Wirtschaftsordnungen: Pluralistische und Dynamische Ordnungspolitik [1 ed.] 9783428432745, 9783428032747

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Wirtschaftsordnungen: Pluralistische und Dynamische Ordnungspolitik [1 ed.]
 9783428432745, 9783428032747

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Nicht-Markt-Ökonomik Märkte · Wahlen · Gruppenverhandlungen

Band 3

Wirtschaftsordnungen Pluralistische und dynamische Ordnungspolitik

Von

Philipp Herder-Dorneich

Duncker & Humblot · Berlin

PH.

HERDER-DORNEICH

Wirtschaftsordnungen Pluralistische und dynamische Ordnungspolitik

Nicht • Markt - Ökonomik Märkte • Wahlen • Gruppenverhandlungen Herausgegeben von Prof. Dr. Ph. Herder-Dorneich

Band 3

Wirtschaftsordnungen Pluralistische und dynamische Ordnungspolitik

Von Ph. Herder-Dorneich

DUNCKER & HUMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN

3 428 03274 8

Vorwort Diese Schrift bringt das wirtschaftspolitische Pendant zur Theorie der „Wirtschaftssysteme" 1 . Die Theorie der komplexen Systeme, die i n „Wirtschaftssysteme" dargestellt wurde, w i r d hier ergänzt durch die Konzeption der Vielfachsteuerung und der dynamischen Ordnungspolitik (Systempolitik). Die Überlegungen hier und dort hängen dabei eng miteinander zusammen. Während indes i n „Wirtschaftssysteme" die Analyse der Dinge, wie sie sind, i m Vordergrund steht, geht es hier u m die Frage, wie die Dinge sein sollen. K a n n die pluralistische Gesellschaft Normen setzen? Wer setzt diese und wie müssen diese Normen lauten, damit sie nicht sich selbst und der Freiheit widersprechen? Diese Schrift drängt i n Neuland vor. Der Verfasser glaubt indes, daß Fortschritte dann besonders weitreichend und gleichzeitig fundiert sind, wenn es gelingt, tragende Gedanken der Vergangenheit zusammenzusehen und zusammenzufassen und von da aus weiter zu bauen. Die Komparation und die Kombination der gängigen Lehren relativiert diese gleichzeitig und läßt damit Schritte ins Allgemeine zu. So hat der Verfasser i n der Schrift „Politisches Modell zur W i r t schaftstheorie" (1957) den Versuch gemacht, zwei soziale Systeme untereinander zu verbinden: Ein einfaches Modell des Wahlmechanismus wurde i n das Modell des Wirtschaftskreislaufs integriert. Die Schrift „ Z u r Theorie der sozialen Steuerung" (1965) ging einen Schritt weiter, indem sie drei soziale Systeme miteinander kombinierte. Sie verband den Gruppenmechanismus m i t dem Markt- und dem Wahlmechanismus. Hierbei stand das komplementäre Verhältnis von Märkten, Wahlen und Gruppenverhandlungen i m Vordergrund. Es wurde eine Reihe von sozialen Systemen dargestellt, die jeweils aus Märkten, Wahlen und Gruppenverhandlungen bestehen und dabei doch eine unverkennbare neue Einheit bilden. Die Dreiteilung der Wettbewerbsprozesse i n „Märkte", „Wahlen*und „Gruppenverhandlungen" erweist sich zwar als praktisch und dem allgemeinen Verständnis leicht zugänglich. Eine wissenschaftliche Systematik bildet sie jedoch nicht. Der Verfasser hat deshalb den Versuch zu einer allgemeinen Systematik gemacht u n d dazu auf Überlegungen 1

VgL Herder-Dorneich,

P h i l i p p : Wirtschaftssysteme, Opladen 1972.

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Vorwort

der Kybernetik zurückgegriffen; daraus ist seine Schrift „Soziale K y bernetik, die Theorie der Scheine" erwachsen. Die Theorie der Scheine (z. B. Geldscheine, Wahlscheine, Gutscheine, Berechtigungsscheine usw.) zeigt, daß es grundsätzlich beliebig viele Möglichkeiten zwischen M a r k t und Wahl gibt. Zahlreiche dieser Möglichkeiten sind bereits v e r w i r k licht worden, andere sind denkbar. Aufbauend auf diesen theoretischen Arbeiten hat die Schrift „ W i r t schaftssysteme" dann die Theorie der komplexen Systeme zusammenfassend dargestellt. Der Verfasser ist der Auffassung, daß Theorie sich vor allem auch i n der Analyse der Wirklichkeit bewähren muß. Die Anwendung der Theorie geschah i n den Arbeiten des Verfassers i n zwei verschiedenen Abstraktionsebenen. I n einer Reihe von Arbeiten wurde die Anwendung der allgemeinen Theorie der komplexen Systeme i m Bereich spezieller Theorien versucht. Hier sind insbesondere zu nennen: — Sozialökonomischer Grundriß der Gesetzlichen Krankenversicherung (Grundzüge einer Theorie der Gesetzlichen Krankenversicherung) — Gesundheitsökonomik (Grundriß der theoretischen Probleme, die eine allgemeine Gesundheitsökonomik stellt) — Zur Verbandsökonomik: Grundzüge einer ökonomischen Theorie des Verbandes — Zur Dienstleistungsökonomik: Systemanalyse und Systempolitik der Krankenhauspflegedienste. I n einer anderen Reihe von Arbeiten zur Analyse und Politik aktueller Probleme w i r d auf konkrete Sachverhalte der Gegenwart eingegangen und versucht, diese zu erkennen, zu erklären und zu bewerten. Daraus sind Schriften entstanden zur Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung, zur Krankenhausreform, zur Honorarreform der Krankenhausärzte, zur Reformdiskussion des Arzneimittelmarktes, zum Fluglotsenstreik, zur Reform des Verhältnisses von Wirtschaft und Bildung und anderes. Aus diesen sehr praktischen Fragen haben sich immer wieder allgemeine Überlegungen zur Reform sozialer und wirtschaftlicher Systeme ergeben. Sie wurden i n mehreren Aufsätzen und Vorarbeiten zusammengefaßt und weiterentwickelt. „Wirtschaftsordnungen" bringen somit die Ergebnisse der theoretischen Vorarbeiten, aber auch die Ergebnisse der vielen Einzelarbeiten zur Reformdiskussion ein. Dem Verfasser kam es dabei darauf an, die Grundlinien klar zu ziehen. Einzelfragen hat er bewußt hier zurückgedrängt. Der Leser, der sich m i t den Einzelpro-

Vorwort blemen befassen möchte, kann sich i n den verschiedenen einschlägigen Schriften des Verfassers weiter orientieren. Die hier vorgelegten Kapitel sind aus der Planung einer Gesamtkonzeption entstanden. Sie wurden jeweils als i n sich geschlossene Einheiten niedergeschrieben. Köln, A p r i l 1974 Philipp

Herder-Dorneich

Inhaltsübersicht

A. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel I. Menschsein i m Wandel — Anthropologie des Überlebens

13 13

1. Der Ausgangspunkt: Überleben durch Handeln

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2. Eine allgemeine Anthropologie des Überlebens

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3. Phasen des Menschseins — anthropologische Strukturen der V e r gangenheit Die Phase der Handlungslosigkeit: das Prinzip des weiten Raumes Die Phase des sporadisch-repetierenden Handelns Die Phase des kontinuierlich-dynamischen Handelns: das h i e r archische Menschenbild 4. Die anthropologische S t r u k t u r des Pluralismus Handeln als Tauschen Tauschen u n d Arbeitsteilung Tauschen u n d Information Das pluralistische W e l t b i l d I I . Die Werte i n der Auseinandersetzung — Kooperation unter Dissens Pluralismus — ein säkularer T r e n d . Das notwendige M i n i m u m an Konsens Der Wettbewerb als I n s t i t u t i o n des Interessenausgleichs Andere Formen des Interessenausgleichs: politische Parteien u n d Interessengruppen Der Pluralismus der Wettbewerbsordnungen I I I . K o n f l i k t als Existenzbedingung der Massengesellschaft — Ansatzpunkte zu einer Ordnung der Konfliktgesellschaft Kennzeichen einer pluralistischen Massengesellschaft K a n n die pluralistische Gesellschaft überleben? K o n f l i k t als Existenzbedingung K o n f l i k t s t r u k t u r e n als Erfindung K o n f l i k t i m Gleichgewicht Gleichgewicht u n d sozialer Wandel Ungleichgewichtige Gleichgewichte Eigengesetzlichkeit der Interdependenz Ansatzpunkte zur Konfliktstabüisierung

19 19 20 22 26 26 28 29 32

36 37 38 39 41

42 42 43 44 45 46 47 48 49 51

10

Inhaltsübersicht

I V . Der Produktionsfaktor L e n k u n g — Organisationsprobleme wachsender Arbeitsteilung 1. Das Wohlstandsparadox

52 52

Die Feststellungen FourastiSs Die Vorstellung v o n Galbraith Das Wohlstandsparadox

52 54 54

2. Wohlstand durch Arbeitsteilung

55

Produktionsfaktoren Kombinationsfaktoren P r o d u k t i v i t ä t durch Arbeitsteilung

55 57 59

3. Einfache u n d schwierige Probleme der Arbeitsteilung

60

V o m einfachen zum schwierigen F a l l D i s t i n k t i o n u n d K o n t a k t der Aggregate K o n t i n u a t i o n u n d Dispersion Kongruenz der Ströme Kongruenz der Perioden Kongruenz der Aggregate Produzenten u n d Kassierer fallen auseinander Schwierige Fälle der Arbeitsteilung

60 61 63 64 66 66 67 67

4. Der Produktionsfaktor L e n k u n g

70

B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

72

I . Ansatzpunkte einer neuen Strategie des Denkens

72

I I . Die E n t w i c k l u n g der Sozialen Marktwirtschaft — A n der Schwelle einer neuen Phase der Weiterentwicklung I m Rückblick: Drei Entwicklungsphasen Was hat sich verändert? Die Adressaten Neue Adressaten i n Schule u n d Weiterbüdung * Abschluß des industriellen Wiederaufbaus V o n der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft V o n der M a r k t ö k o n o m i k zur Nichtmarktökonomik Dualismus Marktwirtschaft / Zentralverwaltungswirtschaft E i n neuer Gegner: Demokratisierungsideologie Der Einbezug der Politischen Ökonomik Das Problem der externen Kosten: Verbandsökonomik Die geistigen M a r k t l ü c k e n Das geistige Angebot: Rezeption wissenschaftlicher Ergebnisse

75 76 78 79 79 81 82 83 84 85 85 87

I I I . V o m Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen — Mischformen i m Z e n t r u m der Problematik Die Alternative v o n Marktwirtschaft u n d Zentralplan Der Zentralplan als Negation der Marktwirtschaft

75

89

89 4 92

Inhaltsübersicht Die Entstehung des Zentralplans aus einem Koordinationsprozeß: der Wahlmechanismus 95 Gruppenverhandlungen als Koordinationsmechanismus neben M a r k t und Wahl 99 Mischformen als komplexe Strukturen 100 Komplexe Strukturen, dargestellt an einem Beispiel 102 Die analytische u n d gesellschaftspolitische Bedeutung einer erweiterten Ordnungstheorie 104 I V . Das Konzept der Vielfachsteuerung — Die Theorie der hochkomplexen Systeme als Erweiterung des ordnungstheoretischen Denkens 106 Die Entscheidungsaporie Erster Lösungsversuch: Reduktion von K o m p l e x i t ä t Zweiter Lösungsversuch: Arbeitsteilung Die Organisation v o n Arbeitsteilung: Entscheidungsmechanismen . . Charakterisierung historischer Entscheidungsmechanismen Allgemeine Modelle v o n Entscheidungsmechanismen Entscheidungsaufgaben u n d Entscheidungsmechanismen Komplexitätsrelation als Bedingung der Entscheidungsoptimierung Effizienzvergleiche Die Unmöglichkeit, Makrosysteme zu vergleichen E i n Vergleichsmodell Effizienz bei unterschiedlichen Komplexitätsgraden Effizienz i n Komplexitätsbereichen Das Konzept der Vielfachsteuerung Beispiele einer komplexen Problemlösung: Das komplexe Modell des Arbeitsmarktes Das Denken i n komplexen Ordnungen

106 106 107 107 108 108 108 109 110 111 113 114 115 116 117 118

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

121

I. Wettbewerb als universelles Strukturprinzip — V o n der Ordnung der Marktwirtschaft zur Ordnung sozialökonomischer Systeme 121 Altliberalismus Neoliberalismus Soziale Marktwirtschaft Erweiterung der Wettbewerbslehre Pluralismus der Wettbewerbsformen Ordnung des Wettbewerbs i n allen seinen Formen Der neue Beitrag u n d das „alte Wahre"

121 122 124 125 127 130 132

I I . Die optimale L e n k u n g — Das O p t i m u m i n einer vielfach gesteuerten Welt 134 Der I n h a l t des Optimums Das O p t i m u m i n einer monistisch gelenkten Welt Das O p t i m u m i n einer dualistisch gelenkten Welt

134 136 137

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Inhaltsübersicht Das O p t i m u m i n einer dreifach/vierfach gelenkten W e l t Lenkungssysteme u n d Metasysteme Das Lenkungsparadox Der optimale Lenkungsgrad Gelenkte Selbstentwicklung Verbesserung der Lenkungseffizienz bestehender Systeme Reduzierung der Beunruhigung Die Messung des Optimums Die Versorgung aller Sektoren einer Volkswirtschaft Maßgrößen der Versorgung Messung contra V e r m u t u n g Bewährungsbedingungen optimaler L e n k u n g

138 139 140 140 143 145 145 147 149 150 156 157

I I I . Dynamische Systempolitik — Wie geschieht die Ordnung der Systeme? 159 V o n der Eingriffspolitik zur Ordnung pluralistischer Systeme Systempolitik i m Licht wirtschaftspolitischer Konzeptionen Die Transformation der Systeme — pluralistische Systemordnung . . Wer setzt Ordnungen? Die Rekurrenz der Systeme Der Wettbewerb der Wettbewerbssysteme Systeme i m Wandel Dynamische Systempolitik Stimmigkeit der Systeme Vermeidung gebrochener Systeme Das K r i t e r i u m der Systemschlüssigkeit Wettbewerb zwischen Wettbewerbssystemen Selbstentwicklung v o n Lenkungssystemen Kosten-Nutzen-Analyse der Systementwicklung Kosten-Nutzen-Analyse der Selbstentwicklung Statische u n d dynamische Systempolitik Die Antriebskräfte zur D y n a m i k Die Rolle der Information i n der dynamischen Systempolitik Systempolitik durch unabhängige Institutionen Was jetzt vordringlich ist

159 160 163 164 165 166 167 167 169 170 170 172 173 173 175 176 178 179 180

A . D i e Grundlagen des Wirtschaftens i m W a n d e l I. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens* 1. Der Ausgangspunkt: Uberleben durch Handeln Bei einer Überprüfung der anthropologischen Grundlagen der öko^ nomik zeigt sich, daß die Ökonomen diese Frage teils ganz an die Nachbardisziplinen abgetreten, teils sich auf einen gewissen Eigenbau von Thesen verlassen haben. Die i n der Ökonomik verwendeten Theorien vom Menschen sind i n ihren Annahmen weithin veraltet und normativ überwuchert. A u f der Suche nach einem Ansatz, die vielfachen Aussagen über den Menschen als wirtschaftendes Wesen neu zu überdenken, stoßen w i r auf die Anthropologie A r n o l d Gehlens. Sie hat seit ihrem Entstehen zu Ende der dreißiger Jahre inzwischen weithin A n erkennung gefunden und i n einem solchen Maße Früheres i n sich zusammengefaßt, daß es kaum notwendig erscheint, auf die davorliegenden Entwicklungslinien der sozial-wissenschaftlichen Anthropologie zurückzugehen. Wohl allerdings erscheint es notwendig, die seither erarbeiteten Ergebnisse der Sozialwissenschaften auf- und einzuarbeiten. Wenn damit i m folgenden die Gehiensche Theorie kritisiert wird, so nicht u m sie zu widerlegen, sondern u m von i h r als von einem fruchtbaren Ansatz aus weiterzukommen. Das entscheidend Neue, was die Anthropologie Gehlens auszeichnet, ist i h r — aus der heutigen S i c h t l a — funktionalistisch zu nennender Denkansatz. Indem Gehlen von den Handlungen des Menschen, d . h . * V o m A u t o r überarbeitete Fassung des Aufsatzes „Anthropologie des pluralistischen Zeitalters", zuerst veröffentlicht i n : Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs z u m 80. Geburtstag, B e r l i n 1968, S. 35 - 60. l a Rombach charakterisiert funktionalistisches Denken u n d das diesem entgegenstehende Substanzdenken i n seiner breit angelegten Ontologie des Funktionalismus w i e folgt: „ I m Substanzbegriff w i r d ein Zugrundeliegendes gedacht, das seine Eigenschaften u n d Verhaltensweisen gewissermaßen trägt, das also seine Handlungen selber handelt u n d i n diesen gleichsam aus sich heraus »vorgeht 4 . So sagt der scholastische Grundsatz ganz richtig agere sequitur esse" (vgl. Rombach, Heinrich: Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus u n d der philosophische H i n t e r g r u n d der modernen Wissenschaft, 1. Bd., Freiburg u n d München 1965, S. 230. Demgegenüber steht die funktionalistische Betrachtungsweise Gehlens, das Denken i n Strukturen. M i t i h m verbindet sich eine andere Begrifflichkeit:

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À. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

von den funktionalen Beziehungen seines Seins, ausgeht, gelingt i h m die Auflösung des alten Gegensatzes von Leib und Seele. Diesen Gegensatz hatte ein Jahrzehnt zuvor Max Scheler i n seinem Spätwerk „Die Stellung des Menschen i m Kosmos" 2 noch einmal ins Zentrum der Anthropologie gerückt. Gehlen versteht den Menschen nicht mehr aus der Übernatur wie eine lange anthropologische Tradition vor ihm, auch nicht aus der Konfrontation m i t dem Tier, sondern entwickelt „eine Auffassung vom Menschen, die sich sehr spezifischer und nur für diesen Gegenstand zutreffender Begriffe bedient" 8 . Deren wichtigster ist die „menschliche, bewußt vollzogene Handlung, die als Vollzug i n ihrem realen Verlauf eine erlebnismäßig völlig untrennbare, vorproblematische Einheit eigener A r t " 4 ist. I m Zentrum der Gehlenschen Anthropologie steht der Mensch als das handelnd überlebende Wesen, Gehlen greift dabei auf den Umweltbegriff Uexkülls 5 zurück. Das Tier sei i n seine Umwelt eingepaßt, der Mensch dagegen sei „weltoffen". Den „objektiven" Grund hierfür möchte Gehlen nun i n körperlichen Entwicklungserscheinungen suchen, die i n der menschlichen Frühzeit stattgefunden haben müssen, und zieht hierzu die Erkenntnisse Bolks und Portmanns heran. Beide haben gezeigt, daß den neugeborenen Menschen eine Unfertigkeit kennzeichnet, die i n der Tierwelt so nirgendwo anzutreffen ist. Diese biologische Retardation 6 (Bolk) kann nur i n einem vergleichsweise langfristigen, extrauterinen Entwicklungsgang 7 aufgeholt werden (Portmann). Gehlen glaubt, darin den empirischen Beleg für seine Charakterisierung des Menschen als Mängelwesen i n Händen zu halten. Daß der Mensch hand„Unselbständigkeit, Angelegtheit auf anderes, Sein i m anderen. Es ist nicht möglich, daß ein Zugrundeliegendes handelt u n d i n diesem Handeln aus s i d i heraus ,vorgeht'. — Die Funktionen sind j a nichts anderes als dieses Gehen. Hier geht nichts vor, sondern hier ist alles vorne i m Handeln." M i t Rombach könnte m a n sagen, daß der Grundsatz lauten müßte „esse sequitur agere", denn: „entfällt der A k t , so entfällt auch jegliches Sein" (a.a.O., S. 14 u n d S. 230). 2 Vgl. Scheler, M a x : Die Stellung des Menschen i m Kosmos. B e r n u n d München, 7. Aufl., 1966, erstmals 1928. 8 Gehlen, A r n o l d : Der Mensch, seine N a t u r u n d seine Stellung i n der Welt, 7. Aufl., F r a n k f u r t / M a i n u n d Bonn 1962 (erstmals B e r l i n 1940), S. 10. 4 Vgl. ders.: Z u r Systematik der Anthropologie, i n : Studien zur A n t h r o pologie u n d Soziologie, Soziologische Texte, Bd. 17, Neuwied/Berlin 1963, S. 19. 5 Gehlen bezieht sich i n seinem H a u p t w e r k auf Uexküll, J. v.: U m w e l t u n d Innenwelt der Tiere, 1921; Bausteine einer biologischen Weltanschauung, 1913; Uexküll / Kriszat: Streifzüge durch die U m w e l t v o n Tier u n d Mensch, 2. Aufl., 1958 (vgl. Gehlen, A . Der Mensch . . . , a.a.O., S. 73). 6 Bolk, Louis: Die Menschwerdung des Lebens, Vortrag Jena 1926. 7 Vgl. hierzu Gehlen, A . : Z u r Systematik . . . , a.a.O., S. 36ff., sowie: Der Mensch . . . , a.a.O., S. 101 ff.

Î. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens

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le, i m Sinne einer voraussehenden planenden Veränderung der W i r k lichkeit, j a handeln müsse, erscheint i h m damit bewiesen. Da der Mensch sowohl körperlich unspezialisiert ist als auch — i m Gegensatz zum Tier — kein Gleichgewicht von Instinkten und U m weltreizen besitzt, muß er aus einer Fülle möglicher Reaktionen auf diese Umweltreize wählen. Dieser Antriebsüberschuß bedeutet nicht nur Wahlfreiheit, er ist zugleich lebensnotwendige Wahlpflicht. Freiheit und i h r bewußter Gebrauch bedingen sich wechselseitig. Für diesen Zustand hat Gehlen den Begriff der „konstitutionellen Riskiertheit" geprägt. Sie hält dem Menschen, durch einen unentrinnbaren Zwang, handelnd zu überleben, ständig den Spiegel vor, i n dem er sich sehen, erkennen und beherrschen lernt. Antriebsüberschuß und A n triebshemmung müssen sich — so Gehlen — ausgleichen. Wenn nicht, geht der Mensch an seinem „unfertigen" Wesen zugrunde. Gehlens Hypothesenkette schließt logisch einwandfrei i n der Erkenntnis, daß Antriebsübersdiuß u n d Antriebshemmung i m Handeln zusammenfließen. „Die Strukturgesetze des Lebens", schreibt Gehlen, „lassen erkennen, daß w i r eine übersehbare und i n sich zurücklaufende Reihe von Bedingungen bekommen: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein N, ohne N kein A " 8 . Gehlen spricht von einem „Handlungskreis" 9 . Dabei w i r d die Dynamik, die i n diesem Handlungskreis steckt, sichtbar: Mangel w i r d durch K u l t u r behoben, aber aus der K u l t u r erwächst wieder neuer Mangel, der wieder zu neuer Kulturleistung drängt. Diese innere Dynamik treibt den Handlungskreis von Runde zu Runde weiter an und schraubt i h n zu immer höherem Kulturniveau empor. Als Anstoß dieses Prozesses erscheint der „Mangel". Dieser t r i t t als ein biologisches Datum von außen gesetzt auf. N u n müssen w i r aber deutlich zwischen dem Anstoß des Prozesses und seiner weiteren Dynamik unterscheiden. Biologisch gegebener Mangel und Bewußtsein dieses Mangels können nicht von vornherein gleichgesetzt werden. 8

Gehlen, A . : Z u r Systematik . . . , a.a.O., S. 51. Selbst verwendet Gehlen den Ausdruck „Regelkreis" nicht. Stattdessen benutzt er den des „Handlungskreises". Er schreibt aber i n einer A n m e r k u n g seiner 1961 erschienenen Aufsatzsammlung, daß er eine enge Verwandtschaft zwischen rückläufigen Steuerungsmodellen der Regelungstechnik u n d diesen Handlungskreisen erblickt (vgl. Gehlen, A . : Anthropologische Forschimg, a.a.O., S. 19, A n m . 5). M a n soll w o h l demnach den Ge/iienschen Handlungskreis als Regelkreis i m Sinne der K y b e r n e t i k verstehen; doch bleibt zu untersuchen, inwiefern es sich u m einen „denkenden" bzw. „erfindenden" Regelkreis h a n d e l t 9

16

. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

I n einem Kreislaufgeschehen ist alles für jedes Ursache und Wirkung zugleich. Zur Analyse eines Kreislaufzusammenhanges muß man deshalb immer zunächst an einem willkürlichen Punkt ansetzen, u m dann von i h m aus die i n sich zurücklaufende Struktur gewissermaßen „aufzurollen". Wo man dabei ansetzt, ist beliebig, deutlich aber muß sein, daß dieser Ansatz willkürlich gewählt ist. Wenn w i r also — m i t Gehlen — den Mangel als Ansatzpunkt unserer Analyse wählen, so muß klargestellt sein, daß jede andere Station i m Kreislauf als Ansatz ebenso gut denkbar wäre, z. B. also auch die Kultur. Diese würde nicht mehr als Handlungsergebnis, sondern als Handlungsanstoß aufscheinen: Weil der Mensch Kulturwesen ist, deshalb kann er den „Mangel" ins Bewußtsein heben. Er kann Mängel, Bedürfnisse definieren: Mangelbewußtsein w i r d hier zur Kulturleistung; ist also nicht Anstoß, sondern Ergebnis. I n der Tat war auch von Gehlen der Anschnitt „Mangel" offensichtlich zunächst als praktische Annahme 1 0 zum Zweck der Analyse gedacht. Daß die Forschungsergebnisse Bolks und Portmanns diese A n nahme wirksam unterstützten, war i h m selbstverständlich w i l l k o m men. Daß er objektiven (biologischen) und subjektiven Mangel (Mangelbewußtsein) aber nicht als die unterschiedlichen Phänomene herausstellte, die sie sind, w i r d uns heute rückblickend aus der mangelhaften Information der frühgeschichtlichen Forschung i n den dreißiger Jahren verständlich. Nach den wissenschaftlichen Ergebnissen der Paläontologie, die seither zu verzeichnen sind, gilt die Annahme als gesichert, daß das Mängelbewußtsein als dynamisierendes Moment menschlicher Entwicklung selbst eine Kulturleistung ist 1 1 . Es kann und muß nämlich eine Entwicklungsphase des Menschen angenommen werden, die zwar i m ganzen dem Kreislaufschema entspricht, die aber dennoch nicht die Kreislaufdynamik Gehlens aufweist.

10 Gehlen geht j a von der „Hypothese v o n der »Einheit des Menschen* (S. 18) aus. Der Annahmecharakter seiner Theorie w i r d noch deutlicher, w e n n er sagt: „Eine allgemeine Anthropologie von der Handlung aufzubauen, bedeutet, die Hypothese aufzustellen, daß die Gesamtorganisation des M e n schen von der Handlung her verständlich ist, u n d dies nachzuweisen" (S. 20). Es ist n u r folgerichtig, auch eine weitere Annahme, nämlich die des Mangels, einzufügen (vgl. Z u r Systematik . . . , a.a.O.). 11 Vgl. dazu Smolla, Günter: Epochen der menschlichen Frühzeit, Freiburg/ München 1967.

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens

1

2. Eine allgemeine Anthropologie des Überlebens I n der Literatur wurde die Gehlensche Anthropologie bereits auf den Nenner gebracht, sie spräche vom „handelnd überlebenden Mängelwesen". Was aber heißt eigentlich „überleben"? U m sich die Gehlensehe Theorie für eine Erweiterung aufzuschließen, muß der Überlebensbegriff zunächst i n einer kurzen, differenzierenden Betrachtung noch weiter entwickelt werden. Nicht — wie man nach Gehlen offenbar annehmen sollte — „lebendig" und „nicht lebendig" sind ausreichend für eine Definition des „Überlebens". Für den Einzelnen zählt vielmehr die Dauer seines Lebens, für die Gruppe die durchschnittliche Lebenserwartung. Überleben heißt also nicht einfach nur ein „entweder - oder", sondern läßt sich i n der Lebenserwartung (in der durchschnittlichen Lebenserwartung) messen. Bei einer Gruppe kann „überleben" sich auch i n einer Vermehrung der Individuen ausdrücken. Eine Nettoreproduktionsrate von 1 würde bedeuten, daß die Gruppe sich gerade zahlenmäßig erhält. Durch die verschiedenen Werte der Nettoreproduktionsrate kann demnach besseres oder schlechteres Überleben gemessen werden. Schließlich kann eine Gruppe wachsen, w e i l die Zahl der Zugänge zunimmt oder w e i l die Zahl der Abgänge abnimmt. Durch den Begriff des Bevölkerungsumsatzes läßt sich beides miteinander umfassen. Damit ergibt sich, daß w i r nicht schlechthin vom „Überleben" sprechen sollten, sondern daß es viele Abstufungen zu beachten gilt, die sich m i t Hilfe der Begriffe der Bevölkerungswissenschaft, wie sie etwa von Mackenroth herausgearbeitet worden sind 1 2 , statistisch messen lassen. Dadurch erweitert sich unser Blick auf das handelnd überlebende Wesen erheblich. W i r wollen nun i n ähnlicher Weise versuchen, auch unseren Ansatz vom „Handeln" her zu erweitern. Gehlen hat i n seiner Anthropologie den Umweltbegriff Uexkülls übernommen. Freilich hat er dabei den Uexküllschen Ansatz 1 3 i n seinem Sinne modifiziert. Das geschah i n der Weise, daß sich später aus der Umweltdefinition das „Handeln" notwendig ergab. Ein solches Vorgehen ist jedoch — wie sich zeigen w i r d — keineswegs zwingend. Aus Uexkülls Begriffssystem von den i n ei12 Vgl. hierzu Uexküll, J. v.: I m K a m p f u m die Tierseele, Wiesbaden 1902; ders.: U m w e l t u n d Innenwelt der Tiere, B e r l i n 1921; ders.: Der Sinn des Lebens, Godesberg 1947. 18 Gehlen interpretiert den Uexküllsckien Umweltbegriff i n seinem Sinne u m (vgl. Gehlen: Der Mensch . . . , a.a.O., S. 38 ff., sowie bezügl. der K r i t i k an Uexküll besonders S. 78 ff.). I n dem Aufsatz „ Z u r Systematik . . . " , a.a.O., S. 28, geht Gehlen allerdings auf die — bereits i n seinem Sinn formulierten — Darlegungen H. Webers (Die Naturwiss. 1938, S. 39) zurück.

2

Herder-Dorneich

18

. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

nem „Funktionskreis" 1 4 verschränkten Komplementen Umwelt und Bauplan, die jedes Lebewesen, auch den Menschen i n seiner Umgebung, existieren lassen, läßt sich eine breitere Vielfalt von Überlebensfunktionen ableiten, als dies bei Gehlen geschah. Allgemein können w i r zunächst sagen, daß Überleben sich i n dem Maße optimieren läßt, wie sich Bauplan (Umwelt) und Umgebung für ein Lebewesen decken. Wenn z.B. i n der Umwelt — und damit i m Bauplan — bestimmter Vögel das helle Licht eines Leuchtturms keinen Platz findet und diese Vögel, gewohnt, ins Helle zu streben, sich gegen die Scheiben des Leuchtfeuers stürzen, so sind ihre Überlebenschancen dabei schlecht. Z u Hunderten findet man sie morgens u m den Leuchtt u r m tot am Boden liegen. Daraus folgt die allgemeine Frage, wodurch ein ungünstiges Verhältnis Bauplan/Umgebung überlebensoptimal gestaltet werden kann. Drei mögliche Überlebensfunktionen lassen sich herausarbeiten: a) Genetische Eignung und biologische Anpassung: U m zu überleben, kann eine „Umprogrammierung" des Bauplans auf die Umgebung vollzogen werden. Das ist grundsätzlich möglich durch Auftreten entsprechend günstiger Mutationen, die durch den Selektionsvorgang zum Wohl der A r t „herauspräpariert" werden. Das Reservoir genetischer Variabilität ist dabei außerordentlich reichhaltig. Doch ist auch die ganze, zumeist kurzfristige physiologische Anpassungsfähigkeit in Akklimatisations- oder Immunisierungsprozessen wirksam. Die sich ex post als „Anpassung" darstellende Lebenseignung durch Herausfiltern geeigneter Exemplare kann sich jedoch nur über verhältnismäßig sehr lange Zeiträume h i n vollziehen. Innerhalb kurzer Perioden muß diese Methode, zu Überlebensanpassungen zu kommen, ineffizient bleiben. b) Umgebungswechsel: Eine andere Möglichkeit, das Überleben zu sichern, resultiert aus dem umgekehrten Anpassungsprozeß: Der Bauplan bleibt konstant, das Lebewesen w i r d zu einem Wechsel i n andere Umgebungen veranlaßt, die seiner Umwelt, bzw. dem invariablen Bauplan besser entsprechen. c) Handeln: Auch hier ist gedanklich von einer Invarianz des Bauplans auszugehen. Das Lebewesen weicht jedoch nicht aus i n eine andere Umgebung, sondern verändert aktiv seine gegebene Umgebung. Diese Überlebensfunktion ist gekennzeichnet von relativ sehr kurzen A b wicklungszeiträumen. Damit ergibt sich, daß sich aus dem Uexküllsdnen Ansatz mindestens drei Überlebensfunktionen ableiten lassen. Das Handeln ist nur eine 14

Dieser Begriff findet sich wörtlich bei Uexküll, Leipzig 1940, S. 9.

J. v.: Bedeutungslehre,

I. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens

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von ihnen. Jede dieser drei Überlebensfunktionen hat ihre Besonderheiten. W i r wollen sie i m folgenden gegeneinander abwägen. Für das Verständnis der weiteren Ausführungen von entscheidender Bedeutung ist nun die Einsicht, daß bei der Entwicklung der Menschheit diese drei Überlebensfunktionen nicht etwa nacheinander folgen, sondern daß sie — heute wie früher — kombiniert auftreten, dies allerdings i n sehr unterschiedlichen Kombinationsverhältnissen. Auch auf die verschiedenen Kombinationsverhältnisse wollen w i r i m folgenden unser Augenmerk richten.

3. Phasen des Menschseins — anthropologische Strukturen der Vergangenheit Die Phase der Handlungslosigkeit: das Prinzip des weiten Raumes Feststellbar ist eine Phase der Menschheitsentwicklung, i n der das Handeln überhaupt keine Rolle spielte. Der Mensch hielt sich existent einzig vermittels des genetisch-biologischen Anpassens und des Umgrebungswechsels. Beide Uberlebensfunktionen waren effizient genug, u m ein karges Überleben zu ermöglichen. Ihre Effizienz war dabei durch das — wie ich es nennen möchte — Prinzip des weiten Raumes bedingt, des langen Zeitraums und des unbegrenzt zur Verfügung stehenden ökologischen Raumes. „Natürliche Feinde", Bedrohung, kurz „Mangel", der sich auch subjektiv i n einem Mängelbewußtsein hätte niederschlagen können, gab es nicht, wie die neuesten Ergebnisse der vor- und frühgeschichtlichen Forschung nahelegen. Andererseits konnten innerhalb der weiten Zeiträume genetische Anpassungen — wie z. B. Vergrößerung des Hirnvolumens um das Doppelte — Platz greifen. Daß sich i n dieser „handlungslosen Periode" keine manifesten K u l turreste finden lassen, sollte meines Erachtens nicht dazu führen, den damaligen Lebewesen das Prädikat „Mensch" abzusprechen. Eine Definition des Menschen, die sich einzig am „Handeln" i m Sinne Gehlens orientiert, zwingt uns freilich hierzu. Gehen w i r jedoch von einer Mehrzahl von Überlebensfunktionen aus, können w i r uns diesem definitiorischen Zwang entziehen. Von welcher Bedeutung diese Vorurteilslosigkeit i n der Definition ist, ergibt sich z. B. i m Zusammenhang m i t dem paläontologischen Streit u m die Australopithecinen. Hier w i r d aus der Gehienschen Definition des Menschen auf das Vorhandensein von Werkzeugen geschlossen. Wenn dennoch diese Werkzeuge nicht gefunden werden, ist man eher bereit, die Wirklichkeit an die Definition anzupassen m i t der Behauptimg, man habe diese Werkzeuge eben 2*

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

„noch nicht" entdeckt, als daß man die Zweckmäßigkeit der Definition i n Frage stellt. Die Phase des sporadisch-repetierenden

Handelns

Wenden w i r uns nun der nächsten Phase des Menschseins zu, die sich über eine lange (mehr als eine M i l l i o n Jahre) dauernde Zeit hinweg durch einen geringen, erstaunlich konstanten 15 Kulturbestand auszeichnet: die einsetzende Steinzeit. Hier w i r d erstmals i m Sinne Gehlens gehandelt, ohne daß es allerdings — entgegen Gehlens Meinung — wirklich existenznotwendig wäre. Vielmehr pflegte der Mensch dieser Vorzeit „das dialogisch fragende Experimentieren m i t der U m w e l t " 1 6 . Aus seiner ethnologischen Erfahrung beschreibt uns Levi-Strauss das „wilde Denken" einer solchen stationären K u l t u r auf niedrigstem N i veau. Das „vorgeschichtliche Paradox" eines „Geistes", der nichts erschafft, deutet Levi-Strauss m i t einer spezifischen Einstellung, die sich i m „bricoler" (basteln) äußert. Tatsächlich erkennt auch Gehlen, daß menschliche Leistungen, wie sie i n den frühen Artefakten vorliegen, nicht einheitlich auf den Nenner „Arterhaltung" zu bringen sind 1 7 . Er kann diese Einsicht aber i n seinem Gedankengebäude nicht wirklich unterbringen und so bleibt diese wichtige Beobachtung am Rande stehen, ohne zu der eigentlich notwendigen Erweiterung der Systematik zu führen. Die Periode, i n der „Handeln" als „bricoler" auftritt, und die durch eine stationäre K u l t u r auf niedrigstem Niveau gekennzeichnet ist, stellt uns die Frage, wie dieser „Eindruck der Ereignislosigkeit" (Karl Narr) zu verstehen ist und wie es möglich ist, daß der Mensch über Jahrhunderttausende auf so niedrigem Kulturniveau verharrte, wenn es i h m doch nur ein so kärgliches Überleben möglich machte. I n der Sprache der Regelkreisstruktur läßt sich diese Frage so formulieren: 16 Z u m — w i e er es nennt — „neolithischen Paradox" schreibt LeviStrauss: „Der Mensch des Neolithikums oder der Urgeschichte ist also der Erbe einer langen wissenschaftlichen Tradition; doch w e n n der Geist, der i h n w i e alle seine Vorgänger inspirierte, der gleiche gewesen wäre w i e der der Moderne, w i e könnten w i r dann verstehen, daß er stehengeblieben ist u n d daß mehrere Jahrtausende der Stagnation wie eine Wand zwischen der neolithischen Revolution u n d der heutigen Wissenschaft stehen? Das Paradox läßt n u r eine Lösung zu: daß es nämlich zwei verschiedene A r t e n wissenschaftlichen Denkens gibt, die beide Funktionen nicht etwa ungleicher Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern zweier strategischer Ebenen sind, auf denen die N a t u r mittels wissenschaftlicher Erkenntnis angegangen werden kann, wobei die eine, grob gesprochen, die Sphäre der W a h r nehmung u n d der Einbildungskraft angepaßt, die andere von i h r losgelöst wäre" (Levi-Strauss, Claude: Das w i l d e Denken. Aus dem Französischen übers, v. Hans Naumann, F r a n k f u r t 1968, S. 27 f.). 16 Lorenz, K o n r a d : Das sogenannte Böse, 17.-20. Aufl., Wien 1966, S. 336. 17 Gehlen, A.: Urmensch u n d Spätkultur, a.a.O., S. 15.

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens Wie ist ein stationäres kulturelles Gleichgewicht zu verstehen, bei dem der Handlungskreis immer wieder i n sich zurückführt, ohne ein kulturelles Wachstum auszulösen? Wenn die paläontologischen Funde nicht trügen, so haben jene Menschen sicherlich vielfach den Versuch unternommen, aus diesem stationären Regelkreis auszubrechen. Sie versuchten, die Überlebensfunktion „Handeln" zu verbessern und auszubauen. So stoßen w i r auf Fundplätze, wo Tausende von Faustkeilen angefertigt worden sind und auf wenigen Quadratmetern noch heute umherliegend gefunden werden können. Dieser Versuch der Kultursteigerung über eine reine Vermehrung der Stückzahl, mußte freilich unergiebig bleiben. 10 Faustkeile sind ja für einen Menschen nicht effizienter als einer oder zwei. Tatsächlich zeigen diese Faustkeillager, daß die meisten Exemplare nie benutzt worden sind. Ähnlich ist auch der durch Funde belegte Versuch zu bewerten, durch hypertrophes Steigern der Faustkeilgröße die Lage zu verbessern. Natürlich ist auch dieser Weg unwirksam, denn solche Faustkeile waren als Werkzeug unbenutzbar. Versuche, vom i m stationären Regelkreis befangenen Handeln fortzukommen, wurden also offensichtlich gemacht, liefen jedoch auf ein ineffizientes Vervielfachen der Mengen und Größen bei Konstanz der Grundformen hinaus. I m Ergebnis blieb dieses Handeln „sporadisch" und „repetierend". Aufgrund dieses sporadisch-repetierenden Handelns erwies sich das stationäre kulturelle Gleichgewicht als unerhört stabil. Es hielt über uns heute unvorstellbar lange Zeiträume h i n an. Wodurch w i r d nun dieses außerordentlich stabile Gleichgewicht des stationären Regelkreises beim sporadisch-repetierenden Handeln verständlich? Eine Erklärung folgt aus der spärlichen Bevölkerungsdichte, die sich aus den kärglichen Überlebensmöglichkeiten bei niedrigem Kulturniveau zu jener Periode ergibt. Die spärliche Bevölkerungsdichte ermöglicht zwar einerseits die Effizienz des „Prinzips des weiten Raumes", sie unterstützt damit die Überlebensfunktion „Umgebungswechsel". Die zahlreichen freien „ökologischen Nischen" lassen dabei den Druck, i m kulturschaffenden Handeln die entscheidende Überlebensfunktion zu entwickeln, gleichsam entweichen. Andererseits aber bildet die spärliche Bevölkerungsdichte, verbunden m i t kurzen Lebenserwartungsraten, nur geringe Möglichkeiten des Lernens. Lernen kann nämlich als eine Funktion der Häufigkeit, m i t der Informationen empfangen werden, beobachtet werden. Die Häufigkeit der Information ist ihrerseits wiederum eine Funktion der menschlichen Kontakte. Das kurze Leben i n Verbindung m i t dem weiten Raum verhindern somit eine lernwirksame Kontaktfrequenz; ebenso wie es verhindert, daß wesentlich Neues dazuerfunden wird.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Damit ergibt sich folgender Zusammenhang, der immer wieder i n sich zurückgeführt und jedes willentliche Ausbrechen vereitelt: Schlechtes Überleben heißt kurz und wenig zahlreich leben. Geringe Bevölkerungsdichte bedeutet „weite Räume". I n diesen kann man relativ leicht den Gefahren ausweichen. Ein Anlaß, sich Gefahren handelnd zu stellen, besteht nicht. Die weiten Räume erschweren gleichzeitig den zwischenmenschlichen Kontakt, damit das Lernen und so die Durchsetzung von Erfindungen, die das schlechte Überleben besser hätten gestalten können. Das Kulturniveau stagniert über Jahrhunderttausende. Die Phase des kontinuierlich-dynamischen Handelns: das hierarchische Menschenbild Der weite Raum weist jedoch noch einen weiteren Aspekt auf: den zeitlichen. Über sehr lange Zeiträume hinweg aber, so haben w i r oben gesehen, kann sich die genetische Anpassung auswirken. Diese genetische Anpassung erfolgte beim Menschen i n Richtung auf eine Vergrößerung seines Hirnvolumens. So können w i r annehmen, daß auch i n jener zweiten Phase des Menschenseins, die durch das sporadisch-repetierende Handeln geprägt ist, es den Menschen (nicht zuletzt durch Unterstützung des bilogisch-genetischen Fortschritts) gelang, ihre Überlebenschancen i n kleinen Schritten zu verbessern. Das w i r k t e sich zunächst in einer positiven, wenn auch kleinen Nettoreproduktionsrate aus: Die Menschheit begann sich zu vermehren. Damit aber wurde jenes stabile Gleichgewicht aufgelöst. M i t zunehmender Bevölkerungsdichte mußten nämlich Rückwirkungen auf die Überlebensfunktionen eintreten. Diese Rückwirkungen wurden spätestens dann unabweisbar, als sämtliche ökologischen Nischen besetzt waren. Damit änderte sich die menschliche Situation radikal. Das Menschsein jener neuen (dritten) Phase w i r d durch eine neue Struktur, i n der die drei Funktionen des Überlebens sich zueinander fügen, gekennzeichnet. Diese Struktur ist bis heute bestimmend geblieben und beginnt sich erst i n der jüngsten Vergangenheit zu verändern: Das Handeln t r i t t i n den Vordergrund. Was i n der vorausgehenden Phase nur sporadisch und immer wieder repetierend auftrat, w i r d n u n kontinuierlich und erhält damit seine innere Dynamik, welche die K u l t u r sich ständig steigern läßt. Der Umgebungswechsel w i r d mit der Besetzung der ökologischen Nischen zunehmend weniger überlebenswirksam. Wohin der Mensch ausweichsen möchte, immer wieder t r i f f t er auf einen, der bereits da ist, oder muß m i t den ungünstigeren Lebensräumen vorlieb nehmen. Die Zeiträume, i n denen sich die menschliche Entwicklung nunmehr vollzieht, sind — verglichen m i t den früheren Zeiträumen — sehr kurz. Damit ist auch das „Warten" auf zufällige gene-

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens tische Verbesserungen hinfällig. Biologische Veränderungen spielen nahezu keine Rolle mehr. I n der Tat hat sich seit dem Auftreten der Hominiden die Menschengestalt nicht mehr wesentlich verändert. Geprägt w i r d die neue Struktur der drei Überlebensfunktionen insgesamt durch die große Rolle, die das Handeln darin einnimmt. Der A n t e i l der Überlebensfunktion „Handeln" hat dabei auf Kosten des Anteils der anderen beiden Überlebensfunktionen zugenommen. I n der Sprache des Regelkreises heißt das: Das stationäre kulturelle Gleichgewicht w i r d aufgelöst, es entwickelt sich ein sich selbst induzierender Wachstumsprozeß. Woraus w i r d dieser Zusammenhang verständlich? Das langsame, aber anhaltende Bevölkerungswachstum hat zur Besetzung aller ökologischen Nischen geführt. Neu Hinzukommende sehen sich damit vor einem bisher unbekannten Problem. Sie müssen entweder i n unwirtlichere Gegenden ausweichen — das w i r d nur möglich sein durch verstärktes „Handeln", nämlich durch Umgestaltung, Beherrschung der Natur. Oder aber die neu Hinzukommenden müssen die Eingesessenen bekämpfen, u m ihnen den günstigen Lebensraum abzunehmen. Auch das bedeutet „Handeln", nur nicht gegenüber der Natur, sondern gegenüber den anderen Menschen, die es zu beherrschen gilt. Damit ist der Kampf als Vater aller Dinge geboren. Es mag auch i n der vorangegangenen Phase zu Auseinandersetzungen gekommen sein, ja es ist sogar wahrscheinlich. Aber die Prämien, die auf Kampf und Sieg standen, waren gering. Die Aggression wurde unter dem Prinzip des weiten Raumes nicht verhaltensprägend. Die moderne Verhaltensforschung hat gezeigt, daß intraspezifische Aggression sich grundsätzlich als Funktion der Revierbesetzunq entwickelt. Besonders eindruchsvoll ist dies am Beispiel der Kämpfe zur Paarungszeit zu beobachten. Diese Kämpfe haben die Aufgabe, die Brutreviere möglichst gleichmäßig zu verteilen. Konrad Lorenz 18 zeigt am Beispiel der Tauben, daß Kampf und Vernichtung einsetzen, wenn zwei so friedlich scheinende Tiere i n einen Käfig eingesperrt werden, aus dem ein Entweichen nicht möglich ist. Es scheint m i r darum richtig anzunehmen, daß Kampf i m Überfluß der „weiten Räume" nicht prägend werden konnte. Einen anderen Aspekt allerdings mußte der Kampf gewinnen, als alle ökologischen Räume besetzt waren, und der Besiegte dem Sieger nicht mehr ausweichen konnte. Er muß i h m nun als Gefolgsmann, Untergebener, Höriger, Sklave zu Diensten sein. Die Gesellschaft, die bis dahin i n größeren oder kleineren Horden verstreut nebeneinander lebte, beginnt sich damit, i n ein „oben und unten" zu strukturieren. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die Überlebenschancen und die Kulturdynamik. 18

Vgl. Lorenz, K . : Das sogenannte Böse, a.a.O.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Zunächst läßt sich soviel feststellen, daß die oberen Schichten relativ zu den unteren günstigere Lebensbedingungen hatten — auch wenn es dem Unterprivilegierten durchaus besser gehen mochte als zu den Zeiten der gesellschaftlich unstrukturierten Horden. Die jetzt i m Gegensatz zu früher hohen Prämien auf Beherrschung und Sieg bewirken ein Wettrüsten der potentiellen Kämpfer, das sich als Druck auf die Ausgestaltung der gesamten K u l t u r , die die Basis für jedes Wettrüsten abgibt, auswirkt. Damit löst die gesellschaftliche Strukturierung nach „oben und unten" einen doppelten kulturellen Wachstumseffekt aus: Die organisierte Gruppe ist insgesamt effizienter (weil kampftüchtiger) als die nicht strukturierte, und der Wettkampf um die oberen Plätze innerhalb der Gesellschaft übt einen Druck auf höhere Leistung aus. So w i r d ersichtlich, wie sich die höhere Effizienz einer Überlebensfunktion (nämlich des Handelns) i n wachsenden Menschenzahlen und zunehmender Lebensdauer ausdrückt und damit auf die Lebensgestaltung des Menschen und das Menschsein überhaupt auswirkt. W i r wollen uns i m folgenden noch einen Überblick verschaffen, wie dieser Prozeß der Strukturierung nach „oben und unten" sich i n den verschiedenen Dimensionen des Menschseins niederschlägt. Die soziale Strukturierung läßt zwischen „oben und unten" unterscheiden. Sie schafft Herrschaftsverbände und mit ihnen höhere K u l t u r formen und Überlebenschancen, die ihrerseits nun wieder den ökologischen Kaum erweitern. Aufgrund der besseren Ausrüstung läßt sich nun auch i n unwirtlicheren Umgebungen überleben. Die Welt strukturiert sich damit nach dem Herrschaftsprinzip neu, ja sie w i r d ohne es überhaupt nicht mehr denk- und vorstellbar: Ohne die größere Effizienz der i m Herrschaftsverband strukturierten Gruppe ließe es sich i n den unwirtlichen Gegenden nicht mehr überleben. Umgekehrt erweisen sich die früher günstigen ökologischen Nischen nunmehr als relativ weniger brauchbar. Damit strukturiert sich der Raum. Er erhält nun ein Zentrum, die Heimat des Menschen. Diese strukturiert sich nach der Mitte des k u l t u rell bearbeiteten Feldes: des Totempfahles, der Häuptlingsstange, der Königsburg, der Kirche, der Hauptstadt. Von dieser Mitte läßt sich alles ermessen, denn die Welt ist zugleich fest umschlossen. Der goldene Meilenstein i n Rom ist die vielleicht sinnfälligste Ausdrucksform dieser Strukturierung des Raumes. Die Strukturierung der Zeit führt die Geschichte herauf. I n den unübersehbaren Zeiträumen hebt sich ein übersehbarer Ablauf hervor. Dieser hat einen Beginn, ab dem sich rechnen läßt. Eindrucksvollstes Beispiel ist die Zeitrechnung ab Christi — des Herrn — Geburt.

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des

berlebens

Die Beobachtung der Frühgeschichte zeigt damit, wie aus der Verbesserung der Lebenschancen, die sich i n einer größeren Bevölkerungsdichte ausdrücken, die Welt des Menschen sich zu strukturieren beginnt. Das Bestimmende i n dieser sich bildenden Struktur möchte ich das hierarchische Prinzip nennen. Es zeichnet sich dadurch aus, daß den Dingen, die bisher unstrukturiert nebeneinander standen, Anfang und Ende und Mitte aufgeprägt wird. U m ein einfaches B i l d zu verwenden: Die ungeordneten Feilspäne auf dem Papier gruppieren sich unter dem Einfluß eines von unten herangeführten Magneten i n einer klaren Ordnung, die sich u m einen Mittelpunkt bewegt. Das hierarchische Prinzip w i r d zum Lebensprinzip. Für den Menschen w i r d unmittelbar einsichtig und täglich immer wieder deutlich spürbar, daß er nur i n der hierarchischen Struktur überleben kann. Der Verirrte, der Ausgestoßene, kann sich außerhalb des Verbandes nicht lange halten. Das hierarchische Prinzip ist so weit- und denkbestimmend, daß i m mer wieder die Dinge, auch solche, die nicht einsichtig Anfang und Ende und M i t t e haben, von hier aus gedacht werden. Aus Antike und M i t t e l alter ist das sphärische Weltbild und seine prägende K r a f t bekannt. Nicht w e i l die Welt kugelförmig wäre, sondern weil die Kugel die „vollkommenste Gestalt" ist, w i r d sie als Denkmodell herangezogen. Der Kaiser von Gottes Gnaden steht an der Spitze, nicht weil er der mächtigste Gruppenführer ist, sondern w e i l man sich die Gesellschaft insgesamt nicht anders als unter einer Spitze verfaßt vorstellen kann. Auch die Kirche repräsentiert eindrucksvoll diese Denkart. W i r müssen uns heute über die Tragweite des hierarchischen Prinzips und die vielfältigen i h m nachgebildeten Modelle klar zu werden versuchen, weil w i r immer wieder versucht sind, Notwendigkeiten und Folgerichtigkeiten zu postulieren, die sich nicht aus den Sachen, sondern aus den hierarchischen, teils bewußt, größtenteils jedoch unbewußt tradierten Denkrastern ergeben. Wenn w i r veranlaßt sind, aus unserer hierarchisch vorgeformten Welt herauszutreten, drängt sich zuerst das Gefühl auf, dies sei ganz und gar unmöglich. Und doch ist die Menschheit unversehens i n eine neue Welt eingetreten, die von Grund auf anders strukturiert ist, und deren neue Struktur das Menschsein selbst umzuprägen beginnt. Das Weltbild des Pluralismus kündigt sich an. Ich w i l l i m folgenden versuchen, seine anthropologische Struktur zu umreißen.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel 4. Die anthropologische Struktur des Pluralismus Handeln als Tauschen

W i r haben durch Gehlen das Handeln als Grundstruktur menschlicher Überlebensfunktion kennengelernt. W i r haben i m Gegensatz zu i h m eine „handlungslose" (kulturlose) Periode des Menschseins und eine „handlungsarme" (sporadisch-repetierendes Handeln) unterschieden. Die Welt des „dynamischen Handelns", die Welt des hierarchischen Prinzips, ist die eigentliche Welt Gehlens. Bezeichnend dafür ist, daß Gehlen das Handeln immer wieder m i t Ausdrücken des Herrschens umschreibt und daß die Auflösung der hierarchischen Strukturen i n unserer Zeit i h m nur mehr als anarchischer Subjektivismus erscheint 19 . Das Bestimmende an der Struktur des kontinuierlich-dynamischen Handelns ist nun, daß aus jeder Handlung neue Handlung wird. Das Handeln bleibt nun nicht mehr repetierend, sondern es w i r k t dynamisch, schreitet zu weiteren Aktionen fort. Wer dieses Fortschreiten unterbrechen würde, könnte nur mehr schlechter überleben, das Handeln w i r d zum beständigen „Muß". I n diesem Fortschreiten der Handlungsvielfalt und der Handlungshäufigkeit beginnt der Raum des Menschen sich m i t Handlungen zu füllen. Rein statistisch muß sich dabei ergeben, daß zwei Handlungen gleichzeitig erfolgen und aufeinander führen. Die ursprünglich einseitig gerichtete Handlung auf eine Sache zu, auf einen Menschen hin, von „oben nach unten", t r i f f t damit auf eine Gegenhandlung. Die Handlungen überkreuzen sich. Zum wesentlichen Merkmal einer Handlung gehört indes die Planmäßigkeit. Beim rein statistisch sich überkreuzenden Handeln ist solche Planmäßigkeit jedoch zunächst noch nicht gegeben. W i r d jedoch die sich rückkreuzende Handlung planmäßig m i t einbezogen, w i r d sie erwartet, w i r d auf sie spekuliert, so entsteht ein neues Handlungsgefüge, das sich nicht mehr einfach m i t der früheren Grundstruktur des Handelns gleichsetzen läßt. Die Handlung, planmäßig verbunden m i t einer Rückhandlung, bildet nicht einfach eine Summe von zwei Handlungen, sondern eine, aus zwei Strukturelementen aufgebaute komplexe Struktur: den Tausch. Die Frühgeschichte und die Ethnologie haben uns die Urformen des Tauschens und ihre Entwicklung von der Zufälligkeit zur Planmäßigkeit gezeigt: Angehörige zweier Gruppen, die zunächst keinen Kontakt miteinander haben, pflegen einen abwechslungsweise von ihnen aufgesuchten Ort, an dem sie „Geschenke" niederlegen. Die Geschenke werden wechselweise entgegengenommen und durch Gegengeschenke 19

Vgl. z. B. Gehlen, A.: Anthropologische Forschung . . . , a.a.O.

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens beantwortet. Dabei bilden sich „Preise" heraus, etwa was ein Fuchsfell i n Pfeilspitzen wert ist oder was man für eine A x t erwarten kann. Fallen die Gegengeschenke zu mager aus, so w i r d beim nächsten M a l selbst weniger hinterlegt. Damit steigt unter Umständen das Gegenangebot wieder an. Die Entstehung eines solchen „Marktes" zeigt deutlich ursprüngliche Zufälligkeit und aufgenommene Planmäßigkeit miteinander verbunden. Sie zeigt weiter, wie ein solcher Tausch nicht wirklich funktionieren kann, wenn er nicht kontinuierlich erfolgt und damit zu einem Handlungsgefüge eigener A r t wird. Bei sporadisch auftauchendem Tauschen können sich nämlich keine Austauschverhältnisse als „Preise" herausbilden. Es werden lediglich Geschenke ausgetauscht. Die Geschenke werden erst zu Austauschgütern, sobald sich durch Austauscherfahrungen ergeben hat, was man jeweils dafür erwarten kann. Der planmäßige Einbau von Erwartung und Enttäuschung ergibt sich erst aus der Kontinuierlichkeit und der erst damit möglichen Institutionalisierbarkeit des Tauschens. A u f das Tauschen als Grundstruktur menschlichen Handelns hat der französische Ethnologe Levi-Strauss hingewiesen. Er hat eine Anthropologie gefordert, die sich vom Tauschen her aufbaut. Dabei hat er drei typische Tauschformen genannt: den Tausch von Frauen, den er als Ethnologie intensiv beobachtet hat, den Tausch von Informationen durch die Sprache und den wirtschaftlichen Tausch 20. Beziehen w i r den Hinweis von Levi-Strauss auf den Tausch als konstituierendem Handlungsgefüge i n unsere Überlegungen ein, so erweitert sich unser Horizont, der ursprünglich vom „Handeln" als solchem begrenzt war. Freilich müssen w i r auch bei Levi-Strauss eine wichtige Unterscheidung anbringen, die er selbst i n dieser Weise bisher nicht gemacht hat, und die doch den Wert seines Ansatzes entscheidend bestimmt: W i r müssen zwischen sporadischem-repetierendem Tauschen und kontinuierlichem-dynamischem Tauschen unterscheiden. Erst dam i t läßt sich meines Erachtens die „Theorie der Handlung" durch die „Theorie des Tauschens" weiterführen. Levi-Strauss, der diese Unterscheidung noch nicht traf, konnte deshalb zwar eine „Wissenschaft vom Austausch" 21 fordern, sie selbst aber noch nicht aufbauen. 80 Vgl. Levi-Strauss, C.: Strukturale Anthropologie. Aus dem Französischen übersetzt von Hans Naumann, F r a n k f u r t am M a i n 1967, S. 322. D*e Theorie des Frauentauschs w u r d e von Levi-Strauss besonders i n seinem Buch „Les structures élémentaires de la parenté", Paris 1949, dargestellt. 11 „ M a n darf hoffen", schreibt Levi-Strauss , „daß die Sozial anthropologie, die Wirtschaftswissenschaft u n d die Sprachwissenschaft sich eines Tages zusammentun werden, u m eine gemeinsame Disziplin, die Wissenschaft v o m Austausch zu begründen" (Strukturale Anthropologie, a.a.O., S. 324).

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Daß Tauschen als solches repetierendes Tauschen sein muß, haben w i r oben schon gesehen. Erst durch die Wiederholung können sich Austauschverhältnisse als „Preise" bilden. Der Hinweis des Sporadischen kann sich deshalb nicht auf das Tauschen als solches beziehen, sondern ist i m Hinblick auf dessen Stellung i n der Gesellschaft und für den Einzelnen gemeint. Tauschen, als die komplexere Funktion „Handeln", t r i t t zunächst nur an einzelnen Stellen und bezüglich einzelner Güter auf. Das Beispiel, an dem Levi-Strauss seine Theorie entwickelt, nämlich der Frauentausch, gehört offensichtlich diesem sporadischen-repetierenden Tauschen zu. Diese A r t Tausch läßt sich nicht dadurch überlebenseffizienter gestalten, daß man die Zahl der Tauschakte wesentlich steigert. Anders der wirtschaftliche Tausch. Hier werden immer neue Güter i n das Tauschgefüge einbezogen und immer zahlreichere Tauschakte zu langen „Handelsketten" zusammengeschlossen. Das Tauschen w i r d zur Tauschwirtschaft, die sich von ungeahnter Effizienz erweist. Das „Handeln" w i r d zum „Handel", die „Handlung" zur „Verhandlung". Tauschen und Arbeitsteilung Die große kulturmehrende Effizienz des kontinuierlichen Tauschens führt dazu, daß der Anteil des Tauschens an den gesamten Handlungen ständig zunimmt. Damit allerdings stellen sich neue Probleme. Zunächst ergibt sich daraus ein zusätzlicher dynamischer Effekt, nämlich die größere Produktivität der Arbeitsteilung. Gleichzeitig ergibt sich ein hemmender Effekt, nämlich die zunehmend schwierigere Information der arbeitsteilig, d. h. getrennt Produzierenden, die ihre Produkte miteinander austauschen wollen, ohne einander zu kennen, noch voneinander zu wissen. W i r wollen zunächst das Problem, das die Arbeitsteilung stellt, untersuchen und uns darauf dem Informationsproblem zuwenden. Kontinuierliches Tauschen erhöht die Produktivität. Indem jeder etwas hergibt und beides i m Tausch als gleichwertig angesehen wird, haben beide doch am Ende mehr. Wie das möglich wird, und welche Zusammenhänge hierbei wirksam sind, hat die Wirtschaftswissenschaft lange Zeit und m i t ihren besten Köpfen beschäftigt. Hier soll darum nur noch einmal festgehalten werden, daß Arbeitsteilung und Tausch einander bedingen. Adam Smith hat an seinem berühmten Nadelbeispiel gezeigt, von welcher Effizienz die Arbeitsteilung ist. Tatsächlich ist es die i n der Tauschstruktur erst zur Entfaltung kommende gesellschaftliche Aufgabenteilung, die den Produktivitätsfortschritt realisiert. Kurz: Tauschen erweist sich als die neue, effizientere Überlebensfunktion.

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens Nicht zuletzt w i r d dies daran ersichtlich, daß die seit Menschengedenken erkannte Fruchtbarkeit der Arbeitsteilung durch die mangelhafte Entwicklung des Tauschens nicht zum Zuge kam. Erst mit der Überwindung des Naturaltauschs, d.h. m i t der Entwicklung eines universalen Tauschmittels allgemeiner Geltung war der Tausch i n seiner kontinuierlichen Form möglich. Vermittels des Goldes, des Papier- und Buchgeldes hat sich erst die weltweit verzweigte Tauschwirtschaft entwickeln können, m i t ihrer ungeheueren Effizienz gegenüber allem bisher Dagewesenen. Die größere Effizienz der auf dem Tauschen beruhenden Arbeitsteilung hat ihre Überlebenswirksamkeit i n einer bisher ungeahnten Bevölkerungsvermehrung gezeigt. Diese Massen sind nicht mehr anders als durch weitere arbeitsteilige Produktion und weitere Tauschleistung zu ernähren und zu erhalten. Massengesellschaft und Tauschgesellschaft sind zwei sich gegenseitig bedingende Erscheinungen. Der Einzelne muß für diesen Fortschritt allerdings einen Preis zahlen: W i l l er seine Existenz nicht gefährden, muß der i n die arbeitsteilige Geldwirtschaft Eingegliederte kontinuierlich und i n zunehmendem Maße weitertauschen. Wer z.B. Papier- oder Buchgeld ertauscht hat, muß weitertauschen, denn von Papier- und Buchgeld kann man nicht anders leben. Viehgeld kann man notfalls auch schlachten, heilige Ä x t e i n Werkzeuge umschmieden. Modernes Geld ist jedoch nur zum Tauschen gut. Ebenso: Wer sich Produktionsmittel eingekauft hat, muß damit produzieren. Er muß seine Produktion verkaufen, u m wieder einkaufen zu können. Der Produktionsstrom läßt sich nicht anhalten, und was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die Gesamtheit. Die moderne Wirtschaftstheorie hat gezeigt, daß der Wirtschaftsprozeß nicht angehalten werden kann, ohne das ganze Wirtschaftssystem i n seiner Existenz zu gefährden. Der dynamisch-kontinuierliche Tausch w i r d zum existenztragenden A k t schlechthin. Tauschen und Information Die Massengesellschaft als Tauschgesellschaft ruft das Informationsproblem auf den Plan. Arbeitsteilung und Tauschen setzen Information voraus. Information darüber, was hergestellt und was getauscht werden soll. Diese Information ist i n kleinen, sogenannten primären Gruppen relativ leicht zu beschaffen. Eine auf Jagd ziehende Horde, ein versammelter Stamm bietet dem Leiter einer solchen Gruppe die Möglichkeit, sich selbst ein B i l d darüber zu verschaffen, was notwendig ist und was gebraucht wird. Auch i m hierarchischen Weltbild — trotz seiner z. T. gewaltigen Machträume — bestand nicht eigentlich ein I n formationsproblem für die Führung: Was sie anordnete, wurde ausge-

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führt, eine Reaktion von „unten nach oben", die überhaupt erst das Führen zum Problem macht, war dem hierarchisch verfaßten Menschen grundsätzlich fremd. I n der arbeitsteiligen Massengesellschaft mit ihren sekundären Systemen erweisen sich jedoch ständige Informationsbeschaffung und -weitergäbe als überlebenswichtig. Vielleicht ist dem i n moderner Informationstheorie und Kybernetik etwas Bewanderten bereits bei der Erwähnung der Geldwirtschaft deutlich geworden, daß der Engpaß i m arbeitsteiligen Prozeß die Tauschorganisation und i n dieser wiederum die Organisation des Informationsflusses ist. Letztlich läßt sich das ganze Handlungsvolumen auf die Informationseffizienz i n der Handlungsstruktur zurückführen. Diese Zusammenhänge habe ich an anderer Stelle 2 2 behandelt. M i t Hilfe der neueren Informationstheorie habe ich dargestellt, wodurch Information eigentlich informiert und wie der arbeitsteilige, anonyme Tauschprozeß gesteuert wird. Bei einer großen unübersichtlichen arbeitsteiligen Gesellschaft können w i r nur m i t einer geringen Bereitschaft zur Informationsaufnahme rechnen. I n den weit verzweigten Zusammenhängen sind die Individuen nicht darauf eingestellt, alle auf sie zukommenden Informationen zu empfangen. Sie können die Fülle nicht registrieren und aufnehmen. Außerdem sind sie auch nicht an allem interessiert. Da viele Informationen von anderen Tauschpartnern herkommen, die sie nicht kennen, ist ihre subjektive Aufnahmebereitschaft gering. Bei der vielfachen Weitergabe von Nachrichten ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß bei jeder Weitergabe Teile der Information verlorengehen, andere nicht zur Information gehörende Teile hinzukommen. Durch diese Veränderung der Information w i r d die Nachricht wahrscheinlich stark gestört sein. Auch werden mit zunehmendem Versorgungsniveau die Individuen wählerisch: Ihre Bedürfnisse werden differenziert. Schon ein geringer Informationsverlust macht eine Nachricht über die Bedürfnisstruktur damit vielleicht schon unnütz. Offensichtlich ist ein Informationssystem bei diesen Gegebenheiten außerordentlich störanfällig. Es muß damit gerechnet werden, daß die Informationsprobleme i n einer großen arbeitsteiligen Gesellschaft (mit steigendem Versorgungsniveau) nicht leicht zu lösen sind. Hier weist jedoch die Informationstheorie den Weg: Soll bei den geschilderten Gegebenheiten die Information verbessert werden, so kann dies geschehen, indem für Kontinuität des Informationsstromes gesorgt wird, 22 Vgl. Herder-Dorneich, P h i l i p p : Soziale Kybernetik. Die Theorie der Scheine, i n : Sozialtheorie u n d Sozialpolitik, hrsg. v. W. Schreiber u n d Ph. Herder-Dorneich unter M i t w i r k u n g von G. Briefs, K ö l n 1965. Ders.: Wirtschaftssysteme. Systemtheorie einer allgemeinen MikroÖkonom i k , Opladen 1972.

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens und indem die Verantwortung der Informationsempfänger möglichst erhöht wird. Kontinuierliche Informationsströme erhöhen die Chance, die empfangenen Signale richtig zu deuten und eine große Verantwortlichkeit vermindert die Mängel der Aufnahmebereitschaft. Welche Symbole und welche Codes sind aber für die soziale Steuerung relevant? Man w i r d zunächst an Sprache und Schrift denken. Sicherlich sind dies bewährte Informationsinstrumente. Sie erweisen sich jedoch vor den Aufgaben einer Steuerung der Massengesellschaft i n der räumlichen und zeitlichen Übertragung als schwerfällig. So haben sich aus ursprünglich langen Texten Kurzformeln m i t genormten Fixierungen herausgebildet, die schließlich auf reine Werteziffern reduziert worden sind. Ich habe solche zu Kurzformeln und Wertziffern erstarrten Informationen allgemein als „Scheine" bezeichnet, so z.B. Geldscheine, Wahlscheine, Gut- und Berechtigungsscheine, wie K r a n k kenscheine, Pässe, Diplome, Lebensmittelmarken, Fahrkarten, Garderobenmarken usw. usw. Scheine bilden Informations- und Steuerungsträger i n der modernen Massengesellschaft. Die angestellten informationstheoretischen Überlegungen ermöglichen es uns, neues Licht auf die Strukturen der Tauschgesellschaft zu werfen. Es ist nun möglich, die Elementarstruktur des Tauschens so allgemein darzustellen, daß sie quer durch die ganze Breite einer modernen Gesellschaft hindurch sondiert werden kann. So erscheinen z. B. ökonomische Märkte, Wahlen oder Teilnahme an Organisationen (Verbänden) als Erscheinungsformen der gleichen Grundstruktur. Durch ein Aderwerk von Informationsströmen sind Konsumenten und Unternehmer durch Geld, Politiker und Wahlbürger durch Wahlscheine, Verbandsfunktionäre und Mitglieder durch Mitgliedsausweise bzw. Stimmscheine und auch Finanzströme (Mitgliedsbeiträge, Spenden) m i t einander verbunden. Die K l u f t der Arbeitsteilung, die die Massen zunächst trennt, überwinden solche durch Scheine gesteuerten SozialWahl-Mechanismen verschiedenster A r t . Die Partner können sich aufeinander einstellen, ohne sich je persönlich zu begegnen, ja, ohne voneinander überhaupt zu wissen. Über den Verbindlichkeitscharakter der Scheine ist damit noch nichts gesagt. Steuerungskraft gewinnt die Information erst dann, wenn sie zwingend wird. Der zwingende Charakter w i r d jedoch gerade bei den i n Frage stehenden sozialen Vorgängen problematisch. Hier geht es j a u m Menschen, u m selbst entscheidende Individuen. Durch kein allgemeines soziologisches Gesetz ist bestimmt, wie die Individuen durch den Erhalt von Information i h r Verhalten ändern. I n der Tat sind Scheine zunächst reine Informationsträger, d. h. sie tragen von sich aus keinen Aufforderungscharakter. Sie erhalten ihren

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zwingenden Charakter erst durch ganz besondere Organisationsformen des Systems. A n anderer Stelle 2 3 habe ich herausgearbeitet, daß diese Organisationsformen auf zwei Prinzipien beruhen müssen: Dem Zwang

zur

Weiter Verwendung

u n d d e r Konkurrenz.

Welche z e n t r a l e

Bedeutung dem Wettbewerb für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zukommt, soll i n den folgenden Kapiteln ausführlich untersucht werden. Zusammenfassend läßt sich damit feststellen, daß das Tauschen i n einer arbeitsteiligen Massengesellschaft eine zureichende Information voraussetzt, ja, daß schließlich nicht mehr Güter gegen Güter, sondern Güter gegen Informationsträger (Scheine) getauscht werden. Der Unternehmer z.B. veräußert seine Waren gegen Geldscheine, der Politiker erbringt seine politischen Leistungen gegen Wahlstimmen, der Kassenarzt gibt seine medizinischen Dienste gegen Krankenscheine ab usw. Damit solches Tauschen gegen Informationsträger gesellschaftlich funktional gesteuert werden kann, sind umfassende Institutionen (planvoll organisierte, sogenannte sekundäre Systeme) notwendig. Diese Systeme umfassen und durchdringen mehr und mehr unsere gesamte Gesellschaft. Wie ein Aderwerk durchziehen die Massengesellschaft Leistungsströme und Informationsströme (konkretisiert i n Scheinen) der verschiedensten A r t . Das pluralistische

Weltbild

W i r haben bisher bereits drei Phasen des Menschseins unterschieden: eine handlungslose Phase, i n der biologisch-genetische Anpassung und Umgebungswechsel die einzigen Überlebensfunktionen des Menschen bildeten. I h r folgte eine handlungsarme Phase, i n der sporadisch-repetierendes Handeln als neue Überlebensfunktion hinzutrat. Diese beiden Phasen haben i m Gehlenschen Begriffssystem noch keinen Platz gefunden. Den Ergebnissen der seitherigen Forschung nach müssen w i r sie jedoch notwendig i n eine sozialwissenschaftliche, empirische Theorie m i t einbeziehen. Eine dritte Phase des Menschseins haben w i r sodann als durch das kontinuierliche und dynamische Handeln bestimmt beschrieben. Diese Phase deckte sich mit dem GehZenschen Modell des Handelns. Das Weltbild, das diesem Handlungsmodell entsprach, erkannten w i r als durch das „hierarchische Prinzip" geprägt. Dieses erwies sich als durch „Anfang und Ende und Mitte" gekennzeichnet. W i r haben nun darüber hinaus (und damit auch i n Erweiterung des GehZenschen Systems) eine weitere, vierte Phase des Menschseins herausgearbeitet. Sie ist durch das kreuzweise Handeln, den Tausch bestimmt. Sie ist i m Modell dadurch gekennzeichnet, daß der Tausch als 23

Vgl. Her der-Domeich,

Ph.: Soziale K y b e r n e t i k . . a . a . O .

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens Struktur des Handelns den gesamten Handlungsraum erfüllt. Das einseitige, herrschaftlich gerichtete Handeln w i r d durch den Tausch mehr und mehr verdrängt, bis es grundsätzlich verschwindet. Unsere Wirklichkeit entspricht diesem Modell des ausschließlichen Tauschens allerdings noch nicht. Weite Bereiche sind dadurch jedoch bereits entscheidend gekennzeichnet: I n immer mehr Bereichen entwickelt sich die Wirklichkeit auf einen durch dieses Modell bezeichneten Zustand hin. Die oben beschriebene innere Gesetzlichkeit treibt diese Entwicklung immer weiter voran. Versuchen w i r , das Aufbauprinzip dieses Modells m i t einem Wort zu kennzeichnen, so möchte ich es als das Prinzip der totalen Interdependenz bezeichnen. Versuchen w i r , das Weltbild, das diesem Prinzip entspricht, darzustellen, so möchte ich es das pluralistische Weltbild nennen. Totale Interdependenz besagt nichts anderes, als daß alles mit allem zusammenhängt. Die Abhängigkeiten sind nicht einseitig, sie gehen nicht von einem Punkt alleine aus, sie führen nicht auf einen Punkt alleine hin. Das Weltbild, das durch das Prinzip der totalen Interdependenz gekennzeichnet ist, zeichnet sich durch den „Verlust der M i t t e " (iSedlmayr 24) aus. Während das hierarchische Weltbild gerade durch die Mitte bestimmt war, ist das Weltbild der neuen Phase des Menschseins dadurch bestimmt, daß jeder Punkt i n diesem Weltbild Mittelpunkt ist. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß es eben keine wirkliche M i t t e mehr gibt. Vom hierarchischen Weltbild her gesprochen wäre es sinnvoll zu sagen, es gäbe so viele Mittelpunkte wie Punkte i n der Weltstruktur überhaupt. Vom pluralistischen Weltbild her gesprochen wäre es eher sinnvoll, auf die Vorstellung vom Mittelpunkt überhaupt zu verzichten, und, wie es hier versucht wurde, nurmehr i n Funktionen, i n Beziehungszusammenhängen, zu denken. Die Gesellschaftsstruktur i n der Betrachtungsweise des hierarchischen Weltbildes führt zum Herrschaftsmodell: Die Gesellschaft w i r d von der Spitze aus geleitet, sie ist von oben nach unten strukturiert und kann i n ihrem Bestand nicht anders gedacht werden. I n der Betrachtungsweise des pluralistischen Weltbildes zeigt sich die Gesellschaftsstruktur völlig anders. Zentrale Leitung von einer einzigen Mitte aus erweist sich nicht mehr als durchführbar. Jedes handelnde Subjekt w i r d zum möglichen Zentrum der Gesellschaft. Die ursprünglich Führenden, Politiker oder Unternehmer zum Beispiel, erscheinen nun auch als die Agenten des Willens der von ihnen Geführten, der 24 Sedelmayr, Hans: Verlust der Mitte, Bildende K u n s t des 19. u n d 20. Jahrhunderts als Symptom u n d Symbol der Zeit, 8. Aufl., Salzburg 1965.

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Herder-Dorneich

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Wähler bzw. der Konsumenten. Andererseits erweisen sich Wähler und Konsumenten als „manipuliert". Die Interdependenz der sozialen Subjekte macht es eben unmöglich, einen einzelnen Punkt der Verursachung, der Führung, der Leitung zu entdecken. Gesellschaftliche Steuerung geschieht aus dem Zusammenspiel aller Kräfte, nicht mehr von einem Punkt aus. Dieses Zusammenspiel ist, wie oben geschildert, i n sekundären Tauschsystemen verfaßt. W i r befinden uns gegenwärtig i n einer historischen Phase, i n der der A n t e i l des Tauschens am gesamten Handlungsgefüge so groß geworden ist, daß das Denken i n Tauschstrukturen immer wichtiger wird. Noch hat es sich nicht vollends durchgesetzt. Noch hat sich unser Menschenund Weltbild nicht durch den Pluralismus und die Interdependenz voll geprägt. Immer geringer aber werden die Bereiche, die i n unserem Leben durch die herkömmlichen, hierarchischen Handlungsgefüge bestimmt sind. Immer weniger können w i r m i t dem durch sie geprägten hierarchischen Weltbild auskommen. Immer deutlicher w i r d das Umschlagen aus der hierarchischen Weltgesetzlichkeit i n die pluralistische und immer spürbarer, daß durch das Umschlagen in die Eigengesetzlichkeit der Interdependenz unser Weltbild notwendig umgeprägt werden muß. I n zahlreichen Gesellschaftsbereichen hat sich der Übergang zum Pluralismus schon deutlich vollzogen, sowohl faktisch, als auch i n der Ideologie. Demokratie und Wettbewerbswirtschaft, Wirtschaftsgemeinschaften und moderne Entwicklungshilfe, Verbandswesen, Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit: Sie alle zeigen, daß sich die Interdependenz unaufhaltsam i n die Strukturen der Gesellschaft einzuprägen begonnen hat. Noch beachtlich groß ist allerdings der Teil unserer Gesellschaften, i n dem noch das hierarchische Weltbild prägend ist, und i n dem man sich offenbar nur schwer oder überhaupt nicht vorstellen kann, wie eine Umprägung den pluralistischen Prinzipien gemäß vor sich gehen kann, und wie solche pluralistischen Systeme funktionieren können. So ist i n der Familie i n der juristischen Ideologie die Umgestaltung von der patriarchalisch geführten Familie zur Gleichberechtigung vollzogen worden, faktisch ist dies jedoch nicht gelungen. I m Wirtschaftsunternehmen geht eine ähnliche Entwicklung vom patriarchalischen Unternehmer zur partnerschaftlichen Führung vor sich. I n der katholischen Kirche kündigt sich ein Übergang vom römischen Zentralismus zum Pluralismus des Konzils und der einzelnen Kirchen an. I n den m i l i tärischen Strukturen zieht ein pluralistisches Gefüge des „Staatsbürgers i n Uniform" herauf, wenngleich man noch nicht weiß, wie man auf die hierarchischen Befehlsstrukturen verzichten kann. I m Krankenhaus ist ähnliches zu beobachten: Die straffe Leitung der medizinischen

. Menschsein im Wandel — Anthropologie des Überlebens Spitze erscheint als notwendig, gleichzeitig muß die Eigenverantwortung der einzelnen Ärzte und der Schwestern zum Zuge kommen. Ich habe den Versuch gemacht, Ansätze für eine Erweiterung der -— man kann inzwischen schon sagen — klassisch gewordenen Gehlensehen Anthropologie zu einer neuen sozialwissenschaftlichen Anthropologie zu finden. Durch sie soll es möglich werden, das Menschsein und das Menschenbild der Vergangenheit nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft zu verstehen. Gleichzeitig soll damit ein Durchblick auf die Gegenwart und nahe Zukunft eröffnet werden. Damit bemüht sich diese neue Anthropologie, vor allem auch dem Phänomen und dem Problem des Wandels gerecht zu werden. Dieser Wandel w i r d durch den millenaren Übergang vom hierarchischen Welt- und Menschenbild zum pluralistischen bedeutsam; er kumuliert i n unserer Gegenwart und w i r d damit zum anthropologischen Problem schlechthin.

I I . Die Werte in der Auseinandersetzung — Kooperation unter Dissens Pluralismus — ein säkularer Trend

Wohin w i r heute blicken, w i r finden die Werte i n Diskussion. Selbst die Eckwerte des Lebens, die lange Zeit als unverrückbar gegolten haben und die man als von Natur aus gegeben empfand, sind i n Bewegung geraten. Was man vordem als notwendig ansah, ist plötzlich zur Meinung geworden. W i r hören Meinungen darüber, was zu tun sei, Meinungen von Experten, Meinungen von Persönlichkeiten, die w i r besonders ernst nehmen. Aber alle diese Meinungen entscheiden nichts i m voraus, sie nehmen uns die Last der eigenen Meinungsbildung nicht ab. Diese Beobachtung führt zu einer doppelten Feststellung: Erstens: Der Meinungen über die sozialen Fragen sind viele. Zweitens: Unsere eigene Meinung kann immer nur vorläufig sein und bleibt revisionsbedürftig. Kürzer gesagt, es handelt sich u m die Feststellung des Pluralismus der Werte. Diese Feststellung des Pluralismus der Werte ist i n vielen Bereichen geläufig, i n vielen anderen aber auch sehr ungewohnt. I n der Plötzlichkeit, m i t der sie uns auf vielen bisher noch fest verankert erscheinenden Standorten überfällt, erscheint sie vielen sogar beängstigend. Man fragt, ob es überhaupt keine feste Ordnung mehr gebe. Der Hinweis, daß nicht das ganze Leben, sondern lediglich einige soziale Bereiche dieser Erfahrung des Wertpluralismus überantwortet seien, nützt wenig, wenn man es gerade m i t diesen sozialen Bereichen zu t u n hat und hier inmitten der vielen, sich zum Teil widersprechenden Wertordnungen zu einer Entscheidung kommen muß. Indes, die Erfahrung, die w i r gegenwärtig machen, ist keineswegs so neu, wie sie zunächst erscheint. Sie ist i m Gegenteil schon mindestens 300 Jahre alt, und i n vielen Bereichen hat man sich bereits gut daran gewöhnt, m i t ihr zurechtzukommen. Als Galilei seinen Zeigenossen erklärte, daß die Erde keineswegs fest i m Mittelpunkt des Weltalls stehe, sondern am Rande des Sonnensystems umhergetrieben werde, meinten viele, die Welt müsse einbrechen und man könne das nur dadurch aufhalten, daß man Galilei zwinge, seiner Lehre abzuschwören. Das geschah denn auch, allerdings umsonst, denn Galilei hatte ja keinen Wunsch ausgesprochen, sondern eine Erfahrung bekanntgemacht, die uns heute kaum noch Kopfzerbrechen verursacht.

II. Die Werte in der Auseinandersetzung

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Das ptolemäische B i l d von der Welt, die ein Oben und Unten, einen Anfang und ein Ende hat und folglich auch eine Mitte, hat sich für die Naturwissenschaften damals aufgelöst. I n der Staatslehre hielt es sich allerdings noch lange. I m B i l d der staatlichen Gesellschaft bildete das Königtum die Mitte. Das Oben und Unten ließ sich an i h m abmessen. Es bedurfte mühseliger Wirrnisse, u m dieses Weltbild aufzulockern; allmählich aber verschaffte sich auch hier die Erfahrung des Pluralismus Raum. Die neuen demokratischen Lehren machten deutlich, daß i m Zentrum der Gesellschaft der Mensch steht und daß es so viele Zentren gibt wie mündige Individuen. Vielen schien es damals, daß die demokratischen Lehren den Staat zum Einstürzen bringen müßten. Erst allmählich erkannte man, daß, umgekehrt, eine monarchische Ordnung unter den veränderten Tatsachen nicht mehr länger durchsetzbar war. Auch i n der Wirtschaftsordnung haben w i r uns seit reichlich 150 Jahren daran gewöhnt, den Pluralismus der Werte zu akzeptieren. Zwar werden immer wieder Versuche gemacht, alles auf einen einheitlichen Plan und auf einen zentralen Willen zurückzuführen. Trotzdem aber setzt sich entgegen diesen Bemühungen die Auffassung durch, daß die wirtschaftliche Welt viele Zentren hat. Das notwendige M i n i m u m an Konsens

Der Übergang zum Pluralismus ist hier als ein seit langem bestehender Trend dargestellt und die Möglichkeit seiner Bewältigung w i r d optimistisch beurteilt. Man w i r d dieselben Erfahrungen allerdings unschwer auch pessimistisch einschätzen können, um damit die These aufzustellen, daß der Pluralismus i m gesellschaftlichen Raum nicht funktionieren könne: Die Pessimisten stellen fest, daß die Menschen sich zu gemeinsamen Handlungen zusammenfinden müssen, wenn sie überleben wollen. Gemeinsame Handlungen jedoch — so folgern die Pessimisten — seien nur i m Konsens, nicht aber bei Dissens möglich. So lautet ihre These. Stimmt das wirklich? Ist nicht vielmehr i n der Großzahl der Fälle gemeinsames Handeln auch bei Dissens möglich? Aus ein und demselben allgemeinen Prinzip lassen sich jeweils sehr verschiedene Anwendungen ableiten. So kommen die einen zum Beispiel vom allgemeinen Prinzip der Gleichheit dazu, eine allgemeine, gleiche Kopfsteuer zu fordern, die anderen leiten daraus eine proportionale Steuer ab, da diese zwar absolut ungleich, relativ aber gleich sei, und wieder andere erklären sich für eine progressive Steuer, da nur diese entsprechend der jeweiligen Leistungsfähigkeit wirkliche Gleichheit bringe. Konsens i m allgemeinen Prinzip der Gleichheit führt hier

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

zum Dissens i m konkreten Anwendungsfall. Diese Erfahrimg läßt sich ebensogut auch umkehren: Eine konkrete Maßnahme erweist sich als durchsetzbar, obwohl alle Beteiligten etwas anderes m i t i h r zu erreichen wünschen. Nehmen w i r wiederum das Beispiel der progressiven Steuer: Die einen wünschen sich Umverteilung, die anderen Leistungsanreizj die dritten Vollbeschäftigung. Obwohl jeder eine andere Vorstellung m i t der Maßnahme verbindet, finden sich alle zur gemeinsamen A k t i o n zusammen. Das w i r d deswegen möglich, w e i l sie sich darauf beschränken, sich lediglich über die vordergründigen Maßnahmen zu einigen, die letzten Ziele aber offenlassen. I n der modernen pluralistischen Gesellschaft bleiben gerade die entscheidenden Lebensfragen offen. Man findet über praktischen Fragen zu gemeinsamen sozialen Aktionen zusammen. Die praktischen, die technischen Probleme, die unmittelbar gelöst werden müssen, treten für die Gesellschaft i n den Vordergrund. Die Fragen nach Wahrheit, letztem Sinn und Ziel treten für sie zurück. Ihre Lösung ist meist für eine gemeinsame A k t i o n nicht unmittelbar dringlich und kann deswegen dem einzelnen anheimgegeben werden. Zweifellos bedeutet das eine große Verarmung unserer gesellschaftlichen Diskussion: Über die vordergründigen Fragen findet eine breite Auseinandersetzung statt, über die eigentlichen Lebensziele dagegen w i r d nur am Rande diskutiert. Andererseits hat aber diese Umkehrung einen großen Vorteil: Über die praktischen, vordergründigen Fragen sich zu einigen, ist nämlich v i e l leichter möglich. I n den allermeisten Fällen ist es sogar ausreichend, u m zu gemeinsamem Handeln zu kommen. A u f diese Weise sind weitaus mehr gemeinsame Aktionen möglich als i n früheren Zeiten, als man zuerst eine Übereinstimmung i n den Fragen der ewigen Werte und der Theologie suchte, bevor man sich den Problemen des praktischen Lebens zuwandte. Der Wettbewerb als I n s t i t u t i o n des Interessenausgleichs

Einigung über die vordringlichen Fragen kann also durchaus bei grundsätzlicher Uneinigkeit i n den letzten Zielen zustande kommen. Wie aber geschieht dies i n der Praxis? Die Institutionalisierung des sozialen Ausgleichs, über die w i r heute verfügen, ist dem Menschen nicht von Natur aus zugefallen; er hat sie sich i n jahrhundertelanger Bemühung geschaffen, und es w i r d weiter daran gearbeitet werden müssen, u m sie funktionsfähig zu erhalten: Es ist der Wettbewerb. I n der Wettbewerbsgesellschaft besteht Einigung lediglich über einige Wettbewerbsregeln, alles andere bleibt offen und dem einzelnen überlassen. Aber obwohl die Verschiedenheit der Meinungen und A n -

II. Die Werte in der Auseinandersetzung

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schauungen gewahrt bleibt, bildet sich doch am Ende ein vielfältiges Geflecht gemeinsamer Aktionen. I m Wettbewerb regelt sich, was, wieviel und mit welchem Aufwand produziert und verbraucht wird. U n d wenn man den einzelnen Teilnehmer an diesem Wettbewerbsprozeß fragt, wie er sich zu diesem Ergebnis stelle, so erhält man die A n t wort, daß er zwar keineswegs der Meinung sei, das Ergebnis stimme m i t seinen letzten Vorstellungen überein, daß er es aber dennoch als das bestmöglich Erreichbare akzeptiere. Wenn hier einige Gedanken über den Wettbewerb und seine Funktionen i n der pluralistischen Gesellschaft vorgelegt werden, so soll dam i t nicht an das erinnert werden, was vielen von Adam Smith, dem Manchestertum und den Altliberalen bekannt ist. Wenn man heute das Denken über den Wettbewerb ordnen w i l l , so darf man nicht einzig auf jene Väter der liberalen Wettbewerbslehre zurückgehen. Die A l t liberalen haben zwar einiges vom Wettbewerb erfaßt, aber doch nur einen kleinen Teil des Ganzen begriffen. Ihre Wettbewerbslehre sah nur einen Ausschnitt aus der Gesellschaft: den Markt. Andere Formen des Interessenausgleichs: politische Parteien und Interessengruppen Der M a r k t ist heute nicht mehr die einzige Form, i n der Wettbewerb veranstaltet werden kann. Er ist die bekannteste Wettbewerbsform, aber das besagt zunächst noch wenig über ihren Wert. Zwei weitere Formen sind heute von ebenso großer Bedeutung: der Wettbewerb der Politiker u m die Regierungsmacht und der Wettbewerb der Verbände um die Interessenwahrnehmung. Wettbewerb gibt es also nicht nur unter Unternehmern, sondern auch unter Politikern und Funktionären. Das Verständnis für die Politik als Wettbewerbsprozeß ist allerdings erst wenige Jahrzehnte alt. Mehr und mehr hat es sich aber, wenn auch noch nicht i n der Öffentlichkeit, so doch i n der Wissenschaft durchgesetzt 26 . Hier hat man die mystischen Vorstellungen vom Staat als einer eigenen Persönlichkeit aufgegeben. Was als Staat erscheint, ist ein sozialer Prozeß. Er ist in der gegenwärtigen demokratischen Form als ein Wettbewerbsprozeß gefaßt, i n dem die Politiker i m Wettbewerb u m die Regierungsbefugnis stehen. N u r derjenige Politiker kann sich eine Chance i m Wahlkampf ausrechnen, der den Vorstellungen der Wähler entgegenkommt. I m Wettbewerb u m die Stimmen der Wähler sind die Politiker gezwungen, ihre eigenen, persönlichen Vorstellungen über die 25 Vgl. Her der'Dorneich, P h i l i p p : Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie. Theorie der Bestimmungsfaktoren finanzwirtschaftlicher Staatstätigkeit, Freiburg 1959. Eine Teilauflage ist 1957 unter dem Pseudonym Fred. O. Harding erschienen.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

notwendigen gemeinsamen Aktionen so lange zu revidieren, bis sie mindestens die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Konzeption überzeugen können. Ähnlich spielt sich der Wettbewerb der Verbände untereinander ab. Nur derjenige Verband kann sich auf die Dauer i m Wettbewerb der Verbände halten, der seinen Mitgliedern mehr bietet als jeder andere Partner. Der Wettbewerb ist somit „eine allgemeine Daseinsgrundlage", die nur dann beseitigt werden könnte, wenn „die Bedürfnisse aller Menschen nach A r t und Menge ganz gleich wären" 2 6 . Solch ein Zustand ist i m Zeitalter des Pluralismus unwahrscheinlicher denn je. Wie unerläßlich darum der Wettbewerb für die modernen westlichen Gesellschaften ist, hat v. Wiese m i t folgenden Worten zusammengefaßt: „Die Konkurrenz (hat) i m sozialen Leben eine wichtige Aufgabe . . . als leistendes, final zu bestimmendes Glied i m Zweckbau der menschlichen Gesellschaft (zu verrichten). I h r Zweck ist, Personen und Personengruppen einen dem übergeordneten Ganzen dienenden Betätigungsbereich anzuweisen. Sie ordnet das Glied i m Gesamtbetriebe der Körperschaft ein . . . Die Funktion der Konkurrenz sucht sich dadurch Geltung zu verschaffen, daß sie die Lebenslage und das Selbstinteresse der einzelnen Person oder des Personenkreises für die Wohlfahrt des übergeordneten Gebildes, etwa des Volkes, nutzt . . . Die Parole lautet: Willst D u . . . glücklich, ja nur ausreichend bestehen, dann stelle Deine Fähigkeiten und Deinen Tatwillen i n den Dienst der Allgemeinheit und befriedige ihre Bedürfnisse besser oder umfangreicher, als es diejenigen können, die neben D i r derselben Aufgabe nachkommen 27 ." Überall also, wo Menschen nach Erfolg i m Rahmen ihrer sozialen Rolle streben, t r i t t der Wettbewerb als soziales Ausgleichssystem auf. Das Wettbewerbsprinzip verkörpert eine allgemeine soziale Ordnung, die nicht nur über den ökonomischen M a r k t hinausreicht, sondern diesen zu einem Sozialsystem unter vielen relativiert. Hatte man vor hundert Jahren tatsächlich nur den Markt zur Verfügung, u m die Vielzahl der Produktionswünsche aufeinander abzustimmen, so gibt es heute neben den Märkten auch Wahlen und Gruppenverhandlungen, u m die Probleme, die der Pluralismus der Meinungen aufgibt, zu lösen. E i n ganzes Sortiment von sozialen Ausgleichsmechanismen, eine Vielzahl von Wettbewerbsformen stehen zur Verfügung. Die Freiheit der Entscheidung zu ermöglichen, gab es bis vor kurzem i m wesentlichen nur eine einzige Möglichkeit: Man setzte die Entscheidung dem M a r k t aus. Seine Wirkungsmöglichkeiten aber waren 26

v. Wiese, Leopold: Wettbewerb (I.) Soziologische Einordnung, i n : H a n d wörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 12, Stuttgart - Tübingen - G ö t t i n gen 1965, S. 26. 27 Ebenda, S. 27.

II. Die Werte in der Auseinandersetzung

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und sind begrenzt. A u f die Frage, welche Straßen wohin und wie aufwendig zu bauen seien und welche Altersrenten an wen und wie hoch zu verteilen wären, darauf gibt der Markt wenig Antwort. Trotzdem müssen auch solche Fragen heute nicht mehr autoritär gelöst werden; vielmehr kann der Pluralismus der Ideen, der Werte und der Vorstellungen auch hier zum Zuge kommen. Wahlen und Gruppenverhandlungen geben die Möglichkeit dazu. Jeder Wahlbeteiligte, jedes Gruppenmitglied kann seine Vorstellungen über das, was der Gemeinschaft nottut, i n den sozialen Prozeß einbringen. Der Prozeß entscheidet kraft seiner anonym wirkenden Tätigkeit und ermöglicht die gemeinsame A k t i o n bei einem Minimum von Konsens i n vordergründigen Fragen und einem Maximum von Dissens i n den tiefgründigen Problemen. Der Pluralismus der Wettbewerbsordnungen

Unsere Überlegungen gingen von einer Feststellung aus: der Feststellung des Pluralismus der Werte. Das skizzierte Program, was gegenüber dieser Tatsache zu t u n sei, ist recht einfach: Es verweist auf die Vielzahl der Wettbewerbsordnungen. Dieses Programm der pluralistischen Wettbewerbsordnungen ist nicht eines unter vielen möglichen, sondern stellt die Definition der Funktionsbedingungen der pluralistischen Gesellschaft überhaupt dar. Wenn eine Gesellschaft den Pluralismus akzeptiert, so w i r d damit die Schaffung von Wettbewerbsordnungen für sie zwingend. Der Zwang zur Wettbewerbsordnung läßt sich nicht m i t einem Hinweis auf den Pluralismus ablehnen, etwa m i t dem Argument, unter der Voraussetzung des Pluralismus der Werte könne Zwang nicht oktroyiert werden. Es sei ja gerade der pluralistischen Gesellschaft eigen, daß über alles und jedes verschiedene Vorstellungen bestünden und bestehen müßten, also auch über Gesellschaftsordnungen. Hier werden Voraussetzungen und Folgen verwechselt. Ausgehend von der Feststellung des Pluralismus der Werte wurde gefragt, unter welchen Bedingungen der Pluralismus überhaupt bestehen könne. Die Überlegungen führten zu dem Ergebnis, daß Dissens über die wichtigen Lebensfragen auf die Dauer nur möglich ist, wenn Konsens über Wettbewerbsregeln besteht. Ohne diesen Konsens über formale Spielregeln bleibt die Entscheidungsfreiheit i n den Hauptfragen des persönlichen Lebens auf die Dauer eben nicht erhalten. Wettbewerbsordnung ist also nicht ein mögliches Gesellschaftsprogramm unter vielen, sondern die Lebensbedingung der pluralistischen Gesellschaft überhaupt.

I I I . Konflikt als Existenzbedingung der Massengesellschaft — Ansatzpunkte zu einer Ordnung der Konfliktgesellschaft Kennzeichen einer pluralistischen Massengesellschaft Das erste, was uns an einer modernen Gesellschaft auffällt, ist sicherlich die Masse ihrer Mitglieder. Pluralistische Gesellschaft ist Massengesellschaft. Noch nie gab es so viele Menschen i n unserem westlichen Kulturgebiet wie heute. Noch nie waren diese Massen gleichzeitig so mobil. Aus den USA w i r d gemeldet, daß pro Jahr ein D r i t t e l aller Amerikaner ihren Wohnsitz wechseln. Ein zweites auffälliges Merkmal bildet der hohe Lebensstandard, den die Massen i n einer pluralistischen Gesellschaft genießen. Dadurch unterscheiden sie sich von den Massen i n den Gesellschaften älteren Typs, wie etwa i n manchen Entwicklungsländern. Pluralistische Gesellschaft bedeutet Wohlstandsgesellschaft. Fassen w i r nur diese zwei Beobachtungen zusammen, so drängt sich sogleich die Frage auf: Wie hängt das eigentlich zusammen: Masse und Wohlstand? Malthus, der bedeutende Nationalökonom, hat vor etwa 170 Jahren gelehrt, beides könne nicht gleichzeitig existieren. Die Masse schließe den Wohlstand aus, war seine These. Malthus nahm einen von der Natur bestimmten Nahrungsmittelspielraum an, auf dessen Grenzen eine Vermehrung der Menschen alsbald stoßen müsse. Hunger, Seuchen und Kriege seien die Folgen und würden die Massen dezimieren, bis das Bevölkerungsvolumen sich dem Volumen der Unterhaltsmittel wieder angepaßt habe. Malthus hat nicht recht behalten. Der Spielraum der Unterhaltsmittel hat sich entgegen allen damaligen Erwartungen enorm gesteigert. Diese Steigerung war durch die Produktivität der Wirtschaft möglich geworden. Sie hatte i n der Arbeitsteilung ein M i t t e l gefunden, die gegebenen Produktionsfaktoren immer effizienter einzusetzen und zusätzlich zu vermehren. Arbeitsteilung, Arbeitszerlegung ist das Wundermittel, das Masse und Wohlstand miteinander verbunden hat, Arbeitsteilung bis i n die letzten Verästelungen des Spezialistentums hinein. Damit hat die Arbeitsteilung ihrerseits die Massen verändert. Jeder der am arbeitsteiligen Prozeß Mitwirkenden ist nämlich zum Speziali-

I I I . Konflikt als Existenzbedingung der Massengesellschaft

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sten geworden, zum Fachmann auf seinem Gebiet. Besondere Kenntnisse, besondere Fähigkeiten und besondere Fertigkeiten zeichnen die Spezialisten aus. Sie sind nicht mehr nach Belieben untereinander austauschbar. Die Arbeitsteilung hat Spezialisten produziert, die i n ihrem Fachwissen sich letztlich nur noch selbst Autorität sind. Die Fachkompetenz löst damit die hierarchischen Strukturen alter Prägimg ab. Gleichzeitig aber hat das Spezialistentum noch etwas anderes bew i r k t . Jeder Fachmann nämlich spricht seine Fachsprache. Diese w i r d schon dem Fachmann des Nachbargebietes unverständlich und schließlich sprechen alle nur noch aneinander vorbei. Die Vielfalt des arbeitsteiligen Pluralismus ist für keinen mehr ganz überschaubar. Sie w i r d intransparent und diese Intransparenz isoliert. Riesman hat das Wort von der „lonely crowd" geprägt, von der einsamen Masse: von der Einsamkeit i n der Masse. Arbeitsteilung teilt; trotzdem trennt Arbeitsteilung nicht, sondern sie führt zusammen. Denn Arbeitsteilung heißt nicht für sich selbst, sondern für 'den anderen produzieren. Jeder ist von anderen abhängig. Jeder braucht als Voraussetzung seiner eigenen Arbeit die vorbereitende, die abstützende Tätigkeit des anderen, auch wenn er ihn nicht kennt: Der Intransparenz läuft die Interdependenz entgegen. Die Interdependenz i n der Arbeitsteilung schafft Abhängigkeiten, die oft weit stärker sind als i n älteren Gesellschaften. Es sind jedoch keine Abhängigkeiten aus Herrschaftsbeziehungen, also zwischen oben und unten, sondern horizontale Abhängigkeiten zwischen Gleichberechtigten. Der Katalog der Merkmale einer pluralistischen Gesellschaft ließe sich sicher noch fortführen. Ich habe zunächst hier nur genannt: Masse und Wohlstand, Arbeitsteilung und Spezialistentum, Intransparenz und Interdependenz. Ich habe darauf hingewiesen, wie diese Merkmale untereinander zusammenhängen und wie sie sich gegenseitig auf den Plan rufen. K a n n die pluralistische Gesellschaft überleben?

Das eine führt zum anderen. Wie aber stimmen diese Merkmale alle insgesamt überein? Wie passen z. B. Intransparenz und Interdependenz aufeinander? Wie kann der arbeitsteilige Produzent, der für andere produziert, arbeiten, wenn er jene anderen nicht kennt? Wie können Spezialisten zusammenarbeiten, wenn sie sich gegenseitig nicht verstehen? Wie kann unter diesen Umständen überhaupt eine Arbeitsteilung aufrechterhalten werden, die die Massen zu ernähren vermag? Ist also die pluralistische Gesellschaft nicht notwendig eine sich auflösende, eine zerfallende, eine dem Untergang geweihte Gesellschaft?

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Versuchen w i r einmal zur Probe gegenüber dieser Feststellung des sich Auflösens das Gegenteil zu denken. Stellen w i r uns einmal — versuchsweise — eine Gesellschaft mit den genannten Merkmalen als einheitlich, als aufeinander abgestimmt, i n einer Gesamtkonzeption aufeinander h i n koordiniert vor. W i r wären m i t einem solchen Gedankenexperiment nicht allein. I m mer wieder entwerfen Leute, die dem Auseinanderstreben i n der pluralistischen Gesellschaft nicht ins Auge sehen wollen, ein Weltbild, i n dem alles harmonisch geordnet ist. Stellen w i r uns also eine Koordinationsstelle vor, etwa eine zentrale Planstelle, ein Planifikationsbüro, das die gegenseitigen Abhängigkeiten i n der Arbeitsteilung feststellt, die Intransparenz beseitigt und allen Beteiligten Anweisungen gibt. M i t Hilfe moderner Elektronik und den formalen Instrumenten der Kybernetik scheint ein solches Zentralplanungsbüro technisch durchaus möglich. Eine wichtige Anforderung freilich muß dieses zentrale Planungsbüro erfüllen. Seine Anweisungen müssen sachgerecht sein. Das w i r d ein einzelner Fachmann sicherlich nicht schaffen können. Man w i r d mehrere zentrale Koordinierer dazu brauchen. Wenn w i r die vielen hochspezialisierten Gebiete bedenken, müssen es sogar sehr viele sein. A m sachverständigsten w i r d die zentrale Stelle dann sein, wenn alle Spezialisten an der Planaufstellung mitwirken. Jedenfalls, je weniger daran teilnehmen, u m so größer die Wahrscheinlichkeit, daß die zentralen Anweisungen nicht das Richtige i m Sinne des Ganzen treffen. Die Anweisungen würden dann nicht koordinieren, sondern nur Verwirrung stiften. M i t anderen Worten: Eine zentrale Koordination ist i n einer pluralistischen Gesellschaft nur noch arbeitsteilig denkbar. Unser Gedankenexperiment führt deshalb dazu, neben den vielen Spezialisten noch zusätzliche Koordinationsspezialisten zu postulieren. Damit aber w i r d das ursprüngliche Problem nicht beseitigt.

K o n f l i k t als Existenzbedingung

Wie also kann eine solche pluralistische Gesellschaft leben, i n der die wichtigsten Merkmale sich nicht zusammenfügen? W i r müssen zugeben: Sie kann nur i n der Auseinandersetzung leben. Oder sagen w i r statt „Auseinandersetzung" ruhig auch „ K o n f l i k t " oder selbst „Revolution". Pluralistische Gesellschaft ist Konfliktgesellschaft Georg Simmel hat das zum erstenmal eindringlich Mitte der 20er Jahre dargestellt.

III. Konflikt als Existenzbedingung der Massengesellschaft

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Fügen w i r damit also zu den beobachteten Merkmalen der pluralistischen Gesellschaft das Merkmal des Konflikts hinzu. K o n f l i k t haben w i r zunächst als Auseinandersetzung, als Zerfall, als Desintegration, als Kampf, der zur Vernichtung führt, verstanden. Freilich kann K o n f l i k t auch anders aufgefaßt werden. Es ist das Verdienst der Liberalen des 18. Jahrhunderts, eine besondere Form des Konflikts erfunden und konstruiert zu haben, die das Überleben aller nicht nur möglich macht, sondern sogar fördert. Diese Erfindung ist der „Konflikt zugunsten Dritter Ich werde sogleich an einem Beispiel erläutern, was es damit auf sich hat. Stellen w i r uns zwei Mächte vor, die miteinander i m K o n f l i k t u m die Macht stehen. Die beiden Mächte können ihren K o n f l i k t nun i m heißen oder kalten Krieg auszutragen suchen. Sie können sich bekämpfen, indem ein jeder versucht, den anderen und seine Anhänger i n ihren Aktivitäten zu hemmen. Alle Beteiligten und vor allem auch die Nichtbeteiligten sind durch diese Konfliktart bedroht. Betrachten w i r demgegenüber den K o n f l i k t zweier Rivalen i m Kampf u m die Macht unter den speziellen Voraussetzungen einer Demokratie. Beide Konfliktpartner können sich hier nur dann einen Erfolg ausrechnen, wenn sie i n ihren Programmen Vorteile zugunsten der Wähler anbieten. Die Auseinandersetzung geht u m die Macht i m Staat, als Resultat dieser Auseinandersetzung erwächst aber nicht die Bedrohung, sondern der Wohlstand der Massen. Die Wahlgeschenke einer modernen Massendemokratie sind die vielleicht augenfälligste Erscheinung dieser Konfliktsaustragung zugunsten Dritter. Fragen w i r uns, wie das geschieht, daß i m genannten Beispiel politische Konflikte ihrer zerstörerischen Gewalt entkleidet und zugunsten Dritter ausgetragen werden, so stoßen w i r auf den Ordnungsrahmen der Demokratie und ihren Wahlstimmenmechanismus. Dem politischen K o n f l i k t w i r d eine bestimmte Ordnung aufgeprägt, er w i r d zum Kampf u m die Wahlstimmen umformuliert und damit zum Wettbewerb kanalisiert. K o n f l i k t s t r u k t u r e n als Erfindung

Die Erfindung, daß sich soziale Aggressionen mit dem Versorgungsproblem koppeln lassen, war von unvorstellbarer Tragweite. Durch diese Erfindung der Wettbewerbsordnung werden zwei Dinge, die zunächst nichts miteinander zu t u n haben, i n einem ganzheitlichen Prozeß miteinander verbunden: Die Versorgung Dritter w i r d für die Rivalen zum Mittel, u m sich gegenseitig zu bekämpfen; gleichzeitig erweist sich der Wettbewerb zwischen den Rivalen als das Mittel, die Versor-

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

gung der Massen sicherzustellen. Konflikte zum Wettbewerb kanalisieren heißt, sie i n einer Struktur so zu kombinieren, daß sie ihre negativen Wirkungen gegenseitig ins Positive verkehren müssen. Wie der Verhaltensforscher Konrad Lorenz gezeigt hat, finden w i r auch i m Tierreich Konfliktformen, die zur Arterhaltung nützlich oder geradezu unabdingbar sind. Simmel und Coser haben dasselbe für die menschlichen Konflikte dargestellt. Freilich, der Ordnungsrahmen des Konflikts ist den Tieren instinkthaft eingeprägt. Für den Menschen ist die Umwendung des zerstörerischen Kampfes zum kanalisierten Wettbewerb eine Leistung, die i h m nicht von Natur aus zufällt, sondern die er erst entdecken, erfinden, einführen und durch Gesetz festlegen muß. Dem naiven Glauben der „Paläoliberalen", Wettbewerb würde sich von Natur aus bilden, können w i r uns heute nicht mehr hingeben; w i r müssen vielmehr den Wettbewerb durch eine umfassende Ordnungspolitik i n allen seinen Bereichen pflegen. Uns sind heute vor allem drei Formen bekannt, zerstörerische Konflikte zu aufbauendem Wettbewerb zu kanalisieren: die M a r k t w i r t schaft, die Demokratie und die Gruppenorganisation. Weitere weniger gut bekannte Formen sind bereits zu beobachten, weitere sind denkbar. Kehren w i r m i t diesem Hinweis zum Anfang der Überlegungen zurück. Die A n t w o r t auf die Frage, wie kann die pluralistische Gesellschaft überleben, läßt sich nunmehr deutlicher formulieren: Sie kann überleben, wenn sie ihren Auseinandersetzungen Wettbewerbsrahmen aufprägt, kurz: Die Konfliktgesellschaft kann als Wettbewerbsgesellschaft überleben. Konflikt im Gleichgewicht Nehmen w i r nun einmal an, eine pluralistische Gesellschaft habe sich für ihre Konflikte den darauf abgestimmten Wettbewerbsrahmen geschaffen. Die reißenden Bäche sozialer Aggressionen strömen i n die für sie geschaffenen Kanäle ein. Wodurch zeichnet sich nun die Situation aus, i n der es gelingt, die Konflikte zu kanalisieren? Kennzeichnend für die Situation, i n der sämtliche Konflikte i m kanalisierenden Wettbewerb aufgehen, ist, daß keiner der Beteiligten mehr glaubt, seine Position verbessern zu können. A l l e Beteiligten akzeptieren die Konfliktssituation und das Konfliktergebnis als das i m Augenblick und unter den gegebenen Bedingungen Besterreichbare. Man ist i n der Wirtschaftswissenschaft übereingekommen, diese besondere Situation als „Gleichgewicht" zu bezeichnen, und man hat der Erforschung der Gleichgewichtslagen viel Aufmerksamkeit und viele Lehrbücher gewidmet 2 8 . 28 Auch der Verfasser hat sich zum Gleichgewichtsproblem Gedanken gemacht, insbesondere zur Frage des Gleichgewichts i n komplexen Systemen.

I I I . Konflikt als Existenzbedingung der Massengesellschaft Verschwinden nun aber i m Gleichgewicht die Konflikte? Ist Gleichgewicht gleichbedeutend m i t Friedhofsstille und m i t Erstarrung? Dahrendorf 29 hat i n seiner Konflikttheorie dies anfangs so dargestellt. Gleichgewicht schließe einen positiv verstandenen Konflikt, der Wandel und Fortschritt bringe, aus. Damit wandte sich Dahrendorf gegen Parsons, den ungekrönten König der theoretischen Soziologie. Tatsächlich hatte Parsons das Gleichgewicht einer Gesellschaft damit definiert, daß alle Mitglieder eine allgemeine Wertordnung akzeptieren. Durch Erziehung und durch soziale Kontrolle würden sie dahin gebracht. I n diesem Weltbild muß K o n f l i k t ein Abweichen von der Norm bedeuten und kann immer nur negativ beurteilt werden. Positive, wohlstandsfördernde Konflikte gibt es nicht. Viele Soziologen haben nun diese Gleichgewichtsvorstellung auch aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Gleichgewichtsbegriff herauslesen wollen. Tatsächlich geht das aber nicht an. Das Gleichgewicht der w i r t schaftswissenschaftlichen Theorie braucht, wie Boülding gezeigt hat, nicht als harmonisch interpretiert zu werden, wenngleich es die Klassiker noch so aufgefaßt haben mögen. So wie ich den Gedankengang hier vorlegte, ergibt sich vielmehr, daß i m Gleichgewicht lediglich die Konflikte zu wettbewerblichen Auseinandersetzungen kanalisiert werden. Die Beteiligten, also z. B. Politiker und Wähler, Unternehmer und Konsumenten, sehen nach Ablauf ihrer Auseinandersetzungen keinen Anlaß, diese Auseinandersetzungen i n der folgenden Periode anders zu führen. Gleichgewichtige Auseinandersetzung also bedeutet nicht Wegfallen jeglicher Auseinandersetzung. Gleichgewicht und sozialer Wandel Noch i n anderer Weise vermag sich die dem wettbewerblichen Gleichgewicht innewohnende Dynamik zu zeigen. Beziehen w i r nämlich eine Veränderung der äußeren Umstände m i t ein, so kann sich am Ende der Betrachtungsperiode Gleichgewicht eingestellt haben, obwohl während der Periode soziale Veränderungen vor sich gegangen sind. Hier fallen also innerhalb der Betrachtungsperiode Gleichgewicht und sozialer Wandel zusammen. Die Wirtschaftswissenschaft nennt dies einen „Gleichgewichtspfad". E r hat darüber berichtet i n : Herder-Dorneich, P h i l i p p u.a.: Z u r Verbandsökonomik. Ansätze zu einer ökonomischen Theorie der Verbände, i n : NichtM a r k t - Ö k o n o m i k , hrsg. v. Ph. Herder-Dorneich, Bd. 1, B e r l i n 1973. 29 Vgl. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft u n d Freiheit. Z u r soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1962, S. 49 ff.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Ich w i l l dafür zwei einfache Beispiele nennen: A u f einem Konsumgütermarkt treten Wandlungen des Geschmacks ein. Die Unternehmer folgen diesen Änderungen durch Umstellung ihres Produktionsprogrammes. Ihre Marktanteile und auch die Preise brauchen sich dabei nicht zu verändern. Trotzdem kann nach Ablauf der Bezugsperiode das Marktgut ein völlig anderes geworden sein. Oder ein anderes Beispiel aus der Politik: Eine Partei ist m i t einem politischen Programm zur Macht gekommen. I m Laufe der Jahre verändert sich die politische Situation. Die Partei paßt i h r Programm noch i n der laufenden Periode diesen Veränderungen an, so daß es der Opposition nicht gelingt, sie bei der nächsten Wahl aus der Regierung zu verdrängen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen kann sich die Politik von Grund auf ändern. Sozialer Wandel und Gleichgewicht schließen sich dann nicht aus, wenn die Veränderungsgeschwindigkeit der äußeren Umstände nicht kleiner ist, als die Anpassungsgeschwindigkeit des Wettbewerbssystems. Ungleichgewichtige Gleichgewichte

Dahrendorf hat i n seinem späteren W e r k 3 0 das gleichzeitige Bestehen von Gleichgewicht und K o n f l i k t eingeräumt. Ob w i r an einem sozialen Phänomen Gleichgewicht oder K o n f l i k t wahrnehmen, hänge von der Betrachtungsweise ab. Das Phänomen selbst sei „janusköpfig" und weise beide Aspekte auf. Dieser Rückzug auf zwei autonome Betrachtungsweisen scheint m i r jedoch dazu geeignet, das Problem aus dem Griff zu entlassen. Er w i r d jedoch vielleicht verständlich, wenn man berücksichtigt, daß Dahrendorf zwar von sozialen Konflikten schlechthin spricht, aber tatsächlich nur einen kleinen Teil daraus, nämlich die Konflikte aus Herrschaftsverhältnissen, erfaßt. Auch i n der Wirtschaftswissenschaft ist das Verhältnis von Gleichgewicht und K o n f l i k t nicht zu Ende gedacht. Immer wieder w i r d nämlich von einem „Gleichgewicht i n einer ungleichgewichtigen Situation" gesprochen, obwohl nicht deutlich wird, wie beides zusammen gedacht werden kann. Ich w i l l dieses Problem an einem Beispiel erläutern, das seit den dreißiger Jahren die Wirtschaftswissenschaften sehr stark bewegt hat. Keynes hat damals als Erster ein „Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung" definiert und analysiert. Anfang der dreißiger Jahre war folgende Situation zu verzeichnen: Infolge der Weltwirtschaftskrise sank das Wirtschaftsvolumen ab. Die Unternehmen entließen Arbeitskräfte. Der Arbeitsmarkt fand ein 30

Vgl. ebenda, S. 93 ff.

I I I . Konflikt als Existenzbedingung der Massengesellschaft

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Gleichgewicht bei niedrigen Löhnen und unter Freisetzung einer großen Zahl von Arbeitslosen. Dieses Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung war indes nur i n der Sicht des reinen Wirtschaftswissenschaftlers ein Gleichgewicht. Bezog man i n das Beobachtungsfeld auch die Politik m i t ein, so zeigte sich hier sehr rasch ein Ungleichgewicht m i t starken Konflikten. Die Arbeitslosen nämlich wurden politisch aktiv. Die Regierungen wankten. Schließlich wurden sie der Situation durch Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen und einer Politik des leichten Geldes Herr. Mehr braucht hier nicht gesagt zu werden. Deutlich aber ist, wie Probleme, die auf einem gleichgewichtigen ökonomischen M a r k t nicht gelöst werden können, politisch wirksam zu werden vermögen, wie sie aus dem wirtschaftlichen Raum i n den politischen Raum hinüberdrängen und sich dort zum K o n f l i k t entwickeln. Möglicherweise w i r d i n einem neuen Gleichgewicht höherer Ordnung der Ausgleich wiederum gefunden. Gleichgewicht bedeutet also i n doppelter Weise nicht Erstarrung, denn es läßt einmal — gleichsam mikrosoziologisch — i n seiner dynamischen Form als Gleichgewichtspfad den sozialen Wandel zu; zum anderen ist es — makrosoziologisch betrachtet — nicht abschließend, w e i l die Vielzahl der Wettbewerbsformen auch eine Vielzahl von Gleichgewichten möglich macht. Der Gleichgewichtspfad kann sich also über Gleichgewichte verschiedener Ordnungsstufen hinbewegen. Eigengesetzlichkeit der Interdependenz

Ich habe damit Voraussetzungen genannt, unter denen eine K o n fliktgesellschaft überleben kann. Sie kann überleben als Wettbewerbsgesellschaft und i m Gleichgewicht. Dazu gibt es viele Möglichkeiten, d. h. viele Formen des Wettbewerbs und entsprechend viele Ordnungsstufen von Gleichgewichten. Wie allerdings diese Voraussetzungen herbeigeführt werden können, darüber wissen w i r noch sehr wenig. Das. kommt aber wiederum aus der Tatsache, daß die Interdependenz in einer modernen pluralistischen Gesellschaft größer ist als ihre Transparenz. Die Dinge hängen miteinander enger zusammen, als w i r vielfach noch einsehen können. W i r müssen damit rechnen, daß einfache Dinge, die uns aus Gesellschaften älteren Typs als Selbstverständlichkeiten erscheinen, unter den Bedingungen der pluralistischen Gesellschaft unverständlich werden. Sie ändern gleichsam i h r Wesen. Das kann zu bösen Überraschungen führen. Die Ereignisse unserer Zeit legen es nahe, m i t einem grundsätzlichen Wandel des Charakters unserer Gesellschaft zu rechnen. Ich möchte das als das „Umschlagen in die Eigengesetzlichkeit der Interdependenz" bezeichnen und an drei Beispielen anschaulich machen: 4

Herder-Dorneich

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

am Sparen, der Entwicklungshilfe und an der internationalen Sicherheit. Sparen galt früher allgemein als der Weg zum Reichtum. Heute gilt das noch für den einzelnen, es gilt nicht mehr für die Gesellschaft als Ganzes. Wenn ein Sparer hortet, d. h. sich Gold i n den Kasten legt und dafür auf Konsum verzichtet, so w i r d er reicher. Wenn alle das tun, steigt zwar der Goldpreis, die Wirtschaft aber schrumpft, da die Nachfrage nach Gütern infolge des Konsumverzichts zurückgeht. Alle, die i n dieser Wirtschaft beteiligt sind, werden ärmer. Isoliertes Sparen und Sparen i n der Interdependenz sind damit zwei diametral verschiedene Dinge. Und dann das Beispiel der Entwicklungshilfe: I n den Gesellschaften älteren Typs galt der Grundsatz, wer anderen etwas wegnehmen kann, w i r d dadurch reicher. Dieser Grundsatz schien sich bis zum Ersten Weltkrieg zu bewähren. So war der Gedanke der Kriegsreparationen während der zwanziger Jahre darauf aufgebaut. Die Reparationen sollten die Siegermächte besserstellen. Während der Weltwirtschaftskrise hat man j ä h erkennen müssen, daß dieser Effekt tatsächlich nicht erzielt wurde. Die Reparationen haben m i t dazu beigetragen, die Weltwirtschaftskrise heraufzubeschwören. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man entsprechend diesen Erkenntnissen den umgekehrten Weg eingeschlagen. Ziel blieb weiterhin, die Siegermächte besserzustellen, man suchte dies jedoch dadurch zu erreichen, daß man m i t Hilfe großzügiger Marshallplangelder die W i r t schaftskraft der unterlegenen Staaten förderte. Die Dinge stellten sich also auf den Kopf: Man erkannte, daß man reicher zu werden vermag dadurch, daß man den Armen nicht etwas wegnimmt, sondern ihnen gibt. Ähnlich verfährt man seither i n der Entwicklungshilfe. Die Kolonialländer bildeten früher ein Reichtumsreservoir, aus dem man schöpfen konnte. Inzwischen muß man feststellen, daß infolge der allgemeinen Interdependenz, i n die Entwicklungsländer wie Industrieländer verflochten sind, die Unterentwicklung der einen auch eine Gefahr für die Entwicklung der anderen bildet. Also: Was auf den ersten Blick ärmer zu machen scheint (Verzicht zu gunsten von Entwicklungshilfe), sichert auf Dauer den eigenen Wohl- und Fortbestand. Als drittes Beispiel: die internationale Sicherheit. I n den Gesellschaften älteren Typs war es ein gutes Mittel, für seine Sicherheit zu sorgen, indem man Abwehrmaßnahmen ergriff: Mauern, Wälle oder gar eine Maginotlinie erbaute. Unter den Bedingungen der A t o m rüstung und der Interdependenz des Schreckens haben sich die Dinge verkehrt. Sicherheit w i r d nun am ehesten durch die Verletzlichkeit der

I I I . Konflikt als Existenzbedingung der Massengesellschaft

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Großmächte gegenüber einem Atomschlag verbürgt. Ein Angriff w i r d verhindert dadurch, daß jeder Partner den Rückschlag des Getroffenen fürchtet. Eine wirksame Abwehrmauer durch ein Anti-Raketensystem würde diese Sicherheit nicht vergrößern, sondern reduzieren. Die Versuchung, einen vernichtenden Erstschlag zu führen und den Rückschlag dann durch den Antiraketenwall abzufangen, wächst und damit die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Erstschlag ausgelöst wird. Der Frieden w i r d hier durch Defensivmittel also nicht gefördert, sondern i n Frage gestellt. Einen ähnlichen Zusammenhang können w i r auch i m kleinen, i m täglichen Straßenverkehr beobachten. Der beste Schutz gegen unvorsichtige Karambolage wäre nicht die Panzerung aller Autos, sondern sind i m Gegenteil Chrom und Lack und die Gewißheit, bei einem Zusammenstoß sein eigenes Gefährt i n jedem Falle auch zu gefährden. Ansatzpunkte zur Konfliktstabilisierung Die Beispiele zeigen, daß die starke Interdependenz, die sich i n einer pluralistischen Gesellschaft größer als die Transparenz erweist, nicht nur ein existenzbedrohendes Problem darstellt, das w i r versuchen müssen, i n Konfliktordnungen zu kanalisieren. Dieses Problem birgt i n sich gleichzeitig den Ansatz zu seiner eigenen Stabilisierung. Interdependenz heißt ja nichts anderes, als daß alles, was man dem anderen zumutet, auf einen selbst zurückfällt. Damit verwirklicht sich die A u f forderung: „Was D u nicht willst, das man D i r tu, das füg' auch keinem andern zu!" Die Verwirklichung dieser goldenen Regel erfolgt freilich nicht durch moralischen Appell, sondern durch den Sachzusammenhang selbst. Ein Zustand, den ältere Gesellschaften normativ fingierten, w i r d i n der pluralistischen Gesellschaft Wirklichkeit. Damit entwickelt sich aus den interdependenten Sachzusammenhängen selbst heraus ein Druck auf die Konfliktpartner, aus eigenem Antrieb eine Ordnung ihrer Auseinandersetzungen zugunsten Dritter und damit zugunsten ihrer selbst zu suchen.

I Y . Der Produktionsfaktor Lenkung — Organisationsprobleme wachsender Arbeitsteilung

1. Das Wohlstandsparadox Die Feststellungen Fourastiés I n seinem Buch „Le grand espoir du X X i e m e siècle" (1950) beschreibt Jean Fourastié die Evolution der Wirtschaft nach der Dominanz bestimmter Produktionsbereiche. Als K r i t e r i u m für die Einteilung der Volkswirtschaft i n verschiedene Bereiche dient i h m die Feststellung, daß Produktivitätszuwächse infolge technischen Fortschritts nicht i n allen Sektoren gleichmäßig, sondern nur i n unterschiedlicher Intensität erreichbar sind. Aufgrund dieser empirisch-statistisch gewonnenen Erkenntnis teilt Fourastié die Volkswirtschaft i n drei Sektoren ein. „Ich möchte als primär alle Produktionszweige mit mittelmäßigem technischem Fortschritt (Landwirtschaft), als sekundär alle Wirtschaftszweige m i t starkem technischen Fortschritt (im wesentlichen Industrie) und als tertiär alle wirtschaftlichen Tätigkeiten bezeichnen, die nur einen geringen technischen Fortschritt kannten und kennen (Handel, Verwaltung, freie Berufe, Dienstleistungsberufe u. ä.) 31 ." Fourastié hat nun festgestellt, daß sich der Anteil der einzelnen Sektoren an der Erstellung des Sozialprodukts i m Zeitablauf verschoben hat. Daraus leitet er Entwicklungsstadien ab, die durch die Dominanz jeweils eines der Sektoren gekennzeichnet sind. Vor Beginn der industriellen Revolution (etwa auf 1750 bis 1800 datiert) hatte die volkswirtschaftliche Gesamtproduktion etwa folgende Struktur: Landwirtschaftliche Produktion

= 80 v H

Sekundäre Produktion

= 10 v H

Tertiäre Dienste

= 10 v H 3 2

81 Fourastie, Jean: Die große Hoffnung des Zwanzigsten 3. Aufl., K ö l n 1954. 32 Ebenda, S. 81.

Jahrhunderts,

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

53

Durch die einsetzende Industrialisierung hat sich diese Relation immer mehr zugunsten des sekundären Sektors verschoben. Die p r i märe (landwirtschaftliche) Produktion nahm dabei absolut keineswegs ab, sondern wurde durch mäßigen technischen Fortschritt durchaus gesteigert. I h r Rückgang war nur relativ, die Produktionszuwächse i n der industriellen Produktion aber waren überproportional, so daß nicht nur die absoluten Werte, sondern auch der A n t e i l der Industrie an der Erstellung des Sozialprodukts stieg. I n hochindustrialisierten Volkswirtschaften hat sich diese Entwicklung allerdings wieder gewandelt. Der Anteil des primären Sektors an der Gesamtproduktion stagniert, das Wachstum der Industrieproduktion hat sich verlangsamt, dafür steigt nun der Anteil des tertiären Sektors. Erklären läßt sich diese Entwicklung durch die stetige Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen, die durch die Produktivitätsfortschritte möglich wurden. Erhöhtes Einkommen aber induziert verstärkte Nachfrage, nicht nur eine lineare Nachfragesteigerung, sondern auch eine qualitative Erhöhung der Ansprüche. Wenn die Deckung der Grundbedürfnisse gesichert ist, wendet sich die Nachfrage höherwertigen Dingen zu. Was man sich zunächst nicht leisten konnte, rückt m i t steigendem Einkommen i n greifbare Nähe. Dazu gehören vor allem auch die Dienstleistungen, die man sich bei steigendem Einkommen leisten kann. Der durch geringe Rationalisierungsmöglichkeiten gekennzeichnete tertiäre Sektor t r i t t so einer immer größer werdenden Nachfrage gegenüber. Hier öffnet sich eine Schere zwischen Angebot und Nachfrage. A u f grund der Verbessernug der Versorgung über die Grundbedürfnisse hinaus steigt der Bedarf an höherwertigen, i n erster Linie vom tertiären Sektor produzierten Leistungen an. Die Nachfrage nach tertiären Leistungen entwickelt sich dabei überproportional zur Einkommenssteigerung. Andererseits kann wegen des geringen technischen Fortschritts diese Produktion nicht sehr stark rationalisiert und ausgeweitet werden, eine überproportionale Steigerung der Ausbringung ist nicht möglich. Der überproportional wachsenden Nachfrage kann also kein entsprechendes Angebot gegenübergestellt werden. Die Reaktion des Marktes auf dieses Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage ist einfach: Die Preise steigen überproportional. Dies gilt jedoch nur auf freien Wettbewerbsmärkten. Werden indes die Preise durch Eingriffe niedrig gehalten, so entstehen Nachfrageüberhänge, Angebotsdefizite, kurz, Unterversorgung. Eine Auswertung der Fourastiisehen Erkenntnisse zeigt, daß i n hochentwickelten Volkswirtschaften der i m sekundären Sektor einerseits erzielte Wohlstand i m tertiären Sektor andererseits zu Preissteigerungen oder aber zu Unterversorgung führt.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel Die Vorstellung

von Galbraith

Galbraith analysiert die „Gesellschaft i m Überfluß", die geprägt sei durch den Unterschied i n der Versorgung m i t privaten und öffentlichen Gütern. Üppigkeit i n der Versorgung m i t privaten Gütern, Mangel an öffentlichen Gütern. Die Unterversorgung der Gesellschaft m i t öffentlichen Gütern offenbart sich ganz deutlich i n überfüllten K r a n kenhäusern, verschmutzten Gewässern und unzureichenden Verkehrsverhältnissen. Galbraith führt diese Divergenz auf die Vorrangstellung der Produktion zurück. „ Z u produzieren ist zwar das allerwichtigste Ziel unseres Lebens geworden, doch versäumen w i r , dieses Ziel w i r k lich energisch und mit vernünftigen M i t t e l n anzustreben 33 ." Galbraith stellt dieser Entwicklung die Forderung nach einem sozialen Gleichgewicht entgegen, das i n einem Komplementärverhältnis i m A n gebot von Gütern des privaten und öffentlichen Sektors zu sehen ist. Ziel dieser Konzeption ist also die Beseitigung des Schattendaseins öffentlicher Einrichtungen und die Herstellung der Konkurrenz von öffentlichen Gütern m i t privaten Gütern. Die Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichts besteht i n der Suche nach einem Weg, „der A r m u t unserer öffentlichen Einrichtungen abzuhelfen, die i n einem immer stärkeren Kontrast zu dem Überfluß an privaten Gütern steht" 3 4 . Marktgängige Güter und Dienste genießen strategische Vorteile, öffentliche Güter und Dienste dagegen sind benachteiligt. Die Lösung dieses Problems liegt darin, daß private M i t t e l für öffentliche Zwecke freigegeben werden. Die Befriedigung der echten Bedürfnisse i m öffentlichen Sektor der Wirtschaft trägt ihrerseits zur Stabilisierung der Produktion i m privaten Sektor bei. Das Wohlstandsparadox Die Feststellungen von Fourastii und Galbraith haben die Situationen der Wohlstandsgesellschaft als paradox gekennzeichnet: Die Wohlstandssteigerung führe i n immer drückenderen Mangel hinein. Denn der Wohlstand sei nur sektoral. Üb er Versorgung i m primären und sekundären Sektor, Unterversorgung i m tertiären Sektor. Üb er Versorgung durch die Industrie, Unterversorgung durch die öffentlichen Dienste. Überversorgung bei gleichzeitiger Unterversorgung — das ist wirklich paradox! Warum verhalten sich die Sektoren nicht wie kommunzierende Röhren, i n denen sich das Niveau auspendelt? Warum dieses 88 Galbraith, John-Kenneth: S. 152. 84 Ebenda, S. 325.

Gesellschaft

im

Uberfluß,

München

1959,

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

55

starke Wachstum i n einzelnen Bereichen bei einer Unterentwicklung i n anderen Bereichen? Woher dieses strukturelle Ungleichgewicht der Wohlstandsentwicklung? Das Wohlstandsparadox w i r d verschärft, wenn man eben die Wohlstandssituation bedenkt. Denn Wohlstand heißt doch soviel, als daß es gelungen ist, m i t den entscheidenden Versorgungsproblemen fertig zu werden. Schwerwiegendes ist also i m Prinzip gelöst. Warum aber verschließt sich gerade das Wohlstandsparadox einer Lösung? Warum w i r d Geld, Technik und Erfindungskraft der Menschheit so eingesetzt, daß sie bei aller Überfülle dennoch i n Mangel hineinsteuert? W i r d falsch gesteuert? Haben w i r ein Defizit an Lenkung? Die Frage steht. I h r werden w i r unsere folgenden Überlegungen widmen. Unsere Frage zielt auf den Mangel im Überfluß. Oder formulieren w i r sie ein wenig um: Warum entwickelt sich der Überfluß nur sektoral? Aber fragen w i r uns zunächst: Worauf basiert überhaupt Überfluß?

2. Wohlstand durch Arbeitsteilung Produktionsfaktoren Worauf beruht der Reichtum der Nationen? M i t dieser Frage hat die Wirtschaftswissenschaft vor nunmehr 200 Jahren ihren Ideenlauf begonnen. Die Probleme der Wohlstandsgesellschaft stellen uns die Frage neu. Freilich ist eine Akzentverschiebung eingetreten. W i r fragen genauer nach dem Reichtum der Versorgungsbereiche. W i r haben es also nicht nur m i t armen und reichen Nationen zu tun, sondern auch m i t gut versorgten und schlecht versorgten Bereichen innerhalb derselben Nation. Der Wohlstand beruht nach Auskunft der Wirtschaftswissenschaft auf der Produktion m i t Hilfe von Produktionsfaktoren. Und die klassischen Produktionsfaktoren sind Arbeit, Boden und Kapital. Das Wohlstandsniveau w i r d bestimmt durch denjenigen Produktionsfaktor, der i m Verhältnis zu den anderen im geringsten Maße verfügbar ist. Gelingt es, diesen Produktionsfaktor zu vermehren, so sind bei gleichbleibender Verfügungsmenge der anderen Faktoren zunächst unverhältnismäßig große Ertragszuwächse zu verzeichnen. Diese Zusammenhänge sind i m sogenannten Ertragsgesetz beschrieben worden (Vgl. Fig. 1). W i r argumentieren dabei m i t dieser unserer Fragestellung zunächst i m unteren Bereich I.

56

. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel E Erträge

vermehrter Faktor P bei konstanten 0

übrigen Faktoren Figur 1

Blicken w i r i n einem modellartig gerafften Rückblick i n die Geschichte: W i r finden eine relativ dünn besiedelte Landschaft. Reichlich vorhanden ist der Produktionsfaktor Boden. I m Verhältnis dazu gering ist der Produktionsfaktor Arbeit. Das Wohlstandsproblem von diesem Typ I heißt also: Wie vermehre ich den Faktor Arbeit? Die Frage läßt sich durch Eroberungskriege beantworten, bei denen die unterworfene Bevölkerung i n die Sklaverei geschleppt wird. Lange Jahrhunderte sind durch diese Lösung des Wohlstandsproblems geprägt worden. Die Lösung des Wohlstandsproblems vom Typ I mag einseitig gewesen sein. Immerhin können w i r uns vorstellen, wie infolge der zusätzlichen Sklavenarbeit der Wohlstand anstieg und sich ein Nahrungsspielraum eröffnete, der zu einem Bevölkerungswachstum führte. Damit kehrten sich die Gewichte allmählich um: Relativ reichlich vorhanden ist nun der Faktor Arbeit, relativ spärlich ist der Faktor Boden (Wohlstandsproblem Typ II). Ziel der Eroberungskriege ist nunmehr nicht die Eroberung von Sklaven, sondern von fruchtbarem Ackerland. Die Eroberungskriege werden u m die Erweiterung der Grenzen geführt. Da w i r d der Produktionsfaktor Kapital entdeckt. N u n läßt sich das Wohlstandsproblem m i t Hilfe eines einfachen Kalküls neu formulieren (Wohlstandsproblem Typ III). Zur bestehenden Bevölkerungszahl (zum gegebenen Produktionsfaktor Arbeit) läßt sich durch einen Eroberungskrieg Land hinzugewinnen und auf diese Weise die Produktion von P i auf P2 anheben. Der Eroberungskrieg freilich verursacht Aufwand an Rüstung, Menschen, Material. Dieser Aufwand läßt sich auch i n andere Formen umsetzen. Er kann i n der Form von Kapital der Produktion

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

57

direkt zugeführt werden (Bauten, Maschinen, Geräte). Vermittels Kapitaleinsatz gelingt es unter Umständen bei gegebenem Stand von Bevölkerung und Boden, die Produktion auf P3 zu heben. Solange P3 über P2 liegt, empfiehlt sich die Lösung des Wohlstandsproblems Typ I I I durch Einsatz von Kapital: Industrialisierung. Die Wohlstandsdiskussion war lange Zeit von diesen und ähnlichen Überlegungen beherrscht. Die Problemlösungen waren dabei insgesamt recht glücklich verlaufen. Denn eine ständige Vermehrung der Produktionsfaktoren Arbeit (Bevölkerungswachstum), Boden (Urbarmachung, Neulandgewinnung, bessere Bodenpflege) und Kapital (Industrialisierung) schaukelten sich gegenseitig hoch. M a l war der eine, mal der andere Faktor i m Minimum. Insgesamt aber gingen die Kombinationen der Produktionsfaktoren auf immer höherem Niveau vor sich. Die Problemlösungen, auf das Ertragsgesetz projiziert, verlagerten sich aus dem Bereich I i n den Bereich I I (Vgl. Fig. 2). Hier allerdings beginnen die Ertragszuwächse degressiv zu verlaufen. Ein zusätzlicher Einsatz der Produktionsfaktoren lohnt sich immer weniger. Stößt damit unsere Wohlstandsentwicklung an einen oberen Plafond E n? Malthus hat seine pessimistische Bevölkerungstheorie auf dieser Überlegung aufgebaut. Er sah einen Versorgungsplafond voraus, der nicht mehr weiter angehoben werden könne. E

Kombinationsfaktoren Malthus hat den technischen Fortschritt i n seinen Überlegungen zu wenig berücksichtigt. Die Zusammenhänge des Ertragsgesetzes gelten ja i n der geschilderten Weise nur unter der Voraussetzung gleichblei-

58

. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

bender Produktionstechnik. Sicher ist ein Fortschreiten auf der Ertragskurve E K i n der Figur 2 nur unter einer fortschreitenden Technik möglich. Die „Verlängerung der Produktionsumwege" (Böhm-Bawerk) und der Einsatz von Kapital ist ohne Neuerfindungen gewöhnlich nicht durchführbar. Aber w i r beobachten i n unserem modellartigen Überblick über die Geschichte nicht nur Erfindungen, die eine Bewegung „auf der K u r v e " ermöglichen, sondern auch Erfindungen, die eine „Bewegung der K u r v e " verursacht haben. Die Lösung des Wohlstandsproblems vom Typ I V bedeutet, daß es mittels technischem Fortschritt gelingt, die Ertragskurve zu verschieben, vom Punkt Ph zum Punkt Pk vorzurücken und damit von auf e\ zu steigen (Vgl. Fig. 3). E

Sicherlich setzt technischer Fortschritt auch den Einsatz von Arbeit und Kapital voraus. Dennoch ist es nicht sinnvoll, i h n einfach als Produkt des Einsatzes von Produktionsfaktoren zu bezeichnen. Technischer Fortschritt vermag die gegebenen Produktionsfaktoren anders zu kombinieren als es vorher möglich war. Damit ist sein Beitrag ein spezifischer. Er rechtfertigt es, von einem Kombinationsfaktor zu sprechen. Die Lösimg des Wohlstandsproblems nach dem Typ I V legt also eine Forcierung des technischen Fortschritts nahe oder seine Gewinnung i n einer weniger anspruchsvollen Form als sogenannten Know-how. W i r wollen nun i n unserem Modell noch ein wenig weiter denken. Allerdings verzichten w i r nunmehr darauf, von einem historischen Modell zu sprechen. W i r stellen uns vor:

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

59

Drei Produktionsfaktoren, Boden, Arbeit und Kapital, und ein K o m binationsfaktor Technik sind so zu kombinieren, daß ein M a x i m u m an Produktion dabei heraus kommt. Das ist nicht mehr i n einfacher Weise möglich. Es geschieht i n Betrieben und Wirtschaftsunternehmen, die ein bisher unbekanntes Ausmaß erreichen. Großbetriebe m i t 100 000 oder gar 200 000 Mitarbeitern sind i n Deutschland und i n der Welt vielfach festzustellen. Kombinationen solchen Ausmaßes zu schaffen und i n Gang zu halten, bedeutet eine eigene Leistung. Dies w i r d vor allem deutlich, wenn w i r die Unsicherheit miteinbeziehen, unter der das alles vor sich geht. Die Kombination der Produktionsfaktoren unter technischem Fortschritt und die Bewältigung der Risiken können w i r heute als die Leistung des Management bezeichnen und i h r die W i r k u n g eines selbständigen Kombinationsfaktors zuschreiben. W i r beschreiben somit die Lösung des Wohlstandsproblems von Typ V wie folgt: Da sind große, kleine, ganz große Betriebe, Fabriken^ Unternehmen. I n ihnen werden 3 Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden, Kapital) und 2 Kombinationsfaktoren (Technischer Fortschritt, Management) zusammengebracht. Die Produktion w i r d auf diese Weise i n bisher ungeahnte Ausmaße gesteigert und verbessert. Betrachten w i r ein beliebiges Erzeugnis dieses Prozesses. Da liegt ein Diktiergerät auf meinem Schreibtisch 35 . Die Erfinder, die es ermöglicht haben, sind über viele westliche Länder verstreut. Das Zentrum der Produktionsorganisation liegt bei einer amerikanischen Firma. Viele Rohstoffe kommen aus Entwicklungsländern. Viele Arbeiter, die das Gerät oder seine Herstellungsmaschinen erstellten, sind Gastarbeiter aus südeuropäischen Ländern. Viele Betriebe haben direkte Zulieferungen geleistet. Eine Unzahl von Unternehmen war beteiligt, wenn man alle Produkte und alle Maschinenlieferanten berücksichtigt. Kurz: Die Lösung unseres Wohlstandsproblems ist nur möglich bei Arbeitsteilung. Produktivität

durch Arbeitsteilung

W i r können den Zusammenhang auch anders ausdrücken: Arbeitsteilung ist die Grundverfassung der Wohlstandsgesellschaft. Sie ermöglicht die Spezialisation, die wiederum die Bedingung ist für den Einsatz der hochproduktiven Produktionskombinate. Die hochproduktiven Produktionskombinate bedingen Arbeitsteilung. Umgekehrt, soweit Arbeitsteilung besteht, können hochproduktive Kombinate eingreifen. 85 Der Verfasser greift hier das phänomenologische Beispiel auf, das Walter Euchen gab, als er das ökonomische Problem aus der Betrachtung seines Ofens i m Studierzimmer ableitete. Blickfang f ü r seine schweifenden Gedanken stellt f ü r den Verfasser weniger seine Heizung als sein Diktiergerät.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Diesen Zusammenhang hat bereits Adam Smith zu Beginn der w i r t schaftswissenschaftlichen Ideengeschichte erkannt und beschrieben. W i r können ihn jetzt vereinfacht so formulieren: Der Reichtum der Nationen beruht auf Arbeitsteilung. Der Mangel der Nationen beruht auf unzureichender Arbeitsteilung. Wenn w i r Reichtum und Mangel gleichzeitig nebeneinander beobachten, so bedeutet das, daß in den einen Bereichen die Arbeitsteilung weit fortgeschritten, in den anderen Bereichen dagegen zurückgeblieben ist. Das Wohlstandsproblem, auf das Fourastie und Galbraith hingewiesen haben, zeigt uns also, daß es i n der Wohlstandsgesellschaft Inseln mangelnder Arbeitsteilung gibt. Wenn w i r dieses Problem als Paradox formulieren, dann heißt dies, daß die Wohlstandsentwicklung so beschaffen ist, daß sie nicht alle Bereiche gleichmäßig von der Arbeitsteilung erfaßt und zur Inselbildung mangelnder Arbeitsteilung führt. Wie ist das zu verstehen? 3. Einfache und schwierige Probleme der Arbeitsteilung Vom einfachen zum schwierigen Fall A n Arbeitsteilung haben w i r uns i m allgemeinen so gewöhnt, daß w i r selten mehr die Schwierigkeiten sehen, die sie m i t sich bringen kann. Die einfachen Formen der Arbeitsteilung sind für uns so selbstverständlich geworden, daß w i r sie für den Normallfall zu halten versucht sind. W i r werden dabei kaum gewahr, daß die einfachen Formen der Arbeitsteilung mehr und mehr den Sonderfall bilden und daß eben diejenigen Fälle zunehmen, die schwierig und besonders schwierig arbeitsteilig zu gestalten sind. Oder anders betrachtet: Die einfachen Formen der Arbeitsteilung sind nahezu alle schon realisiert; deshalb sind w i r i m täglichen Leben m i t ihnen so vertraut. Die schwierigen Fälle aber sind noch nicht realisiert worden, eben w e i l sie schwierig sind. W i r sind mit ihnen nicht vertraut und können uns nur schwer vorstellen, daß es hier eigentlich etwas geben könnte, was es noch nicht gibt. W i r stellen uns einen einfachen F a l l vor. W i r versuchen dabei herauszubekommen, warum er gerade so einfach liegt und wie er schwierig wird, wenn einzelne Bedingungen sich ändern: Der Schuster kauft Leder und Leisten dazu und liefert der K u n d i n ein Paar Schuh'. Der Lederhersteller Pi und der Schuster P2 w i r k e n arbeitsteilig. Sie stellen Leder m i und Schuhe m2 her. Die K u n d i n C kauft ein und zahlt dafür S2 an den Schuster. Dieser entrichtet si an Pi (Lederhersteller) (Vgl. Fig. 4).

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

Distinktion

und Kontakt

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der Aggregate

Warum ist hier die Arbeitsteilung einfach? W i r stoßen bei unserer Analyse auf einige Bedingungen, die w i r hier nennen wollen. Da ist die Bedingung der Distinktion: Produzenten und Konsumenten sind voneinander unabhängig verschieden. Distinktion: I n unserem einfachen Beispiel sind Produzenten und Konsumenten voneinander unabhängig verschieden, w e i l die Arbeitsteilung u m Sachgüter geht, die transportfähig i m Raum und lagerfähig i n der Zeit sind. Leder und Schuhe werden hergestellt und irgendwann und irgendwo abgesetzt. A u f diese Weise können Produzenten und Konsumenten leicht auseinander- und einander gegenübertreten. Spezialisation kann organisiert werden, denn die Sachgüter m i und m% können i n Mengen hergestellt und auf Lager genommen und von dort einzeln und über große Flächen h i n verteilt werden. Das ist natürlich nicht leicht, aber es ist leicht arbeitsteilig zu organisieren. Schwierig w i r d die arbeitsteilige Organisation, wenn Produzenten und Konsumenten nicht i n dieser Weise voneinander unabhängig sind. Denken w i r uns die Bedingungen der Distinktion aufgehoben, so zeigen sich Fälle, i n denen Produzenten und Konsumenten nur gemeinsam und zusammen und gleichzeitig produzieren und konsumieren können. Produktion und Konsum fallen zusammen. W i r sagen, sie seien nur uno actu möglich 88 . W i r beobachten: Ein Lehrer unterrichtet einen Schüler. Es geht u m einen speziellen Unterricht i n höherer Mathematik. Lehrer und Schüler sind spezialisiert. Das Gut m, das hier produziert wird, besteht i n mathematischer Bildung. Es entsteht aber nicht isoliert, sondern i m Zusammenwirken. Lehrer und Schüler arbeiten gemeinsam und es mag mitunter sogar vorkommen, daß der Schüler stärker schwitzen muß. Trotzdem bezeichnen w i r den Lehrer sinnvoll als Produzenten und den Schüler als Konsumenten. Trotz der Zusammenarbeit besteht Arbeits86 Z u m uno-actu-Prinzip vgl. Herder-Dorneich, P h i l i p p u n d Kötz, Werner: Z u r Dienstleistungsökonomik. Systemanalyse u n d Systempolitik der K r a n kenhauspflegedienste, i n : N i c h t - M a r k t - Ö k o n o m i k , hrsg. v. Ph. Herder-Dorneich, Bd. 2, B e r l i n 1972.

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

teilung. Produktion und Konsum aber gehen uno actu vor sich. Das ist nicht leicht zu organisieren. Leichter organisierbar ist der Unterricht, wenn etwa an Stelle der Dienstleistung „Ausbildung" das Sachgut „Lehrbuch" träte. Aber diese Transformation von der Dienstleistung zur Ware macht unter Umständen das Gut „Ausbildung" auch weniger effizient. Das Lernen und das Verstehen aus dem Lehrbuch bei Verlust des persönlichen Kontaktes w i r d schwieriger. Die Produktion und der Konsum uno actu stellen besondere A u f gaben an die Arbeitsteilung. W i r wollen sie noch weiter unten untersuchen und wenden uns zunächst einer anderen Bedingung einfacher Arbeitsteilung zu, dem Kontakt zwischen Produzent und Konsument. Kontakt: Schuster und Kunde treten i n Kontakt. Der Schuster paßt den Schuh an. Der Kunde sagt, wo i h n der Schuh drückt. Das ist nicht immer einfach und i n manchen Schuhgeschäften hat man für diese Prozedur sogar Röntgenapparate aufgestellt. Aber es ist immerhin relativ einfach arbeitsteilig zu organisieren. Schwierig w i r d die Arbeitsteilung, wenn der Kontakt nicht gegeben ist. Drei Fälle sind hier besonders zu erwähnen: Der Kontakt w i r d erschwert 1. durch Intransparenz, 2. durch Nichtausschließbarkeit, 3. er kommt überhaupt nicht zustande. Intransparenz: E i n Produzent i n Deutschland möchte an einen Konsumenten i n Bolivien verkaufen. Er kennt den Kunden nicht selbst. Er weiß nichts von seiner Zahlungsfähigkeit und vor allem ist er sehr unsicher, ob der Kunde i n einem halben Jahr, wenn die Ware i n Bolivien eintrifft, zahlungsfähig sein wird. Banken und Bürgschaften können dieses Problem einigermaßen lösen. Es bedarf einer besonderen Organisation dazu. Nichtausschließbarkeit: Eine Gemeinde w i r d durch einen nahen Sumpf geplagt. Das Vieh kommt i m Morast u m und die Moskitos sind gefährlich. Ein Unternehmer bietet an, den Sumpf trockenzulegen. A l l e Gemeindemitglieder sind bereit, dafür zu zahlen. Die Konsumenten des Gutes „Trockenlegung" sind freilich nicht i m einzelnen erfaßbar. Die Beseitigung der Nachteile, die der Sumpf vordem brachte, kommt allen zugute, die i n dieser Gegend leben. Wie soll der Unternehmer aber die Konsumenten seiner Leistung erfassen? Er müßte einen Zaun u m die Ortschaft ziehen und E i n t r i t t erheben oder er müßte Steuern und Beiträge i n irgendeiner Weise eintreiben. Die Tatsache der Nichtausschließbarkeit Einzelner vom Konsum des Ganzen (Olson-Prinzip) macht die Arbeitsteilung schwierig. Vielleicht verläßt sich sogar ein jeder i n der Gemeinde darauf, daß die anderen schon zahlen werden und die Trockenlegung kommt so überhaupt nicht zustande.

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung Fehlender Kontakt: Einem Schlagerkomponisten gelingt ein Hit; A l l e Welt spielt i h n nach — m i t oder auch ohne Noten. Wie soll der Komponist seine Konsumenten i n Erfahrung bringen? Und umgekehrt, wie sollen alle, die sein Werk wiedergeben, wissen, wer und wo der Komponist ist? Wie soll hier das Urheberrecht wahrgenommen und Aufführungsverträge abgeschlossen werden? Der mangelnde Kontakt stellt schwierige Probleme. Solange sie nicht gelöst werden, bleibt diese Kunst ein freies Gut und dieser Künstler ein armer Teufel. Gelingt es aber, diese Probleme durchzuorganisieren (z.B. GEMA), kann der kleine Schlager Grund zu einem großen Vermögen sein. Die Bedingungen der Distinktion und des Kontaktes zeigen, daß Arbeitsteilung zum einen die Teilung (Distinktion), zum anderen die Überwindung der Teilung (Kontakt) voraussetzt. Beides muß gelingen. Beides stellt seine besonderen Probleme. Kontinuation

und Dispersion

Die arbeitsteilige Situation w i r d nur effizient, wenn sie nicht einmalig bleibt. Das Gelingen der Arbeitsteilung erfordert also Kontinuation. Blicken w i r i m Zeitablauf rückwärts, erscheint uns die Kontinuation als retrograder Anschluß, blicken w i r voraus, sprechen w i r von Wiederholung. Die Bedingung der Kontinuation vermag uns die Informationstheorie aus dem Obengesagten deutlich zu machen: Kontakt bei Distinktion erfordert Verständigung und Vertrauen — Verständigung und Vertrauen aber sind eine Funktion der Akte pro Periode. Bei einer Vervielfachung der Einzelakte transformiert sich der Begriff der Kontinuation i n den der Dispersion: Die vielen Einzelakte werden gestreut. Vielfache Wiederholung i m Zeitablauf läßt das B i l d des Strömens entstehen. Eine Verwirklichung des Prinzips der Kontinuation und der Dispersion ist der Wettbewerb. Die Wirtschaftswissenschaft beschreibt den Wettbewerbsmarkt z. B. durch die Merkmale: viele und kleine. ,Viele 4 und »kleine* Produzenten, aber auch ,viele* und ,kleine* Konsumenten treten einander gegenüber und schließen Kaufverträge ab. Die einzelnen Kaufakte bilden hier einen Strom; der Leistungsstrom fließt zwischen dem Aggregat der Produzenten und dem der Konsumenten kontinuierlich. Dabei ist es nicht so wichtig, wie häufig sich der Einzelne am Kaufgeschehen beteiligt. Möglicherweise t r i t t er tatsächlich nur selten wiederholt als Käufer auf. Da es sich aber u m viele und kleine handelt, aggregieren sich die A k t e zum Strom. Der Wettbewerb schließt Produzenten und Konsumenten eng zusammen. Jeder Teilnehmer, der sich nicht befriedigt fühlt, kann ja zum

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. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Konkurrenten gehen und dort eine bessere Versorgung zu erreichen versuchen. Und da jeder m i t dem Wettbewerb rechnen muß, nehmen alle aufeinander Rücksicht. Die Wirtschaftswissenschaft hat den Wettbewerbsmechanismus vielfach beschrieben, analysiert und seine Bedeutung herausgestellt. Die liberale wirtschaftswissenschaftliche Theorie hat gezeigt, daß erhebliche Probleme entstehen, wenn eines der beiden Aggregate, z. B. das der Produzenten, nicht aus vielen kleinen, sondern aus einem einzigen Wirtschaftssubjekt (Monopolist) besteht. Das Monopol erschwert die Situation. Die Dispersion der A k t e geht zurück. Die A k t e konzentrieren sich auf der einen Seite auf einen einzigen Partner, den Monopolisten. Demgegenüber hat Galbraith darauf hingewiesen, daß durch Verbandsbildung auf der Gegenseite die Monopolprobleme unter Umständen gelöst werden können. Das Entscheidende ist, daß die Kontinuation der A k t e gewahrt bleibt. Sicherlich stellt die Organisation der Arbeitsteilung durch Verbandsbildung zusätzliche Probleme und gerade das Galbraith-Theorem hat gezeigt, daß sie keineswegs leicht zu lösen sind. Immerhin wissen die starken Partner, die sich auf einem organisierten M a r k t gegenüberstehen, daß sie auch künftig aufeinander angewiesen sind. Sie rechnen m i t Wiederholung und insoweit stellen sie sich aufeinander ein. N u n ist der F a l l denkbar, daß sich zwei starke Partner gegenüberstehen, die nur von Zeit zu Zeit Finanzverhandlungen führen. Die Kontinuation ist hier betroffen. Aus dem Fließen eines Stromes w i r d ein ruckartiges Springen i n Intervallen. Das bringt erhebliche Probleme m i t sich. Die Verhandlungsergebnisse sind i m voraus völlig unbestimmt, wie die Theorie des bilateralen Monopols gezeigt hat. Der eine Partner mag beschließen, den anderen völlig zu erledigen. Die Arbeitsteilung zwischen beiden wäre damit bedroht. Immerhin können w i r uns vorstellen, daß eine Kontinuation der A k t e insofern doch noch besteht, als A k t e anderer Art beiden Partnern i n der Zukunft noch ins Haus stehen, möglicherweise keine Finanzverhandlungen mehr, aber doch noch Verhandlungen über andere Gegenstände. Das Wissen, morgen vielleicht schon wieder aufeinander angewiesen zu sein, zwar i n einer völlig anderen Angelegenheit, aber doch wieder i n Verhandlungen, vermag beide Partner dazu zu veranlassen, sich aufeinander einzustellen. Freilich, je schwächer das Prinzip der Kontinuation ist, u m so schwieriger sind die Organisationsbedingungen der Arbeitsteilung. Kongruenz der Ströme Unser arbeitsteiliges Modell vermag uns auf weitere Probleme hinzuweisen. Es zeigt uns, daß die arbeitsteilige Produktion m durch die gegenläufigen Lenkungsströme s gesteuert werden. Dabei muß s so

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

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beschaffen sein, daß es m widerspiegeln kann (vgl. Fig. 4). W i r sprechen vom Erfordernis der Kongruenz. Kongruenz $2/^12: E i n einfaches Beispiel vermag uns das Problem der Kongruenz zu zeigen. Es ist die Geschichte vom armen Mann, der m i t einer Tausend-Pfund-Note seine täglichen Lebensmittel kaufen möchte. Es gelingt i h m nicht. Niemand ist i n der Lage zu wechseln und selbst diejenigen, die es könnten, trauen der Echtheit des noch nie vorher gesehenen großen Geldscheins nicht. A m Ende landet unser beispielhafter Kunde i m Gefängnis. Wo hat er nur das große Geld her? — Hier besteht ein Mißverhältnis. S2 (die Tausend-Pfund-Note) ist zu global i m Vergleich zu m2. Oder umgekehrt, m2 ist i n seiner Stückelung zu sehr von S2 verschieden. Der Verfasser hat i n seiner Schrift „Sozale Kybernetik" die Eigenschaften der Steuerungsscheine s näher untersucht. E i n Ergebnis war, daß die üblicherweise verwendeten Steuerimgsscheine sehr unterschiedlich organisiert sind. Es gibt stark gestückelte und globalere Typen. Schließlich gibt es Scheine, die überhaupt nicht gestückelt werden können. Die Stückelung der Scheine muß i n einem günstigen Verhältnis zur Stückelung der Güter stehen. Denn auch die Güter sind mehr oder weniger global. Schrauben z.B. können tonnenweise gehandelt werden, sie können aber auch einzeln verkauft werden. Das ist dann n u r noch ein sehr kleiner Posten. E i n Ozeandampfer dagegen ist auch einzeln verkauft immer ein großes Teil. Eine Brücke, ein Kanal können immer nur als Ganzes erstellt werden. Denn eine halbe Brücke und ein Viertel der Länge eines Schiffahrtskanals ergeben isoliert kein brauchbares Gut. Kongruenz milm^: Kongruenz der Stückelung der Scheine und der Güter erleichtert die Organisation, aber auch Kongruenz der Güter verschiedener Produktionsstufen desselben Güterstromes. W i r haben i n unserem einfachen Modell m i und eingetragen. Der Güterstrom entwickelt sich dabei aus der Vorproduktion i n die Endproduktionsstufe. W i r sprachen vom Schuster und seinem Leder. Tatsächlich läßt sich Leder i n etwa i n denselben Mengen einkaufen, wie es für Schuhe verwendet wird. Stellen w i r uns aber vor, jemand habe Lust, Golf zu spielen. Er kauft sich Schläger und Bälle, aber am dazugehörigen Golfplatz scheitert er. Denn der Golfplatz ist zu groß, als daß er sich so einfach kaufen ließe. Freilich, unser Spieler verzagt nicht, er gründet einen Golfclub und, indem er die verschiedenen Spielerwünsche kombiniert und die Finanzkraft sammelt, w i r d auch der Golfplatz schließlich angelegt werden können. Die unterschiedliche Globalität des Gutes m i (Golfplatz) und m2 (einzelnes Golfspiel) erschweren die Organisation. Sie machen sie aber nicht unmöglich. Sie erfordern jedoch besondere Vorkehrungen. 5

Herder-Dorneich

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A. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel Kongruenz der Perioden

Beachten w i r nun den Zeitablauf, innerhalb dessen unsere arbeitsteilige Produktion erfolgt. Untersuchen w i r den zeitlichen Aufbau unseres arbeitsteiligen Modells. W i r können das i n einfacher Weise tun, indem w i r neben jeden Strom das Datum anschreiben, zu dem er i n Bewegung war. Dabei w i r d sich herausstellen, daß die gesamten Aktionen i m allgemeinen nicht i n einer Periode abgeschlossen werden. Nehmen w i r an, die Konsumenten handelten nach dem Grundsatz buy now, pay later. Die Güterströme sind dann den Zahlungsströmen jeweils u m einige Perioden voraus. Das bringt Probleme m i t sich. Die Organisation des Kreditkaufes m i t Bankenapparat, Wechsel, Zahlungsbürgschaften usw. sind i n der Lage, diese Probleme zu lösen. A n solche Lösungsmöglichkeiten haben w i r uns gewöhnt. Nehmen w i r aber einen anderen, nicht ganz so häufigen Fall, der jedoch immer wieder i n der jüngsten Geschichte zu beobachten ist: Ein Politiker verspricht i m Wahlkampf, den Krieg zu beenden und die boys heimzubringen. Die Wähler geben i h m Kredit, sie geben heute ihre Stimme ab, was erhalten sie morgen dafür? I m politischen Geschäft gibt es noch keine »Bankbürgschaften*. Das erschwert unter Umständen die Krediteinräumung 1 . Vergleichen w i r den zeitlichen Aufbau der Produktion m i und m,2. Unser Schuster verbraucht das eingekaufte Leder noch i n derselben Periode vollständig. Der Ozeandampfer aber w i r d gebaut und gibt dann erst i n den folgenden Perioden seine Leistungen ab, bis er schließlich verbraucht ist und verschrottet wird. W i r sprechen bei einer Marktkombination, bei der die Kosten früher anfallen als die Erträge, von Investition. Investitionen werfen besondere Probleme auf. Sie müssen vorfinanziert werden und bringen das Risiko m i t sich, ob die Erträge i n der Folgezeit auch wirklich eintreffen. Kongruenz der Aggregate W i r haben die Probleme der Kongruenz der Ströme und der Kongruenz im zeitlichen Aufbau unseres arbeitsteiligen Modells untersucht. Verfolgen w i r diese Probleme noch ein wenig weiter, so führen sie uns auf das Problem der Kongruenz der Aggregate. I n unserem Modell haben w i r einfacherweise angenommen, daß das Aggregat der Konsumenten C, die das Gut m% konsumieren, dasselbe ist, wie das Aggregat derjenigen, die für das Gut m2 bezahlen (S2). Das Aggregat, auf das der Leistungsstrom m% hinführt, deckt sich m i t demjenigen, von dem S2 abfließt. Diese Annahme der Kongruenz der Aggregate vereinfacht, sie ist aber nicht von vornherein zu unterstellen. Bisweilen liegen die Probleme schwieriger. W i r wollen einige nennen:

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

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Konsumenten und Zahler fallen auseinander: Ein Mann kauft einen Rosenstock, pflanzt i h n vor seinem Haus und freut sich an der blühenden Pracht. A l l e anderen, die vorübergehen, haben ebenso ihre Freude daran — kostenlos. — W i r stellen uns vor: Eine Gewerkschaft setzt eine Lohnerhöhung durch. Nutznießer sind die Gewerkschaftsmitglieder. Diese haben ihren Beitrag dazu geleistet. Sie haben Geldbeiträge gezahlt, sie haben an Protestkundgebungen teilgenommen, sie haben sich auf eine D o k t r i n eingeschworen. Nutznießer sind allerdings auch die Nicht-Mitglieder. Denn die Lohnerhöhung gilt für alle. Die Zahl der Konsumenten (c) dieser Leistung ist also größer als die Zahl derjenigen (z), die die Aufwendungen dafür getragen haben, daß die Leistung erzielt werden konnte: c > z. I n unseren Beispielen w i r k t wiederum das Problem der Nichtausschließbarkeit. Den Konsum haben diejenigen ermöglicht, die die Aufwendungen dafür getroffen haben. Vom Konsum sind jedoch viele andere nicht ausgeschlossen und nicht ausschließbar. Produzenten und Kassierer fallen auseinander Wenden w i r uns den Produzenten zu. Auch hier haben w i r m i t dem Fall zu rechnen, daß das Aggregat der Produzenten (P) sich nicht m i t dem Aggregat der Kassierer (K) deckt: P d p K . Nicht alle Produzenten können für ihre Leistungen kassieren oder eine entsprechende Gegenleistung i n Empfang nehmen. Ihre Kosten werden nicht vergütet, sie bleiben extern. Ein Produzent stellt Arbeiter ein. Die Arbeit ist gefährlich. Die Unfallopfer, die nicht mehr arbeitsfähig sind, entläßt er. Die Gemeinde unterstützt die Krüppel. Die Gemeindesteuern aber zahlen alle Gemeindemitglieder. Die Produktion geht insoweit auf Kosten aller. Den Ertrag freilich hat nur einer. W i r wissen, daß man dieses Problem m i t Hilfe einer gesetzlichen Unfallversicherung lösen kann. Gleichzeitig w i r d damit deutlich, daß die Fälle solcher externen Kosten besondere Organisationsprobleme aufwerfen. Schwierige Fälle der Arbeitsteilung W i r haben an einfachen Beispielen und an unserem arbeitsteiligen Modell eine Reihe von Problemen herausgearbeitet, die sich einer arbeitsteiligen Organisation stellen. Unsere Analyse war zunächst abstrakt. W i r haben festgestellt, daß Distinktion und Kontakt, Kontinuation und Dispersion und die Kongruenz der Ströme, der Perioden und der Aggregate spezielle Probleme aufwerfen. W i r wollen i m folgenden eine Reihe von typischen Fällen nennen, wo diese Probleme zutage treten oder wo sie sich gar häufen. 5*

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A. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

Investition: I n der modernen Industriegesellschaft sind große I n vestitionen nicht mehr selten. Auch gigantische Investitionen gehören nachgerade schon zum Normalfall. Da werden Hunderte von Millionen Mark auf Jahrzehnte hinaus festgelegt. Solche großen Investitionen werfen Finanzierungsprobleme und Risikoprobleme auf. Man hat sie bisher m i t der Institution der Aktiengesellschaft zu lösen versucht. Die Aktiengesellschaft ist i n der Lage, die notwendigen Kapitalmassen aufzubringen. Trotzdem scheinen w i r bereits an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gekommen zu sein. W i r brauchen nur zwei Fälle zu nennen: den Bergbau und den Luftverkehr. Hier w i r k t sich das Problem der Inkongruenz der Perioden, aber auch der Inkongruenz der Aggregate aus. Dienstleistungen: Die Dienstleistungen bestimmen mehr und mehr unsere Gesellschaft. Sie werfen spezielle Probleme auf. Dienstleistungen sind außerordentlich inhomogen und werden nach dem uno-actu-Prinzip erstellt. Aus beiden ergeben sich Marktformen m i t hohem Monopolisierungsgrad. Monopolmärkte aber führen — so hat die Marktökonom i k gezeigt — zu einer Unterversorgung bei überhöhten Preisen. Hier ist die Distinktion nicht gegeben. Das uno-actu-Prinzip führt zu erheblichen Problemen, die gegenwärtig allenthalben Versorgungsdefizite hervorrufen. Öffentliche Güter: Die öffentlichen Güter sind durch die Nicht-Ausschließbarkeit gekennzeichnet. Vom Konsum können die Konsumenten nicht unter dem Gesichtspunkt ausgeschlossen werden, ob sie ein direktes Entgelt bezahlt haben oder nicht. Hier fehlt die Kongruenz der Aggregate, die dazu führt, daß Kollektivgüter über den M a r k t nicht produziert werden können. Umweltschutz: Als die Physiokraten ihren Güterkreislauf untersuchten, hatten sie den physischen Weg der Entstehung von Gütern i m Auge. Sie beobachteten den Weg der Materie. Später hat man erkannt, daß nicht eine Zusammenballung von Molekülen allein die Sachgüter ausmacht. Transport, Verformung, modische Aufmachung gehören ebenso zur Güterqualität. I n der Beobachtung dieser nichtmateriellen Faktoren hat man dann wiederum zu sehr die materielle Seite aus den Augen verloren. Man hat nicht beachtet, daß die Güter auch nach ihrem Konsum meist materiell erhalten bleiben oder doch zumindest einen erheblichen materiellen Rest zurücklassen. Dieser materielle Rest muß aber irgendwo bleiben. A u f dem Bauernhof geriet er früher als Speiserest i n den Magen der Schweine und als Mist und Kompost kam er auf die Felder zurück. Der Güterkreislauf wurde auf diese Weise materiell geschlossen. Die jeweiligen Rückstände w u r den wiederum i n die Produktion zurückgeführt. Bei den Industriewaren

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

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gelingt dies nur zu einem geringen Teil. Schrott w i r d unter Umständen wieder verwendet. I m allgemeinen aber bleiben die Konsumrückstände als M ü l l und Abfall am Ort des Konsums zurück. Es bedarf eines besonderen Aufwandes, sie zu beseitigen. Müllabfuhr, Verbrennungsund Kompostierungsanlagen müssen errichtet werden. Das ist teuer. Billiger ist es, den M ü l l auf Nachbars Grund, i n den Fluß zu schütten oder i n den Wald zu kippen. Den Aufwand der endgültigen Beseitigung hat dann ein anderer zu tragen. Auch hier ist die Kongruenz der Aggregate nicht gegeben. Produzenten und Kostenträger fallen auseinander. W i r haben einige typische Fälle genannt, die gegenwärtig Probleme der arbeitsteiligen Organisation sind. Die Probleme verstärken sich bei Problemkombinationen und Problemhäufungen. Hier die gegenwärtig wichtigsten Fälle: öffentliche Dienste: öffentliche Gesundheitsdienste, öffentliche Sicherheitsdienste, öffentliche Bildungsdienste werfen die Probleme der öffentlichen Güter und Dienstleistungen kombiniert auf. Sie können wegen des uno-actu-Prinzips nur schwer rationalisiert werden und wegen des Prinzips der Nicht-Ausschließbarkeit w i l l jeder sie haben, keiner sie bezahlen. Distinktion, Kontakt, Kongruenz sind hier betroffen. Sozialinvestitionen: Krankenhäuser, Schulen, Verkehrseinrichtungen erfordern große Investitionen. Diese zahlen sich unter Umständen erst nach langer Zeit aus. Zunächst fallen nur die Kosten an. Die Erträge kommen zudem schließlich nach dem Prinzip der Nicht-Ausschließbarkeit nicht nur den direkten Zahlern zugute. Hier ist die Kongruenz der Ströme im zeitlichen Ablauf und die Kongruenz der Zahler nicht gegeben. Sozialinvestitionen lassen sich marktökonomisch nicht organisieren. Die Unternehmer können möglicherweise auf marktökonomischem Wege die Finanzmittel aufbringen. Sie können aber, da die Zahl der Zahler geringer ist als die Zahl der Konsumenten und unter Umständen es überhaupt nicht gelingt, Zahler zum Zahlen zu bewegen, die I n vestitionen nicht amortisieren und verzinsen. Die Unternehmer müssen erkennnen, daß ihnen nur die Kosten bleiben, die Erträge später jedoch nicht an sie zurückfließen. Somit müssen sie resignieren und werden den Bedarf nach Sozialinvestitionen, so sehr sie i h n vielleicht selbst verspüren, nicht befriedigen. Sozialinvestitionen lassen sich auch nur schwer politisch organisieren. Das ist eine Nachricht, die mancher nicht gerne hören wird. Denn sie stört sein Ideengleichgewicht, i n welchem der Staat rundum immer alles vermag. Die fehlende Kongruenz der Losgrößen i m Zeitablauf

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A. Die Grundlagen des Wirtschaftens im Wandel

macht dem politischen Prozeß offensichtlich mehr zu schaffen, als man sich bisher vorgestellt hat. Das ist einfach zu erklären. Die Politiker, die i m politischen Wettbewerbsprozeß stehen, sehen sich veranlaßt, alle Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, so einzusetzen, daß sie i m nächsten Wahlkampf gegenüber ihrer Konkurrenz einen Vorsprung erlangen bzw. diesen Vorsprung halten können. Politiker, die die staatlichen Finanzmittel für Sozialinvestitionen verwenden, müssen erkennnen, daß ihnen zunächst nur Kosten zu Buche schlagen. Erträge, die sich politisch auszahlten, gibt es vorläufig nicht. Würden sie dasselbe Geld i n Rentenerhöhungen, Kindergeld, Studienunterstützungen oder ähnlichen Sozial-Konsnm stecken, so fiele der politische Effekt noch i n derselben Periode und nicht erst viel später an. Politisch besonders ertragreich sind also die Maßnahmen, die kurzfristig Ergebnisse erzielen, vor allem solche Maßnahmen, die i m Frühjahr gestartet werden können und i m Herbst zu den anstehenden Wahlen sich auswirken. Fallen Einsatz und Auswirkung zu weit auseinander, so besteht die Gefahr, daß die Maßnahme sich überhaupt aus dem politischen Bewußtsein der Wähler verflüchtigt und als selbstverständlich hingenommen, jedoch keineswegs i m Wahlkampf honoriert wird. Bei Sozialinvestitionen, die heute anfallen und sich erst i n den nächsten oder übernächsten Wahlperioden auszahlen, müssen die Politiker fürchten, daß ihnen der Erfolg nicht gutgeschrieben wird. Ja, darüber hinaus müssen sie fürchten, daß vielleicht i n der Zwischenzeit die Opposition zur Macht kommen w i r d und diese dann die Früchte einheimst, ohne die Aufwendungen dafür gehabt zu haben. Die i n mehrfacher Hinsicht mangelnde Kongruenz macht die Sozialinvestitionen zu einer besonders schwierigen Organisationsaufgabe arbeitsteiliger Produktion. 4. Der Produktionsfaktor Lenkung W i r haben Probleme gesammelt, die sich der arbeitsteiligen Organisation von Versorgungen und von Bedarfen stellen. Diese Probleme machen die Arbeitsteilung nicht unmöglich, aber sie erschweren sie. Arbeitsteilung w i r d hier kompliziert. Es bedarf einer zusätzlichen Organisationsbemühung. Die auftauchenden Probleme der Lenkung sind dabei von einem solchen Gewicht, daß ich nicht anstehe, hier von einem eigenen Kombinationsfaktor Lenkung zu sprechen und i h n neben die Kombinationsfaktoren Technik und Management einzuordnen. Das Wohlstandsproblem können w i r nunmehr folgendermaßen fassen: I n der modernen Wohlstandsgesellschaft haben w i r es vornehmlich m i t sechs Produktionsfaktoren zu t u n (drei davon haben w i r speziell

IV. Der Produktionsfaktor Lenkung

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Kombinationsfaktoren genannt). Der Wohlstandsaspekt zeigt sich darin, daß w i r damit rechnen können, daß fünf Produktionsfaktoren relativ reichlich vorhanden sind. Der Aspekt des Mangels ergibt sich daraus, daß ein Produktionsfaktor sich i m Minimum befindet: Der Produktionsfaktor (speziell: Kombinationsfaktor) Lenkung. Das „Elend" der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft führt sich auf das Lenkungsdefizit zurück. Lenkung befindet sich i m Defizit, das bedeutet nicht, daß es überhaupt keine Lenkung gäbe, w i r verfügen nur über relativ zu wenig Lenkung. Z u wenig i m Verhältnis zu den komplizierten Lenkungsaufgaben, denen w i r uns gegenübersehen. W i r haben diese Aufgaben oben beschrieben. Welche Lenkungsorganisation gibt es gegenwärtig, u m diese komplizierten Lenkungsaufgaben zu bewältigen? W i r wollen uns i m Abschnitt „Das Konzept der Vielfachsteuerung" einen Überblick über die Komplexität der Lenkungssysteme verschaffen. Dieser Überblick zeigt, daß die bestehenden Lenkungssysteme komplizierter sind, als es uns vielleicht bewußt ist (vgl. „Wirtschaftssysteme"). Ihr konsequenter Ausbau — davon ist der Verfasser überzeugt wird dahin führen können, das Lenkungsdefizit zu beseitigen.



B. V o n der Ordnungstheorie zur Systemtheorie I. Ansatzpunkte einer neuen Strategie des Denkens Es kann hier nicht darum gehen, Definitives i m Sinne von A b schließendem zu sagen, sondern es geht darum, einen Ansatzpunkt zu finden, auszufalten, zu erweitern. Unser Ansatzpunkt ist ein doppelter, also sozusagen ein Doppelpunkt: W i r gehen vom K e r n wirtschaftswissenschaftlicher und soziologischer Denkweisen aus. Die Wirtschaftswissenschaft ist ebenso wie die soziologische Theorie stark von der strukturell-funktionalen Betrachtungsweise geprägt. Allerdings gibt es i m Sprachgebrauch zwischen Wirtschaftswissenschaft und Soziologie erhebliche Unterschiede. Die Wirtschaftswissenschaftler nennen ihre funktionale Analyse üblicherweise Gleichgewichtstheorie. Ihre strukturelle Analyse hieß bisher Ordnungstheorie. Beide theoretischen Sektoren haben eine sehr unterschiedliche Entwicklung hinter sich. Während nämlich die Gleichgewichtstheorie i n einem mikro- und makroökonomischen Zweig sehr weit ausgebaut wurde, ist die Ordnungstheorie (strukturelle Analyse) stark vernachlässigt worden. Seit der Ordo-Konzeption der Neoliberalen ist auf dem Gebiet der strukturellen Analyse theoretisch nicht mehr viel geschehen. Mehr praktisch ausgerichtete Wissenschaftler haben zwar die Theorie der freien Verkehrswirtschaft (Eucken) zur Theorie der Sozialen Marktwirtschaft (Müller-Armack) und schließlich zur aufgeklärten sozialen Marktwirtschaft (Schiller) weiterentwickelt. Ein i n sich schlüssiges theoretisches Gebäude ist aber aus diesen praktischen Ansätzen nicht entstanden. So ist die strukturelle Theorie inzwischen nahezu verkümmert. Sehr bezeichnend dafür ist zum Beispiel das Lehrbuch von Erich Schneider 87 (es hat eine Generation junger Nationalökonomen geprägt), das i n einer Einleitung auf wenigen Seiten etwas „Ordnungstheorie" bringt und dann über drei Bände hinweg Gleichgewichtstheorie abhandelt. I m besten Falle ist die strukturelle Analyse auf wirtschaftspolitische Normenargumente und auf statistisch-soziologische Beschreibung von Wirtschaftszweigen und Wirtschaftsstrukturen reduziert worden. Wie 87

1963.

Vgl. Schneider,

Erich: Einführung i n die Wirtschaftstheorie,

Tübingen

I. Ansatzpunkte einer neuen Strategie des Denkens

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aber soll Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte betrieben werden, wenn keine Theorie zugrunde gelegt werden kann? Daß die strukturelle Theorie (bislang Ordnungstheorie) gerade heute weitergeführt werden sollte, erscheint außerordentlich dringlich, wenn man feststellt, daß die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft (bislang praktizierte Ordnungstheorie) vollkommen stagniert. Die Tatsache, daß sich fast alle Politiker auf die Soziale Marktwirtschaft berufen, kann nämlich m i t großer Sicherheit dahingehend ausgelegt werden, daß sie zur Leerformel geworden ist. Die strukturelle Theorie der Ökonomik (bislang Ordnungstheorie) erhält nun allerdings sofort einen neuen Aspekt, sobald man sie i n den wissenschaftlichen Fortschritt der soziologischen Theorie (wieder) integriert. Hier hat sich nämlich die strukturelle Theorie (etwa nach Parsons und Mertön) zur Systemtheorie und ihrem kybernetischen Ansatz weiterentwickelt. Die Systemtheorie vermag auch für die Ökonomik wichtige Ansätze zu liefern, von denen aus es möglich erscheint, eine neue Ordnungstheorie zu entwerfen. Worin besteht das Neue an neuen Ideen? Viele glauben, neu sei das bisher nicht Dagewesene . Neu sei das völlig Neue. Neu kann uns aber auch das Alte erscheinen, sobald es nur gelingt, es aus neuer Perspektive zu sehen. Das Neue i n der Wirtschaftswissenschaft war vornehmlich von dieser zweiten A r t . Denn w o r i n bestand z. B. das Neue am Keynessdien System? Hat es die Neoklassik völlig umgestoßen? Keineswegs. Keynes hat das neoklassische Denksystem lediglich erweitert. Oder umgekehrt: Die Neoklassik erwies sich als ein Sonderfall i m erweiterten Keynes sehen Denksystem: Die Neoklassik analysiert die Vollbeschäftigung. Keynes hat gezeigt, daß Vollbeschäftigung indes nur ein Sonderfall ist; er hat zusätzlich die Unterbeschäftigung m i t einbezogen. Heute sehen w i r , daß auch Keynes wiederum nur einen Sonderfall (Unterbeschäftigung) behandelt hat. Neoklassik (Vollbeschäftigung) und Keynes (Unterbeschäftigung) stellen somit beide nur Sonderfälle i n einem noch allgemeineren Denksystem (das auch Überbeschäftigung und Wachstum einbezieht) dar. Die geistige Revolution besteht hier also darin, das Bisherige i n einem umfassenderen Aspekt zu sehen. Damit w i r d dieses Bisherige nicht obsolet, es erweist sich lediglich als Sonderfall. Es w i r d als Sonderfall relativiert, aber es w i r d nicht völlig nutzlos. Was bisher für die Gleichgewichtstheorie worden ist, muß für die Ordnungstheorie gangspunkt ist für uns die Ordnungstheorie

schon mehrfach geleistet nachgeholt werden. Ausder Neoklassik. Sie wurde

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

durch den Neoliberalismus bereitgestellt. I m neoliberalen Denksystem gab es nur ein einziges Lenkungssystem: die Marktwirschaft. Die zentrale Verwaltung w i r d zwar als weiteres Lenkungssystem aufgeführt, erscheint aber einfach als (negativer) Antipode 3 8 . Die neoliberale Ordnungstheorie war somit äußerlich dualistisch angelegt, i m Effekt aber eher monistisch (d. h. beruhte auf einem einzigen Lenkungssystem). Eine Systemtheorie, die sich so auf ein einziges Lenkungssystem konzentriert, befriedigt uns heute i n vielem nicht mehr. Viele fordern deshalb, sie völlig zu eliminieren. Ich werde i m folgenden zeigen, daß es m i t Hilfe der modernen Systemtheorie möglich ist, einen neuen Weg zu gehen. Marktwirtschaftliche Ordnungstheorie erscheint jetzt als ein Spezialfall. Die neoklassische Ordnungstheorie (Neoliberalismus) w i r d damit i n derselben Weise relativiert wie die neoklassische MikroÖkonomik durch die Keynessche MakroÖkonomik. Und zwar zeigt die neoklassische (neoliberale) Ordnungstheorie den Sonderfall, daß Lenkungssysteme sich ausschließlich aus Märkten aufbauen. Ein wahrhaft extremer Sonderfall! Vor allem dann, wenn w i r uns vorstellen, daß die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten von Lenkungssystemen praktisch unendlich groß sein kann. Neoklassische (neoliberale) Ordnungstheorie erweist sich somit als ein Sonderfall i m Pluralismus der Lenkungssysteme. Damit werden die Erkenntnisse der Neoklassik (des Neoliberalismus) auf diesem Gebiet aber nicht grundsätzlich obsolet, sie relativieren sich lediglich. Sie können — relativiert und analog — durchaus weiterhin fruchtbar sein und uns Anregungen geben.

38

Vgl. dazu den folgenden Abschnitt „ V o m Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen — Mischformen i m Z e n t r u m der Problematik."

I I . Die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft — An der Schwelle einer neuen Phase der Weiterentwicklung* Im Rückblick: Drei Entwicklungsphasen Wenn man heute sich daran begibt, die Grundlagen der Ordnungstheorie neu zu überdenken, muß man sich vor allem für zwei Gedanken offen halten: Die Ordnungslehre unserer Wirtschaftsgesellschaft, die unter dem Namen der Sozialen Marktwirtschaft so weite Verbreitung und Anerkennung gefunden hat, ist tatsächlich nie eine i n sich geschlossene Lehre gewesen, sondern immer die A n t w o r t auf die Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit. W i r haben es m i t einer Strömung von sehr vielfältigen Ideen zu tun, die uns auch gegenwärtig wieder vor eine neue Herausforderung treibt. U n d zweitens: Neue Antworten liegen schon seit längerem bereit. Freilich, sie müssen aufgeriffen werden. Wenn w i r zurückblicken, können w i r i n der Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft deutlich mindestens drei wichtige Entwicklungsphasen erkennen: Die Phase Euchen — die Phase Erhard / Müller-Armack — die Phase Schiller. Wie geologische Schichten überlagern sie sich. Bezeichnen w i r sie nach ihren ausgeprägtesten Vertretern! Die Phase Eucken: Sie w a r eine Vorbereitungsphase; die Ideen w u r den grundgelegt — noöh nicht verwirklicht. W i r datieren sie von 1936 (Beginn der nationalsozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft) bis 1948 (Währungsreform). W i r benennen sie nach Walter Eucken als dem Wissenschaftler, der den Gedanken am eindringlichsten ausgesprochen hat: Freiheit stellt sich nicht von selbst ein, sie bedarf der ständigen Absicherung durch künstliche und kunstvolle soziale Ordnung. Diese Ordnung ist die Marktwirtschaft. Die Phase Erhard / Müller-Armack: Was bisher Lehre war, wurde n u n Wirklichkeit. 1948 wurde die kriegsbedingte Zentralverwaltungswirtschaft durch die Währungsreform beendet. Der neuen Konzeption gab Müller-Armack den Namen „Soziale Marktwirtschaft"; Erhard setzte sie als Wirtschaftsminister durch: Die Märkte leisten Wunder * V o m A u t o r überarbeitete Fassung des Sonderdrucks „Die Z u k u n f t der sozialen Marktwirtschaft", herausgegeben v o m Arbeitgeberverband der Metallindustrie i m Regierungsbezirk K ö l n e. V., K ö l n 1973.

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

(das Wirtschaftswunder); aber sie vermögen nicht alles zu leisten. I n einzelnen abgeschotteten Bereichen sind deshalb mehr verwaltungswirtschaftliche Organisationsformen (vorübergehend) aus sozialen Gründen einzurichten, so z.B. i n der sozialen Sicherung, i m sozialen Wohnungsbau, i m Agrarsektor und vielen anderen Bereichen. Die Phase fand m i t dem Sturz Erhards 1966 ihr Ende. Die Phase Schiller: Die nun verwirklichte Idee war etabliert. Sie war erfolgreich gewesen, hatte Anerkennung gefunden, war i n aller Munde. K a r l Schiller, Sozialdemokrat und Wirtschaftswissenschaftler, führte die Entwicklung auf eine neue Stufe. Er stand dem Planen etwas flexibler gegenüber: „Soviel M a r k t wie möglich, soviel Plan wie nötig." Das Neue aber auf der weiteren Entwicklungsstufe war die Globalsteuerung gemäß den Keynesschen Lehren: Aufgabe des Staates ist es, i n den Wirtschaftskreislauf einzugreifen, u m die K o n j u n k t u r zu steuern; denn das Gleichgewicht der sich selbst überlassenen Märkte stellt sich nicht automatisch auf Vollbeschäftigung ein. Es kann sich vielmehr bei Über- oder Unterbeschäftigung einpendeln. Globalsteuerung soll Konj u n k t u r und Wachstum sichern. Diese Phase ging i m Sommer 1972 zu Ende. I n diesen drei Phasen war die Lehre von der Sozialen M a r k t w i r t schaft nie gleich geblieben. Sie war von Phase zu Phase entwickelt und verändert worden. Und sie war dabei durch die Anforderungen ihrer Zeit jeweils stark geprägt. Was hat sich heute gegenüber damals verändert? Und wo liegen die Herausforderungen in der Gegenwart? Gehen w i r sie illusionslos durch. Was hat sich verändert? Die Adressaten Geändert haben sich die Adressaten, an die sich die Lehre von der Wirtschaftsordnung wendet. Euchen hat seine Ideen während des K r i e ges i n wissenschaftlichen Outsider-Zirkeln entwickelt. Man stand unter der Bedrohung des totalen Staates, man erlebte die total auf die Staatsziele ausgerichtete Wirtschaft und man fragte sich: Was kommt danach? — Die Befreiung vom Dirigismus stand i m Vordergrund. Der Wert der Freiheit wurde unermeßlich hoch empfunden, eben w e i l man sie entbehrte. I n der ersten Phase der Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft (Phase Erhard / Müller-Armack) wurde die Befreiung Schritt für Schritt von 1945 an durchgesetzt. Das neue Erlebnis w a r das Wiederaufbauwunder nach dem Zusammenbruch. Der Ansporn, sich aus Trümmern und Hunger herauszuarbeiten, war unaufhaltsam. Der Stolz, wirtschaftlich etwas erreicht zu haben, kompensierte die nationale und politische Ohnmacht.

I . Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft I n der zweiten Phase der Entwicklung (Phase Schiller) wurde eine Generation zunehmend geistig bestimmend, die weder die Not der Kriegszeit noch den Elan des Wiederaufbaus selbst miterlebt hatte. I m Wirtschaftswunder aufgewachsen, kennt diese Generation jene persönlichkeitsprägenden Erlebnisse nur noch vom Hören-Sagen. Der Preis der Freiheit und der Preis der Eigenleistung sind nicht erlebt, sondern nur erzählt. Die Errungenschaften sind Selbstverständlichkeiten geworden. Es ist nun aber eine Besonderheit gerade der dauerhaften Güter, insbesondere der Infrastrukturen, daß i h r Wert nicht aus ihrem Vorhandensein, sondern erst aus ihrem Fehlen erkannt wird. Die Segnungen der Elektrizität erfassen w i r erst, wenn der Strom versagt — den Wert der Straße erst, wenn sie gesperrt w i r d — der Sicherheit, wenn geschossen w i r d — der Freiheit, wenn sie reglementiert wird. Die Soziale Marktwirtschaft steht heute Menschen gegenüber, die selbst aus i h r kommen. Der Erfahrungsbereich heute ist durch die Soziale Marktwirtschaft selbst geprägt. Besonders deutlich w i r d diese Veränderung an einem Vergleich der Einstellung zum Leistungsprinzip i n den drei Phasen. — I n der Vorbereitungsphase ist das Leistungsprinzip Utopie, nicht verwirklichtes Ideal. Das Führerprinzip herrscht, das Prinzip der Parteilichkeit. Daß Leistung entscheiden soll, ist ein Versprechen, an das man nur allzugern glauben möchte. — I n der ersten Verwirklichungsphase w i r d das Versprechen realisiert. Leistung w i r d jetzt tatsächlich belohnt. Leistungsprinzip ist A n sporn. Der Erfolg der anderen reizt dazu an, den eigenen Erfolg zu versuchen. Den Schwachen und Erfolglosen greift man unter die Arme. Auch das Erlebnis, sich sozial verhalten zu können, spornt an. — M i t zunehmendem Ausbau des Sozialstaates w i r d der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Leistung immer weniger einsehbar. Wohlstand gibt es jetzt auch ohne Leistung. I m Gegenteil, den Wohlstand gnießen kann vor allem der, der sich der Leistungsverpflichtung entzieht und sich Freiräume erkämpft. Die starke Belastung der Leistungsstarken zugunsten der Leistungsschwachen — gerade das Soziale i n der Sozialen Marktwirtschaft — macht es für viele erstrebenswert, zu den bevorzugten Leistungsschwachen zu gehören und die Positionen der Belasteten zu vermeiden. Das ist an sich ein durchaus rationales Verhalten, und w i r sollten es als solches ebenso nüchtern beurteilen. Dem Bewußtsein dieser neuen Adressaten muß sich die Lehre von der Wirtschaftsordnung heute anpassen. Sie kann nicht mehr — wie vor-

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

dem — Ideale wie Freiheit, Persönlichkeitswert des Anderen, Gleichheit als gelebt voraussetzen und sogleich zu Problemlösungen schreiten. Sie muß diese Ideale selbst deutlich machen. Sie muß zeigen, welche Ideale Soziale Marktwirtschaft verfolgt und wie sie sie i n jeder Einzelmaßnahme zu erreichen sucht. Sie muß zeigen, wie Kompromisse, die sie eingeht, nicht Abstriche an Idealen sind, sondern dieser Weg, immer wieder zwischen Interessen zu vermitteln, selbst ein Ideal ist. Neue Adressaten in Schule und Weiterbildung Die Adressaten haben sich nicht nur geändert, es sind auch völlig neue Adressaten hinzugetreten. Während i n den früheren Phasen w i r t schaftliche und gesellschaftliche Fragen für die meisten nur Spezialfragen waren, die man lieber „ohne mich" entscheiden ließ, ist heute das Interesse an diesen Fragen i n breiten Schichten gewachsen. Durch die Ausweitung des gesellschaftspolitischen Unterrichts i n den Schulen werden sie bereits an junge Jahrgänge herangetragen. Es beschäftigen sich Menschen m i t wirtschaftlichen Problemen, die selbst nicht, noch nicht oder sogar nie m i t oder i n der Wirtschaft beschäftigt sind. W i r t schaft und Gesellschaft werden hier zum Gegenstand eines Allgemeininteresses, sie werden zum Bildungsgut. Dieses Interesse an Wirtschaft und Gesellschaft darf jedoch i n keiner Weise m i t dem Interesse der Wiederaufbaugeneration gleichgesetzt werden. Es ist distanzierter, weniger handlungsbetont, also „unpraktischer", mehr aufs Grundsätzliche gerichtet. Das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und neuen Adressaten w i r d vielleicht am deutlichsten, wenn w i r die Einstellung eines Studenten der Betriebswirtschaftslehre m i t der eines Gymnasiasten vergleichen. Beide, so nehmen w i r einmal an, beschäftigen sich m i t der Lehre von der Wirtschaftsordnung. Für den angehenden Betriebswirt handelt es sich hier u m Berufswissen; er w i r d das auswählen, was berufsrelevant ist und es sich büffelnd aneignen. Gaukelnde Utopie ist für i h n Zeitverschwendung, die Lehre ist für i h n u m so anziehender je wirklichkeitsnäher sie ist. Anders der Gymnasiast: I h n interessiert, was die Welt i m Innersten zusammenhält; wirklichkeitsnahes Fachwissen allerdings ist für i h n lästige Büffelei, Utopie ein interessanter Diskussionsstoff, der die Unterrichtszeit vorbeigehen läßt. Kurz, die Lehre ist für i h n u m so anziehender, je anregender oder sagen w i r ruhig unterhaltsamer sie ist. Wirklichkeitsnähe ist irrelevant. Der neuen Situation müssen neue Antworten entsprechen. Dem Wandel der Adressaten entspricht die Entpragmatisierung; den neuen Adressaten entspricht die Hervorhebung des Bildungswertes der

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Lehre von der Wirtschaftsordnung. Beides läuft auf dasselbe hinaus: Betonung der Gesamtordnung von Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber der Lösung von akuten und speziellen, wenn auch brennenden wirtschaftspolitischen Tagesproblemen. Abschluß des industriellen Wiederaufbaus

Abgeschlossen ist der industrielle Aufbau. Auch hier unterscheiden sich die drei Phasen deutlich voneinander. Die Phase Euchen war gekennzeichnet durch Kriegsmaschinerie und Lebensmittelknappheit. Hier stand das Versorgungsproblem i m Vordergrund. Die Phase Erhard / Müller-Armach war dann m i t dem industriellen Wiederaufbau beschäftigt. Er brachte eine Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern und Rationalisierungsreserven, die ein unnachahmliches Wachst u m ermöglichten. Konjunkturschwächen waren i n dieser Phase nicht sonderlich zu fürchten. Erst i n der Phase Schiller brach das K o n j u n k turproblem auf, nachdem Erhard i n einer ersten fühlbaren Depression gestürzt worden war. Verfolgen w i r diese Linie des Wiederaufbaus, so w i r d deutlich, weshalb bei Erhard Optimismus als K o n j u n k t u r steuerungsmittel noch ausreichte, während Schiller sich u m Globalsteuerung kümmern mußte. Für Erhard waren die Probleme mikroökonomisch, für Schiller makroökonomisch geworden. V o n der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft

Noch ein anderes w i r d deutlich. Beobachten w i r die Wirtschaftsentwicklung der drei Sektoren nach Fourastie: Die Phase Euchen, direkt nach Kriegsende, war durch die Versorgungsprobleme auf dem primären Sektor (Landwirtschaft) gekennzeichnet. Oder dasselbe weniger anspruchsvoll ausgedrückt: Das erste war die Freßwelle. Die Phase Erhard war durch den sekundären Sektor geprägt (Industrie). Die rasche Expansion des industriellen Sektors wurde als Wirtschaftswunder berühmt. Rasch trat die Landwirtschaft zurück und mußte bald subventioniert werden. I n dieser Phase war Wirtschaftspolitik m i t Industriepolitik nahezu identisch. Die Wirtschaftswissenschaft m i t ihrem ausgebildeten industrieökonomischen Apparat lag vorn. Alles stand i m Zeichen der Produktion. Aus dem rasch wachsenden Sozialprodukt konnte der Sozialaufwand — später als „Sozialklimbim" apostrophiert — bereitgestellt werden. Auch heute steigt die industrielle Produktion weiterhin an, aber sie wächst i n absoluten Werten weniger rasch, und ihr A n t e i l am Gesamtsozialprodukt beginnt zu stagnieren. Der tertiäre Sektor (Dienstleistungen) nimmt einen wachsenden A n t e i l ein. Während die Nachfrage nach Gütern des primären Sektors bereits seit längerer Zeit kaum mehr

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

wächst (keiner kann mehr essen, als sein Magen faßt; auch dem besseren und teureren Essen sind Grenzen gesetzt), treten erste Sättigungserscheinungen auch i m sekundären Bereich auf (jeger kann höchstens i n zwei Fernseher gleichzeitig sehen und nur i n einem Auto gleichzeitig sitzen). Dagegen ist die Nachfrage nach Diensten augenblicklich noch schier unerschöpflich und weitet sich ständig mehr aus. Bildimgsdienste, Gesundheitsdienste weisen starke Versorgungslücken auf. Die Versorgungsprobleme haben sich also i m Phasenverlauf verschoben. I n der Phase Euchen lagen sie für alle spürbar i m primären Sektor (Landwirtschaft), i n der folgenden Phase i m sekundären Sektor (Industrie) und verlagern sich seither deutlich i n den tertiären Sektor. Die Versorgungsprobleme haben sich also aus dem sekundären Sekt u r (Industrie) i n den tertiären Sektor (Dienstleistungen) verschoben. Die Lehre von der Wirtschaftsordnung muß sich deshalb vordringlich m i t dem teritären Sektor beschäftigen. Das fällt ihr nicht leicht; denn die Wirtschaftswissenschaft hat sich i m Verlaufe ihrer Entwicklung mehr und mehr auf die Ausbildimg des industriellen Nachwuchses verlegt und ist fast ganz zu einer Industrieökonomik geworden. Das mag ihr niemand verdenken; der Bedarf nach wissenschaftlich ausgebildetem Nachwuchs war i n der Industrie, gerade durch den Wiederaufbau bedingt, sicher groß und auch vordringlich. Für eine Fortentwicklung der Wirtschaftsordnimg heute aber müssen w i r uns darüber i m klaren sein, daß eine Industrieökonomik höchstens noch die Hälfte unseres Wirtschaftens erfaßt und dabei gerade jenen Teil außer acht läßt, aus dem unsere gegenwärtigen Versorgungsprobleme entspringen. Die Weiterentwicklung der Wirtschaftsordnung muß neu formuliert werden: Sie bedarf einer Dienstleistungsökonomik. Daß die Dienstleistungen Probleme stellen, die von der Industrie i n entscheidenden Punkten und auch fundamental abweichen, setzt sich nur allmählich i m Bewußtsein von Praktikern und Theoretikern durch. Man war zu lange gewohnt, von „Gütern und Diensten" i n einem Atemzug zu reden, und hat die Besonderheiten nur punktuell i n den einzelnen Dienstleistungsbereichen bisher vorwärtsgetrieben, so insbesondere i m Banken-, Versicherungs- und Verkehrswesen. So waren einzelne, z. T. sehr hoch entwickelte, jedoch wenig untereinander verbundene Dienstleistungsökonomiken entstanden. Wenn w i r demgegenüber auf die Grundproblematik eingehen, fällt sofort auf, daß die Dienstleistungen fast durchweg durch Nicht-Markt-Systeme oder Nicht-Nur-Marktsysteme zur Verfügung gestellt werden. W i r haben es also hier m i t einer Ökonomik zu tun, die ihre Versorgungsprobleme nicht durch Märkte löst, sondern i n eigenen Versorgungssystemen (in denen wieder u m die Verbände eine große Holle spielen), die vielfach verzweigt und

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komplex organisiert sind. Diese Versorgungsformen gilt es weiterzuentwickeln, sollen die vielfach beklagten Defizite an Dienstleistungen (Bildungsdefizit, Krankenschwesternmangel, Ärztemangel usw.) behoben werden. Die postindustrielle Gesellschaft w i r d zur Dienstleistungsgesellschaft. Für die Wirtschaftsordnung entstehen zusätzlich Probleme, da für die Dienstleistungen gerade das marktwirtschaftliche Element erheblich zurücktritt. Von der Marktökonomik zur Nichtmarktökonomik Die bisherige Vernachlässigung des tertiären Sektors i m m a r k t w i r t schaftlichen Denken hat noch einen weiteren tiefliegenden Grund. Die moderne Wirtschaftswissenschaft hat sich nicht nur zur Industrieökonomik, sondern auch zur Marktökonomik spezialisiert. I n den M i t t e l punkt ihrer Analysen sind seit den Klassikern der M a r k t und seine Gesetzmäßigkeiten getreten. Die Marktwirtschaft bildete das Zentrum der Theorie. Natürlich sah man, daß auch nicht-marktwirtschaftliche Entscheidungen wichtig und zunehmend bedeutsam waren. Dies konnte jedoch die Gravitation der Theorie u m die Marktwirtschaft nicht stören. Die nicht-marktwirtschaftlichen Probleme wurden nur am Rande einbezogen, man wies ihnen die Rolle von Ausnahmen oder von Korrekturmaßnahmen zu. E i n Rückblick auf die drei Phasen der Sozialen Marktwirtschaft zeigt, wie sich das marktökonomische Denken nur langsam auflockerte. Ausgesprochen monozentrisch war das Weltbild der Phase Eucken. Die Ordnungsideen waren klar auf die Marktwirtschaft konzentriert. Der Staat war zwar gegenüber dem Alt-Liberalismus deutlich aus seiner Nachtwächterrolle herausgehoben. Sein Verhalten wurde jedoch nicht demselben analytischen Verfahren unterworfen, m i t dem man an die Untersuchung des Marktes heranging. Man begnügte sich, Wünsche und Forderungen über ein bestmögliches Verhalten des Staates auszusprechen. Politik wurde nicht analytisch, sondern normativ behandelt. Die Lehre von der Marktwirtschaft wurde so deutlich eine Sammlung von Feststellungen, was die Wirtschaft anging, und von Forderungen, was den Staat anging. I n der Phase Erhard / Müller-Armack siedelten sich u m das Zentrum der Marktwirtschaft viele kleine nichtmarktwirtschaftlich geordnete Satelliten an. Die marktwirtschaftliche Lehre wurde angereichert durch Tarifpartner, Verbände, Sozialversicherung, staatliche Sozialpolitik und vieles andere. Die Marktwirtschaft wurde durch diese Anbauten abgestützt, korrigiert; es wurde umverteilt und verbessert. Aber die M a r k t wirtschaft blieb all dem gegenüber primär. Die soziale Anreicherung 6

Herder-Dorneich

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wurde als sekundär aufgefaßt, also als etwas, was nachträglich hinzukam und hinzukommen mußte. Das Soziale i n der Sozialen M a r k t w i r t schaft wurde i n einer Vielzahl solcher Sekundärmaßnahmen empfunden. I n der Phase Schiller löste sich das monozentrische Weltbild auf. Ein zweites Zentrum wurde einbezogen: der Staat. Neben der m a r k t w i r t schaftlichen Einzelsteuerung wurde mindestens dasselbe Gewicht der Globalsteuerung zugemessen. Man begann, die vielen nicht-marktwirtschaftlich geordneten Satelliten zu sammeln und i n den Griff zu bekommen. Die Verbände wurden i n der Konzertierten A k t i o n gesammelt. Auch die ökonomischen A k t i v i t ä t e n von Kommunen, Ländern, Sozialeinrichtungen sollten gesteuert werden. Das politische Element wurde damit gewissermaßen gleichberechtigt i n das ökonomische Weltb i l d aufgenommen. Freilich, eine politische Ökonomik entwickelte sich daraus noch nicht. Die Gewichte wurden i m praktischen Denken stark verlagert, i n der Theorie jedoch nur wenig. Immerhin wurde mehr und mehr auch hier deutlich, daß die Marktökonomik durch eine NichtMarkt-Ökonomik ergänzt werden müßte. Wenn w i r uns heute, am Beginn einer neuen Phase der Theorie der Wirtschaftsordnung bewußt werden, so müssen w i r deutlich sehen, daß das zunehmende Gewicht des tertiären Sektors und des staatlichen ökonomischen Bereichs theoretisch verarbeitet werden muß. Zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft muß die Marktökonomik u m eine Nicht-Marktökonomik verbreitert werden. Das eine kann nicht länger mehr als Anhängsel zum anderen betrachtet werden. W i r müssen der Nicht-Marktökonomik mindestens dasselbe Gewicht wie der M a r k t ökonomik zumessen. Das bedeutet eine Erweiterung — oder eine Rückkehr — zur politischen Ökonomik (Erweiterung, wenn w i r auf das neoklassische Weltbild blicken — Rückkehr, wenn w i r uns auf die Klassiker beziehen). Dualismus Marktwirtschaft/Zentralverwaltungswirtschaft

Der Einbezug des Politischen i n die Ökonomik fällt gerade den Vertretern der Lehre der Sozialen Marktwirtschaft nicht leicht. I n dieser Lehre war das Politische nämlich bereits i m Zentrum der Theorie abgeblockt. Die Idee der Marktwirtschaft war ja aus dem Kontrast zur Zentralverwaltungswirtschaft entwickelt worden. Die ökonomische A k t i v i t ä t des Staates wurde grundsätzlich als Zentralverwaltung betrachtet. Zentralverwaltung aber bildete gegen Marktwirtschaft nichts anderes als das negative B i l d dessen, was funktionierte. Die Beschäftigung m i t der Zentralverwaltungswirtschaft erbrachte also vor allem negative Lehren — wie man es nicht machen sollte.

II. Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft

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Für die Phase Euchen war die Konzeption der Zentralverwaltungswirtschaft absolut notwendig. Damals war die Zentralverwaltungswirtschaft ja bitterste Wirklichkeit. I h r galt es, ein Gegenbild vorzusetzen. Sie galt es zu überwinden. Ihre Beseitigung war ein so kühner Gedanke, daß sie für viele unmöglich zu verwirklichen schien. Aber sie gelang — dank des positiven Leitbildes der Marktwirtschaft. Damals wurde die deutsche Zentralverwaltungswirtschaft überwunden. I n der Phase Erhard / Müller-Armach war dieses Negativbild nur noch Geschichte; noch allerdings waren die Zentralverwaltungswirtschaften der Ostblockstaaten drohende Wirklichkeit. A n ihnen galt es, sich zu messen. Sie galt es zu überrunden. Zuerst i m Kalten Krieg, später i m beginnenden Wettbewerb der Koexistenz. Zunehmend lockerten dabei die östlichen Staaten die Rigorosität ihrer Zentralverwaltung. Das Erlebnis, das dem Kontrast Marktwirtschaft-Zentralverwaltungswirtschaft zugrunde lag, verblaßte allmählich i m Inland wie i m Ausland. A m Ende der Phase Schiller ist es kaum noch i m Bewußtsein. Der geistige Gegner i n der Diskussion u m die Wirtschaftsordnung ist heute nicht mehr die Zentralverwaltungswirtschaft. Natürlich w i r d es noch mancherlei Geplänkel m i t der Zentralverwaltungswirtschaft geben. Aber diese Auseinandersetzung ist nicht mehr so zentral, daß man auf diesem Kontrast die Gesamttheorie aufbauen sollte und könnte. A n diesem Ergebnis ändert sich übrigens nichts, wenn man m i t anderen Begriffen argumentiert; viele ziehen es ja vor, dieselbe Problematik m i t dem Gegensatzpaar Kapitalismus-Kommunismus aufzurollen, wobei sie dann den Kapitalismus zum Negativkontrast machen. Sie bieten damit eine stärker historisch ausgerichtete Denkweise an, deren Begriffsbildung allerdings entsprechend unpräzise ist. Das bringt für eine exakte Problemlösung keine Vorteile. Das alte Kontrastdenken w i r d zusehends unergiebig. Damit allerdings auch die Selbstdarstellung vor dem konstrastierenden Hintergrund. Das ist eine schlechte Nachricht für alle diejenigen, die noch immer die Soziale Marktwirtschaft von ihrer Leistung aus 1948 her rechtfertigen wollen. Die vielfach hervorgehobenen Beweise, Soziale M a r k t w i r t schaft sei der Zentralverwaltungswirtschaft überlegen, sind heute nur noch historisch interessant, haben aber i h r geistiges Gewicht verloren. Ein neuer Gegner: Demokratisierungsideologie E i n neuer Gegner ist aufgetreten: die Lehre von der Demokratisierung. Demokratisierung meint, daß eine soziale Entscheidung vermittels vielfacher direkter Wahlen jeder anderen Entscheidungsfindung überlegen sei. Demokratisiert, das heißt durch neue Prozesse gelenkt, 6*

B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie sollen alle Lebensbereiche werden: Universitäten, Schulen, Kirchen, aber auch der Staat und die Wirtschaft. Der Unterschied zwischen Demokratie und Demokratisierung liegt darin, daß Demokratie auf einem zweistufigen Wahlensystem m i t periodischer Entscheidung (schlagwortartig: indirekte Wahl vermittels Parlamenten) aufbaut und dieses Wahlensystem i m politischen Bereich schon weitgehend verwirklicht ist, während Demokratisierung ein Netz von permanent wählenden Kleingruppen schaffen möchte (schlagwortartig: Rätesystem) und das Funktionieren dieses Wahlensystems erst i n der Zukunft erwartet. Immerhin w i r d schon heute von den Demokratisierungsvertretern behauptet, Demokratisierung sei effizienter als Marktwirtschaft. Konkret w i r d diese Behauptung i n der Forderung nach Mitbestimmung durch Wählende und Gewählte auf allen Gebieten vorgetragen und m i t der Faszination, die unbewiesene Glaubenssätze nun einmal haben, auch Stück u m Stück verwirklicht. Der Einbezug der Politischen Ökonomik Die Auseinandersetzung zwischen Marktwirtschaft und ihrem neuen Gegner Demokratisierung ist ungleich schwieriger zu führen, als seinerzeit der Kontrast zwischen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft. Die Demokratisierungslehre erfüllt nämlich eine Reihe von Forderungen, die von der marktwirtschaftlichen Theorie gerade am stärksten betont waren. Demgegenüber war der Kontrast zur Zent r a l e r waltungs Wirtschaft reine Schwarz-Weiß-Maler ei: Die M a r k t w i r t schaft war freiheitlich, dezentral, reaktionsschnell, eigeninitiativfreundlich; die Zentralverwaltungs w i r tschaft war dieses alles nicht. Die Demokratisierung jedoch kann von sich behaupten, die genannten Forderungen ebenso gut zu erfüllen wie die Marktwirtschaft. Auch sie ist freiheitlich — alle wählen i n Freiheit; dezentral — viele kleine Gruppen tragen die Entscheidung; reaktionsschnell — permanente W i l lensbildung; der Eigeninitiative zugewandt — die Entscheidungen werden vor die unterste Ebene gebracht. Die Demokratisierungslehre ist insoweit, verglichen m i t der Zentralverwaltungstheorie, ein ebenbürtiger Gegner. Sie t r i t t ohne Handicaps an und kann nicht von vornherein und pauschal abgetan werden, sondern muß i n Einzelnachweisen widerlegt werden. U m ihr zu begegnen, muß die Politische Ökonomik innerhalb der Lehre von der Wirtschaftsordnung ausgebaut werden. N u r so w i r d es möglich sein, schlicht zu beweisen, daß die Behauptungen aus der Demokratisierungslehre weder logisch noch empirisch durchhaltbar sind, daß Demokratisierung kein generelles M i t t e l darstellt, die für die Gegenwart wichtigen Ziele zu erreichen, sondern daß sie nur i n ganz speziellen Fällen sich erfolgreich i n eine freiheitliche

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Ordnung einbauen läßt. Diese speziellen Fälle abzugrenzen, ist A u f gabe einer zu schaffenden Politischen Ökonomik. Das Problem der externen Kosten: Verbandsökonomik

Die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft beruht darauf, daß der M a r k t — einem Computer vergleichbar — selbsttätig alle eingegebenen Größen miteinander i n Beziehung setzt, verrechnet und zum Ausgleich bringt. So selbständig er auch funktioniert, er kann immer nur verrechnen, was man i h m eingibt. Die externen Kosten und Erträge b i l deten schon immer eine Crux der marktwirtschaftlichen Lehren. „ E x terne" Kosten und Erträge sind solche, die zwar als Kosten und Erträge anfallen, ohne aber i n der betreffenden Kostenrechnung erfaßt zu werden. Sie erscheinen i n der Kostenrechnung eines anderen oder überhaupt nicht. Gängigstes Beispiel sind die Kosten der Umweltverschmutzung. Verursacher sind z. B. Industrie oder Verbraucher, Kostenträger aber sind die Kommunen. Diejenigen, die Kosten verursachen, ohne dafür zahlen zu müssen, verschmutzen weiter drauf los. Die Kostenträger haben das Nachsehen, ohne sich dagegen wehren zu können. Die Lösung des Problems beruht darauf, daß die Externalitäten internalisiert werden, oder einfacher ausgedrückt, daß man einen Verband bildet, der Kostenverursacher und Kostenträger umschließt und U m lagen zur Belastung des einen und zur Entlastung des anderen erhebt. Solche Verbände hat man schon vielfach organisiert. Die bekannteste Problemlösung dieser A r t ist die Sozialversicherung m i t ihren unterschiedlichen Zweigen. I n der Sozialen Marktwirtschaft der bisherigen Phasen sind Probleme der Externalitäten schon vielfach aufgetreten. Mat hat Lösungen gewissermaßen i m Vorbeigehen und gemäß praktischer Erfahrungen geschaffen. I n der Theorie der Sozialen Marktwirtschaft blieben Probleme wie Problemlösungen aber am Rande. Jetzt rücken sie mehr und mehr ins Zentrum; sie müssen vom Zentrum her theoretisch aufgegriffen werden. Das bedingt den konsequenten Ausbau der Verbandsökonomik. I n der Theorie der Sozialen Marktwirtschaft erschöpfte sich die Verbändelehre bisher i n einer Analyse der Kartelle und der A r beitsmarktparteien. Das reicht künftig nicht mehr aus. Die geistigen M a r k t l ü c k e n

Die Analyse unserer gegenwärtigen Situation zeigt die geistigen Marktlücken, vor die sich die Lehre von der Wirtschaftsordnung gestellt sieht. Diese geistigen Marktlücken verlangen ein entsprechendes geistiges Angebot. W i r d dieses Angebot nicht bereitgestellt, so geht die

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Nachfrage zur Konkurrenz über. Sie t u t das gegenwärtig schon auf breiter Linie. Das Konkurrenzangebot ist zwar Ramschware aus der vergangenen Saison, es findet dessen ungeachtet aber unter der Marke „Neomarxismus" einen reißenden Absatz. Ich habe die geistigen Marktlücken gekennzeichnet durch Herausforderungen und ihre Antworten: Herausforderung 1: Neue Adressaten i n der jungen Generation A n t w o r t 1: Deutlichmachen des geistigen Anspruchs statt bloßem Pragmatismus Herausforderung 2: Verebben der industriellen Expansion (sekundärer Sektor) A n t w o r t 2: Entwicklung der Dienstleistungsökonomik Herausforderung 3: Zunehmende wirtschaftliche Tätigkeit des Staates und staatsähnlicher Institutionen A n t w o r t 3: Entwicklung der Nicht-Markt-Ökonomik Herausforderung 4: Gegnerwechsel von der Zentralverwaltungswirtschaft zur Demokratisierung A n t w o r t 4: Entwicklung der Politischen Ökonomik Herausforderung 5: Zunehmendes Gewicht der Externalitäten A n t w o r t 5: Entwicklung der Verbandsökonomik Dies sind, wie m i r scheint, die neuen Anforderungen an die Weiterentwicklung der Theorie der Wirtschaftsordnung. Sind sie zu leisten? Meine Frage — ich betone nochmals — zielt auf die Theorie ab. Eine Antwort, die sich lediglich auf praktische Erfolge stützte, wäre heute zu wenig. Sie könnte zwar einzelnen Herausforderungen begegnen. Sie kann aber nicht die Idee als Ganzes sichtbar machen. W i r müssen die Geschlossenheit der Konzeption wieder bloßlegen. Ist das zu leisten?

II. Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft

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Ich behaupte, ja. Ich b i n überzeugt, daß man diese Behauptung, gestützt auf die Entwicklung der modernen Ökonomik, durchhalten kann. Sie stellt freilich die Aufgabe, nach der Rezeption der wirtschaftswissenschaftlichen Lehren der dreißiger Jahre (Neoklassik — Euchen; Keynesianismus — Schiller) nunmehr die von der Wirtschaftswissenschaft seit 1950 entwickelten Theorien i n das Gedankengebäude der Wirtschaftsordnung zu integrieren. Ich b i n überzeugt, daß das resignierende Achselzucken, das vielfach auf die Frage nach der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft heute erfolgt, einfach daraus resultiert, daß man die Anforderungen, die sich heute stellen, nicht klar sieht. Man sieht vielmehr die Dinge sich verlaufen, ähnlich wie ein Fluß i n seinem Delta versandet und ein Gletscher an seiner eigenen Moräne stoppt. Das geistige Angebot: Rezeption wissenschaftlicher Ergebnisse

Die Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft, zwar von Wissenschaftlern begründet, hat sich schon immer als eine Lehre von Breitenwirhung und nicht als eine Elfenbeinturm-Theorie oder als Glasperlen-Ideologie begriffen. Sie bewegte sich dabei nie eigentlich am vordersten Rande der Forschung, sondern sie w a r die Zusammenfassung dessen, was die Wissenschaft i n der Generation davor als gültig erarbeitet hatte. Die Phase Erhard / Müller-Armach hat dabei die Neo-Klassik und den Neo-Liberalismus eingearbeitet, Lehren also, die seit der M i t t e der dreißiger Jahre i n Deutschland erarbeitet worden waren. Die Phase Schiller hat den Keynesianismus rezipiert, also das aufgearbeitet, was i n England seit M i t t e der dreißiger Jahre sich durchzusetzen begann und was i n Deutschland — infolge des Krieges — i n der ersten Nachkriegszeit bekannt wurde. Die Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft ist also dem Gang der Wissenschaft m i t einer Zeitverzögerung von etwa 15 bis 20 Jahren nachgefolgt. Da ist sicherlich eine beträchtliche Zeitverschiebung; andererseits gab diese bisher eine gewisse Sicherheit, daß nicht Unerprobtes durchgeführt wurde. Verglichen m i t den neomarxistischen Lehren, die gegenwärtig angeboten werden, ist die wissenschaftliche Zeitverzögerung der Sozialen Marktwirtschaft allerdings außerordentlich gering. Die marxistischen Lehren sind eine Frucht der anhebenden Industrialisierung (erstmaliger Aufbau von Industrie); die Lehren der beiden ersten Phasen der Sozialen Marktwirtschaft zielen auf die Reorganisation einer bereits industrialisierten Volkswirtschaft ab (erneuter Aufbau, Wiederaufbau von Industrie). W i r stehen heute an der Schwelle des nachindustriellen Zeitalters, Industrialisierungslehren sind deshalb für uns relativ uninteressant. Wenn w i r heute an die Aufarbeitung der neueren wissenschaftlichen Ergebnisse und an

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ihre Einarbeitung i n die Lehren von der Wirtschaftsordnung herantreten, so stellt sich uns nach den bisherigen Erfahrungen damit die A u f gabe, die theoretischen Erfolge der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren zu integrieren. Diese Aufgabe ist sicherlich nicht leicht, aber sie ist nicht unlösbar. Sie ist nicht einmal so sehr schwierig — vorausgesetzt, daß man sie einmal erkannt hat.

I I I . Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen — Mischformen im Zentrum der Problematik Die Alternative von Marktwirtschaft und Zentralplan K a u m eine I d e e h a t d i e V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e d e r N a c h k r i e g s z e i t so bewegt w i e die Wiederbelebung 39 der Ordnungstheorie durch die Denk e r des O r d o l i b e r a l i s m u s 4 0 . I h r b e d e u t e n d s t e r K o p f w a r W a l t e r I h n n a n n t e i n seiner Geschichte v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e r der Holländer

L . J . Zimmerman

L e i d e r i s t Euchen

geradezu praeceptor

Euchen.

Lehrmeinungen Germaniae 41.

z u f r ü h v e r s t o r b e n (1950), u m d i e v o n i h m g r u n d -

gelegte O r d n u n g s t h e o r i e 4 2 selbst noch w e i t e r z u e n t w i c k e l n u n d d e n E r 89 Die Widerbelebung der Ordnungstheorie k n ü p f t an die Ordnungstheorie der Physiokraten an (vgl. Hensel, K . Paul: Ordnung der Wirtschaft als wissenschaftliches Problem, Bede zur feierlichen Übernahme des Rektorats der Philipps-Universität zu M a r b u r g am 14. Nov. 1964, abgedruckt i n : Ordo, Band X V / X V I , Düsseldorf u n d München 1965, S. 3 ff., bes. S. 4; vgl. auch derselbe: Ordnungspolitische Betrachtungen zur katholischen Soziallehre, Ordo, Band I I , Godesberg 1949, S. 229). Hensel nennt als Ordnungstheoretiker v o r allen Franz Böhm, Walter Euchen sowie Hans Grossmann-Doerth. Sie haben die Ordnungstheorie nicht n u r wieder angeregt, sondern geradezu neu begründet, wobei Hensel allerdings bemerkt, daß die Ordnungstheorie „durchaus noch nicht v o l l entfaltet ist" (Hensel, K . Paul: Ordnung der W i r t schaft . . . a.a.O., S. 11). Gleichzeitig weist Hensel auf die ständige Weiterentwicklung der Ordnungen hin, die aber dennoch i n einer theoretischen Analyse zu erfassen seien: „Angesichts der riesigen Z a h l möglicher Gesamt.Ordnungen mag es scheinen, als könnten solche Fragen n u r i m Wege historischer Beschreibung, nicht aber i m Wege theoretischer Analyse beantwortet werden. Indes, dieser Schein trügt, die Z a h l der Gesamtordnungen ist fast unbegrenzt, die Zahl der Elementarfaktoren dagegen ist eng begrenzt. Sie kehren i n der Geschichte i m m e r wieder u n d begründen so ähnliche Bedingungskonstellationen des Wirtschaftens u n d somit ähnlich sich wiederholende Verläufe. U n d eben deshalb, w e i l es i m Wirtschaftsleben gleichförmig, oder ähnlich sich wiederholendes Geschehen gibt, deshalb, aber auch n u r deshalb ist eine wirtschaftliche Ordnungstehorie . . . möglich u n d nötig" (Hensel, K . Paul: Ordnung der W i r t s c h a f t . . . a.a.O., S. 11). 40 Hierbei sei v o r allem erinnert an die Herausgeber u n d Autoren des „Ordo", Jahrbuch f ü r die Ordnung von Wirtschaft u n d Gesellschaft, erschienen seit 1948, wechselnde Verlagsorte, seit 1951 Düsseldorf u n d München. 41 Vgl. Zimmermann, L . J.: Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre, deutsch, 2. Auflage, K ö l n 1961, S. 123. 42 Die Euckenschen Vorstellungen von „ O r d n u n g " u n d „Ordnungspolitik" sind kurz u n d übersichtlich i m A n h a n g seines Buches „Grundsätze der W i r t schaftspolitik", Bern u n d Tübingen 1952, S. 372 ff. zusammengefaßt. D o r t w i r d unter anderem ausgeführt: „Das W o r t »Ordnung 1 w i r d i n einem doppelten Sinn gebraucht. Unter Wirtschaftsordnung' verstehen w i r eine k o n -

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

fordernissen der sich wandelnden Verhältnisse entsprechend weiter auszubauen. Und so kam es vielleicht, daß die Diskussion sich vielfältigen Spezialfragen zuwandte, der zentrale Ansatz der Theorie aber nur selten einer Neuinterpretation unterzogen wurde. Ins Zentrum seines Denkens hat Euchen die Lehre von den W i r t schaftsplänen gestellt. Er unterschied dabei zwei Möglichkeiten: Den Fall, daß die Wirtschaftspläne von den Wirtschaftsindividuen aufgestellt werden, bezeichnete er als „Verkehrswirtschaft", den Fall, daß die Planung einzig durch eine zentrale Behörde geschieht, nannte er „Zentralverwaltungswirtschaft". Unterscheidungskriterium war also die Anzahl der Wirtschaftspläne. A u f i h m baute Euchen seine Ordnungstheorie auf. Rückblickend, aus dem historischen Abstand heraus, ist es heute leicht verständlich, wieso Euchen damals gerade von dieser grundlegenden Unterscheidung ausging. 1939, als er sein theoretisches Hauptw e r k 4 3 verfaßte, fand er sich dem nationalsozialistischen Staat gegenüber. Er erlebte die Umstellung der gesamten Wirtschaft auf die nationalsozialistischen Ziele und später auf den totalen Krieg. Damals war der zentrale Plan bitterste Wirklichkeit. Er war letztlich durch den Willen des „Führers" formuliert. Dieser Wille wurde von Euchen m i t Recht als nicht weiter analysierbares Datum i n die Ordnungstheorie eingeführt. Unter dem Eindruck jener Zeit w a r es nur allzu leicht möglich, das Besondere an ihr für das Allgemeine zu nehmen. Euchen erschienen die beiden Grundtypen der Wirtschaft, die Verkehrswirtschaft und die zentralgeleitete Wirtschaft, als die einzig möglichen Typen schlechthin: „Spuren anderer Wirtschaftssysteme — neben diesen beiden — lassen sich i n der wirtschaftlichen Wirklichkeit der Gegenwart und Vergangenkrete, positiv gegebene Tatsache. Sie ist die Gesamtheit der realisierten Formen, i n denen i n concreto jeweils der alltägliche Wirtschaftsprozeß abläuft . . . »Ordnung* hat aber noch einen anderen Sinn: als Ordnung, die dem Wesen des Menschen u n d der Sache entspricht; das heißt Ordnung, i n der Maß u n d Gleichgewicht bestehen . . . Beide Begriffe sind unentbehrlich: Ordnungen als individuelle, wechselnde Tatbestände der Geschichte u n d Ordnung als O r d o . . . Die Wettbewerbsordnung v e r w i r k l i c h t sich nicht v o n selbst. Sie ist i n diesem Sinne keine natürliche Ordnung, kein ordre naturel. Es genügt nicht, gewisse Prinzipien des Rechts zu verwirklichen u n d i m übrigen die E n t w i c k l u n g der Wirtschaftsordnung sich selbst zu überlassen. A b e r i n einem anderen Sinne ist sie eine natürliche Ordnung oder Ordo. Sie bringt nämlich die starken Tendenzen zur W i r k u n g , die auch i n der industriellen Wirtschaft zur vollständigen Konkurrenz drängen. I n d e m die Wirtschaftspolitik diese Tendenzen als Ordnungsformen w i r k s a m macht, t u t sie das, was der N a t u r der Sache u n d des Menschen entspricht." 48 Euchen, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie, inzwischen 7? Auflage, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1959.

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

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heit nicht finden; es ist auch nicht vorstellbar, daß sich andere finden werden 4 4 ." M a r k t und Zentralplan traten sich als eine Alternative von manichäischer Urgewalt gegenüber. Diese Alternative erschien als notwendig und als unversöhnlich. Notwendig, w e i l man damals glaubte, ein Drittes sei überhaupt nicht denkbar, unversöhnlich, w e i l diese Alternative nur die Wahl zwischen Freiheit und Zwang offenließ. Ich versuche, i n dieser Schrift zu zeigen, daß seither i n der W i r t schaftstheorie eine Reihe von Theorien ausgearbeitet worden ist, die nutzbringend zu einer Neuinterpretation des Ordnungsdenkens eingesetzt werden kann. Dem Aufspüren solcher neuen Theoreme und ihrer Aufbereitung für meine Fragestellung haben mehrere frühere Arbeiten gedient 4 5 . Ich werde i m folgenden zeigen, daß bei einer Neuinterpretation i m Lichte der weitergeschrittenen Theorie der Euckensche Denkansatz einerseits auch unter gegenwärtigen, veränderten Verhältnissen weiterh i n aktuell ist, daß aber andererseits jener Gegensatz, der damals durch i h n i n der Ordnungstheorie aufgerissen wurde, sich i n der konsequenten Weiterführung der Grundidee von selbst überbrückt. Über diese Brücke gilt es hinauszuschreiten.

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Ebenda, S. 79. Miksch schreibt dazu: „Die Ordnung muß sich entweder aus dem Zusammenspiel der i n den I n d i v i d u e n wirksamen K r ä f t e n von selbst ergeben oder von einer übergeordneten K r a f t erzwungen werden. Eine dritte Möglichkeit besteht nicht. Daraus geht m i t apodiktischer Gewißheit hervor, daß neben der reinen Verkehrswirtschaft u n d der reinen Befehlswirtschaft w e i tere reine Wirtschaftsformen nicht denkbar sind" (Miksch, Leonhard: Z u r Theorie des Gleichgewichts, Ordo, Bd. I, Opladen 1948, S. 175 ff.). Wertvolle Aspekte zum Problem der „Mischung" zeigt F. A . Hayek i n seinem Buch „Der Weg i n die Knechtschaft" auf. Dort schreibt er beispielsweise: „Das Wettbewerbsprinzip verträgt zwar einen gewissen Zusatz v o n Reglementierung, aber es k a n n nicht m i t Planwirtschaftsprinzipien i n jedem beliebigen Ausmaß kombiniert werden, ohne seine F u n k t i o n als bewährter Führer der Produktion zu verlieren. Ebensowenig ist die Planwirtschaft eine Medizin, die, i n kleinen Dosen verabreicht, dieselben W i r k u n g e n hervorbringen könnte, die man von ihrer massiven A n w e n d u n g erwarten kann. Sowohl das Wettbewerbsprinzip w i e das der zentralen Steuerung werden zu schlechten u n d stumpfen Werkzeugen, w e n n sie unvollständig sind. Sie sind einander ausschließende Prinzipien zur Lösung desselben Problems, u n d eine Mischung aus beiden bedeutet, daß keines v o n beiden w i r k l i c h funktionieren . . . w i r d , . . . " (Hayek, F . A . : Der Weg i n die Knechtschaft, ins Deutsche übersetzt von Eva Röpke, Erlenbach - Zürich 1950, S. 65/66). 45 Vgl. dazu Herder-Dorneich, Ph.: Z u r Theorie der sozialen Steuerung, S t u t t g a r t / K ö l n 1965; ders.: Soziale Kybernetik. Die Theorie der Scheine, S t u t t g a r t / K ö l n 1965; ders.: Wirtschaftssysteme. Systemtheorie einer allgemeinen MikroÖkonomik, Opladen 1972.

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie Der Zentralplan als Negation der Marktwirtschaft

Ich w i l l zunächst versuchen, Erfahrungen auszuwerten, die m i t einem anderen, ähnlichen Gegensatzdenken i n der Sozialwissenschaft gemacht worden sind. René König hat i n einem Aufsatz 4 6 1955 den theoretischen Ansatz von Tönnies untersucht, der vom Begriffspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft" ausging. König hat dabei gezeigt, daß die Konfrontation der beiden Begriffe als kontradiktorischer Gegensatz interpretiert werden kann: „Gesellschaft" erscheint dann als Negation von „Gemeinschaft" 47 . Andererseits können die Begriffe auch entwicklungsgeschichtlich verstanden werden; der eine ist dann dem anderen zeitlich vorgeordnet 48 . Schließlich steckt i n diesem Begriffspaar eine Wertung, die den einen Begriff dem anderen überordnet 4 9 . Außerdem ist eine idealtypische Interpretation möglich, dergemäß i n der Wirklichkeit m i t Mischformen der reinen Typen zu rechnen ist 6 0 . Eine ähnliche Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten eröffnet sich dem Nationalökonom auch bei dem Euchensdnen Begriffspaar der „Verkehrswirtschaft" und der „zentralgeleiteten Wirtschaft". Auch hier kann das Bemühen einer ontologischen Fundierung der Begriffe beobachtet werden 5 1 , auch hier die Theorie der Transformation i m Zeitverlauf 5 2 , auch hier die unterschwellige Bewertung, da die Zentralver46 König, René: Die Begriffe Gemeinschaft u n d Gesellschaft bei F e r d i and Tönnies, i n : K ö l n e r Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie, 7. Jahrg., K ö l n - Opladen 1955, Heft 3, S. 348 - 420. 47 E i n solcher Gegensatz w i r d dort gefunden, w o sich n u r zwei Bestimmungen gegenüberstehen, d . h . also: m i t der Verneinung der einen ist die andere gemeint. Innerhalb des kategorialen Rahmens, der von Tönnies durch die beiden Begriffe Gemeinschaft u n d Gesellschaft abgesteckt ist, k a n n es einen d r i t t e n Begriff nicht geben (vgl. König, R.: Die Begriffe . . . a.a.O., S. 367). 48 Ebenda, S. 383. 49 Besonders Leopold von Wiese hat Tönnies vorgeworfen, er habe „einer bewertenden Ansicht Vorschub geleistet" (König, R. : Die Begriffe . . . a.a.O., S. 381). 50 Ebenda, S. 366. 51 So schreibt Euchen auf S. 123 i n den Grundlagen der Nationalökonomie, 7. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg 1959: „Es sind nicht Typen, die k o n krete Wirtschaft ,abbilden 1 wollen, keine Realtypen, w i e die Wirtschaftsstile oder Wirtschaftsstufen. Es sind reine Formen, echte Idealtypen, v o n denen jeder einzelne n u r eine Seite der Tatsachenbefunde wiedergibt. Das heißt aber nicht: Utopien, w i e M a x Weber sie verkennend nannte, Utopien werden der konkreten W i r k l i c h k e i t entgegengesetzt, i h r vorgehalten. Diese Idealtypen sind aus der konkreten W i r k l i c h k e i t gewonnen, u n d sie dienen der Erkenntnis konkreter W i r k l i c h k e i t " (Hervorhebung von Euchen). Z u m Begriff „ T y p u s " vgl. bes. Euchen, W.: Die Grundlagen . .. a.a.O., S. 268 ff. 52 Euchen schildert das Transformationsprinzip an mehreren Beispielen. Zunächst zeigt er, w i e sich die M a r k t f o r m des Arbeitsmarktes durch zwei

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen waltungswirtschaft durch den absoluten Zwang definiert w i r d 5 3 , auch hier wiederum die Lehre von den Idealtypen und den realen Mischformen 5 4 . Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten sind auch bei Euchen nicht immer abschließend ausgearbeitet und i n ihrem gegenseitigen Verhältnis oft unbestimmt gelassen 55 . Ich möchte hier zunächst das entscheidende Anstöße geändert hat. E i n m a l t r a t infolge der M o b i l i t ä t des Produktionsfaktors Arbeit, der schnellen Entwicklung des technischen F o r t schritts u n d der Arbeitsvermittlung eine Transformation vieler Arbeitsmärkte v o m Nachfragemonopol oder Nachfrageteilmonopol i n Richtung auf die vollständige Konkurrenz ein, sodann k a m es durch die B i l d u n g von Gewerkschaften zu einer Entwicklung, i n der die früher konkurrierenden Arbeiter den Arbeitgebern als teilmonopolistische Gewerkschaft oder als mehrere teiloligopolistische Gruppen gegenübertraten. Die Folge war, daß sich die Arbeitgeber ebenfalls organisierten, so daß sich heute nach Euchen sehr gut die Entwicklung des Arbeitsmarktes zum zweiseitigen Monopol erkennen läßt (vgl. Euchen, W.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern u n d Tübingen 1952, S. 46). Ferner zeigt Euchen, w i e z. B. ein Schutzzoll m i t t e l b a r u n d unmittelbar auf eine Transformation der Wirtschaftsordnung h i n w i r k e n k a n n oder w i e eine „ P o l i t i k des niedrigen Zinses" (Euchen, W.: Grundsätze . . . a.a.O., S. 220) über eine Tendenz zu Preiskontrollen u n d zu zentralverwaltungswirtschaftlicher L e n k u n g gleichzeitig zu einer Änderung der Staatsu n d Rechtsordnung tendiert. Wörtlich schreibt Euchen dazu: „Jeder A k t (des wirtschaftspolitischen Handels) . . . sollte rechtzeitig i n seiner unmittelbaren W i r k u n g auf Wirtschaftsordnung u n d Wirtschaftsprozeß, i n seinen Tendenzen zur Veränderung der Wirtschaftsordnung, die er auslösen kann, u n d drittens i n seiner Weiterentwicklung auf andere Ordnungen gesehen werden" (Euchen, W.: Grundsätze . . . a.a.O., S. 221. Z u r Transformation der Ordnungen vgl. auch Euchen, W.: Grundlagen . . . a. a.O., S. 185). 53 Vgl. Euchen, W.: Grundlagen . .. a.a.O., S. 86/87; ferner derselbe: G r u n d sätze . . . a.a.O., S. 61 u. 87. Der Frage, w i e Euchen zu einer Bewertung der Ordnungen kommt, geht Böhm, F. i m Ordo, Bd. I I I nach, i n dem A r t i k e l : Die Idee des Ordo i m Denken Walter Euchens, a.a.O., S. X I I V I ff. 64 Euchen geht von den beiden idealtypischen Wirtschaftssystemen der „Verkehrswirtschaft" u n d der „Zentralgeleiteten Wirtschaft" aus. Bei ihnen handelt es sich u m Modelle, es seien reine konstitutive Grundformen, die i n der Realität nicht anzutreffen sind (vgl. Euchen, W.: Grundlagen . . . a.a.O., S. 78ff.; ferner derselbe: Grundsätze . . . a.a.O., S. 21 ff.). I n der Realität gebe es n u r Mischformen, Euchen spricht hierbei von Wirtschaftsordnungen (vgl. Euchen, W.: Grundlagen . . . a.a.O., S. 162ff.), die er definiert als die „Gesamtheit der jeweils realisierten Formen, i n denen Betriebe u n d Haushalte miteinander verbunden sind, i n denen also der Wirtschaftsprozeß i n concreto abläuft" (Euchen, W.: Grundsätze . . . a.a.O., S. 23). 65 Hierzu bemerkt Kloten: „Die kardinale Frage lautet also: w i e viele planen? W i r können nicht umhin, i n dieser Fragestellung u n d ihrer Beantw o r t u n g durch Euchen eine übermäßige Vereinfachung, w e n n nicht einen Druck zwischen geschichtlicher Erfahrung u n d theoretischer Forschung zu sehen — ein Mangel, den Euchen selbst gespürt hat" (Kloten, Norbert: Z u r Typenlehre der Wirtschafts- u n d Gesellschaftsordnungen, Ordo, Bd. V I I , Düsseldorf - München 1955, S. 125). Weiter sagt er: „ E i n gewichtigeres P r o blem stellt sich i n der Frage: sind die realen Wirtschaftsordnungen i n jedem F a l l durch eine Verbindung der reinen konstitutiven Grundformen Euchens hinreichend exakt zu deuten?" (Kloten, N.: Z u r Typenlehre . . . a.a.O., S. 126). H. von Stackelberg (Die Grundlagen der Nationalökonomie — Bemerkungen zu Walter Euchen — i n : Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 51, 1940, S. 245)

. Von der

rdnungstheorie zur Systemtheorie

Problem aufgreifen, das die Interpretation der beiden Typen als kontradiktorischer Gegensatz aufwirft 6 6 . Der Idee des kontradiktorischen Gegensatzes folgend, w i r d der eine Typ als die Negation des anderen definiert: Die zentralgeleitete W i r t schaft erscheint als die Negation der Verkehrswirtschaft. W i r müssen also bei dieser m i t der Untersuchung beginnen. Euchen definiert die Verkehrswirtschaft durch die Mehrzahl der individuellen Wirtschaftspläne, und er leitete daraus die Lösung des Problems ab, wie trotz des Pluralismus' der Einzelentscheidungen eine gesamtwirtschaftliche Lösung möglich sei 67 . Die Produktionsverhältnisse, die Austauschverhältnisse zwischen den Gütern, die Verbrauchsausgaben, kurz, alle wirtschaftlichen Größen stellte er als Problemgrößen i n seine Theorie ein. M i t Hilfe des M a r k t preismechanismus , , den seine Theorie ausführlich darstellte, bemühte er sich, diese Problemgrößen zu erklären. Die wirtschaftlichen Größen erscheinen also hier als Ergebnis eines sozialen Prozesses, i n den die individuellen Pläne, die individuellen Bedürfnisse und Willensregungen eingebracht wurden. Dieser soziale Prozeß wurde anfangs allgemein als „Verkehrswirtschaft" bezeichnet, i m Weitergang der Überlegungen aber dann unversehens zur „Marktwirtschaft" spezialisiert 68 . u n d H. Möller (Wirtschaftsordnung, Wirtschaftssystem u n d Wirtschaftsstil. E i n Vergleich der Auffassungen von W. Euchen, W. Sombart u n d A . Spiethoff t i n : Schmollers Jahrbuch, Jahrg. 64, 1940, I I . Halbband S. 87) äußern sich zu dieser Frage sehr skeptisch u n d E. Preiser erklärt, „daß die gelenkte Marktwirtschaft m i t den Kategorien Euchens nicht ausreichend zu fassen ist". Jedenfalls sei m i t dem Hinweis auf eine „Mischung" von Elementen der zentralgeleiteten u n d der verkehrswirtschaftlichen Ordnung ihre Eigentümlichkeit nicht genügend gekennzeichnet. Z w a r werde i n der gelenkten Marktwirtschaft der Gesamtprozeß zentral geleitet, aber die Wirtschaftsverfassung trage trotzdem nicht verwaltungswirtschaftliches, sondern m a r k t wirtschaftliches Gepräge (vgl. Preiser, Erich: Wesen u n d Methoden der W i r t schaftslenkung, i n : Finanzarchiv, N.F. 8, 1941, S. 257 bis 258). 56 Daß eine solche Interpretation möglich ist, darauf hat Norbert Kloten hingewiesen. Vgl. Kloten, N.: Z u r Typenlehre . . . , a.a.O., S. 123 ff. 57 Euchen fragt w ö r t l i c h : „ W i e erfolgt i n der w i r k l i c h e n Wirtschaft der Vergangenheit u n d der Gegenwart, soweit sie verkehrswirtschaftlich w a r u n d ist, . . . , die Koordination der wirtschaftlichen Handlungen u n d d a m i t der ganze Wirtschaftsprozeß?" Gelöst sieht Euchen das Problem durch den Marktpreismechanismus (vgl. Euchen, W.: Grundlagen . . . a.a.O., S. 88ff.; ferner derselbe: Grundsätze . . . a.a.O., S. 2 ff.). 58 Z w a r sagt Euchen nicht expressis verbis, daß Verkehrswirtschaft gleichbedeutend m i t Marktwirtschaft sei, doch muß man diesen Schluß ziehen, w e n n er z. B. auf Seite 90 i n den Grundlagen schreibt, daß jede E i n z e l w i r t schaft, die m i t anderen Einzelwirtschaften i n Verkehr t r i t t , Anbieter u n d Nachfrager sei, u n d auf S. 109 i n den Grundlagen, daß sich gerade aus dem Zusammentreffen von Angebot u n d Nachfrage der M a r k t ergibt. Der gleiche Schluß bietet sich an, w e n n er auf S. 87 (Grundlagen) schreibt: „Eine solche idealtypische Verkehrswirtschaft besteht aus Betrieben u n d

I . Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

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Als ein Block wurde der Marktwirtschaft die Zentralverwaltung gegenübergestellt. Bei i h r wurden alle wirtschaftlichen Größen als von außen gegeben gedacht. Die Zentralverwaltungswirtschaft erschien damit letztlich als die Negation der Marktwirtschaft, denn alles, was bei der Analyse der Marktwirtschaft erfragt wurde, blieb bei der Analyse der Zentralverwaltung unerfragt, was dort Problem war, blieb hier unproblematisch, was dort als Ergebnis des Marktpreismechanismus' erkannt wurde, blieb hier ein nicht weiter untersuchtes Datum 5 9 . Damit aber stellt sich die Frage, warum nicht auch bei der Zentralverwaltungswirtschaft nach dem sozialen Prozeß gesucht wurde, durch den sich die gesamtwirtschaftlichen Größen, die vielfältigen Produktions-, Konsum- und Investitionswerte m i t ihren Vorgabeziffern und Indizes gebildet haben. Ist es nicht eine ganz extreme Situation, daß ein so umfangreiches Gebilde wie der Zentralplan einfach als ein von außen gegebenes Datum aufgefaßt werden kann? Muß nicht eher angenommen werden, daß auch der zentrale Plan auf eine Vielzahl von Plänemachern zurückgeht, die vielleicht i m großen und ganzen übereinstimmen, die aber i n den Einzelheiten doch sehr abweichende Meinungen haben, so daß auch hier m i t einem sozialen Prozeß der Willensbildung zu rechnen ist, durch den diese Meinungen sich einander angleichen, bis sich schließlich die eine Ziffer herausgebildet hat, die dann i n den Plan als Planziffer eingeht? Die Entstehung des Zentralplans aus einem Koordinationsprozeß: der Wahlmechanismus Sollen i n der K o n f r o n t a t i o n der Begriffe w i r k l i c h vergleichbare Dinge v e r g l i c h e n w e r d e n , so w ä r e b e i d e M a l e v o n e i n e r V i e l z a h l v o n P l ä n e n auszugehen. M a n w ü r d e d a n n i m F a l l e d e r M a r k t w i r t s c h a f t d e n M a r k t p r e i s m e c h a n i s m u s als sozialen Ausgleichsprozeß feststellen, d e r d i e Lenkungsaufgabe v o n den vielen Plänen zu den wirtschaftlichen GeHaushalten, die miteinander i n Verkehr oder Tausch stehen." (Hervorhebung v o m Verf.). Auch andere Neoliberale machen keinen Unterschied z w i schen „Verkehrswirtschaft" u n d „ M a r k t w i r t s c h a f t " . Vgl. z.B. Franz Böhm, Friedrich A. Lutz u n d Fritz W. Meyer i m V o r w o r t des Ordo, Bd. X I I , S. X L I ; Röpke, W i l h e l m : B l ä t t e r der Erinnerung an Walter Euchen, i n : Ordo, Bd. X I I , S. 14/17; Kloten, N.: Z u r Typenlehre . . . a.a.O., S. 128 u. a. m. Pf ister, Bernh.: Eucken, i n : Staatslexikon, Bd. 3, Freiburg i. Br., 6. Aufl., Sp. 60. Ä h n l i c h verhält es sich m i t den Begriffen „Wettbewerbswirtschaft" u n d „ M a r k t w i r t schaft". Auch sie werden vielfach gleichgesetzt. A u f diesen Fehlschluß hat Küng hingewiesen (vgl. Küng, E m i l : Wirtschaftspolitische Gegenwartsfragen, erschienen i n der Reihe: St. Gallener Wirtschaftswissenschaftliche Forschungen, Bd. 18, S. 148). 69 Hans Peter hat auf diese letzliche Unerfülltheit des Begriffs der Zentralverwaltungswirtschaft aufmerksam gemacht. Vgl. Peter, Hans: Freiheit der Wirtschaft. K r i t i k des Neoliberalismus, K ö l n 1953.

B. Von der

rdnungstheorie zur Systemtheorie

samtgrößen vollbringt; i m Falle der Zentralverwaltungswirtschaft aber würde man i n ähnlicher Weise auf einen Ausgleichsmechanismus stoßen, der die Koordinationsaufgabe durchführt. I n der damaligen Zeit unter dem nationalsozialistischen totalitären Staat war allerdings das Problem der Willensbildung i n einem Planbildungsprozeß nicht prägnant. Und so wurde es zunächst nicht weiter untersucht. Paul Hensel, Euchens damaliger Assistent, hat später die Lücke geschlossen und jenen sozialen Ausgleichsmechanismus, der den Plan hervorbringt, analysiert 6 0 . Er nannte i h n den „Planmechanismus" und stellte i h n als Pendant zum Marktpreismechanismus dar 6 1 . Freilich nahm auch Hensel bei seiner Analyse den Euchenschen Fall eines totalitären Staates an 6 2 . Gerade dieser Fall aber ist heute nur noch von bedingtem Interesse. Wollte man jene Gedanken Euchens und seiner Schule für die heutige Situation auswerten, so müßte man eine andere Staatsform unterstellen, etwa die einer Demohratie vom Zuschnitt der Bundesrepublik. Das Euchensche Problem, den heutigen Bedingungen entsprechend interpretiert, würde sich dann folgendermaßen ansehen: Wirtschaftliche Größen können einmal durch einen Wirtschaftsprozeß erklärt werden. Hier w i r k t vor allem der Marktpreismechanismus auf den Ausgleich zwischen den vielen Plänen der beteiligten Individuen. Wirtschaftliche Größen können zum anderen aber auch durch einen politischen Prozeß erklärt werden. I n diesem Falle w i r k t ein politischer Koordinationsmechanismus zwischen den vielen Plänen der an diesem politischen Prozeß Beteiligten. Die Fragestellung hat sich damit auf den politischen Koordinationsprozeß zugespitzt. Was kann darunter verstanden werden? Wie muß ein politischer Koordinationsmechanismus gedacht werden, der quantifizierte wirtschaftliche Größen umsetzt? Die Frage hat eine lange Tradition. Ich möchte mich hier nur auf die Entwicklung derjenigen volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen beziehen, die sich an die Namen von Max Weber 63 , Schumpeter 64 und Downs 65 60 Hensel, K . Paul: Einführung i n die Zentralverwaltungswirtschaft, S t u t t gart 1954. 61 Z u einer ausführlichen Beschreibung vgl. ebenda, S. 163 ff. 62 So geht Hensel besonders von der Annahme aus, „daß eine vollständig rational aufgebaute u n d funktionierende Lenkungsorganisation besteht, die ein vollkommenes Instrument der zentralen Leitung darstellt. Innerhalb dieser k o m m t kein W i l l e zur Geltung, der nicht W i l l e der zentralen L e i t u n g ist oder m i t i h m konform bleibt" (Hensel, K . P.: Einführung . . . a.a.O., S. 114). 68 Weber, M a x : Wirtschaft u n d Gesellschaft, 2. Halbband, 4. Auflage, T ü bingen 1956; derselbe: P o l i t i k als Beruf, 2. Auflage, München u n d Leipzig 1926.

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

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knüpft. Hier w i r d der politische Koordinationsprozeß als Wettbewerbsprozeß herausgearbeitet, i n dem die Politiker vermittels von Wahlen u m die Regierungsbefugnis konkurrieren. Politik w i r d hier als ein arbeitsteiliger Austauschprozeß verstanden 66 . Man beobachtet, wie aus der Masse der Staatsbürger Einzelne als Politiker aktiv hervortreten. Für sie w i r d Politik zum Beruf. Sie arbeiten politische Programme aus und bieten sie den Nicht-Politikern an. Die Wahl entscheidet, welcher Politiker und welches Programm zum Zuge kommen. N u r das Angebot an politischen Leistungen, das sich m i t der Nachfrage der Mehrheit deckt, kann auf Erfolg hoffen. Ein Politiker, der sein Angebot nicht entsprechend ausrichten kann oder es nicht w i l l , w i r d vom Wahlprozeß ausgeschieden. Der gesamte Wahlmechanismus besteht jedoch nicht nur aus einem einzigen Wahlgang, wie ich i h n eben stark vereinfachend geschildert habe, sondern er setzt sich aus einer Vielfalt sehr unterschiedlicher Wahlvorgänge zusammen, die aufeinander aufbauen und sich gegenseitig ergänzen. Von der Wahl der Kandidaten i n den Parteigremien bis zur Wahl des Regierungschefs bildet sich ein Geflecht von Wahlen 6 7 , von denen die Bundestagswahl zwar die augenfälligste, aber nicht unbedingt die wichtigste ist. A n entscheidender Stelle finden sich i n den politischen Programmen immer wieder wirtschaftliche Maßnahmen, durch die mehr oder weniger direkt auf Produktion,Verteilung, auf Sparen und Investieren und auf die wirtschaftlichen Gesamtgrößen Einfluß genommen wird. Für die Festsetzung solcher wirtschaftlichen Maßnahmen ist unter diesen demokratischen Bedingungen also nicht ein „Planmechanismus", sondern der „Wahlmechanismus" verantwortlich. 64 Schumpeter, Joseph A.: Capitalism, Socialism and Democracy, N e w Y o r k 1942. Dieser A r b e i t wurde die deutsche Übersetzung von Dr. Susanne Preiswerk zugrunde gelegt: Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie, 2. A u f lage, Bern 1950 (1. Auflage, Bern 1946). 65 Downs , A.: A n Economic Theory of Democracy, New Y o r k 1957. I m selben Jahr beendete Herder-Dorneich sein „Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie" als Freib. Diss. Eine Teilauflage erschien 1957 unter Pseudonym Fred O. Harding. 66 Vgl. dazu auch Herder-Dorneich, Ph.: Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie, Freiburg 1959. Teilauflage der Veröffentlichung von 1957 i n A n m e r k u n g 65. 67 Vgl. Herder-Dorneich, Ph.: Z u r Verbandsökonomik. Ansätze zu einer ökonomischen Theorie des Verbandes, B e r l i n 1973, speziell das K a p i t e l D : „Verbände i m Wahlensystem — Verbandswahlen".

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Herder-Dorneich

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. Von der

rdnungstheorie zur Systemtheorie

Die Überlegung zeigt, daß der zentrale Plan nur unter extremen, gegenwärtig nicht mehr gegebenen Bedingungen sinnvollerweise als ein Datum i n die Theorie eingestellt werden kann. Unterstellt man gegenwärtige Verhältnisse, so erweist sich ein zentraler Plan als das Ergebnis eines vielfältigen sozialen Prozesses, an dessen Anfang ein ähnlicher Pluralismus von planenden Individuen steht wie am Anfang des marktwirtschaftlichen Prozesses. Geht man unter diesen Bedingungen also jeweils auf den Anfang zurück, so hat man den Marktpreismechanismus nicht m i t dem zentralen Plan, sondern m i t dem Wahlmechanismus zu konfrontieren, der diesen zentralen Plan hervorbringt. Damit aber löst sich jener kontradiktorische Gegensatz auf i n eine Gegenüberstellung der beiden — freilich sehr verschieden gestalteten, jedoch i n gleicher Weise pluralistischen — Koordinationsmechanismen: Markt und Wahl. Gleichzeitig löst sich damit auch jener manichäische Gegensatz von Freiheit und Zwang. Denn M a r k t und Wahl sind beide freiheitliche Prozesse — jeder i n seiner A r t . A u f alle Fälle ist es nicht üblich, den Wahlmechanismus trotz seiner vielfachen Mängel als eine nicht-freiheitliche Institution zu bezeichnen. Man kann heute das Euckensche Ordnungsproblem nicht mehr ohne die Kenntnis des Wahlmechanismus lösen. Das bedeutet nichts anderes, als daß i n der theoretischen Ökonomik wieder an der alten, klassischen Tradition der politischen Ökonomie unter neuen Voraussetzungen angeknüpft werden muß. Die gegenwärtigen Ereignisse u m die Wirtschaftsstabilisierung zeigen vielleicht am besten, wie das zu verstehen ist. Es w i r d deutlich, wie entscheidende, makroökonomische Größen politisch bedingt sind. Landwirtschaft, Bergbau, Sozialkonsum, Wechselkurse, Kapitalnachfrage, u m nur einige wenige zu nennen, stellen politische und wirtschaftliche Probleme zugleich. Ein ökonomisches Modell, das sich nur auf die rein marktwirtschaftlichen Aspekte beschränkt, kann hier Wesentliches der Realitäten nicht mehr erfassen. Die theoretische Durchdringung auch dieser politischen Zusammenhänge ist i n der politischen Ökonomie leider noch nicht sehr weit vorangeschritten. Einige vielversprechende Ansätze sind jedoch i n der Literatur feststellbar. So konnte bereits 1957 i m Anschluß an das Werk Schumpeters und zur selben Zeit, als Downs seine „Economic Theory of Democracy" veröffentlichte, ein pointiert vereinfachendes „Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie" 6 8 entworfen werden, welches das Zusammenspiel zwischen politischen und wirtschaftlichen Kräften darstellt 68

Vgl. Herder-Dorneich,

Ph.: Politisches M o d e l l . . . , a.a.O.

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

99

und i n diesem Zusammenwirken das Gleichgewicht einer Volkswirtschaft bei ständiger Überbeschäftigung und andauerndem Geldwertschwund erklärt. Gleichgewicht heißt dabei nichts anderes, als daß alle Beteiligten bei Realisierung dieses Überbeschäftigungsgrades trotz Geldentwertung i h r Verhalten dennoch nicht zu ändern wünschen. Gruppenverhandlungen als Koordinationsmechanismus neben Markt und Wahl Die i n dieser Richtung entwickelten Gedanken lassen sich durch Hereinnahme einer anderen ideengeschichtlichen Entwicklungsreihe der Nationalökonomie weiterführen: der Verbändelehre 60 . Insbesondere durch die Sozialpolitiker zu Ende des letzten Jahrhunderts angeregt, hat man begonnen, herauszuarbeiten* daß die Bildung organisierter Gruppen und ihrer Verhandlungen untereinander den ökonomischen M a r k t ergänzen und funktionsfähiger zu gestalten vermögen. Anfangs hatte man vor allem den Arbeitsmarkt 7 0 i m Auge; praktische sozialpolitische Überlegungen standen i m Vordergrund. Aus diesen Ansätzen entwickelte sich allmählich eine eigene, i n sich geschlossene Theorie der Gruppenverhandlungen, die i n den USA als Theorie des „collective bargaining" zu einem effizienten theoretischen Instrumentarium ausgebaut wurde. Ihre nun fast klassische Fassung haben diese Ideen durch Galbraith 71 gefunden, der einen sozialen Ausgleichsmechanismus der Gruppenverhandlungen definiert und der zeigte, daß ähnlich, wie der Marktpreismechanismus zu Gleichgewichtslagen tendiert, auch bei den Gruppenverhandlungen Gleichgewichte erreicht werden können. Daß Galbraith die zum Teil sehr speziellen Voraussetzungen seiner Theorie nicht eigens nannte, hat später zu vielfältigen Angriffen gegen i h n geführt. Die Unausgereiftheit seines Lehrwerkes aber mindert den Wert seines Denkansatzes nicht. Es ist seither i n den Grundzügen eine allgemeine Theorie der Gruppenverhandlungen verfügbar, die dem Marktpreismechanismus und dem Wahlmechanismus analog aufgebaut, wenngleich noch nicht so weit entwickelt ist. Während Euchen als verkehrswirtschaftlichen Typ dezentraler Koordination nur den M a r k t i n seine Überlegungen aufnahm, läßt sich heute 69

Vgl. Herder-Dorneich, Ph.: Z u r V e r b a n d s ö k o n o m i k . . . , a.a.O. Vgl. dazu auch den Beitrag von Kiilp, Bernhard: Verbände i n Verhandl u n g e n — Marksteine der Theorie der Tarif Verhandlungen, i n : Herder-Dorneich, Ph.: Z u r V e r b a n d s ö k o n o m i k . . . , a.a.O., S. 110 - 162. 71 Galbraith, John Kenneth: American Capitalism. The concept of counterv a i l i n g power, 3. Auflage, London 1964. Deutsche Ausgabe Stuttgart, Wien, Zürich 1956. 70

T

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B. V o n der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

a u f g r u n d der Fortschritte der politischen Ökonomie der Wahlmechan i s m u s u n d a u f g r u n d d e r Ergebnisse d e r S o z i a l ö k o n o m i k d e r G r u p p e n m e c h a n i s m u s i n d i e O r d n u n g s t h e o r i e e i n b e z i e h e n u n d d a m i t d i e Euchensehe A l t e r n a t i v e w e s e n t l i c h e r w e i t e r n 7 2 . Mischformen als komplexe Strukturen A u c h Euchen k e n n t d i e V i e l z a h l d e r W i r t s c h a f t s o r d n u n g e n . I n s e i n e m d u a l i s t i s c h e n S y s t e m g i b t es z w a r n u r z w e i Grundtypen, er h a t aber d i e b e i d e n v o n i h m g e p r ä g t e n W i r t s c h a f t s t y p e n l e d i g l i c h als Idealtypen vorgestellt. I n d e r W i r k l i c h k e i t seien sie n i e r e i n , s o n d e r n i m m e r n u r als Mischformen 73 festzustellen, u n d d e r M i s c h f o r m e n k ö n n e es b e l i e b i g v i e l e geben. O b w o h l also Euchen d i e B e d e u t u n g d e r M i s c h f o r m e n f ü r d i e R e a l i t ä t d e r W i r t s c h a f t so sehr b e t o n t e , f i n d e t sich i n s e i n e m W e r k doch noch k e i n e e i g e n t l i c h e M i s c h f o r m l e h r e v o r . A u c h seine N a c h f o l g e r h a b e n diesem P r o b l e m w e n i g A u f m e r k s a m k e i t g e w i d m e t . W i r f i n d e n lediglich Ansätze zu einer Typenlehre der Mischformen 74. Z u n ä c h s t w ä r e es A u f g a b e e i n e r M i s c h f o r m l e h r e , z u k l ä r e n , w i e e i g e n t l i c h „ m i s c h e n " z u v e r s t e h e n ist. W e r d e n E l e m e n t e m i t e i n a n d e r g e m e n g t i n d e r Weise, daß d i e M i s c h u n g eine s t ä r k e r e oder schwächere K o n z e n t r a t i o n des E l e m e n t s i m a n d e r e n a u f w e i s t ? M i s c h u n g w ä r e d a n n i n A n a l o g i e z u e i n e m p h y s i k a l i s c h e n G e m e n g e z u verstehen. E i n e V e r 72 Vgl. dazu auch Dahl, Robert A . u n d Lindblom, Charles E.: Politics, Economics and Weifare. Planning and Politico-Economic Systems resolved into Basic Social Processes, Harper Torchbook, New Y o r k 1963. 78 Euchen schildert zwar n u r zwei Idealtypen, nämlich Verkehrswirtschaft u n d zentralgeleitete Wirtschaft, die Zahl der i n der Realität vorkommenden Wirtschaftsordnungen dagegen ist auch i n seinem System unübersehbar groß. „ W i e aus zwei Dutzend Buchstaben eine gewaltige Mannigfaltigkeit von W o r ten verschiedener Zusammensetzung u n d verschiedener Länge gebildet w e r den kann, so aus einer beschränkten Z a h l elementarer, reiner Formen zu wirtschaften, eine unübersehbare Mannigfaltigkeit konkreter Wirtschaftsordnungen" (Euchen, W.: Grundlagen . . . , a.a.O., S. 72). Ä h n l i c h sagt Euchen z. B. über die zentralgeleitete Wirtschaft: „ I n der T a t würde die Steuerung einer großen, Zehntausende oder M i l l i o n e n von M e n schen umfassenden zentralgeleiteten Wirtschaft i n v ö l l i g reiner Ausprägung auf die Dauer auf größte Schwierigkeiten s t o ß e n . . . " (Euchen, W.: G r u n d lagen . . . , a.a.O., S. 79). Weiter schreibt er: „Die Ordnungsformen" (damit meint Euchen die Idealtypen) „haben rein n u r i m Denken Bestand; aber v e r schmolzen konstituieren sie jede konkrete Ordnung" (Euchen, W.: G r u n d lagen . . . , a.a.O., S. 171. Hervorhebung i m Original). 74 Vgl. z. B. Kloten, N.: Z u r Typenlehre . . . , a.a.O., S. 123 ff.; Kloten k o m m t einmal zu der Einteilung der Wirtschaftssysteme i n drei Gruppen, i n Systeme der Verkehrswirtschaft, Systeme der gelenkten Marktwirtschaft u n d der zentralgeleiteten Wirtschaft, die er alle noch weiter untergliedert. Sodann bildet er nach dem Grad der Abhängigkeit zwischen sozialen Kräftegruppen ein Schema, das sich aus den drei Haupttypen ergibt: Systeme starker Klassenabhängigkeit, Systeme durchschnittlicher Klassenabhängigkeit u n d Systeme fehlender Klassenabhängigkeit.

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

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kehrswirtschaft erweist sich i n dieser Betrachtungsweise als von Planelementen durchsetzt, einzelne Bereiche i n i h r erscheinen zentralverwaltet. Eine solche Gemengelehre w i r d vielfach i n der Literatur zugrunde gelegt, sie w i r f t aber das Problem auf, daß durch sie der Grundansatz der Eudcenschen Definitionen i n Verwirrung gerät. Denn diesen Definitionen streng folgend, können solche Mischformen überhaupt nicht gedacht werden. I n jeder sogenannten Mischform aus Zentralplan und Verkehrswirtschaft lassen sich nämlich definitionsgemäß mehrere Planer feststellen. Durch die Existenz mehrerer Pläne aber w i r d wiederum die Verkehrswirtschaft definiert, so daß alle sogenannten Mischformen der Verkehrswirtschaft zu subsumieren wären. A u f diesen Konstruktionsfehler i m EucJcenschen Begriffsgebäude ist verschiedentlich hingewiesen worden 7 5 , ohne daß jedoch — wie m i r scheint — die Konsequenzen daraus gezogen worden wären. Deckt sich nämlich der Begriff der Verkehrswirtschaft m i t den Mischformen, so kann der Begriff der Zentralverwaltung zur Erklärung dieser Mischformen nichts mehr beitragen. Bereits eine Zentralverwaltungswirtschaft m i t freier Konsumwahl wäre als Verkehrswirtschaft 7 6 anzusprechen. Damit aber ist nichts gewonnen. Die definitorischen Probleme, i n die eine Gemengelehre führt, lassen solch einen Ansatz zu einer Mischformenlehre nicht lohnend erscheinen. Ich möchte demgegenüber einen anderen Ansatz i n seinen Grundzügen darstellen, der i n mehreren Schriften 7 7 ausführlicher behandelt worden ist, als dies hier naturgemäß geschehen kann: Mischen lassen sich näm75 Vgl. z.B. Böhm, Franz: Die Idee des Ordo i m Denken Walter Euchens, i n : Ordo, Band I I I , FelJbach/Württ. 1950, S. X X V I I I ff.; Kloten, Norbert: Z u r T y p e n l e h r e . . . , a.a.O., S. 124ff.; Böhm, Franz; Lutz, Friedrich A . ; Meyer, F r i t z W. i m V o r w o r t Ordo, B a n d X I I , S. X L I I ff. 79 A u f diesen Mangel i n der Euchenschen Theorie weist Kloten i n dem A u f satz: Z u r T y p e n l e h r e . . . , a.a.O., S. 125/126, h i n : „Sowohl die zentralgeleitete Wirtschaft m i t freiem Konsumguttausch als auch die zentralgeleitete W i r t schaft m i t freier K o n s u m g u t w a h l können nach Euchens K r i t e r i u m keineswegs mehr als Varianten der zentralgeleiteten Wirtschaft angesprochen w e r den. I m strengen Definitionssinne sind sie . . . Gestaltungsformen eines v e r kehrswirtschaftlichen Ablaufs." Diesen Mangel scheint Euchen aber auch w o h l selbst schon gespürt zu haben, denn er bemerkt: „ M a n kann diesen zweiten F a l l " (gemeint ist die zentralgeleitete Wirtschaft m i t freier K o n s u m gutwahl) „der d r i t t e n Variante schon der Verkehrswirtschaft zuweisen 14 (Euchen, W.: G r u n d l a g e n . . . , a.a.O., S. 85). Dann erhebt sich allerdings die Frage, w a r u m Euchen sein System nicht geändert bzw. verbessert hat. Kloten glaubt, der G r u n d liege darin, daß Euchen es f ü r unzweckmäßig gehalten habe, „seine außerordentlich einprägsamen u n d heute allgemein verwandten Idealtypen u n d i h r Systemkriterium einer K o r r e k t u r zu u n t e r ziehen" (Kloten, N.: Z u r Typenlehre. .., a.a.O., S. 125, A n m e r k i m g 8). 77 Vgl. Herder-Dorneich, Ph.: Z u r T h e o r i e . . . , a.a.O.; ders.: Soziale K y b e r netik . . . , a.a.O.; ders.: W i r t s c h a f t s s y s t e m e . . a . a . O .

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

lieh Elemente nicht nur i n der A r t physikalischer Gemenge, sondern auch i n der A r t chemischer Verbindungen. Das Charakteristische dabei ist, daß ein völlig Neues, Drittes entsteht. Werden die beiden gasförmigen Elemente Wasserstoff und Sauerstoff miteinander verbunden, so entsteht Wasser, das als Flüssigkeit nichts mehr sichtbarlich gemein m i t seinen Aufbauelementen hat. Die Mischformlehre w i r d damit zur Strukturlehre. A r t , Anzahl und Kombinationsformen der Elemente machen die Strukturen der komplexen Gebilde aus. I n Anwendung dieser Betrachtimgsweise auf die Verkehrswirtschaft lassen sich als soziale Strukturelemente den bisherigen Überlegungen entsprechend Markt, Wahl und Gruppenverhandlungen annehmen. Die sozialen Strukturelemente beobachtet man nun nicht mehr einfach beziehungslos untereinander gemengt, sondern zu neuen komplexen Strukturen miteinander verbunden. Diese haben m i t ihren Aufbauelementen oft nicht mehr viel gemein. Je nach A r t , Anzahl und Kombinationsweise der Grundstrukturen entstehen jeweils sehr unterschiedliche sozialökonomische Ordnungen. Der Gedanke der Strukturelemente und der komplexen Strukturen läßt sich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn ich sogleich ein paar Beispiele nenne. Betrachtet man z.B. die sozialökonomische Struktur einer Genossenschaft, so zeigt sich, daß sich diese aus M a r k t und Wahl aufbaut: I m Innern geschieht die Willensbildung der Genossenschaft durch Wahlen, nach außen ist sie m i t ihren Partnern durch Märkte i n Verbindung. Eine ganz anders aufgebaute Kombination zwischen Wahl und M a r k t liegt bei der Aktiengesellschaft vor: Hier geschieht die W i l lensbildung zum Teil durch Wahlvorgänge unter den Aktionären, nach außen t r i t t die Gesellschaft durch Märkte m i t ihren Kunden und Lieferanten i n Kontakt. Komplexe Strukturen, dargestellt an einem Beispiel

Ausführlich dargestellt habe ich ein komplexes System aus Märkten, Wahlen und Gruppenverhandlungen i n einer Schrift 7 8 am Beispiel der Gesetzlichen Krankenversicherung. Aufgrund ihres Formenreichtums während ihrer langen Geschichte bietet sie einen besonders interessanten Studienfall. Ich werde i h n i n diesem Abschnitt kurz darstellen, u m an einem konkreten Fall das Werden und das Zusammenspiel komplexer Systeme zu zeigen. Bereits seit der Antike lassen sich ökonomische Märkte für ärztliche Leistungen feststellen. Aufgrund ihres Monopolisierungsgrades, ihrer Intransparenz und der Starrheit von Angebot 78 Vgl. Herder-Dorneich, Ph.: Sozialökonomischer Grundriß der Gesetzlichen Krankenversicherung, K ö l n 1966.

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

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und Nachfrage waren diese Märkte jedoch nicht zu einer breiten Versorgung der Bevölkerung geeignet. Es läßt sich beobachten, wie sich deshalb i n den unversorgten Schichten Solidargemeinschaften zusammenschließen, u m gegenseitig Krankenhilfe zu gewähren. Die Tätigkeit dieser Solidargruppen w i r d durch interne Wahlen gesteuert. Als A l t e r native zur Ordnung der Krankenversorgung stehen sich damit freier M a r k t und Wahl i n Solidargruppen gegenüber. Bald beginnt sich beides miteinander zu kombinieren. Die Solidargruppen entwickeln sich zu Hilfskassen, die Krankenhilfe nicht mehr durch die Mitglieder selbst, sondern durch angestellte Ärzte erbringen. Die Honorarbedingungen bilden sich dabei auf einem freien Markt, die Willensbildung i n den Kassen geschieht durch Wahlen. Der neue sozialökonomische Ordnungstyp, der durch diese Kombination von M a r k t und Wahl entsteht, erweist sich i n der Krankenversorgung effizienter als der einfache M a r k t oder die Solidargruppe ohne angestellte Ärzte. Die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit i m 19. Jahrhundert sind durch diesen Typ geprägt. I n der weiteren Entwicklung verliert die Wahl allmählich ihre Funktion. Die Zugehörigkeit zur Versicherungsgemeinschaft w i r d nun über einen Versicherungsmarkt erworben. Es entstehen die Unternehmen der privaten Krankenversicherung, die sich durch eine Kombination von zwei Märkten, dem M a r k t für ärztliche Leistungen und dem angeschlossenen Versicherungsmarkt, auszeichnen. Doch zurück zu den Hilfskassen und den Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit; sie brachten die Kranken Versorgung i m letzten Jahrhundert zu einer vorher nicht gekannten Blüte. Trotz aller Förderungsmaßnahmen der Regierung aber blieb die ärztliche Versorgung i n der Bevölkerung gleichsam wie auf Inseln beschränkt. Erst m i t der Einführung des allgemeinen Versicherungszwanges durch Bismarck wurde eine allgemeine Versorgung der Bevölkerung erreicht. Die nun m i t Zwangsmitteln ausgestatteten Kassen erstarkten allerdings dadurch so sehr, daß sie nun den Ärzten ihre Bedingungen diktieren konnten. U m der Macht der Kassen zu begegnen, organisierten sich die Ärzte. Interne Wahlen regelten die Willensbildung i n ihren Verbänden, Ärzteverbände und Kassenverbände traten sich i n Tarifverhandlungen gegenüber. I n diesem sozialökonomischen System findet sich somit über dem M a r k t für ärztliche Leistungen ein Überbau von Wahlen und Gruppenverhandlungen. Über mehrere Zwischenstufen entwickelte sich dieses System seit etwa 1900. Es zeigt dabei spezifische Vorzüge i n der K r a n kenversorgung; immer mehr Bevölkerungsgruppen bezieht es i n sich ein.

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

Deutlich allerdings erweisen daneben auch einzelne weniger komplexe Strukturen ihre Leistungsfähigkeit. Heute läßt sich der einfache ökonomische M a r k t bei den nicht versicherten Privatpatienten feststellen; ein komplexes System aus zwei Märkten bei der Privaten Krankenversicherung, ein komplexes System aus M a r k t und Wahl bei der Knappschaftsversicherung und Systeme aus Märkten, Wahlen und Gruppenverhandlungen bei den sogenannten RVO-Kassen. Die Weiterentwicklung der komplexen Strukturen hält an. Das Beispiel von den Ordnungsformen der Krankenversicherung zeigt deutlich mehrere, sehr verschiedene Alternativen des Marktes. Es ist nicht ein einziger Zentralplan, der i n diesen Marktalternativen die Lenkungsfunktion wahrnimmt, wie dies i n der Literatur irrigerweise angenommen w i r d 7 9 , sondern ein Pluralismus von Plänen. Die erwähnten Ordnungsformen der Krankenversicherung wären allesamt dem verkehrswirtschaftlichen Typus zuzuordnen. Auffallend ist, daß die hier genannten Alternativen des Marktes heute keine reinen Typen, sondern komplexe Strukturen sind. I n ähnlicher Weise lassen sich einfache und komplex aufgebaute Ordnungen am Arbeitsmarkt beschreiben oder etwa am M a r k t für geistige Leistungen oder anderen Märkten, wie das an anderer Stelle geschehen ist 8 0 . Interessant ist vielleicht, darauf hinzuweisen, daß der sogenannte primäre und tertiäre Wirtschaftssektor fast ausschließlich durch komplexe sozialökonomische Strukturen bestimmt ist. Ich glaube, nicht zu hoch zu greifen, wenn ich mehr als die Hälfte aller Austauschvorgänge, die herkömmlicherweise als ökonomische Märkte erfaßt werden, den komplexen sozialökonomischen Strukturen zurechne, i n denen die Märkte m i t Wahlen und Gruppenverhandlungen kombiniert sind. Die analytische und gesellschaftspolitische Bedeutung einer erweiterten Ordnungstheorie Diese Überlegungen sind zunächst rein analytischer A r t . Sie wollen nichts anderes zeigen, als daß durch den Einbezug einiger Theoreme aus der politischen Ökonomik und der Sozialökonomik und durch die neue Betrachtungsweise der komplexen Strukturen das ordnungstheoretische Instrumentarium wesentlich bereichert werden kann. Dadurch w i r d der Typus Verkehrswirtschaft, der bisher mehr oder weniger eingestandenermaßen m i t den Märkten gleichgesetzt wurde, durch die Grundstrukturen der Wahl und der Gruppenverhandlungen neu erfüllt. Durch die 79 Vgl. z. B. Müller-Armack, A l f r e d : Die Wirtschaftsordnung sozial gesehen (1948), i n : Wirtschaftsordnung u n d W i r t s c h a f t s p o l i t i k . . . , a.a.O., S. 197. 80 Vgl. Herder-Dorneich, Ph.: Wirtschaftssysteme..., a.a.O.

III. Vom Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen

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Strukturtheorie, die Markt, Wahl und Gruppenverhandlungen kombiniert, w i r d ein neuer Zugang zur Mischformenlehre eröffnet. Die analytische Bedeutung einer so erweiterten Ordnungstheorie vermag sich an aktuellen Problemen zu erweisen, die m i t der herkömmlichen Ordnungstheorie einfach nicht mehr hinreichend erfaßt werden können. So w i r f t z. B. die „konzertierte A k t i o n " das Problem auf, wie Verhandlungen zwischen den organisierten Gruppen und m i t den politischen Instanzen zur Fixierung makroökonomischer Größen i n eine Marktwirtschaft eingebaut werden können. Die „Mitbestimmung" stellt die Frage, wie ein Überbau von Wahlmechanismen über dem Arbeitsmarkt bestimmter Großunternehmen geschaffen werden kann, der die Konflikte, die man diesem Arbeitsmarkt zuschreibt, zu kanalisieren vermag. Der Wirtschaftstheoretiker, der sich bemüht, solche und andere Gegenwartsprobleme zu durchdenken, muß notwendigerweise hier Theoreme über Gruppenverhandlungen und über Wahlvorgänge i n seine Überlegungen m i t einbeziehen. Neben dieser analytischen Bedeutung hat die Erweiterung der O r d 1 nungstheorie auch eine wirtschaftspolitische Bedeutung. Das dualistische Ordnungsmodell, das nur zwei kontradiktorische Idealtypen kannte, ließ nämlich nur scheinbar neben dem M a r k t noch eine Alternative. Für eine freie Gesellschaft fiel ja die Zentralverwaltungswirtschaft als Ordnungsziel von vornherein aus, da sie durch den absoluten Zwang definiert war. Soweit die Mischformenlehre wissenschaftlich systematisch unbewältigt blieb, konnten auch die Mischformen keine Ordnungsziele bieten. Die Marktwirtschaft als unverwirklichbarer Idealtypus aber vermochte lediglich einen idealen Richtpunkt, jedoch keine realisierbare Konzeption abzugeben. I n dieser Schwierigkeit kann die erweiterte Ordnungstheorie neue Ansatzpunkte zur Lösung des Euckensdhen Ordnungsproblems aufweisen, ohne den grundlegenden Imperativ der EucJcenschen Wirtschaftspolitik anzutasten, der die Ordnung des Wettbewerbs fordert. Denn was für die Marktwirtschaft als eine spezielle Ausprägung der Verkehrswirtschaft gilt, gilt analog auch für jene anderen Ausprägungen, nämlich Wahl und Gruppenverhandlungen und alle Kombinationsformen. Auch diese sind ja als Wettbewerbsformen definiert worden, auch für sie ist der Wettbewerb — wenngleich i n unterschiedlicher Form — konstitutiv. Auch sie sind äußerst anfällige Institutionen. Hier wie dort lassen sich immanente Kräfte beobachten, die den Wettbewerb zerstören und denen durch konsequente Ordnungspolitik entgegengewirkt werden muß. M i t den Fragen der Ordnungspolitik werden w i r uns i n einem späteren Kapitel ausführlich befassen.

I V . Das Konzept der Vielfachsteuerung — Die Theorie der hochkomplexen Systeme als Erweiterung des ordnungstheoretischen Denkens* Die Entscheidungsaporie I n einer offenen Welt müssen Entscheidungen getroffen werden. Faktoren (Beziehungen zwischen Faktoren) müssen als Ziele vorgesetzt, andere als M i t t e l eingesetzt werden. Je größer die Interdependenzen i n dieser Welt, u m so größer ist die Zahl der zu berücksichtigenden Faktoren (Beziehungen). Die Interdependenzen sind i n unserer gegenwärtigen sozialen Welt besonders groß. Demgegenüber fällt auf: Die Kapazität des menschlichen Denkens ist beschränkt. Der Mensch, auch der Mensch von heute, ist nur i n der Lage, relativ wenige Faktoren (Beziehungen) gleichzeitig zu denken, zu erfassen, vor- und einzusetzen. Nennen w i r nun das Vorkommen von vielen (mehr, weniger) Beziehungen (zwischen Faktoren) einfacherweise „Komplexität" (höhere, geringere Komplexität), so ergibt sich die Entscheidungsaporie heute: Die Entscheidungsaufgaben sind hochkomplex — die EntscheidungsJcapazität (Kapazität für Komplexität) des I n d i viduums aber ist begrenzt. U m den Entscheidungsaufgaben gerecht zu werden, müßten eigentlich nahezu unbegrenzt viele Beziehungen einbezogen werden. Der Mensch aber kann nur relativ wenige berücksichtigen. Wie kann man der Entscheidungsaporie begegnen? Sicher ist: Gelingt es nicht, m i t i h r fertig zu werden, so kommen entweder keine oder doch nur ineffiziente Entscheidungen zustande. Erster Lösungsversuch: Reduktion von Komplexität Wenn die Entscheidungsaufgaben mehr Beziehungen aufweisen als sich berücksichtigen lassen, so sind doch nicht alle zu berücksichtigenden Beziehungen i n gleicher Weise dringlich. Wenn es heute einen Baum zu fällen gilt, so ist es dringlicher, darauf zu achten, daß keiner der Holzfäller vom stürzenden Baum getroffen wird, kein anderer * Zuerst erschienen i n : Beiträge zu einer Theorie der Sozialpolitik, Festschrift f ü r Elisabeth L i e f m a n n - K e i l zum 65. Geburtstag, B e r l i n 1973.

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerung

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Baum beschädigt, kein Weg zerstört wird. Es ist weniger dringlich, sich damit zu beschäftigen, was künftig an dieser Stelle wachsen soll. Heute — morgen kehren sich die Dringlichkeiten um. Durch entsprechende Filter lassen sich die dringlich zu berücksichtigenden Beziehungen herausfiltern. Die Komplexität wird reduziert. I m Zeitablauf können sogar mehrere, verschiedene Reduktionsvorgänge hintereinander geschaltet werden. Die komplexe Entscheidung w i r d dadurch aufgelöst i n mehrere und dabei einfachere Entscheidungen. Zweiter Lösungsversuch: Arbeitsteilung Die komplexe Entscheidung kann aber auch arbeitsteilig aufgespalten werden. Auch hier w i r d eine Auflösung der Gesamtentscheidung i n Einzelentscheidungen vorgenommen. Insofern besteht also kein Unterschied zum ersten Lösungsversuch. Die Einzelentscheidungen werden jedoch nicht nacheinander von derselben Person, sondern gleichzeitig von verschiedenen Personen getroffen. Arbeitsteilung ermöglicht Effizienzsteigerung durch Spezialisation. Das gilt auch für Entscheidungsprozesse. Der Spezialist, der immer wieder m i t denselben Typen von Entscheidungen befaßt wird, kann Erfahrungen sammeln, Hilfsmittel entwickeln, Fertigkeiten ausbauen. Die Einzelentscheidungsaufgaben werden für i h n damit leichter lösbar. A u f diese Weise w i r d die Gesamtentscheidung (von hoher Komplexität) nicht nur i n Einzelentscheidungen von geringerer Komplexität aufgespalten, sondern diese Einzelentscheidungen werden auch zu Routineentscheidungen umgeformt. U n d darin eben liegt der Vorteil der arbeitsteiligen Entscheidung. Die Organisation von Arbeitsteilung: Entscheidungsmechanismen Arbeitsteilung entsteht nicht von selbst. Sie muß organisiert werden. Es gibt dazu praktisch unendlich viele Möglichkeiten. Die Gesamtorganisation von Arbeitsteilung schlechthin können w i r als einen sozialen Mechanismus bezeichnen. Die gesamte Organisation zur arbeitsteiligen Entscheidungsfindung können w i r dann einen Entscheidungsmechanismus nennen. Auch die Entscheidungsmechanismen können sehr unterschiedlich konstruiert sein. Sie treten uns meist als ungeplante, sich selbst organisierende Gebilde gegenüber, die man dann als „gewachsen" bezeichnet; gegenwärtig werden sie mehr und mehr auch geplant eingerichtet, wobei allerdings selten eine Planungsidee als geschlossene Konzeption zugrundeliegt. Meist sind die Entscheidungsmechanismen

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

auch dann immer mehr oder weniger ein Ergebnis des „Zusammenraufens". Charakterisierung historischer Entscheidungsmechanismen I n einer Systematik, die sich der historischen Fälle und der historischen Methode bedient, können w i r Entscheidungsmechanismen unterscheiden, wie: freie Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft, soziale Demokratie, Rätesystem, Monopolkapitalismus, Zentralverwaltungswirtschaft usw. W i r haben hier einzelne Entscheidungsmechanismen i n ihrem historischen Erscheinungsbild vor uns. Man kann versuchen, die einzelnen Systeme auch historisch miteinander i n Verbindung zu bringen, sollte es jedoch vermeiden, allgemeine Gesetzmäßigkeiten aus einer solchen Typenbildung ableiten zu wollen. Diese historisch gewonnenen Typen, so nützlich sie sicher zur Beschreibung der Zeitzusammenhänge sind, bleiben m i t allen Handicaps der historischen Methode gegenüber den Fragestellungen einer allgemeinen Theorie behaftet. Allgemeine Modelle von Entscheidungsmechanismen Wenn w i r versuchen, zum Zwecke einer allgemeinen Theorie Entscheidungsmechanismen i n analytischen Modellen darzustellen, so ergeben sich dazu aus den vorangegangenen Abschnitten zahlreiche A n regungen. Die Verbindung von Marktökonomik, Kreislaufökonomik, Verbandsökonomik und politischer Ökonomik gibt uns arbeitsfähige Werkzeuge i n die Hand. W i r sind i n früheren Abschnitten darauf eingegangen. W i r können hier von diesen Bemühungen zunächst einmal absehen und allgemein feststellen, daß arbeitsteilige Entscheidungsmechanismen (Entscheidungssysteme) aus Subjekten (entscheidenden Menschen, Spezialisten) und aus Beziehungen zwischen diesen Subjekten bestehen. Davon ausgehend läßt sich von Entscheidungsmechanismen (Systemen) sagen, sie seien mehr oder weniger komplex. So erweist sich ein Entscheidungssystem, das nur zwei Partner (Gruppen) und zwei Beziehungen (wechselseitige Beziehungen) kennt, als weniger komplex denn ein System, das aus vielen Partnern und vielen wechselseitigen Beziehungen besteht (Modell eines isolierten Naturaltausches — zu vergleichen m i t dem Modell einer reinen M a r k t w i r t schaft). Entscheidungsaufgaben und Entscheidungsmechanismen Wenn w i r unterschiedlich kompexe Entscheidungsaufgaben feststellen und unterschiedlich komplexe Entscheidungsmechanismen m i t diesen Entscheidungsaufgaben befassen, dann ist zu erwarten, daß die

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerng unterschiedlichen Entscheidungsmechanismen sich unterschiedlich bewähren. Die Komplexität der Mechanismen muß i n einem gewissen Verhältnis zur Komplexität der Entscheidungsaufgaben stehen, soll die Entscheidung effizient ausfallen. Ist z. B. die Komplexität der Aufgabe hoch, steht dagegen nur ein Mechanismus von geringer Komplexität für die Entscheidungsfindung zur Verfügung, so kann nur eine relativ geringe Arbeitsteilung erreicht werden. Würde die Arbeitsteilung verstärkt werden können, so könnten mehr Spezialisten an der Entscheidungsfindung beteiligt werden, die Entscheidung würde effizienter ausfallen. Umgekehrt: Es steht eine Entscheidungsaufgabe von relativ geringer Komplexität an, die Entscheidungsfindung w i r d aber einem hochkomplexen Entscheidungsmechanismus anvertraut. Die Entscheidungskapazität ist hier redundant. Es werden mehr Spezialisten m i t der Entscheidung befaßt als eigentlich notwendig sind. Allerdings, die Spezialisten werden nun geschäftig. Was zunächst einfach war, macht jetzt der Fachmann kompliziert. Der überdimensionierte Apparat durchsetzt die Lösung der Aufgabe m i t Leerlaufnebenprodukten. Komplexitätsrelation als Bedingung der Entscheidungsoptimierung Es legt sich nahe anzunehmen, daß eine optimale Entscheidung eine gewisse Relation zwischen Komplexität der Aufgabe und Komplexität des Mechanismus erfordert und daß diese Komplexitätsrelation für jeden Typ eines konkreten Entscheidungsmechanismus anders liegt. W i r wollen diese Annahme i n den folgenden Überlegungen noch ein wenig weiter verfolgen. W i r stellen uns vor: Gegeben ist eine Entscheidungssituation (mit bestimmter gegebener Komplexität). W i r sind i n der Lage, mehrere unterschiedliche Entscheidungsmechanismen (Mechanismen voh unterschiedlicher Komplexität) einzusetzen, u m die Entscheidung zu fällen. Lassen sich die Ergebnisse als gut oder schlecht ansprechen? Unter welchen Bedingungen kann die Effizienz der Entscheidungen gemessen werden? Hier ist es notwendig, noch einmal auf den Beginn unserer Überlegungen zu verweisen. I n einer Entscheidung werden immer Ziele und Mittel gleichzeitig festgesetzt. Entscheidungsmechanismen bearbeiten immer Ziele und M i t t e l zugleich. Deswegen kann Entscheidungskritik grundsätzlich immer nur systemimmanent sein. W i r sehen: Hier werden Ziele bestimmt, es werden M i t t e l eingesetzt; die Ziele werden mehr oder weniger erreicht. W i r vergleichen: A n anderer Stelle sind ebenso Ziele, aber auch andere Ziele bestimmt, andere M i t t e l eingesetzt worden und diese anderen Ziele wurden mehr oder weniger erreicht. —

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B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

Die Zielerreichung muß i n beiden Fällen auf das jeweilige System rückbezogen werden; Zielerreichungen lassen sich grundsätzlich nicht m i t anderen Zielerreichungen vergleichen. Zwei einfache Beispiele dafür: Ein 10-jähriger und ein 14-jähriger laufen u m die kürzeste Zeit. Die Leistung jedes einzelnen muß auf i h r jeweiliges A l t e r bezogen werden — oder: I n einem Weltmeisterschaftskampf messen sich SchwarzAfrikaner aus dem Hochland von Kenia und Japaner miteinander. Die hochgewachsenen Schwarz-Afrikaner laufen und springen besser, die Japaner turnen besser. Wie läßt sich hier Zielerreichung miteinander vergleichen? — Und das klassische ökonomische Beispiel: Eine M a r k t wirtschaft erreicht bei den i h r gegebenen Ressourcen ein hohes Konsumniveau. Eine Zentralverwaltungswirtschaft erreicht bei den ihr gegebenen Ressourcen ein niedrigeres Konsumniveau. Eine Konfrontation ergibt, daß bei der Zentralverwaltungswirtschaft die Höhe des Konsumniveaus gar nicht Ziel und daß bei beiden Systemen die Ressourcen systembedingt unterschiedlich waren. Entscheidungseffizienz ist rückbezogen; sie kann nur systemimmanent erfaßt werden. Effizienzvergleiche Effizienzvergleiche zwischen Entscheidungssystemen sind also immer dann unmöglich, wenn Ziele und M i t t e l i n den zu vergleichenden Systemen verschieden angesetzt sind. Dieser Fall ist aber fast durchweg i n der Wirklichkeit gegeben. Effizienzvergleiche zwischen Systemen sind nur i n den seltenen Fällen möglich, wo sich entweder Ziele oder M i t t e l beim Vergleichen nicht verändern. Vergleichen kann man also immer dann, wenn vor einer gestellten Aufgabe (einem gegebenen Ziel) die Entscheidungssysteme (die Systematik der Entscheidungsorganisation) variiert werden. Systemvergleiche erfordern ceteris paribus. Dieser Satz ist eigentlich für Ökonomen leicht einsichtig zu machen, denn der Ökonom ist gewohnt, m i t der ceteris-paribus-Klausel zu arbeiten. Er kennt ihre Tücken. Dennoch scheint es, als ob Generationen von Ökonomen gerade an dieser Stelle ihrer Überlegungen über die ceteris-paribus-Bedingung gestolpert seien. Ich fürchte, die folgenden Überlegungen werden das gleich deutlich machen. U m die Effizienz von Entscheidungen miteinander vergleichen zu können, müssen w i r so vorgehen: Bei gegebenem input w i r d der Output zweier Systeme verglichen. Oder bei gegebenem Output w i r d der input verglichen. Dasjenige System, das bei diesem Vergleich besser abschneidet (größerer Output bzw. geringerer input), ist i n seinen Entscheidungen effizienter gewesen. Voraussetzung ist allerdings gleiche

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerung

111

Ziellage. Falls die Ziele nur leicht voneinander variieren, kann die abweichende Zielverwirklichung (Verwirklichung von Nebenzielen) m i t zum output gerechnet werden. Ein Beispiel: Ziel ist Alterssicherung. Es stehen zwei Systeme zur Verfügung: Das eine System arbeitet auf der Basis von Vermögensbildung, das andere System auf der Basis einer Zwangsversicherung. Welches System ist effizienter? W i r nehmen an, das eine System arbeite billiger (Sozialversicherung), das andere dagegen verwirkliche mehr Freiheitsgrade, also die Erreichimg von Nebenzielen (Vermögensbildung, Vererbung, Statussymbole als besondere Ziele). Oder ein anderer Vergleich: Aufgabe sei es, den täglichen Transport zur Arbeitsstätte zu meistern. Als Entscheidungssysteme stehen M a r k t wirtschaft und Kommunalwirtschaft zur Verfügung. Die M a r k t w i r t schaft — so nehmen w i r an — löst das Problem durch private Autos, die Kommunalwirtschaft durch Autobusse. Der Transport durch Autobusse sei billiger, der Transport durch private Autos ermögliche aber, die Nebenziele der Beweglichkeit und der Prestigefestigimg durch Chrom und Lack m i t zu erreichen. Die Gewinnung dieser Nebenziele muß man also bewerten und dann i n die Rechnung m i t einstellen, bevor ein Kostenvergleich angestellt werden kann. Die Unmöglichkeit, Makrosysteme zu vergleichen Der inzwischen klassisch gewordene F a l l des Systemvergleichens (genauer: der neoklassische Fall) ist der Vergleich zwischen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft (verglichen werden dabei westliche und östliche Wirtschaftssysteme). Die hier auftretenden Probleme sind i n zweierlei Richtung heute noch unüberwindlich: Erstens ist die Bedingung ceteris paribus auch i m Modell nicht aufrecht zu erhalten. Sowohl die Ziele als auch die Ressourcen erweisen sich als i n hohem Maße systemabhängig. Zweitens: Diese Makrosysteme sind so hochkomplex, daß es (gegenwärtig noch) nicht möglich ist, sie überhaupt verbal oder auch sonstwie darzustellen. Die Begriffe Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft sind nämlich entweder so eng, daß sie unverwirklichbare Idealtypen vorstellen oder sie sind so weit (sie bedeuten eigentlich: westliche M a r k t wirtschaften und östliche Zentralverwaltungswirtschaften), daß sie faktisch Beschreibungen für eine Vielzahl von historischen Erscheinungen darstellen und so theoretisch unbestimmt bleiben. Sie sind für eine allgemeine Theorie nicht operationäl, als Idealtypen nicht und als historische Beschreibungen nicht.

112

B. Von der

rdnungstheorie zur Systemtheorie

Die mangelnde Operationalität dieser beiden Begriffe w i r d leicht einsichtig, wenn w i r den Versuch einer Anwendung machen. Greifen w i r auf das obige Beispiel zurück: Es werden i n den Innenstädten Fußgängerzonen eingerichtet; die kommunalen Nahverkehrsmittel sind allein jetzt noch zulässig, private Autos dürfen die City nicht mehr befahren. — Diese Maßnahme, i n einer Marktwirtschaft vorgenommen, macht eine solche Marktwirtschaft damit noch nicht zur Zentralverwaltungswirtschaft. Dennoch ist es nicht mehr eine Marktwirtschaft des vorher bestehenden Typs. Ein Maß für die Veränderung der Mischformen gibt es jedoch (bisher noch) nicht. Beim Stand der gegenwärtigen Systemtheorie ist eine umfassende Darstellung von Systemen nur bei relativ kleinen Subsystemen möglich. Der Verfasser hat an anderer Stelle gezeigt, wie es möglich wird, Systeme nicht nur qualitativ zu bestimmen, sondern auch auf Quantitäten zurückzuführen und so meßbar zu machen. Gezählt werden die Subjekte und die Beziehungen zwischen ihnen. Dabei geht man auf diejenigen Beziehungen zurück, die sich i n formalisierten Akten (Papieren, Scheinen) niederschlagen. Diese lassen sich nach ihren jeweils verwendeten Scheinen, Stempelungen usw. operational auszählen. Da es formalisierte Beziehungen (Scheine) unterschiedlichen Typs gibt, ist es notwendig, auch diese Unterschiedlichkeiten auf Quantitäten zurückzuführen. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde, erscheint ein solcher Versuch, die Qualitäten der Scheine quantitativ zu bestimmen, erfolgversprechend (Systemtheorie wird erst operational, wenn sie sich quantifizierbarer Begriffe bedient). Die komplizierte Darstellung komplexer Systeme läßt sich bei Ergänzung der verbalen Darstellung durch grafische M i t t e l vereinfachen und übersichtlich machen (Systemtheorie wird erst dann operational darstellbar, wenn sie sich grafisch darstellen läßt). Es erscheint also grundsätzlich möglich, m i t Hilfe einer operationalen Systemtheorie soziale Systeme darzustellen und quantitativ zu erfassen, allerdings ist dies doch bisher nur bei relativ kleinen Systemen erfolgversprechend. Makrosysteme, wie z.B. die gesamte M a r k t w i r t schaft oder die gesamte Zentralverwaltungswirtschaft eines Landes, lassen sich m i t den bisherigen M i t t e l n (noch) nicht exakt erfassen. Daraus w i r d deutlich, daß Effizienzvergleiche zwischen Makrosystemen (vorläufig) unmöglich sind, da die Makrosysteme, die miteinander verglichen werden sollen, nicht exakt beschreibbar sind. U m Effizienzvergleiche durchzuführen, müssen aber die zu vergleichenden Systeme zu allererst einmal exakt erfaßt werden. Bei Mikrosystemen ist es eher möglich, diese erste Voraussetzung zu jeglichem weiteren wissenschaftlichen Vorgehen zu erfüllen.

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerung

113

Effizienzvergleiche zwischen Mikrosystemen werden gegenwärtig i m mer wieder angestellt. Die sozialpolitische Literatur ist v o l l davon. Die Vergleiche sind aber leider fast durchweg unpräzise. Empirisch w i r d zu ihnen wenig vorgelegt. Auch über die Maßgröße, i n der Effizienz gemessen werden soll (also über den Output), besteht selten Klarheit. Wenn sozialpolitische Fortschritte (Fortschritt zu größerer Effizienz) angestrebt werden und dazu Systemveränderung wie Mitbestimmung oder Demokratisierung vorgeschlagen werden, besteht meist nur eine Vorstellung über einen ganz speziellen Zug i m neu angestrebten M i k r o system (z.B. Paritäten i n einer Versammlung). Es bestehen nahezu überhaupt keine empirischen Outputmessungen oder zumindest vergleichbare empirisch belegte Erfahrungen auf anderen Gebieten. Ein Vergleichsmodell Nach diesen Überlegungen versuchen w i r , Vergleichsmodelle aufzustellen. W i r halten uns dabei an darstellbare Mikrosysteme (Subsysteme überschaubarer Komplexität). W i r treffen folgende Annahmen: Der Input ist zu Beginn der Periode vorgegeben. Es sind mehrere Systeme klar erfaßbar (A, B, C). Der Output ist meßbar und variabel. Die Ziele sind für alle Systeme gleich, nämlich: Versorgung m i t einem bestimmten Versorgungsgut. W i r können nun den erreichten Output für jedes System messen (output-Skala O) und das Ergebnis als Effizienzbeleg dem jeweiligen System zuweisen. I n einem gedachten Fall sei beim System A ein Output von OA erreicht worden und entsprechend bei den anderen Systemen (Vgl. Figur 5).

Output 0

0A OB

Ct

Figur 5 8

Herder-Dorneich

114

B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

Versuchen w i r zu erklären, wieso die einzelnen Systeme unterschiedlichen Output (Effizienzen) aufweisen, so ist es wichtig, ihre jeweilige Komplexität zu beachten. Die Systeme sind ja nicht gleich, sie weichen i n der Komplexität voneinander ab. Da alle vor derselben Aufgabe stehen, müssen sie sich aufgrund ihrer verschiedenen inneren Organisationsform auch verschieden bewähren. Unsere obigen Überlegungen haben gezeigt, daß diejenigen Systeme sich am besten bewähren, deren Organisation eine Arbeitsteilung zuläßt, die der Komplexität der Aufgabe angepaßt ist. W i r können nun die Bedingungen unseres Modells auch variieren. W i r verändern die Aufgabe i m Sinne einer Veränderung ihrer K o m plexität. Die drei Systeme A, B, C müssen sich nun wiederum verschieden, jedoch anders als eben bewähren. Während i n der Figur 5 das System A am meisten m i t der Komplexität der Aufgabe harmonierte, steht jetzt i n der Figur 6 das System B i m effizientesten Bereich. Das rührt daher, daß beim Wechsel von Figur 5 auf Figur 6 die zu lösende Aufgabe eine Komplexitätsveränderimg erfahren hat (Vgl. Fig.

6). Output 0

0E Op 0,

Figur 6 Effizienz bei unterschiedlichen Komplexitätsgraden

Der Übergang von Figur 5 zu Figur 6 lag i n einer Veränderung der Komplexität der Aufgabe. Jeder Komplexität der Aufgabe war je eine entsprechende Effizienz der drei Systeme (A, B, C) zugeordnet. W i r können uns nun den Komplexitätsgrad der Aufgabe kontinuierlich verändert vorstellen. W i r messen diese Komplexitätsveränderung auf der Achse K eines Quadranten. Die Effizienz messen w i r auf der Achse

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerung

115

E. W i r tragen die jeweiligen Effizienzgrade für jeden Komplexitätsgrad ein und erhalten auf diese Weise Effizienzkurven für die jeweils untersuchten Systeme. W i r unterstellen, daß vier Systeme untersucht worden seien und ihre Effizienz den Verlauf A, B, C und D habe (Vgl. Fig. 7). Die Effizienzkurven der einzelnen Systeme sind tatsächlich nur empirisch feststellbar. Sie lassen sich theoretisch nicht von vornherein festlegen; wohl aber lassen sich die empirisch festgestellten Effizienzverhältnisse theoretisch erklären und i n Grenzen auch konjektural prognostizieren. Sie erklären sich wie gesagt aus der unterschiedlichen Arbeitsteilung i n den jeweiligen Systemen, die gegenüber den gegebenen unterschiedlichen Aufgaben sich verschieden wirksam erweisen. E

Figur 7 Effizienz i n Komplexitätsbereichen

W i r sind zunächst davon ausgegangen, daß einzelne Entscheidungsaufgaben von unterschiedlicher Komplexität seien. N u n sind aber i m konkreten F a l l selten einzelne Aufgaben zu lösen, sondern i m allgemeinen immer Aufgabenbündel. Nehmen w i r z.B. die Aufgabenstellung der Lohnfindung. Hier g i l t es nicht nur, den Lohn des Arbeiters X zu bestimmen, sondern gleichzeitig ist damit die Lohnfindung der Branche, der Region, angesprochen; es geht u m Effektiv- und Tariflohn; und es geht um Lohnstruktur und Inflationsgrade. Das Aufgabenbündel umfaßt die Bestimmung von mikroökonomischen und makroökonomischen Größen. Es 8Ä

116

B. Von der

rdnungstheorie zur Systemtheorie

weist damit nicht einen bestimmten Komplexitätsgrad auf, sondern erstreckt sich über einen Komplexitätsbereich. I m gesamten Aufgabenbündel lassen sich also Einzelaufgaben aufzeigen, die geringere Komplexität aufweisen, gleichzeitig andere, die von mittlerer Komplexität sind, wieder andere von höherer Komplexität. A l l e Einzelaufgaben sind zu einem Bündel zusammengefügt. Bezeichnen w i r die Spannweite des Komplexitätsbereiches unseres Aufgabenbündels m i t s, so können w i r sie i m Modell der Figur 7 eintragen (Vgl. Figur 7, s). Fragen w i r uns nun, welches System A, B, C oder D am effizientesten die Aufgaben innerhalb der Komplexitätsspannweite s zu lösen vermag, so zeigen die Systeme B, C, D besondere Leistungsbereiche, ebenso aber auch spezifische Unterlegenheitsbereiche. System A erweist sich innerhalb von s als ineffizient. W i r können uns vorstellen, daß es gelänge, ein kombiniertes System aus den Subsystemen B, C und D zusammenzufügen (ein integriertes System I), i n der Weise, daß es jeweils die effizientesten Bereiche der Subsysteme zum Zuge kommen ließe, und die Teilaufgaben aus dem gesamten Aufgabenbereich jeweils dem effizientesten Subsystem zuwiese. A u f diese Weise ließe sich die effizienteste Lösung insgesamt gewinnen. Komplexe Aufgaben i n Teilaufgaben aufzulösen, diese Teilaufgaben arbeitsteiligen Entscheidungssystemen derart zuzuweisen, daß jeweils das effizienteste Subsystem zum Zuge kommt, dies besagt das Konzept der Vielfachsteuerung. Das Konzept der Vielfachsteuerung

Die ökonomische Systemtheorie hat lange Zeit i n einer dualistischen Theorie verharrt. Sie ging davon aus, daß es nur zwei Systeme (Verkehrswirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft) gäbe und nicht mehr als diese beiden Systeme geben könne. Die Periode, i n der diese dualistische Problemlösung vorherrschte, bezeichnen w i r als die erste Stufe der ökonomischen Systemtheorie. Sie war insofern außerordentlich verdienstvoll, als sie die Systemproblematik überhaupt angerissen hat. Das „Denken i n Ordnungen" (Eucken sprach von „Ordnungen", die Systemtheorie spricht von „Systemen"), hat nicht nur die Systemprobleme, sondern auch die Effizienzproblematik aufgeworfen. Die damit neu i n den Blick kommenden Fragen haben zu recht mehrere Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt. Man konzentrierte sich dabei auf Makrosysteme (ganze Volkswirtschaften). Eine Systemtheorie, die mehr als zwei Systemmöglichkeiten erkennt und zudem auch komplexe Systeme zu erfassen weiß, vervielfacht die

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerung

117

bisherige Problematik. Sie hebt sie nicht auf, sie hebt sie nicht hinweg, sie vermehrt und vertieft sie. Insofern ist die moderne Systemtheorie eine zweite, weiterführende Stufe nach jener ersten Stufe der dualistischen Systemtheorie (Ordnungstheorie, die nur zwischen zwei Systemen, Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft, unterschied). Die dualistische Stufe, der Systemtheorie (erste Stufe) mußte sich notgedrungen i n Entweder-Oder-Gedankengängen bewegen. Es gab eben nur zwei Möglichkeiten, i n „Ordnungen" (Systemen) zu denken. Zwischen diesen zwei Möglichkeiten war zu entscheiden. Dieses sehr einfache und sehr beschränkte Weltbild neigte dazu, einfache, damit sicher mitunter auch zutreffende, aber oft auch verzerrte Lösungen zu produzieren. Das Entweder-Oder verführte zu einem gewissen Dogmatismus und zu einem Hang zur Ideologie. Die Möglichkeiten, diese sehr einfachen dualistischen Modelle empirisch zu testen, sind ja gering. Die Systemtheorie auf ihrer zweiten Stufe ist i n der Lage, viele Handicaps jener ersten Stufe abzulegen. Der Werkzeugkasten ist verbreitert, er kann einer quantitativen Analyse nahegebracht werden und damit der Bewährung i m empirischen Test besser unterzogen werden. Die Diskussion ist nicht mehr auf ein Entweder-Oder festgelegt, sondern sie vermag differenzierter zu werden. Das Konzept der Vielfachsteuerung ist i n der Lage, schwierige Entscheidungsaufgaben zu erfassen, darzustellen und das adäquate Entscheidungssystem (die effizienteste Komplexitätsrelation) zu benennen bzw. (falls es ein entsprechendes System nicht geben sollte) zu konstruieren. Es ist so i n der Lage, von Ideologisierungen weg und zu praktischen Aufgaben h i n zu führen. Beispiele einer komplexen Problemlösung: Das komplexe Modell des Arbeitsmarktes

U m an einem Beispiel das Konzept der Vielfachsteuerung darzutun, werfen w i r einen Blick auf den Arbeitsmarkt. Dabei zeigt sich, daß dieser M a r k t tatsächlich sich nicht i n seinen Marktbeziehungen erschöpft, sondern daß die Probleme, die sich hier stellen, durch ein komplexes System m i t Vielfachsteuerung gelöst werden. Zur Bestimmung eines ganz speziellen Lohnes Lm (Lohn des Herrn Meier) ist der M a r k t M entscheidend. Alle anderen Entscheidungen aber gehen hier mit ein und hängen untereinander zusammen. Sie sind jeweils von unterschiedlicher Globalität. Sie alle können i n den Verhandlungen m i t Herrn Meier nicht einzeln entschieden werden. Sie fallen deshalb nicht i n das Subsystem M, sondern werden von den an-

118

B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie

deren Mechanismen übernommen, die jeweils darauf spezialisiert sind (Vgl. Fig. 8).

M Gi Wt

w 2/w Gs G,

s

Entscheidungsmechanismus vom Typ

Entscheidungsaufgabe Entscheidungsresultat

Markt Tarifverhandlungen Bundestagswahlen interne Willensbildung

Effektivlohn Tariflohn allgemeiner Inflationsgrad Willensbildung i m Verband, Streikbereitschaft Lohnleitlinien, Inflationsgrad Lohnleitlinien, Internationale Wettbewerbsfähigkeit

Lobby, Konzertierte A k t i o n Lobby, Konzertierte A k t i o n

XS A UV AG P

= = = = =

Unternehmer (Arbeltgeber) Arbeitnehmer Arbeitgeberverband Arbeitnehmerverband (Gewerkschaften) Politiker

Figur

8

Das Denken i n komplexen Ordnungen

Es ist das Verdienst der Ordo-Liberalen, durch i h r „Denken i n Ordnungen" den Systemgedanken für die Ökonomik (Ordnungstheorie) aufgeschlossen zu haben. Es ist das Verdienst der allgemeinen Systemtheorie, ein umfangreiches wissenschaftliches Instrumentarium zur Ver-

IV. Das Konzept der Vielfachsteuerung

119

fügung gestellt zu haben. Es ist Aufgabe der Ordnungstheorie auf ihrer zweiten Stufe (der ökonomischen Systemtheorie), das allgemeine systemtheoretische Instrumentarium für die ökonomischen Fragestellungen aufzubereiten und anzuwenden. Durch diese Anwendung der allgemeinen Systemtheorie w i r d die Fragestellung und die Arbeitsweise der Ordnungstheorie gegenüber ihrer ersten Stufe verändert. Sie w i r d i n einzelnen Bereichen nur erweitert, i n anderen dagegen revolutioniert, d. h. auf den Kopf gestellt. Dies eben berechtigt, von einer zweiten Stufe zu sprechen. A u f einige Gesichtspunkte sei (nochmals) kurz hingewiesen: — Die dualistische Ordnungstheorie war m i t ihren zwei Grundtypen, die sich zudem noch als Gegensätze erwiesen, leicht überschaubar, sie w a r einfach und damit leicht eingängig; die Ordnungstheorie auf ihrer zweiten Entwicklungsstufe ist dies nicht mehr, sie ist hochkomplex. Damit eignet sie sich nun weniger gut, leicht verständliche Schlagworte abzugeben. Sie erschließt sich schwerer. Es gelingt ihr auch nicht mehr, m i t der rein verbalen Darstellungsweise auszukommen. Es bedarf einer speziell entwickelten, formalisierten Darstellungsweise. Einen Vorschlag zu einer grafischen Darstellungsweise hat der Verfasser i n seinen Schriften an anderer Stelle gemacht 81 . Die Figur 8 oben zeigt i n vereinfachter Form die grafischen Möglichkeiten. — Die Veränderungen, die zwischen der ersten und der zweiten Stufe der Ordnungstheorie vor sich gehen, lassen sich vielleicht durch einen einfachen Vergleich verdeutlichen. Die erste Entwicklungsstufe der Ordnungstheorie entspricht der Entwicklungsphase der Chemie, als diese versuchte, die chemischen Stoffe durch ihre VierElementen-Lehre zu erfassen. Die zweite Stufe der Ordnungstheorie ist zu vergleichen m i t der Entwicklungsphase der Chemie nach der Entdeckung des periodischen Systems. Jetzt w i r d es möglich, die Vielzahl der Stoffe anzusprechen und auf Quantitäten zurückzuführen. Es w i r d gleichzeitig möglich, die Chemie als Wissenschaft so weit an die Tatsachen heranzubringen, daß es gelingt, systematisch i n den Aufbau der Stoffe einzugreifen und i h n zu verändern. — Die dualistische Ordnungstheorie w a r vor allem darauf konzentriert, ihre beiden Grundtypen zu analysieren und miteinander zu vergleichen. Sie steuerte dabei übrigens die wirtschaftliche Theorie zur Ost-West-Auseinandersetzung bei. I n der Phase des Kalten Krieges war diese Auseinandersetzung stark polarisiert. Eine dualistische Theorie w a r dieser Situation durchaus angemessen und i h r gegenüber auch effizient. 81

Vgl. Herder-Dorneich,

Ph.: W i r t s c h a f t s s y s t e m e . . a . a . O .

120

B. Von der Ordnungstheorie zur Systemtheorie Inzwischen sind die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West zwar nicht verschwunden, sie haben sich aber differenziert. Eine dualistische Theorie ist dafür ein zu grobes Instrumentarium. Der Bedarf nach feineren und exakteren Instrumenten w i r d laut und dabei w i r d deutlich, daß die Darstellung von Makrosystemen wie einer ganzen Volkswirtschaft die Systemtheorie überfordert. W ä h rend die dualistische Ordnungstheorie auf Analyse und Vergleich von Makrosystemen aus war, konzentriert sich die ökonomische Systemtheorie auf ihrer zweiten Stufe auf Mikrosysteme. Die Ordnungstheorie auf ihrer zweiten Stufe ist darauf verwiesen, Mikrosysteme (z.B. die Versorgung m i t Waren bestimmter A r t , Dienstleistungen bestimmter Qualität, m i t Kollektivgütern, U m weltgütern usw.) darzustellen und miteinander zu vergleichen. Sie stellt dabei fest, daß bereits dies eine Aufgabe von außerordentlich großer Komplexität ist.

— Die außerordentlich große Komplexität, vor der sich die Ordnungstheorie auf ihrer zweiten Stufe findet, veranlaßt sie, ihr Instrumentarium zu vereinheitlichen, i n der Weise, daß die Theorie aus einem einfachen Ansatz heraus allmählich und kontinuierlich weiterentwickelt werden kann, u m so der Wirklichkeit ständig, ohne Bruch und ohne Sprung, angepaßt zu werden. Die dualistische Ordnungstheorie ging von der Planaufstellung aus und beobachtete zentrale und dezentrale Planung. Die ökonomische Systemtheorie geht von Beziehungsstrukturen aus: einseitige Beziehungen = Herrschaft; wechselseitige Beziehungen = Tausch. Insofern besteht noch kein wesentlicher Unterschied zur dualistischen Theorie, denn das einseitige Beziehungsmodell ist durchaus dem zentralverwaltungswirtschaftlichen Modell zu vergleichen, und das wechselseitige Beziehungsmodell (Tauschmodell) korrespondiert m i t den verkehrswirtschaftlichen Modellen. Die Systemtheorie bleibt jedoch bei diesen beiden Grundmodellen nicht stehen, sie variiert sie (sie beobachtet unterschiedliche Ausprägungsformen des Tausches: z.B. Wirtschaft als Tauschen, aber auch Demokratie als Tauschen usw.), und sie kombiniert die Grundmodelle i n vielfachen, praktisch unendlich vielen Formen. Die Erkenntnis der vielen Tauschformen, dungsmechanismen, bildet die Grundlage fachsteuerung.

der Fülle der Entscheizum Konzept der Viel-

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik I. Wettbewerb als universelles Strukturprinzip — Von der Ordnung der Marktwirtschaft zur Ordnung sozialökonomischer Systeme Altliberalismus Der Wettbewerb als Ordnungsprinzip der Gesellschaft ist so alt wie unsere abendländische K u l t u r . Homer berichtet von der Maxime des „aiein aristeuein" 8 2 ; Ziel des menschlichen Strebens solle es sein, „ i m mer der Beste zu sein und die anderen zu übertreffen". Der „Agon", der Wettkampf, wurde dabei nicht eigentlich i n der Feldschlacht ausgetragen, sondern i m Zweikampf i n der sportlichen Arena und i m Theater. So sehr allerdings das alte Griechenland durch das Wettbewerbsprinzip auch geprägt war — zu einer i n sich geschlossenen Gesellschaftslehre sind die vielfachen Ansätze des Wettbewerbsdenkens nicht zusammengefaßt worden. Für die heutige Gesellschaft sind diese Erinnerungen an den antiken Wettkampf als sozialem Ordnungsprinzip ganz zurückgetreten vor den Impulsen, welche die englischen Liberalen der Wettbewerbstheorie vor nahezu 200 Jahren gegeben haben. Es war die große Botschaft dieser Lehre vom wirtschaftlichen Wettbewerb, daß jeder dadurch am besten der Gesellschaft nütze, daß er möglichst seinen eigenen Nutzen und Gewinn zu mehren suche. Der Wettbewerb führe m i t „unsichtbarer Hand" nämlich nur diejenigen zum Erfolg, deren persönliches Interesse m i t dem Gemeinwohl zusammenfalle. I n dem Maße, wie das persönliche Streben vom Gemeinwohl abweiche, versage der M a r k t dem Individuum Nutzen und Gewinn. Der Erfolglose werde schließlich ausgemerzt. Das einfachste Beispiel dafür, wie der Wettbewerb das Gemeinwohl ansteuert, bietet der Unternehmer, der nur dann seine Produktion absetzen und m i t Gewinn absetzen kann, wenn sie den Wünschen der Konsumenten entspricht. Derjenige Unternehmer w i r d am erfolgreichsten sein, der den Vorstellungen seiner Kunden am weitesten entge82

Vgl. Homer: Ilias, V I . Gesang (Z), Vers 208.

122

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

genkommt. Wettbewerb am M a r k t erschien den Alt-Liberalen als ein Mechanismus, der sich automatisch auf das Gemeinwohl einstellt. Die Alt-Liberalen hatten damit den Wettbewerb als Ordnungsprinzip der Gesellschaft (wieder) entdeckt. A l l z u arglos überließen sie sich allerdings ihrer Entdeckerfreude. Sie nahmen den M a r k t und dessen soziale Koordinationskraft als ein Himmelsgeschenk hin, ohne danach zu fragen, ob er immer und i n jedem F a l l seine segensreiche Lenkungskraft entfalte, und was zu t u n sei, damit er sie nicht verliere. Für sie war der Markt ohne weiteres ein Bestandteil der göttlichen Ordnung. Die Lehre von der Koordinationskraft des wirtschaftlichen Wettbewerbs verband sich schon bald mit dem Namen von Adam Smith. Die Wettbewerbsauffassung, so wie er sie formulierte, beherrschte das Denken lange Zeit, und der Rang, den sie i n der Geisteswelt Europas und des Westens einnahm, war lange unumstritten. Zwar blieb es nicht lange verborgen, daß die Wettbewerbstheorie der Alt-Liberalen der Wirklichkeit keineswegs gerecht wurde, aber sie hatte inzwischen soviel Absicherung i n der Politik und den Interessen der führenden Schichten gefunden, daß ihre Wirklichkeitsfremdheit ihrem Ansehen keinen Abbruch zu t u n vermochte. Die Wettbewerbslehre wurde bereits auf ihrer ersten Entwicklungsstufe „klassisch". Neoliberalismus Es war die große Leistung Walter Euchens** und der neoliberalen Schule 84 vor nahezu 30 Jahren, die alten Lehren endlich überwunden 88 Die größte Bedeutung haben seine folgenden Werke erlangt: Die G r u n d lagen der Nationalökonomie, 7. Auflage, Berlin, Göttingen u n d Heidelberg 1959, u n d Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern u n d Tübingen 1952, auch als Taschenbuch i n rowohlts deutscher enzyklopädie, Bd. 81, erschienen. 84 Der Name „Neoliberalismus" tauchte zum erstenmal 1938 i n Paris bei einer Zusammenkunft von Männern verschiedener liberaler Richtungen auf. Der „Neoliberalismus" ist ein sehr heterogenes Gebilde, das aus. mehreren voneinander abweichenden Richtungen besteht, die sich besonders durch den erstrebten Freiheitsgrad u n d i n der Frage nach Intensität, nach Qualität u n d Quantität der staatlichen Interventionen unterscheiden (vgl. Muthesius, V o l k m a r : Die Liberalen haben keinen Papst, i n : F A Z , Nr. 226 v o m 30. 9.1957). H. P. Becker nennt drei neoliberale Richtungen: I . Die Neoklassiker (im wirtschaftspolitischen Sinne gemeint), die sich u m L u d w i g von Mises gruppieren u n d unter Ablehnung jeglicher Interventionen ein „Laissez-faire-System" erstreben; 2. die Keynes- u n d Oxford-Liberalen, die v o r allem konjunkturpolitische Maßnahmen (Vollbeschäftigung) fordern; 3. die Ordo-Liberalen, die marktkonforme staatliche Interventionen befürw o r t e n u n d sich von den anderen beiden Richtungen durch ihre größere Geschlossenheit u n d A k t i v i t ä t u n d durch ihre auf eine Humanisierung des Wettbewerbs ausgerichteten sozial- u n d gesellschaftspolitischen Forderungen unterscheiden (vgl. Becker, H e l m u t Paul: Die soziale Frage i m Neoliberalismus, Analyse u n d K r i t i k , Heidelberg, L ö w e n 1965, S. 37 ff.).

I. Wettbewerb als universales Strukturprinzip

128

und die Wettbewerbstheorie auf eine neue Basis gestellt zu haben. Euchen knüpfte zwar bewußt an liberalem Gedankengut an, aber er betonte, daß der Wettbewerb den Menschen nicht einfach von außen gegeben sei, sondern daß er eine menschliche Errungenschaft darstelle, die mühsam und immer wieder von neuem durchgesetzt werden müsse. Nicht jeder Wettbewerb könne die soziale Koordination herbeiführen, sondern nur der geordnete Wettbewerb sei dazu i n der Lage. Während der sich selbst überlassene, der ungeordnete, der verrohte Wettbewerb zu nichts anderem als zum Kampf aller gegen alle führe, werde der geordnete Wettbewerb zum Strukturprinzip der Solidarität der Gesellschaft. Euchen (und andere) vermochten i n ihrem theoretischen Gebäude zu zeigen, was i m einzelnen die Wettbewerbsordnung ausmacht, wo andererseits die zerstörerischen Kräfte liegen und wie sie bekämpft werden müssen, u m die Lenkungsfunktion des Wettbewerbsmarktes zu entbinden. I n bestechender intellektueller Einfachheit und Konsequenz präsentierte sich die Wettbewerbslehre auf dieser 2. Stufe ihrer Entwicklung. Der Gedanke von der Steuerungskraft des Marktes (die Erkenntnis der Alt-Liberalen) w a r erweitert worden durch den Gedanken der Ordnung des Marktes. Auch i m Eudcenschen Weltbild koordinierte der Wettbewerbsmarkt die Marktteilnehmer automatisch; er richtete sich selbst jedoch nicht automatisch ein. Dazu bedarf er einer konsequenten Ordnungspolitik von Seiten des Staates. Der „OrdoLiberalismus" oder „Neo-Liberalismus" hat die Wettbewerbstheorie durch sein Ordnungsdenken wesentlich über den Altliberalismus hinausgebracht. Die neue Lehre entwickelte alsbald eine große Ausstrahlungskraft. Sie begann nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Wirtschaftspolitik zu bestimmen. Bald zeigte sich allerdings, daß die Wettbewerbstheorie auch auf ihrer zweiten Entwicklungsstufe den Erfordernissen der Wirklichkeit nicht gerecht werden konnte. Eine Reihe von Fragen der aktuellen Wirtschafts- und Sozialpolitik ließen sich gemäß der neuen Wettbewerbslehre nicht befriedigend lösen, wichtige Probleme konnten nur i n offenem Widerspruch zu i h r behandelt werden. So nahm die BeAuch der Ordo-Liberalismus t r i t t nach Becher wieder i n drei verschiedenen Ausprägungen auf (Freiburger Schule, der soziologische Neoliberalismus u n d der extreme Flügel). V o n diesen k a n n die Freiburger Schule, die durch den sog. „ O r d o - K r e i s " u m Walter Euchen gebildet wurde, als die Keimzelle u n d das Z e n t r u m des Ordo-Liberalismus angesehen werden. Sie ist für die geschlossene wissenschaftliche Richtung des Ordo-Liberalismus ausschlaggebend gewesen. Die Gedanken u n d Arbeiten des „Ordo-Kreises" werden i n dem gleichnamigen Jahrbuch „Ordo", das seit 1948 erscheint, u n d i n dem 1954 gegründeten „ W a l t e r Eucken I n s t i t u t e. V." weitergeführt.

124

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

kämpfung der Marktmacht und der Kartelle einen zentralen Platz i m Denken Euchens ein; wenn Euchen andererseits die Funktion der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände positiv beurteilte 8 5 , so ergab sich das nicht aus der Konsequenz seiner Theorie, sondern aus der Pragmatik seiner ökonomischen Erfahrung. I n der Theorie erschienen zwar die zentralverwalterischen Eingriffe des Staates als Übel. Doch war ohne sie i n der Praxis eine Reihe von Problemen der L a n d w i r t schaft, des Bergbaus, der Sozialpolitik, des Bildungswesens einfach nicht zu lösen. Das klar aufgebaute System Euchens wies hier offene Stellen 8 6 auf. Sie waren zunächst noch nicht zahlreich. Man faßte sie als „Sonderfälle", als „Ausnahmen" auf. Sie blieben Randerscheinungen, die das Gedankengebäude zunächst nicht zu erschüttern vermochten. Allmählich nahm die Zahl dieser Randerscheinungen jedoch zu. Sie ließen sich nicht mehr übergehen. Da man sie aus dem ursprünglichen Konzept heraus aber auch nicht bewältigen konnte, siedelte man sie gewissermaßen i n Anbauten und Baracken u m das massive Gebäude der Theorie herum an. Der Katalog aller Ausnahmen und pragmatischen Lösungen neben und u m die Lehre vom Wettbewerbsmarkt wurde i n außerordentlich glücklicher Weise unter dem Stichwort „Soziale M a r k t w i r t schaft" zusammengefaßt 87 . Soziale Marktwirtschaft I n der Lehre von der „Sozialen Marktwirtschaft" wurde herausgestellt, daß die Summe aller Märkte nicht die Gesellschaft ausmachen kann. Es gibt gesellschaftliche Bereiche, die sich grundsätzlich nicht durch Märkte befriedigend steuern lassen. Wenn hier der Staat eingreift, so w i r d damit der Marktwirtschaft nichts entzogen. I m Gegenteil, erst dadurch, daß diese Leerstellen i n die Gesamtordnung einbezogen werden, w i r d die Gesamtgesellschaft und damit auch die M a r k t wirtschaft i n ihr erst richtig funktionsfähig. 85 Darüber heißt es i n den „Grundsätzen": „Neben diesen staatlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter kommen den Gewerkschaften große Verdienste z u . . . Alles hängt von der Stellung ab, die sie einnehmen. I m Rahmen einer Wettbewerbswirtschaft können die Gewerkschaften Institutionen eines w i r k l i c h e n Ausgleichs sein (Euchen, W.: Grundsätze..., a.a.O., S. 322). 86 Vgl. z.B. das K a p i t e l : „Sozialpolitik", i n : Grundsätze..., a.a.O., S. 312324. 87 Schöpfer u n d geistiger Vater der Konzeptionen der „Sozialen M a r k t w i r t schaft" ist A l f r e d Müller-Armach. Eine Zusammenfassung seiner Studien u n d Arbeiten über die „Soziale M a r k t w i r t s c h a f t " gibt Müller-Armach i n seinem Werk „Wirtschaftsordnung u n d Wirtschaftspolitik", Freiburg 1966.

. Wettbewerb als universales Strukturprinzip Die Ordnung der Märkte reicht also nicht aus. Über die staatliche Ordnungspolitik hinaus eröffnet sich damit die Aufgabe zusätzlicher Staatstätigkeiten. Die Theorie der sozialen Marktwirtschaft ging damit über den Neoliberalismus deutlich hinaus. Hatte der Altliberalismus jede Staatstätigkeit schlechthin i m Bereich der Wirtschaft abgelehnt, so hatte der Neoliberalismus die Ordnung der Märkte durch staatliche Eingriffe i n der Form der Ordnungspolitik gefordert, darüber hinausgehende Staatseingriffe jedoch m i t großem Mißtrauen verfolgt. Denn jeder Staatseingriff, der nicht ausschließlich der Erhaltung der Ordnung dient, löst nach Ansicht der Neoliberalen eine Tendenz zur Transformation der gesamten Wirtschaftsordnung aus. Ein Eingriff zieht andere Eingriffe nach sich, und über kurz müssen sich Eingriffe so kumulieren, daß aus der Marktwirtschaft unversehens eine Zentralverwaltungswirtschaft geworden ist 8 8 . Die Soziale Marktwirtschaft nun gibt auch Staatseingriffen, die nicht ausschließlich zur Ordnungspolitik dienen, eine Legitimation. Solange sich solche Eingriffe nämlich den Gebieten zuwenden, die m a r k t w i r t schaftlich gar nicht zu steuern wären, sind sie nicht abzulehnen 80 . Damit w i r d ein neuer „ S t i l " i n der Wirtschaftspolitik möglich. Was aber geht nun eigentlich i n jenen von der Marktwirtschaft „abgeschotteten" Bereichen vor sich? Handelt es sich hier u m Zentralverwaltung? Die Lehre von der Sozialen Marktwirtschaft nahm dies vielfach an. Insoweit war sie hier also der neoliberalen Theorie verpflichtet. Was nicht Wettbewerb war, konnte nur Zentralverwaltung sein. Etwas Drittes war zunächst nicht denkbar. Die Wettbewerbslehre war noch nicht so weit, als daß sie auch Formen eines nicht-marktwirtschaftlichen Wettbewerbs hätte denken können. Erweiterung der Wettbewerbslehre Da kamen i m vergangenen Jahrhzehnt neue Anregungen auf die Wettbewerbslehre zu. Sie werden hier pointierend m i t den Namen Schumpeter und Galbraith verbunden. Die wissenschaftliche Literatur 88 V o n dieser Ansicht haben aber i n letzter Zeit einige Neoliberale Abstand genommen. So schreiben die Herausgeber des Ordo i m X I I . Band: „Ebenso unbegründet scheint offenbar auch die Sorge zu sein, daß sich die Staatsgewalt i n dem Maß, i n dem sie zu immer weiter greifenden Interventionen ermächtigt w i r d , i n eine D i k t a t u r verwandeln könnte, bei der sodann nach totalitärem Rezept die Gesellschaft ohne Rest m i t dem Staat amalgamiert w i r d . Die Erfahrung lehrt vielmehr, daß der v i e l intervenierende Staat ein schwacher, von kollektiven Gesellschaftsgruppen methodisch ausgeplünderter, verbürokratisierter Staat ist, . . ( B ö h m , Franz; Lutz, Friedrich A . und Meyer, F r i t z W.: V o r w o r t i n Ordo, Bd. X I I , Düsseldorf u n d München 1961, S. X L I V / XLV).

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C. Dynamische

rdnungspolitik — Systempolitik

hat ihre Anregungen rasch aufgegriffen. Joseph Schumpeter wandte i n einem kühnen W u r f die Wettbewerbstheorie, die der Wirtschaftsliberalismus entwickelt hatte, auf das politische Geschehen an. Er erkannte die Politiker nicht als Vertreter 9 0 irgendeines „mythischen Volkswillens", sondern als i m Wettbewerb u m die Regierungsbefugnis und u m die Macht i m Staate stehend. Nur derjenige Politiker könne sich Chancen i m Wahlkampf ausrechnen, dessen Programm den Vorstellungen seiner Wähler entgegenkomme. I m Wettbewerb u m die Wählerstimmen seien die Politiker gezwungen, ihre eigenen Vorstellungen über das Gemeinwohl so lange zu revidieren, bis sie mindestens die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Konzeption überzeugen könnten. Das Schumpetersdcie Modell vom Wettbewerb der Politiker i m Kampf um die Macht war zunächst ganz einfach konzipiert. I n dieser Einfachheit ist es natürlich nicht geeignet, die Wirklichkeit voll zu erklären, w o h l aber ist es geeignet, Anregungen zum Weiterdenken zu geben. Die Anregung, die Schumpeter der Wettbewerbstheorie gab, war der Hinweis darauf, daß Wettbewerb nicht nur auf dem M a r k t beobachtet werden kann und nicht nur i n der Form des Marktes organisiert wird, sondern daß er auch i n der Politik besteht und i n der Form der politischen Wahlen organisiert wird. Diesen Hinweis hätte die Theorie natürlich auch erhalten können, wenn sie den Frühformen der Wettbewerbsordnung i n der Antike nachgegangen wäre. Damals faßten Agora und Forum sowohl das wirtschaftliche als auch das politische Geschehen zusammen. Waren, politische Programme und philosophische Ideen wurden auf dem „ M a r k t " angeboten, akzeptiert oder verworfen. 89 Dazu schreibt Müller-Armack: „Auch ist es marktwirtschaftlich unproblematisch, bestimmte Lücken der privaten Wirtschaft durch soziale Veranstaltungen auszufüllen" (Müller-Armack, A . : Wirtschaftslenkung u n d M a r k t w i r t schaft, i n : Wirtschaftsordnung u n d Wirtschaftspolitik, Freiburg 1966, S. 197). Gedacht ist hierbei vor allem an das öffentliche Bankwesen, den gemeinnützigen Wohnungsbau, die Sozialversicherung u n d das Genossenschaftswesen. 90 Schumpeter lehnt die sog. „klassische Lehre der Demokratie" (Vertretertheorie) ab, die besagt, daß das V o l k „eine feststehende u n d rationale Ansicht über jede einzelne Frage besitzt u n d daß es — i n einer Demokratie — dieser Ansicht dadurch W i r k u n g s k r a f t verleiht, daß es »Vertreter 4 wählt, die dafür sorgen, daß diese Ansicht ausgeführt w i r d " (Schumpeter, J.: K a p i t a l i s m u s . . . , a.a.O., S. 427). Demgegenüber schlägt Schumpeter i n seiner demokratischen Theorie eine andere Betrachtungsweise vor, die die Zusammenhänge geradezu umkehrt. E r stellt den Entscheid von Fragen durch die Wähler der W a h l derjenigen nach, die die Entscheidung zu treffen haben. Er geht davon aus, „daß die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst eine dazwischengeschobene K ö r p e r s c h a f t . . . " . Die Regierung ihrerseits muß die Entscheidungsbefugnis i n einem Konkurrenzkampf u m die Stimmen des Volkes erwerben (Schumpeter, J.: K a p i t a l i s m u s . . . , a.a.O., S. 427/428; vgl. dazu auch die Ausführungen von Herder-Dorneich, Ph.: Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie, Freiburg 1959, S. 46 ff.).

I. Wettbewerb als universales Strukturprinzip Der Wirtschaftsliberalismus hatte den Blick auf die ökonomischen Formen eingeengt. Die Wettbewerbstheorie war seither rein ökonomisch. Durch Schumpeter war diese Einengung wieder aufgebrochen worden. Eine andere wichtige Anregung wurde der Wettbewerbstheorie durch Galbraith gegeben. Galbraith zeigte 91 , daß die Auseinandersetzungen zwischen den organisierten Gruppen bzw. Interessenverbänden dieselbe Funktion wie der Wettbewerb am M a r k t erfüllen. Es ist somit davon auszugehen, daß sich nur derjenige Verband auf die Dauer i m Wettbewerb halten kann, der seine Politik den Vorstellungen seiner Mitglieder anpaßt und ihnen mehr bietet als irgendein anderer Verhandlungspartner. I m Kampf untereinander finden die Verbände ein Gleichgewicht ihrer Macht, das den Mitgliedern eine optimale Versorgung garantiert. Auch dieses soziale Modell ist außerordentlich einfach. Darauf ist i n vielfacher K r i t i k hingewiesen worden. Aber für die hier vorzunehmenden Überlegungen kommt es nicht so sehr darauf an, die UnVollkommenheiten dieses Systems herauszustellen; wichtiger ist es, die Anregungen deutlich werden zu lassen, die es gegeben hat. Seit Galbraith ist offensichtlich, daß w i r neben dem ökonomischen Wettbewerb am Markt, neben dem politischen Wettbewerb i n den Wahlen auch m i t einem Wettbewerb der Verbände zu rechnen haben. Damit ist die Wettbewerbslehre nach A l t - und Neoliberalismus auf eine neue Stufe ihrer Entwicklung getreten. Was kennzeichnet diese i m einzelnen? Pluralismus der Wettbewerbsformen Märkte, Wahlen, Gruppenauseinandersetzungen sind grundverschiedene soziale Erscheinungen, und doch ist i n ihnen dasselbe zu beobachten: Es ist der Wettbewerb u m den Erfolg. Die Organisation, unter der dieser Wettbewerb jeweils erfolgt, ist sehr unterschiedlich; ebenso unterschiedlich sind die Wirkungen, die er hervorruft. Wenn man hier versucht, das Gemeinsame an diesen sozialen Einrichtungen mit einem Wort zu bezeichnen, so fehlt dafür zunächst noch ein Begriff. Es könnte zwar zurückgegriffen werden auf die antiken Wortverwendungen der „Agora", des „Agon" und des „Aristeuein". Auch die Rede vom „Forum" bietet sich an. Dem gegenwärtigen Wortgebrauch i n den Sozialwissenschaften liegen diese Begriffe jedoch fern. Ich schlage hier die Bezeichnung „Sozialwahl-Mechanismus" vor und lehne mich dabei an eine von Gäfgen eingeführte Redeweise an 9 2 . Damit w i r d ausgedrückt, daß 91

Galbraith hat gezeigt, daß neben dem Wettbewerb auch ein anderer Faktor, nämlich das Gegengewichtsprinzip, zur Ordnung der Wirtschaft beitragen k a n n (vgl. Galbraith , J. K . : American C a p i t a l i s m , . . . , a.a.O.). 92 Gäfgen verwendet den Begriff „Sozialwahl-Funktion" zur Analyse u n d Darstellung v o n Mehr-Personen-Entscheidungen, also „ w e n n ein K o l l e k t i v

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. Dynamische

rdnungspolitik — Systempolitik

i m sozialen Raum Wahlakte ausgeführt werden und daß diese i n unpersönlichen Einrichtungen (Mechanismen) getroffen werden. Daß i m Nachhall des „Mechanismus" etwas sehr Technisches, Maschinelles, Totes, Unmenschliches mitschwingt, ist zwar sehr nachteilig, braucht jedoch nicht zu stören, falls man sich darüber klar ist, daß die hier betrachteten sozialen Einrichtungen natürlich keine mechanischen Maschinen 93 sind. I n den Sozialwahl-Mechanismen finden Wahlakte statt; w i r beobachten: Die Unternehmer stellen ihre Produktion zur Wahl, die Politiker ihre Programme, die Verbandsfunktionäre ihre Verbandsleistungen. Die Konsumenten, die Wahlbürger, die Verbandsmitglieder akzeptieren oder lehnen ab. I m Wettbewerb der Unternehmer, der Politiker, der Verbände untereinander setzt sich auf die Dauer nur derjenige durch, der seine Vorstellungen und seine Produktion immer wieder revidiert und den Wünschen seiner Partner anpaßt. Wie diese Anpassungsvorgänge i n den einzelnen Sozialwahl-Mechanismen vor sich gehen, ist allerdings sehr unterschiedlich erforscht. Über die Vorgänge bei den politischen Wahlen weiß man bereits relativ viel; die Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden sind i n ihren Gesetzmäßigkeiten noch wenig bekannt 9 4 . Die drei hier genannten Sozialwahl-Mechanismen sind die wichtigsten Typen. Es sind jedoch nicht die einzigen. Andere SozialwahlMechanismen 96 lassen sich noch beobachten, andere sind darüber hinaus denkbar. Besonders wichtig sind auch Kombinationen aus den Grundtypen, die zu komplexen Systemen zusammengefügt sind und i n solchen komplexen Strukturen eine neue Einheit bilden. Der Gedanke, daß sich vollkommen neue Wettbewerbsformen bilden können, erscheint zunächst vielleicht ungewohnt. Deutlich zeigt indes die Geschichte, daß es Zeiten gab, i n denen zum Beispiel die politischen Wahlen, die heute selbstverständlich sind, nicht bestanden und auch kaum denkbar gewesen wären. Dasselbe gilt für die Gruppenverhandsich f ü r eine der möglichen Alternativen entscheiden soll" (Gäfgen, Gerard: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, Tübingen 1963, S. 184). 98 Wenn die Mechanik auch lange Zeit großen Einfluß auf die E n t w i c k l u n g der Wirtschaftswissenschaft ausübte, so w i r d sie heute doch i n i m m e r stärkerem Maße von der K y b e r n e t i k verdrängt, die „es i n ihren Modellen eher möglich zu machen" scheint, „das Ganzheitliche, das Gestalthafte, das anpassungsfähige Lebendige i m sozialen Bereich ebenso sichtbar werden zu lassen, w i e sie das i n anderen Bereichen der Erkenntnis schon vermochte" (HerderDorneich, Ph.: Soziale K y b e r n e t i k . . . , a.a.O., S. 11). 94 Vgl. dazu Herder-Dorneich, Ph.: Z u r V e r b a n d s ö k o n o m i k . . . , a.a.O. 95 Vgl. Herder-Dorneich, Ph.: Soziale Kybernetik, die Theorie der Scheine, K ö l n 1965. Hier w i r d eine Systematik von praktisch unendlich vielen Sozialwahl-Mechanismen geboten.

I. Wettbewerb als universales Strukturprinzip lungen, die sich z.B. i n Deutschland erst nach Aufhebung der Koalitionsverbote 1890 entwickeln konnten. Noch deutlicher w i r d die spontane Entstehung neuer Wettbewerbsformen, wenn man komplexe sozialökonomische Strukturen beobachtet. I m vorigen Abschnitt „ V o m Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen" wurde die Entstehung von komplexen Strukturen beschrieben. Deutlich w i r d dabei sichtbar, wie durch einen politischen A k t — der selbst wieder als Ergebnis des politischen Konkurrenzkampfes erfaßt werden kann — neue Formen begründet wurden, die dann i m Laufe ihrer eigengesetzlichen Weiterentwicklung wiederum neue sozialökonomische Strukturen und neue Formen des Wettbewerbs i n ihnen hervorbrachten. Geht man davon aus, grundsätzlich m i t vielen Wettbewerbsformen zu rechnen, und daß der wirtschaftlich organisierte Wettbewerb nicht die einzig mögliche und einzig denkbare Wettbewerbsform ist, so verschwindet der abgrundtiefe Gegensatz, den die dualistische Ordnungstheorie aufgerissen hat, zum großen Teil von selbst. Was nicht-wirtschaftlicher Wettbewerb ist, braucht nicht von vornherein als Zentralverwaltung angesprochen zu werden, es kann durchaus auch Wettbewerb unter anderen Formen bedeuten. Viele staatliche Eingriffe können als Zentralverwaltungseingriffe erscheinen, erweisen sich aber bei eingehender Analyse als keineswegs i n einer zentralen Willensbildung begründet, sondern vielmehr als dem Wettbewerb einer pluralistischen Willensbildung i n den Sozial-Mechanismen der Wahlen unterworfen. Ebenso kann monopolistisches wirtschaftliches Verhalten von organisierten Gruppen unter Wettbewerbsbedingungen stehen, nun allerdings nicht unter dem ökonomischen Wettbewerb des Marktes, sondern unter dem der Verbände. Durch die Wettbewerbslehre der „pluralistischen Wettbewerbsformen" werden die früheren Ergebnisse der Wettbewerbstheorie nicht aufgehoben, sondern lediglich erweitert. Die Erkenntnis der sozialen Koordinationsfunktion des Wettbewerbs w i r d nicht umgestoßen; sie findet vielmehr analoge Anwendung auch auf die nichtökonomischen Formen des Wettbewerbs. So wie der ökonomische Wettbewerb sich als brauchbares Strukturprinzip der Wirtschaftsordnung erwiesen hat, können die anderen Wettbewerbsformen soziale Gestaltungsprinzipien für ihren jeweiligen Bereich abgeben. Der jeweilige Wettbewerb koordiniert die Glieder der Gesellschaft i n den jeweiligen Bereichen optimal. „Optimal" ist hier unter gesellschaftlichem Aspekt zu verstehen und bedeutet soviel wie: die beste der für alle akzeptablen Lösungen 96 . Jeder einzelne für sich w i r d demgegenüber sicherlich abweichende individuelle Vorstellungen über das Optimale entwickeln. 9

Herder-Dornoich

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

Auch die Forderung nach Wettbewerbsordnung w i r d für eine Lehre von den „pluralistischen Wettbewerbsformen" nicht überflüssig; sie ist jetzt vielmehr auf die Gesamtheit aller Wettbewerbsformen auszudehnen. So, wie der wirtschaftliche Wettbewerb geordnet werden muß, damit seine Koordinationsfunktion zum Tragen kommt, so gilt dies analog für die anderen Wettbewerbsformen. Die Ergebnisse der monistischen Lehren erweisen sich m i t h i n grundsätzlich nicht als falsch, sondern höchstens als einseitig. Analog angewandt auf die übrigen Wettbewerbsformen bleiben sie weiterhin gültig. Ordnung des Wettbewerbs i n allen seinen Formen

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für den Gesellschaftspolitiker? Wenn die Ergebnisse der monistischen Wettbewerbslehren auf die nicht-ökonomischen Wettbewerbsformen (beispielsweise Wahl, Gruppenauseinandersetzungen) i n Analogie übertragen werden, ist zu beachten, daß Analogie weder „Gleichheit" noch „Ähnlichkeit" schlechthin bedeutet, jede Organisationsform des Wettbewerbs hat ihre Besonderheiten, die als solche erkannt werden müssen. Wenn sich zum Beispiel aufgrund unserer Analysen das Ergebnis zeigt, daß beim ökonomischen Wettbewerbsmarkt der Wettbewerb unter möglichst vielen M a r k t partnern optimal ist, so kann dieses Ergebnis nicht unbesehen auf den politischen Wettbewerb übertragen werden. I m Gegenteil, hier hat sich gezeigt, daß der Wettbewerb, wenn er lediglich unter zwei Parteien ausgetragen wird, besonders günstig w i r k t . Die Erfahrung hat gezeigt, daß der Wettbewerb unter einer Vielzahl von Parteien allzu leicht zur Instabilität und zur Auflösung des gesamten demokratischen Prozesses führt 9 7 . Gesellschaftsordnung heißt demnach zunächst Wettbewerbsordnung i n den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, je nach ihren spezifischen Erfordernissen. Gestützt auf seine Kenntnis von den verschiedenen Wettbewerbsprozessen, hat der Gesellschaftspolitiker diese Prozesse bewußt zu gestalten. Eines ist dabei sicher: Wettbewerbsordnung lediglich i n der Wirtschaft durchzusetzen, reicht heute nicht mehr aus. Eine Wettbewerbsordnung der Politik und eine Wettbewerbsordnung der Verbände muß hinzugefügt werden. Ebenso sicher ist, daß diese Ordnungen nicht vom Himmel fallen. Sie müssen bewußt durchgesetzt werden. 96

Vgl. dazu den folgenden Abschnitt „Die optimale Lenkung". Dies hat besonders Hermens i n seinem wissenschaftlichen Werk herausgearbeitet; vgl. Hermens, F. A.: Verfassungslehre, a.a.O.; ders.: Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, F r a n k f u r t 1951 (Die englische Urfassung m i t dem T i t e l : „Democracy or Anarchy", Notre Dame, Ind., erschien bereits 1941); ders.: Demokratie u n d Wahlrecht, Paderborn 1933; ders.: Wirtschaftliche u n d staatliche Stabilität, F r a n k f u r t u n d Bonn 1964. 97

I. Wettbewerb als universales Strukturprinzip

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Hier steht heute der naive Glaube der Altliberalen noch vielfach i n voller Blüte. Man glaubt, eine Wettbewerbsordnung könne das Ergebnis des Wettbewerbs selbst sein, den Beteiligten falle ihre Wettbewerbsordnung von selbst zu. So ist zum Beispiel auf dem Gebiet des Verbandswesens noch kaum akzeptiert worden, daß auch für die Verbände eine Wettbewerbsordnung durch Ordnungspolitik gesetzt werden muß. Man beruft sich auf Verbandsautonomie und beansprucht dabei volle Selbstbestimmung. Oder betrachte man den politischen Wettbewerb: Auch hier ist es üblich, daß die Politiker sich selbst die Verfassung setzen und die Ordnung ihres politischen Wettkampfes selbst bestimmen. Die Institution, welche die Ordnungspolitik der Polit i k betreiben könnte, gibt es erst i n Ansätzen. Die Ordnung des Wettbewerbs i n den einzelnen Sozialwahl-Mechanismen reicht indes nicht aus. Auch der Wettbewerb unter den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen muß geordnet sein. Ein Beispiel für viele: A u f dem Gebiet des Versicherungswesens reicht es nicht hin, den Wettbewerb unter den ökonomisch organisierten Versicherungen (den Unternehmen der Privatversicherung) zu organisieren und zu regeln; es muß auch der Wettbewerb zur Sozialversicherung möglich sein, und auch dieser muß geregelt werden. I n analoger Weise gilt es, den Wettbewerb unter den einzelnen Sozialversicherungsträgern — nun i n wiederum ganz anderen Formen — zu organisieren. Dieses Beispiel durchzudenken ist besonders interessant, da die jeweiligen Sozialwahl-Mechanismen hier sehr unterschiedlich organisiert sind, und der Wettbewerb, der zwischen ihnen besteht, noch wenig i m Bewußtsein verankert ist. Nimmt man einmal an, es sei wirklich gelungen, den Wettbewerb i n allen Sozialwahl-Mechanismen zu ordnen und auch die einzelnen Mechanismen untereinander i n den Wettbewerb zu bringen, so verbürgt auch diese Summe aller geordneten Sozialwahl-Mechanismen noch keine Gesellschaftsordnung i m Sinne einer pluralistischen Wettbewerbslehre. Die Summe aller bestehenden Sozialwahl-Mechanismen macht noch nicht die geordnete Gesellschaft aus. Es muß durchaus m i t der Möglichkeit gerechnet werden, daß die i m Augenblick zur Verfügung stehenden Sozialwahl-Mechanismen gar nicht ausreichen, u m die anstehenden sozialen Probleme zu lösen. Es kann durchaus sein, daß spezifisch gestaltete Sozialwahl-Mechanismen fehlen, die i n der Lage wären, die soziale Koordination i n Bereichen zu leisten, die bisher noch über keine eigene Wettbewerbsordnung verfügen. Das wichtigste einschlägige Beispiel ist die Rückständigkeit i m Bereich der Sozialinvestitionen, wie Schulen, Krankenhäuser, öffentlichen Diensten, Brücken, Straßen Und so fort. Es war vor allem Gal9'

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

braith, der darauf hingewiesen hat, daß gerade die Gesellschaften, die i m Überfluß leben, auf diesen Gebieten einen empfindlichen Mangel leiden 9 8 . Hier fehlen soziale Einrichtungen, die sich gerade dieser Aufgaben annehmen könnten. Wie solche Einrichtungen funktionieren, wäre noch zu zeigen. Aufgabe der Wettbewerbslehre wäre es indes klarzustellen, welche speziellen Wettbewerbsformen i m Bereich der Sozialinvestitionen optimal wirken und welche Wettbewerbsordnung gerade i n diesem Bereich den Wettbewerb optimal und wirksam regeln kann. Gelingt dies, so w i r d die Gesellschaftsordnung insgesamt verbessert werden. Gelingt dies allerdings nicht, so w i r d m i t Sicherheit der K e i l der zentralen Verwaltung i n die Gesamtordnung hineingetrieben, der sie auf die Dauer sprengen wird. Der neue Beitrag und das „alte Wahre" Die hier angestellten Überlegungen setzten zunächst am antiken griechischen Kulturkreis an, weil dort die Ansätze einer Gesellschaftsordnung beobachtet werden konnten, die auf dem Prinzip des Wettbewerbs i n seinen vielfachen Ausprägungen basierte. Den eigentlichen Zugang zum Wettbewerbsdenken eröffneten allerdings erst Adam Smith und die Altliberalen. Sie hatten die Koordinationsfunktion des Wettbewerbs erstmals i n aller Klarheit herausgestellt. Durch den Ordo-Liberalisrtus und sein Denken i n Ordnungen war die alte Lehre erweitert und auf eine neue Grundlage gestellt worden. Durch ihre konsequente Weiterentwicklung i n der Theorie der pluralistischen Wettbewerbsformen und der pluralistischen Sozialwahl-Mechanismen w i r d sie wiederum auf eine neue Stufe gebracht. I n der gegenwärtigen Gesellschaft beobachtet man allenthalben vielfältige Sozialwahl-Mechanismen. Deren Funktionieren gibt allerdings ebenso vielfältigen Anlaß zur Klage. Man sollte jeweils untersuchen, ob hier nicht ungeordneter Wettbewerb herrscht, ein Wettbewerb, der — sich selbst überlassen — ausgeartet ist. Sollte das der Fall sein, so wäre jede direkte Eingriffspolitik fehl am Platze. Sie könnte kaum mehr zuwege bringen, als die Unordnung nur noch zu vergrößern und zu festigen. Einzelne Eingriffe i n einen ungeordneten Wettbewerb haben, aller bisherigen Erfahrungen nach, die notwendige Ordnung nicht hervorgebracht. Hier tut konsequente Ordnungspolitik not — eine Ordnungspolitik, die sich an den Erfordernissen der jeweiligen Wettbewerbsordnung ausrichtet. Die Überlegung erhellt, daß die Forderung Euchens, Ordnungspolitik zu treiben und Eingriffspolitik zu unterlassen, auch für die System98

Vgl. Galbraith, John Kenneth: Gesellschaft i m Überfluß. Deutsch von Rudolf Mühlfenzl, München - Zürich 1959.

I. Wettbewerb als universales Strukturprinzip politik bestehen bleibt. Systempolitik ist heute freilich auf weit mehr Gebieten als dem rein wirtschaftlichen zu führen. Noch behilft man sich zum Beispiel i n der Sozialpolitik, der Landwirtschaft, i m Bereich des Arbeitsmarktes oder des Bergbaus gewöhnlich m i t einzelnen Eingriffen. I n der frühen Phase der Sozialen Märktwirtschaft konnte dies durchaus hingenommen werden. Damals handelte es sich u m Ausnahmen. Heute aber sind diese Bereiche ins Zentrum gerückt. Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft zeichnet sich dadurch aus, daß das, was ehemals i m Zentrum stand, nämlich der ökonomische Markt, mehr und mehr zur Ausnahme w i r d und die früheren Ausnahmen die Regel bilden. Die einzelnen pragmatisch getroffenen Eingriffe von gestern werden mehr und mehr zum Hauptbestandteil der Gesellschaftspolitik von heute. Das geht nicht länger an. Auch i n der gegenwärtigen neuen Phase der Sozialen Marktwirtschaft muß zum Denken in Ordnungen zurückgefunden werden. Das w i r d allerdings nur möglich sein, wenn Wissenschaftler und Politiker die Lehren vom Wettbewerb überprüfen. Heute können m i t den liberalen Theorien die anstehenden Probleme der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung nicht mehr gemeistert werden. Und doch kann auf das „alte Wahre" i n ihnen nicht verzichtet werden. Der Wettbewerb — nun i n seiner umfassenden pluralistischen Interpretation — erweist sich weiterhin als gültiges Gestaltungsprinzip bei der Formgebung unserer Gesellschaft.

I I . Die optimale Lenkung — Das Optimum in einer vielfach gesteuerten Welt Der Inhalt des Optimums W i r haben Lenkungsprobleme und Lenkungssysteme (Wettbewerbssysteme) kennengelernt. Sind die Lenkungssysteme wirklich i n der Lage, die Lenkungsprobleme zufriedenstellend zu lösen? Welches ist die optimale Lösung? Die Beantwortung dieser Frage ist leicht, wenn w i r das Optimum kennen. W i r stellen uns vor, daß w i r behaupten: Für eine Bevölkerung gegebener Größe, gegebener Struktur und gegebener Umwelt ist eine Versorgung m i t Krankenhäusern optimal, wenn so viele Zimmer m i t so vielen Betten, bei so vielen Pflegekräften und so großem medizinischen Aufwand erstellt und betrieben werden, usw. Wer immer solches behaupten kann, der hat das Problem schon gelöst. N u r — seine Behauptung gilt i n der pluralistischen Gesellschaft wenig. Sie gilt so viel wie eine persönliche Meinung. Andere sind nämlich m i t Sicherheit anderer Meinung. Die Meinungsunterschiede sind aber nicht zufällig, sondern sie konstituieren die pluralistische Gesellschaft. Diese zeichnet sich durch den Pluralismus von Meinungen und Wertsystemen aus. I n der pluralistischen Gesellschaft ist das Versorgungsoptimum grundsätzlich ex ante nicht definierbar. Es ergibt sich unter günstigen Umständen erst ex post. Es ergibt sich, wenn durch ein Lenkungssystem die verschiedenen Meinungen der Beteiligten zusammengeführt werden und das Lenkungsergebnis sich daraus entwickelt hat. Ex post können w i r dieses Ergebnis dann als das bestmögliche bezeichnen. Es ist das bestmögliche, das unter den gegebenen Bedingungen erreichbar war. Ex ante kann es indes keiner der Beteiligten formulieren. Nutzen läßt sich nicht kardinal messen. Das ist eine alte Erkenntnis der Ökonomik, die freilich die Wohlfahrtstheorie aus den Augen verloren hat oder jedenfalls lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Die U n möglichkeit, kardinal zu messen, heißt nichts anderes, als daß es keinen von vornherein verbindlichen Maßstab für Nutzen u n d für Werte gibt.

II. Die optimale Lenkung

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Nutzen können immer nur aufgrund eines Wahlaktes, also i m nachhinein festgestellt werden: Das Individuum X hat das Gut a dem Gute b vorgezogen; also hat es a offensichtlich einen höheren Nutzen beigemessen. — Viele haben aus dieser Feststellung den Schluß gezogen, die Nutzentheorie sei nichts weiter als eine Beschreibung eines Wahlaktes. Sie bringe keine neue Erkenntnis über die Feststellung hinaus, daß hier ein Gut einem anderen vorgezogen worden ist. Dennoch ist die Konzeption vom Nutzen (von der Bedürfnisstruktur) heuristisch nützlich. Sie kann uns nämlich verständlich machen, daß dasselbe Individuum, ohne sich (seine Wertvorstellungen) zu verändern, dennoch sein Wahl verhalten ändern kann. Zwei Beispiele: Das Individuum X hat zwischen a und b zu wählen und wählt a. W i r d i h m jedoch zusätzlich noch c vorgelegt, so wählt X nunmehr c. Hier hat sich die Bedürfnisstruktur von X nicht verändert, sondern die Wahlmöglichkeiten haben sich erweitert. Und nun das andere Beispiel: X wählt zwischen a und b i n geheimer Wahl a. Nun w i r d der Wahlvorgang öffentlich gemacht. X wählt b. X fürchtet nämlich, daß die Anhänger von b i h m schaden könnten. Auch hier hat die Bedürfnisstruktur von X sich nicht verändert. Durch die veränderten Wahlbedingungen jedoch sind neue Güter (hier das negative Gut „Bedrohung durch die Anhänger von b") ins Spiel gekommen. Sie sind vielleicht nicht vollkommen neu aufgetreten, sie werden lediglich durch die neuen Wahlbedingungen aktiviert. Der Wahlakt w i r d also nicht nur durch die Bedürfnisstruktur, sondern auch durch die Organisation des Wählens bestimmt. Die Wahlorganisation w i r d aber durch das Lenkungssystem festgelegt. Nun w i r d deutlich, daß ein Individuum, das i n einer Wahlsituation sich die optimale Lösung gewählt hat, m i t größter Wahrscheinlichkeit eine andere Lösung als optimal bezeichnen wird, sobald das Lenkungssystem sich ändert. M i t anderen Worten: Die optimale Lösung ist i m mer auch eine Funktion des Lenkungssystems. W i r stellen ex post fest, daß jedes Lenkungssystem aus sich heraus ein anderes Optimum erzeugt. Sobald w i r ein Lenkungssystem verändern, umkonstruieren, erweitern, ausbauen oder vereinfachen und reduzieren — immer w i r d sich das Ergebnis, auf das es hinführt, verändern. Immer steht dieses Ergebnis als das bestmögliche Ergebnis da. Denn ein Lenkungsergebnis ist optimal immer i n bezug auf ein bestimmtes Lenkungssystem. Damit aber hat sich unsere Frage verschoben. W i r müssen nun fragen, welches Lenkungssystem ist optimal?

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik Das Optimum in einer monistisch gelenkten Welt

Die Beantwortung dieser Frage ist leicht, wenn es nur ein einziges Lenkungssystem gibt, oder wenn dieses Lenkungssystem so beschaffen ist, daß sich i h m gegenüber kein anderes durchsetzen kann. I n einem isolierten Lenkungssystem ist die Lenkung immer vollkommen. Oder: Diejenige Welt ist die beste aller möglichen, die nur über ein einziges Lenkungssystem verfügt. W i r stoßen hier auf einen logischen Zusammenhang, auf dem viele naive Optimumslehren immer wieder aufgebaut haben. Sie haben diesen Zusammenhang für einen realen Zusammenhang ausgegeben und daraus eine primitive Botschaft vom Glück der Welt gemacht: „Laßt uns die Lenkungsprobleme beseitigen", so heißt diese Heilslehre, „ i n dem w i r alle Lenkungssysteme beseitigen, bis auf eines, i n dem sich alles herrlich widerspiegelt". Der Erfolg solcher monistischer Lenkungskonzeptionen ist durchschlagend und muß es sein. Denn in der monistischen Welt geht immer alles auf. Das ist definitionsgemäß so. Die Bestätigung des Optimums ist demnach nichts weiter als eine Tautologie. Wie ist das zu verstehen? W i r wollen zunächst ein abstraktes Beispiel und sodann konkrete Beispiele heranziehen. Ein König wollte sein Reich zu Reichtum führen. Er wußte, daß der Reichtum i m Viehbestand liegt und ließ bekanntmachen, alle Untertanen sollten möglichst viel Vieh halten, seine Herolde kämen jedes Jahr und würden nachzählen. Des Königs Welt war i n Ordnung. Seine Herolde meldeten rasch steigende Viehbestände. Als der König einige Jahre seinen Reichtum glücklich genossen hatte, beschloß er, eine Besichtigungsreise zu machen. Da war sein Glück rasch zerstört, denn er stellte fest, daß das Vieh an Zahl zwar zugenommen, an Größe jedoch eingebüßt hatte. Die guten Untertanen hatten sich auf die Züchtung von Zwergvieh verlegt. Die Messung i n Stückzahlen war hier i n Ordnung, das Problem zeigte sich erst, als man zur Wägung des Gewichtes überging. U n d hier die konkreten Beispiele: W i r hören den Bericht der klassischen Liberalen über das Wirtschaftsoptimum. Die Wettbewerbswirtschaft müsse das Optimum auf alle Fälle erreichen, denn jeder, der feststellt, daß sie sich vom Optimum wegbewege, würde sein ökonomisches Gewicht i n die Waagschale werfen, bis die Wirtschaft sich wieder zum Höchsterreichbaren hinwenden würde. Das Optimum w i r d hier einzig durch die Preise gelenkt und i n den Preisen gemessen. Diese Welt muß immer i n Ordnung sein, solange es neben dem Preismechanismus keinen anderen Lenkungsmechanismus gibt.

II. Die optimale Lenkung

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Sollte sich indes irgendwo ein anderer Lenkungsmechanismus i n Entstehung zeigen, so muß dieser sofort aufgelöst werden. Denn nur solange der Preismechanismus einzig dasteht, zeigt er das Optimum an. Notwendige Folge aus dieser Optimumslehre der Altliberalen mußte also die Zurückdrängung des Staates aus der Wirtschaft sein. Nur der Nachtwächterstaat war für sie ein guter Staat, denn nur ein Staat, der sich aller wirtschaftlichen Tätigkeit enthielt, ließ das Lenkungsmonopol des liberalen Preismechanismus unberührt. Zwar werden viele i n einer solchen, nach altliberalem Muster gelenkten Marktwirtschaft der Meinung gewesen sein, dies und jenes sei doch sehr schlecht gelenkt. Aber ihre persönliche Meinung war für das soziale Optimum nicht von Belang. Führen w i r z.B. den Gedanken einmal modellartig fort und nehmen w i r an, es werde die Meinung geäußert, daß für Abfallbeseitigung und Umweltschutz zu wenig Geld ausgegeben würde. W i r werden feststellen, daß dies „zu wenig" eine unerhebliche persönliche Meinung sein muß, denn offensichtlich wollen ja alle Individuen eben dies für Umweltschutz ausgeben, was sie ausgeben. Wollten sie mehr dafür ausgeben und würde ihnen zu wenig hierfür geboten, so könnten sie es ja tun. Würde also jemand die Individuen veranlassen, zwangsweise mehr für Umweltschutz auszugeben, so würde er sie gegen ihren Willen zwingen müssen und das würde vom sozialen Optimum wegführen. Die Versorgung würde insgesamt also nicht verbessert, sondern verschlechtert. Diese Darstellung, die der ökonomische Liberalismus vielfach zur Hechtfertigung seiner Weltanschauung ausgeführt hat, ist i n sich schlüssig. Freilich, die Feststellung, hier liege die beste aller möglichen Welten vor, besagt nichts anderes, als daß diese Welt eben nur über ein einziges Lenkungssystem, nämlich den Preismechanismus, verfügt. Das B i l d ändert sich sofort, wenn w i r ein zweites Lenkungssystem zulassen. W i r stellen uns vor, diese Marktwirtschaft werde i n eine Demokratie eingebettet. Das Optimum in einer dualistisch gelenkten Welt W i r haben es nun m i t zwei Lenkungssystemen zu tun, einem ökonomischen (Marktwirtschaft) und einem politischen (Demokratie). Die Verbraucher der Marktwirtschaft und die Wahlbürger der Demokratie setzen w i r einfacherweise als identisch an. W i r nennen sie schlechthin Konsumenten. Die Konsumenten haben nun zwei verschiedene Möglichkeiten auf ihre Bedürfnisbefriedigung hinzuwirken. Sie können m i t ihrem Einkommen an den M a r k t herantreten und sich dort die Bedürfnisbefriedigungsmittel kaufen, oder sie können über den demokratischen Wahlprozeß für Steuererhebung und Bedürfnisbefriedigung

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

durch staatliche Stellen eintreten. Zwischen beiden grundsätzlich möglichen Wegen der Bedürfnisbefriedigung können die Konsumenten einen Ausgleich i m Sinne des 2. Gossenschen Gesetzes suchen. Gehen w i r nun vom ökonomischen System als primärem System aus, so können ökonomische Produktion und ökonomische Verteilung durch „sekundäre staatliche Maßnahmen" korrigiert werden. Sozialpolitik als sekundäre Einkommensverteilung bildet einen klassischen F a l l i n dieser Betrachtungsweise. Führen w i r das obige Beispiel vom Umweltschutz i n diesem Sinne weiter: Die Konsumenten sind als ökonomische Verbraucher nicht bereit, wesentliche Beträge für den Umweltschutz auszugeben. Wohl aber sind sie bereit, eine Regierung zu wählen, die erhöhten Umweltschutz i n ihren Programmen verspricht. Sie sind bereit, für eine Verbesserung des Umweltschutzes Steuern zu bezahlen und damit das ökonomische Ergebnis als das zweitbeste zu korrigieren. Freilich, nach der Korrektur durch die demokratische Politik ist die Welt wieder i m Zustande der besten aller möglichen. N u n erscheint das ökonomische und das politische System als ein Gesamtsystem. Jeder, der behauptet, das erzielte Ergebnis sei nicht optimal, muß seine Behauptung als rein persönliche Meinung gelten lassen. Denn offensichtlich sind die Konsumenten nicht bereit (weder auf ökonomischem noch politischem Wege), einen höheren Umweltschutz anzustreben als denjenigen, den sie eben anstreben. I m Vergleich zu ihren anderen Bedürfnissen erscheint ihnen offensichtlich darüber hinaus Umweltschutz nicht so bedeutsam, als daß sie deswegen eine mindere Bedürfnisbefriedigung i n ihren anderen Versorgungsbereichen, sei es über höhere Preise für Umweltschutz oder sei es über Steuern für Umweltschutz, i n Kauf zu nehmen gewillt wären. Das Optimum in einer dreifach/vierfach gelenkten Welt Die Feststellung, der Umweltschutz i n dieser ökonomisch-politisch gesteuerten Gesellschaft sei „unzureichend", ist also nur von außen möglich. W i r können uns vorstellen, daß die Freunde erhöhten Umweltschutzes sich i n Verbänden zusammenschließen. Diese Verbände sammeln Beiträge und leisten Maßnahmen zum Umweltschutz. Sie betreiben z. B. Tierschutz, unterhalten Erholungsparks und dergl. Außerdem üben diese Verbände eine so ausgezeichnete und wirksame Lobbytätigkeit aus, daß die Regierung selbst Maßnahmen erhöhten Umweltschutzes ergreift und zusätzlich i n i h r politisches Programm aufnimmt. Die freie und freiwillige Tätigkeit dieser Umweltschutzverbände führt das ökonomisch-politische System auf ein neues Gleichgewicht

II. Die optimale Lenkung

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hin, das nun als Optimum der Versorgung erscheinen kann. A l l e Beteiligten müssen zugeben, daß ohne das Wirken dieser Verbände eine schlechtere Versorgung bestünde. Freilich, integrieren w i r wiederum die Verbände i n das System, so t r i t t von neuem das Problem der Nichtbeweisbarkeit der Unvollkommenheit auf. Wieder handelt es sich um die beste aller möglichen Welten, jedenfalls so lange, bis irgendwoher ein zusätzliches System hinzutritt. Dieses zusätzliche System könnte etwa i n einer freiheitlich organisierten Presse und i n freiheitlich organisierten Massenmedien liegen. Die freie Presse greift den unzureichenden Umweltschutz auf, berichtet darüber und sucht eine Verbesserung zu erreichen. Lenkungssysteme und Metasysteme Wenden w i r uns einem anderen Beispiel zu. W i r stellen uns vor: Da ist eine zentral verwaltete Volkswirtschaft. I n i h r gilt als einziges Lenkungssystem der zentrale Plan. Planerfüllung ist alles. Denn der Plan ist die einzige Norm. Sollte jemand der Meinung sein, hier werde zu wenig für individuelle Bedürfnisse aufgewandt, so ist das eine persönliche Meinung, die nichts gilt und nichts gelten kann. Die wirkliche Übersicht über das, was notwendig ist, können nur die Planer haben, ein Individuum kann dies nicht für sich i n Anspruch nehmen. Es kann sich höchstens als abseitig und irrenhausreif qualifizieren. Freilich, führen w i r i n diesem System i n irgendeiner Weise einen Preismechanismus ein, und sei es nur i m Außenhandel, so w i r d die zentral verwaltete Welt als die beste aller möglichen rasch erschüttert. N i m zeigt sich, wie weit die Abweichung von der Rationalität der Individuen reicht, und es h i l f t nur eines: Rückkehr zum Monismus, Beschränkung auf das Lenkungsmonopol eines einzigen Lenkungssystems: der Zentralverwaltung. W i r können die Ergebnisse unserer Überlegungen ein wenig ordnen. W i r stellen fest: I n einem isolierten Lenkungssystem ist die Welt immer i m Optimum, ex post. Ob sie es auch ex ante ist, ist nicht feststellbar. Es fehlt der „archimedische P u n k t " außerhalb dieser Welt, von dem aus man sie aus den Angeln heben könnte. Der Mangel w i r d erst beweisbar, wenn ein zusätzliches Lenkungssystem zum bereits bestehenden Lenkungssystem hinzutritt. W i r nennen es Meta-System und sprechen dann von Meta-Lenkung. Jetzt können w i r sagen: Die Mängel der sonst heilen Welt zeigen sich im Meta-System. I m Beispiel von der primären Marktwirtschaft ist die Demokratie Meta-System. I m politisch-ökonomischen Gesamtsystem (Marktwirtschaft + Demokratie) ist das Verbandswesen Meta-System. I n der öko-

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

nomischen Verbandsdemokratie (Marktwirtschaft + Demokratie + Verbände) ist die öffentliche Meinung Meta-System usw. Ein MetaSystem läßt sich immer wieder neu hinzudenken. Und damit w i r d offenbar, daß jede heile Welt sofort i n Unordnung gerät, sobald ein Meta-System eingeführt wird. Freilich, das Meta-System bringt nicht die Unordnung, sondern bringt sie nur ans Licht. Aber wo ist da der Unterschied? Umgekehrt können w i r uns ebenso vorstellen, wie eine heillose Welt sofort ins Lot gebracht werden kann, sobald man auf Meta-Systeme verzichtet. Das Lenkungsparadox Dies ist einer der wichtigsten Sätze der Lenkungswissenschaft: Formal läßt sich das Lenkungsergebnis verbessern, indem man auf Lenkung (Lenkungssysteme, nämlich Meta-Systeme) verzichtet. Real läßt sich das Lenkungsergebnis verbessern, indem man die Lenkung vermehrt (zu den bestehenden Lenkungssystemen werden Meta-Systeme hinzugefügt). Die reale Verbesserung der Lenkungsergebnisse ist nur durch eine formale Verschlechterung möglich. Weil dieser Satz so widersprüchlich erscheint, wollen w i r i h n als das Lenkungsparadox bezeichnen. Stellen w i r uns eine wie immer gelenkte Volkswirtschaft vor. Sie erweist sich nach einer gewissen Zeit des Einpendeins bald als optimal. Führen w i r nun i n dieses Gedankengebilde eine freie Presse ein. Überall w i r d diese Presse Mißstände entdecken und bewußt machen. Formal w i r d unsere Volkswirtschaft damit schlechter. Real aber w i r d eine Versorgung erreicht, die besser ist als zuvor. Denn viele der aufgewiesenen Fehler werden beseitigt und unter dem Druck der öffentlichen Meinung abgestellt. Die reale Besserstellung geht auf Kosten der formalen. Denken w i r uns den Fall rückläufig: Die freie Presse w i r d abhängig. Die K r i t i k schweigt, die vorher freien Journalisten werden zu Werbeangestellten und Agenten von Volksaufklärung und Propaganda. Formal ist diese reduzierte Welt besser, real aber nicht. Mißstände werden nun nicht mehr aufgedeckt, aber sie bestehen und vermehren sich. Der optimale Lenkungsgrad W i r haben von primären Lenkungssystemen und folglich von sekundären und tertiären und von Meta-Systemen gesprochen. Meta-Systeme sind i n dieser Betrachtungsweise immer die späteren in einer Reihe. Das Lenkungsparadox zeigt uns, daß bei verbesserter Lenkung zwar die Versorgung besser wird, gleichzeitig w i r d aber die Beunruhigung

I . Die optimale Lenkung

141

der Bevölkerung größer. Gibt es hier ein Optimum? Welches ist der optimale Grad an Lenkung? Offensichtlich liegt das Optimum dort, wo der zusätzliche reale Lenkungseffekt eines zusätzlichen Lenkungssystems geringer ist als die zusätzliche Beunruhigung über die formale Fehllenkung. W i r können das graphisch etwa wie i n der Figur 9 darstellen. (Das Modell vereinfacht sehr stark; w i r werden es unten noch einer intensiven K r i t i k unterziehen müssen.)

SP

A u f der Abszisse sind hier die Lenkungssysteme (L) eingetragen, auf der Koordinate die positiven realen Lenkungseffekte, gemessen i n Sozialproduktzuwächsen SP, die der vermehrten Lenkung zuzuschreiben sind. W i r sehen i n der K u r v e W, daß die realen Versorgungszu-

142

C. Dynamische

rdnungspolitik — Systempolitik

wächse aufgrund verbesserter Lenkung durch zusätzliche Lenkungssysteme L entstehen. Sie steigen zunächst rasch an, erreichen allmählich einen Höhepunkt, jenseits dessen sie wieder zu sinken beginnen. Zusätzliche Steuerung mehrt hier also den Output nicht, sondern mindert ihn absolut. Oder sehr vereinfacht: Viele Rezepte verderben den Brei. I m Bereich sinkender Lenkungserträge liegt absolute Übersteuerung vor (rechts von I5). Gleichzeitig beobachten wir, wie bei zunehmender Lenkung aufgrund des Lenkungsparadoxes Beunruhigung über die steigende formale Fehllenkung hervorgerufen wird. W i r stellen uns vor, u m wieviel das Sozialprodukt wachsen müßte, u m diese Beunruhigung auszugleichen. M i t steigender Zahl von eingesetzten Lenkungssystemen steigt die Beunruhigung an und wächst immer schneller. W i r erhalten die K u r v e B. Aus dem Kurvenverlauf W und B ergibt sich i m Falle der Figur 9 eine optimale Lenkung i m Bereich I2 und Z4. I m P u n k t Z3 sind die Effekte des Lenkungsparadoxes i m Minimum. Was bestimmt den Verlauf der K u r v e n W und B? W gibt die ökonomische Effizienz des Kombinationsfaktors Lenkung an. Entsprechend den Erfahrungen des Ertragsgesetzes unterstellen w i r einen S-förmigen Verlauf. Dabei ist es für unsere Überlegungen nicht so wichtig, ob der Verlauf wirklich S-förmig ist; bedeutsam ist lediglich, daß die K u r v e einen Ast m i t einem degressiven Verlauf aufweist. Die Effizienz der Lenkung n i m m t auf diesem Ast allmählich ab, je mehr Lenkung bereits eingesetzt ist. Die Kurve B gibt eine psychologische Feststellung wieder. Sie gibt an, daß die Individuen einer zunehmenden Lenkung Widerstand entgegensetzen, der durch Lenkungsergebnisse überwunden, bzw. kompensiert werden muß. Die Kompensationsraten werden dabei immer größer. Bei der Beurteilung der B - K u r v e sind vor allem zwei Motive wichtig: das Motiv der abnehmenden rationalen Transparenz und der abnehmenden emotionalen Identifikation. Durch die zunehmende Zahl der Lenkungssysteme w i r d die Welt der Individuen komplizierter. Sie w i r d immer undurchsichtiger und unbegreiflicher. Das Unübersichtliche läßt Befürchtungen entstehen, daß vielleicht alles gar nicht so wohlgeordnet sei, wie man glaubt. Es bringt Risiken m i t sich, daß vieles i m einzelnen vielleicht fehlläuft. Die Intransparenz beunruhigt Die kompliziert gelenkte Welt gerät aber auch auf Abstand — die einfach organisierte Welt ermöglicht es, sich m i t ihr zu identifizieren. Die Möglichkeiten, sich emotionell mit der Umwelt zu identifizieren, nehmen bei komplexer Lenkung ab und verschwinden schließlich ganz. Für einen Winkelried ist die Welt einfach. Er überblickt die starrenden

I . Die optimale Lenkung Lanzen i n der Schlachtreihe der Ritter. Er überblickt die Freiheit seines Volkes und weiß, daß es nur eines geben kann: I n diese Front der Lanzen muß eine Bresche geschlagen werden. Winkelried kann sich m i t der Situation identifizieren und er kann das Problem lösen, indem er ein Bündel Lanzenspitzen auf sich zieht. Wer aber überblickt unsere Umweltschutzprobleme wirklich? Wer überblickt die Zusammenhänge unserer Sozialinvestitionen i n der Weise, daß er sich m i t der Situation emotional so identifizieren kann, daß die Begeisterung des Winkelried aufkommt? I n der Komplexität der vielfach-gelenkten Umwelt geht der Kontakt zur Welt verloren. Und schließlich kommt der Punkt, wo sich der eine und der andere sagt: „Wozu noch bessere Versorgung da und dort, wenn uns das Ganze dabei aus den Augen und aus dem Herzen gerät. Lieber weniger Versorgung und bessere Übersicht, Einsicht und Zusieht." Und die Begeisterungsfähigen können sich für eine so komplexe Welt nicht mehr begeistern. Sie verzweifeln an ihr. So geraten w i r i n den Bereich relativ übersteuerter Lenkung. Der Bereich der relativ übersteuerten Lenkung ist i n der Figur 9 durch Üb gekennzeichnet. Versuchen w i r die Figur 9 auszuwerten, so lassen sich folgende Ergebnisse ablesen: Absolute Übersteuerung

setzt bei System V I I ein und w i r d bei System

V I I I deutlich spürbar. Relative Übersteuerung Minimum

w i r d bei Einsatz des Systems V I erreicht.

des Lenkungsparadoxes

i m Bereich von System V.

Optimale Lenkung i m Bereich des Einsatzes des Systems V. Untersteuerung

liegt i m Bereich der Systeme I bis I I I vor.

Die Systeme I V und V I sind besonders kritische Systeme. Gelenkte Selbstentwicklung Was ergibt sich aus diesen Überlegungen für unsere Feststellung vom Lenkungsdefizit? Aus der Figur 9 läßt sich leicht ablesen, daß eine Versorgungsverbesserung (höheres Sozialprodukt SP) erreicht werden kann durch einen verstärkten Einsatz des „Produktionsfaktors" Lenkung, also durch den Einsatz von mehr Steuerungssystemen. Es sind deshalb Voraussetzungen zu schaffen, daß eine Entwicklung von Lenkungssystemen vor sich gehen kann, ohne sofort und i n jedem Falle einen staatlichen Eingriff oder ein Gesetz notwendig zu machen. Lenkungssysteme sind bewußt einzurichten, zu ordnen und zu erhalten, i n der Hoffnung, daß die Beteiligten, wenn sie nur über geeignete

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

Lenkungsmöglichkeiten verfügen, sich auch dieser bedienen werden. W i r wissen aus unseren Überlegungen weiter, daß der Faktor Lenkung aufgabenspezifisch ist. Er läßt sich also nicht allgemein vermehren und dann an diesem und jenem Ort zum Einsatz bringen. Lenkungsverbesserung, Systementwicklung ist also immer spezialisiert. Sie ist auf die jeweils vermutete Versorgungslücke h i n entworfen. Lenkung kann deswegen auch nicht aus Bereichen der Überversorgung i n Bereiche der Unterversorgung übertragen werden. Damit ist zweierlei deutlich geworden: 1. Der Faktor Lenkung, der sich i m M i n i m u m befindet, w i r d nicht dadurch erhöht, daß von einer Zentrale aus lenkend eingegriffen wird. 2. Den Faktor Lenkung vermehren kann auch nicht der einzelne. Lenkungssysteme müssen auf überindividuellem, also auf gesellschaftlichem Wege bereitgestellt werden. Hier werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den anderen Produktionsfaktoren (Kombinationsfaktoren) deutlich. Z. B. können die Faktoren Arbeit und Kapital vorwiegend individuell bereitgestellt werden. Auch der Faktor Management ist individuell bereitstellbar. Die Faktoren Boden und technischer Fortschritt sind nur m i t erheblichen gesellschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen individuell zur Verfügung zu stellen. Der Faktor Lenkung ist ausschließlich gesellschaftlich bereitzustellen. Die vermehrte Bereitstellung von Produktionsfaktoren geschieht sinnvollerweise dadurch, daß man die Bedingungen schafft, unter denen die Produktionsfaktoren sich bilden können. Das gilt selbst für den Faktor Boden, obwohl naturgemäß dieser noch am ehesten als naturgegebenes Datum angesehen werden könnte. Es gilt aber ganz bestimmt für den Faktor Lenkung. Die Lenkung w i r d nicht dadurch verbessert, daß derjenige, der lenkt oder der die Lenkung verbessern möchte, mehr lenkt, sondern dadurch, daß die Möglichkeiten zu lenken für alle Beteiligten verbessert und vermehrt werden. Übertragen w i r diesen Satz etwa auf den Faktor Arbeit, so w i r d er rasch einleuchten: „Der Faktor Arbeit w i r d nicht dadurch vermehrt, daß derjenige, der i h n vermehren möchte, mehr arbeitet, sondern daß er die Bedingungen schafft, unter denen die Gesellschaftsmitglieder bereit sind, mehr zu arbeiten." Das Modell der Figur 9 vermag uns die Zusammenhänge übersichtlich zu machen. Es vermag uns auch zu zeigen, was w i r tun sollen. Aus der Figur geht direkt hervor, daß das Optimum der Lenkung zwischen h und h liegt. Der Bereich Üb ist übersteuert, der Bereich Un ist

II. Die optimale L e n k g

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untersteuert. Die Situation könnte absolut verbessert werden, wenn man die Lenkung bis zum absoluten M a x i m u m i m System V I I ausbauen könnte; hier allerdings ist die Beunruhigung der Individuen bereits so groß, daß dieser Lenkungsausbau relativ dazu nicht durchführbar ist. Es käme also darauf an, die K u r v e B zu senken, also der Beunruhigung entgegenzuwirken. Oder/und man müßte versuchen, die K u r v e W anzuheben, also die vorhandenen Lenkungssysteme effizienter zu machen. I n der Figur 9 sind diese Möglichkeiten als realisiert i n den K u r v e n B' und W 9 eingetragen. Dabei w i r d ersichtlich, daß jetzt System V I und V I I noch realisiert werden kann. Das absolute Lenkungsmaximum läge hier beim Einsatz von System I X . Der Verlauf von B' und W' ist also für eine Lenkungsorganisation günstiger als B und W. Aus diesen Überlegungen ergeben sich vor allem drei Forderungen: 1. W i r müssen die Lenkungssysteme vermehren, falls w i r uns i m Bereich der Untersteuerung befinden. I n der Figur 9 bedeutet dies, etwa von Zi auf h und h hinüberzuschreiten. Umgekehrt müssen w i r die Zahl der Lenkungssysteme vermindern, falls w i r uns i m Bereich der Übersteuerung (rechts von U) befinden. 2. W i r müssen die Lenkungseffizienz der Systeme verbessern, soweit diese noch ausbaufähig sind. I n der Figur 9 bedeutet das, die Effizienzkurve W auf W' anzuheben. 3. W i r müssen die rationale und emotionale Transparenz der Systeme verbessern. I n der Figur 9 bedeutet dies, die K u r v e B auf B ' zu senken. Verbesserung der Lenkungseffizienz bestehender Systeme W i r fassen i n unserem Modell zunächst das Grenzsystem ins Auge, also dasjenige Lenkungssystem, das gerade nicht mehr zum Zuge kommt, und fragen uns, wie es für die Verbesserung der Lenkung noch hinzugewonnen werden kann. Aus unserem Modell ergibt sich, daß dieses Lenkungssystem an der Grenze i n die Lenkung einbezogen werden kann, wenn die Effizienzkurve gehoben und/oder die Beunruhigungskurve gesenkt wird. W i r wollen zunächst Maßnahmen zur Absenkung der Beunruhigungskurve besprechen. Reduzierung der Beunruhigung Transparenzmotiv: Die Vielzahl der Lenkungssysteme macht die Lenkung insgesamt unübersichtlich. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Die Qual w i r d indes weniger durch die Wahl verursacht als durch die Bemühung, sich darüber zu informieren, was es eigentlich zu wählen gilt. Die Wahl verursacht dem Wählenden Informationskosten. 10

Herder-Dorneich

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C. Dynamische Ordnngspolitik — Systempolitik

W i r wollen einige Informationskosten nennen: Beiträge zu einem Interessen verband; Beratung durch Steuerberater; Rentenberechnung; Kauf von Broschüren und Zeitschriften. Diese finanziellen Belastungen sind indes relativ gering. Sie schlagen gegenwärtig w o h l nur noch bei der Steuerberatung 90 zu Buche. Ins Gewicht fallen die Aufwendungen, die sich i n Zeitverlust und Mühe und Wegen niederschlagen: Informieren heißt lernen und lernen ist anstrengend. Die Transparenz der Systeme kann verbessert, die Informationskosten können verringert werden, vor allem durch zwei wichtige Maßnahmen: 1. Die Systeme werden vereinfacht (weniger komplex). 2. Bewußte Transparenzvorschriften: Es werden entweder durch den Gesetzgeber oder durch das Aufsichtsamt (Kartellamt) Publizitätsvorschriften erlassen. Identifikationsmotive: Die Schwierigkeit, daß es dem modernen Menschen immer weniger gelingt, sich m i t seinen Gemeinschaftsprozessen zu identifizieren, ist bedauerlich. Aber sie ist von der Sache her nicht zu beseitigen. Denn die modernen Lenkungssysteme sind nun einmal kompliziert und damit zu einem wesentlichen Teil abstrakt. Eine Gesellschaft, die Fahnen entrollt, aufmarschieren läßt und Personenkult betreibt, ist emotionell i m Vorteil gegenüber einer Gesellschaft, die sich m i t Hilfe von Formularen und anonymen Systemen organisiert. Sicherlich w i r d eine größere Transparenz der Systeme, eine leichtere Durchschaubarkeit ihrer Wirkungen und ihres Arbeitens viele negative Emotionen abbauen können. Indes, die Möglichkeiten, über den Verstand an die Gefühle heranzukommen, sind beschränkt. Hier ist sicher eine Gemeinschaftswerbung der an den Lenkungssystemen Beteiligten angebracht. Diese Werbung sollte über die Lenkungsfunktionen informieren. Vor allem muß aber auf den Unterricht i n den Schulen hingewiesen werden, i n denen jetzt das Fach Politik (die Bezeichnimg ist unterschiedlich) eingeführt wird. Es ist zu erwarten, daß die Lehrkräfte i m politischen Unterricht nicht in der Lage sind, soziale Lenkungssysteme in ihrer Wirkungsweise zu erfassen und zu erklären. Es ist eher zu erwarten, daß schon die Lehrer vor den komplexen Zusammenhängen kapitulieren und sich auf eine Kritik der Lenkungsergebnisse be99 Vgl. dazu Lindner, Heinrich: Die Inanspruchnahme steuerlicher u n d v e r mögenspolitischer Vergünstigungen durch die Lohnsteuerpflichtigen unter besonderer Berücksichtigung der Lohnsteuerpflichtigen i n Nordrhein-Westfalen, Opladen 1972.

II. Die optimale Lenkimg

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schränken. Es sollte den Schulen expressis verbis zur Aufgabe gemacht werden, die inneren Zusammenhänge darzustellen und zu erklären. Insofern müßte das Fach Politik also den naturwissenschaftlichen Fächern gleichgestellt werden. Es sollte nicht auf die weltanschaulichen Fächer reduziert bleiben. Die Messung des Optimums Versorgungsbereiche: W i r haben i n den vorigen Abschnitten herausgearbeitet, wie ein vermehrter Einsatz des Koordinationsfaktors Lenkung die Versorgung i n einem Versorgungsbereich verbessern kann. W i r können nun umgekehrt schließen, daß eine Unterversorgung in einem Versorgungsbereich auf einen zu geringen Einsatz des Kombinationsfaktors Lenkung zurückzuführen ist. Dieser Schluß legt sich nahe, wenn w i r von den Bedingungen einer Wohlstandsgesellschaft ausgehen, die über die anderen Produktions- und Kombinationsfaktoren reichlich verfügt. Der Schluß ist sogar zwingend, wenn w i r zudem unterstellen, daß es nur die sechs genannten Produktionsfaktoren (Kombinationsfaktoren) gibt. Unterversorgung i n einem Versorgungsbereich weist dann immer darauf hin, daß der Faktor Lenkung sich im Minimum befindet. Versuchen w i r also, uns einen Überblick über die Versorgungslagen i n den Versorgungsbereichen zu verschaffen. W i r schlagen dazu zwei Wege ein. W i r untersuchen einmal die Versorgung i n einem speziellen Versorgungsbereich (Versorgung m i t dem Gute m) und beobachten, wie hier die einzelnen Konsumenten versorgt werden. W i r gliedern die Konsumenten dazu zunächst vereinfachend i n Einkommensklassen. Z u m anderen untersuchen w i r die gesamte Versorgung der Volkswirtschaft, indem w i r alle Versorgungsbereiche nebeneinander stellen und ihr durchschnittliches Versorgungsniveau miteinander vergleichen. Die Versorgung unterschiedlicher Einkommensklassen mit einem Gut: W i r stellen uns vor: Die Versorgungseffizienz der Lenkungssysteme läßt sich messen. (Eine solche Vorstellung w i r d mancher kritisieren wollen; w i r werden sie i n den weiteren Überlegungen selbst kritisch weiterverfolgen.) W i r tragen die Versorgungseffizienz m i t der Skala V auf der Koordinate eines Quadranten ab. A u f der Abszisse tragen w i r die speziellen Versorgungsbereiche an, die w i r ebenfalls messen. Es ist die Versorgung der Einkommensbezieher E 0 bis E n. Die einzelnen Versorgungssysteme sind also i n unserem Modell auf spezielle Einkommensgruppen zugeschnitten. Ihre Effizienz erreicht bei bestimmten Einkommenshöhen einen Höhepunkt, steigt vorher an, fällt nachher ab. W i r haben es m i t fünf Systemen a bis e zu tun. Es ergibt sich die Effizienzverteilung, wie i n Figur 10 unterstellt. I n der Figur 10 grei10*

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

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fen w i r einen Gedanken leicht modifiziert wieder auf, den w i r oben i m Abschnitt über das „Konzept der Vielfachsteuerung" entwickelt haben. Vi

Figur 10 Der Effizienzbereich a deckt sich fast zur Hälfte m i t Effizienzbereich e. b deckt sich zum großen Teil m i t c. e deckt sich zu einem erheblichen Teil m i t d. c und d überschneiden sich nur gering. Treten diese Systeme a bis e miteinander i n Wettbewerb, so können a und b verdrängt werden, ohne daß die Effizienz insgesamt fühlbar nachläßt. Dabei ist die Effizienz von a absolut gemessen höher als die von b, e und d. Diejenige von b ist höher als diejenige von e. Dennoch entfällt beim Verschwinden von b und a nur eine relativ geringe Effizienzfläche (schraffiert). Die Transparenz beim Rückgang von fünf Systemen auf drei w i r d aber sicherlich erheblich größer. W i r können uns nun fragen, was höher zu veranschlagen ist, der Effizienzverlust aufgrund der geringen Lenkung [weniger Lenkungssysteme: (c + d + e) — (a + b)] oder größere Transparenz und damit geringere rationale und emotionale Beunruhigung. W i r können uns aber auch vorstellen, das Lenkungssystem d sei nicht existent. Aus der Figur 10 w i r d unmittelbar ersichtlich, daß dadurch eine Versorgungslücke eintritt. I m Bereich E c bis E e gibt es überhaupt keine Versorgung. I n den Bereichen unmittelbar daneben besteht eine fühlbare Unterversorgung. Hier ist der Effizienzverlust sehr hoch. Die Transparenz dagegen w i r d nur wenig erhöht. Offensichtlich ist hier nicht die Beseitigung eines Lenkungssystems, sondern

II. Die optimale Lenkung

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die Schaffung zusätzlicher Lenkung (nämlich Lenkungssystem d) angeraten. Die Versorgung aller Sektoren einer Volkswirtschaft W i r beobachten jetzt die gesamte Versorgung einer Volkswirtschaft, indem w i r die Versorgungslage aller ihrer Sektoren nebeneinanderstellen. W i r tragen auf der Abszisse die verschiedenen Versorgungsbereiche an; w i r unterscheiden dabei 6 Versorgungsbereiche: den primären Versorgungsbereich (landwirtschaftliche Güter), den sekundären (industrielle Güter), den tertiären (Dienstleistungen), dazu einen quartären Versorgungsbereich, der die öffentlichen Güter des Sozialkonsums umfassen soll, einen quintären für die Sozialinvestitionen und einen sextären für die öffentlichen Dienste. A u f der Koordinate tragen w i r die Höhe des Versorgungsniveaus V ab. Es ergibt sich die Figur 11. Die Verbindungslinien der Versorgungsniveaus repräsentieren ein Versorgungsprofil, das deutlich die unterschiedliche Versorgung i n der Wohlstandsgesellschaft zeigt. Vf

i

n

m

iv

v

vi

Figur 11 Die Modelle der Versorgungsprofile sind einprägsam. Sie geben bildhaft die These von der unterversorgten Wohlstandsgesellschaft wieder, wie sie etwa Galbraith formuliert hat. Allerdings müssen w i r uns darüber klar sein, daß die Graphiken nur eine subjektive Meinung wiedergeben. Wie wäre es nämlich möglich, den Versorgungsgrad V zu messen? Tatsächlich können w i r nur die persönliche Meinung des Herrn Galbraith oder des Herrn X wiedergeben. Eine wissenschaftlich verbindliche Aussage läßt sich i n dieser Weise nicht machen. Das ist

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

außerordentlich wichtig festzustellen. Denn immer wieder w i r d behauptet, die Unterversorgung sei eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache. Wissenschaftlich erweisbar ist sicherlich, daß viele Individuen über Unterversorgung i n speziellen Bereichen klagen. Aber wenn es nicht aufs Reden ankommt, sondern aufs Handeln, dann müssen w i r feststellen, daß alle Beteiligten offensichtlich so handeln, wie sie handeln, und daß sie sich letztlich nur über sich selbst beklagen. Wenn die Behauptung eines Optimums eine Tautologie ist, so ist es die Behauptung einer Minderversorgung ebenso. Dieser Satz ist weitreichend. W i r müssen i h m noch einige Aufmerksamkeit widmen. Einerseits w i r d zwar oft zugegeben, daß interpersonelle Nutzenvergleiche nicht möglich seien. Andererseits werden sie aber doch genauso oft wieder i n die Argumentation heimlich eingeführt. Die beliebteste Form dieser modernen Schmuggelei heißt „Kosten-Nutzen-Vergleiche". Wenden w i r uns noch einmal der Figur 11 zu. Liegt es nicht nahe, die Überversorgung i m Sektor I, I I und I V abzubauen zugunsten der Unterversorgung i n den Sektoren I I I , V und VI? Brauchen w i r nicht einfach nur Produktionsfaktoren aus diesen Versorgungsbereichen abzuziehen und den anderen Sektoren zuzuweisen? Die Frage liegt so einfach, daß man sie leicht bejahen zu können glaubt. Zwei entscheidende Hemmnisse stellen sich ihr entgegen: 1. Der Kombinationsfaktor Lenkung kann nicht wie die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital oder auch Management von einer Produktion i n die andere transferiert werden. Die Lenkungssysteme sind nämlich spezifisch. Ihre Effizienz ist auf bestimmte Güterarten abgestimmt und nur für diese geeignet. Wenn aber gerade der Faktor Lenkung sich i m M i n i m u m befindet, nutzt es nur wenig, die anderen Produktionsfaktoren zu verschieben. Sie könnten kaum effektiv werden. 2. Selbst wenn und insoweit es möglich ist, Faktoren von einem Versorgungsbereich i n den anderen zu verlagern, welches ist dann das richtige Maß dafür? Wie läßt sich Versorgung, Minderversorgung und ausgeglichene Versorgung messen? Von der allgemeinen Diskussion werden uns mehrere Maßgrößen genannt. W i r wollen sie i m einzelnen durchsprechen. Maßgrößen der Versorgung Technische Maßgrößen: Die Unterversorgung einzelner Bereiche w i r d am häufigsten i n technischen Maßgrößen beschrieben. Es w i r d z.B. beschrieben, daß eine optimale Versorgung m i t Krankenhausdiensten bei vier Betten pro Krankenschwester liege und es w i r d dann festgestellt, daß diese Verhältniszahl nicht erreicht sei und daß beim gegen-

II. Die optimale L e n k g

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wärtigen Stand an Schwestern pro Betten insgesamt 30 000 Schwestern fehlen. Oder es w i r d eine gute Lehrkapazität von 30 Schülern pro Klasse angegeben und dann wiederum ein Fehlbestand an Lehrern berechnet. Bei solchen Berechnungen liegt es auf der Hand, daß sich das E r gebnis sofort verändert, je nach dem, welches Optimum man einsetzt. Woher kommt also die optimale Vorgabeziffer? Nehmen w i r an, sie sei uns irgendwie überzeugend dargetan worden, so t r i t t dasselbe Problem sofort wieder auf, wenn w i r mehrere solcher Ziffern miteinander vergleichen. Denn wenn w i r etwa vermehrt Lehrerinnen einsetzen möchten, würde dann unser Einsatz an Krankenschwestern unter Umständen davon betroffen, potentielle Krankenschwestern werden jetzt zu Lehrerinnen ausgebildet. Was aber ist da wichtiger: Die Klassenstärke zu senken oder die Krankenhauspflegedienste zu verbessern? Oder sollte nicht vielleicht die durchschnittliche Krankenhausaufenthaltsdauer verkürzt werden, um auf diese Weise den Schwesternmangel zu beseitigen? Technische Maßgrößen eignen sich nur zum Vergleich innerhalb desselben Maßstabes. Die Ökonomik hat das seit langem schon erkannt. Dennoch konnte sich eine ganze Planungswissenschaft entwickeln, die diesen Satz als Bagatelle, die leicht zu beheben sei, abtat und als wissenschaftstheoretisches Grundlagenproblem nicht ernst nahm. Aber ist die Ökonomik nicht m i t ihrer Argumentation gegenüber Planern i n denselben Fehler verfallen? Und muß nicht auch der Optimismus der Ökonomen, messen und vergleichen zu können, gebremst werden? Die Ökonomen haben i m Preissystem einen Maßstab gefunden, durch den physisch nicht Vergleichbares in seinen Preisen dennoch verglichen werden kann. ökonomische Maßgrößen: Man berichtet uns, daß für den Bau einer Brücke Eisen und Beton notwendig seien. Die Stahlbrücke bedürfe lediglich einiger Betonlager an den Ufern. Die Betonbrücke dagegen brauche viel Beton und nur wenig Stahl zur Armierung. Und die Brücke schließlich aus Spannbeton brauche von beiden wenig. Welche Brücke ist also die beste? Vor dieser Frage muß der Techniker rasch resignieren. Aus der Menge von Stahl und Beton läßt sich noch kein Schluß darauf ziehen, was vorzuziehen sei. Der Ökonom dagegen vermag beide Materialien m i t ihren Preisen zu gewichten und er vermag diejenige Kombination anzugeben, die bei gewünschter Tragfähigkeit der Brücke am billigsten kommt. Hier sind die ökonomischen Maßgrößen also rein technischen Größen überlegen. Diese Überlegenheit hat i n der Tat dazu geführt, daß man Wirtschaftlichkeitsberechnungen vielfacher A r t angestellt hat. Nicht nur die Unternehmen, auch die

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

Staaten und die Krankenhäuser stellten Geldrechnungen ihrer Tätigkeiten auf. Allerdings ändert die Überlegenheit der ökonomischen Geldrechnung über die technischen Maßgrößen nichts an dem Satz, daß Vergleiche nur innerhalb desselben Maßsystems möglich sind. Außerdem macht sie Mt technischen Maßgrößen auch nicht überflüssig. Eine Geldrechnung ist nämlich nur auf der Basis einer Rechnung i n technischen Maßgrößen möglich. U m die Kosten zu erfassen, müssen ja immer die Mengen m i t den Preisen multipliziert werden. Mengen allein tun es nicht, Preise allein aber auch nicht. W i r müssen also unterscheiden zwischen Grundlagenrechnung und Bewertungsrechnung. Die Grundlagenrechnung ist i n unserem Falle die Rechnung i n technischen Größen. Die Bewertungsrechnung ist die Rechnung i n Geldgrößen. Die Bewertimg ist dabei bezogen auf das ökonomische System. Der Wertbezug darf nicht außer acht gelassen werden. Wert w i r d den Dingen zugemessen innerhalb des Systems, i n dem sie gelten. Denn was nützt es dem Unternehmer, wenn er eine Menge Stahl verbaut, m i t seinen Bauten aber keinen Gewinn erzielt und i n den Bankrott geht? Politische Maßgrößen: W i r sind uns inzwischen k l a r geworden, daß das ökonomische System eines unter vielen ist; zwar ein außerordentlich weit entwickeltes System und ein außerordentlich wichtiges System, aber dennoch nur eines. Eine ökonomische Bewertung ist deshalb sicherlich bedeutsam, aber sie ist nicht die einzig mögliche. Sie ist auch nicht die einzig relevante. Bleiben w i r beim Beobachtungsfall der Brücke. Ein Unternehmer baut die Brücke, aber er baut sie nicht für sein Wirtschaftsunternehmen, sondern i m Auftrag einer Landesregierung. F ü r die Politiker i n der Regierung ist die Brücke nicht nur ein technisches Bauwerk und nicht nur ein Kostenfaktor, sondern darüber hinaus ein Politikum. Die Politiker hoffen, m i t dem Bau der Brücke Politik zu machen. Sie wollen die Organisationen und die Wähler dieses Landesteiles davon überzeugen, daß dieser Distrikt gegenüber anderen nun einen wichtigen Vorteil i n der Brücke erhalte, daß die Landesregierung etwas für diesen Distrikt tue und daß sie mehr zu t u n i n der Lage sei als die Opposition. Die Brücke steht also i n einem politischen Kalkül und sie hat i n diesem K a l k ü l ihren ganz bestimmten Stellenwert. Das politische K a l k ü l lautet vereinfacht folgendermaßen: Diese Brücke verursacht einen Aufwand von x Tonnen Stahl und y Tonnen Beton (Grundlagenrechnung 2. Ordnung). Diese Brücke zu bauen kostet deshalb bei den gegenwärtigen Preisen z D M (Grundlagenrechnung 1. Ordnung), z D M zu jeder anderen politischen Verwendung ausgegeben (z.B. für Kinder-

II. Die optimale Lenkung

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gärten, Altersheime, Subventionen da und dort) würde k zusätzliche Stimmen einbringen, z D M aber für diese Brücke ausgegeben, lassen Stimmengewinne i n Höhe von l Stimmen erwarten. I ist größer als k. Also w i r d diese Brücke gebaut (Bewertungsrechnung = Rechnung o. Ordnung). U m eine Entscheidung vorzubereiten, sind i n den Maßgrößen aller beteiligten Systeme Grundlagenrechnungen zu erstellen. Diese Grundlagenrechnungen haben allerdings nur vorbereitenden Wert. Die eigentliche Wertrechnung muß i n den Maßgrößen desjenigen Systems erfolgen, i n dem die Entscheidung fällt. Nochmals drei Beispiele: 1. Beispiel: Mondfahrt m i t dem Sicherheitsfaktor 100 Hier geht es u m Sicherheit. Sicherheit ohne Rücksicht auf Kosten. Bewußt w i r d hier alles auf das technische Gelingen abgestellt. K e i n technisches Risiko w i r d eingegangen, „koste es, was es wolle". A l l e ökonomischen Bewertungen sind damit ausgeschlossen. Es gelten nur technische Größen. Wenn i n einem speziellen Fall etwa die Verwendung von Platin mehr Risiken ausschließt als die Verwendung von Kupfer, so ist Platin zu verwenden. 2. Beispiel: Wirtschaftlichkeitsrechnung eines Unternehmens Kosten werden i n Einstandspreisen gemessen, Nutzen i n Erlöspreisen. Die Differenz von Erlösen und Kosten soll maximiert werden ( = Gewinn). Wenn bei der Verwendung von Platin anstatt von Kupfer die K o sten steigen, ohne daß die Erlöse sich entsprechend erhöhen ließen, so ist Kupfer zu verwenden. Der geringere technische Wert des betreffenden Stückes macht den erheblich geringeren Kaufpreis für die Kunden wett. 3. Beispiel: Politisches K a l k ü l Hier ist die Wertrechnung i n Wahlstimmen zu fassen. Der Politiker kann zum Ergebnis kommen, daß eine geglückte Mondfahrt ein Politik u m darstellt und w i r d dann den Sicherheitsfaktor 100 (siehe oben, Beispiel 1) ansetzen, wenn er den Kostenaufwand vergleicht m i t anderen Ausgabemöglichkeiten und deren Wahlstimmenerfolg. Die Rationalität der Grundlagenrechnung und die der Bewertungsrechnung decken sich i m allgemeinen nicht. Das technisch Optimale ist meist nicht wirtschaftlich. Aus wirtschaftlichen Gründen muß eine technisch weniger optimale Lösung gewählt werden. Aber das w i r t schaftlich Optimale ist i m allgemeinen auch nicht das politisch Richtige. Aus politischen Gründen muß oft etwas wirtschaftlich Irrationales getan werden, w e i l der politische Effekt den ökonomischen Effekt über-

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

rundet. Prestigeinvestitionen i n Entwicklungsländern, Atomwettrüsten i n westlichen Ländern sind die bekanntesten Beispiele hierfür. Aus dieser Überlegung ergibt sich notwendig, daß eine Rechnung, die zur Grundlage für die Entscheidung eines Politikers dienen soll, immer i n politischen Maßgrößen (Wahlstimmen oder Unterstützung bei Dritten) ausgedrückt werden muß. Eine Geldrechnung kann immer nur vorbereitender A r t sein. Eine politische Kosten-Nutzen-Analyse muß also die Kosten (als Nutzenentgang) in Stimmenverlusten und die Nutzen (als Nutzenzuwachs) in Stimmengewinnen einander gegenüberstellen. Das Budget als Geldrechnung hat dann die Einnahmen und Ausgaben so anzuordnen, daß die letzte ausgegebene M i l l i o n M a r k i n keiner anderen Verwendung mehr Stimmengewinne einbrächte als i n der ausgewiesenen Verwendung; und die letzte eingenommene M i l l i o n Mark i n keiner anderen Einhebungsart weniger Stimmenverluste erbrächte als i n der ausgewiesenen Einhebungsart 1 0 0 . Spezifische und generelle Maßgrößen: W i r wollen die Unterversorgung und die Überversorgung der Gesamtgesellschaft messen. Welche Maßgrößen bieten sich hier an? Für den Sektor I (primärer Sektor: Landwirtschaft, Bergbau) - ökonomische, aber auch politische Maßgrößen. Für den Sektor I I (sekundärer Sektor: Industrie) - ökonomische Maßgrößen. Für den Sektor I I I (tertiärer Sektor: Dienstleistungen) - ökonomische und technische Maßgrößen. Für den Sektor I V (Sozialkonsum) - politische Maßgrößen. Für den Sektor V (Sozialinvestitionen) - politische und technische Maßgrößen. Für den Sektor VT (öffentliche Dienste) - politische und technische Maßgrößen. Unsere Liste ist vielleicht nicht vollständig. W i r haben nur drei Maßgrößen (technische, ökonomische und politische) genannt. Maßgrößen der intermediären Verbände wären auch zu berücksichtigen. Auch unsere Zuweisung der einzelnen Maßgrößen zu den einzelnen Sektoren mag anders vorgenommen werden. So viel aber läßt sich m i t Sicherheit sagen: Es gibt keine Maßgröße, die für alle Sektoren insgesamt eine Bewertung erlaubte. Selbst für die Grundlagenrechnung ist keine durchweg anwendbare Maßgröße zu finden. Technische Maßgrößen sind für viele Dienste nicht verwendbar (Dienstleistungen, i n Stunden gemessen, besagen nichts über die Qualität). Für eine ökono100

Vgl. Herder-Dorneich,

Ph.: Politisches M o d e l l . . . , a.a.O.

II. Die optimale Lenkung

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mische Grundlagenrechnung fehlt i n einigen Sektoren die Möglichkeit, Preise zu definieren (für viele öffentliche Güter gibt es keine M a r k t preise, sondern nur Kostenaufstellungen). Bewertungsrechnungen sind also immer sektorenspezifisch. Zwar finden w i r Bewertungsrechnungen, die sich für mehrere Sektoren anwenden lassen, aber keine, die für alle zuständig wäre. Daraus ergibt sich, daß die Bewertung einer Über- oder Unterversorgung für das gesamte Sektorenspektrum zunächst nicht möglich ist. Es gibt kein Lenkungssystem, das alle Sektoren zu umfassen i n der Lage wäre. Außerdem müssen w i r uns darüber klar sein, daß w i r unser Problem vereinfacht haben. W i r haben ja nur sechs Sektoren und drei Maßgrößensysteme beachtet. W i r müssen weitaus mehr Versorgungsbereiche unterstellen. Außerdem gibt es mehr als drei Lenkungssysteme. W i r haben z. B. an anderer Stelle für die Versorgung mit ärztlichen Diensten fünf Systeme herausgearbeitet 1 0 1 . I n ähnlicher Weise finden w i r i n anderen Versorgungsbereichen mehrere Lenkungssysteme gleichzeitig am Werk. Praktisch haben w i r es also m i t vielen Versorgungsbereichen und vielen Lenkungssystemen zu tun. Hier gibt es nun zwei Wege, unser Problem zu lösen. Entweder, w i r setzen ein Lenkungssystem für alle Bereiche durch, auch für die Bereiche, für die es bisher nicht spezifisch war — oder w i r finden uns m i t dem Pluralismus der Lenkungssysteme ab. Die faktische Reduktion auf ein einziges Lenkungssystem, das alle Versorgungsbereiche umfaßt, finden w i r gegenwärtig häufig vorgeschlagen. Empfohlen w i r d z. B. die Durchsetzung eines totalen Staates, der alles i n technischen Maßgrößen erfaßt und seine Bewertungsrechnung i m zentralen Plan aufstellt. Die Beschränkung der Lenkungspotenz kann allerdings das Problem nur formal lösen, nicht jedoch real, wie w i r oben gesehen haben. Immerhin ist diese formale Lösung offensichtlich doch so anziehend, daß sie Vielen sogar ausreichend erscheint. Bei der Reduktion auf ein einziges Lenkungssystem mit technischen Maßgrößen w i r d nämlich das Versorgungsniveau direkt an der Planerfüllung gemessen. Unterversorgung erscheint hier als Untersoll gegenüber dem Plansoll. Jede andere Definition von Unterversorgung ist unmöglich. Hier w i r d das Problem also relativ einfach lösbar. Wie aber sieht unser Problem bei einem Pluralismus von Lenkungssystemen aus? Je effizienter die einzelnen Lenkungssysteme sind, desto spezifischer sind sie. Je spezifischer sie aber sind, desto weniger kann angenommen werden, daß eines als Meta-System für alle Versorgungs101 Vgl. dazu auch den Abschnitt „ V o m Dualismus zum Pluralismus der Ordnungen".

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

bereiche w i r k t . Damit aber erscheint Unterversorgung grundsätzlich als nicht meßbar. Messung kontra Vermutung

Freilich gilt die Möglichkeit der Messung nur ex ante. E x post verändert sich das Bild. Zwar kann bei einem Gleichgewicht unter den verschiedenen Lenkungssystemen eine Unterversorgung nicht wissenschaftlich vorausbestimmt werden, aber sie kann vermutet werden. W i r können so handeln, als ob Unterversorgung bestünde und dann zusehen, ob unsere Vermutung zutrifft oder nicht. Bestätigt sie sich, so kann behauptet werden, daß tatsächlich Unterversorgung vorlag. Bestätigt sie sich nicht, so ist ein Experiment verlorengegangen, aber der Schaden ist nicht allzu groß. Der Versuch kann an anderer Stelle wiederholt werden. Welche Überlegung steht hinter dieser Konzeption des „ t r i a l and error"? W i r wählen ein Beispiel. W i r stellen uns vor: Ein Mensch ist stumm. Er kann seinen Gefühlen nicht i n Worten Ausdruck geben. Man fragt ihn, ob er hungrig und durstig sei, er nickt bzw. er schüttelt den Kopf. Also w i r d er entsprechend versorgt. Danach hat er alles, was er braucht. So scheint es jedenfalls. Da keine weiteren Anforderungen von i h m geäußert werden, hält man i h n für befriedigt. Würde er sich sonst nicht äußern? Muß man nicht annehmen, daß jemand, der sich nicht äußert, befriedigt ist? Man hält ihn für satt. Bis einer i h m zufällig eine Zitter gibt. Unser Stummer berührt die Saiten und plötzlich erkennt er, daß diese Klänge Ausdruck geben können. Und er spielt und teilt ohne Worte von dem mit, was i h n bewegt. Die Zitter ist ein Versuch. Das Zitterspiel, das i h n und uns ergreift, beweist, daß der Versuch das Richtige getroffen hat. Wäre es besser gewesen, i h m Farben zu geben, damit er male, oder Ton, damit er knete? W i r können darüber nachsinnen. W i r können Versuche machen. A m besten, w i r geben i h m mehreres zur Auswahl und überlassen i h m selbst, sich seine spezifischen Ausdrucksmittel auszuwählen. Wenden w i r diese Überlegung an. Wenn die bestehenden Lenkungsm i t t e l volle Versorgung anzeigen, so ist es immer noch möglich, neue zusätzliche Lenkungssysteme zu schaffen und bereitzustellen. Es kommt dann auf den Versuch an, ob die zusätzlichen Lenkungssysteme sich bewähren, ob der zusätzlich eingesetzte Faktor Lenkung die Versorgung anregt, die Produktionsfaktoren (und die übrigen Kombinationsfaktoren) i n diese neu erschlossenen Bereiche einströmen und das Versorgungsniveau damit wächst. War unsere Vermutung richtig und der Kombinationsfaktor Lenkung tatsächlich stark i m M i n i m u m gewesen, so w i r d schon eine relativ

II. Die optimale Lenkung geringe Lenkungsverbesserung eine beträchtliche Zunahme an Versorgung ermöglichen. Das neue Lenkungssystem w i r d rasch sektorale Unterversorgung anzeigen. Es w i r d als Meta-System gegenüber den anderen Lenkungssystemen, die bereits bestehen, w i r k e n und die Produktionskräfte entsprechend an sich ziehen und anregen. War dagegen unsere Vermutung nicht richtig und kein besonderer Mangel am Faktor Lenkung, so w i r d i m neuen zusätzlichen Lenkungssystem die Anzeige „Unterversorgung" schwach ausfallen. Das neue Versorgungssystem w i r d sich unter Umständen schon bald wieder auflösen. Ein rasches Wachstum jedenfalls w i r d es nicht aufzeigen. Unser Erfolg beschränkt sich auf die Bestätigung, daß Unterversorgung i n diesem Bereich offensichtlich nur persönliche Meinung einiger I n d i viduen gewesen sein kann, der jedoch nur wenig Gewicht zuzumessen ist. Damit bleibt der Satz bestehen, daß das soziale Optimum immer nur ex post festgestellt werden kann. Ex ante können nur Vermutungen und persönliche Meinungen über das soziale Optimum geäußert werden. Allerdings kann i m Sinne dieser Meinungen gehandelt werden. Es können neue Lenkungssysteme geschaffen werden. Wenn diese sich durchsetzen, w i r d die Versorgung, die insgesamt erzielt wird, anders und nunmehr besser ausfallen als vorher. Bewährungsbedingungen optimaler Lenkung

Welche und wieviele Lenkungssysteme sind erforderlich? Welche und wieviele Lenkungssysteme sind zusätzlich einzusetzen, wenn eine bestimmte Versorgungslücke vermutet wird? Grundsätzlich kann diese Frage nicht beantwortet werden. Es kommt auf den Versuch an. Ex post können w i r sagen, daß diejenigen Lenkungssysteme erforderlich gewesen sind, welche sich bewährt haben. Ex ante lassen sie sich nicht direkt bestimmen, w o h l aber lassen sich einige Prinzipien nennen, unter denen die Wahrscheinlichkeit vergrößert werden kann, daß Lenkungssysteme sich bewähren. — Lenkungssysteme sind auf spezifische Aufgaben zuzuschneiden. Je spezialisierter sie sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie Versorgungsverbesserung leisten. — Lenkungssysteme sind so nebeneinander zu stellen, daß sie nicht voneinander abgeschottet bleiben, sondern daß ihre Ergebnisse miteinander vergleichbar sind. Erst wenn die Individuen die Resultate m i t einander vergleichen können, kann sich ja die besondere Ergiebigkeit der neuen Lenkungssysteme zeigen.

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

—Lenkungssysteme müssen neben anderen Lenkungssystemen die gleichen Entwicklungschancen haben, nur dann kann man von „Bewährung" sprechen. M i t anderen Worten, was für die Organisation innerhalb jedes einzelnen Lenkungssystems gilt, nämlich daß Wettbewerb organisiert werden muß, soll das System funktionieren, das gilt auch für die Lenkungssysteme untereinander. Auch hier muß Wettbewerb organisiert werden, sollen die Lenkungssysteme insgesamt funktionieren. Die Frage also, welches ist das optimale Lenkungssystem, kann grundsätzlich gesellschaftlich nicht beantwortet werden. Natürlich sind Antworten möglich. Aber sie sind immer nur persönliche Meinungen, denen vor anderen Antworten kein besonderes Gewicht zukommt. Wenn aber grundsätzlich so viele Antworten möglich sind, wie es A n t wortende gibt, so kann das praktisch gleichgesetzt werden damit, daß es gesellschaftlich verbindliche Antworten eben nicht gibt. Es können jedoch Vermutungen über die optimale Lenkung ausgesprochen werden. Die wichtigste Fundierung solcher Vermutungen ist, daß die Lenkung immer dann nicht optimal ist, wenn nicht mehrere Lenkungssysteme miteinander im Wettbewerb um die Lenkungsfunktionen stehen. Wie groß soll diese Zahl „mehrere" für den Systemwettbewerb sein? W i r erinnern uns an die Ergebnisse des ökonomischen Neoliberalismus, der sehr viele Wettbewerber erforderte. W i r hören die Ergebnisse der Vertreter eines funktionalen Wettbewerbs, der einige wenige Wettbewerber für ausreichend hält. W i r ziehen die Erfahrungen der Systemlogiker herbei, die davon ausgehen, daß m i t Hilfe von Sprache, Meta-Sprache und Meta-Meta-Sprache, also praktisch von drei Systemen, jedes auftretende Problem nahezu gelöst werden könne. Theorie und Praxis also legen uns nicht unbedingt nahe, den Systemwettbewerb i n den großen Zahlen der Wettbewerbssysteme zu suchen. Praktisch w i r d man m i t drei bis sechs Systemen i m allgemeinen auskommen. Jede zusätzliche Lenkung w i r d bereits i n ihrem Zuwachs, den sie an Lenkungseffizienz bringt, schwächer sein, so daß sich der Aufwand, diese Lenkimg einzurichten, bald nicht mehr lohnt. W i r kommen i m allgemeinen schon relativ bald i n den Bereich der Übersteuerung. Allerdings bezieht sich die rasche Abnahme der Lenkungszuwächse immer nur auf spezielle Lenkungsbereiche. Insgesamt ist der Lenkungsbedarf, der uns gegenwärtig noch ungedeckt verbleibt, nicht durch den zusätzlichen Einsatz einiger weniger Lenkungssysteme zu befriedigen. Insgesamt bleibt das Lenkungsdefizit wohl noch einige Jahrzehnte drückend fühlbar.

I I I . Dynamische Systempolitik — Wie geschieht die Ordnung der Systeme? V o n der Eingriffspolitik zur Ordnung pluralistischer Systeme

Wie kann also unsere Wirtschaftsordnung weiterentwickelt werden? — W i r haben zurückgeblickt auf die bisherigen Entwicklungsphasen und uns an der Schwelle zu einer neuen Phase stehend erkannt. U m i n diese neue Phase gerüstet einzutreten, haben w i r Bausteine zur Weiterentwicklung zusammengetragen. W i r haben die neuen Techniken der sozialen Lenkimg untersucht und dabei wurde uns deutlich, daß es neben dem Lenkungssystem Marktwirtschaft noch eine Fülle von anderen ähnlichen Systemen gibt, und daß diese Systeme sich zu komplexen Systemen miteinander verbinden. Unser Weltbild hat sich damit wesentlich erweitert. Die bisherigen marktwirtschaftlichen Lehren haben sich relativiert. W i r müssen alle Aussagen über Marktwirtschaft vor diesem erweiterten Horizont überprüfen. Viele Aussagen erweisen sich nunmehr als einseitig, insoweit sie eben nur ein einziges Lenkungssystem Marktwirtschaft i m Auge haben. Diese gilt es umzuformulieren und so anzupassen, daß sie sich auf Lenkungssysteme schlechthin beziehen lassen. Immer dann, wenn es gelingt, solche Aussagen aus dem marktwirtschaftlichen Monismus herauszubringen, behalten sie ihre Allgemeingültigkeit. Wenden w i r diese Überlegung auf die Aussagen zum Wettbewerbsprinzip an. Zwei Grundaussagen stehen voran: — Optimale Lenkung w i r d nur unter Wettbewerb möglich (Erkenntnis des Altliberalismus). — Wettbewerb hat die Tendenz, sich selbst aufzuheben; er muß künstlich geordnet werden (Erkenntnis des Neoliberalismus). Diese beiden Sätze können w i r nun i m Lichte der Systemtheorie weiterführen m i t einem dritten Satz: — Wettbewerb ist nicht nur zwischen den Beteiligten innerhalb eines Lenkungssystems, sondern auch zwischen unterschiedlichen Lenkungssystemen möglich und zu organisieren (Erkenntnis der pluralistischen Systemtheorie).

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

Was also bisher für die Marktwirtschaft galt (Wettbewerb optimiert; Wettbewerb muß geordnet werden), w i r d nun analog auch auf sämtliche anderen (analogen) Lenkungssysteme übertragen. Damit w i r d das Wettbewerbsprinzip also nicht beseitigt, sondern nur seine monistische Anwendung w i r d aufgehoben. Das Wettbewerbsprinzip als solches behält seine Gültigkeit, nun allerdings auf sämtliche Lenkungssysteme i n ihrer ganzen Vielfalt bezogen. Es ist von vornherein anzunehmen, daß eine Übertragimg, eine analoge Anwendung, gewisse Umformulierungen notwendig macht. W i r werden herauszufinden haben, welche Umformulierungen i m einzelnen nötig sind. Betrachten w i r also noch einige andere Sätze. Z. B. folgende Aussage: „Machtzusammenballungen führen vom Optimum weg und sind zu vermeiden." Dieser Satz, auf die Marktwirtschaft angewandt, führt zur Antikartellpolitik und zur Errichtung eines Kartellamtes. Wiederu m angewandt auf den Pluralismus von Lenkungssystemen, bleibt der Satz von der Schädlichkeit der Machtballung v o l l erhalten, er muß nur auf das jeweilige Lenkungssystem bezogen werden. Entsprechend sind „Machtauflösungsämter" für jedes einzelne Lenkungssystem zu schaffen. Wiederum gilt das gleiche für den Satz: „Marktwirtschaftliche Ordnung setzt ein geordnetes Geldwesen voraus." I m Lichte der pluralistischen Lenkungssysteme heißt die analoge Anwendung: „Die Ordnung jedes Lenkungssystems setzt voraus, daß das Informationssystem, auf dem es basiert, geordnet ist." Systempolitik i m Licht wirtschaftspolitischer Konzeptionen

Wie also ist Systempolitik bei einer Auflösung des m a r k t w i r t schaftlichen Monismus und bei einem Pluralismus von Lenkungssystemen zu führen? U m i n diese Frage einzudringen, wollen w i r einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung wirtschaftspolitischer Konzeptionen nehmen. I n der Wirtschaftspolitik beobachten w i r nämlich eine allgemeine Entwicklung des wirtschaftspolitischen Denkens von der Bevorzugung punktueller Eingriffe zur Systemsteuerung hin. Verschiedene Rückschläge sind zu verzeichnen, i n denen das Pendel gewissermaßen wieder zurückschwingt. Der Merkantilismus als eine der ersten wirtschaftspolitischen K o n zeptionen erweist sich als „eine Auslese von Kunstregeln, die sich Zeit und Umständen anpassen und m i t ihnen variieren mußten" 1 0 2 . Es fällt

III. Dynamische Systempolitik

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schwer, i n der merkantilistischen Wirtschaftspolitik eine einheitliche Linie zu finden. Abweichungen lassen sich schon i n den einzelnen Län-: dern nachweisen. Immerhin wurden i m Zeitalter des Merkantilismus durch die Entwicklung zum Nationalstaat die Voraussetzungen für eine aktive Wirtschaftspolitik geschaffen. Für den Staat wurde dabei die Wirtschaft zum Objekt seiner machtpolitischen Bestrebungen. Man ging von der Vorstellung aus, daß die staatliche Macht wesentlich durch die Entwicklung der Wirtschaft vergrößert und gefestigt werden könne. Die Mehrung des Reichstums schlechthin war das oberste Ziel der absoluten Monarchen. Diesem Ziel diente vor allem eine aktive Bevölkerungs- und Außenwirtschaftspolitik, sowie eine starke Förderung der gewerblichen Manufakturen und der Landwirtschaft durch Subventionen und Schaffung von Privilegien. Zur Durchsetzung seiner politischen Ziele bediente sich der Staat fast ausnahmslos des Zwanges und der obrigkeitlichen Verordnung. Seine M i t t e l waren Verbote und massive Subventionierungen. Dabei behielt sich der Staat selbst Reglementierungen bis ins letzte technische Detail vor. Der ökonomische Prozeß wurde hier also als ein Mechanismus angesehen, „der durch k l u g ersonnene Gesetze und staatliche Organe zu regulieren sei". Die Politik des Merkantilismus war die der „plötzlichen Neuerung", des „von außen kommenden Eingriffs" 1 0 3 . Bei dieser K a suistik i n der Behandlung von wirtschaftlichen Problemen war den Politikern selbst oft nicht wohl. Immer wieder wurden systematisch angelegte Reformversuche gewagt. Die konkreten Beispiele dafür zeigen indes, daß diese, ohne ausreichende wissenschaftliche Fundierung, wenig Aussicht auf Realisierung hatten. Der Wirtschaftspolitik des Liberalismus lag i m Gegensatz zum Merkantilismus ein rational-systematisches Gedankengefüge zugrunde. Den Übergang zu rationalem und systematischem Denken finden w i r i m 18. Jahrhundert nicht nur i n der theoretischen Volkswirtschaftslehre, sondern auch i n anderen Wissenschaftsgebieten. Während der Merkantilismus durchweg eine Politik der permanenten obrigkeitlichen Intervention betrieben hatte, die obendrein an meist sehr vordergründig-praktischen Motiven orientiert war, propagierte der ökonomische Liberalismus nun aufgrund seines geschlossenen theoretischen Fundaments eine möglichst weitgehende Abstinenz staatlicher Einflußnahme auf das ökonomische Geschehen. Das Ziel der W i r t 102 Mann, Fritz K a r l : Der Marschall Vauban und die Volkswirtschaftslehre des Absolutismus — Eine K r i t i k des Merkantilsystems, München und Leipzig 1914, S. 303. 103 Schmoller, Gustav: Volkswirtschaft, zitiert nach Mann, Fritz K a r l : a.a.O., S. 371.

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Herder-Doraeich

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schaftspolitik wurde darin gesehen, die Eigengesetzlichkeit der W i r t schaft auf möglichst breiter Ebene zum Tragen zu bringen. Diese ordnungspolitischen Vorstellungen haben manche K r i t i k e r des ökonomischen Liberalismus zu dem Fehlschluß verleitet, die Klassiker hätten dem Staat jede Berechtigung politischer Einflußnahme auf den ökonomischen Prozeß schlechthin abgesprochen. Dabei ist selbst von den strengsten Verfechtern des ökonomischen Liberalismus nie geleugnet worden, daß z.B. eine zweckmäßige Gesetzgebung seitens des Staates eine wesentliche Voraussetzung für den reibungslosen W i r t schaftsablauf bildet. N u r das Recht des Staates, direkt i n das ökonomische Geschehen zu intervenieren, wurde von den Verfechtern liberaler Wirtschaftspolitik energisch bestritten. Die Aufgabe des Staates bestand nach ihrer Auffassung einzig und allein darin, eine A r t Rahmenordnung zum Schutz des Individuums und der Sicherung gewisser individueller Rechte zu schaffen. Die Wirtschaftspolitik des Liberalismus war deshalb kurzfristig darauf gerichtet, die i m Zeitalter des Merkantilismus aufgebauten Beschränkungen, Reglementierungen und Kontrollen Zug um Zug aufzuheben. Als wichtigste Maßnahmen seien hier die Einführung der Gewerbe» und Niederlassungsfreiheit sowie die Aufhebung der Zünfte, Monopole und Privilegien und die Bestrebungen zur Liberalisierung des Außenhandels genannt. Langfristig bestand die liberale Wirtschaftspolitik darin, „die Automatik des freien Spiels der Initiativen der Einzelwirtschafter i n einer völlig freien Marktmechanik" 1 0 4 zur Entfaltung zu bringen. Dabei würde, so glaubte man, der Wettbewerb nur die zum Erfolg führen, deren individuelles Interesse m i t dem Gemeinwohl korrespondiere. Staatliche Reglementierungen seien deshalb nicht nur überflüssig, sondern i n der Regel auch hemmend und langfristig nicht i n der Lage, die der W i r t schaft zugrundeliegenden „Naturgesetze" aufzuheben. Während der Merkantislismus also eine Politik punktueller Eingriffe brachte, vertrat der Liberalismus eine Politik konsequenter Systemsteuerung. Für i h n stand dabei das System der Märkte i m Vordergrund. Eingriffspolitik und Systemsteuerung erscheinen hier als zwei — wenn auch entgegengesetzte — Möglichkeiten der Politik. Es ist das Verdienst des ökonomischen Liberalismus gewesen, die Voraussetzungen für die äußerordentlich starke wirtschaftliche Expansion i m 19. Jahrhundert geschaffen zu haben. Dieser Entwicklungsprozeß ist allerdings nicht ohne erhebliche konjunkturelle Friktionen vor sich gegangen. Ja, die sich häufenden Krisen und der allenthalben 104 Bauer, Clemens: Liberalismus, i n : Staatslexikon, hrsg. v. der GörresGesellschaft, 5. Band, Freiburg 1960, Sp. 376.

III. Dynamische Systempolitik

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zu beobachtende Konzentrationsprozeß i n der Wirtschaft ließen erhebliche Zweifel an der theoretischen Fundierung der Politik altliberaler Prägung aufkommen. Wieder ging der Staat mehr und mehr dazu über, durch direkte Eingriffe regulierend und steuernd i n den Wirtschaftskreislauf einzugreifen. Diese neuerliche Epoche des Interventionismus, w i r können sie Neomerkantilismus nennen, begann i n Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts i n der Handelspolitik m i t der Einführung erhöhter Schutzzölle. Die staatliche Einflußnahme war wieder durch einen systemlosen Punktualismus gekennzeichnet, d. h. der Staat griff von F a l l zu F a l l überall dort ein, wo sich gefährliche Krisenherde i n der W i r t schaft entwickelten. Das Bündel dieser staatlichen Interventionen i n den Wirtschaftsablauf reichte dabei i m wesentlichen von der Fixierung staatlicher Höchstpreise über mengenmäßige Beschränkungen (Einfuhrkontingente, Rationierungen) bis h i n zur Devisenzwangswirtschaft. L u d w i g von Mises hat schon früh (1929) gezeigt, welche Konsequenzen diese A r t punktueller staatlicher Einflußnahme nach sich ziehen müsse: Zur Verwirklichung eines einzelnen Zieles greife der Politiker m i t einer oder mehreren parallelgeschalteten Maßnahmen i n den W i r t schaftsprozeß ein. Dabei stelle sich heraus, daß Personen, auf die diese Maßnahmen gerichtet sind, nicht i n der geplanten Weise reagieren und dadurch der Staat wiederum gezwungen sei, erneut i n den W i r t schaftsablauf einzugreifen. A u f diese Weise werde die Volkswirtschaft m i t einem Netz kumulativer staatlicher Interventionen überzogen, an deren Ende eine Änderung der gesamten Wirtschaftsordnung stehe. Die Transformation der Systeme — pluralistische Systemordnung

Damit w a r deutlich geworden, daß punktuelle Eingriffe und Systemsteuerung nicht eigentlich zwei Pole sind, die zwei verschiedene Möglichkeiten zu handeln, darstellen. Die punktuellen Eingriffe erweisen sich nämlich als letztlich ineffizient. Einzig die Systemsteuerung ist am Ende noch möglich. Es gibt also gar keine Alternative zwischen zwei offenen Möglichkeiten, sondern lediglich die Alternative, Systemsteuerung bewußt zu betreiben oder unbewußt i n sie hineingetrieben zu werden. Wer nicht bewußte Systemsteuerung der Pflege der Märkte betreibt, sondern sich zu punktuellen Maßnahmen hinreißen läßt, der w i r d früher oder später feststellen müssen, daß er i m Begriff ist, das System einer zentralen Verwaltungswirtschaft aufzubauen. Denn ein punktueller Eingriff ruft den nächsten Eingriff notwendig herbei, die Eingriffe kumulieren und führen i m Ergebnis zur Zentralverwaltung hin. Diesen Gedanken der Transformation der Systeme hat der Neoliberalismus konsequent durchgeführt. Er hat gezeigt, daß i m Grunde li*

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C. Dynamische

rdnungspotik — Systempolitik

ausschließlich Systemsteuerung möglich ist. Das System, das es zu steuern gilt, ist allerdings zunächst einzig das System der Märkte. Nur am Rande werden noch andere Systeme erwähnt, z.B. die Sozialversicherung. Das System gilt es also zu ordnen. Durch ständiges Eingreifen muß ein Ordnungsrahmen gesetzt und dieser immer wieder erhalten und gegen Entartungen verteidigt werden. Erweitern w i r diesen Gedanken der Systemsteuerung, den der Neoliberalismus zunächst monistisch für die Marktwirtschaft entwickelt hat, auf die Vielfalt der Lenkungssysteme hin, so erscheint das auf den ersten Blick nicht sehr schwierig. Es scheint so, als müßten w i r lediglich statt vom System „Markt" jeweils von verschiedenen Systemen sprechen. Der Ordnungsrahmen für die verschiedenen Systeme wäre dann jeweils zu setzen. Beim Durchdenken dieser Erweiterimg aber ergeben sich doch einige Probleme grundsätzlicher A r t . Wer setzt Ordnungen? Die Rekurrenz der Systeme

Da ist zunächst die Frage, wer setzt den Ordnungsrahmen? Für den Neoliberalen war diese Frage leicht zu beantworten: der Staat. Untersuchen w i r aber konkret diese Antwort, so ergibt sich, daß der Staat j a keine mystische Person ist, sondern durch seine Politiker handelt. I n unserem Falle also etwa durch den Wirtschaftsminister. Ein Politiker, oder die Politiker schlechthin, sind aber wiederum Akteure i n einem Lenkungssystem, genauer i m Lenkungssystem demokratischer Politik (D). Das bedeutet also nichts anderes, als daß der Ordnungsrahmen des Systems M (Marktwirtschaft) durch das System D (Demokratie) gesetzt würde. Sogleich stellt sich die Frage, woher der Ordnungsrahmen für das System D kommt? Der Ordnungsrahmen der politischen Systeme w i r d durch die Politiker selbst gesetzt. Die Politiker sind lediglich durch die Verfassungsgerichte gehalten, ihren eigenen Ordnungsrahmen zu respektieren. Daraus entstehen natürlich Probleme, wenn man weiß, daß Wettbewerbsprozesse immer die Tendenz haben, sich selbst aufzuheben. Es ist zu vermuten, daß dies auch für den politischen Wettbewerbsprozeß gilt. I m wesentlichen w i r d der politische Ordnungsrahmen nur durch die Aufsicht der öffentlichen Meinung, der Presse und der Massenmedien gestützt. Das System D (Demokratie) erhält also insoweit seinen Ordnungsrahmen vom System P (Presse, Massenmedien). Wenn man weiß, daß die Presse i n Form von wirtschaftlichen Unternehmen organisiert ist und die Massenmedien stark vermachtet sind, so sieht man dieser Aufsicht durch die öffentliche Meinung nicht sehr vertrauensvoll entgegen. Hier fehlen also weithin die Institutionen, die w i r als ord-

III. Dynamische Systempolitik

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nungssetzend i n der Wirtschaft beobachten; also ein unabhängiges Amt, das — ähnlich wie die Bundesbank den Geldverkehr regelt — die Wahlprozesse überwacht und ordnet. Es fehlt ein A m t , das i n der Lage wäre, einseitige Vermachtungen i m politischen Prozeß zu konterkarieren, ähnlich wie dies das Kartellamt für die Wirtschaft zu leisten vermag. Unsere Überlegungen führten uns an den Rand des Möglichen. Das Parlament als der Souverän bildet ein System, das sich seine Ordnung i m großen und ganzen selbst gibt. Das ist wahrscheinlich auch nicht zu ändern. U m so wichtiger ist, daß dieser F a l l (eines Systems, das sich selbst ordnet), der einzige bleibt. M i t anderen Worten, der Satz, „Wettbewerbssysteme entstehen nicht von selbst, sie müssen von außen geordnet werden", sollte überall streng beachtet werden. Wenn das Parlament eine Ausnahme macht, so heißt das nicht, daß alle politischen Systeme eine Ausnahme zu machen hätten. Was dem Bundesparlament zugestanden ist, ist z. B. noch lange nicht einem Universitätsparlament erlaubt. M i t derselben Konsequenz, wie die Marktsysteme von außen geordnet werden, müssen auch die Wahlensysteme, die Gruppensysteme und überhaupt alle komplexen Systeme von außen geordnet werden. W i r brauchen also für alle Systeme entsprechende Institutionen, die den Ordnungsrahmen setzen und überwachen. W i r werden auf sie i m folgenden noch eingehen. Der Wettbewerb der Wettbewerbssysteme

Eine zweite Schwierigkeit entsteht, sobald w i r den Ordnungsgedanken vom monistischen Marktsystem auf die pluralistischen Lenkungssysteme übertragen. Wenn es praktisch unendlich viele mögliche Systeme gibt, welche sind dann einzurichten, zu ordnen und i n ihrer Ordnung zu erhalten? Können w i r denn unendlich viele Systeme einrichten? — Offensichtlich geht das nicht. Es ist aber auch nicht notwendig. Es ist überhaupt nicht notwendig zu entscheiden, wieviele Systeme nötig sind. Diese Frage löst der Wettbewerb unter den Systemen selbst. Überzählige Systeme, die nichts oder nicht genug leisten, werden durch den Wettbewerb ausgemerzt. Dadurch w i r d die Zahl der Systeme i m mer wieder beschränkt. Da der Wettbewerbsprozeß die Tendenz hat, die Zahl der Wettbewerbsteilnehmer einzuschränken, ist zu vermuten, daß eher zu wenig Wettbewerbssysteme vorhanden sind als zuviel. W i r müssen deshalb eine Wettbewerbsordnung des Wettbewerbs der Systeme untereinander betreiben. Es muß dafür gesorgt werden, daß die Systeme miteinander i m Wettbewerb stehen und sich nicht ab-

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C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

kapseln oder Monopolbereiche bilden, die ihnen zu große Macht einräumen. Ein Wettbewerb, der zwei bis fünf Systeme miteinander i n Konkurrenz setzt, w i r d dabei i n den meisten Fällen ausreichen. Notwendig ist jedenfalls, daß der Verbraucher der jeweiligen Systemleistungen die Möglichkeit hat zu wählen; entweder zu wählen zwischen verschiedenen Anbietern innerhalb eines Systems oder zwischen den Angeboten von mindestens zwei unterschiedlichen Systemen. Systeme i m Wandel

Und ein drittes Problem: W i r haben gesehen, daß die Lenkungssysteme niemals starr i n ihrer Systematik sind, sondern daß sie sich ständig verändern. Das System M ist also i m Zeitpunkt t als Mt zu erkennen. I m Zeitpunkt t + 1 hat es sich zum System Mt+i umgewandelt. Welches ist nun die „richtige" Ordnung? Ist es die Ordnung, die Mt umschließt oder die Ordnung, i n der Mt+i aufgeht? Muß der Wandlungsprozeß von Mt nach Mt+i aufgehalten werden? Dieses Problem stellt sich i m Denkmodell der Marktwirtschaft nicht, solange sie monistisch lediglich auf das System der Märkte bezogen ist. Hier gibt es nicht mehrere Systeme und keine Systeme i m Wandel — einfach deshalb, w e i l es nur ein einziges System (nämlich das der Märkte) gibt. Hier besteht also keine Wahl zwischen mehreren gleichwertigen Systemen und auch keine Umformungsmöglichkeit. Es gibt nur gut geordnete Märkte und alles, was davon abweicht, ist schlecht. Systeme i m Wandel — das läßt sich nur i n einer pluralistischen Systemtheorie überhaupt zu Ende denken. Denn grundsätzlich ist ja der Wandel eines Systems von System A\ zu A2 bereits als der Übergang von einem System zu einem anderen aufzufassen. Als Beispiel: Der Wandel von einem durch Zünfte organisierten Arbeitsmarkt zu einem freien Wettbewerbsmarkt u m Arbeitskräfte und später zu einem durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände organisierten Arbeitsmarkt läßt sich sowohl als Wandel von A\ nach A2 nach A3 darstellen, aber ebenso gut auch als Übergang von A nach F nach G. Es ist eine theoretische Geschmacksfrage, wo w i r den Trennungsstrich zwischen „Wandel von einer Systemvariante zur anderen" und „Übergang von einem System zum anderen" ziehen. Vielleicht ist es zweckmäßig, u m alle Mißverständnisse auszuschließen, grundsätzlich nicht vom Wandel des Systems zu sprechen, sondern immer den Wandel von einem System zum anderen System zu betonen.

III. Dynamische Systempolitik

167

Dynamische Systempolitik

Beziehen w i r also Systemwandel i n unsere Überlegungen ein, so w i r d die Ordnungsaufgabe schwierig. Solange es nur ein einziges denkbares System (z.B. das der Märkte) gibt, ist Systemordnung konservierend aufzufassen. Der Ordnungsrahmen ist als Idealbild vorgegeben, es kommt darauf an, i h n zu verwirklichen und — einmal verwirklicht — zu erhalten. Gibt es aber Systeme i m Wandel, dann stellt sich die Frage, welches System gerade i m Augenblick anzustreben ist. Soll ein System erhalten werden, w e i l es eben verwirklicht wurde, oder soll es zugunsten eines anderen Systems aufgegeben werden, damit jenes andere System angestrebt werden kann? Wenn aber ein anderes System, welches soll angestrebt werden, da es doch viele Möglichkeiten gibt, auf die übergegangen werden kann? Offensichtlich führt diese Frage i n einige Schwierigkeiten hinein. U m uns nicht verwirren zu lassen, wollen w i r sie deshalb i n drei Einzelfragen auflösen und schrittweise vorgehen. Stimmigkeit der Systeme

Zunächst muß eine Systempolitik darauf achten, daß bei Systemwandel das angestrebte System tatsächlich ein System ist. Es geht u m die Systemhaftigkeit der Systeme. Ordnungspolitik hat nicht von sich aus ein bestimmtes System anzustreben, sondern lediglich dafür zu sorgen, daß die Systemhaftigkeit des Systems insgesamt gewahrt bleibt: Jedes System muß i n sich aufgehen, muß i n sich schlüssig sein. Hauptaufgabe der dynamischen Systempolitik ist es also, dafür zu sorgen, daß bei Veränderungen des Systems das System immer in sich schlüssig bleibt. Es mag seinen Charakter unter Umständen völlig aufgeben, aber es muß i n sich aufgehen. Die einzelnen Entwicklungsschritte müssen also immer von System zu System schreiten. Sie dürfen nicht i n Zwischenphasen führen, die nicht i n sich aufgehen und insoweit eben nicht systemhaft sind. A m einfachsten ist es, den Zusammenhang an einem spielerischen Beispiel zu erläutern. I n der Figur 12, B i l d 1, ist ein einfaches System dargestellt. Es besteht aus einem „Kreis" und einem „Rechteck". Beides hat allerdings keine wirkliche Beziehung zueinander. I n den Entwicklungsschritten zu weiteren Bildern werden nun jeweils einfache Bestandteile hinzugefügt (jeweils ein Strich w i r d angefügt). Das System verändert sich über „Schubkarren" (Bild 2) zu „Mensch" (Bild 3) und „Hampelmann" (Bild 4) zu „Chinese" (Bild 5). Die Systeme der einzelnen Bilder sind jeweils völlig eigenständig (stellen immer wieder

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik (Bild t)

o

(Bilder 2-4)

(Bilder 2a - 4a)

(3 \



(Bild 5)

©

(Bild 5a)

v/V

Figur 12

e

III. Dynamische Systempolitik

169

etwas anderes dar), aber sie sind „ i n sich stimmig" (stellen etwas dar). Eine nicht stimmige Entwicklungsreihe zeigen dagegen die Bilder rechts (2 a - 5 a). Die „stimmige" Entwicklungsreihe zeigt gleichzeitig, daß man m i t verhältnismäßig wenig Zutaten weitreichende Effekte i n der Systemveränderung herbeiführen kann. Bei geschickter Weiterentwicklung läßt sich unter Umständen m i t minimalen Eingriffen etwas völlig Neues und völlig Überraschendes erzielen.

Vermeidung gebrochener Systeme

Dynamische Systempolitik hat also zunächst die typisch gebrochenen Systeme (Systeme, die nicht i n sich schlüssig sind) zu vermeiden. Einige Beispiele für Systembrüche seien kurz genannt. — I n einem System werden Gutscheine verwendet. Das heißt, es werden Anweisungen ausgegeben, die auf den Bezug bestimmter Gütermengen lauten. Wenn nun nicht dafür gesorgt ist, daß die entsprechenden Gütermengen auch vorhanden sind, entsteht ein Systembruch. — I n einem System werden Wahlen eingeführt. Es muß also dafür gesorgt werden, daß jeder Wähler einen Wahlschein erhält. Wenn die wahlberechtigten Mitglieder nicht namentlich erfaßt werden können, ist nicht gesichert, daß jeder Wahlberechtigte wählen kann oder daß nicht ein Unberechtigter mitwählt. Das Wahlensystem ist hier nicht i n sich schlüssig. — Zur Gegenmachtbildung w i r d die Entstehung von Verbänden i n einem Verhandlungssystem zugelassen. U m die Existenz dieser Verbände zu sichern, werden sie m i t öffentlich-rechtlichen Zwangsmitteln ausgestattet. Durch Zwangsmitgliedsbeiträge, die i m Abzugsverfahren von anderen Institutionen bei den Mitgliedern der neuen Zwangsverbände einbehalten werden, w i r d die finanzielle Existenz der „Gegenmachtverbände" garantiert. Die Wahlbeteiligung zu den Verbandsgremien dieser neuen Verbände bleibt jedoch gering und erreicht dauernd weniger als 20 °/o. A u d i hier ist das System nicht i n sich schlüssig. Wenn die Gegenmachtverbände ihre Mitglieder nicht zu interessieren vermögen — und sie haben i m Grunde daran kein Interesse, solange ihre finanzielle Existenz garantiert ist — w i r d die Gegenmacht nicht adäquat ausgeübt werden. Das System bleibt in sich gebrochen.

170

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik Das K r i t e r i u m der Systemschliissigkeit

Besteht für einen Wandel des Systems A grundsätzlich die Möglichkeit zu den Systemen V, W, X , Y, Z überzugehen, so w i r d das Kriterium der Schlüssigkeit eine Reihe von Möglichkeiten ausschließen, da diese Systeme einer wissenschaftlichen Probe auf Schlüssigkeit nicht standhalten. Nehmen w i r an, V und Z seien i n dieser Weise nur scheinbare Systeme, i n Wirklichkeit aber wiesen sie Systembrüche auf, die i h r Funktionieren von vornherein i n Frage stellten. Die Möglichkeiten der Weiterentwicklung werden aufgrund dieses Kriteriums eingeschränkt. (Aus der Reihe V, W, X , Y, Z fallen V und Z aus.) Wollen w i r diesen Gedanken i n einer einfachen M a t r i x erfassen, ergibt sich folgendes B i l d (Figur 13): Lenkungssysteme

Schlüssigkeit

V



w

+

X

+

Y

+

z



Figur 13 Wettbewerb zwischen Wettbewerbssystemen

Ein soziales System ist immer i n seiner Umwelt zu betrachten. Die Systempolitik der Weiterentwicklung hat dabei darauf zu sehen, welche Konkurrenzbedingungen zu anderen Systemen bestehen. Das Wettbewerbskriterium verlangt, daß hinreichende Wahlmöglichkeiten offenbleiben. W i r d zum Beispiel ein Zwangssystem, wie das einer Sozialversicherung, beobachtet, so gilt es festzustellen, i n welchen Konkurrenzbeziehungen dieses Zwangssystem zu anderen ähnlich organisierten (anderen ähnlichen Zwangssystemen) oder zu marktwirtschaftlichen Systemen steht. Ein Beispiel: W i r untersuchen die Weiterentwicklung der Orts-

III. Dynamische Systempolitik

171

krankenkassen und beobachten deren Konkurrenzverhältnis zu den anderen gesetzlichen Krankenkassen (Krankenkassen m i t Zwangsprinzip) und zur Privaten Krankenversicherung (Krankenkasse auf marktwirtschaftlicher Basis). Unter dem Blickpunkt des Wettbewerbskriteriums ergibt sich nun die Frage, ob eine Weiterentwicklung den Wettbewerb innerhalb und zwischen den Systemen verhindert, i h n vergrößert oder mindert. W i r d er gemindert oder ganz aufgehoben, so ist diese Weiterentwicklung durch eine dynamische Systempolitik zu unterbinden. Geht es um fördernde Eingriffe, so sind diejenigen Weiterentwicklungen zu fördern, die den Wettbewerb innerhalb und zwischen den Systemen verstärken. Auch unter dem Wettbewerbskriterium werden bei wissenschaftlicher Prüfung nicht alle zur Weiterentwicklung möglichen Systeme standhalten. Einige Beispiele: — Ein System baut auf Kostenerstattung auf. Beiträge werden zwangsweise eingezogen und aufgrund von Vorlagebescheinigungen über die Inanspruchnahme von Leistungen werden die dadurch entstandenen Kosten ersetzt. Die Preise der Kostengüter werden nicht i m Kostenerstattjingssystem selbst gebildet, sondern von einem anderen marktwirtschaftlichen System als Marktpreise übernommen. I n diesem Marktsystem der Kostengüter aber besteht ein Monopol. Da es sich nur u m einen M a r k t von relativ geringfügiger Größe handelt, den dieses Monopol beherrscht, ist bisher nicht dagegen eingeschritten worden. Es steht außerdem i n Konkurrenz zu anderen kostenerstattenden Systemen. Tatsächlich w i r d aber die mangelnde Konkurrenz aus dem monopolisierten System via Kostenerstattung i n das kostenerstattende System eingeschleust. Die Monopolisierung w i r k t hier ansteckend. Eine Entwicklung daraufhin ist zu unterbinden. — I n einem Wahlensystem stehen Verbände miteinander m i t ihren Wahlvorschlagslisten i n Konkurrenz. Ein Verband fusioniert nun m i t anderen Verbänden, so daß die Konkurrenz i n den Wahlvorschlagslisten wegfällt. Es gibt nur noch einen Einheitsvorschlag, der Wahlmechanismus ist damit faktisch stark eingeschränkt worden. Vom Wettbewerbsgesichtspunkt ist zu prüfen, ob dies zugelassen werden kann. Noch deutlicher w i r d dieser Vorgang bei den sogenannten „Friedenswahlen", bei denen konkurrierende Verbände Absprachen dergestalt treffen, daß sie sich vor der Ausschreibung der Wahl auf eine Einheitsliste einigen. Dadurch fällt dann auch rechtlich die Wahl weg. I n den sogenannten „Friedenswahlen" kommt die Einheitsliste zum Zuge, ohne daß die Wähler noch aufgerufen werden. .

172

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik W i r unterstellen, die Systeme V und X würden den Wettbewerb innerhalb und zwischen den übrigen Systemen vermindern oder i h n gar verhindern. W i r erhalten dann folgende M a t r i x (Figur 14):

Lenkungssysteme

Wettbewerb zwischen Systemen

+

V w



X

+

Y



z

-

Figur 14 Selbstentwicklung v o n Lenkungssystemen

Wie können neue Lenkungssysteme bereitgestellt werden? Zwei Wege, die besonders wichtig und auch gangbar erscheinen, sollen besprochen werden. Daß es noch weitere Wege geben könnte, möchte ich dahingestellt sein lassen. Ich sehe indes keine Veranlassung, dies anzunehmen: — Lenkungssysteme können durch die an der Lenkung Interessierten i n Gang gesetzt werden (immanente, endogene Entwicklung). — Lenkungssysteme können durch Gesetz eingerichtet werden (exogene Entwicklung). A u f den ersten Blick erscheint der zweite Weg als der häufiger begangene. Eine eingehende Untersuchung bisheriger Fälle aber zeigt, daß die Einrichtung durch den Staat i m allgemeinen eher dem äußeren B i l d entspricht, daß aber die geschichtliche Wirklichkeit gewöhnlich doch die endogene Entwicklung aufweist. Die Einrichtung durch Gesetz bildet meist die Sanktionierung des schon Bestehenden. Sie bildet die Verallgemeinerung dessen, was i m einzelnen bereits erreicht wurde. W i r können davon ausgehen, daß die an der Lenkung Interessierten von sich aus Bemühungen machen, zu einer besseren Lenkung zu kom-

III. Dynamische Systempolitik

173

men, und daß diese Bemühungen, wenn sie erfolgreich sind oder erfolgversprechend scheinen, von den Politikern aufgegriffen werden und Unterstützung durch Gesetze finden. Kosten-Nutzen-Analyse der Systementwicklung

W i r können diesen Gedanken von der autogenen Entwicklung eines Systems und der nachfolgenden staatlichen Sanktionierung durch eine einfache Kostenüberlegung unterbauen. W i r vergegenwärtigen uns dazu, daß der Aufbau eines Lenkungssystems Energien benötigt: Aufwand an Zeit, Geld, persönlichem Einsatz. W i r nennen diesen Aufwand kurz Kosten. Vor diesen Kosten schrecken die einzelnen Beteiligten zurück, wenn sie jeweils einzeln veranlaßt werden, die gesamten Kosten vollständig zu tragen. Wenn dagegen die Kosten aufgeteilt und auf die Gesamtheit aller Beteiligten umgelegt werden und wenn auf jeden einzelnen so nur ein geringer Kostenanteil entfällt, w i r d es für die Beteiligten rational, sich an der Neuerrichtung eines Lenkungssystems zu beteiligen. Das Verhältnis der Kosten zum erwarteten Ertrag dieses Lenkungssystems w i r d nun unter Umständen günstig. Diese Kosten-Nutzen-Überlegung gilt auch für die Politiker. Es ist i m politischen Kalkül interessant, ein Lenkungssystem durch Gesetz zu sanktionieren, wenn es von den Beteiligten selbst bereits erstrebt wird. Durch eine solche politische A k t i o n braucht nämlich unter Umständen nur ein relativ kleiner Teil von Wählern verärgert zu werden. Von dem Großteil der Wähler, der sich bereits an dem neuen Lenkungssystem freiwillig beteiligt hat, kann erwartet werden, daß diese Politik ihn positiv beeinflußt. Daraus ergibt sich, daß i m allgemeinen geradezu erwartet werden muß, daß Selbstentwicklung bereits i m Gang ist, ehe die Politiker m i t gesetzlichen Maßnahmen eingreifen. Kosten-Nutzen-Analyse der Selbstentwicklung

Die Überlegung allerdings zeigt noch ein weiteres: Viele Lenkungssysteme m i t kleinem Volumen erreichen überhaupt nie das politische Gewicht, u m je politisch wirksam zu werden. Ihre Probleme sind nicht gewichtig genug, die von ihnen erfaßten Wähler sind i n ihrer Anzahl zu gering, u m die Grenze der politischen Reagibilität zu überschreiten. Dieses geringen Aufmerksamkeitsgrades wegen werden diese Probleme erst gar nicht zu politischen Problemen. Damit kann die Gesetzgebungsmaschine aber nicht inganggesetzt werden. Die gesetzgeberischen Maßnahmen sind auch i n dieser Sicht nicht primär, sondern sekundär. Wahrscheinlich aber sind sie überhaupt nicht zu erwarten. Wie kommt es zur Entwicklung solcher spezifischer Lenkungssysteme? W i r wollen zwei Möglichkeiten untersuchen:

174

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

1. Die Weiterentwicklung bestehender Lenkungssysteme, so daß sich gewissermaßen aus dem Bestehenden heraus das Neue bildet. 2. Entwicklung völlig neuer Systeme, die an noch keinen oder nur an sehr geringen Ansätzen anknüpfen können. Aus der Fülle der Möglichkeiten, Lenkungssysteme weiterentwickeln zu können, sollen nur einige genannt werden. Besonders i n komplexen Lenkungssystemen sind ja die Weiterentwicklungsmöglichkeiten außerordentlich groß. Immerhin zeigt doch die Erfahrung, daß einzelne Weiterentwicklungsmöglichkeiten besonders wichtig sind. Zusätzliche Aggregate: Z u den bestehenden Partnern w i r d ein neuer Partner hinzugefügt. Das geschieht i m allgemeinen durch Verbandsbildung. Die Zahl der bestehenden Partner w i r d also durch einen Verband von bisher diffus i m System Mitwirkenden vermehrt. Galbraith hat den vielleicht wichtigsten Sonderfall der Verbandsbildung i n seinem Modell der countervailing power beschrieben. Zusätzliche Scheine als Lenkungsströme: Die Zahl der bestehenden Lenkungsströme w i r d durch Lenkungsströme höherer Ordnung vermehrt. Dazu werden Scheine spezifischer A r t eingeführt, die die Lenkung übernehmen. Zunächst empfehlen sich hierzu Gutscheine, die auch zu Berechtigungsscheinen weiterentwickelt werden können. Solche Gutscheine als Lenkungsströme höherer Ordnung können immer dann verhältnismäßig leicht entwickelt werden, wenn die Übung besteht, Quittungen und Abrechnungen auszustellen. Kumulative Prozesse: I n einem bestehenden Kreislauf können kumulative Prozesse ausgelöst werden. Solche kumulativen Prozesse können zu einem nominalen und/oder zu einem realen Wachstum führen. Lenkungssysteme

Selbstentwicklung

V

+

w

+

X

+

Y



z



Figur 15

175

I I I . Dynamische Systempotik

W i r unterstellen nun, die Systeme Y und Z enthielten aus einem oder mehreren der oben genannten Gründe keine Möglichkeiten der Selbstentwicklung. Unter diesem K r i t e r i u m erhalten w i r eine dritte M a t r i x (Vgl. Figur 15): Damit haben w i r für die von uns angenommenen 5 Lenkungssysteme 3 Matrizen unter dem K r i t e r i u m der Systemschlüssigkeit, des Wettbewerbs zwischen den Systemen und der Selbstentwicklung der Systeme entwickelt. Welches dieser 5 alternativ verwendbaren Lenkungssysteme erweist sich den anderen Lenkungssystemen hinsichtlich dieser K r i t e rien als überlegen? U m diese Frage zu beantworten, brauchen w i r nur die Matrizen der Figuren 13 bis 15 miteinander zu verbinden. W i r erhalten dann die folgende Gesamt-Matrix (Vgl. Figur 16): Lenkungssysteme Schlüssigkeit Wettbewerb zwischen Systemen

Selbstentwicklung

+

+

-

+

-

+

-

X

+

+

+

+

Y

+

-

-

-

z

-

-

-

-

V

-

w

Figur 16 Es zeigt sich, daß nur das Lenkungssystem X allen von uns genannten Kriterien genügt. Statische u n d dynamische Systempolitik

Wenn w i r rückblickend die Ordnungspolitik, wie sie i n der Phase Euchen gefordert worden war, m i t der Systempolitik vergleichen, wie w i r sie zu Beginn der neuen Phase heute betrieben sehen möchten, so w i r d deutlich, daß einerseits Systempolitik wirklich Ordnungspolitik bleibt, daß andererseits aber die ordnungspolitischen Aufgaben sich doch deutlich voneinander unterscheiden. U m einmal — m i t allem Vorbehalt — verkürzt zu sprechen: Die Ordnungspolitik der Phase Euchen war statisch, die hier vorgetragene Systempolitik ist dynamisch. Wenn von statischer Ordnungspolitik gesprochen wird, so nicht deshalb, w e i l i n dieser Ordnungspolitik etwa nichts geschähe. Ordnungspoli-

176

C. Dynamische

rdnungspolitik — Systempolitik

t i k war immer die Aufforderimg, aktiv zu sein, nichts schleifen zu lassen, nirgends etwas nachzusehen, ständig einzugreifen. Statisch war der Ordnungsrahmen, der — einmal verwirklicht — immer wieder neu wiedergeschaffen, erhalten werden sollte. Diese Ordnungspolitik war j anusköpf ig; sie hatte zwei Gesichter. Solange der angestrebte Ordnungsrahmen noch nicht verwirklicht war, war sie unerhört revolutionär. Sie griff kühn i n die Zukunft voraus. Denken w i r an L u d w i g Erhard und seine umwälzende Entscheidung zurück, von der Zentralverwaltungswirtschaft zur Marktwirtschaft überzugehen. Das war damals Umsturz. Ist die Schwelle aber überschritten, so w i r d das andere Janusgesicht sichtbar; dieses ist konservativ. Ist die rechte Ordnung nämlich einmal verwirklicht, so gilt es, sie zu erhalten, zu konservieren. Auch Konservieren verlangt ständige Bemühung. Das zu Konservierende jedoch bleibt statisch. Ordnungspolitik als Systempolitik ist dynamisch. Sie w i l l nicht einen bestimmten, „richtigen" Rahmen schaffen noch erhalten, sie sieht vielmehr die Lenkungssysteme i n ständigem Wandel begriffen. Was heute durch einen M a r k t organisiert wird, kann morgen schon gruppenorganisatorisch gelenkt werden, eine staatliche Lenkung oder komplexe Lenkungsmöglichkeiten sind verwirklichbar. Der Ordnungsrahmen wächst, gestaltet sich um, er ist dynamisch. Nicht dem Wandel unterworfen sind allerdings auch i n der neuen Ordnungspolitik die Prinzipien, nach denen geordnet werden soll: der Wettbewerb im System und zwischen den Systemen. — Freilich, dieses Prinzip besagt relativ wenig, es bleibt sehr abstrakt und muß i n jedem einzelnen Falle konkretisiert werden. Wettbewerb ist ja i n vielen Bereichen nicht objektiv meßbar. Die Entscheidung, ob hinreichend Wettbewerb verwirklicht ist (in den Systemen und zwischen den Systemen), muß letztlich irgendwie durch Menschen getroffen werden. Die Entscheidung für mehr Wettbewerb muß gefällt werden. Und hier gilt wiederum ein Wettbewerbsprinzip: Die Wettbewerbsentscheidung darf nicht denen selbst überlassen bleiben, die dem jeweiligen Wettbewerb ausgesetzt sind. Die Wettbewerbsentscheidung muß nach außen verlegt sein. Denn der Wettbewerb hat die Tendenz, sich selbst aufzuheben. Die Antriebskräfte zur D y n a m i k

Und noch i n einer anderen Beziehung unterscheidet sich dynamische Systempolitik von der statischen Ordnungspolitik. Sie weiß, daß Dynamik Antriebskräfte verzehrt. Für die statische Ordnungspolitik sind die Antriebskräfte kein Problem. Statische Ordnungspolitik ist i m wesentlichen bremsend. Sie greift ein und verhindert das Abweichen von der rechten Ordnung. Sie löst Kartelle auf. Natürlich braucht auch dieses

I I I . Dynamische Systempolitik

17?

Bremsen Kraft. Aber diese K r a f t ist relativ leicht aufzubringen. Sie ist vor allem K r a f t der Einsicht und des guten Willens. Ist ein Wettbewerbsamt einmal geschaffen, so gibt es über die Verwaltungskosten dieses Amtes hinaus keine wesentlichen Kostenprobleme. Die Frage also, was kostet uns Wettbewerb, drängt sich nicht i n den Vordergrund. Anders die dynamische Systempolitik. Für sie sind die Kosten des Antriebs zur rechten Wettbewerbsordnung von größter Wichtigkeit. Wenn der Rahmen des Systems dynamisch ist, d. h. wenn er sich wandelt und sich i m Zeitablauf wandeln muß, so taucht natürlich die Frage auf, wer i h n eigentlich wandelt. Die Frage, woher die Antriebskräfte zum Wandel nehmen, ist von eminenter Bedeutung. Denn werden die Kosten dieser Antriebskräfte zu groß, dann unterbleibt der Wandel und der veraltete und damit ineffiziente Ordnungsrahmen w i r d weiterhin m i t geschleppt. W i r können unser Problem i n einer einfachen Kosten-Nutzen-Analyse fassen. W i r gehen von einem bestehenden Wettbewerbssystem aus. W i r stellen fest, daß i m Zeitablauf Faktoren eingetreten sind, die eine Systemänderung wünschbar machen. Der Übergang zu einem neuen System würde Vorteile bringen, allerdings auch Nachteile schaffen. Sind die Vorteile insgesamt größer als die Nachteile, so ist dieser Übergang lohnend. Diese einfache Kosten-Nutzen-Rechnung hat es allerdings i n sich. Sie muß ja für alle zutreffen, die für die Entscheidung zum System Wechsel wichtig sind. Natürlich sind nicht alle am System Beteiligten auch für den Systemwechsel entscheidend. Aber ihre Zahl ist doch erheblich. Auch darf die Verteilung von Wechselkosten und Wechselnutzen nicht zu extrem sein, so daß die einen nur die Kosten und die anderen nur die Nutzen haben. Das bedeutet nicht, daß die Kostenträger immer gleichzeitig auch die Nutznießer sein müßten. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Nutznießer die Kostenträger i n einer Wahl überstimmen und einseitig belasten. Aber auch das hat seine Grenzen. Schließlich ist jede soziale Kosten-Nutzen-Rechnung immer auch m i t Risiken belastet, denn viele Größen können nur geschätzt werden und sind letztlich nicht exakt berechenbar. Auch die Risiken müssen also abgewogen werden. Daraus ergibt sich, daß nur solche Systemdynamik verwirklichbar ist, deren Kosten-Nutzen-Rechnung i m einzelnen und i m ganzen aufgeht. Es ist für viele ein zu schwieriges Geschäft, eine solche Rechnung aufzustellen. Es ist vielmehr Auigabe der Systempolitik selbst, die notwendige Aufklärung zu leisten.

178

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik Die Rolle der Information i n der dynamischen Systempolitik

Aus dieser Überlegung w i r d deutlich, daß statische und dynamische Systempolitik sich unterscheiden müssen. Die statische Systempolitik (Ordnungspolitik) war vor allem eine hemmende. Sie hemmte und verhinderte Maßnahmen, die auf Wettbewerbseinschränkung h i n wirkten. Die Institution, die dazu nötig ist, stellt i m Rahmen der Marktwirtschaft das Kartellamt dar. Es verhindert die Bildung von wirtschaftlicher Macht. Die dynamische Systempolitik muß auch Systemwandel miteinbeziehen. Sie muß i n den Systemwandel fördernd eingreifen können. Sie tut dies nicht, indem sie selbst Systemwandel schafft. Die Energiemengen, die dazu erforderlich sind, wären nicht aufzubringen. Sie fördert den Systemwandel, indem sie aufklärt, indem sie zeigt, welche Möglichkeiten zum Wandel grundsätzlich vorhanden sind, welche Wirkungen des Systemwandels zu erwarten sind und wem diese Wirkungen zugutekommen, wer ihre Kosten zu tragen hat. Dynamische Systempolitik berät Sie trägt die Informationsbeschaffungskosten (Forschung) und die Informationsvermittlungskosten (Schulung, Bildung, Werbung) und gibt damit denjenigen, die letztlich den Systemwandel voranbringen, die Voraussetzungen, selbst tätig zu werden. Das negativ (hemmend) w i r kende Kartellamt w i r d i n der dynamischen Systempolitik durch ein positiv wirkendes (informierendes) Rationalisierungskuratorium ergänzt. Freilich, auch die Möglichkeiten, Informationen von außen zu beschaffen, sind beschränkt, wenn die Beteiligten nicht selbst bereit sind, über Sich und ihre Angelegenheiten zu informieren. Viele Institutionen haben aber ein Interesse daran, u m sich Halbdunkel und Unsicherheit zu verbreiten, weil sie glauben, i n einer uninformierten Umwelt besser agieren zu können. Das darf nicht hingenommen werden, soweit wettbewerbsrelevante Fakten davon betroffen sind. Publizität muß unter Umständen erzwungen werden. Der bekannteste Fall, der uns zeigt, wie wichtig Publizität ist, und daß sie durch Auflagen geschaffen werden muß und geschaffen werden kann, bildet das Aktiengesetz. Die großen Wirtschaftsunternehmen (soweit sie Aktiengesellschaften sind) werden hierdurch veranlaßt, einzelne wichtige Daten zu veröffentlichen. Was von den Aktiengesellschaften verlangt wird, sollte m i t Fug und Recht auch von den großen Verbänden, den Einrichtungen und Selbstverwaltungen der Sozialen Sicherung, den Parteien verlangt werden. E i n eigenes Amt für Publizitätsförderung sollte damit beauftragt sein, für die notwendige Ermittlung wichtiger Daten zu sorgen.

III. Dynamische Systempolitik

179

Die genannten Aufgaben sind nicht w i r k l i c h neu. Natürlich haben auch die Ordnungspolitiker der früheren Phasen der Sozialen M a r k t wirtschaft sie erkannt. Aber die Akzente lagen anders. I n den früheren Phasen haben die Ordnungspolitiker die Ordnungsaufgaben selbstverständlich den staatlichen Organen zugeschrieben. Ordnungspolitik war Aufgabe des Staates. Insoweit hatte man Ordnungspolitik vorwiegend normativ aufgefaßt. Man hat sich überlegt, was der Staat t u n sollte, man hat aber nicht weiter darüber nachgedacht, ob er auch i n der Lage ist, Ordnungspolitik w i r k l i c h zu leisten. W i r können heute m i t ziemlicher Sicherheit feststellen, daß der Staat nicht oder nahezu nicht i n der Lage ist, Ordnungspolitik durchzuführen. Die Politiker sind selbst einem Wettbewerbsprozeß unterworfen. Sie stehen i m politischen Wettbewerb. Je härter dieser Wettbewerb, u m so größer der Druck m i t wählerwirksamen Programmen i n das politische Geschehen einzugreifen. Der Politiker i m politischen Wettbewerb muß vor allem die nächsten Wahlen gewinnen. Er muß Reformen anbieten, er muß Wähler, und zwar die entscheidenden Grenzwähler, gewinnen. Das ist für ihn wettbewerbsnotwendiges Verhalten. W i r sollten es nicht beklagen, sondern zur Kenntnis nehmen. Systempolitik durch unabhängige Institutionen

Nehmen w i r die Wettbewerbsbedingtheit politischen Handelns zur Kenntnis, so müssen w i r feststellen, daß es nicht wahrscheinlich ist, daß die Maßnahmen einer dynamischen Ordnungspolitik gerade i m entscheidenden Augenblick, wo sie durchgeführt werden sollen, auch wählerwirksam sind. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher dagegen. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß w i r die Ordnungspolitik aus dem politischen Wettbewerbsprozeß herausnehmen müssen. W i r müssen Ordnungspolitik unabhängigen Institutionen anvertrauen. Schon jetzt gibt es eine Reihe solcher Institutionen: Die Gerichte, die Bundesbank, das Kartellamt. Diese Institutionen sind zu ergänzen um ein Rationalisierung skuratorium und ein Publizitätsförderungsamt. Außerdem sind die Institutionen m i t ihrer A k t i v i t ä t auf alle Lenkungssysteme auszuweiten oder, falls dies nicht möglich ist, sind parallele Institutionen für die jeweiligen Lenkungsbereiche zu schaffen. U m exakt zu sein, wäre also für jedes einzelne Lenkungssystem ¡notwendig: — A m t für die Schöpfung von Lenkungsmitteln (Steuerungsscheinen) (für die Marktwirtschaft = Bundesbank) — A m t zur Verhinderung von Machtbildungen (für die Wirtschaft = Kartellamt) 12*

180

C. Dynamische Ordnungspolitik — Systempolitik

— A m t zur Rationalisierung (für die Wirtschaft = Rationalisierungskuratorium der Wirtschaft, aber auch Bundesanstalt für Arbeit) — A m t zur Publizitätsförderung (bisher: Statistisches Bundesamt, Landesämter). Was jetzt vordringlich ist

Da es nicht darauf ankommt, Vollkommenheitsfanatismus zu betreiben, ist es natürlich möglich, die Aufgaben mehrerer kleinerer Lenkungssysteme auch zusammenzulegen oder überhaupt zu vernachlässigen. W i r können uns also zum Schluß fragen, welches wohl die vordringlichsten Aufgaben wären. Man mag verschiedener Meinung sein. Ich bin der Ansicht, folgendes sei besonders dringlich: — Kartellamt für das Verbandswesen — Publizitätsvorschriften für die staatlich privilegierten Selbstverwaltungen und Verbände — Rationalisierungskuratorium für Dienstleistungen.