitglieder die Arbeit des Hospizes unterstützen. Die Mitgliedsbeiträge, die durch diese Mitgliederzahl generiert werden, betragen jährlich mehr als 100.000 Euro. Durch Zeitungsinserate, durch Werbung im Hospiz – unter anderem durch die hausinterne Zeitschrift »Hospiz Aktuell« und schriftlichen Einladungen zum jährlich stattfindenden Sommerfest – konnten im Laufe der vergangenen neun Jahre mehr als 900 neue Mitglieder geworben werden, so dass sich die Mitgliedsbeiträge von rund 30.000 auf über 100.000 Euro erhöhen konnten. Neben der Mitgliederwerbung kommt den im Laufe eines Jahres regelmäßig stattfindenden Festen hinsichtlich der Spendenakquisition ebenso eine wichtige Bedeutung zu. Durch die Feste öffnet das Hospiz offiziell seine Türen. In jedem Jahr wird das Sommerfest am Tag der offenen Tür gefeiert, bei dem regelmäßig zwischen 250 und 400 interessierte Besucher erwartet werden. Diese bekommen einen Einblick in die Hospizarbeit und viele erkennen im Hospiz eine Einrichtung, die sie unterstützen wollen. Besucher spenden oder werden Mitglied im »Freundeskreis Elisa-

Foto: Edgar Drückes

Öffentlichkeitsarbeit und Spenden­ akquisition am Beispiel des Elisabeth­Hospizes in Lohmar

beth-Hospiz e. V.«. Überhaupt spielen die regelmäßig stattfindenden Feste im Laufe des Kalenderjahres eine wichtige Rolle. Es geht einerseits um die traditionellen Feste wie Karneval, Ostern, Maisingen, Sommerfest, Erntedank, Patronatsfest, Sankt Martin, Nikolaus, vier Veranstaltungen in der Adventszeit, Heiligabend, Silvester und andererseits um mehrere spontane kleine Feste im Garten des Hospizes. Durch die Feste kommen Besucher, Angehörige und Freunde der kranken Gäste ins Hospiz und lernen die Arbeit vor Ort kennen. Auch nehmen Nachbarn und Bewohner des Dorfes an so manchem Fest teil. Der Frauenchor des Dorfes tritt mehrfach im Jahr im Hospiz auf. • Die in der Region aktiven Lion-Clubs unterstützen das Hospiz. Sie organisieren beispielsweise Benefizkonzerte, deren Erlöse dann dem Hospiz zugute kommen. • Verschiedene Angehörige veranstalten in ihrem privaten Umfeld so genannte Hauskonzerte. Sie laden Freunde und Nachbarn ein und bitten um eine Spende fürs Hospiz. Darüber wird die Hospizidee in den umliegenden Gemeinden verbreitet. • Durch Kontaktaufnahme zu den Strafkammern der Gerichte können Bußgelder akquiriert werden. • Über Vorträge im und außerhalb des Hospizes werden ebenfalls Spendengelder und Mitglieder für den Trägerverein gewonnen.

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Es sind Vorträge vor Schulklassen, vor Auszubildenden im Pflegebereich, vor allgemein interessierten Gruppen wie Seniorenverbänden und Verbänden der politischen Parteien. Über das Jahr verteilt werden ca. dreißig Vortragsveranstaltungen organisiert. Besonders erwähnenswert ist das Engagement der Schülerinnen und Schüler der Realschule Lohmar. Über drei Jahre hinweg organisieren sie Spendenläufe zugunsten des Hospizes und stellen ihre Arbeitskraft an einem festgelegten Tag des Jahres den ortsansässigen Firmen und Institutionen zur Verfügung. Das Taschengeld, das sie dafür erhalten, spenden sie dem Hospiz. Knapp 9.000 Euro konnten die Schülerinnen und Schüler die vergangenen zwei Jahre dem Hospiz überbringen. Das Hospiz stellt Praktikumsplätze für Schülerinnen und Schüler zur Verfügung (Sozialpraktika). Durch Zeitungsartikel wird regelmäßig über die Hospizarbeit und über Spendenaktionen berichtet. In der hausinternen Zeitschrift »Hospiz Aktuell« erscheinen sporadisch projektbezogene Spendenaufrufe; jährlich werden über 7000 Exemplare dieser Zeitschrift verschickt. Mitglieder für den Förderverein »Freundeskreis Elisabeth-Hospiz e. V.« und allgemeine Spendengelder werden ebenso über diese Zeitschrift akquiriert. Das Jugendprojekt des Elisabeth-Hospizes »Jugend pro Hospiz« setzt sich aus zwei Bereichen zusammen: einerseits die Zusammenarbeit mit verschiedenen Schulen und andererseits die Mitarbeit junger Freiwilliger im Freiwilligen Sozialen Jahr und Bundesfreiwilligendienst. Durch das Heranführen der jungen Helferinnen und Helfer wird auch die Hospizidee in der Gesellschaft verankert. Die Firmen der Region unterstützen das Hospiz durch Mitarbeiterspenden und durch spezielle Spendenaktionen.

Die Berichterstattung durch die Medien, insbesondere durch die Presse, ist durchweg positiv. Auch persönliche Rückmeldungen – sei es von den kranken Gästen, von Angehörigen, von interessierten Bürgerinnen und Bürgern – sind positiv. Das Hospiz ist im Kreis bekannt und sehr akzeptiert, gut im Dorfgeschehen verankert, es ist fester Bestandteil des Dorfes, Hospiz und Dorfgemeinschaft leben ein gutes Miteinander. Dies war unter anderem ein Grund dafür, dass das Dorf Deesem im Dorfwettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft« den zweiten Platz in NordrheinWestfalen unter Gemeinden bis zu 300 Einwohnern belegen konnte. Die Integration des Hospizes in das Dorfgeschehen wurde von der Jury ausdrücklich gelobt. Aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit des Hospizes wird das Hospiz regelmäßig von Bürgerinnen und Bürgern kontaktiert, die das Hospiz durch Spenden, durch eine Mitgliedschaft im Förderverein oder durch ehrenamtliche Mitarbeit unterstützen wollen. Besonders bei der Jugend erkennen wir in unserer Region und auch darüber hinaus ein großes Interesse an der Hospizarbeit. Es ist die Jugend, die künftig Verantwortung übernehmen und politisch gestalten wird. Sie zu sensibilisieren, ihr Interesse an Hospizarbeit zu nutzen, fördert eine gesellschaftliche Entwicklung, die Sterben und Tod als zum Leben dazu gehörende Erfahrungen akzeptiert. Edgar Drückes, Diplom-Sozialpädagoge und Betriebswirt, seit 17 Jahren im Elisabeth-Hospiz gGmbH, 53797 Lohmar, beschäftigt; seit 2006 in der Geschäftsführung. E-Mail: [email protected] Literatur Buckingham, R. W. (1993). Hospiz – Sterbende menschlich begleiten. Freiburg. Engelke, H.; Schmoll, H.-J.; Wolff, G. (1979). Sterbebeistand bei Kindern und Erwachsenen. Stuttgart. Mittag, O. (1994). Sterbende begleiten. Stuttgart. Zulehner, P.; Becker, P.; Virt, G. (1991). Sterben und sterben lassen. Düsseldorf.

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Hospiz in den USA Die Gedanken einer Ärztin zum Stand der Sterbebegleitung

Holly Yang Die Hospizbetreuung ist seit 1974, als das erste Hospiz in Connecticut/USA gegründet wurde, Teil des amerikanischen Gesundheitssystems. Fünf Jahre später wurde ein Modellprojekt an 26  Hospizen gestartet, um die Kosteneffektivität des Programms und den Nutzen für die Patienten zu beurteilen. Die Hospizbetreuung (Hospice Benefit) in Medicare wurde erstmals 1982 festgeschrieben und besteht dauerhaft seit 1986. Seit damals wurden die Leistungen immer wieder verändert und verbessert, während die Zahl der Amerikaner, die am Ende ihres Lebens Zugang zu Hospizbetreuung haben, stetig ansteigt. Im Jahre 2004 haben erstmals mehr als eine Million US-Bürger eine Hospizbetreuung in Anspruch genommen.1 Zusätzlich zu der Hospizbewegung hat eine starke Palliativversorgung an Kraft gewonnen. Beide haben das gemeinsame Ziel einer lückenlosen populationsbezogenen Versorgung, die jeden Grad von Krankheitsschwere abdeckt und alle Patienten unabhängig vom Behandlungsort erreicht. Das amerikanische Gesundheitssystem ist komplex. Medicare ist die gesetzliche Krankenversicherung, bei der die meisten Menschen mit 65 Jahren oder älter versichert sind, während Me­ dicaid die gesetzliche Krankenversicherung für die Armen ist, diese wird auch von den einzelnen Staaten unterstützt. Des Weiteren sind manche Leute in Amerika über ihren Arbeitgeber krankenversichert oder sie zahlen ihre Krankenversicherung als Privatpersonen. Durch den Patient

Protection and Affordable Care Act (ACA) von Präsident Obama sind mehr Amerikaner als früher krankenversichert, aber es gibt immer noch Menschen ohne Zugang zu Krankenversicherung oder andere, die sich gegen eine Gesundheitsversorgung entscheiden. Medicare und Medicaid zahlen für die gesamte Hospizbetreuung, während die Kosten von den privaten Krankenversicherungen in unterschiedlichem Maß gedeckt werden. Patienten ohne Krankenversicherung müssen oft einen Teil der Pflege selbst zahlen oder, falls sie die Zahlungen nicht leisten können, das Hospiz kann »karitative Pflege« anbieten. In den USA gelten Hospizprogramme als Teil der Palliativversorgung, aber nicht jede Art von Palliativversorgung findet im Hospiz statt. Wenn Patienten nicht die Bedingungen erfüllen, um in die Hospizbetreuung aufgenommen zu werden, hängt die Kostenerstattung für jedes Angebot der Palliativversorgung davon ab, was den Patienten über ihre Krankenversicherung zusteht. Oder einfacher ausgedrückt: Patienten werden bei Hospizbetreuung durch ein offizielles Programm finanziell unterstützt, während sie für andere Formen der Palliativversorgung genau wie für jede andere medizinische Versorgung in den USA bezahlen müssen. Das heißt, dass es für einige der Betreuungsangebote, die als essenzieller Bestandteil der Palliativversorgung gelten, wie zum Beispiel die spirituelle Betreuung, wenig bis gar keine offizielle Finanzierungsmecha-

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 49–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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© Lukas Radbruch

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nismen durch die Krankenversicherung gibt. Allerdings hat die Palliativversorgung in den USA den Vorteil, dass Patienten nicht an einer terminalen Erkrankung leiden müssen, um versorgt zu werden, und dass sie weiterhin kurativ behandelt werden können. Um für eine Hospizbetreuung in Frage zu kommen, müssen Patienten eine Lebenserwartung von sechs Monaten oder weniger haben, wenn die Erkrankung wie üblich verläuft, und sie können nicht gleichzeitig kurativ behandelt werden.2 Wenn Patienten länger als sechs Monate leben, werden sie nicht benachteiligt, aber sie müssen erneut begutachtet werden, bevor die Hospizbetreuung über die sechs Monate hinaus fortgeführt wird. Danach wird alle 60 Tage überprüft, ob die Patienten weiterhin die Vorgaben erfüllen und ob sich ihr Zustand verschlechtert. Als das Medicare Hospice Benefit gegründet wurde, wurden Leitlinien erstellt, die bei der Festlegung helfen sollten, ab wann ein Patient die Hospizbetreuung benötigt. Leider sagen diese Richtlinien nicht die Sterbewahrscheinlichkeit in den nächsten sechs Monaten voraus, sie wurden nicht umfassend aktualisiert, sie variieren von Region zu Region und einige Hospizmitarbeiter berichten, dass die zuständigen Gutachter (Medicare Ad­ ministrative Contractors) die Leitlinien eher als strengen Kriterienkatalog auslegen. Warum ist das von Bedeutung? Es ist deshalb wichtig, weil Patienten und ihre Familien durch das Medicare Hospice Benefit viele Vorteile haben. Mindestens einmal alle zwei Wochen kommt eine Hospizkrankenschwester zu ihnen nach Hause, sie haben Kontakt zu Sozialarbeitern, Beratern, häuslichen Gesundheitshelfern, Freiwilligen und vielen weiteren Angeboten, wie zum Beispiel Trauerbegleitung. Die Patienten werden von Hospizärzten begutachtet, ihre Medikamente, Behandlungen und alle Verfahren und Geräte, die mit der Hospizdiagnose verbunden sind, werden bezahlt. Es ist wichtig, weil Patienten und ihre Familien umfassende und professionelle Sterbebegleitung durch das Hospizprogramm so bald wie

möglich brauchen und nicht erst, wenn klar ist, dass sie sterben werden. Leider erfolgt dieser medizinische Blick in die Kristallkugel meist erst kurz vor dem Tod des Patienten (Tage bis Wochen). In den USA herrscht eine große Angst vor Überprüfung und Bestrafung, egal ob gerechtfertigt oder nicht. Natürlich müssen Betrug und Missbrauch unterbunden werden, aber gleichzeitig kann eine zu strenge Auslegung der Richtlinien eine Hürde für Patienten darstellen, da Hospizprogramme bei der Aufnahme von Patienten immer zurückhaltender werden. Jeder Hospizarzt mit ein bisschen Bescheidenheit sollte wissen, dass Prognosen zur Sterblichkeit in den nächsten sechs Monaten nicht genau sind. Es hat sich gezeigt, dass die Hospizbetreuung in den USA das Leben der Patienten nicht verkürzt, sondern das von einigen sogar verlängert.3 Die Hospizbetreuung ist außerdem kosteneffektiv und sorgt dafür, dass Patienten weniger Zeit im Krankenhaus verbringen und weniger Patienten im Krankenhaus sterben.4 Trotz dieser positiven Ergebnisse werden die Hospizdienste weiterhin nicht ausschöpfend genutzt. 2013 war die Hälfte der Patienten weniger als 18,5 Tage im Hospiz. Die durchschnittliche Länge der Betreuung betrug nur 72,6 Tage,5 obwohl Patienten und ihren Familien am meisten mit einer Betreuung über mehrere Monate geholfen wäre. Während die Hospizprogramme in den USA entstanden sind, indem sie Sterbende zu Hause betreuten, entstand Palliativversorgung in Akutkrankenhäusern in Form von Palliativkonsildiensten. Es kommen laufend stationäre Angebote dazu, dies wird jährlich vom Center to Ad­ vance Palliative Care und vom National Palliative Care Research Center erfasst.6 Nachdem Patienten nun früher im Krankheitsverlauf an solche Palliativdienste überwiesen wurden, stellte sich heraus, dass viele Patienten den Aufnahmekriterien für Hospizprogramme nicht entsprachen oder dass sie die Hospizbetreuung nicht in Anspruch nehmen wollten, obwohl sie ein Anrecht

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darauf hätten. Die Notwendigkeit einer ambulanten Palliativversorgung war damit dramatisch verdeutlicht worden, da bei vielen dieser Patienten eine professionelle Symptomkontrolle fehlte, so dass sie bald wieder im Krankenhaus aufgenommen werden mussten. Mittlerweile gibt es immer mehr ambulante Palliativprogramme und häusliche Versorgung in den USA. Das Ziel ist es, die Patienten im Krankenhaus mit Palliativambulanzen, häuslicher Palliativversorgung oder einem Hospizprogramm in Verbindung zu setzen. Des Weiteren wurden innovative Modelle für die Hospizbetreuung gegründet. Einige Versicherungen unterstützen parallele Versorgungsmodelle, bei denen Patienten gleichzeitig palliative und kurative Behandlung erhalten.7 Präsident Obama hat die Hospizbetreuung gleichzeitig mit kurativer Behandlung für Kinder 2010 als Teil der ACA gesetzlich verankert.8 Andere Versicherungen haben den Zeitraum der Lebenserwartung von sechs Monaten auf ein Jahr verlängert.9 Organisationen der Hospiz- und Palliativmedizin (HPM) wie die American Academy of Hospice and Palliative Medicine (AAHPM) und die National Hospice and Palliative Care Organi­ zation (NHPCO) haben sich für positive Veränderungen auf Bundesebene ausgesprochen. Die umfassendste aktuelle Veränderung der Hospizbetreuung wird 2016 in Kraft treten. Sie besteht aus einem zweistufigen Bezahlungsmodell, bei dem die Pflege während der ersten 60 Tage im Hospizprogramm nach einem höheren Satz vergütet wird. Des Weiteren werden Zusatzzahlungen geleistet für die intensive Betreuung in der letzten Woche des Lebens.10 Gegenüber der früheren einheitlichen Tagespauschale für die gesamte Palliativversorgung ist diese Veränderung zu einer höheren Vergütung am Anfang und am Ende der Betreuung sinnvoll, denn dann ist die Bedürftigkeit der Patienten am höchsten. Außerdem werden die Bedenken der Kostenträger über zu lange Betreuung in den Hospizprogrammen ausgeräumt, denn die Kostenerstattung ist nun nach den ersten zwei Monaten geringer.

In diesem Zusammenhang ist es gut zu erwähnen, dass das Thema »death panel« (Todeskomitee) endlich abgeschlossen ist. Die Vize-Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin hatte 2009 eine Panik ausgelöst, als sie davon sprach, dass die Auseinandersetzung mit Sterbebegleitung gleichzusetzen wäre mit einer Gruppe von Bürokraten, die der Großmutter sprichwörtlich den Stecker ziehen würden. Dies verhinderte, dass das Konzept der gesundheitlichen Vorausplanung im ACA integriert und finanziell vergütet wurde. Im Oktober 2015 hat Medicare endlich beschlossen, Ärzte für gesundheitliche Vorausplanung zu bezahlen. Dies ermöglicht eine aufgeklärtere Sterbebegleitung, bei der der Patient im Mittelpunkt steht.11 Die Entscheidung der kalifornischen Gesetzgebung für ärztliche Beihilfe zum Suizid (phy­ sician-assisted death – PAD) hat außerdem Schlagzeilen gemacht.12 Es war ein glücklicher Sieg für diejenigen, die für Autonomie und die freie Wahl des Patienten im Sterbeprozess plädieren, und ein Grund zur Sorge für diejenigen, die andere Vorstellungen haben, die vor allem in unterversorgten Regionen gern mehr Zugang zur Hospizund Palliativversorgung hätten, und für diejenigen, die sich nun sorgen, dass Patienten eher ein letales Medikament verschrieben bekommen, als dass sie in ein Hospizprogramm aufgenommen werden. Wie der Rest des Landes auf die neue Haltung eines politisch so einflussreichen Staates wie Kalifornien bezüglich der PAD reagiert, wird sich zeigen, besonders im Hinblick auf das Wahljahr 2016. Es gibt viele weitere erwähnenswerte Entwicklungen in der amerikanischen HPM in den letzten Jahren. So gibt es mittlerweile eine anerkannte Weiterbildung für Ärzte in Hospiz- und Palliativmedizin. Da nicht alle Hospizärzte eine solche Weiterbildung anstrebten, eine offizielle Zertifizierung der Ärzte mit Kenntnissen in der Sterbebegleitung aber von Nöten war, gibt es seit 2014 die Prüfung zur Hospice Medical Directors Certi­ fication (HMDC).13 Zweitens hat eine Koalition von Organisationen, angeführt von der AAHPM,

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gibt es bundesweite Qualitätsberichte zur Hospizbetreuung. In der Weiterentwicklung der Hospizbetreuung wird eine gute und evidenzbasierte Qualitätssicherung von entscheidender Bedeutung sein. Die amerikanische HPM-Gemeinschaft reagiert entsprechend mit Initiativen wie beispielsweise »Measuring What Matters« von AAHPM.20 Im vierten Jahrzehnt der modernden Hospizbewegung in den USA gibt es neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen. Während die Palliativversorgung schon früh im Krankheitsverlauf für den Patienten von Bedeutung ist und es eine Vielzahl an örtlichen Angeboten gibt, um den verschiedenen Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden, gewinnt das Feld der Hospiz- und Palliativmedizin (HPM) zunehmend an Akzeptanz, Evidenzbasis und Ansehen. Viele Patienten und Familien fragen direkt nach HPM. Studenten beginnen ein Medizinstudium mit dem Ziel, Hospizund Palliativarzt zu werden. Für Dezember 2015 war das erste »Fellowship Match« in HPM geplant, ein Kennzeichen für die Entwicklung dieser Spezialisierung, die erst 2006 vom American Board of Medical Specialties anerkannt wurde.21 Die Berufsstände von Hospiz- und Palliativpflegekräf-

© Ben Metz

erneut eine Gesetzvorlage (Palliative Care and Hospice Education and Training Act – PCHETA) in den US-Kongress eingebracht, mit Unterstützung sowohl von der Abgeordnetenkammer als auch vom Senat. Ziel sind die Steigerung der Zahl der Arbeitskräfte in der Hospiz- und Palliativversorgung, die Schaffung einer Evidenzbasis und ein besserer Zugang zur Versorgung.14 Das Insti­ tute of Medicine (IOM) in den USA hat den wegweisenden Bericht »Dying in America« (Sterben in Amerika) veröffentlicht, der auf den Stand der Hospiz- und Palliativversorgung in Amerika aufmerksam macht und Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung für schwerkranke Patienten und ihre Familien macht.15 Der ACA fördert weiterhin eine höhere Qualität der Versorgung mit dem Ziel einer möglichst ambulanten und häuslichen Versorgung. Dies ist sowohl kosteneffizienter als auch patientenfreundlicher. Die Öffentlichkeit wird zunehmend auf das Thema aufmerksam, zum Beispiel durch den Bestseller von Atul Gawande »Being Mortal« (»Sterblich sein«)16 und eine Vielzahl von weiteren Büchern, Artikeln und Öffentlichkeitsinitiativen wie Death Café,17 Death over Dinner18 und Before I Die …19 Mittlerweile

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ten, Sozialarbeitern, Seelsorgern und anderen Berufsgruppen erleben in den USA steten Zuwachs, ebenso wie ihre Berufsverbände. Die engagierten, zähen und aufopferungsvollen Pioniere unseres Feldes machen sich Gedanken über ihr Vermächtnis, und es folgen viele begeisterte, leidenschaftliche Menschen, die das Feld der Hospiz- und Palliativmedizin noch fester in der Schulmedizin verankern wollen. In den USA gibt es Herausforderungen beim Zugang, der finanziellen Förderung, beim professionellen Training, bei der Verfügbarkeit von Medikamenten, Versicherung und Forschung, aber HPM-Ärzte, Patienten und Familien waren nie in einer besseren Position, um die Behandlung zu verlangen, die wir HPM-Betreiber anbieten und die die amerikanische Bevölkerung erwartet. Das ist Fortschritt. Wir machen weiter. Übersetzung von Julia Feldhuis

Holly Yang ist Hospizärztin und Palliativmedizinerin in San Diego in Kalifornien, wo sie in verschiedenen Hospizund Palliativeinrichtungen von Scripps Health arbeitet. Neben der Weiterbildung als Hospizärztin erwarb sie den Master of Science in Health Professions Education (MSHPEd). Sie ist Kodirektorin des Weiterbildungsprogramms für Palliativmedizin der Universität San Diego/Scripps Health, Vorstandsmitglied der American Academy of Hospice and Palliative Medicine und der San Diego County Medical Society. E-Mail: [email protected] Quellen 1 Hospice: A historical perspective. National Hospice and Palliative Care Organization. www.nhpco.org/history-hos­pice-care – Zuletzt aktualisiert 23.07.2015. 2 Medicare Hospice Benefits. Centers for Medicare and Medicaid Services. www.medicare.gov/Pubs/pdf/02154.pdf  – Zuletzt aktualisiert 01.01.2015. 3 Connor, E. R.; et al. (2007). Comparing hospice and nonhospice patient survival among patients who die within a three-year window. In: Journal of Pain and Symptom Management, 33, S. 238–246. www.nhpco.org/sites/default/ files/public/JPSM/march-2007-article.pdf 4 Kelley, A. S.; et  al. (2013). Hospice enrollment saves money for medicare and improves care quality across a number of different lengths-of-stay. In: Health Affairs, 32 (3), S. 552–561. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/ PMC3655535/pdf/nihms464299.pdf

5 NHPCO’s facts and figures: Hospice care in America.   National Hospice and Palliative Care Organization. 2014. www.nhpco.org/sites/default/files/public/Statistics_Research/2014_Facts_Figures.pdf 6 America’s care of serious illness: 2015 State-by-state report card on access to palliative care in our nation’s hospitals. Center to Advance Palliative Care, 2015. www.reportcard.capc.org 7 Krakauer, R.; et al. (2009). Opportunities to improve the quality of care for advanced illness. In: Health Affairs, 28 (5), S. 1357–1359. www.content.healthaffairs.org/content/ 28/5/1357.full.pdf+html 8 Pediatric concurrent care. National Hospice and Palliative Care Organization, December 2012. www.nhpco.org/sites/ default/files/public/ChiPPS/Continuum_Briefing.pdf 9 A better benefit: health plans try new approaches to end of life care. California Health Care Foundation Issue Brief. April 2013. http://www.chcf.org/~/media/MEDIA%20LIBRARY%20Files/PDF/PDF%20B/PDF%20BetterBenefitNewApproachesEOL.pdf 10 CMS final rule implements new payment structure for hospice. National Hospice and Palliative Care Organization. 03.08.2015. www.nhpco.org/press-room/press-releases/cms-releases-fy2016-hospice-wage-index-final-rule 11 End-of-life discussions will be reimbursed by Medicare. Wall Street Journal. Oct. 30, 2015. www.wsj.com/articles/ end-of-life-discussions-will-be-reimbursed-by-medicare-1446240608 – Zugriff am 02.11.2015. 12 What you need to know about California’s new assisted-death law. Sacramento Bee. 09.10.2015. www.sacbee. com/news/politics-government/capitol-alert/article3854 1141.html – Zugriff am 02.11.2015. 13 History. Hospice Medical Director Certification Board. www.hmdcb.org/about/default/history.html – Zugriff am 02.11.2015. 14 Palliative care and hospice education and training act. American Academy of Hospice and Palliative Medicine. www.aahpm.org/uploads/advocacy/2015_PCHETA_ Summary.pdf – Zugriff am 02.11.2015 15 Dying in America: Improving quality and honoring individual preferences near the end of life. Institute of Medicine. 14.09.2014. http://iom.nationalacademies.org/ Reports/2014/Dying-In-America-Improving-Qualityand-Honoring-Individual-Preferences-Near-the-Endof-Life.aspx 16 Atul Gawande’s ›Being Mortal‹. New York Times Sunday Book Review. 06.11.2014. www.nytimes.com/2014/11/09/ books/review/atul-gawande-being-mortal-review.html 17 Death Café. www.deathcafe.com – Zugriff am 02.11.2015. 18 Death over dinner. www.deathoverdinner.org  – Zugriff am 02.11.2015. 19 Before I Die … www.beforeidie.cc – Zugriff am 02.11.2015. 20 Dy, S. M.; et al. (2015). Measuring what matters: top-ranked quality indicators for hospice and palliative care from the American Academy of Hospice and Palliative Medicine and Hospice and Palliative Nurses Association. In: Journal of Pain and Symptom Management, 49 (4), S. 773–781. www. jpsmjournal.com/article/S0885–3924(15)00073–1/pdf 21 Hospice and palliative medicine match participation. Ame­ rican Academy of Hospice and Palliative Medicine. www. aahpm.org/fellowships/match – Zugriff am 02.11.2015.

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Hospize und Trauer als Spendenmarkt Führt der Ausbau von Palliativ- und Hospizversorgung zu einem Wettstreit um Spendengelder?

Christoph Radbruch und Ulrike Petermann Die ursprünglich dem amerikanischen Milliardär Paul Getty zugeschriebene Redensart »über Geld spricht man nicht, Geld hat man« scheint im Fundraising nicht zu gelten. Beim Einwerben von Spenden gilt es auf vielfältige Weise, den Zweck zu beschreiben und deutlich zu machen, dass dafür die nötigen Finanzmittel fehlen. Dies geschieht mit zahlreichen Methoden vom Sammeln mit Spendendosen auf dem Weihnachtsmarkt bis zum Online-Fundraising und Erbschaftsmanagement. Fundraising braucht Kommunikation und setzt alle Mittel der Pressearbeit und des Marketings ein. Kein Wunder, dass Geldsammeln mittlerweile ein Beruf geworden ist und auch die Träger der Hospizarbeit professionelle Fundraiser beschäftigen. Wobei die Hospizarbeit gegenüber manch anderen ebenso sinnvollen und auf Spen-

Geldsammeln ist mittlerweile ein Beruf geworden und auch die Trä­ ger der Hospizarbeit beschäftigen professionelle Fundraiser.

den angewiesenen Aufgabenfeldern den Vorteil hat, dass allgemein bekannt ist, dass die Arbeit nicht kostendeckend refinanziert wird und man deswegen die Notwendigkeit der Spenden nicht ausführlich begründen muss. Für die Träger der Hospizarbeit sind die Spenden neben den Pflegesätzen der Kasse eine weitere Erlösart, die notwendig ist, um die Arbeit zu refinanzieren. Neben den gesetzlichen Regelungen, dass 5 Prozent der mit den Kassen verhandelten Pflegesätze durch Spenden aufzubringen sind, ist die gesamte Beratung, Trauerbegleitung und Familienarbeit mit Spenden zu finanzieren. Dabei sollte gerade die Hospizarbeit, die sich ja mit der ultimativen Grenze des Menschen – dem Tod – auseinandersetzten muss, realisieren, dass auch die Ressourcen, die für die Versorgung und Begleitung Sterbender zur Verfügung stehen, begrenzt sind, da unsere Gesellschaft nicht unbegrenzt Finanzen für die Hospizarbeit zur Verfügung stellen kann. Deswegen sind Sparsamkeit und das kalkulierte zielorientierte Einsetzen von Spenden grundsätzlich eine ethisch begründete Aufgabe. Der wirtschaftliche Umgang mit Ressourcen aller Art ist ein Akt der Nächstenliebe, da er ermöglicht, dass möglichst viele und möglichst alle Bedürftigen diese Ressourcen nutzen können und nicht nur diejenigen, die es sich leisten können. Im Jahr 2014 haben 22,4 Millionen Menschen rund 5 Milliarden Euro überwiegend für Projekte auf lokaler und nationaler Ebene gespendet (Quelle: Deutscher Spendenrat, 11.03.2015). Wenn auch das private Spendenaufkommen da-

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mit um 5,4 Prozent nochmals deutlich über dem Vorjahr liegt, so sind die Mittel, die durch Spenden eingeworben werden können, nicht unbegrenzt. Deswegen machen sich auf dem Spendenmarkt nicht nur die unterschiedlichen Spendenzwecke wie Umwelt-/Naturschutz, Tierschutz, Sport, Kultur und Hospizarbeit Konkurrenz, sondern auch die jeweiligen Träger der Hospizarbeit können miteinander in den Wettbewerb treten sowie die unterschiedlichen Arbeitsfelder, also stationäre mit der ambulanten Hospizarbeit und ein Kinderhospiz mit dem Erwachsenenhospiz. Bis auf die Ausnahme von wenigen überregional bekannten großen Trägern ist das Werben um Spenden für Erwachsenenhospize nur im Einzugsgebiet des Hospizes sinnvoll. Als Folge treten Erwachsenenhospize vor allem dann miteinander in Konkurrenz, wenn ein weiteres Hospiz im Einzugsgebiet eröffnet wird. Für die ersten Kinderhospize war es bisher aufgrund der geringen Anzahl auch möglich, bundesweit Spendenmarketing zu betreiben. Dieser Trend nimmt ab. Da es durch viele Neugründungen nun in jeder Region ein Kinderhospiz gibt, gilt in der Regel jetzt auch für das Kinderhospiz, dass in der jeweils eigenen Region gespendet wird. Bei Gesprächen mit Besuchern des Infostandes des Kinderhospizes Magdeburg auf dem Kirchentag ist immer wieder deutlich geworden, dass die Regionalität der Treiber für die Entscheidung ist zu spenden. Daher wundert es nicht, dass die ersten, bisher bundesweit um Spenden werbenden Kinderhospize Neugründungen durchaus kritisch sehen. Dieser Trend zur Regionalisierung spiegelt sich auch in der Namensgebung. Hießen die ersten Kinderhospize nur »Balthasar«, »Löwenherz« oder »Sternenbrücke«, wird bei späteren Gründungen entweder wie beim Kinderhospiz »Bärenherz-Leipzig« die Stadt in den offiziellen Namen integriert oder die Region wird Hauptbestandteil des Namens wie beim »Kinderhospiz Magdeburg«. Der regionale Bezug spielt auch eine Rolle beim Werben um Bußgelder. Geldauflagen ver-

hängen Richter und Staatsanwälte bei der Einstellung eines Verfahrens oder als Geldbuße. Den Empfänger können die Richter frei bestimmen. Im Jahr 2014 sind im Land Sachsen-Anhalt insgesamt 4,15 Millionen Euro zusammengekommen, von denen über 3 Millionen Euro an die Landeskasse geflossen sind. 7.800 Euro erhielt das Kinderhospiz Leipzig in Sachsen, 21.775 Euro das Kinderhospiz Mitteldeutschland in Thüringen und speziell im Landgerichtsbezirk Magdeburg wurden 12.600 Euro an das Kinderhospiz Magdeburg verteilt. Natürlich versuchen die Pfeifferschen Stiftungen als Träger des Kinderhospizes in Magdeburg durch das Hervorheben des Alleinstellungsmerkmals, einziges Kinderhospiz in Sachsen-Anhalt zu sein, die Grenze des Landgerichtsbezirkes Magdeburg zu überschreiten und auch im südlichen Sachsen-Anhalt um Bußgelder und Spenden zu werben. Da im südlichen Landesteil aber aufgrund der Entfernung, der Geschichte und der kulturellen Zugehörigkeit die gefühlte Nähe zu den Kinderhospizen in Thüringen und Leipzig groß ist, wird dies nur begrenzt gelingen. Das Alleinstellungsmerkmal in der Region war auch der entscheidende Grund, dass Reiner ­Haseloff, Ministerpräsident des Bundeslandes, die Schirmherrschaft für das Kinderhospiz übernommen hat und durch seine Kontakte zu den Medien eine überregionale Spendenaktion ermöglichte. Beim »Frühlingsfest der 100.000 Blüten«, das im März 2013 in der ARD und im ORF live aus Magdeburg übertragen wurde, rief Florian Silbereisen zu einer einzigartigen Spendenaktion für das Kinderhospiz der Pfeifferschen Stiftungen auf. Gemeinsam sang er mit allen Künstlern der Show für das Kinderhospiz. Die Zuschauer, die sich 24 Stunden nach der Show im Internet die Aufnahme der »Stars mit Herz« herunterladen konnten, spendeten insgesamt 64.649 Euro für den Bau des Kinderhospizes. Die Konkurrenz der verschiedenen Versorgungsformen um Spenden hat in den Pfeifferschen Stiftungen dazu geführt, dass die Verant-

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Vincent van Gogh, Madame Roulin and her baby, 1888 / Metropolitan Museum of Art, New York / Bridgeman Images

Für das Kinderhospiz ist eher die Dankbarkeit, nicht betroffen zu sein, ein Motiv spenden. H o s p izu ze u n d Tr a u e r a l s S p e n d e n m a r k t    5 7

wortlichen für die Hospizarbeit große Sorgen hatten, dass durch die Eröffnung des Kinderhospizes das notwendige Spendenaufkommen für das Erwachsenenhospiz nicht mehr erzielt werden kann. Zwar hat sich die Zahl der pressewirksamen Spendenübergaben für das Erwachsenenhospiz deutlich reduziert, ein Zeichen dafür, dass

das Kinderhospiz andere Spendenthemen überlagert, aber die Spendensumme ist nur leicht zurückgegangen, da unterschiedliche Zielgruppen angesprochen werden. Im Erwachsenenhospiz sind die Angehörigen, die aus eigener Betroffenheit spenden, eine große und verlässliche Spendergruppe. Die Re-

Geld und Leid – das leidige Geld

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gelung, dass 5 Prozent der mit den Kassen verhandelten Kosten durch Spenden finanziert werden müssen, führt dazu, dass die Mehrzahl der Spenden für das Hospiz der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg von Angehörigen aufgebracht wird. Zwar spenden viele Angehörige mehrfach, vor allem wenn der Aufenthalt des Gastes länger als vermutet ist oder nachfolgende Angebote wie das Trauercafé genutzt werden, in der Regel werden die Angehörigen aber keine Mehrfachspender im eigentlichen Sinne. Darüber hinaus gibt es Paten und einige Firmen, die das Hospiz seit längerem dauerhaft unterstützen. Spenden aus Werbemaßnahmen, wie Mailings, sind vergleichsweise gering. Für das Kinderhospiz ist eher die Dankbarkeit, nicht betroffen zu sein, ein Motiv zu spenden. Deswegen sind Anlassspenden (Geburtstage, Hochzeit, Jubiläen) ein wichtiger Bestandteil des Fundraising. Dazu kommen Spenden aus externen Aktionen wie Sponsorenläufe oder Sportaktionen und Spenden aus Werbemaßnahmen wie Mailings oder Online-Spenden. Neben Privatpersonen und Firmen spenden auch Vereine und Initiativen, Schulen und Kindergärten, die als Multiplikatoren besonders wichtig sind und für einen Bekanntheitsgrad sorgen, der es ermöglicht, spezielle Spendenkampagnen zu reduzieren und langfristig wirkende Methoden der klassischen Marken- und Imagepflege einzusetzen. Die zu beobachtende Regionalisierung des Spendenmarktes für die Hospizarbeit führt aber zu einer ungleichen Verteilung der Mittel, da das Spendenaufkommen auch von der unterschiedlichen Wirtschaftskraft der Regionen abhängt. Darüber hinaus ist im Osten Deutschlands die bürgerliche Schicht noch immer sehr klein und es fehlen die Firmenzentralen der großen Unternehmen. Für den Bau des Kinderhospizes in Magdeburg sammelten die Mitarbeitenden eines bundesweit bekannten Herstellers von Generika während der Weihnachtsfeier den Betrag von 6.000 Euro. Bei der Spendenübergabe erklärte der Betriebsleiter, dass die Firma leider nicht spen-

den könne, da diese Entscheidungen über Spenden von der Konzernmutter in der Schweiz – vier Hierarchieebenen höher – getroffen werden. Zum Vergleich: Für den Bau eines Kinderhospizes in Norddeutschland spendete eine lokale Kauffrau die Bausumme von mehreren Millionen Euro. Für den laufenden Betrieb des Kinderhospizes können die Pfeifferschen Stiftungen bei ähnlichen Pflegesätzen der Krankenkassen jährlich mit dem Ergebnis von ca. 300.000 Euro Spenden rechnen. Im Vergleich ist dies innerhalb der Region hervorragend, auch wenn Kinderhospize in Westdeutschland jährlich weit über eine Million Euro an Spenden für den laufenden Betrieb erhalten. Anders als bei den Krankenkassen, die die unterschiedlichen Strukturen der Regionen durch Transferleistungen ausgleichen und zwar unterschiedliche, aber grundsätzlich vergleichbare Pflegesätze zahlen, schlagen diese regionalen Unterschiede im Spendenmarkt voll durch. Deswegen ist die Initiative der Bundesregierung zu begrüßen, die gesetzliche Finanzierung zu verbessern, um ein flächendeckendes Hospiz- und Palliativangebot auch in strukturschwachen Regionen Deutschlands zu garantieren und damit die Abhängigkeit von der Erlösart Spenden zu reduzieren. Christoph Radbruch ist Theologe und Vorstandsvorsitzender der Pfeifferschen Stiftungen, der größten diakonischen Komplexeinrichtung in Sachsen-Anhalt. Bereits seit vielen Jahren begleitet ihn beruflich das Thema Spenden, zunächst als Pfarrer und Superintendent der evangelischen Kirche im Rheinland, bevor er als Vorstandsvorsitzender das Spendenwesen in den Pfeifferschen Stiftungen neu aufbaute. E-Mail: [email protected] Ulrike Petermann, Theologin, war Marketingleiterin in der Privatwirtschaft, bevor sie die Leitung der Unternehmenskommunikation in den Pfeifferschen Stiftungen übernahm. Dort ist der Bereich Fundraising der Unternehmenskommunikation zugeordnet. E-Mail: [email protected]

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Erbschaftsspenden am St. Christopher’s und ein Leitfaden zum Spendensammeln durch Erbschaften Philippa Kelham

Hintergrund Das St. Christopher’s wurde 1967 im Südosten Londons von Cicely Saunders gegründet, es gilt als Geburtsstätte der modernen Hospiz- und Palliativbewegung und bietet als solches zahlreiche spezialisierte Leistungen kostenfrei an. Am St. Christopher’s werden Patienten auf vier Stationen mit insgesamt 48 Betten versorgt, weitere Patienten werden zu Hause betreut. Diese Betreuung findet sowohl tagsüber als auch abends, nachts und am Wochenende statt. Die umfassende Angebot der Tagesklinik beinhaltet klinische Expertenbetreuung, unterstützende Leistungen, kreative und alternative Therapien. Des Weiteren gibt es das Anniversary Centre, das ambulante Betreuung sowie Tagesbetreuung anbietet, aber auch sieben Tage die Woche von 8 bis 21 Uhr für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Spezielle Ambulanzsprechstunden werden von Fachkrankenschwestern betrieben und es gibt einen spezialisierten Lymphödemdienst am St. Christopher’s Standort in Bromley. Das Candle Project unterstützt Familien, hinterbliebene Kinder und junge Erwachsene im Süden Londons. Das Care-Home-Project-Team arbeitet mit etwa hundert Pflegeeinrichtungen zusammen, um das Personal dabei zu unterstützen, ihre Fähigkeiten in der Sterbebegleitung zu erweitern. Das St. Christo-

pher’s ist weltweit einer der größten Ausbilder in der Hospiz- und Palliativversorgung. Diese Angebote sind nicht billig, es kostet über 19 Millionen Pfund pro Jahr, um das Einzugsgebiet von über 1,5 Millionen Menschen zu versorgen, wobei viele Projekte auch landesweit und im Ausland angesetzt sind. St. Christopher’s ist als Wohlfahrtsverband registriert, das heißt, alle Angebote sind kostenfrei. Von den 19,5 Millionen Pfund muss das St. Christopher’s jährlich ca. 13 Millionen Pfund durch Spenden einnehmen. Um weiterhin eine kostenfreie professionelle Versorgung am Lebensende für Patienten und ihre Familien anbieten zu können, ist das Hospiz auf die Unterstützung von Einzelpersonen, Firmen und Konzernen angewiesen. Der Großteil der benötigten Spendengelder (fast 30 Prozent) stammt aus Erbschaften, Vermächtnisse durch Testamente, die als das schönste Geschenk angesehen werden.

St Christopher’s Einnahmen £19.5m

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NHS (Staatliches Gesundheitswesen) Nachlässe Spenden, Schenkungen Verkauf Andere

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Der Wert von Erbschaften für Wohlfahrtsverbände

Tätigkeiten und Erfahrungen mit Erbschaften am St. Christopher’s

In Großbritannien werden jährlich Schenkungen im Wert von ca. 2 Milliarden Pfund aus Testamenten an britische Wohlfahrtsverbände gespendet, von denen viele auf die Einnahmen durch Erbschaften angewiesen sind, um ihre Aktivitäten aufrechthalten zu können. Jeder kann in seinem Testament eine Geldspende an Wohlfahrtsverbände festlegen – dies wird »Vermächtnis« genannt und am St. Christopher’s wissen wir, dass der Großteil unserer Vermächtnisse von Frauen in ihren Achtzigern stammt, die ihr Testament in den letzten Jahren gemacht oder verändert haben. Sie leben meist allein, da ihr Partner früher verstorben ist, haben viel Sachkapital und wenig Barkapital, wobei ihr Haus das größte Sachkapital darstellt. Spenden aus Vermächtnissen sind ein sensibles Thema, da man mit Menschen bespricht, was nach ihrem Tod geschehen soll, oder mit den Hinterbliebenen kurz nach dem Tod eines geliebten Angehörigen spricht.

Informationen sammeln Das St. Christopher’s bemüht sich um Erbschaften, indem es E-Mails an die aktivsten Unterstützer in seiner Datenbank schickt. Diese enthalten einen kurzen Fragebogen zu ihren Spenden und dazu, was sie motiviert zu spenden. Sie werden außerdem gefragt, ob sie bereits ein Testament geschrieben haben oder darüber nachdenken. Ausgehend von dieser E-Mail können wir die Zusagen, Anfragen und Aussichten für Vermächtnisse identifizieren und neue potenzielle Erbschaften ausmachen. Informationsveranstaltungen zu Erbschaften Informationsveranstaltungen werden das ganze Jahr über im Anschluss an die versandten E-Mails durchgeführt, wobei Leute ins Hospiz eingeladen werden, um sie über die neusten Initiativen aufzuklären und Besichtigungstouren anzubieten. Bei manchen Gelegenheiten beantwortet ein Rechtsanwalt Fragen zu Vermächtnissen.

St Christopher’s Hospice in Sydenham →→ Garten des St Christopher’s Hospice in Sydenham →→

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E r b s c h a f t s s p e n d e n a m S t . C h r i s t o p h e r ’s    6 1

Literatur Des Weiteren gibt es eine Informationsbroschüre mit einem Antwortformular, um weitere Informationen und Details zum Thema Erbschaften zu erhalten. Solche Broschüren liegen etwa in den Wartezimmern von Familien- und Erbschaftsrechtlern aus. Werbung St. Christopher’s hat in einigen Anwaltsverzeichnissen Werbung gemacht, obwohl dies meist sehr teuer ist und sich schwer zuordnen lässt, ob erhaltene Spenden auf die Werbung zurückzuführen sind. Auf der Website gibt es Informationen zu im Testament festgelegten Spendengeldern. Gelegentlich wird über besondere Geschichten, die zu beachtlichen Erbschaften führten, in der lokalen Presse berichtet.

Einzelne Schritte für Organisationen, die sich ein Einkommen durch Vermächtnisse sichern wollen Es soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie wichtig Vermächtnisse sind, um Dienstleistungen der Organisation auch in Zukunft aufrechtzuerhalten. Broschüre Als Erstes wird eine Broschüre erstellt. Diese sollte eine Unterstützung durch den Schirmherrn der Organisation beinhalten und die Geschichte der Wohltätigkeitsorganisation darstellen, außerdem Vorstandsmitglieder, Freiwillige und Krankenschwestern, die an den Aktivitäten und Veranstaltungen des Hospiz beteiligt sind, vorstellen. Falls möglich sollte man einen Sponsor für die Broschüre finden und ein engagiertes Team von Unterstützern, die gern Vermächtnisse für Wohlfahrtsverbände spenden würden. Diese sollten dafür angeworben werden, Netzwerkarbeit für die Organisation zu machen, um Unterstützung

Geld und Leid – das leidige Geld

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durch weitere Erblasser zu erhalten. Die Broschüre könnte ein kurzes einprägsames Zitat enthalten wie: »Ich wollte etwas zurückgeben, um die Pflege, die meine Familie am St. Christopher’s erhalten hat, zu würdigen.« Informationsveranstaltungen In einer Reihe von Informationsveranstaltungen sollte die Organisation vorgestellt werden, um klarzustellen, wie wichtig Vermächtnisse für die Organisation sind, und mit finanziellen Beispielen aufzeigen, wie man steuereffizient spenden kann. Auf diese Weise können neue Mitglieder angeworben werden. Direkter Kontakt Die Mitglieder der Vermächtniskampagne sollten sich mit den Interessenten persönlich treffen und ihnen eine Informationsbroschüre und Antwortformulare für Erbschaften vorstellen. Dankbarkeit Den Erblassern sollte gedankt werden, zum Beispiel indem sie zu besonderen Veranstaltungen mit gefragten Gastrednern eingeladen werden. Sie sollten außerdem einen Jahresbericht mit einem unterschriebenen Brief vom Geschäftsführer erhalten. Rundschreiben Rundschreiben sollten Vermächtnisse im Allgemeinen anwerben, aber auch Details zu speziellen Infoveranstaltungen geben, den Nutzen von Vermächtnissen darstellen, aufzeigen, wie man steuereffizient spendet, und auch eine Antwortmöglichkeit der Leser enthalten. Wohlfahrtsverbände zahlen für Testamente In Großbritannien bieten einige Wohlfahrtsverbände kostenlose Hilfe beim Schreiben von Testamenten an. Diese Kampagnen laufen üblicherweise eine Woche lang in Partnerschaft mit

örtlichen Anwälten, die die Wohlfahrtsverbände mit ihren Diensten unterstützen, indem sie ein einfaches Testament mit einer Hinterlassenschaft für die Einrichtung entwerfen. Viele Interessenten, die den Wohlfahrtsverband ihres Vertrauens durch eine Hinterlassenschaft unterstützen wollen, nehmen dieses Angebot gerne an. Am St. Christopher’s gibt es eine solche Kampagne zweimal pro Jahr. Der britische Ausschuss für Wohltätigkeitsorganisationen (Charity Commission) empfiehlt, dass kein Mitglied des Wohlfahrtsverbands beim Verfassen eines Testaments hilft, das eine Erbschaft für eben diesen Wohlfahrtsverband beinhaltet. Dazu gehört auch, dass man nicht als Zeuge des Testamentes fungiert. Dadurch werden die rechtlichen Risiken reduziert. Es könnte sonst beispielsweise vorkommen, dass die Angehörigen der potenziellen Geber denken, dass die Einrichtung ihren Verwandten zu Unrecht davon überzeugt haben, ihr ein Vermächtnis zu hinterlassen. In Großbritannien muss ein Testament nach bestimmten rechtlichen Vorgaben verfasst sein, um rechtskräftig zu sein. Es muss zum Beispiel im Beisein von zwei Zeugen unterschrieben werden. Wenn diese Vorgaben nicht eingehalten werden, wird die Erbschaft möglicherweise nicht an die Einrichtung ausgezahlt. Fundraising über Vermächtnisse ist ein sensibles Thema. Aktuelle Standards für gute Praxis sollten berücksichtigt werden, und es sollten Konzepte vorgehalten werden, um potenzielle Probleme zu vermeiden. Außerdem sollte die Einrichtung immer rechtlichen Rat einholen, um angemessene Vorsichtsmaßnahmen für die Einrichtung zu treffen. Übersetzung von Julia Feldhuis Philippa Kelham ist Leiterin der Fundraising-Abteilung am St. Christopher’s Hospice, Sydenham, Großbritannien. E-Mail: [email protected]

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Empathie versus Kognition: Die Spaltung unseres Bewusstseins Arno Gruen Der portugiesische Schriftsteller José Saramago sprach in einem Interview über sein Buch »Die Stadt der Blinden«, für das er im Jahr 1998 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wie folgt: »Ich wollte zeigen, dass unsere aufgeklärte Moral bedroht ist. Wir können sehen, aber sehen nicht. Wir leben mit dem alltäglichen Horror und haben gelernt, wegzuschauen«. Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit, Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen, und vom Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen. Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Abstraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz machen. In dieser Welt der Abstraktionen dominiert die Gewalt. In ihr kann nur überleben, wer andere unterwirft oder vernichtet. Diese Vorstellung eines Lebens ohne Mitgefühl ist auf Feinde angewiesen. Ja, wir beginnen uns selbst durch das Feindbild, das wir heraufbeschwören, zu definieren. Indem das abstrakte Denken – also das Kognitive – das Empatische in uns ersetzt, entfernen wir uns immer mehr von jeder unmittelbar gefühlten Wirklichkeit. Wir wenden uns dem Untergang zu. Das dürfte wohl der Eindruck sein, den JeanJacques Rousseau festhielt, als er schrieb: »Geist ist eingedrungen in die Natur, wie das Messer dringt in eines Baumes Mark. Nunmehr freilich kann die toddrohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, dass ein Schwert im Herzen der Weltesche das Merkmal sei für ihre Gesundheit« (1755/2010). Anschaulich und eingängig zugleich

schildert Rousseau, wie in unseren Zivilisationen abstraktes Denken die Empathie verdrängt und Fortschritt in Tod umschlägt, in einen Tod, der sich ständig ausbreitet. Aber wir sind so von unseren kulturellen Zwängen durchdrungen, dass wir die Vorgänge, was bewusst und was unbewusst bleibt, nicht erkennen. Wie Saramago es beschrieb: »wir können sehen, aber sehen nicht«. Der amerikanische Autor David Foster Wallace (2012) spricht diesen Sachverhalt in einer didaktischen Parabel an: Es »schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹« Die Architektur des Bewusstseins ist deswegen nicht nur vernachlässigt worden, sie ist auch übertüncht von der Annahme, dass unser Bewusstsein ganz selbstverständlich durch Feinddenken bestimmt ist. Alle anderen Bewusstseinszustände werden deswegen als naiv eingestuft und gelten darum als wertlos für das weitere Nachdenken. Feinddenken jedoch basiert auf den frühesten Verhaltensmustern, die ausgelöst werden, wenn ein Säugling von Reizüberflutung so überwältigt wird, dass er sich von seiner Umwelt zurückziehen muss und so seine existenzielle Menschlichkeit nicht aufbauen kann. Das bedeutet, sie zu verlieren. Wir glauben jedoch, dass die menschliche Evolution nur durch Kampf und Konkurrenz vorangetrieben wurde. Dass das Überleben einer Spezies auf dem Untergang einer anderen basiere. Wir glauben, mit rationalen Augen se-

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hen zu können, weil wir unsere Gefühle, die wir beschreibt er das Bewusstsein der sogenannten ja als irrational einstufen, beiseiteschieben kön- Primitiven, also von unserer Zivilisation unbenen. Unsere Gefühle sind uns zur Gefahr gewor- rührten Völker, als eines, das auf Annäherung den und müssen ausgeschaltet werden. Denken und Hinwendung beruht, da es auf einem intewird als realistisch eingestuft, wenn es befreit ist grierten Vertrauen zwischen Menschen aufgebaut von Mitgefühl. Und so glauben wir mit Realpoli- ist. Und dieses Vertrauen basiert auf einer Kintik überleben zu können. der- und Säuglingspflege, in der ein Kleinkind Es ist eine Tatsache, dass die Dichter dies im- in andauerndem Körperkontakt mit der Mutter mer gewusst haben. Der amerikanische Schrift- oder ihren Freunden bleibt. Diese Babys reagiersteller Gary Snyder (2011) sagte: »Es gibt einen ten auf diese empathische taktile Stimulation mit Geisteszustand, der von dem rein eigenen taktilen Antworten. WeWir glauben, ekstatischen unterschieden werder schreien noch wimmern solunser Denken sei den muss, in welchem die unche Kinder, sondern sie berühren realistisch, wenn es mittelbarsten und persönlichsten die bemutternde Person auf taktile von Mitgefühl befreit Wahrnehmungen mit den archeArt. Auf diese Weise kommt eine ist, von der Fähigkeit, typischen und rituellen Beziehunhochentwickelte präverbale KomSchmerz zu teilen, gen der menschlichen Gesellschaft munikation zustande, eine Art der zum Weltall verschmelzen. DichBewusstheit, wie wir sie gar nicht Leid zu verstehen, tung, die daraus gemacht ist, ist kennen. Unter diesen Umständen und vom Gefühl der nicht ›automatisch‹, sie ist jedoch Verbundenheit mit allen tritt Geschwisterrivalität nicht auf. häufig mühelos, und sie schließt »Wenn Nahrung, Komfort und StiLebewesen. das Vergnügen eines gelegentlimulation dauernd vorhanden sind, chen geistigen Einfallsreichtums und der Anspie- müssen die Kleinkinder nicht hilflos warten, bis lungen nicht aus. Meine besten Gedichte fließen ihre Bedürfnisse erfüllt werden.« aus einem solchen Zustand«. Es entwickelt sich auch kein emotionales BeDie Architektur des Bewusstseins, die daraus dürfnis, das sich für seine Befriedigung auf absentsteht, basiert auf Annäherung und nicht auf trakte Erwartungen der Eltern fokussieren muss. Rückzug. Sie gründet auf Zuwendung zu anderen Das sich hier entwickelnde Bewusstsein unterMenschen, auf einem unmittelbaren und weit ver- scheidet sich von unserem ganz grundsätzlich. Es zweigten Gefühl für die Person und ihre Mensch- sind nicht nur abstrakte Erwartungen, die bei uns lichkeit, und nicht auf Rückzug und Feinddenken. für eine Divergenz der Bewusstseinsentwicklung Viele Anthropologen haben das Denken und sorgen, sondern es ist auch die Totalität einer ganz Fühlen von Völkern, die unberührt von unserer anderen Stimulussituation von Geburt an. Die Zivilisation bleiben konnten, beschrieben, ohne Lernerfahrungen, die ein Säugling macht, sind zu erkennen, dass es um grundsätzliche Unter- eng verbunden mit der Totalität der Stimuluswerschiede im Bewusstsein geht, die eine Architek- te, die in dem Beziehungsgefüge zwischen dem tur, das heißt den Aufbau oder Nicht-Aufbau der Säugling und seiner Umwelt herrschen. Um die Empathie betreffen. Der Anthropologe S. Dia- Welt empathisch zu erproben, muss es dem Säugmond (1979) und der Soziologe E. R. Sorenson ling möglich sein, sich seiner Umwelt zuzuwen(1998, 2006) sind zwei Autoren, die jedoch dieser den. Dies kann nur dann geschehen, wenn seiErkenntnis nahekommen. Sorenson beschreibt ne Beziehung zur stimulierenden Umwelt durch auch den Zusammenprall dieser zwei Bewusst- niedrige Intensitätswerte gekennzeichnet ist. Der seinsformen und ihre Inkompatibilität (1995). Ethologe Schneirla zeigte (1959), dass eine zweiAuf der Basis seiner jahrelangen Forschungen gabelige organische Basis für die emotionelle

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Fernand Léger, Die zwei Profile, 1928 / akg-images / VG Bild-Kunst, 2016

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Sinnesstimulation schon bei der Geburt existiert. Niedrige Stimulusintensitäten lösen Reaktionen der Annäherung aus; hohe Stimulusintensitäten bewirken dagegen das Zurückziehen. Dadurch entsteht eine Förderung der empathischen Vorgänge, vorausgesetzt, dass zwischen Säugling und Mutter Zuwendung existiert. Dieses Entgegenkommen garantiert dem Kind, dass es nicht von einem Übermaß an Stimulation überwältigt wird. Der Psychologe J. L. Fuller (1967) zeigt in seiner Arbeit über Reizverminderung, dass ein Lebewesen nichts lernen kann, wenn es ihm unmöglich wird, sich in einer Stimulussituation auf deren essenzielle Bestandteile zu konzentrieren, indem es andere Elemente ignorieren kann. Eine Mutter, die ihr Kind intuitiv vor Reizüberflutung beschützt, legt so in ihm den Grundstock, aus seinem eigenen Selbst heraus lernen zu können. Das Eigene bedeutet hier immer die empathische Wahrnehmung. Diese jedoch verschwindet, wenn Reizüberflutung zur dauernden Erfahrung einer Hilflosigkeit führt, die das Kind mit Stimulus­ intensitäten überhäuft und zum Rückzug zwingt. Dies bewirkt eine Bewusstseinsentwicklung, die vom Feinddenken geprägt ist und das Empathische unterdrückt. Die organische strukturelle Grundlage dafür wurde von Weaver und Welch sehr klar belegt. Der Neurophysiologe Weaver

und seine Mitarbeiter zeigten 2004, dass das Gen NGF1-7A, das die Reaktion auf Stress ermöglicht, nicht ausgeschüttet werden kann, wenn die mütterliche Zuwendung ungenügend war. Die Kinderpsychiaterin Martha Welch (2004a, 2004b) wies nach, dass das Antistress-Neuropeptid Secretin nicht ausgeschüttet wird, wenn ein Kind keine mütterliche Zuwendung erhält. Wut, Hilflosigkeit und verhinderte oder unterdrückte empathische Entwicklung sind das Resultat. Das Bewusstsein des Kindes wird dann von der Erfahrung der Hilflosigkeit beherrscht. Dann entwickeln sich entweder Zweifel über sich selbst und die Suche nach dem Verlorenen, oder die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein werden vom Bewusstsein verdrängt und abgespalten. Das heißt, dass alles, was im Zustand der Hilflosigkeit erlebt wurde, wie Angst, Leid und Empathie, welche zum Menschlichsein führten, ausgeschaltet werden. Das resultierende Bewusstsein erhält diese Spaltung aufrecht, indem es Hilflosigkeit zum Objekt von Ablehnung und Hass macht. Es ist die Hilflosigkeit, die einen bedroht, und nicht die Situation, die sie verursacht hat. In diesem Bewusstsein rächt man sich dauernd an allem, was die eigene Hilflosigkeit hervorrufen könnte. Deswegen wird sie auch verachtet. Diese Verachtung und die dahinterliegende verneinte eigene Angst

Geld und Leid – das leidige Geld

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fördern die Notwendigkeit einer kompensierenden Ideologie der Macht und des Herrschens. Auf diese Weise treten Opfer auf die Seite ihrer Unterdrücker, um neue Opfer zu finden; ein endloser Prozess, durch den ein Bewusstsein geschaffen wird, das den Menschen verunmenschlicht. Ein unablässiger Drang nach Herrschaft, Erfolg und Leistung tritt an die Stelle der Menschlichkeit und schafft ein Bewusstsein, das auf abstrakten Formeln wie Wachstum, Größe und Profit basiert. Das Verheerende ist daher oft, dass dieses Bewusstsein empathisches Mitfühlen nachahmt, also Lippenbekenntnisse zur Empathie macht, um dann im Namen des Fortschritts diesen zu verfälschen. Und so werden Güte und Anteilnahme missbraucht, um andere Menschen in Abhängigkeit zu halten. Dies bedeutet, dass ein Bewusstsein, das auf abstrakten kognitiven Formeln aufgebaut ist, mit den Hoffnungen der Unterdrückten spielt, die Herrschenden, mit denen sie sich identifizieren, würden ihr Leiden mildern. Diese Identifizierung mit ihren Unterdrückern, die ihre Entstehung den ungleichen Machtverhältnissen zwischen Kind und Eltern in unserer Kultur verdankt, ist ein Aspekt dieses Bewusstseins, welches aus dieser Unverhältnismäßigkeit entsteht. Marcel Proust (1923) erkannte diese Sehnsucht in unseYour_Photo_Today rer dem Gehorsam gewidmeten Kulturen, wenn

er schrieb: »Wie haben wir den Mut, in einer Welt zu leben, in der die Liebe durch eine Lüge provoziert wird, die aus dem Bedürfnis besteht, unsere Leiden von denen zu mildern zu lassen, die uns zum Leiden brachten.« Wie anders verhält es sich, wenn auf Kinder eingegangen wird, wenn Säuglinge und Kleinkinder andauernden körperlichen Kontakt mit ihren Müttern oder deren Freunden erleben. Sie werden auf dem Schoß gehalten, wenn ihre Mütter sitzen, auf der Hüfte, unter dem Arm, gegen den Rücken oder auf die Schultern platziert, wenn die Mutter steht. Die Babys werden nie hingelegt, auch nicht während des Kochens oder wenn schwere Ladungen zurechtgerückt werden. Da ist immer ein Platz für das Kind gegen den Körper der Mutter oder deren Ersatz. So entbehren sie nie den interaktiven körperlichen Kontakt. Sorenson beschreibt dies für Völker in der Central Range von New Guinea, die Forscherin Jean Liedloff (1980) für die Yequana in der Region des venezolanischen Flusses Caroni. Der körperliche Kontakt wurde zu einer Körpersprache, die, weil sie auf unmittelbarer Berührung basierte, eine Sprache der direkt erlebten Wahrheit war. Wenn Kinder in diesen Kulturen später verbale Sprache entwickeln, werden ihre Worte immer vollständig wahrgenommen und nie als Kindersprache verniedlicht und damit abgetan. »Baby talk« war unbekannt (Everett 2009). Diese Ausdrucksform ist eine Verniedlichung der Sprache des Kindes und eine Art, das Reden von Kleinkinder nicht ernst zunehmen. Wir, in unserer Kultur, degradieren unsere Kinder durch diese scheinbar »nette und liebende Art«, mit ihnen umzugehen. Der Missionar und Anthropologe Daniel Everett (2009, S. 278) schreibt, dass die Piraha im Amazonenurwald von Brasilien ihre Kinder als gleichberechtigt behandeln und deswegen ihr Sprechen als verantwortungsvolle Kommunikation wahrnehmen. Auf diese Weise wird das Reden für diese Kinder zu einer verantwortungsvollen Tat, wodurch ihr Bewusstsein frei ist von Verdrehungen, Täuschungen, Ausreden und Prahlerei.

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In westlichen Kulturen dagegen ist die verbale finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, Stimulation und nicht empathische taktuelle Be- wiesen sie ihr den Tod zu, nahmen das Leben in rührung ein Hauptanliegen, weil dadurch eine ihre Hand« (Lüscher 2011). Sie sahen der Unsikognitive Entwicklung gefördert wird, welche die cherheit und Verletzlichkeit, welche die ZivilisaIdeologie einer scheinbaren Unabhängigkeit und tion mit sich bringt, ins Auge. Selbstsicherheit unterstützt. Aber, wie die ameriUnser Bewusstsein ist ein anderes als dasjenikanische Anthropologin Meredith Small (1997) ge der »Primitiven«. Sie sind eingebettet im Gezeigt, sind »Eltern sich nicht bewusst, dass Ba- füge ihrer Gemeinschaft. Dies hat in den »zivilibys bei der Geburt neurologisch noch nicht voll- sierten« Kulturen zu der Annahme geführt, dass kommen entwickelt sind, dass diese Entwicklung der »Primitive« ein blasser Reflex seiner Gruppe erst durch eine symbiotische Beziehung zwischen sei. Was viele Anthropologen und andere Geistesden Erwachsenen und dem Säugling vollendet wissenschaftler nicht verstanden, war, dass Indiwird. Stattdessen wollen sie, dass diese Bindung vidualismus und die Verbundenheit mit der Geso schnell wie möglich unterbunden wird, um meinschaft keine Gegensätze sind. Widerspruch das Baby zur Unabhängigkeit zu bringen. Diese ist eine Funktion unserer abstrakten Denkart, weil Ideologie sorgt dafür, dass Eltern in einem stän- wir glauben, dass sich Unabhängigkeit und Gedigen Konflikt mit ihren Babys sind«. meinschaft widersprechen, dass Gemeinschaft Hier haben wir die Basis einer Bewusstseins- Verlust der Individualität bedeutet. Trotzdem beentwicklung, die das Empathische verdrängt schreiben Anthropologen immer wieder die Vielund Terror und Hilflosigkeit zu ihrem Funda- falt der Persönlichkeiten bei primitiven Völkern. ment macht. Aus Unabhängigkeit Im Vergleich zu ihnen sind wir eng und Selbstsicherheit lässt sie Trieund stereotyp. Wenn wir uns diese »Wir werden als be entstehen, welche den entsteUnterschiede näher ansehen, merOriginale geboren, henden Terror und Hilflosigkeit ken wir, dass die Unabhängigkeit, sterben als Kopien.« verneinen müssen. Das bedeutet, von der wir so besessen sind, mit dass die Unabhängigkeit und Selbstsicherheit, die der Angst vor Nähe einhergeht. Da bei uns Terror wir züchten, eine Fata Morgana sind, denn dahin- und Hilflosigkeit so endemisch sind, ist die »Lieter steckt eine Angst, die nicht zugelassen werden be«, die wir erfahren, oft eine Gefahr, weil sie dazu darf. Das heißt, dass der versteckte Motor Unsi- benutzt wird, uns den Erwartungen der Eltern cherheit und Verletzbarkeit ist, weil die empathi- anzupassen und das Eigene zu verdrängen. Die sche Zuwendung gestört ist. Ideologie unserer Unabhängigkeitserziehung neEs sind die Dichter, die uns immer wieder giert das Eigene des Kindes. Wir glauben gar nicht, auf diese Wahrheiten aufmerksam machen. Ein dass Kinder von sich aus unabhängig sein können. gutes Beispiel stammt aus dem babylonischen Die Angst, die unsere Erziehung erzeugt, führt Text des Gilgamesch-Epos. Im 3.  Jahrtausend deshalb zur Angst vor Nähe, weil sie das Eigev. Chr. herrschte dieser mesopotamische König ne unterdrückt. Dadurch wird Nähe zur Gefahr. in der Stadt Uruk. Er sah sich als zu einem Drit- So ist Unabhängigkeit bei uns durch das Vermeitel menschlich und zu zwei Dritteln göttlich. Das den von Nähe gekennzeichnet. Nicht so bei den Epos berichtet von seinen Heldentaten und sei- »Primitiven«, deren früheste empathische Berühner Suche nach Unsterblichkeit, alles Wege, eine rungswelt von Sicherheit und Zuwendung geprägt grundsätzliche Unsicherheit zu kompensieren. ist. Bei uns dagegen wird Liebe zur Gefahr. Was Aber die Dichter des Epos erkannten etwas an- dann als »Liebe« erlebt wird, ist nicht Liebe für deres, wenn sie schrieben: »Gilgamesch, wohin die Individualität des anderen, sondern Eigenliebe. läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du nicht Es ist ein narzisstisches Spiegelbild, das man dem

Geld und Leid – das leidige Geld

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anderen aufsetzt, weil die Liebe für den anderen einer Geisteshaltung durchtränkt sind, die uns zu einer Gefahr in der frühsten Kindheit wurde. »ungebunden« und unbeteiligt sein lässt, bleiben Dass Individualismus und Einheitsgefühl mit wir geteilt und ohne die innere Einheit der empader Gruppe als Widerspruch gelten, folgt aus der thisch Gebundenen. Abstraktion, die unser Bewusstsein prägt. GeIm Namen des Individualismus produziert die mäß ihrer Logik sind diese zwei im Widerspruch, Zivilisation Persönlichkeiten, die sich auf stereoweil wir, wie gesagt, Gruppenzugehörigkeit als type Weise gegen empathisches Erleben wehren Verlust des Eigenen erleben. Das stimmt natür- und dadurch grundsätzlich voneinander isoliert lich bei uns, da wir konditioniert sind, mitzuma- sind. Da ihre Rollenspiele dem öffentlichen Verchen, um nicht als Außenseiter zu gelten. In unse- halten gelten, produzieren sie ein scheinbar der rer rationalisierten, von abstrakten Gemeinschaft gewidmetes Leben. Ideen über unser erwünschtes We- So ist Unabhängigkeit Und so wird, unter dem Deckbei uns durch das sen geformten Zivilisation haben mantel des GemeinschaftlichgeVermeiden von Nähe wir es mit standardisierten Persosinnten dem Gesellschaftlichen gekennzeichnet. nen zu tun und nicht mit einer nadauernd Gewalt angetan. »Eine Nicht so bei den türlichen Vielfalt. Das Individuum Öffentlichkeit«, schrieb Kierke»Primitiven«, deren läuft dauernd Gefahr, sich in einer gaard (1846/1962), »ist weder (…) Funktion oder einem Statusideal eine Gemeinschaft noch eine Gefrüheste empathische aufzulösen (Goffman 1956). Wir, sellschaft«. Dieses sich öffentBerührungswelt die wir uns für so individualistisch lich Geben ist, wie Diamond es von Sicherheit und halten, verwechseln die Konstruk- Zuwendung geprägt ist. so schmerzhaft ausdrückte, »eine tion einer Persona mit der eigenVerdinglichung, eine Projektion ständigen Entwicklung eines Selbst. Das führt zu unseres unvollständigen Lebens«. Unser Bewusstdem, was der Englische Dichter Edward Young sein nimmt dies aber als eine universale Art des im 18. Jahrhundert beschrieb: Wir werden als Ori­ Seins an. Die Identifizierung des »Ichs« mit Äuginale geboren, sterben als Kopien. ßerlichkeiten führt zu einem Verhalten, welches Dies steht im großen Gegensatz zur Persön- den Besitz von Dingen dem gleichsetzt, wer man lichkeitsentwicklung bei den Urvölkern, welche ist, also zu einem imaginären Sein. Das ist maauf empathischer Zuwendung basiert. »Jeder gisches Denken, das aber als Wirklichkeit erlebt denkbaren Art der Verwirklichung oder Äuße- wird und deswegen als Beweis gilt für unsere rung der Persönlichkeit wird in der primitiven Überlegenheit gegenüber dem magischen DenGesellschaft freier Spielraum gewährt«, schrieb ken der Urvölker. Für diese jedoch hat Magie Paul Radin (1957), ein Anthropologe mit enor- mit Beziehung zu tun, mit einem Versuch, anmer Felderfahrung. Bei ihnen wird »über keinen dere oder die Natur zu beeinflussen. Das ist anAspekt der menschlichen Persönlichkeit als sol- ders als die Magie, die erreicht, dass man die Welt cher ein moralisches Urteil abgegeben«. und sich selbst, wie der finnische PsychoanalytiDiamond (1979, S. 121) fasst Radins Stand- ker Martti Siirala (1972) es formulierte, auf halpunkt so zusammen: »Geh völlig nach außen, luzinatorische Weise in Besitz nimmt. doch kenne dich selbst und nimm die Folgen Ein Bewusstsein, das auf Abstraktionen badeiner eigenen Persönlichkeit und deiner Hand- siert und das Empathische verdrängt, entfernt lungen auf dich.« Das trifft auf die Verbunden- den Menschen von der Realität. Es führt zu den heit von Gemeinschaft und Individualität zu und uns zerstörenden gewalttätigen und gewaltigen zugleich auch auf die damit verbundene Verant- Kriegen, welche die Geschichte der Zivilisationen wortung für das eigene Sein. Bei uns, wo wir mit charakterisieren. Es resultiert in einer grundsätzli-

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Auguste Renoir, Algerian woman and child, 1882 / Bridgeman

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chen Unverantwortlichkeit den Menschen gegenüber, die aber vollkommen verdeckt ist durch ein Heldentum, das die ihm unterliegende Hilflosigkeit verneint. Diese Hilflosigkeit und der sie begleitende Terror sind das Resultat ungenügender Zuwendung von Geburt an. Es geht nicht darum, primitive Formen auf zivilisierte Strukturen aufzupfropfen oder sich in die primitive Vergangenheit zurückzuziehen oder ein vermeintliches verlorenes Paradies zurückzugewinnen, es geht darum, zu lernen, dass ein empathisches Bewusstsein dem Menschen ermöglicht, sich mit seiner Geschichte wieder zu vereinigen. Aber um das zu bewerkstelligen, müssen wir erst erkennen, dass es diese zwei Arten des Bewusstseins gibt. Eibl-Eibesfeldt (vgl. Schiefenhövel et al. 1993), Verhaltensforscher am Max-Planck-Institut für Völkerkunde in München, beschreibt eine Interaktion zwischen einer Eipo-­Mutter in Westneuguinea und ihren zwei Kindern. Sie lässt Hilflosigkeit, Ohnmacht und Terror gar nicht aufkommen, weil die Mutter die Fähigkeit des Kindes, die Umwelt von sich aus zu bewegen, unterstützt und nicht unterdrückt. Es ist die oft unbedachte Unterdrückung der eigenen Möglichkeiten des Kindes, welche Hilflosigkeit und auch Angst schürt. Die Kinder dieser Mutter, ein Junge von ungefähr drei Jahren und eine jüngere Schwester, fangen an zu schreien, weil das Mädchen nach dem Tarostück greift, das ihr Bruder gerade isst. Die Mutter eilt sofort herbei und der Junge reicht ihr das Tarostück. Sie bricht es in zwei Teile und gibt beide dem Jungen zurück. Er bemerkt erstaunt, dass er jetzt zwei Stücke hat und gibt eines seiner Schwester. Wir hätten es anders gemacht, indem wir die zwei Stücke von uns aus verteilt hätten, um den Kindern auf diese Weise das Teilen beizubringen. Wir glauben im Grunde nicht, dass ein Kind von sich aus teilen könnte. So handeln wir entsprechend unseren Vorurteilen und schränken unsere Wirklichkeit ein. Eine derart verformte Wirklichkeit der menschlichen »Natur« wird so permanent weitergegeben. Indem wir die Möglichkeiten des Kindes nicht erkennen, missachten wir seine Grenzen, infanti-

lisieren es und machen es abhängig und es bleibt voller Zweifel über sich selbst. Wie anders verhält es sich in den thailändischen Dörfern, die Sorenson beobachtete: »Mit dem Wachstum der Kleinkinder begannen sich ihre Interessen auf die vorhandenen Materialien, Objekte und Aktivitäten zu erstrecken. Sie verfügten über eine unglaubliche Freiheit, momentanen Einfällen und Interessen nachzugehen. Zuerst hielten sie mit einer Hand noch die Mutter, die andere streckten sie aus. Dann machten sie kurze Ausflüge, die sie immer weiter weg von der Mutter führten (…) Obschon die Mutter oder ein Geschwister manchmal nickten, um ein Kleinkind zu ermutigen, das über ein Fortkommen verunsichert schien, intervenierten sie nicht, noch steuerten sie das Interesse oder die eingeschlagene Richtung der Babys. Sie blieben genau dort, wo sie waren, und setzten ihre Tätigkeit fort – aber als eine Bastion der Sicherheit, zu der die kleinen Kinder zurückkehren konnten, um Trost, Unterstützung oder ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Obschon die älteren Menschen die Babys nicht auf ihren Exkursionen begleiteten, waren sie immer bereit zu helfen, in jeder Hinsicht. Die Kleinkinder machten bei den Tätigkeiten der älteren Menschen mit; diese jedoch nahmen nicht an ihren Aktivitäten teil.« Hier sehen wir, wie die Erwachsenen das Eigene des Kindes von Anfang an respektieren und sein Wachstum unterstützen. Indem wir Anweisungen geben, verhüten wir die Entwicklung eines Bewusstseins, das auf empathischer Wahrnehmung aufbaut. Was passiert, wenn diese zwei so widersprüchlichen Bewusstseinsformen aufeinanderprallen? Liedloff beschreibt, wie einige Mitglieder der Yequanas, die in die Zivilisation eintauchen mussten wegen einer medizinischen Spitalbehandlung, bei ihrer Rückkehr verändert waren. Es brauchte längere Zeit, um zum eigenen Selbst zurückzufinden. Sorenson verfolgte diese Verwandlungen genauer, da er das Aufeinanderprallen ganz direkt beobachten konnte (1995, 1998). Er war auf den

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Phi-Phi-Inseln in Thailand, als mehrere Gruppen von Touristen aus Korea und Taiwan dort für einige Stunden landeten. Was ihn so schockierte, war, wie die integrierten selbstlosen Gemeinschaften der Inselbewohner sich in einen beliebigen verteidigungsaggressiven Bewusstseinszustand verwandelten unter dem Druck eines kompetitiven, aggressiv zersplitterten Sozialverhaltens der Touristen. Was er für Phi-Phi-Inselbewohner beschreibt, beobachtete er auch in New Guinea: »die selbstlose Einheit, die so sicher und selbstheilend schien, verschwand, um einer Einheit Platz zu machen, die log, um zu leben. Diese Erfahrung ging mit epidemischer Schlaflosigkeit einher, mit nächtelangem wildem Tanz, die Augen verengten sich und bekamen einen leeren Blick, Sprachlosigkeit verschiedener Art trat auf, plötzliche Epidemien von Entfremdung, Wahrnehmungslücken, Hyperkinese, Verlust sinnlichen Erlebens, Liebesverlust sowie Impotenz. Angesichts der andauernden Konfrontation mit Zorn, Täuschung oder Gier erlosch ein Bewusstsein, das auf Empathie aufbaute. Sklaverei trat an die Stelle des Mitleids, Gier ersetzte Großzügigkeit, und eine primitive Sexualität die herzliche Harmonie.« Hier können wir genau diejenigen Symptome der Malaise beobachten, die so viele Menschen in unserer Zivilisation betrifft: die Psychosomatik körperlicher Schmerzen, Kopfweh, Rückenweh, Schlaflosigkeit, Impotenz und überhöhte sexuelle Aktivität. Wir sehen hier, was ein reduziertes Bewusstsein mit sich bringt, nur glauben wir nicht, dass unsere Beschwerden eine fundamentale Ursache in unserem Bewusstsein haben. Im Gegenteil, wir glauben sogar, dass die immer ausuferndere Sexualität ein Zeichen von Männlichkeit und Stärke ist. Dass die überwältigende Zahl von Rücken­beschwerden und Kopfschmerzen mit unsäglicher Wut zu tun hat, wird zwar erkannt, nicht aber, dass unsere Art des Bewusstseins mit der Erzeugung dieser Wut zu tun hat. Dies zu erkennen würde bedeuten, an das Fundament unserer die Empathie unterdrückende Zivilisation zu ge-

langen und Wettbewerb, Egoismus, Profitdenken, Wachstum und Leistung in Frage zu stellen. Wir müssen deshalb unser Bewusstsein zu einer Integration des Kognitiven und des Empathischen zurückführen.

Foto: Mauno Saari

Arno Gruen (1923–2015), deutschschweizerischer Schriftsteller, Psychologe und Psychoanalytiker. Dieser Artikel basiert auf seinem Buch »Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden« (Stuttgart: Klett-Cotta, 2013).

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Geld und Leid – das leidige Geld

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Frauenselbsthilfe nach Krebs – ein Verein ohne Mitgliedsbeiträge? Sylvia Brathuhn und Caroline Mohr

Wie geht das denn und was soll das? Ein Verein braucht Geld, wenn er seinen vielfältigen, vereinsspezifischen Aufgaben nachkommen will. Das alte Sprichwort »Ohne Moos nix los« bewahrheitet sich spätestens dann, wenn Aktionen, Unternehmungen, Kampagnen gestartet werden wollen, Reisekosten und Unkosten zu erstatten sind oder Infopost gedruckt und versendet werden muss, um hier nur einige Vereinsaufgaben zu nennen. Dann werden finanzielle Mittel dringend gebraucht. Ohne sie ist ein Verein nicht handlungsfähig, unabhängig davon, wie engagiert die ehrenamtlich Tätigen sind. Bei den meisten Vereinen stellen die Mitgliederbeiträge  – als regelmäßig wiederkehrende Einkünfte – ein berechenbares Finanzvolumen dar, mit dem anstehende Kosten gedeckt werden können. Viele Vereine erheben auch Aufnahmegebühren oder legen zusätzlich entstehende Kosten auf die Zahl der Mitglieder um, damit ab und zu auch Sonderleistungen erbracht werden können. Alles, was mit finanziellen Dingen zu tun hat, muss in der Vereinssatzung genau festgelegt sein und kann nicht willkürlich gehandhabt werden. Sobald Mann oder Frau in den Verein eintreten, werden diese Regeln gültig. Die Teilnahme am Vereinsleben muss sozusagen erkauft beziehungs-

weise bezahlt werden. Kurz gesagt lautet die Vereinbarung: Leistung gegen Geld. In der Frauenselbsthilfe nach Krebs (FSH), die seit 1976 besteht und eine der größten und ältesten Krebs-Selbsthilfeorganisationen in Deutschland ist, wird dies anders geregelt. In diesen Verein kann man nicht einfach eintreten und sich durch einen festgelegten Betrag seine Mitgliedschaft und damit bestimmte Leistungen sichern. Mitglied wird nur, wer sich entscheidet, eine aktive Rolle zu über­ nehmen, also ehrenamtlich tätig zu werden. An Krebs erkrankte Menschen und deren Angehörige können sich für die Dauer von vier Jahren in die aus drei Personen bestehende Leitung einer der ca. 350 bundesweit existierenden regionalen FSH-Gruppen wählen lassen. Und nur diejenigen, die mit dieser Übernahme eines Amtes auch aktiv die Geschicke des Verbandes mitbestimmen, sind Mitglieder der Frauenselbsthilfe nach Krebs. Insgesamt hat der Verband im Moment ca. 1.250 Mitglieder. Mit ihrer Wahl verpflichten diese sich, nicht nur die Vereinssatzung anzuerkennen, sondern auch den verbandsinternen »Leitfaden für Mitglieder« und den sogenannten »Leitfaden für Beraterinnen«. Denn das ist letztlich ihre Aufgabe: Menschen mit Krebs, die in ihre Gruppen kommen, zu betreuen und zu ­begleiten unter dem Leitgedanken Auffangen –

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 72–76, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

© m.schröer

Fr a u e n s e l b s t h i l f e n a c h K r e b s   – e i n Ve r e i n o h n e M i t g l i e d s b e i t r ä g e ?    7 3

­Informieren – Begleiten. Bundesweit nehmen jährlich ca. 35.000 an Krebs erkrankte Menschen dieses Hilfsangebot der Frauenselbsthilfe in Anspruch. Sie können völlig unverbindlich und ohne verpflichteten Mitgliedsbeitrag zu zahlen in die Selbsthilfegruppen vor Ort kommen, eine Zeitlang an den Treffen teilnehmen und, wenn kein Bedarf mehr besteht, auch wieder fernbleiben. Gruppenteilnehmer/-innen, die Interesse an einer Leitungsposition und aktiver Mitarbeit haben, können sich in die Gruppenleitung wählen lassen und so zu Mitgliedern werden. Das Konzept zeigt deutlich, dass die FSH-Mitglieder schwerlich um Mitgliedsbeiträge gebeten werden können, da sie ja keine Leistungen durch die Vereinsmitgliedschaft erhalten, sondern vielmehr eine Leistung erbringen. Trotz der ehrenamtlichen, unentgeltlichen Arbeit ihrer Mitglieder kommt aber natürlich auch die Frauenselbsthilfe nicht ohne Geld aus. Dieses wird unter anderem für die Qualifizierung und Befähigung der Mitglieder selbst und für die Beratung, Begleitung und Betreuung der Hilfesuchenden gebraucht. Zwischenspiel: Mein Weg in die Frauenselbsthilfe Vor vier Jahren bekam ich die Diagnose Krebs. Es war verheerend. Anfänglich konnte ich es kaum glauben. Immer wieder hämmerte in meinem Kopf dieser Satz: »Sie haben Krebs.« Ich weiß noch, dass ich wie betäubt aus der Praxis kam. Ich habe doch nichts gespürt, war nur ein wenig müde und schlaff. Das hätte doch auch der vielen Arbeit und den Verpflichtungen, denen ich manchmal kaum nachkommen konnte, zugrunde liegen können. Nein, es war anders: Die Diagnose Krebs war unum-

stößlich. Es folgten zahlreiche Untersuchungen, viele Therapien, Klinikaufenthalte, Arztbesuche. Erschöpft und gepeinigt, haarlos und kraftlos, unansehnlich und geschlechtslos, so fühlte ich mich. Alle meine Verwandten und Bekannten hatten furchtbare viele gute Ideen und Ratschläge für mich. »Du musst dir viel Ruhe gönnen.« »Du musst viel an die frische Luft, du brauchst Bewegung.« »Du musst dich ablenken, das Grübeln bringt doch nichts.« »Du musst dich mit der Situation auseinandersetzen, sonst überrollt sie dich.« Das ist nur ein kleiner Ausschnitt all der guten Ratschläge, die Menschen mir – je nach ihrem eigenen Bedürfnis – überstülpten. Doch ich wollte einfach nur noch meine Ruhe. Da traf ich beim Einkaufen eine Frau aus der Nachbarschaft. Wir standen auf dem Parkplatz. Sie grüßte mich, schaute mich an und sagte: »Ich habe auch Krebs.« Sonst nichts. Für einen Moment war ich schockiert. »Warum erzählt sie mir das?« Mir kamen die Tränen und sie sagte: »Ja, es ist nicht leicht. Vieles ist so anders geworden und manchmal möchte ich einfach aufwachen und alles ist wieder gut.« Die Worte dieser mir eigentlich fremden Frau entsprachen genau meinem Empfinden. Wir standen fast eine Stunde auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, redeten, weinten und lachten. Sie erzählte mir, dass sie seit etwa einem Jahr in eine Selbsthilfegruppe geht. Dann sagte sie lächelnd: »Das war jetzt eigentlich ein ganz kleines Gruppentreffen Krebsselbsthilfe.« Zum nächsten Gruppenabend begleitete ich sie. Die Gespräche, der Austausch, das lebendige Miteinander taten mir sofort gut. Daher

Geld und Leid – das leidige Geld

Paul Gauguin, Les Parau Parau, 1891 / State Hermitage Museum, St. Petersburg / Bridgeman Images

Das Gespräch unter Gleichbetroffenen kann sehr hilfreich sein und zum inneren Heilungsprozess beitragen.

fragte ich, ob ich Mitglied werden könne und was es koste. Da bekam ich zur Antwort: »Die Teilnahme an den Gruppentreffen ist kostenlos und unverbindlich. Wenn du aber irgendwann Lust hast, aktiv mitzuarbeiten, dann kannst du dich in die Gruppenleitung wählen lassen.« Von da an nahm ich regelmäßig an den Gruppentreffen teil. Die Informationen, die ich dort erhielt, und der Austausch mit den Gleichbetroffenen waren wesentlich für meinen (inneren) Heilungsprozess. Neun Monate später wurde eine Nachfolgerin für ein ausscheidendes Mitglied der Grup-

penleitung gesucht. Ich meldete mich. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon wieder etwas stärker, hatte auch wieder den Wunsch, mich einzubringen, und vor allem, etwas zurückzugeben von der Kraft, die mir das Gruppenleben geschenkt hatte. Ich wurde direkt zur Gruppenleiterin gewählt. Da stand ich nun. Alle gratulierten mir, strahlten mich an und ich hatte das Gefühl, gar nicht zu wissen, was jetzt kommt. Im »normalen« Leben bin ich Büroangestellte. Plötzlich sollte ich eine Leitungsaufgabe übernehmen: ein Gruppenprogramm erstellen, Meldungen für die lokale

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Fr a u e n s e l b s t h i l f e n a c h K r e b s   – e i n Ve r e i n o h n e M i t g l i e d s b e i t r ä g e ?    7 5

Presse schreiben, Krisentelefonate führen, Ärztekontakte herstellen und Spendengelder beschaffen. Das war anfangs ganz schön furchteinflößend. Aber irgendwie schaffte ich es. In der Schilderung dieser FSH-Gruppenleiterin werden mehrere Aspekte deutlich. 1. Die Diagnose Krebs schockiert und verändert alles. 2. Nicht an Krebs erkrankte Menschen wollen helfen, sind jedoch häufig dazu gar nicht in der Lage und geben »nicht gewollte« Ratschläge. 3. Das Gespräch unter Gleichbetroffenen kann sehr hilfreich sein und zum inneren Heilungsprozess beitragen. 4. Mitglied in der Frauenselbsthilfe nach Krebs zu sein, bedarf mehr als guten Willen. Es braucht spezielle Qualifizierungsmaßnahmen, damit diese durchaus anspruchsvolle Tätigkeit gut ausgeübt werden kann. Zurück zum Thema: Die Erfüllung von Vereinsaufgaben kostet Geld Wie finanziert nun die FSH die geschilderten Anforderungen? Der Verein steht fast seit den Gründungstagen unter ideeller und finanzieller Schirmherrschaft der Deutschen Krebshilfe (DKH). Von dieser großen und finanzstarken Organisation erhält sie jährlich Zuwendungen für die Gruppenarbeit, aber auch für die organisatorischen Aufgaben auf Bundes- und auf Landesebene. Dazu gehört unter anderem die Finanzierung einer Bundesgeschäftsstelle mit fünf Mitarbeiterinnen. Jedes Jahr müssen die Verantwortlichen, das ist der Bundesvorstand in Zusammenarbeit mit der Bundesgeschäftsstelle, einen Haushaltsplan erstellen, der den finanziellen Bedarf (das Wofür und Wozu) deutlich macht. Ein großer Teil der notwendigen Budgetgelder werden dem Bundesverband also von der DKH zur Verfügung gestellt. Der Bundesvorstand verteilt die erhaltenen Gel-

der dann nach einem Quotensystem an die Landesverbände und die regionalen Gruppen. Mit dieser finanziellen Förderung der DKH kann jedoch nicht der gesamte Finanzbedarf des Vereins abgedeckt werden und so gilt es, eine weitere Finanzierungsquelle zu nutzen. Die Krankenkassen sind gemäß § 20 Abs. 4 SGB V per Gesetz verpflichtet, die Selbsthilfe zu fördern. Der Bundesverband, die Landesverbände und die regionalen Gruppen können bei ihnen Förderanträge stellen. Zum einen gibt es hier eine Gesamtförderung. Darunter fällt alles, was regelmäßig an Kosten anfällt. Zum anderen gibt es die sogenannte Projektförderung. Während erstere verpflichtend ist, sind bei letzterer die Kassen in ihrer Entscheidung frei, ob sie ein Projekt fördern möchten oder nicht. Dies kann zu finanziellen Unsicherheiten im Verein führen, denn viele Krankenkassen kommen diesem Förderauftrag nur ungenügend nach.1 Insbesondere für die Gruppenleitungsteams ist es unter diesen Voraussetzungen nicht leicht, ein Projekt zu starten oder eine Aktion durchzuführen, die sie für wichtig und wertvoll erachten, um beispielsweise die Öffentlichkeit auf ihre Arbeit und ihr Angebot aufmerksam zu machen. Die »Finanzexperten« entscheiden aus der Ferne, ob ja oder nein; Daumen hoch oder runter. Nicht selten sind für diejenigen, die die Gelder beantragt haben, die Entscheidungen der Kassen nicht nachvollziehbar und führen zu Missmut in den Gruppenleitungsteams. Eine weitere Geldquelle, um die anspruchsvolle Arbeit in der Frauenselbsthilfe zu gewährleisten, sind Ministerien auf Bundes- und Landesebene. Hier müssen höchst aufwendig zu erstellende Projektanträge eingereicht werden, um Gelder bewilligt zu bekommen. Diese müssen dann zeitnah und genau dem Antrag entsprechend ausgegeben werden. Es gilt, Nachweise für jede Ausgabe zu erbringen. Und die Ergebnisse der Aktion beziehungsweise des Projekts müssen genau dokumentiert werden. Das ist für die ehrenamtlich arbeitenden Mitglieder häufig eine sehr mühsame und schwer zu erfüllende Aufgabe.

Geld und Leid – das leidige Geld

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Werden Anträge abgelehnt, müssen neue Geldgeber gesucht, neue Anträge formuliert und das Engagement aufrechterhalten werden. Das ist ebenfalls mühsam und führt nicht selten zur Resignation oder sogar zur Amtsniederlegung eines Mitglieds. Außerdem ist das Problem der Geldbeschaffung abschreckend für diejenigen, die sich für eine Position in der Frauenselbsthilfe interessieren. Eine sehr einfache Lösung, um die Frauenselbsthilfe sicher und nachhaltig zu finanzieren, wäre es natürlich, die Pharmaindustrie um finanzielle Förderung zu bitten. In den Anfangsjahren der Krebs-Selbsthilfe war dies noch gang und gäbe. Diese Form der Finanzierung trug jedoch in erheblichem Maße zu einem Imageschaden für die Selbst­hilfe bei. Und in der Tat kam es häufig vor, dass sich die Selbsthilfe als Werbebühne für die Pharmaindustrie zur Verfügung stellte und, bewusst oder ­unbewusst, Krebspatienten entsprechend den Wünschen ihrer Finanziers beeinflussten. Schon seit vielen Jahren können Krebs-Selbsthilfeorganisationen auf diese finanzstarke Finanzierungsquelle nicht mehr zurückgreifen. Die Richtlinien der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe und der DKH erlauben es nicht, Gelder der Pharmaindustrie anzunehmen, denn nur so können Unabhängigkeit und Neutralität gewahrt bleiben. Private Spendengelder, zum Beispiel bei Todesfällen, gehen generell an die Deutsche Krebshilfe und damit indirekt über deren Förderung der Selbsthilfe auch an die Frauenselbsthilfe. Doch wo bleibt der Staat, der so sehr von der Arbeit der Selbsthilfe profitiert? Was beispielsweise teure Reha-Maßnahmen leisten, um Menschen mit einer Krebserkrankung wieder fit fürs Berufsleben zu machen, das leisten zu einem Teil auch die Selbsthilfegruppen mit ihrem umfassenden Angebot für die Hilfe zur Selbsthilfe. Welche Finanzierungsmodelle sind nun für die Selbsthilfe noch denkbar, um deren Arbeit nachhaltig zu unterstützen und sich von Spenden und Fördergelder unabhängiger zu machen? Hier sei

nochmals betont, dass alle Mitglieder der Frauenselbsthilfe ehrenamtlich und somit unbezahlt arbeiten. Dabei leisten sie wertvolle Arbeit für das Gesundheitssystem und für die Gesellschaft, insbesondere in der psychosozialen Betreuung von Krebspatienten, für die in Deutschland nur ein sehr unzureichendes professionelles psychoonkologisches Angebot zur Verfügung steht. Die Gesellschaft sollte sich fragen, ob nicht der Staat Selbsthilfeorganisationen, die bestimmte Qualifizierungsstandards einhalten, finanziell unterstützen müsste, da sie eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe übernehmen. Die oben zitierte Gruppenleiterin hat ausgesprochen, was viele andere Mitglieder der Frauenselbsthilfe genauso sehen: »Die Gruppenleitung würde viel mehr Freude bereiten, wenn nur das leidige Thema Geld nicht wäre. Als ich mich für diese Tätigkeit meldete, wollte ich Menschen helfen. Stattdessen geht so viel Kraft in diese Geldangelegenheiten. Wir füllen im Gesundheitssystem eine große Lücke in der Betreuung von Krebspatienten. Doch das wird nicht wirklich honoriert. Hier mal ein Preis, dort mal eine Ehrung. Aber damit kann ich keine Projekte finanzieren.« Dr. Sylvia Brathuhn, Diplom-Pädagogin, ist in der psychoonkologischen Beratung und Betreuung für krebskranke Menschen und ihre Angehörigen tätig; Vorstandsmitglied der Frauenselbsthilfe nach Krebs, Landesverband RheinlandPfalz e. V., und der IWG (International Workgroup of Death, Dying and Bereavement); Trainerin in den Bereichen Sterben, Tod, Spiritualität und Kommunikation, Trauerbegleiterin. E-Mail: [email protected] Caroline Mohr M. A. leitet die Presseund Öffentlichkeitsarbeit der Frauenselbsthilfe nach Krebs. Sie ist außerdem als freiberufliche Journalistin tätig. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1 Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V.  – http://www.kibis-sl.de/fileadmin/downloads/interessenvertretung-der-selbsthilfe/21.pdf (Zugriff am 28.10.2015)

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Rien ne va plus – oder: Wer spielt, verliert sich … Wenn Spielen zur Sucht wird

Werner Gross »Eher spielen sich hundert Leute arm, als einer reich«. (Sprichwort) »Verlieren« und »Verlust« sind für viele Menschen Worte, die vor allem mit negativen Gefühlen, Gedanken und Assoziationen verbunden sind. Und sich selbst verlieren klingt für die meisten noch viel bedrohlicher. Für manche Menschen allerdings – zum Beispiel Spielsüchtige – wird dieser Selbstverlust mitunter ganz anders erlebt. Für diese Spieler – wie übrigens für viele andere Süchtige auch – kann genau das ein Ziel ihres süchtigen Verhaltens sein: ein »lustvoller Kontrollverlust«, ein Gefühl der Entgrenzung, des Außer-sich-Seins. Schließlich: Wer wiederkehrend mit Alltagsproblemen wie Stress, Überforderung oder mit Gefühlen von Sinnlosigkeit, Verlust oder Trauer zu kämpfen hat, für den kann Spielen (sei es am Roulettetisch, am Automaten oder an der Börse) zur Flucht aus der Wirklichkeit werden. Sie katapultieren sich gern weg in eine andere Realität, weg von den Konflikten und den Banalitäten des Alltags: »Nur raus hier« ist der Tenor, »bloß nix mehr mitkriegen«. Nicht umsonst ist für Vollblutzocker der Automat, das Roulette, die Pferdewette oder die Börsenzockerei so etwas wie eine »Fluchtburg« vor der Realität, in die man sich – je länger der Suchtprozess andauert – immer häufiger flüchtet. Denn beim Spielen zählt für sie im späten Stadium nur eins: das Spielen selbst und der Gefühlszustand, der damit verbunden ist. Er absorbiert nämlich die gesamte Aufmerksamkeit und Konzentration. Und damit sind die Probleme verdrängt. Je höher der Einsatz, umso weniger Platz bleibt für die Alltagsorgen – handele es sich

um Ängste, Arbeitsplatz- oder Beziehungsprobleme oder eben um Trauer oder Depressionen. Vom Gelegenheitsspieler zum Desperado Dabei fängt es meist recht harmlos an. Der Weg vom Gelegenheitsspieler über den Glücksritter und den Hasardeur zum Desperado ist mitunter lang: Zufällige erste gute Erfahrungen mit dem Spielautomaten in der Kneipe, in der Spielothek oder der Spielbank. Aus Spaß wird erst Ernst, wenn es den »großen Gewinn« gibt. Dann ist der Spieler »angefixt«, das eigene Verhalten wird verstärkt und das dabei erlebte Gefühl möchte man immer wieder haben. Dabei ärgert man sich vielleicht, dass man nicht mehr gesetzt hat, da man dann dadurch viel mehr hätte gewinnen können. Und so versucht man es erneut. Bis die Verluste beginnen und größer werden. »Chasing« nennt man es, wenn Spielsüchtige versuchen die Verluste wieder wettzumachen. Überzogene Konten und Schulden sind oft der nächste Schritt. Dann beginnt die verzweifelte Suche nach Geld. So macht man ein Loch auf, um ein anderes zu stopfen: Versprechen, Lügereien, Diebstähle, Scheckbetrug, Kleinkriminalität sind mitunter die Folge. Spielsüchtige sind »verzweifelte Optimisten« – auch wenn sie schon mit einem Bein im Groschengrab stehen. Eine Vielzahl von Untersuchungen bestätigt, dass Spielsüchtige Verluste gern bagatellisieren und Gewinne in ihrer Wahrnehmung überhöhen. Schnell führt das zu einer Überschätzung der eigenen Chancen. Fachleute unterscheiden drei Phasen bei Spielsüchtigen:

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1. Gewinnphase 2. Verlustphase 3. Verzweiflungsphase Was ursprünglich als naives Spiel voller Hoffnung begann (»endlich habe ich mal Glück, endlich hat mich die ›Göttin Fortuna‹ geküsst«), endet dann im materiellen Desaster, oft in einer psychosomatischen Misere, der sozialen Isolation und dem gesellschaftlichen Abstieg. Das ist wie ein kleiner Tod. Und wenn keine Hilfe von außen kommt, kann das bis zur »bitteren Neige« führen, wobei dann Suizidgedanken nicht selten sind und im Extremfall kann es auch zu Suizidversuchen kommen. So sagt man Spielern die höchste Suizidrate aller Süchtigen nach. Erregungszustand: arousal In einer Welt, in der Geld für viele das zentrale gesellschaftliche Schmiermittel ist, geht es für den Spieler scheinbar (vor allem am Anfang) um Geld. In der subjektiven Wirklichkeit der Betroffenen geht es – je länger der Spielsuchtprozess andauert – vor allem um den Erregungszustand (»arousal«): Das Gewinnen geht ihm über den Gewinn, das Verlieren über den Verlust, die Tätigkeit geht ihm über das Ergebnis. Spieler gehen im Spielen nicht auf, sondern darin unter. Das Gefühls-Aufund-Ab ist wichtiger als das konkrete Geld. Der schnöde Mammon wird letzten Endes zur Nebensache und nur noch Mittel zum Zweck, um das Karussell der Gefühle und den Taumel zwischen Angst und Lust, zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, am Laufen zu halten. Und mit der Zeit zeigt sich dann die ganze Palette der Suchtkriterien: Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen, Wiederholungszwang, Dosissteigerung. Bis dahin, dass sich alles nur noch ums Spielen dreht: das Aufsaugen aller anderen Interessen durch das Spielen und die Zentrierung um den Geldspielautomaten, den Spieltisch oder das Wettbüro. Alles andere wird uninteressant.

Teufelskreis Das Verhängnisvolle daran ist die Tatsache, dass die Probleme, wegen denen man vielleicht zu spielen angefangen hat, durch Spielen nicht gelöst werden. Ganz im Gegenteil: Durch das Spielen werden neue Probleme geschaffen – psychische, zwischenmenschliche wie auch monetäre. Ein Nebenkriegsschauplatz entsteht. So wird das Spielen auch zur Flucht vor diesen Problemen und ein handfester Teufelskreis etabliert sich. Das »Teuflische« daran ist, dass es damit nicht getan ist. Immer höhere Einsätze sind nötig, um die gewünschte Erregung, den ersehnten »Kick«, zu erlangen. In diesem Punkt gleichen Spielsüchtige den Drogensüchtigen und Alkoholikern, die ebenfalls eine immer höhere Dosis benötigen. Und nicht nur das, es wird immer solange gespielt, bis alles verloren ist. Diese Faktoren ziehen unweigerlich finanzielle Probleme nach sich und führen nicht selten in die Kriminalität. Die Anzahl der Spielsüchtigen in Deutschland wird derzeit auf eine knappe halbe Million geschätzt. Erst wenn alles Geld verzockt ist und alle Geldquellen versiegt sind, hat die arme Seele Ruh’. Der Schauspieler und Filmemacher Mathieu Carrière formulierte es einmal so: »Spielen ist wie Fixen. Der Einstieg geschieht aus Spaß, dann kommt die Zerstörung. Wir gehen doch alle auf dünnem Eis.«

Spieler gehen im Spielen nicht auf, sondern darin unter. Das Gefühls-Aufund-Ab ist wichtiger als das konkrete Geld.

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Verzockte Existenzen: Börsensucht

No risk, no fun

In Zeiten von Big-Data, wo in Bruchteilen von Sekunden Milliarden Dollars um den Erdball kreisen, zeigt sich die Zockermentalität auch an der Börse. Verschiedene Experten schätzen, dass zwischen 2 und 10 Prozent der Broker und Börsenspekulanten süchtig sind. Dabei verhält es sich bei den Börsensüchtigen nicht grundlegend anders als bei den einfachen Spielsüchtigen. Eher ist es noch schlimmer, da es ja bei jedem Einsatz nicht nur um ein paar Groschen (wie bei den Automatenspielern) geht, und auch nicht um ein paar Euro, wie in der Spielbank, sondern gleich um große Beträge. Denn der Verlust kann an der Börse innerhalb kürzester Zeit in die Tausende gehen und ganz schnell die gesamte materielle Dimension ins Trudeln bringen. So kann die Trauer über den Verlust eine existenzielle Dimension haben. Wie sagte doch der Börsenaltmeister André Kostolany: »Börse ist eine Spielhölle mit gezinkten Karten.«

Börsenzockerei ist nichts für zarte Seelen, denn es handelt sich um Nervenkitzel pur: »No risk, no fun« ist das Motto. Auch hier geht es bei den Börsensüchtigen mit der Zeit nicht mehr nur noch um Geld, sondern um den Erregungszustand, den »Kick«. Und das »arousal« kann nur allzu oft durch immer höhere Einsätze und schnellere Käufe und Verkäufe von Wertpapieren aufrechterhalten werden kann. Das ist besonders krass beim sogenannten Inter-Day-Trading, bei dem innerhalb von Minuten oder gar Sekunden gekauft und wieder verkauft wird. Durch die Zunahme an Geschwindigkeit kommt es zu einer immensen Zunahme der Anzahl an Informationen (»Info-Overflow«), die innerhalb kürzester Zeit verarbeitet werden müssen, um die Chancen und Risiken einer Anlage bewerten zu können. Irgendwann steht der »Overload« an. Die Flut an Informationen kann nicht mehr objektiv bewertet werden. Entscheidungen werden auf die Schnelle

fergregory / Fotolia

R i e n n e v a p l u s   – o d e r : We r s p i e l t , v e r l i e r t s i c h   …    7 9

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aus dem Bauch heraus getroffen und die Verluste werden unweigerlich größer. Das große Problem dabei ist, dass die Börsenzocker den Fehler nicht bei sich sehen. Sie leiden nicht selten unter einer chronischen Selbstüberschätzung à la »Masters of the Universe«. Risiken werden unterschätzt und somit schneiden sie in der Regel sogar schlechter ab als der Durchschnitt (oder wie eine Studie so schön gezeigt hat, nicht besser als ein Affe, der die Papiere zufällig auswählt). Nun mögen manche Menschen denken, dass das Spekulieren an der Börse sinnvoller sei als das Spielen am Automaten oder am Spieltisch, da es nicht ausschließlich auf dem Zufallsprinzip beruht. Das mag bei langfristigen Anlagen zutreffen, nicht jedoch bei diversen Wertpapieren (Optionsscheinen, Futures, Derivaten …) und was es da alles an skurrilen Papieren so gibt – alles also, was kurzfristigen, täglichen Schwankungen unterliegt, auf die man wetten kann. Hier ist eine Voraussage schlichtweg unmöglich. Wie gesagt: Diese kurzfristigen Schwankungen werden durch zu viele Faktoren beeinflusst, die nicht mehr überschaubar sind und damit letztlich dem Zufall äh-

In der Vorstellung der Spieler scheint das Geld die Lösung all ihrer Probleme zu sein.

neln. Langfristige, gestreute Anlagen (die einzig sichere Methode, sein Geld am Aktienmarkt zu vermehren) sind für Börsensüchtige jedoch völlig uninteressant, da hier keine großartigen Zuwächse oder Verluste in kurzer Zeit zu erwarten sind und dadurch der Kick-Aspekt gänzlich wegfällt. Die Zahl der Börsensüchtigen lässt sich nur schwer ermitteln. Vage Schätzungen gehen von etwa 30.000 Menschen in Deutschland aus. Die Dunkelziffer gilt jedoch als hoch, da – insbesondere in erfolgreichen Hausse-Zeiten – kaum ein Anleger eine therapeutische Beratung aufsucht. Der Hintergrund Geld hat in unserer Gesellschaft einen unglaublich hohen Stellenwert. Geld ist »geil wie ein Bock und scheu wie ein Reh« (wie es einmal ein Spekulant formulierte) und Geld ist der Inbegriff sowohl von Status und Prestige als auch von Macht und Einfluss. Es ist und macht attraktiv und da in der heutigen Gesellschaft vieles käuflich erscheint, macht es scheinbar frei von Problemen. In der Vorstellung der Spieler scheint das Geld die Lösung all ihrer Probleme zu sein. Nichts, was für Spieler nicht durch Geld kompensiert werden könnte. Das Verhältnis der Spieler und Zocker zum Geld ist zudem extrem gestört. Und noch viel schlimmer: Geld wird zum alleinigen Ersatz für Innenleben und innere Erfüllung. Wie heißt es doch so schön: »Je größer die Löcher in der Seele, umso größer müssen die Perlen in der Krone sein.« Werner Gross, Jahrgang 1949, DiplomPsychologe, ist Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Dozent und Lehrtherapeut, Unternehmens- und Organisationsberater, Buchautor und leitet eine psychologische Praxis in Frankfurt/Offenbach. E-Mail: [email protected]

alekup

Literatur Gross, W. (2003). Sucht ohne Drogen. 6.  Auflage. Frankfurt a. M. Gross, W. (2016). Was Sie schon immer über Sucht wissen wollten. Heidelberg/Berlin.

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Trauerbegleitung – am Leid der anderen Geld verdienen Barbara Djaja Benötigt unsere heutige Gesellschaft professio­ nalisierte und qualifizierte Trauerbegleitung? Ich sage, Ja! Warum? Miteinander Unsere Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Wandel. Die Zeit der Großfamilie, der intakten, engen Nachbarschaft, der Kirche im »Dorf« mit ihrem Seelsorger, der noch alle seine »Schafe« kannte, gehört der Vergangenheit an. Über Jahrhunderte gelebte Traditionen haben sich verändert oder gar aufgelöst: Die Menschen lebten miteinander und sie haben sich in schweren Zeiten gemeinsam getragen. Nach einem Todesfall in der Familie hielten sie Totenwache, es gab unterschiedliche Rituale. Aus meiner Kindheit ist mir noch folgendes Ritual bekannt: Ein Kranz mit schwarzer Schleife wurde an die Haustür der zu betrauenden Familie gehängt. Ging man an dieser Tür vorbei, machte man ein Kreuzzeichen, und

Muss ich dafür bezahlen, dass mir jemand bei meiner Trauer hilft? Dass mir jemand zuhört? Mich begleitet für einen be­ stimmten Zeitraum?

wenn wir diese Familie kannten, war der Trauerbesuch unerlässlich. Der Verstorbene war in der Wohnung aufgebahrt; es gab Kaffee und Kuchen und ein Schnaps zum Verdauen. Es wurden Geschichten von dem Verstorben erzählt. Es wurde viel gelacht und auch viel geweint. Die Nachbarschaft war für die Trauernden da. Die Einbindung in Kirche und Gemeinde und durch den Seelsorger war vorhanden. Es existierte eine gelebte Sorgekultur. Teilnahmslos Das Familienbild hat sich verändert, Familien sind kleiner geworden, haben sich aus verschiedensten Gründen aufgelöst und können oft nicht mehr den ursprünglichen Auftrag der Sorge für die heranwachsenden Kinder und die Sorge für die Altgewordenen erfüllen. Vieles ist nicht mehr verbindlich. Frauen haben dabei oft die Doppelbelastung, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, und nur wenig Ressourcen, ihre trauernden Angehörigen auf längere Zeit zu begleiten. Gemeinschaft und Nachbarschaft werden immer anonymer. Wir bewegen uns zunehmend in einer teilnahmslosen Ego-Gesellschaft. Spannend finde ich in diesem Kontext, dass Menschen anderer Weltreligionen noch nicht für eine Trauerbegleitung bei mir angefragt haben. Liegt es daran, dass diese Familien größer und enger miteinander verbunden sind? Auch ist es noch keine Selbstverständlichkeit dass beispielsweise muslimische Frauen arbeiten gehen, wobei auch da ein Generationswechsel stattfindet. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber dann …?

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 81–83, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

© Lukas Radbruch

8 2   B a r b a r a D j a j a

Wer ist da … wenn ich mit dem Tod eines geliebten Menschen nicht fertig werde, wenn die Trauer mich in meinen Grundfesten erschüttert? Wenn sich das Gefühl ausbreitet, dass ich nichts mehr schaffe – nach einer Woche, einem Monat oder einem Jahr, wer leiht mir noch sein Ohr? Wer will mich noch hören? Im Arbeitsleben hat die Trauer keinen Platz, sie ist Belastung in unserer Leistungsgesellschaft. Jeder soll sofort wieder »funktionieren«. Es zählen Tempo, Effektivität, Neutralität. Gefühle haben da wenig Raum.

Muss ich dafür bezahlen, dass mir jemand bei meiner Trauer hilft? Dass mir jemand zuhört? Mich begleitet für einen bestimmten Zeitraum? Ja! Warum? Die Frage ist: Von wem möchte ich begleitet werden? Von einem professionellen und qualifizierten Trauerbegleiter oder von jemandem, der kostenlos und aus »Liebhaberei« seine Dienste anbietet? Ich stelle mir die Frage, warum wünscht jemand keine Bezahlung für seine wertvolle und unterstützende Arbeit? Welche Bewegründe können das sein: Fühlt er sich wichtig, wenn er Trau-

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Tr a u e r b e g l e i t u n g   – a m L e i d d e r a n d e r e n G e l d v e r d i e n e n    8 3

ernde kostenlos begleitet, ist er dann besonders mitfühlend? Können hier nicht Abhängigkeit und Untergebenheit des anderen eine Rolle spielen? Die Gefahr besteht, dass beim Trauernden die Frage aufkommen könnte: Wie lange darf ich die Zeit des Beraters nutzen – aus-nutzen? Wann werde ich ihm lästig? Muss ich nicht schneller mit meiner Trauer fertig werden? Ich war doch schon so oft hier. Das Gefühl, dass der Berater das Leben versteht, er ist so gütig und kümmert sich um mich, »die Alleingelassene«, und das umsonst. Ist das Begegnung auf Augenhöhe? Sicherlich nicht! Geben und Nehmen Das Leben besteht aus dieser Wechselseitigkeit. Schon vor Einführung des Geldes haben die Menschen gehandelt. Ein Sack Mehl gegen ein Huhn. Jeder hat von diesem Handel profitiert. Der trauernde Mensch will leben. Wieder zurück ins Leben. Wenn ich für eine Leistung bezahle, bin ich frei. Ich habe sie mir verdient, es entsteht keine Schuld. Denn mit Schuld(en) in ein neues Leben aufzubrechen ist eine zusätzliche und vielleicht auch eine sehr hohe Belastung. Berufe verändern sich. Alte Berufe gibt es nicht mehr, wie den Seilmacher, den Müller oder die Hutmacherin. Sie werden nicht mehr benötigt. Neue Berufe entstehen, wie der Informatiker, die Mediengestalterin – und die Trauerbegleiterin. Wichtig ist, dass der Beruf der Trauerbegleiterin anerkannt wird, und zwar als Beruf und nicht als Liebhaberei! Zusammenarbeit Steht man fest im Beruf, ist man verpflichtet, sich weiterzuentwickeln, Kooperationen zu schließen und mit verschiedenen Professionen multiprofessionell zusammenzuarbeiten. Durch viele Begleitungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich im Team deutlich besser arbeite. Ich profitiere vom Wissen anderer und

kann es weitergeben. Häufig wird der Sterbeprozess in der Begleitung noch einmal thematisiert wie Rasselatmung, Agitiertheit am Lebensende. Ich habe es als belastend empfunden, dass ich das nicht adäquat erklären konnte. Ich habe mir medizinische und pflegerische Zusammenhänge von der Palliative-Care-Beratung erläutern lassen und kann dieses Wissen in die Trauerbegleitung einfließen lassen. Das ist sehr hilfreich. Diese Zusammenarbeit ist mir sehr wichtig. Fazit Die Frage, ob man einen Bestatter, einen Onkologen oder Trauerredner bezahlt, wird nie gestellt. Es ist eine Selbstverständlichkeit. Es sind alteingesessene und etablierte Berufszweige. Doch auch diese leben von der Sorge um Menschen in oft leidvollen Situationen. Zu Beginn meiner Begleitung habe auch ich diese Arbeit als »Liebhaberei« angesehen und niemand hat mich gefragt, ob ich dafür etwas bekomme. Nachdem mir klar war, dass ich gute Arbeit leiste, hat sich meine Haltung verändert. Wenn ich die Trauerbegleitung als Beruf(ung) ernst nehme, dann möchte ich auch dafür bezahlt werden. Es ist erstaunlich: Ich spreche das Thema Bezahlung nicht an, ich werde immer von dem Trauernden danach gefragt. Eine Trauerbegleiterin kann langfristig keine gute Arbeit leisten ohne Honorar. Helfende Berufe brauchen somit auch die notwendige Anerkennung durch eine gerechte Bezahlung. Um in diesem Beruf dauerhaft tätig sein zu können, sind Fortbildungen, Supervisionen, Räumlichkeiten und Materialien ein Muss. Der Mensch kann auf Dauer nur gute Arbeit leisten, wenn er wertgeschätzt und honoriert wird. Barbara Djaja ist Trauerbegleiterin in Essen. E-Mail: [email protected] Website: www.trauer-beratung.com

Geld und Leid – das leidige Geld

AUS DER FORSCHUNG

Schottland: Wie wirken sich Verluste wirtschaftlich aus? Heidi Müller und Hildegard Willmann Stephen, Audrey I.; Macduff, Colin; Petrie, Dennis J.; Tseng, Fu-Min; Schut, Henk; Skår, Silje; Corden, Anne; Birrell, John; Wang, Shaolin; Newsom, Cate; Wilson, Stewart (2015). The Economic Cost of Be­ reavement in Scotland. In: Death Studies, Vol. 39, Nr. 3, S. 151–157. Im Jahre 2012 starben in Schottland 54.937 Personen. Darunter war im Vergleich zu anderen europäischen Staaten eine höhere Anzahl jüngerer und noch berufstätiger Menschen. Welche sozioökonomischen Auswirkungen diese Verluste auf die geschätzten 220.000 nahestehenden Hinterbliebenen haben, ist kaum bekannt.

Es gibt zahlreiche Auswirkungen, die Verluste nach sich ziehen können. Sie betreffen nicht nur einzelne Personen oder Familien, sondern auch soziale, wirtschaftliche und staatliche Einrichtungen und Verbände (zum Beispiel den Arbeitgeberverband). Allgemein wird angenommen, dass Personen, die einen Verlust erlitten haben, häufiger krank werden und ein höheres Sterblichkeitsrisiko haben. Sie gehen öfter zum Arzt und nehmen mehr Antidepressiva und Schlaftabletten ein als Nicht-Betroffene. Zudem müssen sich viele Betroffene immer wieder berufliche Auszeiten nehmen und können direkt nach dem Verlust teilweise nicht mehr so effektiv arbeiten wie vor-

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 84–86, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Sterblichkeitsrisiko und stationäre Krankenhausaufenthalte Die Auswertung zeigt, dass die Personen, die einen Verlust erlitten haben, ein 18,2 Prozent höheres Sterblichkeitsrisiko aufwiesen als die NichtBetroffenen aus der Kontrollgruppe. Litten die Hinterbliebenen vor dem Verlust schon an einer längerfristig andauernden Erkrankung, war das Risiko sogar 35,4 Prozent höher. Doch nicht nur das Sterblichkeitsrisiko stieg an, sondern auch die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthaltes und die Länge der stationären Behandlung. Bei einer Gesamtbevölkerung von 4.089.946 Einwohnern über 16 Jahre, wovon 9,06 Prozent verwitwet sind (Stand 2011), entstehen dem staatlichen Gesundheitsdienst NHS daraus Kosten, die geschätzt pro Jahr zwischen 16,2 und 23,3 Millionen Pfund liegen. Auch einige Zeit nach dem Verlust zeigte sich, dass die verwitweten Personen häufig länger im Krankenhaus blieben als die Nicht-Betroffenen. Langfristig nahm der Trend sogar noch etwas zu, was auch damit zusammen-

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her. Familien mit niedrigem Einkommen wiederum können große finanzielle Probleme bekommen, wenn ein Verdienst wegfällt. Um eine konkretere Vorstellung davon zu erhalten, wie sich die Verluste auf die schottische Gesellschaft und Wirtschaft auswirken, wurde eine großangelegte Studie durchgeführt. Dafür wurden drei umfangreiche Datensätze ausgewertet. Anhand des ersten wurde herausgefiltert, wie sich der Tod des Partners auf das Sterblichkeitsrisiko und die Anzahl stationärer Krankenhausaufenthalte auswirkt. Der zweite Datensatz wurde verwendet, um zu untersuchen, inwieweit die Verluste auch zu häufigeren Arztbesuchen führten. Durch den dritten Datensatz wurde ermittelt, wie es den Menschen gesundheitlich und finanziell ging, ob sie zum Beispiel vor dem Verlust ebenso häufig zum Arzt gingen wie nach dem Tod des Ehepartners, ob ihr Gesundheitszustand vorher besser war als nach dem Verlust und ob ihr Einkommen vor dem Verlust höher war als danach beziehungsweise ob sie überhaupt noch arbeiten gingen.

Geld und Leid – das leidige Geld

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hängen kann, dass es verwitwete Personen, die krank sind, schwerer haben, alleine zurechtzukommen, wenn es um ihre gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse geht, und somit eher auf Hilfe von außen angewiesen sind. Arztbesuche Überraschenderweise zeigt sich in der Auswertung, dass die verwitweten Personen aufgrund ihres Verlustes nicht häufiger zum Arzt gingen als die Nicht-Betroffenen. Die Ärzte notierten als Grund für den Besuch nur selten das Verlusterlebnis und brachten die Beschwerden kaum damit in Verbindung. Zudem zeigt sich, dass Ärzte und Krankenschwestern die Beratung und Begleitung von Hinterbliebenen zwar als wichtige Aufgabe für sich erachten, sie sich jedoch darauf nur unzureichend vorbereitet fühlen und mögliche gesundheitliche Folgen wie zum Beispiel eine Komplizierte Trauer schwer diagnostizieren können. Gesundheit und Finanzen Der dritte Datensatz, der einen Zeitraum von mehr als 17 Jahren betrachtete, untersuchte die drei Aspekte Gesundheit, Einkommen und Beschäftigung. Doch hinsichtlich des Themas Gesundheit vor und nach dem Verlust zeigten sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Verwitweten und den Nicht-Betroffenen. Lediglich eine kleine Gruppe von Personen wies zwei Jahre vor dem Verlust und ein Jahr danach etwas größere gesundheitliche Schwierigkeiten auf als alle anderen. Einige Menschen geben für die Pflege von Angehörigen ihren Arbeitsplatz auf. Das zeigte sich auch in dieser Studie. Im Vergleich zu den NichtBetroffenen befanden sich die Verwitweten im Jahr des Verlustes und zwei Jahre danach seltener in einem festen Beschäftigungsverhältnis. Dennoch wiesen die Einkommen zehn Jahre vor dem Verlust und zehn Jahre danach keine großen finanziellen Unterschiede zwischen beiden Gruppen auf. Es zeigte sich sogar, dass die Verwitwe-

ten zehn bis 16 Jahre nach dem Verlust höhere Einkommen aufwiesen als die Personen aus der Kontrollgruppe. Dies kann im Fall Schottlands damit zusammenhängen, dass die Menschen jünger sind, wenn sie einen Verlust erleben, sich aber finanziell im Laufe ihres noch länger andauernden Berufslebens gut davon erholen. Dieses Ergebnis sollte jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, merken die Autoren des Artikels an. Denn möglicherweise gibt es doch eine kleine Gruppe von Personen, die aufgrund des Verlustes in finanzielle Schwierigkeiten gerät, aber zu klein ist, um bei dieser Untersuchung hervorzustechen. Fazit Verluste können sowohl gesellschaftliche wie auch wirtschaftliche Auswirkungen haben. Diese sollten am besten so früh wie möglich erkannt und abgefedert werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich alle Personen, insbesondere diejenigen, die im sozialen und gesundheitlichen Bereich tätig sind, mit dem Thema Trauer beschäftigen und Betroffenen frühzeitig wichtige Hilfen anbieten. Möchten Sie mehr zu diesem oder anderen Themen aus der Trauerforschung erfahren? Melden Sie sich gern beim kostenlosen Newsletter »Trauerforschung im Fokus« unter www.trauerforschung.de an oder schreiben Sie uns einfach eine Mail.

Heidi Müller, Diplom-Politologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: heidi.mueller@trauer­ forschung.de Hildegard Willmann, Diplom-Psychologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected]

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FORTBILDUNG

Fortbildung: Umgang mit Entscheidungsträgern Lukas Radbruch

Vorinformationen Das deutsche Gesundheitssystem bewegt sich in einem Zwiespalt zwischen Ethik und Ökonomie. Einerseits wird immer wieder betont, dass Patienten alles, was sie brauchen, auch erhalten und dass keine Behandlung vorenthalten wird, nur weil sie zu viel kostet. Andererseits sind nicht nur Effektivität (wie gut wirkt eine Behandlung), sondern noch mehr Effizienz (wie ist das Verhältnis von Nutzen und Kosten einer Behandlung) bei allen Entscheidungen im Gesundheitssystem zumindest im Hinterkopf, wenn auch nicht immer im Mund aller beteiligten Handlungspartner. In der Leitungsebene einer Einrichtung oder eines Dienstes in der Hospiz- oder Palliativversorgung muss ich mit Entscheidungsträgern verhandeln, die für die Finanzierung zuständig sind. Egal ob es sich um die Einrichtung einer neuen Palliativstation oder den Aufbau eines ambulanten Hospizdienstes mit einer hauptamtlichen Koordinatorenstelle oder ein neues Trauerangebot für Kinder und Jugendliche handelt, als Verantwortlicher für das neue Projekt muss ich Krankenhausverwaltung, Krankenkassen oder reiche Sponsoren überzeugen, dass wir eine wertvolle und sinnvolle Erneuerung oder Ergänzung zu den bestehenden Angeboten schaffen können. Mit der fortschreitenden Entwicklung in der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland erleben wir eine zunehmende Integration in das Gesundheitswesen, und mittlerweile werden viele ambulante und stationäre Behandlungsangebote in der Palliativversorgung von den Kostenträgern finanziert. Gleichzeitig wird nun aber auch die Hospiz- und Palliativversorgung den Regeln im Gesundheitssystem unterworfen, und das heißt

vor allem Wettbewerb um knappe Ressourcen wie Geld, Räume oder Personal. Die Leiter von solchen Einrichtungen müssen deshalb lernen, wie sie mit Entscheidungsträgern umgehen können. Leider herrscht dabei oft eine Haltung vor, dass doch die Vorzüge der guten Tat (die Hospiz- und Palliativversorgung) ganz klar auf der Hand liegen und dafür natürlich auch Ressourcen bereitgestellt werden müssen: Schließlich wird hier Leiden gelindert. Ein Gespräch mit einem Entscheidungsträger aus einer solchen Haltung heraus wird aber oft enttäuschend enden. Verwaltungsleiter, Vorstände oder Sponsoren leben in einer anderen Welt und unter anderen Bedingungen. Sie haben jeden Tag viele Begegnungen, bei denen Menschen mit jeweils unterschiedlichen Interessen und jeweils guten Argumenten ein Stück vom Kuchen haben wollen. »Außerdem«, so sagte ein Verwaltungsdirektor »ist das hier kein Wohltätigkeitsverein, wir müssen schon kostendeckend arbeiten.« Selbst die Wohltätigkeitsvereine sind gewissen Regeln der Marktwirtschaft unterworfen und müssen zum Beispiel wiederum ihren Spendern gegenüber nachweisen, was sie mit den eingeworbenen Spenden gemacht haben und ob sie den bestmöglichen Effekt mit der höchsten Effizienz in den geförderten Projekten finanziert haben. Dafür ist aus ihrer Sicht eine gute Darstellung in der Öffentlichkeit Geld wert, weil dadurch neue Spenden eingeworben werden können. Der Umgang mit Entscheidungsträgern ist deshalb ein wichtiges Thema in der Ausbildung von Leitungs- und Führungspersonal in den Hospiz- und Palliativeinrichtungen. In der englischen Sprache wird diese Tätigkeit mit »Advocacy« bezeichnet, ein Begriff, der mit »anwaltschaftliches

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 87–90, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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schrieben. Einzelne Elemente dieser Einheit sind aus der »Leadership Development«-Initiative entstanden, in der von 2009 bis 2013 eine Reihe von Nachwuchsführungskräften in der Palliativversorgung aus Entwicklungsländern ausgebildet worden sind (http://www.ipcrc.net/ldi-curriculum-overview.php).

Konzept für Unterrichtseinheit (3–4 Unterrichtsstunden)

zierung oder die Bereitstellung von Ressourcen entscheidet (zum Beispiel Geschäftsführer des Krankenhauses oder Vorsitzender einer gemeinnützigen Stiftung). Die Karten werden an der Metaplanwand aufgehängt. Der Moderator stellt in einem kurzen Impulsvortrag vor, worum es beim Umgang mit Entscheidungsträgern (Advocacy) geht. Wie kann ich mich als Antragsteller auf mein Gegenüber einstellen, wie kann ich diese Situation mit seinen Augen sehen, wie kann ich verstehen, unter welchen Rahmenbedingungen der Entscheidungs-

© Lukas Radbruch

Handeln« oder »Fürsprache für eine Sache« nur unzureichend übersetzt werden kann. Das engagierte Eintreten für die eigene Vision, aber untermauert von Argumenten, die das Gegenüber verstehen kann, ist hiermit gemeint. Im Folgenden wird eine Unterrichtseinheit zum Umgang mit Entscheidungsträgern be-

In einer ersten Runde wird von jedem Teilnehmer jeweils eine Karteikarte ausgefüllt zu den zwei Projekten, die der Teilnehmer gern realisieren möchte (zum Beispiel ein neues Versorgungsangebot einrichten, ein bestehendes Angebot ausbauen oder ein Modellprojekt in die Regelversorgung übernehmen). Auf der Karteikarte sollen der Titel des Projekts und die jeweils zuständige Person stehen, die über die Finan-

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träger arbeitet? Die Teilnehmer sollen verstehen, dass Entscheidungen zwar immer durch Fakten untermauert sein müssen, aber meist durch Gefühle getriggert werden. Als Antragsteller muss ich deshalb Geschichten liefern (»Gestern noch hat mir der neue Patient auf der Palliativstation gesagt …«) und Fakten bereithalten (»Das passiert bei uns zweihundertmal im Jahr«). Die Teilnehmer sollen auch verstehen, dass Entscheidungsträger in aller Regel wenig Zeit (und oft auch wenig Geduld) haben. Die zentrale Nachricht muss als Dreisatz aufgebaut sein:

a) Was genau ist das Problem? b) Was muss getan werden, um es zu beheben? c) Welche Handlung erwarte ich vom Entscheidungsträger als Beitrag zur Problemlösung? Dieser Dreisatz kann in Zweiergruppen geübt werden. Zunächst nimmt sich jeder Teilnehmer eine seiner beiden Karten und arbeitet für dieses Projekt seine zentrale Botschaft mit den drei Bestandteilen aus. Dann wird in einem kurzen Rollenspiel geübt.

Geld und Leid – das leidige Geld

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Übung: Rollenspiel Zwei Teilnehmer: Antragsteller und Entscheidungsträger Auftrag: Sie sind zufällig mit dem Entscheidungsträger in den Aufzug getreten, und jetzt stehen Sie nebeneinander, während der Aufzug vom Erdgeschoss in den 8. Stock fährt. Sie haben deshalb eine Minute Zeit, um Ihre Botschaft an den Entscheidungsträger zu bringen. Versuchen Sie, in dieser Zeit von seinem Hirn zu seinem Herz und wenn möglich auch bis zu seiner Brieftasche zu kommen (to get from his head to his heart to his wallet). Aus dem in der Eingangsrunde gefüllten Themenspeicher werden von den Teilnehmern zwei bis drei Projekte ausgewählt, die dann in Kleingruppen bearbeitet werden. Die Kleingruppen sollen die zentrale Botschaft für das Projekt ausformulieren und eine Vision entwickeln (Wie wird es sein, wenn das Projekt vollständig umgesetzt werden kann?). Sie führen eine SWOT-Analyse zur dem Projekt durch, indem sie die Stärken (Strength), Schwächen (Weaknesses), Chancen (Opportunities) und Gefahren (­Threats) identifizieren. Vor allem die Diskussion über die Schwächen (zum Beispiel zusätzliche Personalkosten durch das Projekt) und Gefahren (zum Beispiel wird das neue Angebot als Konkurrenz und nicht als Unterstützung gesehen) sind wertvoll, weil genau hier die Gegenargumente gegen das Projekt zu finden sind, die dem Antragsteller vom Entscheidungsträger vorgehalten werden. Die Diskussion dieser Aspekte in der SWOT-Analyse ermöglicht dem Antragsteller aber, diese Argumente schon im Vorfeld zu prüfen. SWOT-Analyse Vorteile

Nachteile

im Projekt selbst

Stärken

Schwächen

außerhalb des Projekts

Chancen

Gefahren

Die Ergebnisse aus den Gruppen werden im Plenum vorgestellt und diskutiert. In einer zweiten Runde arbeiten die Kleingruppen weiter an den ausgewählten Projekten, indem sie nun die zentrale Botschaft, eventuell ergänzt durch Elemente aus der SWOT-Analyse, in einem Interview präsentieren. Übung: Kleingruppen Auftrag: Sie möchten einen kurzen Film für YouTube erstellen, in dem Sie gemeinsam mit Ihrem Team das geplante neue Projekt vorstellen möchten. Dabei soll die zentrale Botschaft kurz und prägnant vermittelt werden. Der Film kann als Interview gestaltet werden oder mit anderen Formaten zum Beispiel als Videoblog. Sie überlegen, ob mit einem solchen Video über das Internet ein Crowdfunding für das neue Projekt möglich wäre. Wenn möglich, können Kameras und Mikrophone gestellt werden, sonst sollen einfach Videos über Smart-Telefone gefilmt werden. Die Qualität dieser Aufnahme ist durchaus ausreichend für die Präsentation auf Internetplattformen. In der verbleibenden Zeit können die erstellten Videos im Plenum vorgeführt werden. In der Diskussion können auch von anderen Teilnehmern positive und negative Erfahrungen aus vergleichbaren Situationen eingebracht werden. In einer Abschlussrunde werden die Teilnehmer gefragt, welche Schritte sie sich in den nächsten Wochen für ihre beiden Projekte vorstellen können oder vielleicht sogar fest vorgenommen haben. Prof. Dr. Lukas Radbruch ist Professor für Palliativmedizin an der Universität Bonn und Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. E-Mail: [email protected]

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NACHRICHTEN

Auftaktgottesdienst »Ein Lied für Dich« in der Marktkirche Hannover am 24.01.2016 Nicole Friederichsen

Nicole und Merle Friederichsen sowie Felicitas Karsch an der Gestaltung des Gottesdienstes beteiligt. Die Besucher erlebten einen besinnlichen Start in die Aktion. Nicht zuletzt durch die hochklassige musikalische Begleitung durch das Duo »FagotTromba« mit Julia Butte-Wendt (Fagott), Martin Wendt (Trompete) und Organist Ulfert Smidt.

© Hannes Friederichsen

Der Auftakt der bundesweiten Aktion »Ein Lied für Dich« fand in Form eines Gottesdienstes in der Marktkirche Hannover unter Leitung von Hanna Kreisel-Liebermann statt. Unter den Gästen waren auch der Bürgermeister Thomas Hermann und der Kulturdezernent Harald Härke. Für den Bundesverband waren neben der Vorsitzenden Christine Stockstrom noch Anke Grimm,

Leidfaden, Heft 2 / 2016, S. 91–94, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jesaja 66,13) Wir danken unseren Gastgebern von der Marktkirche, allen Mitwirkenden, dem Küster Herrn Blume und allen Gästen für ihre freundliche Spende. Wir blicken weiter voller Zuversicht in dieses Jahr und freuen uns auf viele Konzerte, die »Ein Lied für Dich« gewidmet sind. Alle weiteren Informationen dazu finden Sie auch unter bvtrauerbegleitung/einliedfuerdich.de

© Hannes Friederichsen

Statt einer Predigt gab es die Geschichte »Ein unbekannter Gast« und da unser Schirmherr Matthias Brodowy andernorts einen Auftritt hatte, gab es sein Grußwort vom Band. Den vollständigen Gruß und Aufruf finden alle Interessierten auf unserer Homepage (www.bv-trauerbegleitung.de). Der Wandelgottesdienst im Mittelteil lud alle Besucher ein, in der schönen Marktkirche an fünf verschiedenen Stationen innezuhalten und dort gesegnet zu werden oder die Jahreslosung des Kirchenjahres mitzunehmen. Die Losung 2016 hätte passender nicht sein können, lautet sie doch:

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Eine Syrerin aus Witten hilft Flüchtlingskindern in ihrer Trauer

Im Zentrum für Kinder- und Jugendtrauerarbeit trafen sich Dima Alhafez und Annette Wagner. Wagner leitet eine Fortbildung zur Trauerbegleiterin, an der die Apothekerin aus Syrien teilnimmt.

Dima Alhafez hat mit ihren 28 Lebensjahren bereits viel erlebt: Die junge Frau war Besitzerin einer eigenen Apotheke in Homs im Westen Syriens, nicht weit von der Grenze zum Libanon entfernt. Als die Protesthochburg zu einem Mittelpunkt des Bürgerkriegs wurde, fiel auch eine Bombe auf ihre Apotheke. Seitdem sah sie keine

Zukunft mehr für sich in diesem Land. Die Flucht führte sie zunächst nach Jordanien, dort wollte sie mit ihrem Mann, einem Zahnarzt, bleiben. Doch der musste sich einer schwierigen Operation unterziehen, nicht alles lief glatt. »Wir haben dann ein Behandlungsvisum für Deutschland bekommen.«

Geld und Leid – das leidige Geld

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Interkulturelle Herausforderungen Seit sie mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen (4 und 1) in Deutschland ist, engagiert sie sich beim Kinderschutzbund. Vielen anderen Flüchtlingen kann sie hier bei der Übersetzung helfen, ihr eigenes Kind besucht dort eine Spielgruppe. Über den Kinderschutzbund entstand vor Kurzem auch der Kontakt zum Hattinger Trauerverein »traurig-mutig-stark«. »Ich habe mich dann einige Male mit den Leuten vom Verein getroffen, alle waren sehr nett und freundlich«, sagt Alhafez. Aus dem Kennenlernen ist inzwischen ein ganzes Projekt geworden. Denn gemeinsam mit Magda Rizk, einer koptischen Christin, die aus Glaubensgründen aus Ägypten fliehen musste, lässt sich Alhafez derzeit zur Trauerbegleiterin für Kinder ausbilden. »Mit Trauer wird überall anders umgegangen« »Mit Trauer wird überall anders umgegangen«, sagt Annette Wagner. Sie leitet die Kinder- und Jugendtrauerarbeit des Vereins und führt auch die Fortbildung durch. Mit Alhafez und Rizk hofft sie auf neue Impulse mit Blick auf die interkulturellen Herausforderungen, die dem Verein bereits begegnen. »Im Islam ist es zum Beispiel verboten, in der Trauer zu weinen«, sagt Alhafez. Auf diese Details wollen die Trauerbegleiter vorbereitet sein. Denn zudem soll ein Angebot speziell für Flüchtlingskinder geschaffen werden. »Da werden ganz andere Situationen auf uns zukommen. Oft werden die Kinder gar nicht wissen, ob ihre Angehörigen noch leben«, sagt Wagner. Doch die Seelsorgerin und Diakonin ist sich sicher, dass großer Bedarf für ein solches Angebot besteht. »Wir sind auch schon von den ersten Flüchtlingshelfern darauf angesprochen worden.«

Bis das Projekt umgesetzt wird, wird es aber noch etwas dauern. »Die Flüchtlinge müssen hier erst richtig ankommen und sich sicher fühlen«, sagt Wagner. So lange sie noch Existenzängste plagen, sei an Trauerarbeit nicht zu denken. Zudem wird die Ausbildung von Alhafez und Rizk noch bis Juni dauern. Sicher ist aber, dass der Hattinger Trauerverein mit dem Projekt innovativ vorangeht. »Wir haben die Idee beim Bundesverband Trauerbegleitung vorgestellt und da wurde man sehr aufmerksam«, sagt Wagner. Vor allem in Köln rechnet sie schon bald mit Nachahmern. Projekt startet im Sommer Dima Alhafez kann es derweil kaum erwarten, mit der Arbeit loszulegen. Seelsorgerin Wagner hat sie bereits ein Buch über das Trauern im Islam geschenkt, auch die bisherigen Unterrichtsinhalte hat sie bereits verinnerlicht. Doch zuvor möchte sie einen Pass für ihren einjährigen Sohn besorgen. Denn während sie hier lebt, ist der Rest der Familie in verschiedenen Ländern verteilt: die Eltern in Saudi-Arabien, der Bruder in China, eine Schwester in Ägypten, eine weitere in Syrien. »Ich habe sie alle seit drei Jahren nur über das Internet gesehen«, sagt Alhafez. Mit einem Pass für den kleinsten Sohn könnte sich das ändern: »Dann können wir endlich reisen.« Fabian Nitschmann, WAZ, 26.12.2015 Diakonin Annette Wagner ist pädagogische Leiterin von »traurig-mutig-stark« – Zentrum für Kinder- und Jugendtrauerarbeit Witten. Sie ist BVT-Mitglied und in der Sprechergruppe der Begleitenden. E-Mail: [email protected] Website: www.traurig-mutig-stark.de

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© Mike Baldwin / Cornered

»Mach einen Doppelblind-Test. Gib das neue Medikament den reichen Patienten und das Placebo den armen. Macht ja keinen Sinn, ihnen Hoffnung zu machen. Sie könnten es sich eh nicht leisten, selbst wenn es wirkt.«

Vorschau Heft 3|2016 Thema: Heimatverlust Berufsalltag: Arbeitsplatz als Heimat Das heimatlose Ich Wurzeln sind so viel mehr als ein Ort Fremd im eigenen Körper (Krankheit, Amputation) Heimat und Bindung Krankheitsfolgen nach Renteneintritt oder Heimatverlust Suche nach der väterlichen Heimat in Ostpommern Türken der zweiten Generation Gefährdung des Heimatraums durch rassistische, totalitäre, menschen­ verachtende Bewegungen u. a. m.

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Thorsten Adelt (Bonn), Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Eichenau), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Phyllis Silverman (USA), Dr. Margret Stroebe (Niederlande) Redaktion: Ulrike Rastin M. A., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-477 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A / SFr 27,50 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.v-r.de ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-80614-2 ISBN 978-3-647-80614-3 (E-Book) Umschlagabbildung: Fototaras/shutterstock.com Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2016 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck: KESSLER Druck + Medien GmbH & Co. KG, Michael-Schäffer-Str. 1, D-86399 Bobingen Printed in Germany

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