Subjekt Und Wahrheit: Meister Eckharts Dynamische Vermittlung Von Philosophie, Offenbarungstheologie Und Glaubenspraxis 9789042935501, 9789042937178, 9042935502

Perhaps one of the most prominent features of Meister Eckhart's thought is the refusal to adopt a rigid compartimen

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Subjekt Und Wahrheit: Meister Eckharts Dynamische Vermittlung Von Philosophie, Offenbarungstheologie Und Glaubenspraxis
 9789042935501, 9789042937178, 9042935502

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Subjekt und Wahrheit: Meister Eckharts dynamische Vermittlung von Philosophie, Offenbarungstheologie und Glaubenspraxis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Parabeln der Vernunft. Maimonides’ Schrifthermeneutik als Quelle für Eckharts philosophische Exegese
Die Univozität des Ich bei Meister Eckhart vor dem Hintergrund der scholastischen Frage nach dem subiectum theologiae
‚Contemplata aliis tradere‘. Aspekte der inneren Schau und der Vermittlung bei Meister Eckhart
Edles Wissen: Schellings Philosophie und die Deutsche ‚Mystik‘. Meister Eckhart, Johannes Tauler und das Pseudo-Taulerische Buch von der geistigen Armut
Das Buch Ijob und Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung

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ECKHART: TEXTS AND STUDIES

VOLUME 8

subjekt und wahrheit MEISTER ECKHARTS DYNAMISCHE VERMITTLUNG VON PHILOSOPHIE, OFFENBARUNGSTHEOLOGIE UND GLAUBENsPRAXIS HERAUSGEGEBEN VON

Martina Roesner

PEETERS

SUBJEKT UND WAHRHEIT

Eckhart: Texts and Studies edited by

Markus Vinzent

(King’s College, London & Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt)

advisory board

Christine Büchner

(Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Hamburg)

Markus Enders

(Theologische Fakultät, Universität Freiburg)

Gotthard Fuchs

(Kultur-Kirche-Wissenschaft, Bistümer Limburg und Mainz)

Freimut Löser

(Philosophisch-historische Fakultät, Universität Augsburg)

Dietmar Mieth

(Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Tübingen)

Regina D. Schiewer

(Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

Loris Sturlese

(Storia della filosofia medievale, Università del Salento)

Rudolf K. Weigand

(Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

Eckhart: Texts and Studies Volume 8

Subjekt und Wahrheit Meister Eckharts dynamische Vermittlung von Philosophie, Offenbarungstheologie und Glaubenspraxis

herausgegeben von

Martina Roesner

PEETERS

LEUVEN — PARIS — BRISTOL, CT

2018

ISBN 978-90-429-3550-1 eISBN 978-90-429-3717-8 D/2018/0602/64 A catalogue record for this book is available from the Library of Congress. © 2018, Peeters, Bondgenotenlaan 153, B-3000 Leuven, Belgium No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage or retrieval devices or systems, without prior written permission from the publisher, except the quotation of brief passages for review purposes.

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Christian Ströbele Parabeln der Vernunft. Maimonides’ Schrifthermeneutik als Quelle für Eckharts philosophische Exegese. . . . . . 15 Martina Roesner Die Univozität des Ich bei Meister Eckhart vor dem Hintergrund der scholastischen Frage nach dem subiectum theologiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Freimut Löser ‚Contemplata aliis tradere‘. Aspekte der inneren Schau und der Vermittlung bei Meister Eckhart . . . . . . . . . . . 

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Andrés Quero-Sánchez Edles Wissen: Schellings Philosophie und die Deutsche ‚Mystik‘. Meister Eckhart, Johannes Tauler und das Pseudo-Taulerische Buch von der geistigen Armut. . . . . 

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Ludger Schwienhorst-Schönberger Das Buch Ijob und Meister Eckharts Buch der göttlichen ­Tröstung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Vorwort

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eister Eckhart gehört zweifelsohne zu den faszinierendsten Gestalten des christlichen Mittelalters. Seit seinem Tod vor bald 700 Jahren haben seine mittelhochdeutschen Predigten und Traktate nicht aufgehört, die Menschen in ihren Bann zu ziehen; spricht aus ihnen doch eine besondere Form mystischer Frömmigkeit, die nicht nur über Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg ihre Anziehungskraft auf spirituell interessierte Menschen ausübt, sondern aufgrund der in ihr liegenden radikalen Dekonstruktion aller traditionellen Gottesbilder sogar Atheisten zu faszinieren vermag.1 Der Umstand, dass Eckharts Mystik auf wenige, dafür aber umso fundamentalere Einsichten abzielt, die nicht nur den Christen als Christen oder den Gläubigen als Gläubigen, sondern den Menschen als Menschen angehen, ist sicher einer der Hauptgründe für die ungeheure Breitenwirkung, die sie ausübt. Dieselbe Konzentration seines mystischen Grundansatzes auf wenige, universale Grundmotive lässt zugleich aber auch viele Fragen bewusst offen und eröffnet dadurch nicht nur einen breiten Spielraum für legitime Interpretationen, sondern – wie die Geschichte der Eckhart-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert zur Genüge beweist – auch ein Einfallstor für mehr oder weniger esoterisch angehauchte Missdeutungen, wenn nicht gar für ausgesprochen bedenkliche, ideologisch gefärbte Vereinnahmungen.2 Gerade diese ungewöhnliche Rezeptionsbreite und Wirkmacht der eckhartschen Mystik scheint zugleich dafür verantwortlich zu sein, dass man sich mit seinem Denken im Bereich der wissenschaftlichen

1. Vgl. Joachim Willems, Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber (Ahlbeck bei Ulm, 2001). 2. Die wohl extremste ideologische Vereinnahmung Eckharts unter nationalsozialistischen Vorzeichen erfolgt in Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu Ingeborg D ­ egenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes (Leiden, 1967).

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Theologie und Philosophie häufig schwertut. Außerhalb der mediävistischen Fachkreise, die um die scholastische, philosophisch-theologische Verwurzelung von Eckharts mystischem Ansatz wissen und seine deutschen Werke vor dem Hintergrund seiner lateinischen Schriften interpretieren, folgt der Umgang mit Eckhart zumeist zwei reduktionistischen Grundmustern. Entweder nimmt man ihn, ausgehend von seinen deutschen Predigten und Traktaten, als rein ‚erbaulichen‘ Autor wahr, der für die sich als Wissenschaften verstehende Philosophie und Theologie im Grunde ohne Belang ist und allenfalls im Bereich der praktischen Lebensgestaltung bzw. der spirituellen Theologie ein Nischendasein ­führen darf. Oder aber man nimmt die stark philosophisch-intellekt­ theoretische Prägung seines Ansatzes ernst, die vor allem in den lateinischen Werken deutlich sichtbar wird, dann kommt es in der Regel zu bestimmten, charakteristischen Abwehrreaktionen: Seitens der Philosophie liegt der Einwand nahe, Eckhart sei als Vertreter einer durch das postmoderne Denken endgültig obsolet gewordenen Einheits- und Vernunftmetaphysik einzustufen; seitens der Theologie wird E ­ ckhart nur zu leicht als Verfechter eines dem Christentum zuwiderlaufenden ‚Intellektualismus‘ oder ‚Platonismus‘ eingestuft, der die spezifische, durch Geschichtlichkeit und Kontingenz gekennzeichnete Dimension des ­biblischen Offenbarungsglaubens aushöhlt und die wesenhaft personale Gottesbeziehung des Menschen in den differenzlosen, überzeitlichen Einheitsgrund der ‚Gottheit‘ hinein aufhebt. Dass Eckhart der wissenschaftlichen Philosophie und Theologie unserer Tage nicht nur unter historischen, sondern auch und gerade unter systematischen Gesichtspunkten viel zu sagen hätte, geht dabei nicht selten völlig unter. Das Spezifikum von Eckharts Ansatz liegt darin, dass er die unüberwindlich scheinenden Gräben unterläuft, die für zahlreiche Aporien in der zeitgenössischen Philosophie und Theologie verantwortlich sind und nicht zuletzt auch die gegenwärtigen Debatten um das Verhältnis von Glaube und Vernunft erschweren. Dort, wo man sich seit der Zeit der Aufklärung daran gewöhnt hat, ein ‚Entweder – oder‘ zu sehen, gelingt es Eckhart, ein konsequentes ‚Sowohl – als auch‘ zu praktizieren und dies auch theoretisch zu begründen. So sind für ihn Schriftoffenbarung und autonome, auf der Freiheit des Subjekts beruhende Vernunftethik ebenso wenig ein Widerspruch wie die positive Rezeption der Schriften nichtchristlicher Autoren einerseits und das unbeirrbare Festhalten am



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theoretischen Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens andererseits. Es gibt wohl kaum einen Autor, der die Werke jüdischer, arabischer und ‚heidnischer‘, d.h. griechisch-römischer Philosophen und Schriftsteller begieriger rezipiert und mit größerer Begeisterung in seine Theologie integriert hat als Meister Eckhart. Zugleich gibt es aber auch kaum einen christlichen Theologen, dem die postmoderne Selbstrelativierung aller Wahrheitsansprüche und die Zurücknahme aller theoretischen Gotteserkenntnis zugunsten einer nur mehr ethisch-praktischen Performativität des Religiösen ferner lägen als ihm.3 Eckhart hat es nicht nötig, das ihm vertraute Paradigma des christlichen Glaubens, des geoffenbarten Bibeltextes und der daran anknüpfenden christlichen Theologie in den relativierenden Modus eines ­theoretisch unentscheidbaren ‚Als ob‘ zu versetzen, um der Gefahr religiöser Intoleranz vorzubeugen. Die Besonderheit seiner Methode besteht darin, dass er nicht auf dem Niveau eines formalen Metadiskurses über ‚das‘ Christentum, ‚das‘ Judentum, ‚den‘ Islam, ‚das‘ Heidentum, den jeweiligen potentiellen Wahrheitsgehalt dieser Religionen sowie ihre mögliche Verhältnisbestimmung reflektiert. Stattdessen verlegt er die Auseinandersetzung mit der Wahrheit des ‚Anderen‘ und ihrer Beziehung zur ‚eigenen‘ Wahrheit des christlichen Glaubens auf ein viel elementareres und konkreteres Niveau, nämlich auf das der detaillierten Auslegung einzelner Bibelverse unter gleichberechtigter Heranziehung christlicher, jüdischer, islamischer und griechisch-römischer Quellen. Zwar ist für Eckhart die Wahrheit (veritas) als solche nur eine und aus christlicher Sicht mit Christus als dem Logos identisch, aber das bedeutet nicht, dass sich konkrete Einzelwahrheiten (verum hoc) nicht genauso gut auch in den Schriften nichtchristlicher Philosophen, Theologen, Wissenschaftler und Dichter finden könnten. Diese Wahrheiten entdeckt Eckhart aber erst in mühevoller Kleinarbeit an den Texten dieser Autoren, die er zu ausgewählten Passagen aus der Heiligen Schrift in Beziehung setzt. Es geht also gar nicht darum, ob ‚das‘ Judentum, ‚der‘ 3. Zur Frage einer im Namen der Toleranz angeblich nötigen Relativierung theoretischer Wahrheitsansprüche der Religionen vgl. den Beitrag von Jan Assmann, ‚Lessings Ringparabel – die performative Wendung der Wahrheitsfrage‘, in J.-H. Tück and R. Langthaler (eds.), ‚Es strebe von euch jeder um die Wette…‘. Lessings Ringparabel – ein Paradigma für die Verständigung der Religionen heute? (Freiburg, Basel, Wien, 2016), 13-35 sowie Jan-Heiner Tück, ‚Glauben im Modus des „Als ob“? Jan Assmanns Votum für eine performativ gewendete Theologie – eine Replik‘, ibid., 36-66.

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Islam oder ‚das‘ Heidentum in ihrer Gesamtheit im Verhältnis zum Christentum recht oder unrecht haben, zumal eine solche Frage in dieser formalen Allgemeinheit ohnehin nicht zu beantworten ist. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass von Fall zu Fall dieser konkrete jüdische, ­muslimische bzw. heidnische Philosoph oder Theologe in Bezug auf diese konkrete Fragestellung, die sich aus dem biblischen Text ergibt, diese konkrete wahre Einsicht gefunden haben kann, die zu einem adäquateren Verständnis der Heiligen Schrift beiträgt und somit auch für Christen relevant ist. Umgekehrt kann es aber auch genauso gut vorkommen, dass Eckhart in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung die Ansicht eines nichtchristlichen Autors kritisiert oder gänzlich ablehnt, aber nicht aufgrund seiner Religionszugehörigkeit, sondern weil das von ihm vorgebrachte Argument nicht stichhaltig ist oder bestimmte für die Fragestellung wichtige Aspekte unberücksichtigt lässt. Gerade diese Vorgehensweise Eckharts trägt zu einem ausgesprochen respektvollen Umgang mit dem ‚Anderen‘ bei, weil es nicht um einen abstrakt-formalen Begriff von Religion geht, sondern um konkrete Vertreter verschiedener Religionen bzw. Kulturkreise, mit denen er in einen intellektuellen Austausch eintritt. Dennoch braucht Eckhart keineswegs vom Gedanken einer absolut gültigen Wahrheit abzurücken bzw. diese in den Modus des ‚Als ob‘ zu versetzen. Wo immer sich in den Werken der betreffenden Autoren eine wahre Erkenntnis findet, ist diese nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich wahr und insofern für jeden Menschen, ganz gleich, welchen Glaubens oder Nichtglaubens, relevant. Eckharts Toleranzmodell setzt also nicht eine Dekonstruktion des theoretischen Wahrheitsbegriffes als solchen voraus, sondern erfordert lediglich eine Unterscheidung zwischen ‚der Wahrheit‘ im absolut singulären Sinne und der Vielzahl der an ihr partizipierenden Einzelwahrheiten, die sich in der Tat innerhalb wie außerhalb des Christentums finden können, ohne dass man deswegen den theoretischen Wahrheitsanspruch des Christentums als solchen relativieren oder gar aufgeben müsste.4 4. In gewisser Weise nimmt Eckhart mit Blick auf die Angehörigen nichtchristlicher Religionen das inklusivistische Wahrheitsverständnis voraus, das auch dem Dekret Nostra aetate des II. Vatikanischen Konzils zugrunde liegt (‚Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist‘, NE, n. 2). Allerdings besitzt Eckharts Ansatz noch eine stärkere zwischenmenschliche Komponente, insofern es ihm nicht um die Wahrheit von Religionen



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Es liegt in der Logik von Eckharts Ansatz, dass diese Verhältnisbestimmung zwischen den verschiedenen Quellen und Ausdrucksformen der Wahrheit nie ein für allemal vorgenommen werden kann, sondern immer wieder neu geleistet werden muss. Aus diesem Grund bekommt sein Wahrheitsbegriff, so überkontingent und universal er auf der einen Seite auch sein mag, auf der anderen Seite doch eine Verankerung im denkenden Subjekt, das sich immer wieder eingehend mit den einzelnen Aussagen der Bibel, aber auch der Werke der Philosophen, Dichter und Wissenschaftler der unterschiedlichsten Provenienz befassen, ihren Wahrheitsgehalt ermitteln und sie zueinander in Beziehung setzen muss. Dies führt dazu, dass auch innerhalb des Paradigmas des christlichen Offenbarungsglaubens das Verhältnis zwischen biblisch fundierter Theologie, Metaphysik, Naturphilosophie, Ethik und den übrigen Wissensformen nicht ein für allemal in statischer Weise definiert werden kann, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Text der Heiligen Schrift einerseits und den übrigen Erkenntnisformen andererseits immer neu zu ermitteln ist. Die unterschiedlichen Wissenschaften sind also nicht länger durch ihr jeweiliges subiectum statisch voneinander abgegrenzt; vielmehr lassen sich in allen Wirklichkeitsbereichen Einsichten theologischer, metaphysischer, naturphilosophischer oder ethischer Art finden, die untereinander strukturanalog sind und somit in Entsprechung zueinander gesetzt werden können. Das bedeutet, dass die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen nicht einfach deutlich abgegrenzt nebeneinander bestehen, sondern sich wechselseitig durchdringen und folglich miteinander ins Gespräch kommen müssen, um das jeweils in ihnen liegende Wahrheitspotential möglichst weit auszuschöpfen. Eckharts Anliegen läuft also stets darauf hinaus, Wahrheits- und Erkenntnisformen zu dynamisieren und sie auf performative Weise zueinander in Beziehung zu setzen. Gerade diese auf ein konkretes Tun abzielende Wahrheitsauffassung hat darüber hinaus auch zur Folge, dass die Trennlinie zwischen theoretischer, philosophisch-theologischer Erkenntnis einerseits und praktisch-religiöser Lebensführung andererseits als solchen geht, sondern um die Wahrheit konkreter Aussagen, die sich in den Schriften von Vertretern der verschiedenen Religionen finden lassen. Er praktiziert also weniger einen abstrakten ‚Dialog der Religionen‘ als vielmehr einen konkreten Dialog mit Denkern der unterschiedlichsten Provenienz, die unbeschadet ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit in ihrem gemeinsamen Bemühen um die Erkenntnis der einen, unteilbaren Wahrheit übereinkommen.

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durchlässig wird und letztlich verschwindet. So, wie man die einzelnen Aussagen der Heiligen Schrift, der Philosophie und der übrigen Wissenschaften ineinander ‚übersetzen‘ muss, so ist der Mensch bei Eckhart auch dazu aufgerufen, die Ergebnisse seines theoretischen Erkenntnisstrebens in seine konkrete Lebenspraxis zu ‚übersetzen‘ und so im Vollsinne des Wortes als wahr zu erweisen. Eckharts Erkenntnisparadigma hat also eine unveräußerliche ethisch-praktische Dimension, ohne dass deshalb der theoretische Wahrheitsanspruch der Offenbarung einem pragmatischen Reduktionismus verfiele. Auch wenn die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie das Verhältnis von Theorie und Praxis insgesamt in ein und demselben menschlichen Subjekt zusammenlaufen und von ihm vermittelt werden, so bleiben diese verschiedenen Erkenntnis- und Handlungsformen als solche doch in ihrer relativen Unterschiedenheit als verschiedene Weisen bzw. Modi der einen Wahrheit bestehen. Die in diesem Band versammelten Beiträge, die aus einem im Jahr 2014 an der Universität Wien veranstalteten Kolloquium hervorgegangen sind, beleuchten diese interdisziplinäre, performativ-dynamische Dimension von Meister Eckharts Denken nicht nur auf der theoretischen Ebene, sondern lassen sie durch die Vielfalt der gewählten Deutungsperspektiven auch direkt erkennbar werden. Der Beitrag von Christian Ströbele zum Thema ‚Parabeln der Vernunft. Maimonides’ Schrifthermeneutik als Quelle für Eckharts philosophische Exegese‘ untersucht den ungewöhnlich starken Einfluss, den der Dux neutrorum und das darin entworfene Verhältnis von Schriftoffenbarung und philosophischer Vernunft auf Eckharts Ansatz ausgeübt hat. Besonders auffallend ist dabei die Art und Weise, in der sich Eckhart in seinem zweiten Genesiskommentar die maimonidische Definition des ‚Wortsinnes‘ (sensus litteralis) zu eigen macht, der eben nicht auf die buchstäbliche Oberflächenaussage des biblischen Textes beschränkt ist, sondern jeden wahren Sinn einschließt, auch wenn dieser nicht unmittelbar ersichtlich ist, sondern erst mittels einer geeigneten Hermeneutik freigelegt werden muss. Eckhart übernimmt von Maimonides die Überzeugung, dass die Bibel nicht nur ethisch-moralische oder religiöse Lehren beinhaltet, sondern auch als ein Lehrbuch der Naturphilosophie und Metaphysik zu lesen ist. Allerdings geht Eckhart insofern über Maimonides hinaus, als er diese beiden philosophischen Themenbereiche nicht



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mehr nur einzelnen biblischen Büchern, nämlich dem Buch Genesis (Physik) bzw. dem Buch Ezechiel (Metaphysik) zuordnet, sondern die naturphilosophische und die metaphysische Bedeutungsdimension grundsätzlich in allen Büchern des Alten und Neuen Testaments angelegt sieht. Letztlich gründet dieser Ansatz in der Überzeugung, dass es eine universale Strukturanalogie zwischen der theologischen Sprache der Heiligen Schrift, den Organisationsprinzipien der Natur sowie den Grundsätzen der menschlichen Lebenspraxis gibt, so dass all diese verschiedenen Wirklichkeitsbereiche einander wechselseitig erhellen und zum besseren Verständnis des Wesens Gottes und des Menschen beitragen können. Im Unterschied zu Maimonides knüpft Eckhart die Fähigkeit zu einer Erkenntnis des ‚Tiefensinnes‘ der Schrift nicht an ein besonderes, nur bei speziell dafür disponierten Menschen angelegtes Zusammenspiel der Seelenvermögen. Vielmehr macht er durch den Begriff der ‚Gottesgeburt in der Seele‘ die Erkenntnis der Wahrheit, ‚wie sie in sich selbst ist‘, allen Menschen prinzipiell zugänglich. Der Umstand, dass Eckhart für die Entwicklung seiner Bibelhermeneutik ohne Scheu auf Maimonides zurückgreift und sich die wesentlichen Prinzipien von dessen Exegese aneignet, lässt somit erkennbar werden, dass er die jüdische Theologie keineswegs als ein überwundenes, für das Christentum nicht mehr relevantes Phänomen ansieht, sondern ihr universalgültige, auch für die christliche Theologie überaus fruchtbare Erkenntnisse abzugewinnen und in kreativer Weise weiterzuentwickeln vermag. Der Beitrag von Martina Roesner ‚Die Univozität des Ich bei Meister Eckhart vor dem Hintergrund der scholastischen Frage nach dem subiectum theologiae‘ untersucht die systematischen Grundoptionen, die Meister Eckharts besonders gearteter Wissenschaftsarchitektonik in seinem nur fragmentarisch ausgeführten Hauptwerk, dem Opus tripartitum, zugrunde liegen. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht dabei die These, dass Eckharts Denkansatz nicht nur eine mystisch-existenzielle Lebenslehre, sondern zugleich auch eine besonders geartete Wissenschaftstheorie enthält, die dazu angetan ist, die Spannungen und Konflikte, die sich im 13. Jahrhundert im Verhältnis zwischen aristotelischer Philosophie und biblisch fundierter Offenbarungstheologie entwickelt haben, zu entschärfen, ohne den beiden Wissenschaften ihre Eigenständigkeit zu nehmen. Der Ansatz Thomas von Aquins, der von einem

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irreduziblen Pluralismus der Wissenschaftsprinzipien ausgeht, hat zwar den Vorzug, die Zuständigkeitsbereiche von Offenbarungstheologie und Philosophie abzugrenzen und somit Kompetenzstreitigkeiten zu vermeiden, doch geschieht dies um den Preis, dass das theologische Potential der aristotelischen Metaphysik sowie ihre daraus folgende existenziell-­ lebenspraktische Komponente stark beschnitten werden. Johannes Duns Scotus postuliert dagegen mit dem Begriff des ens univocum die Existenz eines Einheitsgrundes der Erkenntnis, unter den man sowohl Gott als auch die geschaffene Wirklichkeit subsumieren kann, doch handelt es sich hierbei um ein rein formales Konzept, das aus Gott letztlich einen begrifflich handhabbaren Gegenstand des metaphysischen Denkens macht. Vor diesem Hintergrund stellt Meister Eckharts philosophisch-theologischer Gesamtentwurf einen originellen Lösungsansatz dar, der die problematischen Aspekte der bereits bestehenden wissenschaftsarchitektonischen Modelle korrigiert, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Disziplinen zu negieren. Das entscheidende Novum dabei ist, dass er wissenschaftliche Erkenntnis ganz generell nicht mehr in einem statischen, objektiv definierbaren subiectum verankert, sondern im erkennenden Ich, das aufgrund seines reinen Aktcharakters allen einzelnen wissenschaftlichen Aussagen zugrunde liegt und sie zueinander in Beziehung setzen kann. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Eckhart in seinen deutschen Predigten und Traktaten keinen vernunft­ skeptischen, sondern einen ausgesprochen vernunftoptimistischen Ansatz vertritt: Jeder Erkenntnisakt ist als solcher immer auch Selbstvollzug des Ich in seiner untrennbaren Wirkeinheit mit dem göttlichen Intellekt und somit ein Ausdruck mystischen Lebens. Der Beitrag von Freimut Löser zum Thema ‚Contemplata aliis tradere. Aspekte der inneren Schau und der Vermittlung bei Meister Eckhart‘ beleuchtet die für Eckharts Denken charakteristische innere Einheit von theoretischer Erkenntnis und mystischer Lebenspraxis unter dem Gesichtspunkt der dominikanischen Ordensspiritualität. Im Gegensatz zu den älteren, monastischen Orden zeichnet sich der Anfang des 13. Jahrhunderts gegründete Orden der Dominikaner dadurch aus, dass er das höchste Ideal des geistlichen Lebens nicht in einer weltabgeschiedenen vita contemplativa sieht, sondern vielmehr in einer Lebensform, die darauf abzielt, die in der Kontemplation gewonnenen Erkenntnisse



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durch Predigt- und Lehrtätigkeit an andere weiterzugeben. Eckhart folgt zwar grundsätzlich diesem dominikanischen Ideal, definiert aber die Bedeutung dessen, was ‚Kontemplation‘ heißt, dahingehend neu, dass die traditionell damit verbundenen geistlichen Übungen wie Schriftlektüre und Gebet noch zu den ‚äußeren‘ Werken zählen, die dazu dienen, die Seelenkräfte zu sammeln und nach innen zu führen. In diesem Innersten begegnet die Seele Gott, aber nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Liebe oder des Willens, sondern unter dem Gesichtspunkt der Vernunft und der Wahrheit. Insofern sich die göttliche Wahrheit wesentlich als inneres Wort manifestiert, liegt darin zugleich aber auch schon die Notwendigkeit, dieses im Inneren der Seele empfangene Wort in Form der Predigt herauszusprechen und kundzutun. Die ‚Innerlichkeit‘ hat bei Eckhart also gerade nichts mit Verzückungsgefühlen zu tun, sondern ist wesentlich eine Sache der inneren, unmittelbaren Erkenntnis der göttlichen Wahrheit in ihrer wesenhaften Universalität. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese unmittelbar mit der Vernunft geschaute Wahrheit überhaupt vermittelbar ist, und wenn ja, wie dies zu geschehen hat. Entscheidend dabei ist jedoch der Umstand, dass nach dominikanischem Verständnis nicht das Geschaute als solches, sondern die Früchte der Beschauung weitergegeben werden sollen. Mit anderen Worten: Die Gläubigen sollen nicht in theoretischer Weise über ‚etwas‘ belehrt werden, sondern der Gegenwart des göttlichen Wortes in ihrer Seele innewerden, um aus dieser unmittelbaren Einheit mit Gott heraus in der Welt zu wirken. Das hat zur Folge, dass nicht der Lehrende als solcher (also der Prediger) oder die von ihm verwendete Methode im Mittelpunkt steht; vielmehr ist Christus als das Wort schlechthin der eigentliche Lehrer, der die Menschen von innen her belehrt. Die Predigt und sonstige Unterweisung ist also nicht im eigentlichen Sinne ein Vehikel, um den Menschen von außen gewisse Erkenntnisse zu vermitteln, sondern will die Zuhörer durch eine besonders geartete, bildlich-metaphorische Sprache dazu anleiten, die zu erkennende Wahrheit im eigenen Inneren zu finden. Nicht der menschliche Prediger und Lehrer, sondern Gott selbst ist der eigentliche Akteur dieses Prozesses, in dem der Mensch zur Schau der Wahrheit und dem daraus folgenden äußeren Wirken geführt wird. Nach diesen drei Beiträgen, die Eckharts Denkansatz vor dem ­Hintergrund der Philosophie-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte

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des 13. und 14. Jahrhunderts beleuchten, schlägt der Beitrag von Andrés Quero-Sánchez mit dem Titel ‚Edles Wissen. Schellings Philosophie und die Deutsche „Mystik“‘ die Brücke zur Rezeption Meister Eckharts im idealistischen Denken des 19. Jahrhunderts. Dabei geht es nicht unter einem rein systematischen Gesichtspunkt um die möglichen sachlichen Übereinstimmungen zwischen Schellings und Eckharts Ansatz, sondern um die konkret nachweisbaren Einflüsse, die der Thüringer Dominikaner im Rahmen der damals verfügbaren Textgrundlage auf Schellings D ­ enken ausgeübt hat. Schelling war zunächst über die von Spener besorgte Ausgabe der Werke Taulers auf die Tradition der deutschen Mystik aufmerksam geworden, hatte aber nach noch ursprünglicheren Quellen gesucht und war dabei auf den Basler Taulerdruck mitsamt den darin enthaltenen Eckhart-Predigten gestoßen. Eine detaillierte Analyse zentraler Gedanken­ motive aus den Weltaltern und den Erlanger Vorlesungen legt den Schluss nahe, dass Schelling mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu diesem Zeitpunkt diese Eckhart-Texte bereits kannte und ihnen wesentliche spekulative Grundgedanken entnommen hat. Von besonderer Bedeutung sind dabei die von Schelling verwendeten Begriffe der ‚Über-Gottheit‘, des ‚Nichts-Wollens‘, der ‚Lauterkeit‘, ‚Einfalt‘, ‚Gelassenheit‘ und ‚Gleichgültigkeit‘ sowie die Bestimmung des Absoluten als ‚Nichts‘ – alles Motive, die sich in Eckharts Predigten, insbesondere in der sogenannten Armutspredigt (Pr. 52), wiederfinden lassen. Vor dem Hintergrund dieses rezeptionsgeschichtlichen Nachweises kann man Schellings Identitätsphilosophie ihrerseits in gewissem Sinne als mystisches Projekt deuten, insofern es darin um das unmittelbare, ‚grundlose‘ Wissen des Absoluten geht. Dieses wird gerade in dem Maße als unbedingt erkannt, wie es keiner diskursiven Begründung mehr zugänglich ist. Diese Erkenntnis des Absoluten hat keinen bestimmten Gegenstand mehr, sondern ist gerade als ‚Nichts-Wissen‘ Synonym des absoluten Wissens. Die These des nichtgegenständlichen Charakters der Gotteserkenntnis vertritt auch Meister Eckhart in genau derselben Form. Angesichts der Art und Weise, in der Schelling diese Grundeinsicht rezipiert, wird jedoch deutlich, dass die ‚mystische‘ Dimension des deutschen Idealismus gerade nicht im Sinne einer einseitig theologischen Beeinflussung oder gar einer irrationalen Verfremdung des Vernunftdenkens zu verstehen ist. Vielmehr stellt sie ein genuin philosophisch-spekulatives Projekt dar, das die untrennbare



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Zusammengehörigkeit von menschlichem Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein des Absoluten sichtbar werden lässt. Der Beitrag von Ludger Schwienhorst-Schönberger zum Thema ‚Das Buch Ijob und Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung‘, der den vorliegenden Band beschließt, nähert sich dem eckhartschen Denken aus exegetischer Perspektive und gelangt dabei zu ganz überraschenden, neuen Einsichten. Ausgangspunkt ist dabei die in der gegenwärtigen Exegese kontrovers geführte Debatte um die Interpretation des Ijobbuches angesichts der Frage nach dem angemessenen Umgang mit menschlichem Leid. Zumeist wird der im Buch Ijob vorgestellte Lösungsansatz in menschlicher wie theologischer Hinsicht als unbefriedigend und nicht wirklich überzeugend empfunden, da die am Ende der Rahmenerzählung geschilderte, äußere Wiederherstellung des Protagonisten (Ijob 42,10-7) einen aufgesetzten und künstlichen Eindruck macht. Im Gegensatz zu den gängigen theologischen Interpretationen, die stark auf die Realität des menschlichen Leids als solchen und die damit zusammenhängende Theodizeeproblematik ausgerichtet sind, deutet der vorliegende Beitrag die im biblischen Text beschriebene innere Entwicklung Ijobs anhand der metaphysischen Grundstrukturen, die Eckhart in seinem Buch der göttlichen Tröstung entwickelt. Dieser Interpretationsansatz wirkt auf den ersten Blick insofern ungewöhnlich, als Eckhart in diesem stark philosophisch-spekulativ gehaltenen Traktat zwar häufig die Heilige Schrift zitiert, aber kein einziges Mal explizit auf das Buch Ijob verweist. Dennoch liegt in dem von Eckhart skizzierten Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten der Schlüssel zur Deutung der eigentlichen, nicht unmittelbar ersichtlichen ‚Lösung‘ der Frage nach dem Leid, die in Ijob 42,5 ausgesprochen wird. Eckhart betont, dass das Leid, das dem Menschen in diesem Leben widerfährt, ihn nur insofern betreffen kann, als er an seiner Kreatürlichkeit hängt. In dem Maße, wie der Mensch von allem Kreatürlichen – und das heißt auch von seinem Eigenwillen – lässt, ist er in Eckharts Sinne schlechthin ein ‚Gerechter‘, d.h. jemand, der ganz seiner Ungeschaffenheit nach lebt und insofern Sohn Gottes ist. Diese Gottessohnschaft ist dahingehend zu verstehen, dass der Mensch nicht mehr in objektivierender Weise über Gott redet, sondern Gott unmittelbar erkennt und dadurch eins mit ihm wird. Genau diese unmittelbare Schau Gottes wird auch in Ijob 42,5 ausgesprochen, noch bevor von der

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äußeren Wiederherstellung Ijobs und der Wiedergutmachung aller von ihm erlittenen Verluste die Rede ist. Besonders interessant ist die dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegende Deutung, dass der Ijob der anfänglichen Rahmenerzählung zwar ein gerechter Mensch, aber noch kein Gerechter im eckhartschen Sinne des Wortes ist. Dieses vollkommene, akzidenslose Gerechtsein wird ihm erst durch die unmittelbare Gotteserkenntnis zuteil, durch die er in einem viel tieferen Sinne Trost erfährt, als er es durch äußeren, menschlichen Zuspruch je könnte. Die am Ende der Rahmenerzählung geschilderte Wiederherstellung steht dazu zwar nicht in Widerspruch, macht aber nicht den eigentlichen Kern des Ijobbuches aus. Der radikal innovative, um nicht zu sagen provokante Charakter dieser Interpretation liegt darin, dass sie den oft postulierten Gegensatz zwischen dem biblischen und dem philosophisch-metaphysischen ­Gottesund Menschenbild als gegenstandslos erweist. Anstatt die Antwort auf das Phänomen des menschlichen Leids auf individualpsychologischer Ebene zu suchen, wollen sowohl das Ijobbuch als auch Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung dem leidenden Menschen den Weg zu einer inneren Transformation weisen, die ihn zur unmittelbaren Einheit mit Gott führt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Eckhart diesen Transformationsprozess in einer präzisen metaphysischen Begrifflichkeit ausdrücklich reflektiert, was der biblische Text in dieser Form nicht tut. Von der Sache her stimmen jedoch beide darin überein, dass der wahre Trost nie von außen kommen kann, sondern aus der inneren Vereinigung des Menschen mit Gott entspringt. Die thematische Bandbreite der im vorliegenden Band versammelten Aufsätze ist ein beredtes Zeugnis für die außergewöhnliche Vielschichtigkeit von Meister Eckharts Denken. Vor allem aber macht sie deutlich, dass sein Ansatz nicht nur unter mediävistischen, philosophischen, germanistischen oder frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekten von Interesse ist, sondern auch und gerade für die Theologie und Exegese unserer Zeit ein noch weitgehend unausgeschöpftes Potential birgt. Eine Aneignung des eckhartschen Gedankenguts unter bibelhermeneutischen bzw. systematisch-theologischen Gesichtspunkten setzt allerdings die Bereitschaft voraus, die philosophischen Voraussetzungen seines Denkens verstehen zu lernen, ohne gleich in postmetaphysische Abwehrreflexe gegen den vermeintlichen ‚Intellektualismus‘ oder ‚Platonismus‘



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seines Ansatzes zu verfallen. Vor dem Hintergrund der in der gegenwärtigen Theologie vorherrschenden Betonung von Kontingenz, Historizität und Individualität, die zumeist mit dem Postulat einer radikalen Unvereinbarkeit zwischen dem ‚Gott der Philosophen‘ und dem ‚Gott der Bibel‘ Hand in Hand geht, mag Meister Eckharts Ansatz im besten Fall wie ein Anachronismus und im schlimmsten Fall wie eine Provokation erscheinen. Und doch hat Eckhart wohl besser als sonst jemand begriffen, dass der Verzicht auf ein starkes philosophisch-metaphysisches Grundgerüst die Theologie keinesfalls dem Menschen näherbringt, sondern eher dazu angetan ist, ihn an der Erreichung seines eigentlichen, vernunftgeprägten Selbstseins zu hindern. Daher betreibt Eckhart auch in homiletischer und pastoraltheologischer Hinsicht keine Glaubensvermittlung zu herabgesetzten Preisen, da er der Auffassung ist, dass ein solches Vorgehen sowohl Gottes als auch seiner Zuhörer unwürdig wäre. Vielmehr sind alle seine Werke und Predigten von der Überzeugung getragen, dass die eine göttliche Wahrheit in ihrer überkontingenten Universalität und Absolutheit kein abstraktes philosophisches Konstrukt und kein unerreichbares Ideal darstellt, sondern jedem Menschen, insofern er Mensch ist, ohne Abstriche zugemutet werden kann. Sowohl das Kolloquium als auch der vorliegende Sammelband sind aus Forschungsprojekten hervorgegangen, die vom Austrian Science Fund (FWF) unter den Projektnummern M1472-G15 bzw. P27499-G15 gefördert wurden.

Parabeln der Vernunft Maimonides’ Schrifthermeneutik als Quelle für Eckharts philosophische Exegese Christian Ströbele, Universität Tübingen Abstract By comparing the exegetical methodologies of Maimonides and Eckhart of Hochheim, the article highlights how certain key aspects in Eckhart’s philosophical reading of the holy texts have been influenced by the Jewish scholar and, in turn, by the Arabic hermeneutical and epistemological traditions underlying Maimonides’ approach. Thus, both authors assume a universal correspondence between scriptural meaning and philosophical truths. These are, in Eckhart’s terminology, disclosable by natural, moral, and theological philosophy, that is, by recourse to their respective ‘proprieties’ or ‘reasons’. Tracing those textual contents and their resonances within all three main fields of philosophy is a task not only to be undertaken in the case of apparent textual deficiencies, where surface meaning and background assumptions would differ. Instead, it makes for a universally applicable methodology. Hencewith, even the ‘sensus literalis’ is seen as pluriform (one of several tendencies, where Eckhart takes further the hermeneutical agenda of Thomas Aquinas) and a plethora of meanings is enfolded, relatable to different contexts of interpretation and inexhaustible as the content of Holy Scripture would suggest. Eckhart’s controversial ‘rationes naturales’ and his interpretations ‘ex naturalibus’ are also traceable in this Maimonidean vein, rather than within a misleading paradigm of ‘nature’ versus ‘faith’. The process of ‘cracking open the shell’ of material surfaces, be it of texts or of natural phenomena, corresponds – according to Maimonides – to a spiritual dynamic of approximating the efficacy of the divine and the actuality of its intellection. These dynamics are founded upon a respective theory of intellection, which Eckhart shares in part, while moving from a

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Maimonidean paradigm of emulation of the divine towards unity in actuality – that is, an actuality in unity with divine action, which Eckhart identifies with absolute passivity on the part of the human individual on its own. This epistemological shift has its counterparts with respect to the ontological framework: Eckhart accepts the Maimonidean equivocation of ‘being’ insofar as it relates to beings which could be objectified. But he insists on univocity for the pivotal actuality of intellection or, in theological and biblical terms, for the soul ‘clothing itself with Christ’. These Eckhartian departures from Maimonides affect his hermeneutical interaction with Holy Scripture, as they are associated with different anthropological and prophetological assumptions and with Eckhart’s exegetical pragmatics of widely disclosing textual ‘hidden’ meanings. However, even these departures can be interpreted as steps into directions advocated by Maimonides.

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it seinem Führer der Verwirrten bzw. Unschlüssigen, Dux neu­ trorum bzw. perplexorum,1 bot Maimonides eine einflussreiche Ausarbeitung theologischer Wissenschaftstheorie und Methodologie. In der Einleitung des Ende des 12. Jahrhunderts fertiggestellten Werks gibt Maimonides zwei Aufgabenstellungen an: Erstens, bestimmte Ausdrücke der prophetischen Überlieferung zu erklären2 und so ‚das Verständnis der Tora nach der Wahrheit‘ zu befördern und ‚demjenigen Anleitung zu geben, welcher … an die Wahrheit der Tora glaubt …, der aber Philosophie studiert hat und ihre Probleme kennt, und den die 1. Mūsā Ibn-Maimūn, Dalālat al-ḥā᾿irīn, judäo-arabischer Text und französische Übersetzung, in Salomon Munk (ed.), Le Guide des égarés  : traité de théologie et de philosophie (Paris, 1856-66); zeitlich erste hebräische Übersetzung 1194 von Šemû’ēl Ben-Yehûdā Ibn-Tibbon, Môrē nevǔḵîm, und zweite, sprachlich vereinfachte Übersetzung dann durch Jehuda al-Ḥarisi. Auf letzterer Grundlage vollständige lateinische Übertragung vermutlich kurz nach 1240 in Paris (vgl. Görge K. Hasselhoff, ‚Who is the Jew Thomas Aquinas refers to as „Rabbi Moyses“ and what is his relevance for the notion of God?‘, in H.J.M. Schoot [ed.], Thomas Instituut te Utrecht Jaarboek 2005 [Utrecht, 2006], 43-56, 48-9; id., Dicit Rabbi Moyses. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis 15. Jahrhundert [Würzburg, 2004], 14-6. 123. 125 u.ö.). Erstdruck: Agostino Giustiniano (ed.), Rabi Mossei Aegyptii dux seu director dubitantium aut perplexorum in tres libros divisus (Paris, 1520). Nachfolgend kurz zitiert: Dux. Deutsche Übersetzung: Johann Maier and Adolf Weiss (eds.), Mose ben Maimon: Führer der Unschlüssigen (Hamburg, 21995); nachfolgend kurz zitiert: Weiss. Wegen teils abweichender Unterteilungen der Einzelkapitel (u.a. ziehen viele Handschriften I, 26 und I, 27 zu I, 26 zusammen) wird die mehrheitliche lateinische Kapitelzählung (wie auch im Pariser Druck) nachfolgend bei entsprechenden Bezugnahmen mit hinzugesetzt. 2. Dux I, Einl., Weiss 3; lat. f. 2r: Istius libri prima intentio est explanare diversitates nominum quae inveniuntur in libris prophetarum.



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menschliche Vernunft angezogen hat, um ihn in ihrem Bereiche wohnen zu lassen.‘3 Zweitens will das Werk ‚die sehr dunklen Gleichnisse … erklären, die in den Prophetenbüchern vorkommen‘ und deren wörtliches Verständnis den Leser ‚in arge Verlegenheit‘ brächte.4 Um also ein kognitiv-praktisches Äquilibrium von religiösen und wissenschaftlich-spekulativen Ansprüchen zu gewinnen, benötigt Maimonides zuvörderst eine auch philosophisch anschlussfähige Schrift­ hermeneutik. Gerade das religionsphilosophische Hauptwerk des ­Maimonides, der Dux neutrorum, bietet deshalb in weiten Teilen Exegese. Diese Eigenheit teilt das Werk mit Eckharts Opus tripartitum. Von beider Programmatik her ist das wenig verwunderlich: Jede rational-­ rekonstruktive Präzisierung von Prinzipien der Gottesrede hat sich an der konstitutiven religiösen Primärsprache in Bibel, Doxologie und Liturgie zu bewähren. Es ist zu zeigen, dass deren Tiefensinn korrespondiert mit den besten Erklärungen unserer Weltorientierung überhaupt, oder anders gesagt: Schriftwahrheit und philosophische Gründe müssen sich aneinander ausweisen lassen. Für Maimonides müssen daher biblische und rabbinische Tradition vermittelt werden mit Begriffen und Methoden zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses. In seinem Fall heißt das: mit einem teils neu­ platonisch geprägten Aristotelismus, vor allem in den Fortschreibungen durch al-Fārābī, Avicenna u.a. Zugleich im Blick sind Adaptionen vonseiten der islamischen akademisch-rationalen Theologie (῾Ilm al-Kalām). Wie auch schon die antike jüdische und dann christliche Theologie stand ja auch die islamische früh vor der Herausforderung, wie mit scheinbar anthropomorphen oder z.B. kosmologisch problematischen Redeweisen umzugehen ist: Was heißt es, dass Gott ‚auf dem Thron sitzt‘, dass er ‚regiert‘, oder gar, dass er nicht nur ‚weise‘, ja ‚allwissend‘ genannt wird, sondern ‚die Weisheit‘ selbst; dass er nicht nur ‚spricht‘,

3. Dux I, Einl., Weiss 4, lat. f. 2r: … quoniam intentio huius libri totius est, ut intelligatur lex per viam veritatis. Intentio autem huius libri est expergefacere mentem viri iusti in cuius animam in­ travit credulitas legis nostrae: & coligata est in intellectu ipsius: & est perfectus in fide sua, & in moribus suis: & speculatus est in sapientia philosophica, & intellexit rationes ipsius, & traxit eum intellectus humanus ut faceret ipsum esse in gradu suo. 4. Dux I, Einl., Weiss 5, lat. f. 2v: Commentatur etiam in hoc libro modum secundum: qui est ad exponendum similitudines nimis occultas, quae sunt in libris prophetarum. … renovabitur in quo simul magna dubitatio. … & ideo vocavi nomen istius libri Ducem Neutrorum vel dubiorum.

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sondern als ‚das Wort‘ bezeichnet wird?5 Fragen dieser Art sind, wenn man wie die Adressaten des Maimonides die ‚Probleme der Philosophie kennt‘, natürlich nicht mit einfachen Worterklärungen zu erledigen, sondern führen auf theologisch fundamentale Fragen der Theologie der Offenbarung bzw. der Prophetologie, des Gottesbegriffs und auch der Vernunfttheorie und theologischen Anthropologie sowie der allgemeinen theologischen Sprachtheorie bzw. Metatheologie. In der lateinischen Übertragung bot der Dux neutrorum dann auch für die Ausarbeitungen von Wissenschaftstheorie und Einzelthemen christlicher Theologie einen wichtigen Ausgangspunkt. Albert und Thomas entnehmen ihm mannigfache Anregungen, beispielsweise auch die Aufweise des Daseins Gottes, setzen sich aber in vielen Punkten auch kritisch ab. Ganz anders Eckhart von Hochheim. An keiner Stelle weist er maimonidische Überlegungen zurück, sondern zitiert Maimonides gleichrangig mit christlichen auctoritates, ja bekanntlich sogar als zweithäufigste Referenz nach Augustinus. Diese Nähe gilt auch in qualitativer Hinsicht, und zwar gerade für die im Rahmen dieses Kolloquiums leitende Thematik der ‚dynamischen Vermittlung von natürlicher Vernunfterkenntnis, Offenbarungstheologie und Glaubenspraxis‘. Einige der markanten Parallelen, aber auch Unterschiede sollen im Folgenden nachgezeichnet werden, und zwar in fünf Schritten: Erstens wird auf die Ineinsführung von Wortsinn und geistigem Sinn eingegangen, dann zweitens auf die Art der philosophischen Auslegung des Sinnkerns der Schrift, drittens auf deren anthropologische Grundlagen, viertens auf Eckharts Fortführungen und Entgrenzungen exegetischer Spielräume und schließlich auf die Eigenheiten seiner Auslegung aus ‚Eigentümlichkeiten‘ der Natur. 1.  Jeder wahre Sinn ist Wortsinn In der Einleitung zum Dux neutrorum legt Maimonides ausführlich die Prinzipien seines hermeneutischen und allgemein-wissenschaftlichen Vorgehens dar. Eckhart hat diese Passagen intensiv rezipiert. Sein Liber 5. Unter den zahlreichen Einzelstudien und Überblicksdarstellungen sei hier lediglich verwiesen auf Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam (Berlin, New York, 1991), IV, 361-477.



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parabolarum rerum naturalium, ein zweiter Genesiskommentar, setzt mit einem close reading derselben ein. Der programmatische Rang wird aufgenommen, wenn dieser Kommentar u.a. in einer Oxforder Handschrift6 voran steht. Alessandra Beccarisi nennt diesen zweiten Genesiskommentar den ‚ersten Versuch einer „wissenschaftlichen Lektüre“ des heiligen Textes‘.7 Es spricht aber vieles dafür, dieses hermeneutische Programm nicht allzu weit entfernt davon zu sehen,8 was in anderen exegetischen Werken Eckharts geschieht.9 Es handelt sich insofern eher nicht um einen völlig neuen Ansatz und auch nicht, wie dies Yossef Schwartz, begleitet von inzwischen kaum mehr haltbaren Datierungsvorschlägen, ins Spiel gebracht hat, um einen erst von Maimonides her triftigen Abbruch des bisherigen Vorgehens im Opus tripartitum, durchaus aber um eine Abweichung von dessen ursprünglichem Idealprogramm. Man kann daher vielleicht am ehesten von einer grundlegenden methodologischen Selbstreflexion sprechen. Und zwar würde diese dann einerseits programmatisch vorausblicken,10 andererseits aber auch, passender als die vormaligen Werkprologe, fundieren und legitimieren, was die bisherigen Schrift­ auslegungen Eckharts bereits unternommen hatten. Ausgangspunkt dieser 6. G.K. Hasselhoff, Dicit (2004), 213; Loris Sturlese, Homo divinus: Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse (Stuttgart, 2007), 116. 7. Alessandra Beccarisi, ,Eckhart’s Latin Works‘, in J.M. Hackett (ed.), A Companion to Meister Eckhart (Leiden, Boston, 2013), 85-123, 107-8. 8. Auch die einleitende Angabe, dass es nunmehr um den verborgenen Tiefensinn gehe (­Eckhart, In Gen. II n. 1, LW I 447: elicere quaedam ‚sub cortice litterae‘ parabolice contenta quantum ad sensum latentiorem), im ersten Genesiskommentar dagegen um den offener liegenden Sinn (ad sensum apertiorem), ist kaum durchgängig triftig. Schon die erste Schriftstelle (In principio creavit deus caelum et terram) legt Eckhart auch In Gen. I nn. 2-28, LW I 186-206 nicht nur dem Wortsinne nach aus (sondern setzt vielmehr ein mit der Deutung des Anfangs als gerade nicht einfachhin Gott, sondern als platonische idea, aristotelische quidditas und insofern ideal-virtualen, intrinsischen Ursprung von allem im dezidierten Unterschied zu den extrinsischen Effizienz- und Finalursächlichkeiten, vgl. In Gen. I nn. 3-4, LW I 186-8), und auch hierzu verweist er vorab bereits – in einer Reihe mit Ambrosius, Basilius und Thomas – auf Maimonides (In Gen. I n. 1, LW I 185, verweisend auf Dux II c. 31, f. 60r-61v; später z.B. auch In Gen. I n. 10, LW I 194, auf Dux II c. 22 zum Problem, wie Vieles aus schlechterdings Einem entstanden sein kann; In Gen. I n. 29, LW I 206, auf Dux II c. 31 zur Deutung von ‚Erde‘ als erster Materie – hier in einer Reihe mit Augustinus und den [theologischen] doctores). 9. Vgl. Yossef Schwartz, ,Meister Eckhart and Maimonides‘, in J.M. Hackett (ed.), A Com­ panion to Meister Eckhart (2013), 389-414, 397-8. 10. Die hier und im Folgenden verhandelte Thematik ist teils auch Gegenstand von Christian Ströbele, ‚„… die Wahrheit annehmen, wer auch immer sie sagt“: Maimonides als Quelle der theologischen Methodologie und Attributenlehre Eckharts von Hochheim‘, MEJb 10 (2016), 265-87. Eckhart lässt auch bereits erahnen, dass die Einlösung dieses Vorausblicks auch in der Verantwortung seiner Leser liegt, vgl. z.B. In Gen. II n. 1, LW I 447, 5; In Ioh. n. 525, LW III 456, 6.

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Hermeneutik ist eine offenbarungstheologisch fundierte Lizenz, die sich wie folgt begründet:11 1. ‚Wortsinn‘ (sensus literalis) ist der ‚vom Urheber einer Schrift intendierte Sinn‘ (aus Thomas von Aquin).12 2. Urheber der Heiligen Schrift ist der Heilige Geist, der alle Wahrheit lehrt (also jeden wahren Sinn intendiert) (mit Joh 16,13).13 3. Jeder wahre Sinn (der Heiligen Schrift) ist Wortsinn. Das erstgenannte Prinzip, wonach der Literalsinn meint, was der Autor intendiert, entstammt antiochenischer Tradition.14 Es ist inzwischen weithin Allgemeingut. Eckhart zitiert hier aber erkennbar Thomas von Aquin, und zwar die für Diskussionen um die theologische Methodologie besonders einschlägigen Anfangspassagen seiner theologischen Summe. Im direkten Fortgang vertritt auch Thomas dort eine Vielfalt von Sinndimensionen, selbst hinsichtlich des Wortsinnes.15 Diese knappe Passage ist nicht allzu überraschend: Schon im frühen Sentenzenkommentar hatte Thomas gelehrt, dass die Schrift nicht nur Worte, sondern eben auch Sinn enthalte, oder, mit Arias Reyero, ‚die authentischen Kommentare in sich einschließt‘.16 Dem Quodlibetum VII, Artikel 14 ist dann die weitergehende Grundlage dafür zu entnehmen, dass die Wahrheit sich vielfältig im Schriftwort manifestiert: Nämlich erstens durch den multiplen Gebrauchssinn der Sprache, zweitens aber aufgrund der göttlichen Disponierung auch der Dinge. Diese geistigen Sinne müssen aber ihre Grundlage im Wortsinn haben; die Vielfalt der Sinnwahrheiten muss einschlussweise in ihm enthalten sein. Nur dieses Einschlussverhältnis begründet für Thomas zugleich, dass es bei aller Sinnfülle nicht zu 11. Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 2, LW I 449. 12. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 10. 13. Eigentlich lautet die Stelle in der Vulgata: Spiritus veritatis docebit vos in omnem veritatem, nicht wie Eckhart schreibt: docet omnem veritatem. 14. Vgl. dazu die Stellen bei Eberhard Winkler, Exegetische Methoden bei Meister Eckhart (Tübingen, 1965), 7-9. 15. Vgl. direkt im Anschluss an die von Eckhart angeführte Passage Thomas von Aquin: Summa theologiae I, q. 1, a. 10: non est inconveniens, ut Augustinus dicit Conf., si etiam secundum litteralem sensum in una littera Scripturae plures sint sensus. Thomas bezieht sich auf Augustinus, Confessiones c. 31, PL 32, 844 / CSEL 33, 343. 16. Maximino Arias Reyero, Thomas von Aquin als Exeget (Einsiedeln, 1971), 37. Textbelege dort.



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Widersprüchen kommen kann, denn die vom Autor intendierten Sinne, die im Wortsinn eingeschlossen sind, dürfen sich nicht widersprechen. Arias Reyero kommentiert die Passage treffend: Hier zeige sich, ebenso wie in der exegetischen Praxis des Thomas, die zugleich theoretisch-­ prinzipiell postulierte ‚notwendige Einheit zwischen Buchstabe und Sinn, zwischen dem Sinn und der „res“, zwischen der „res“ und dem menschlichen Verständnis im Glauben, zwischen Glaube und Vernunft … Jeder geistige Sinn ist ein Sinn der Schrift und deshalb immer auch buchstäblich, jeder Literalsinn muß geistiger Sinn sein, um Sinn der Schrift und von Gott gewollt zu sein.‘17 Dabei handelt es sich um ein über die Entsprechung von Worten und Dingen vermitteltes Einschlussverhältnis. Der Wortsinn bleibt darin immer grundlegend, auch insofern, als Thomas dem geistigen Sinn die Beweiskraft abspricht. Für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse mag dahingestellt bleiben, ob man diesen Vorbehalt mit Arias Reyero nur auf ‚willkürliche Interpretationen‘ beziehen sollte.18 Beachtenswert sind jedenfalls vor allem noch die methodologischen Passagen im Galaterkommentar des Thomas.19 Damit kann die Diagnose von Yossef Schwartz präzisiert werden, wonach rein philologische Kriterien bei Thomas den Literalsinn determinieren.20 Thomas nämlich unterscheidet hier eigentlichen und metaphorischen Literalsinn. Der erstgenannte drückt demnach die Intention des auctor secundarius unmittelbar aus. Der zweite, auch sensus improprius, metaphoricus, parabolicus genannt, vermittelt dagegen die Intention mittels Metaphern ‚indirecte‘.21 Von daher gesehen, fällt das Vorgehen Eckharts durchaus nicht ganz aus der Linie der thomasischen Hermeneutik. Die sachliche Ineinsführung von geistigem und litteralem Sinn wäre dort, wenn man der Lesart 17. Ibid., 142. 162-3. Ein Beispiel für Eckharts Adaption des Bezugsverhältnisses von verba und res in Fragen der Schrifthermeneutik gibt In Ioh. n. 176, LW III 145, 1-4: Oft ist die erzählte Sache sowohl geschehen als auch Bezeichnung von verborgen Liegendem. 18. Cf. M. Arias Reyero, Thomas von Aquin als Exeget (1971), 63 mit Bezug u.a. auf Pierre Mandonnet, ,Saint Thomas d’Aquin créateur de la dispute quodlibétique‘, Revue des sciences philo­ sophiques et théologiques 15/16 (1926), 477-506. 19. Dieser wird insbesondere bei E. Winkler, Exegetische Methoden bei Meister Eckhart (1965), 12-3, kaum berücksichtigt. 20. Yossef Schwartz, ,Meister Eckharts Schriftauslegung als maimonidisches Projekt‘, in G.K. Hasselhoff and O. Fraisse (eds.), Moses Maimonides (1138-1204) – His Religious, Scientific, and Philosophical ‚Wirkungsgeschichte‘ in Different Cultural Contexts (Würzburg, 2004), 173-208, 192. 21. Vgl. M. Arias Reyero, Thomas von Aquin als Exeget (1971), 169-74.

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Arias Reyeros folgt, bereits grundgelegt. Von Eckhart wird sie aber forciert und prägnant elementarisiert: Wortsinn und wahrer Sinn, anders gesagt: exegetisches und philosophisch-spekulatives Bemühen, können letztlich ohnehin identifiziert werden, und zwar nicht nur in Sonderoder Problemfällen, sondern in jedem Fall. Der göttliche Ursprung der Schrift, wie jeder Wahrheit überhaupt, garantiert diese Einheit. Thomas hatte die Schriftsinne ausführlich differenziert und dabei auf heilsgeschichtliche Stationen und theologische Gegenstandsbereiche bezogen, beispielsweise die Sachdimension nach Glauben und Handeln differenziert. Auch hier elementarisiert Eckhart radikal: Was sich allenthalben unter dem (bzw. im) Wortsinn findet, erstreckt sich auf die gesamte – immer wieder von Eckhart angeführte und letztlich schon patristisch grundgelegte22 – Trias von Wahrheiten über: erstens Gott, zweitens Natur und drittens Moral. Theologie, Metaphysik, Natur- und Moralphilosophie bzw. religiöse Praxis stehen also in Konkordanz und können wechselseitig aufeinander verweisen. Für seine Einzelthesen, z.B. für die Vielfalt an Sinndimensionen, hätte Eckhart dezidiert seine Anleihen bei Thomas notieren können oder auch mannigfache Referenzen der christlichen Patristik zur Verfügung gehabt.23 Stattdessen verweist er hierzu immer wieder auf Maimonides und lässt ihn allein schon durch dieses enge Netz an Bezugnahmen als 22. In Gen. II n. 1, LW I 447 beruft sich Eckhart für die Trias ad divina, naturalia et moralia auf Augustinus. Vgl. des Weiteren Theo Kobusch, ,Mystik als Metaphysik des moralischen Seins‘, in K. Ruh (ed.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984 (Stuttgart, 1986), 49-63, 50. 59-60 Anm. 4. Kurt Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der ‚Deutschen Mystik‘ aus dem Geist der arabischen Philosophie (München, 2006), 184 Anm. 283 verweist für die ,Dreiteilung: Metaphysik = Theologik, Physik, Ethik‘ auf stoische Wurzeln; die Reihe lautet tatsächlich (1) Logik, (2) Ethik, (3) Physik, wobei letztere die Theologie einschließt, siehe z.B. Xenokrates (Fr. 1 Heinze); Zenon, SVF 1,65; 2,42.44; Plutarch: De stoicorum repugnantiis 1035A-C; Diogenes Laertius 7, 39-41; siehe insg. auch SVF 2, 35-44; auch in der Reihe 1-3-2 (SVF 2,38) oder 2-3-1 (so nach Diogenes Laertius 7,41 Diogenes von Ptolemais); siehe auch Albinus, Isagoge 3; zu diesbezüglich neueren Lesarten der stoischen Texte vgl. weiterführend Katja Maria Vogt, Law, reason, and the cosmic city. Political philosophy in the early Stoa (Oxford a.o., 2008), 94-8. Zur eckhartschen Trias siehe auch Erwin Waldschütz, Denken und Erfahren des Grundes. Zur philosophischen Deutung Meister Eckharts (Freiburg, 1989), 68-73. 23. Nur ein Beispiel: Petrus Abaelardus verweist auf Gregor: ,Wie man nämlich aus demselben Gold jeweils verschiedene kleine Muränen, Ringe, Armbänder zum Schmuck herstellen kann, so fügen die Ausleger aus einem Satz der Heiligen Schrift sozusagen unzählige Verständnisse, sozusagen verschiedene Schmuckwerke zusammen, die dennoch alle auf den Schmuck des verheißenen Himmels zielen.‘ Petrus Abaelardus, Theologia Christiana, PL 178, 1159B-C, mit Bezug auf Gregor: Registro ad Januarium episcopum Caralitanum.



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seine Autorität in Methodenfragen erkennen: Maimonides zufolge sei die ‚ganze Schrift des Alten Testaments Naturwissenschaft (scientia natu­ ralis) oder geistliche Weisheit (sapientia spiritualis)‘.24 Diese Referenz ist nicht ganz exakt: Maimonides geht es dort zunächst um einen spezifischen Umgang mit Schöpfungsbericht (Ma’aseh Bereshit, Gen 1) und Ezechielvision (Ma’aseh Markabah, Ez 1-3, Jes 6 u.a.). Ersterer sei rational rekonstruierbar im Sinne naturphilosophischer, letztere im Sinne spezifischer metaphysischer Koordinaten. Diese Bezüge und ihre Tradition waren Eckhart womöglich nicht vertraut und verständlich. Indem er sie ausspart, ergibt sich eine Universalisierung:25 Wahrheiten der Naturphilosophie und Metaphysik finden sich in der Bibel insgesamt und allenthalben, was Eckharts Grundintention umso mehr entspricht – und übrigens auch dem faktischen Vorgehen des Maimonides. Also: Nicht nur dort, wo der Wortsinn zu Schwierigkeiten führt, nicht nur in bestimmten Textabschnitten offenbart die Wörtlichkeit der Schrift eine semantische Fülle, die alle Gegenstandsbereiche klassischer Wahrheitssuche integriert. 2. Integumentale Hermeneutik als philosophisch-rationalisierende Exegese Immer wieder gebraucht Eckhart ein spezifisches hermeneutisches Bild, das von Schale und Kern: Der eigentliche Sinn-Kern ist aus der Schale herauszubrechen: ‚willst du den Kern haben, so musst du die Schale aufbrechen‘.26 Nicht selten geschieht das gewaltsam, zum Beispiel durch Umakzentuierungen und auch Änderungen am Schrifttext. Eckhart ‚zerschlägt‘ dann ‚den wörtlichen Zusammenhang des Bibeltextes‘,27 wie 24. Eckhart, In Gen. II n. 1, LW I 447-8 mit Verweis auf Dux, Prooemium, f. 2v: opus de Beresith [also der Schöpfungsbericht, C.S.] est scientia naturalis, et opus de Marcaba [also die Ezechiel­ vision, C.S.] est sapientia spiritualis. 25. Solche Aussparungen und dadurch forcierte Universalisierungen sind nicht allein für ­Eckhart eigentümlich. Auch Thomas z.B. kann eine Hieronymus-Passage dahingehend paraphrasieren, dass nicht mehr nur spezifisch die Apokalypse, sondern die gesamte Schrift abgedeckt ist, vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones de quolibet, Editio Leonina, Bd. 25/1-2 (Roma, 1996), n. 7, q. 6, a. 1; ähnlich frei geht Thomas dann mit Pseudo-Dionysius um; vgl. M. Arias Reyero, Thomas von Aquin als Exeget (1971), 65-72. 26. Eckhart, Pr. 51, DW II 473, 5-9. 27. Susanne Köbele, ,Primo aspectu monstruosa. Schriftauslegung bei Meister Eckhart‘, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122/1 (1993), 62-81, 62.

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Susanne Köbele konstatiert und treffend von einer ‚Sprengmetapher‘ spricht.28 Gerade diese Sprengmetapher von Kern und Schale findet sich auch bei Maimonides,29 worauf Eckhart ausführlich verweist. Er gibt damit dem durchaus nicht seltenen Bild eine spezifische Konnotation. Die lateinische Texttradition kennt dieses Bild sonst besonders im Rahmen des Umgangs mit poetischen Texten. Denn weil diese fabulae der Oberfläche, der Hülle nach eben nicht wörtlich und historisch wahr sind, verlangt ihr pragmatischer und epistemischer Nutzen eine stärkere poetologische Lizenz.30 So kann etwa für Macrobius durchaus ‚die Vorstellung heiliger Dinge ausgesagt sein unter einer ehrenvollen Decke frommer Erfindungen, welche die Sache bedecken und die Namen verhüllen‘.31 In diesem Sinne definiert Bernardus Silvestris integumentum als ‚eine Weise des Hinweisens unter einer fabelhaften Erzählung, welche das Verständnis „umfasst“; daher wird sie auch involucrum („Hülle“) genannt‘.32 Auch bei Eckhart klingt diese u.a. von den Chartrensern ausgearbeitete Vorstellung an,33 wenn er etwa davon spricht, dass ‚Plato und alle alten Dichter-Theologen (theologizantes sive poematizantes) ihre Lehre von Gott, Natur und Moral in Parabeln lehrten‘ bzw. ‚unter den

28. Vgl. ibid., 63 et passim; ead., Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache (Tübingen, Basel, 1993), 17-8 et passim; Alois Maria Haas, ,The Nothingness of God and its Explosive Metaphors‘, The Eckhart Review 8 (1999), 6-17. 29. Sowohl im Prolog als auch in Dux I, 71 (lat. 70), f. 29r: quasi corda super quibus sunt cortices multi. 30. Beispielsweise unter Rückgriff auf Cicero: ,in der Rede des Crassus [seien] die Reichtümer und Schmuckwerke seines Talentes unter gewissen Hüllen und Decken (involucra et integumenta)‘ verborgen gewesen (Cicero: De oratore [Stuttgart, Leipzig, 1996] I, 35, 161). 31. Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis / Macrobe, Commentaire au Songe de Sci­ pion (lat./frz.), ed. M. Armisen-Marchetti (Paris, 2003), 1, 2, 7-14. 32. Bernardus Silvestris, Commentum super sex libros ,Eneidos‘ Virgilii (Greifswald, 1924), 3, 14. 33. Vgl. dazu in Auswahl: Hennig Brinkmann, ,Verhüllung („integumentum“) als literarische Darstellungsform im Mittelalter‘, in A. Zimmermann (ed.), Der Begriff der repraesentatio im Mit­ telalter, Miscellanea Mediaevalia 8 (Berlin, 1971), 314-39; Marie-Dominique Chenu, ,Involucrum‘, Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 30 (1955), 75-9; Walter Haug, ,Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spielformen zwischen Faktizität und Phantasie‘, in F.P. Knapp (ed.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter (Berlin, 2002), 115-32; Fritz Peter Knapp, ,Integumentum und Âventiure‘, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft NF 28 (1987), 299-307; Peter von Moos, ,Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur?‘, in J. Heinzle (ed.), Literarische Interessenbildung. Symposion Maurach (Stuttgart, 1993), 431-51.



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Metaphern von Fabeln‘.34 In der Tat hat ja die jüdische und dann christliche, später islamische ‚allegorische‘ Schrifthermeneutik Wurzeln in Allegoresen antiker Dichtung. Nun sind aber nach klassischer Sortierung, auch bei Bernardus, von der integumentalen Einkleidung unter Fabeln die biblischen Texte zu unterscheiden, da die Hülle hier nicht Fiktion, sondern historische Wahrheit ist, was Bernardus terminologisch der ‚Allegorie‘ zuschlägt. Es ist nun kein Zufall, dass das Bild der – sei es anstößigen, sei es (wie etwa bei Abaelard oder Eckhart) anlockenden35 – ‚Hülle‘ und ‚Schale‘ erneut Konjunktur hat, wo der Oberflächensinn heiliger Texte am Maßstab weniger der Historie als vielmehr der philosophischen Terminologie und Systematik kritisch gemessen wird. Genau das liegt vor bei den Vermittlungsversuchen zwischen Philosophie und Offenbarung, in deren Kontext Maimonides sich bewegt. Terminologisch geht es dabei um die Unterscheidung zwischen äußerem, manifestem Sinn (al-ma῾nā al-ẓāhir) und innerem, tieferem Sinn (al-ma῾nā al-bāṭin).36 Das konnte auf Koran wie Religionsgesetz (šarī῾a) bezogen werden. So beanspruchten ismailitische Theologen seit dem 8. Jh. Begründungen ihrer Lehre in Tiefensinnen der religiösen Texte und wurden daher bāṭiniyya genannt.37 Dagegen wurden der ẓāhiriyya Theologen zugeordnet, die interpretative Spielräume rundweg verneinten; als theologische Schule geht diese Bewegung in der Ḥanbalīya auf und hat ihre expliziten heutigen Rezipienten im Salafismus. Im 12. Jahrhundert finden wir die Debatte um ẓāhir und bāṭin auch als Debatte um die Zulassung sufischer (‚mystischer‘) Korandeutungen, so etwa bei al-Ġazzālī: Was etwa die Mahnung betrifft, dass Moses die Schuhe aus34. Eckhart, In Gen. II n. 2, LW I 451. 35. Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 1, LW I 448; Petrus Abaelardus, Theologia Christiana, PL 178, 1152C: Deren rhetorische Raffinesse, die Verwendung ,nicht gewöhnlicher Worte‘, kann ,den Leser anlocken‘ und insgesamt ,das Bauwerk der größten Gelehrsamkeit in sich enthalten‘. 36. Vgl. z.B. Dux II, 3: auch Aussprüche im Midrasch stammen von Philosophen. Vgl. zum Gesamtprojekt Sarah Stroumsa, Maimonides in his world. Portrait of a Mediterranean thinker (­Princeton a.o., 2009), 75. Zur Terminologie: Daniel de Smet, ,Au-delà de l’apparent. Les notions de ẓāhir et bāṭin dans l’ésotérisme musulman‘, Orientalia Lovaniensia Periodica 25 (1994), 197-220; id., ,ẓāhir et bāṭin‘, in J. Servier (ed.), Dictionnaire critique de l’ésotérisme (Paris, 1998), 1387-92. 37. Einen Erstüberblick geben Heinz Halm, ,BĀṬENĪYA‘, Encyclopædia Iranica 8 (1988), 861-3; Bernd Radtke, ,BĀṬEN‘, ibid., 859-61. Zu Traditionen rationaler Koran-Exegese (al-tafsīr bil-ra᾿i) vgl. Hussein Abdul-Raof, Theological approaches to Qur’anic exegesis. A practical compara­ tive-contrastive analysis (London a.o., 2012), 28-82.

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ziehen sollte, so geht es nicht einfach nur darum, dass Moses dann eben keine Schuhe trug. Ein purer Literalismus verbietet sich, man muss auch andere Bedeutungsebenen zulassen. Wer ‚nur auf den äußeren Sinn schaut‘, versteht zu wenig, aber ebenso geht fehl, ‚wer nur auf den inneren Sinn schaut‘. Zu rühmen, und zwar als ‚perfekt (kāmil)‘, ist, wer beide vermittelt.38 Dies entspricht im Grundsatz der Auffassung des Maimonides. Spezifisch für Maimonides ist allerdings, dass dieser den Tiefensinn weniger im Sinne einer mystischen Theologie religiöser Innerlichkeit auffasst, sondern als metaphysisch-naturphilosophisch erhellbare Wahrheiten. Zwar entspricht der Dux neutrorum in Anlage und Motivik vergleichbaren Texten spiritueller Initiation:39 Er adressiert z.B. in Briefform einen idealen Schüler, Joseph ben Judah. Dieser soll sich in Bereichen üben, die nur wenigen Adepten zugänglich sind. Ihm sollen die ‚Geheimnisse der prophetischen Bücher‘ offenbart werden. Dazu wird der Lehrer immer wieder blitzartig ‚gewisse Hindeutungen‘ geben. Aber diese ‚Geheimnisse‘ sind allesamt entweder im Rahmen philosophischer Theoriezusammenhänge verortet40 oder von diesen her negativ-­ theologisch bestimmt als Markierungen von Grenzen des Einseh­baren. Eine ganz ähnliche Tendenz auf Rationalisierung prägt seine Absetzung 38. Miškāt al-anwār, 32-3; zur Stelle vgl. Kristin Zahra Sands, Sufi commentaries on the Qur’an in classical Islam (London a.o., 2006), 61-2; im autobiographisch modellierten Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, 15, ist die bāṭiniyya eine der auf ihre Wahrheit hin geprüften Strömungen; eine gesonderte Widerlegung verfasst Ġazzālī dann um 1092-95 im Auftrag von Kalif al-Mustaẓhir; vgl. Ignaz Goldziher, Streitschrift des Ġazāli gegen die Bāṭinijja-Sekte (Leiden, 1916); zur ,esoterischen‘ Koran­exegese bei Ġazzālī selbst vgl. Nicholas Heer, ,Abu Hamid al-Ghazali’s esoteric exegesis of the Koran‘, in L. Lewisohn (ed.), The Heritage of Sufism, Bd. 1: Classical persian sufism from its origins to Rûmî (London, New York, 1993), 235-57. Bei Avicenna siehe Sulayman Dunya (ed.), Risāla aḍḥawiyya fī amri’l-ma῾ād (Cairo, 1949), 44-5; Avicenna, Kitab al-Najāt (Cairo, 1938), 304-5; Michael E. M ­ armura (ed.), Fī ithbāt al-nubuwwāt wa-ta᾿wīl rumūzihim wa-amthālihim (Beirut, 1968), 48-9, Kitāb aš-šifā, Met. X, 2 (engl. transl. M.E. Marmura, ‚Avicenna: Healing: Metaphysics X‘, in R. Lerner and M. Mahdi [eds.], Medieval Political Philosophy [Ithaca, 1986], 98-111, 103-10). 39. So vergleicht etwa Aaron W. Hughes, The texture of the divine: Imagination in medieval Islamic and Jewish thought (Bloomington a.o., 2004), 25-30, auch mit Bezug auf das hier angeführte Schreiben an den Schüler Joseph ben Jehuda (Weiss I, 1-3), das Buch von Lehrer und Schüler (Kitāb al-῾Ālim wa’l-ghulām) des Isma῾iliten Ja῾far b. Manṣūr al-Yaman (James Morris [ed.], The Master and the Disciple [London, 2001]), die ,Briefe‘ der ,Lauteren Brüder‘ (Iḫwān aṣ-ṣafā᾿) von Baṣra oder den Briefroman Ḥayy ibn Yaqẓān des ibn Ṭufaīl. 40. Auch damit steht er nicht allein, sondern z.B. mit Averroes zusammen, den im 14. Jahrhundert der Ḥanbalit ibn Taimīya ebenfalls unter dem inzwischen als Sammelbegriff etablierten Etikett der ‚bāṭiniyya‘ subsumiert.



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von Frühformen der Kabbalah41 und, teils damit zusammenhängend, sonstigen Auslegungen besonders der Thronwagenvision (Ma’aseh Merkabah).42 Der so forcierte Einklang von Heiliger Schrift und philosophischer Theorie schließt freilich, ganz im Sinne der platonisch-aristotelischen Synthesen al-Fārābīs und Avicennas, deren praktische Dimension ein. So hat auch der Dux neutrorum, wie schon die Werkgliederung zeigt, eine praktische Zielstellung. Die theoretischen Klärungen, auch beispielsweise der göttlichen Namen und Einzelprädikationen, sind darin ein funktionales Teilmoment. Symptomatisch dafür ist die Entfaltung der Attributenlehre: Sie folgt ihrer exegetisch-praktischen Bewährung in den ersten ca. fünfzig Kapiteln des Werks nach. Und ihr Ziel hat sie wiederum im umfassenden Projekt der Verähnlichung an Gott, in selbstloser Gottesliebe.43 Diese wiederum schließt das philosophische Bestreben ein, denn die wahre Gottesliebe kann nur stattfinden ‚mittelst der Erkenntnis des ganzen Seienden, wie es ist, und der Betrachtung der göttlichen Weisheit in ihm‘.44 Das begründet die auch religiös-praktische Valenz der Naturphilosophie, aber auch der Metaphysik und insbesondere auch der philosophischen Exegese, weil damit Fehlkonzeptualisierungen des Göttlichen ausgeräumt werden, wie sie vorschnelle wörtliche Verständnisse heiliger Texte nahelegen würden.45 Rationalisierende 41. Vgl. Menachem Kellner, Maimonides’ confrontation with mysticism (Oxford a.o., 2006); Moshe Idel, ,Maimonides and Kabbalah‘, in I. Twersky (ed.), Studies in Maimonides (Cambridge, 1990), 31-79; id., ,Maimonides’ Guide of the Perplexed and the Kabbalah‘, Jewish History 18 (2004), 197-226. 42. Vgl. bes. Dux III, Vorbemerkung und Kap. 1-7. Vgl. zur Tradition der Merkabah-Exegese Arthur Biram, Joseph Jacobs, ‚Ma’seh Bereshit; Ma’aseh Merkabah‘, The Jewish Encyclopedia 8 (1904), 235-6; David R. Blumenthal, Understanding Jewish mysticism. The Merkabah tradition and the Zoharic tradition (New York, 1978); Nathaniel Deutsch, The gnostic imagination. Gnosticism, Mandaeism and Merkabah mysticism (Leiden a.o., 1995); David J. Halperin, The Merkabah in rab­ binic literature (New Haven, 1980); id., The faces of the Chariot: Early Jewish responses to Ezekiel’s vision (Tübingen, 1988); Gershom Scholem, Jewish gnosticism, Merkabah mysticism, and Talmudic tradition (New York, 1960); Andrei A. Orlov, From apocalypticism to Merkabah mysticism. Studies in the Slavonic Pseudepigrapha (Leiden a.o., 2007), 224-6 et passim. 43. Vgl. z.B. Dux III, 52 / Weiss III, 357: alle Normen der Heiligen Schrift dienen dem Erlangen von Scheu und Ehrfurcht vor Gott; alle Glaubenslehren der Liebe zu Gott, weil diese durch Erkenntnis von Dasein und Wesen Gottes (siehe dazu präzisierend Anm. 47) motiviert wird. 44. Vgl. Dux III, 28 / Weiss III, 176-7; zur Teleologie der Werke Gottes auch Dux III, 30; zur Erkenntnis Gottes in seinen ‚Wegen‘, d.h. ‚Werken‘ auch den markanten Werkschluss, Dux III, 54 / Weiss III, 367-8 mit Rückverweis auf I, 54 / Weiss I, 178-85. 45. Vgl. z.B. Dux II, 47 / Weiss II, 308.

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Interpretation und negativ-theologische Präzisierungen wirken also als Korrektiv und instrumentum falsificationis. Man konnte diese philosophische Therapeutik philosophisch-religiöser Konfundierungen daher, wie später Salomon Maimon, als Idealprojekt einer Rationalisierung jüdischer Tradition lesen, aber auch, wie Hermann Cohen, als Ausgangspunkt einer Rekonstruktion jüdischen Denkens als Ethik und Lebensform. Man kann aber auch, wie etwa Diana Lobel,46 darin eine spezifische Form von Intellektmystik sehen: Der Intellekt wird mit philosophisch-spekulativen Mitteln dem Geheimnis des göttlichen Wesens47 näher geführt, gerade auch in der Reflexion seiner Nichtfasslichkeit in genauer Sprache und präzisem Begriff. Dieses exegetisch-philosophische Projekt kommt Eckhart in mehreren Hinsichten zupass: in der Identifikation von philosophischem Sinn einerseits und Schriftsinn andererseits; in der ontologischen und anthro­ pologischen Präzision der Möglichkeitsbedingungen der Nähe zu Gott, von woher dann auch voluntative Momente integrierbar sind;48 in der Tilgung aller verdinglichenden, anthropomorphen oder allzu affektiv eingefärbten Vermittlungsversuche. Nichtsdestoweniger geht Eckhart in vielfacher Hinsicht weit über Maimonides hinaus: Selbst wenn man mit Diana Lobel und anderen die Nähe des letzteren zu jüdischer und islamischer Mystik betont, bleibt er von Eckharts Univozitätsdenken weit entfernt. Wo Maimonides alle 46. Vgl. Diana Lobel, ‚Silence Is Praise to You: Maimonides on Negative Theology, Looseness of Expression, and Religious Experience‘, American Catholic Philosophical Quarterly 76 (2002), 25-49; Peter Eli Gordon, ‚The Erotics of Negative Theology. Maimonides on Apprehension‘, Jewish Studies Quarterly 2 (1995), 1-38; José Faur, Homo mysticus. A guide to Maimonides’s Guide for the perplexed (Syracuse, 1998); David Blumenthal, Philosophic Mysticism: Studies in Rational Religion (Ramat Gan, 2006); David Bakan, Daniel Merkur, and David S. Weiss, Maimonides’ cure of souls: medieval precursor of psychoanalysis (Albany, 2009), 35-44; Gideon Freudenthal, ‚The Philosophical Mysticism of Maimonides and Maimon‘, in I. Dobbs-Weinstein, L.E. Goodman, and J.A. Grady (eds.), Maimonides and his heritage (Albany, 2009), 113-52. 47. Maimonides betont mehrfach dezidiert dessen Nichterfassbarkeit; gerade die in ihrer Triftigkeit zu erweisenden Negationen vermeintlicher Wesensattribute arbeiten dieser Einsicht fortwährend zu. Dennoch finden sich Passagen, die so lesbar sind, als ob doch ein Begreifen des ‚wahren Wesens‘ Gottes möglich wäre, z.B. Dux III, 51 / Weiss III, 340. Man kann dies zumindest so vereinbaren, dass es sich dabei um eine docta ignorantia handeln müsste. 48. Vgl. bei Maimonides: Dux III, 51 / Weiss III, 345 (Weiss III, 123 verweist ferner auf Dux I, 39; Mišnê tôrā, Hilḵôt yesôdê hat-tôrā 2, 1-2; den Schluss von Hilḵôt tešûvā; Mišnā-Kommentar, Āvôt, Einleitung, c. 5), wonach ‚die Liebe zu Gott der Erkenntnis Gottes entspricht‘ (siehe auch Dux III, 51 / Weiss III, 349-50), wie denn auch die Gottesliebe das Gebot der Erkenntnis Gottes und damit die Bemühung um wissenschaftlichen Fortschritt mit einschließt, siehe Anm. 44.



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Gottesrede äquivok und allenfalls im Sinne der Handlungsattribute und ihrer menschlichen Nachahmungen49 ‚analog‘ auffasst, gibt es bei ­Eckhart ein Umschlagsmoment in Univozität, das seine Schrifthermeneutik immer wieder zur Geltung bringt, gerade dort, wo die ‚Schale‘ erst letztlich aufgebrochen wird. 3.  Anthropologische Grundlagen philosophischer Exegese Diese Differenzen hängen mit systematischen Verschiebungen innerhalb beider Rahmentheorien zusammen. Man könnte an dieser Stelle auf die Theologoumena der Christologie, insbesondere der Inkarnation verweisen. Dabei wäre aber zu sehen, dass es Eckhart gerade um deren Reformulierbarkeit in philosophischer Begrifflichkeit geht: Auch die Rede von der Inkarnation Christi hat ihren Tiefensinn in nichts anderem als in dem, was auch intellekttheoretisch ausweisbar sein muss – was natürlich auch umgekehrt gilt. Gerade nun in der Architektonik der Seelenvermögen lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Maimonides und Eckhart fassen, die dann auch für ihrer beider Schrifthermeneutik wirksam werden. Diese nämlich gründet bei Maimonides, wie auch bei seinen arabischen Bezugsautoren, in einer anthropologisch fundierten Prophetologie.50 Immer wieder zitiert Maimonides das rabbinische Axiom: ‚Die Tora spricht in der Sprache der Menschen.‘51 Das heißt: sie gebraucht Verhüllungen, Parabeln.52 Dabei kann es sich, in einer von Eckhart mehrfach rezipierten Unterscheidung,53 um Einzelbegriffe handeln (haš’alah, d.i. Entleihung eines Begriffs) oder um ein gesamtes 49. Vgl. z.B. Dux I, 54 / Weiss I, 181-5; III, 54 / Weiss III, 368. 50. Vgl. v.a. Dux II, 32-48. Diese Darstellung ist wesentlich differenzierter als diejenige in Mišnê tôrā, Hilḵôt yesôdê hat-tôrā, 7, welche u.a. die göttliche Veto-Möglichkeit nicht vergleichbar hervorhebt (dies kann allenfalls auf die dortige Rede von ‚Söhnen der Propheten‘ bezogen werden, welche die Prophetie erst erstreben) und für alle Prophetie formuliert, dass diese mittels Parabeln erfolge, deren Bedeutung jeder Prophet dabei unmittelbar verstehe. 51. Dux I, 26 / Weiss I, 74. 52. Vgl. z.B. Mišnā-Kommentar, Einleitung zu Sanhedrîn 10 (Pereq Ḥēleq); ed. Joshua Abelson, ‚Maimonides on the Jewish Creed‘, The Jewish Quarterly Review 19/1 (1906), 24-58, 36-7. 53. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 174, LW III 143, 4-13 im Anschluss an Maimonides, Dux I, Einleitung, 3v-4r mit weiteren Beispielen aus Maimonides (vgl. Apparat und Josef Koch, ‚Meister Eckhart und die jüdische Religionsphilosophie des Mittelalters‘, in id. [ed.], Kleine Schriften I [Roma, 1973], 349-65, 354).

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auszulegendes Bild (mašal, arabisch isti῾āra, d.i. parabolische Rede).54 Eine solche ‚menschliche‘ Sprache spricht die Schrift, weil ihr eigentlicher Gehalt Wahrheiten sind, deren Abstraktheit ihre allgemeine Vermittelbarkeit ausschließt.55 Die Heilige Schrift soll und will aber Rechtleitung nicht nur für eine intellektuelle Elite sein. Das vermag sie über die Vermittlung durch Propheten. Prophet wird nach Maimonides nicht etwa einfachhin, wer dazu von Gott ausersehen ist. Das wäre die Ansicht der ‚unwissenden Menge‘.56 Vielmehr haben die Philosophen recht darin, die natürliche Disponiertheit des potentiellen Propheten zu betonen: Er muss seinen Charakter bilden, vollkommener Moralität und Wahrheitskenntnis näher kommen.57 Hinzu kommt ein minimal voluntaristisches Moment in Absetzung zum Naturalismus und Rationalismus philosophischer Prophetologie, nämlich eine Art göttliches Veto-Recht.58 Wichtig für die taugliche Einhüllung abstrakter Wahrheiten ist in jedem Fall das Zusammenspiel von Vernunft und Einbildungskraft, denn die Propheten vereinen die Kompetenzen von Wissenschaft und Staatsleitung: Im Falle der Forscher nämlich ergießt sich die Emanation59 nur auf die Vernunft, im Falle der Staatsregenten nur auf die Einbildungskraft, im Falle der Propheten aber auf beide Vermögen,60 so dass sie ein philosophisch durchdachtes Normensystem vorlegen können, das wiederum die Bürger zu deren Vervollkommnung befähigt,

54. Vgl. zu Begriffsbedeutung und Verwendungskontexten David Shatz, ‚The biblical and rabbinic background to medieval Jewish philosophy‘, in D.H. Frank and O. Leaman (eds.), The Cambridge companion to medieval Jewish philosophy (Cambridge, 2003), 16-37, 24-6; Mordechai Z. Cohen, Three approaches to biblical metaphor from Abraham Ibn Ezra and Maimonides to David Kimhi (Leiden a.o., 2003), v.a. 98-136; Longxi Zhang, Allegoresis: Reading canonical literature East and West (Ithaca, 2005), 69-76; Yair Lorberbaum, ‚Anthropomorphisms in early rabbinic literature: Maimonides and modern scholarship‘, in C. Fraenkel (ed.), Traditions of Maimonideanism (Leiden, 2009), 313-54, 341-4. 55. Vgl. z.B. Dux III, 27 / Weiss III, 173: ‚Denn es entspricht nicht der Natur der Unwissenden, die Erkenntnis des Dinges, wie es ist, aufzunehmen‘. 56. Dux II, 30 / Weiss II, 221. 57. Vgl. näherhin Dux II, 36 / Weiss II, 243-7. 58. Vgl. Dux II, 32 / Weiss II, 223. 59. In Dux III, 52 / Weiss III, 356 nennt Maimonides die ‚emanierende Vernunft‘ ein ‚Bindemittel … zwischen uns und Gott‘. Eckhart rezipiert diese Vorstellung In Gen. I n. 288, LW I 423; In Gen. II nn. 204-13, LW I 677-89. Gleichzeitig übernimmt Eckhart von Maimonides Eckdaten der Schöpfungstheologie, besonders, dass Gott nicht ex necessitate naturae schafft: In Gen. I n. 6, LW I 189, 13-5. 60. Vgl. Dux II, 37 / Weiss II, 248.



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gerade auch durch den Einsatz von Parabeln und Handlungsnormen, deren Tiefensinn vielen unfasslich bleiben mag.61 Die spekulative und sittliche Vervollkommnung reicht also nicht hin, sondern vielmehr muss von Anfang an die Einbildungskraft zur letzten Vollkommenheit der Prophetie disponiert sein.62 Dann kann im Zustand des Ruhens aller Sinneswahrnehmung eine Inspiration bzw. Emanation erfolgen, vermittelt über den aktiven Intellekt.63 Bei besonders starkem prophetischen Vermögen dient dies nicht nur der Vervollkommnung des Propheten selbst, sondern weiterer Menschen64 – wie eben im Falle der biblischen Schriften.65 Das schließt auch Wahrheiten ein, zu deren Einsicht die Vernunft allein nicht hinreichen würde.66 Von einzigartiger Stellung ist allerdings Moses: Er empfängt die Offenbarungen nicht in Traum oder Vision; nicht durch eine als Engel vorgestellte Vermittlung – und im Resultat auch nicht durch Gleichnisse;67 er gerät 61. Vgl. Dux II, 40 / Weiss II, 265 u.ö. Eine kompakte Einführung in die maimonidische Ethik gibt Alan Mittleman, A short history of Jewish ethics: conduct and character in the context of covenant (Chichester a.o., 2012), 106-18. 62. Dux II, 36 / Weiss II, 238-9. 63. Vgl. Dux II, 36 / Weiss II, 238. 240; II, 41 / Weiss II, 268. 64. Vgl. Dux II, 37 / Weiss II, 250. 65. So ist insbesondere das (jüdische) Religionsgesetz so beschaffen, dass alle Einzelgesetze nützlich sind, auch wenn wir die genauen Modalitäten nicht verstehen (Dux III, 26; III, 31 / Weiss III, 196-7), und zwar mit Blick auf die Vervollkommnung von Seele und Körper des Menschen (III, 27), wobei letztere mittels der ‚möglichst besten Regierung des Staates‘ (III, 27 / Weiss III, 173-4) ersterer zuarbeitet. Die letzte, seelische Vollkommenheit besteht dann in der ‚Verleihung richtiger Überzeugungen‘ (III, 27 / Weiss III, 173) und ‚nichts anderes‘ ist ‚Ursache des ewigen Lebens‘ (III, 27 / Weiss III, 175; vgl. auch III, 51 / Weiss III, 355). 66. Vgl. Dux II, 38 / Weiss II, 253-5. M.E. ist der Text so verstehbar, dass dies nur die Einsicht in empirische Kausalzusammenhänge meint, nicht aber abstrakte (insbesondere formalwissenschaftliche) Einsichten. Dass die prophetische Vision auch Vernunfterkenntnisse vermittelt, wie sie sonst durch Forschung erlernt werden, findet sich u.a. noch Dux II, 45 / Weiss II, 297. Mehrfach unterscheidet Maimonides, in Aufnahme aristotelischer Wissenschaftstheorie und Epistemologie, zwischen Einsichten, deren Wahrheit erweisbar ist, und solchen, die bestenfalls als wahrscheinlich oder auf dem Wege der Überlieferung einsehbar sind; dies überträgt sich als Unterscheidung auf Typen von Religionen, vgl. bes. Dux III, 51 / Weiss III, 341-6; unmissverständlich plädiert Maimonides hier dafür, soweit als möglich auch Beweisgründe für aus Überlieferung Bekanntes zu suchen, denn erst, wenn ‚die Erkenntnis vorhergegangen ist‘, ist der ‚letzte Gottesdienst‘ erreichbar (III, 51 / Weiss III, 345; vgl. auch I, 51 / Weiss I, 345 zur Notwendigkeit [negativ]-metaphysischen Begreifens Gottes als Vorbedingung vollkommener Gottesverehrung und Dux III, 54 / Weiss III, 362-3, wonach die Einsicht der Annahme durch Überlieferung nachfolgen soll, und 365, wonach die vierte und ‚wahre‘ menschliche Vollkommenheit im Geistigen liegt, ‚d.h. die Vorstellung der abstrakten Dinge, um daraus inbetreff der wirklichen Dinge wahre Glaubensmeinungen abzuleiten‘). 67. Vgl. Dux II, 36 / Weiss II, 246; II, 47. Zur Funktion der Engel s. u.a. Dux III, 45 / Weiss III, 277-9.

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nicht in Angst und Bestürzung, und er ist auch nicht nur zu bestimmter Zeit göttlich inspiriert.68 Die Offenbarung durch Moses gehört daher nicht mehr in die Ordnung der sonstigen natürlich-rationalen Prophetologie; vielmehr, so Maimonides, wird sogar nur in homonymem Sinne von Moses wie von den übrigen Propheten der Ausdruck ‚Prophet‘ gemeinhin gebraucht;69 was sich für Moses ereignete, bleibt uns letztlich schlichtweg unbegreiflich.70 Im Normalfall der Prophetie und ihrer Einkleidungen abstrakter Wahrheiten kommt also der Einbildungskraft konstitutive Funktion zu. Ansonsten aber ist sie für Maimonides vor allem gefährlich, weil sie falsche Vorstellungen vor den dergestalt nicht fasslichen Gott rückt. Die eigentliche Annäherung geschieht durch den Intellekt, und zwar im Rückzug von allem Materiellen und Weltlichen.71 Dort ist er noch in Potentialität begriffen, in der Gotteserkenntnis (soweit ihm möglich) dagegen in Aktualität.72 Damit kommt er Gott nahe, der selbst unter Ausschluss aller bloßen Potentialität zu denken ist73 und, weil Vernunftwesen, als Denken in vollendeter Aktualität. Bei Gott sind daher Denkender, Denken und Gedachtes der Sache nach zu identifizieren.74 Vergleicht man damit die Stellung der Seelenvermögen bei Eckhart, was hier nur angedeutet bleiben muss, so gilt natürlich auch ihm die Vorstellungskraft als verbunden mit Körperlichem und Figürlichem.75 Sie versagt, wo es nicht mehr um die Dinge geht, sondern deren Ursache.76 An Dingen und sinnlichen Vorstellungen aber soll der Aufstieg gerade nicht haften.77 Maimonides konnte die Vollendung des Wegs zur Erkenntnis und ineins damit zur Liebe Gottes identifizieren mit der Erkenntnis von 68. Vgl. Dux II, 35 / Weiss II, 233-4 mit Rückverweis auf frühere Behandlungen; vgl. Mišnā-Kommentar, Sanhedrîn, Traktat 10, 7. Glaubensartikel; Mišnê tôrā, Hilḵôt yesôdê hat-tôrā 7,6. Dass im Falle des Mose die Vermittlung durch die Einbildungskraft ausfällt, wird mehrfach hervorgehoben, z.B. noch Dux II, 45. 69. Dux II, 35 / Weiss II, 234. 70. Dux II, 35 / Weiss II, 237. 71. Vgl. z.B. Dux III, 51 / Weiss III, 346. 351-2. 72. Vgl. Dux III, 51 / Weiss III, 351. 73. Vgl. Dux I, 55 / Weiss I, 185-6. 74. Vgl. Dux I, 68. 75. Vgl. Eckhart, Sermo XXIV,2 n. 248, LW IV 227. 76. Vgl. Eckhart, Quaest. Par. I n. 8, LW V 44. 77. Eckhart, In Ioh. n. 208, LW III 175.



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Wahrheiten. Für Eckhart indes muss der Intellekt im Aufstieg nicht nur alles Vorstellbare (imaginabilia), sondern auch alles Denkbare (intelligi­ bilia) übersteigen (transcendere).78 Dieser Überstieg führt dahin, dass für den Intellektvollzug überhaupt gilt, was Maimonides nur von Gott formuliert: dass er in reiner Aktualität begriffen ist. Dann ist er, wie auch in der maimonidischen Intellekttheorie im Allgemeinen, so hier im eminenten Falle der Theosis, von der Form des Gedachten nicht mehr unterscheidbar. Diese Form-Einheit sieht Eckhart zusammen mit der Gottesgeburt in der Seele: Ein und dasselbe ‚Bild‘, ein und dieselbe Form prägt dann das Wesen, so dass intellekttheoretisch reformulierbar wird, was biblisch ausgesprochen ist, wenn etwa Paulus davon spricht, dass wir ‚das Gewand Christi‘ anlegen und als Sohn das Erbe Gottes ungeteilt erhalten. Das aber kann kein Aktvollzug aus eigenem endlich-menschlichen Vermögen mehr sein. Dieses muss vielmehr ganz entfallen, so dass das Vollzugssubjekt Gott bzw. der Sohn selbst wird. An dieser Stelle ersetzt Eckhart den Vorrang aktiver Vernunft durch reine Passivität und Empfänglichkeit. All das geht weit hinaus über die Nachahmung der göttlichen Werke bei Maimonides. Erst von daher wird im Vollsinne deutlich, was es für Eckhart heißt, dass Evangelium und Metaphysik dasselbe zum Gegenstand haben, nämlich das Sein einfachhin,79 unter Absonderung von aller Konkretion. In diesem Sinne sind Seins- und Gottesbegriff geradezu austauschbar. 78. Eckhart, Sermo XXIV,2 n. 247, LW IV 226. 79. So u.a. Eckhart, In Ioh. n. 443, LW III 380, 7-8: contemplatur ens inquantum ens. Diese Bestimmung geht zurück auf Aristoteles (Met. VI 1, 1003 a 21; XI 4, 1061 b 25-32), wie er v.a. von al-Fārābī programmatisch verstanden wurde; vgl. al-Fārābī, Maqāla fī Aġrāḍ al-ḥakīm fī kull maqāla min al-kitāb al-mawsūm bi-l-ḥurūf (Über die Ziele des Weisen in jeder Abhandlung des mit Buchstaben markierten Buches), in F.H. Dieterici (ed.), Alfarabi’s philosophische Abhandlungen (Leiden, 1890), 34-8; zu diesem Metaphysikverständnis siehe Dimitri Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition. Introduction to Reading Avicenna’s Philosophical Works (Leiden a.o., 1988), 241; Michael Frede, ‚The Unity of General and Special Metaphysics: Aristotle’s Conception of Metaphysics‘, in id. (ed.), Essays in Ancient Philosophy (Minneapolis, 1987), 81-95. Diese Pointierung al-Fārābīs rezipiert dann Avicenna (Prima philosophia I.2, Avicenna Latinus, 1.12-13). Theo Kobusch, ‚Mystik als Metaphysik des moralischen Seins‘ (1986), 50 mit Anm. 5, ergänzt zu Recht, dass diese Identifikation schon u.a. bei Justin und Augustinus grundgelegt ist und dann frühscholastischen Zuordnungen (Summa Halensis, Odo Rigaldi u.a.) folgt. Averroes fasst den Gegenstand der Metaphysik dagegen als die separat existierenden Wesenheiten. Beide Bestimmungen stellt nebeneinander: Kitāb fī ṣinā῾at al-manṭiq, ed. Israel Efros, ‚Maimonides’ Treatise on Logic‘, Proceedings of the American Academy for Jewish Research 8 (1938), 1-136, 61. 63.

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Für Maimonides dagegen gilt, wie für seine arabischen Bezugs­ autoren, dass ‚Sein‘ überhaupt nur von Gott, nämlich als notwendiges Sein, aussagbar ist. Demgegenüber wäre alles nur kontingente Seiende nur in homonymem Sinn so (also als ‚seiend‘) benennbar.80 Eckhart könnte dies bejahen, sofern es nur um einen vom gegenständlich Vorhandenen genommenen Seinsbegriff geht, oder umgekehrt: sofern im Absehen von aller Besonderung auch von allem abzusehen ist, das von Gott verschieden wäre. Das kehrt allerdings die maimonidische Äquivokation in Univokation um. Genau das geschieht denn auch in Eckharts Exoduskommentar: Dort ‚ergänzt‘ er in kuriosem Vorgehen noch ein Argument für die maimonidische Einsicht, dass zu Gott keinerlei Relation besteht. Denn, so Eckhart, bei der Auffassung von zweierlei wird stets ein Unterschied gesetzt; was aber von Gott (der das Sein selbst ist) verschieden ist, ist schlichtweg nichts.81 Dass Gott Inbegriff von ‚Sein‘ ist, gilt dann auch in umgekehrter Richtung, und zwar übersetzt in eine Dynamik des Intellekts: Dieser kann bei jedem Gegenstand ansetzen. Zug um Zug können dann alle Mittel entlassen werden, welche diesen distinkt repräsentieren. Genau dazu leitet die Metaphysik und Intellekttheorie ebenso an wie die im rechten Sinne verstandene Heilige Schrift, wenn sie etwa von Gottesgeburt und Sohnschaft spricht. Keineswegs handelt es sich dabei also um ein Vorhaben nur für speziell von Natur aus durch exzeptionelle Konfiguration von Vernunft und Einbildungskraft dazu prädisponierte Menschen. 4.  Entgrenzungen exegetischer Lizenzen Diese Art der Entgrenzung und Universalisierung seines Zentralanliegens prägt Eckharts Predigt und Schriftauslegung durchgehend. Die Zusammenschau von Schriftwort, metaphysischer Gotteslehre, Naturanschauung und Praxis geht alle und jeden an. Selbst von besonders komplizierten Darlegungen, etwa zum Bildbegriff, sagt Eckhart im Predigtwerk: 80. Vgl. Dux I, 56-8, bes. Weiss I, 192-4 und schon I, 35-7; I, 46 / Weiss I, 135; II, Einl.; II, 1. Dazu Oliver Leaman, An Introduction to Medieval Islamic Philosophy (Cambridge, 1985), 28-9. 81. Eckhart, In Exod. n. 40, LW II 45-6. Bekanntlich hält Eckhart, explizit mit Maimonides, auch noch in der Auseinandersetzung um die Orthodoxie seiner Lehre an der Formulierung fest, dass Gott in jeder Beziehung und Hinsicht einer ist: In Exod. nn. 59-60, LW II 65-6 bzw. Satz 23 der Bulle.



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‚Das habe ich nicht von Gegenständen gesagt, die man nur in der Schule behandeln soll; man kann sie vielmehr sehr wohl auf dem Predigtstuhl zur Belehrung vortragen.‘82 Und gegen jede Eingrenzung auf nur ganz bestimmte Adressaten hält Eckhart fest: ‚Dazu sage ich: Wenn man ungelehrte Leute nicht lehren soll, dann wird niemals irgendjemand gelehrt.‘83 Das maimonidische Projekt ist dazu deutlich verschieden angelegt. Der Dux neutrorum will ja dezidiert nur diejenigen erreichen, welche mit der jüdischen Tradition gut vertraut sind. Sie müssen außerdem bereits ein Grundstudium u.a. an Naturwissenschaften und Philosophie durchlaufen haben.84 Sonst geraten sie ja gar nicht erst in die Kalamitäten, welchen der Dux dubitantium abhelfen will. Besonders für die Auslegung der traditionell zentralen Texte des Schöpfungsberichts und der Thronwagen-Ezechielvision erklärt sich Maimonides in der Tradition einer Arkandisziplin, die allenfalls Andeutungen im engen Kreis erlaubt.85 Zwar werden natürlich auch andere Texte, wenn auch nicht in gleichem Umfang, philosophisch-rationalisierend von ihm ausgelegt und zur Ezechielvision Andeutungen gegeben, deren Bezug auf kosmologische Erklärungen zwar etwas kryptisch versteckt, aber doch erkennbar ist, doch auch das setzt offensichtlich Expertenwissen voraus. Trotzdem kann nicht einfachhin Maimonides eine elitistische, ­Eckhart dagegen eine popularisierende Position zugeordnet werden. Maimonides hält sich durchaus in gewisser Weise an seine eigene Maxime: ‚Wer sein Wissen nicht teilt, kommt dem gleich, der jemand, der die Wahrheit benötigt, der Wahrheit beraubt.‘86 Genau das unternehmen seine halachischen Werke: Diese Kompendien wollen dezidiert auch relative Nichtexperten zur Urteilsbildung befähigen. Sie unternehmen 82. Eckhart, Pr. 16b, DW I 270, 6-8. 83. Eckhart, Liber ‚Benedictus‘ I: Daz buoch der goetlîchen troestunge, DW V 60-1. 84. Vgl. Einleitung und I, 34. 85. Vgl. Dux I, Prooemium; I, 71 – nach bGit 60b sollten Offenbarungen verschriftlicht werden. Denn sonst würde eine Vielheit von Meinungen und Verwirrungen bezüglich normativer Grundlagen befördert, vgl. Dux II, 29; III, Einleitung und 1-7; analog z.B. Sēfer ham-maddā῾, II, 11-2; IV, 11; vgl. dazu A. Biram, J. Jacobs, ‚Ma’seh Bereshit; Ma’aseh Merkabah‘ (1904), 235-6; Jacob Neusner, Early rabbinic Judaism. Historical studies in religion, literature and art (Leiden, 1975), 181; Francis E. Peters, Judaism, Christianity, and Islam. The classical texts and their interpretation 3 (­Princeton, 1990), 197. 86. Dux III, Einleitung. Siehe auch Dux II, 37; vgl. Isadore Twersky, A Maimonides Reader (New York, 1972), 363.

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insofern gerade eine – ambitionierte und nicht unumstritten gebliebene – ‚Demokratisierung‘ sonstigen Expertenwissens.87 Ungewöhnlich war allein schon, dass einige metaphysische Basislehren (v.a. ein qualifizierter Begriff von Einheit und Unkörperlichkeit Gottes) dabei als Kernbestand jüdischen Glaubens verstanden wurden, verbindlich für jeden.88 Wenn der Dux perplexorum nur bestimmte Kreise adressieren will, dann erklärtermaßen, um deren Verwirrungen abzuhelfen, aber nicht noch weitere Kreise zusätzlich zu verwirren.89 Maimonides geht es dabei um eine Art allgemeiner Pädagogik, wie er sie ja schon von Gott und den Propheten intendiert sah, gerade weil die erzählerische ‚Einhüllung‘ philosophischer Wahrheiten allen dienlich wird. Auch insofern gilt Dtn 32,47: ‚Es ist kein leeres Wort für euch‘!90 Jede biblische Erzählung aber hat einen guten Grund, und in zumindest vielen Fällen kann und soll dieser als philosophischer Tiefensinn auch von den dazu disponierten Intellektuellen erfasst werden.91 Man kann wohl nicht, wie Yossef Schwartz,92 davon sprechen, dass, sobald ein solcher Tiefensinn einmal identifiziert wäre, dann die ‚Schale‘ ihren Wert gänzlich verloren hätte.93 Auch im Bild von den ‚goldenen Äpfeln in silbernen Schalen‘ hat die Schale zwar relativ geringeren, aber eben nicht keinerlei Wert. Und haben wir denn tatsächlich, was den ‚goldenen Äpfeln‘ entsprechen würde? Auch die maimonidischen Erschließungen des Tiefensinns der Bibel führen ja wieder und wieder gerade nicht auf eigentliche und dem Göttlichen bereits angemessene

87. Vgl. z.B. Friedrich Niewöhner, ‚Maimonides als Aufklärer‘, in U.R. Jeck and K. Flasch (eds.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter (München, 1997), 18-27, 20: ‚schon zu Lebzeiten des Maimonides wurde die Mišnê tôrā als eine Aufklärungsschrift verstanden – und als eine solche bewundert wie beklagt‘. 88. So etwa in den Acht Kapiteln und in der Mišnê tôrā, Sēfer ham-maddā῾, vgl. Johann Maier, ‚Einleitung‘, in J. Maier and A. Weiss (eds.), Mose ben Maimon: Führer der Unschlüssigen (Hamburg, 2 1995), xi-lxxviii, liii-lvi. 89. Vgl. Dux I, 17; I, 71. 90. Dux III, 50 / Weiss III, 340. 91. Vgl. bes. II, 45 (lat. 46) und II, 47 (lat. 48). 92. Vgl. auch Y. Schwartz, ‚Meister Eckhart and Maimonides‘ (2013), 412 u.ö.; id., ‚Meister Eckharts Schriftauslegung als maimonidisches Projekt‘ (2004), 189. Würde man nur von daher die maimonidischen Bilder von Kern und Schale oder Perle verstehen, wäre das nicht verschieden von Eckharts Rede davon, dass die Schale den Leser ‚anlockt‘. Denn auch, wenn dieser Leser einmal angelockt ist, wird die Schale nicht per se wertlos. 93. Nach Spr 25,11; interpretiert Dux, 3v.



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positive theoretische und praktische Bestimmungen, sondern vielmehr ex negativo auf Korrekturen falscher Konzeptualisierungen und Praxen. Ein Fortbestand von Werthaftigkeit und Geltungskraft gilt auch für den maimonidischen Ausweis der guten Gründe der biblisch vermittelten jüdischen Normen. Diese bleiben für ihn nämlich voll in Kraft, auch wenn deren eigentlicher Zweck offengelegt ist, sogar, wenn dieser Zweck nur rekonstruierbar ist als bedingt durch frühere, nicht mehr fortbestehende Umstände. In jedem Fall entgrenzt allein schon die schriftliche Publikation des Dux neutrorum den Adressatenkreis und macht die herkömmlichen Normen einer Arkandisziplin damit zumindest potentiell hinfällig. Diese werden zwar mehrfach von Maimonides noch zitiert, aber das hat zumindest viele seiner Leser nicht abgehalten von dem Eindruck, dass diese Art der Wissensdistribution bereits ein ungehörig kühnes Unterfangen war. Insofern sind Adresse und Pragmatik der maimonidischen Hermeneutik zwar von Eckhart verschieden, aber in der Weise, dass Eckhart – einmal mehr – eher Tendenzen vorantreibt, die bei Maimonides bereits angelegt sind. Noch in einer weiteren Hinsicht führt Eckhart die maimonidische Hermeneutik weiter: Maimonides möchte nicht zusätzlich mögliche Textsinne erschließen, sondern jeweils den eigentlichen Sinn. Denn richtig verstanden, kommen die Aussagen von Aristoteles, Tanach und Mid­ rasch miteinander überein.94 Der philosophisch geschulte Leser kann und muss also prüfen, ob eine Lesart auch rational haltbar ist. Wenn ein Text dagegen, wörtlich genommen, etwas erweislich Falsches, z.B. eine anthro­ pomorphe Gottesvorstellung, nahelegen würde,95 muss der eigentliche Sinn ein anderer sein. Das gilt im Grunde auch für Eckhart. Allerdings pluralisiert Eckhart die Ebene des ‚eigentlichen Sinns‘ programmatisch. Schon bei Thomas war angelegt, dass der parabolische Sinn notwendig plural ist. Die offenbarungstheologische Begründung dafür lautet: Der Heilige Geist hat vieles in die Schriftworte hineingelegt, das ‚über die Absicht der Sprechenden hinausgeht‘.96 Daraus resultiert eine Vielheit wahrer Auslegungen, deren Auswahl Eckhart in das Belieben des Schriftlesers stellen 94. Vgl. Dux II, 3, f. 41v: conveniunt. 95. Vgl. z.B. Dux II, 25 (lat. 26), f. 55v. 96. Eckhart, In Ioh. n. 199, LW III 168, 9-10.

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kann.97 Diesem obliegt ohnehin die Weiterführung von Eckharts Vorlagen nach eigenem Erwägen.98 Es ist keine Seltenheit, dass Eckhart z.B. problemlos mehr als dreißig Auslegungen für einen einzigen Schriftvers vorstellen kann99 – und natürlich ist auch damit dessen Sinnfülle noch längst nicht erschöpft. 5. Auslegungen ex naturalibus Diese Vielheit von Textsinnen manifestiert nichts anderes als den Einheitsgrund von Wahrheit überhaupt.100 Er speist und zentriert die unterschiedlichsten Begriffs- und Sachzusammenhänge, darunter philosophische Konzepte der Ontologie oder Intellekttheorie oder auch Theologoumena etwa der Christologie. Da diese sich wechselseitig erklären und aufeinander verweisen, kann Eckhart die Mitte der Schrift z.B. sowohl ens inquantum ens nennen als eben auch Christus.101 Eckhart hat keine Schwierigkeiten, dies gleichzeitig mit Bezugnahmen auf Maimonides zu formulieren. Dies hängt auch mit einer weiteren Ausweitung von dessen Vorlagen zusammen: Maimonides hatte ja den Schöpfungsbericht auf ‚naturphilosophische‘, die Thronwagenvision auf ‚metaphysische‘ Auslegungen bezogen. Eckhart ändert diese Bezüge vorderhand so, dass Naturphilosophie und Metaphysik dem Alten, Christologie dem Neuen Testament zugeteilt werden.102 Das korrespondiert aber gerade nicht mit seinen tatsächlich durchgeführten Exegesen: Auch im Buch Hosea etwa sieht Eckhart103 Christus sprechen. Ihn, der die Wahrheit ist, gilt es allerorts als ‚Kern‘ aufzufinden, ganz konform mit der Auffindbarkeit der einen Wahrheit in philosophischen wie auch christologischen Erwägungen. Denn mit Maimonides solle die Schrift per se als Wissenschaft verstanden werden, sei es von Natur, sei es von 97. Eckhart, In Ioh. n. 39, LW III 33; vgl. z.B. noch In Ioh. n. 540, LW III 471-2. 98. Eckhart, In Ioh. n. 691, LW III 607, 5-6. 99. Hier zu Joh 14,8 (‚Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns‘): Eckhart, In Ioh. nn. 546-76, LW III 477-506. 100. Vgl. z.B. die Textstellen bei Udo Kern, Der Gang der Vernunft bei Meister Eckhart (Berlin, Münster, 2012), 208-10. 101. Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 3, LW I 453. 102. Z.B. Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 380, 13-381, 4. 103. Eckhart, In Gen. II n. 3, LW I 453, 4-5: In Hos 12,10 sei es Christus, der spreche: ‚durch die Propheten bin ich in Gleichnissen dargestellt worden.‘ Vgl. parallel zu In Gen. II n. 1, LW I 447, 5 auch In Ioh. n. 443, LW III 380 – die Metapher zieht sich durch.



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Geistigem.104 Schließlich stamme ‚alles Wahre … von der (einen) Wahrheit‘105 bzw. aus ‚derselben Ader‘.106 Daher ist eine konkordante Zusammenschau der ‚Bücher‘ von Natur, Lebenspraxis und Heiliger Schrift möglich. So kann Eckhart die kreatürliche Ordnung insgesamt mit derselben Metapher wie die Heilige Schrift ‚verschlossene Worte‘ nennen. Man kann die Zeichen der Schöpfung nämlich gleichfalls ‚aufbrechen‘ und ihren Sinn-Kern entbergen.107 So offenbart sich selbst in der Natur das Göttliche nicht unverhüllt, sondern verborgen unter den Gestalten der Sinnesdinge,108 was wiederum schon Maimonides ähnlich formuliert hatte.109 Aber diese Verhüllung ist zugleich eine Enthüllung. Die Wahrheit manifestiert sich, offenbart sich, legt sich aus in den Eigentümlichkeiten der Natur. Denn alles ist ja dem Göttlichen nachgebildet. Was in Gott gilt, gilt daher wiederum in allen Dingen.110 Die Natur von allem ist ja letztlich ihr Sein in Gott.111 So vermitteln die biblischen Parabeln oft ‚Eigentümlichkeiten‘ von Naturdingen und menschlicher Lebenspraxis, wie sie jeweils auch philosophisch zu ergründen sind.112 Es ist ein Grundmuster von Eckharts Schriftauslegungen, ganze Serien solcher ‚Eigentümlichkeiten‘113 zu erheben: Denn inwiefern eine

104. Eckhart, In Gen. II n. 1, LW I 447, 9-448, 1 (scientia naturalis / spiritualis), im Anschluss an Dux, f. 2v. 105. Eckhart, In Gen. II n. 2, LW I 449; zur Einheit der Wahrheit z.B. auch In Gen. I n. 271, LW I 409-10; In Ioh. n. 185, LW III 154-5: Die Inkarnation in Christus ist ‚Vorbild der ganzen niederen Natur‘, wie überhaupt ‚aus einer Quelle und aus einer Wurzel der Wahrheit alles hervorgeht, was wahr ist, sei es im Sein, sei es im Erkennen, in der Schrift und in der Natur‘; Sermo XXIII n. 221, LW IV 207: alles von der Wahrheit Wahre ist in der Wahrheit wahr. 106. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 381, 4-6 (ex eadem vena), wo noch folgen: 4. der praktischen Kunst (ars factibilium), 5. der theoretischen Kunst (ars speculabilium) und 6. auch des positiven Rechts (ius positivum). 107. Vgl. Eckhart, Pr. 13, DW I 212, 5-6. 108. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 745, LW III 649, 7-10. 109. So z.B. Dux I, 17, f. 8v vom versteckten Enthaltensein der Metaphysik in der Thron­ wagenvision in Parabeln, Metaphern (verba transsumpta) und Gleichnissen (similitudines). 110. Vgl. z.B. Eckhart, In Ioh. n. 435, LW III 372 (non nude praeponi / occultari); ibid. Z. 4-5: universaliter tam in divinis quam in omnibus consequenter, utpote exemplatis et descendentibus a divinis. 111. Vgl. z.B. Eckhart, In Ioh. n. 192, LW III 160-1; vgl. In Ioh. n. 54, LW III 46, 2-3. 112. Vgl. Eckhart, In Ioh. nn. 273-5, LW III 230-1 (naturalium et moralium). 113. So geht es etwa um ‚Natur und Eigentümlichkeiten von Veränderung und Zeugung der Naturdinge‘, wie sie ‚unter den Worten angedeutet‘ (innuitur) sind – zu Joh 16,21: Eckhart, In Ioh. n. 668, LW III 580, 9-581, 2; In Ioh. n. 13, LW III 12, 11-2: exponitur per rationes et proprietates rerum

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bestimmte Formulierung der Schrift wahr ist, kann aus den unterschiedlichsten Gründen und Gesichtspunkten (rationes) erhellen. Dies sei zumindest ausschnittweise kurz illustriert: Wenn es etwa darum geht, dass nichts über sein Prinzip hinausgeht, so reiht ­Eckhart Vorkommen dieser Sachstruktur in den verschiedensten Themen­ bereichen aneinander:114 Im Bereich der Natur übersteigt (excedit) die Handlung nie die Form; in Kunst oder Verstand oder Erkenntnis geht das Tun nie hinaus über das Mittel oder die species, die Prinzip des Wahren ist; im Göttlichen liebt Gott als die Liebe, Gott übersteigt sich also gleichsam auf sich selbst, aber nicht etwas anderes. Wenn die Schrift vom Ort spricht, ‚worin Gott wohnt‘,115 reiht ­Eckhart zunächst aneinander: Gott ist in der Höhe, im Himmel, in der Mitte usw. zu finden, insgesamt fünfzehn Bestimmungen. Diese lehren ‚in ihrem natürlichen und buchstäblichen Verständnis‘ (naturaliter et litteraliter intellecta) fünfzehn Eigenschaften, die einerseits Gottes Natur zukommen (sofern dazu gehört, ‚wo‘ Gott ‚wohnt‘), andererseits aber zugleich auch fünfzehn Eigenschaften (proprietates) des geschaffenen Seins (entis creati) ausmachen. Ferner könne man diese fünfzehn Punkte aber auch beziehen auf die Lebenspraxis (moraliter intellecta). So gesehen, geht es um die dem Menschen gegebene gute Lehre, wie und wo er Gott suchen und finden kann. Die metaphysischen Bestimmungen sind also umwendbar ins ‚Moralische‘, also auch lesbar als Antworten auf die praktisch-philosophische Frage nach der Bestimmung des Menschen in praktischer Hinsicht. Ein weiteres Beispiel: Die Wendung ‚folge mir!‘ (Joh 1,43)116 will Eckhart zuerst naturaliter, dann per modum sermonis auslegen. Zum ersten wird ausgeführt, dass sich alles zu seiner Erstursache zurückwendet, das Sein erstrebt; zum zweiten, dass es um die Ermutigung zur Nachfolge gehe. In Abgrenzung zur rechten Nachfolge skizziert Eckhart dann Menschen, die sich gar nicht sorgen, was gut und böse ist oder Gott wohlgefällt; solche, die eigentlich wollen, dass Gott wolle, was sie wollen. Aber das Niedere müsse geführt werden durch das Obere, habe doch naturalium. So können ex naturalibus Strukturen aufgezeigt werden, die trinitätstheologische Entsprechungen haben, vgl. In Ioh. nn. 161-3, LW III 132-5. 114. Eckhart, In Ioh. n. 536, LW III 467. 115. Vgl. Eckhart, In Ioh. nn. 209-12, LW III 176-9. 116. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 226, LW III 189-90.



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Gott nicht seinesgleichen, also niemand neben sich; die eigentlich Gott Folgenden seien jene, welche nur auf Gott schauen (nicht auch auf den Eigenwillen). Die moralische Auslegung kann selbst auch Erwägungen ‚aus der Natur‘ einbeziehen: Für das Prinzip, dass alles, was um Gottes willen verlassen wird, von Gott reicher gegeben wird,117 führt Eckhart ein ‚Beispiel aus der Natur‘ (exemplum in natura) an: Wird die Wesensform erreicht, werfen alle Formen und Akzidentien ab, was auf diese Wesensform vorbereitete, und sie kehren edler zurück. So folgt die Hitze der Feuerform; und zwar ist die Feuerform viel vollkommener als die vorige, vorbereitende Hitze. Im Folgenden geht es dann um die Sofortigkeit der Nachfolge u.a.m. Seite um Seite aus Eckharts Kommentaren würden weitere Beispiele liefern für diese wechselseitige Interpretation von Strukturen der Natur, der Theologie und der menschlichen Praxis. Immer wieder werden diese drei allgemeinsten topoi von Gegenstandsbereichen abgeschritten.118 Auffallend ist dabei eine Vorliebe für ganz bestimmte Gesichtspunkte (rationes) der Auslegung. Solche rationes sind etwa kausalitäts­ theoretische Schemata.119 Oft geht es auch um optische und biologische 117. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 246, LW III 205. 118. Vgl. z.B. zu Joh 1,14 (Eckhart, In Ioh. nn. 125-8, LW III 108-10): Der Text enthält und lehrt die Eigentümlichkeiten (proprietates) der Dinge in der Natur (rerum naturalium), im geistlich-­ moralischen Leben (moralium) und in der Kunst (artificialium), wobei immer die geschichtliche Wahrheit vorausgesetzt ist. Bezüglich der Zusammenhänge in Natur und Kunst wird dann u.a. ausgeführt, dass ‚allgemein und der Natur nach‘ das Wort je in dem, was wird, wohnt, wie etwa die Seele, wenn sie sich mit dem Fleisch (im Menschen) verbindet usf. Man schreibt dann Denken usw. nicht mehr nur der Seele, sondern dem Ganzen aus Leib und Seele zu: Beide ‚vermitteln sich ihre Idiome‘. Das ist natürlich trinitätstheologische Terminologie, der eben die allgemeine Naturordnung kor­res­pondiert. Ein handgreifliches Beispiel ist: Das vom Feuer Entzündete wirkt nicht weniger ‚Werke des Feuers‘, wie etwa das verflüssigte Blei die Hand sogar stärker verbrennt als das Feuer (welches das Blei zum Schmelzen brachte). Unter den sehr zahlreichen Applikationen des Feuer-Beispiels sei hier noch verwiesen auf In Ioh. n. 256, LW III 212-3: Die aktive Qualität der Hitze bereitet auf die Form des Feuers vor, und zwar nur darum, weil vorher die Kraft der Form des Feuers, das die Hitze erzeugt, der Hitze eingeprägt ist – der Kraft nach (virtute) ist daher bereits die Form des Feuers die eingeprägte Kraft der Hitze. Dieses Beispiel führt Eckhart in einer Reihe an, die zeigen soll, wie seine Darstellung übereinstimmt (concordat) mit a) der Heiligen Schrift, b) der Lehre der Heiligen und c) der Lehre der Philosophen, wobei er dann als einen dritten Punkt im Beweisgang dieses Beispiel ‚aus der Natur (ex naturalibus) und aus der Lehre der Philosophen‘ anbringt. 119. Vgl. z.B. Eckhart, In Ioh. nn. 66-8, LW III 54-7; ibid. nn. 142-3, LW III 119-20. Ein typisches Beispiel: Die Ehebrecherin kann die erste Materie bedeuten, die sich je mit einer und prinzipiell allen möglichen Formen verbindet. So z.B. In Ioh. nn. 11-2, LW III 11-2; vgl. Anm. 53.

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Zusammenhänge.120 Diese Vorliebe für Bildvorstellungen, die dem Geschehen der Natur entnommen sind, ist nur teilweise von Maimonides her erklärbar, etwa insofern, als dieser alle Gotteserkenntnis auf die Erkenntnis seiner ‚Wege‘ bezieht, also seiner apparenten Wirkweisen. Eckharts häufigste Illustrationen ex naturalibus haben indes einen spezifischen Charakterzug gemeinsam: Sie verdeutlichen die Dynamisierung des Denkens. Immer handelt es sich um Prozesse – brennendes Feuer, Lilienduft, Spiegelphänomene, Wassersprudel oder Geburt. Eigentümlich ist solchen Prozessen die Einheit im Vollzug, der sich verlöre, würde man Einzelkomponenten isolieren: Der Vater ist, was er ist, nicht ohne den Sohn. So sind auch Verstehender, Verstandenes und Verstehens­ prozess im Vollzug geeint. Diese dreifach-einfache Struktur erinnert natürlich an die Drei-Einfachheit der göttlichen Personen. Wie steht es in solchen Zusammenhängen um das Verhältnis von philosophischer und theologischer Sprache und Betrachtungsweise? Bezeichnenderweise werden zumeist die philosophischen Erwägungen vorangeschickt. In welcher Weise folgen dann die theologischen nach? Tragen sie noch neue Einsichten bei? Ein Testfall ist etwa die Auslegung von Joh 1,11-2. Hierzu hatte Augustinus angegeben, gerade dazu bei Platon keine weitere Entsprechung mehr gefunden zu haben. Beginnt hier eine eigentlich glaubenswissenschaftliche Theologie, die eine ‚natürliche Theologie‘ hinter sich ließe, wie dies in der Rezeptionsgeschichte oft so verstanden wurde? Eckhart führt dazu eine ratio naturalis an, die in rebus naturalibus die Aussage ‚Gott kam in sein Eigenes (in propria)‘ exemplifiziert.121 Nämlich: Nichts ist dem Seienden so zu eigen wie das Sein selbst, das Gott ist. Eckhart bespricht hier also nicht eigentlich Glaubensmysterien, sondern metaphysische Grundlagen. Etwas später dann erst gibt er den fraglichen Schriftworten eine Erklärung magis theologice.122 Hier geht es dann um das Sich-Erbarmen und Erlösen Gottes (misereri, salvare). Eckhart bezieht diese auf ‚Gott das Wort … in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Heiligen Geist‘. Es wird hier also keineswegs ein Glaubens­ mysterium auf philosophische Grundlagen reduziert, sondern einem 120. Vgl. z.B. Eckhart, In Ioh. n. 724, LW III 633-4. 121. Eckhart, In Ioh. n. 96, LW III 83. 122. Eckhart, In Ioh. n. 98, LW III 84, 6.



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Schrifttext sowohl eine Deutung in Bezug auf allgemein-metaphysische, auch natürlich vorfindliche Grundlagen gegeben als auch eine Deutung, die dezidiert trinitätstheologische und soteriologische Terminologie verwendet, ohne diese wiederum als Gegenstand einer Erhellung mittels allgemein-metaphysischer Zusammenhänge zu behandeln. Ähnlich führt Eckhart später noch in naturalibus die Entsprechung an, dass die Form durch das Entstehen ‚in ihr Eigen kommt‘, in die Materie, die dazu selbst nichts ‚Eigenes‘ haben darf, um ganz empfänglich für die Wesensform zu sein.123 Auch hier folgt nach der Darlegung in natura zu Form und Materie (und bloßem Intellekt) eine theologische Erklärung, die als noch passender (convenientius) vorgestellt wird und sich auf die Inkarnation bezieht, wonach die Natur ohne Sünde (also ganz Gott ‚eigen‘) angenommen werde.124 Selbst dort, wo also mit theologischen Schrifterklärungen Neues folgt, fügt sich Eckhart nicht in klassische Distinktionen etwa zwischen ‚natürlicher‘ und ‚offenbarungsbezogener‘ Theologie. Dem korrespondiert Eckharts Anspruch, dass in Christus keine andere Wahrheit, sondern dieselbe in anderem Modus, nämlich in einer dem Formalgrund nach höheren Gewissheit gegeben ist.125 Das hebt sich ab von Adaptionen des Aristotelismus wie etwa bei Maimonides: ‚Wahr‘ ohne Zweifel kann demzufolge nur sein, was unter der Mondsphäre ist, wahrscheinlich (verisimile), was darüber hinaus liegt.126 Eckhart hat offenbar geringere epistemische Bedenken, und zwar gerade in theologicis. Allerdings garantiert die formal gesetzte Gewissheit in Christus noch nicht deren Einlösung im materialen Vollzug endlichen Erkennens. Über dieses gehen aber Eckharts Spitzenformulierungen in Bezug auf die reine Aktualität des Erkennens hinaus, die von ihm noch präziser vom Standpunkt endlichen Erkennens bestimmt wird als letztlich absolute Passivität desselben, wenn an die Stelle der Nichtaktivität des Eigenen mit ontologischer Notwendigkeit die Aktivität des Göttlichen als absoluter Intellektualität 123. Eckhart, In Ioh. n. 100, LW III 85, 17-87, 5. 124. Eckhart, In Ioh. n. 125, LW III 108-9. 125. Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 67, LW I 533-4; In Ioh. n. 186, LW III 155. 126. Vgl. Dux II c. 23, f. 54r; vgl. In Sap. n. 208, LW II 542; In Ioh. n. 185, LW III 155 mit weiteren Stellen im Apparat (dortige Anm. 3); Eckhart verbindet dann insbesondere das Wahre mit dem Intellekt, das Wahrscheinliche mit den Sinnen, vgl. In Sap. n. 274, LW II 604. Dazu auch Y. Schwartz, ‚Meister Eckharts Schriftauslegung als maimonidisches Projekt‘ (2004), 206.

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tritt – eine Grenzbetrachtung, welche nicht nur die maimonidische Intellekttheorie hinter sich lässt. Man wird im Lichte der hier nur sehr ausschnitthaft gestreiften programmatischen Äußerungen Eckharts und ihrer Anwendungsfälle seine Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie jedenfalls eher als eine der wechselseitigen Entsprechung beschreiben müssen. So können Gehalte einerseits philosophisch erschlossen und präzisiert werden, andererseits in Sinnhorizonte und Semantiken ‚integriert‘ werden, die von theologischen Traditionen zehren. So gesehen, konstituiert die Philosophie dann freilich nicht selbst den Begründungszusammenhang etwa für christologische Wahrheiten. Sie expliziert aber Sachstrukturen, die dazu in Analogie stehen, und bildet so einen Entdeckungs-, aber auch Entsprechungszusammenhang. Dieser wiederum ist alles andere als beliebig. Vielmehr gilt es Eckhart als grobe Nachlässigkeit, würde man nicht erforschen, worauf man im Glauben vertraut. Diese Forschung ist ein Aufsuchen von rationes naturales und schon deshalb möglich, weil eine Spur des Schöpfers in allem Geschaffenen ist.127 ‚Sobald man seine Wege kennt, kennt man auch ihn‘,128 heißt es bei Maimonides, was meint: Aus der Gesamtheit seiner Wirkungen erschließt sich das Göttliche. Die rationes naturales, die der Johanneskommentar so programmatisch anführt in Passagen, die für nicht wenige Kontroversen gesorgt haben, sind von daher gesehen nicht in erster Linie selbständige Beweisgründe für Glaubensmysterien. Vielmehr geht es, von Eckharts Hauptreferenz Maimonides her gesehen, um ein universales Entsprechungsverhältnis der jeweiligen ‚Eigentümlichkeiten‘ von Strukturen der Natur, der Lebenspraxis und der theologischen Rede- und Betrachtungsweise. 6. Resümee Eckharts philosophische Exegese unternimmt also eine Zusammenschau von Bezügen der Natur, der menschlichen Lebenswelt und Theologie. Dabei greift sie, wie zu zeigen versucht wurde, Grundzüge insbesondere der maimonidischen Methodologie auf, führt diese aber auch weiter. 127. Eckhart, In Ioh. n. 361, LW III 306, 12-307, 5 begründet mit dem Prinzip, dass allgemein die Wirkung eine Spur ihrer Ursache ist. 128. Dux I, 54 / Weiss 178 (zu Ex 33,13).



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Eckhart ist dabei weit entfernt von einem Defizienzmodell, wonach man erst bei philologischen Schwierigkeiten oder Rationalisierungsproblemen Allegoresen vornehmen sollte. Vielmehr ist der Wortsinn in sich schon plural. Das sprengt auch überkommene Schematisierungen etwa von Typologien. Vielmehr hält sich Eckhart an Maimonides, wonach es um eine Auslegung des Sinnkerns der Texte in Konformität mit philosophischen Gründen geht. Allerdings bleibt dies keineswegs nur intellektuellen Eliten oder wenigen natürlicherweise Prädisponierten vorbehalten. Nicht nur überkommene Distinktionen zwischen Literalsinn und Tiefensinn entfallen, sondern auch pragmatische und soziale Eingrenzungen, wie es Eckhart überhaupt um das Entfallen ontologischer und epistemologischer Eingrenzungen von Sein, Wahrheit und Intelligieren geht, dies insbesondere im Unterschied zur maimonidischen Architek­ tonik der Seelenvermögen. Der göttliche Einheitsgrund aller Wahrheit erlaubt eine unausschöpfbare Fülle an Manifestationen der Schriftwahrheit, seien es solche der Moral, der Natur oder der Theologie. Bei ‚guter Betrachtung‘ des Textes werden wir, wie Eckhart sagt, belehrt über ‚die Natur der Dinge und ihre Eigentümlichkeiten‘, während im selben Zuge ‚unser Glauben aufgerichtet‘ werde.129 Scharfsinnige Forschende, so ­ Eckharts Erwartung, mögen diese Konkordanz an jedem Ort auffinden.130

129. Eckhart, In Ioh. n. 492, LW III 424, 12-5 (bene inspecta). 130. Eckhart, In Ioh. n. 510, LW III 441, 10-1.

Die Univozität des Ich bei Meister Eckhart vor dem Hintergrund der scholastischen Frage nach dem subiectum theologiae Martina Roesner, Universität Wien Abstract The present contribution attempts to locate Meister Eckhart’s interpretation of the relationship between philosophy and revealed theology against the backdrop of 13th-14th centuries’ scholasticism. Contrary to what one might expect, Eckhart does not drive a wedge between philosophical and theological thought on the one hand and practical mysticism on the other hand. Rather, he intends to trace them back to their common root, which is the pure substance of the intellectual ego (‘I’) in its groundless spontaneity. In order to do so, however, Eckhart has to redefine the very concept of ‘science’ in the Aristotelian sense. 13th century scholasticism defines each scientific discipline by its subject-matter (subiectum) and its principles (principia). From this point of view, there is a clear distinction between revealed, Scripture-based theology and philosophical theology, or metaphysics. Eckhart’s approach, however, consists in putting into question the very presupposition of this distinction. To him, the most fundamental revelation is the verse in Ex 3:14 Ego sum qui sum (‘I am who I am’), which has no real ‘content’ at all but consists in God’s sheer self-manifestation as pure, intellectual subjectivity. Now, the ability to say ego (‘I’) is not an exclusively divine privilege. Human beings too share this intellectual spontaneity, which is not part of their created being but a breakthrough-point of the Absolute. This primordial revelation of the ego in its radical univocity provides, therefore, the intellectual principle for both philosophy and revealed theology as sciences dealing with different subject-matters (subiecta). The multiplicity of these subiecta is, however, overcome by and unified in the ‘I’ as the thinking subject. From this viewpoint, the quelling life of the

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ego is the ultimate point of unity, not only between the various scientific disciplines but also between the theoretical, scientific attitude as a whole and the life of the spirit in the mystical sense. Thus, Eckhart is able to solve the dichotomies and dilemmas in the relationship between scholastic philosophy, theology, and mysticism without blurring their boundaries, while at the same time avoiding the pitfalls of the doctrine of ‘double truth’. 1. Einleitung

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em Begriff der Mystik eignet eine derartige Vieldeutigkeit, dass man ihn kaum sinnvoll verwenden kann, ohne zuvor genau zu klären, was man darunter im Einzelnen versteht. Doch so unterschiedlich die inner- wie außerreligiösen Definitionen der Mystik auch ausfallen mögen, so kommen sie in aller Regel doch darin überein, dass ihnen die Vorstellung eines unmittelbaren Einheitsbewusstseins zugrunde liegt, das nicht nur die alltäglichen Formen des individuell-menschlichen Weltverhaltens überwindet, sondern ebenso auch das für alle wissenschaftliche Erkenntnis konstitutive Auseinandertreten von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Auch wenn die Mystik als solche nicht unbedingt wissenschaftsfeindlich eingestellt sein muss, versteht sie sich doch als eine Grundhaltung, die jenseits der theoretisch-objektivierenden Erkenntnis angesiedelt ist und auf eine Überwindung der Grenzen des begrifflich-kategorialen Weltbezuges abzielt. Für die mystischen Strömungen innerhalb des Christentums bedeutet dies, dass sie sich zwar nicht notwendigerweise in grundsätzlicher Opposition zur wissenschaftlich betriebenen Theologie befinden, sich aber doch in der Regel als kritisches Korrektiv und Ergänzung zum argumentativen theologischen Diskurs verstehen, vor allem, wenn dieser Gefahr läuft, durch eine allzu theoretische Ausrichtung seine Lebens- und Glaubensrelevanz einzubüßen.1 Das Spezifikum von Meister Eckharts Denken besteht darin, dass er sich nicht mit einem bloßen Komplementaritätsmodell von

1. Die Kritik an einer vom Glauben abgehobenen, sich in begrifflichen Spitzfindigkeiten verlierenden Theologie wird im Spätmittelalter vor allem von den Vertretern der Devotio moderna geäußert (vgl. Thomas a Kempis, De Imitatione Christi libri quatuor, Lib. I, cap. 1, 3; cap. 2, 1-3), aber auch von Mystikern wie Johannes Tauler (vgl. etwa Pr. 16, in F. Vetter [ed.], Die Predigten Taulers [Berlin, 1910], 74,25-75,3; Pr. 23, ed. Vetter, 94,15-95,18; Pr. 52, ed. Vetter, 237,5-12).



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theologischer Wissenschaft und mystischer Glaubenspraxis begnügt, sondern auf der Grundlage eines besonders gearteten Intellektbegriffs einen systematischen Ansatz entwirft, in dem der vermeintliche Gegensatz von ‚Wissenschaft‘ und ‚Leben‘ aufgehoben ist. Eckhart entwickelt sein wissenschaftstheoretisches Modell dabei keineswegs im luftleeren Raum mystischer Überzeitlichkeit, sondern nimmt sehr wohl auf die zu seiner Zeit herrschenden Debatten um Wesen und Aufgabe der Theologie Bezug, die durch die Rezeption der gesamten aristotelischen Philosophie deutlich an Schärfe und Brisanz gewonnen haben. Gleichzeitig finden sich in Eckharts Ansatz aber auch deutliche Spuren älterer wissenschaftstheoretischer Schemata, die über das frühscholastische und patristische Denken hinaus bis in die antike Philosophie zurückreichen. Daher ist es nötig, zunächst die geschichtliche Entwicklung dieser Fragestellung zu umreißen, um die Gemengelage zwischen den verschiedenen systematischen Ansätzen zu verstehen, die für das Wissenschaftsverständnis im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert und damit auch für Eckharts eigenen Entwurf prägend sind. 2. Der systematische Ort der Offenbarungstheologie zwischen objektiver Wissenschaft und lebenspraktischer Weisheit 2.1 Die Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie in der Patristik Die Frage, ob, und wenn ja, in welchem Sinne die auf der biblischen Offenbarung basierende Theologie eine Wissenschaft genannt werden kann und wie ihr Verhältnis zu den übrigen Formen menschlichen Wissens und menschlicher Weltorientierung zu bestimmen ist, hat das Christentum schon von den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte an begleitet. Die Folie dieser wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung wird dabei von der antiken Philosophie vorgegeben, deren Selbstverständnis ebenfalls nicht einheitlicher Natur ist, sondern sich zwischen den beiden Polen einer primär auf innerweltliche Sachverhalte und Regelzusammenhänge ausgerichteten Wissenschaft (ἐπιστήμη) und einer hauptsächlich auf das spezifisch menschliche Selbstsein und die entsprechende Selbsterkenntnis ausgehenden Weisheit (σοφία) bewegt. Dabei sind diese beiden Aspekte nie gänzlich voneinander getrennt, doch

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entscheidet ihre unterschiedlich starke Gewichtung darüber, ob sich Philosophie in erster Linie als objektiv-universalgültige θεωρία (theôria) oder vielmehr als subjektbezogene, die individuelle Lebensweise prägende πρᾶξις (prâxis) versteht.2 Die Besonderheit der aristotelischen Philosophie besteht darin, dass beide Grundformen philosophischen Selbstverständnisses in ihr gleichermaßen angelegt sind, und zwar in jener Höchstform philosophischen Denkens, die erst Jahrhunderte später den Namen ‚Metaphysik‘ erhalten sollte, von Aristoteles selbst dagegen in einer charakteristischen terminologischen Oszillation bisweilen als ‚Erste Philosophie‘ (πρώτη φιλοσοφία),3 als ‚Wissenschaft vom Seienden als solchem‘ (ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὄν),4 als ‚göttliche Wissenschaft‘ (θεολογικὴ ἐπιστήμη)5 oder auch als ‚Weisheit‘ (σοφία)6 bezeichnet wird. Der Umstand, dass er diese Disziplin auch die ‚gesuchte Wissenschaft‘ (ἐπιστήμη ζητουμένη)7 nennt, ist daher nicht als eine lediglich provisorische Unsicherheit in Bezug auf Wesen und Aufgabe des metaphysischen Denkens zu deuten, sondern bringt die prinzipielle Schwierigkeit zum Ausdruck, die Erkenntnis des Ersten und Höchsten noch in das gängige Schema eines gegenstandsbezogenen, methodologisch eindeutig bestimmbaren Wissenschaftsbegriffes zu pressen. Die von Aristoteles in sachlicher Hinsicht entworfene, aber nie in Form einer einzigen, griffigen Definition gefasste ‚Metaphysik‘ ist keine Wissenschaft unter anderen, sondern derjenige philosophische Blickwinkel, unter dem die so geläufig erscheinenden Gegensätze von Welt und Mensch, von theoretischer Wissenschaft und praktischem Orientierungswissen, von größtmöglicher Universalität und absoluter Singularität in Bewegung geraten und letztlich in ihr Gegenteil umschlagen. Auf den ersten Blick scheint bei Aristoteles’ Bestimmung der Metaphysik der Aspekt der wissenschaftlichen Erkenntnis im Sinne der ἐπιστήμη (epistêmê) zu dominieren. Dafür spricht die Tatsache, dass er sie – nach der Physik und der Mathematik – auf der dritten und 2. Vgl. Pierre Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique (Paris, 1981), vor allem 13-58. 3. Vgl. Aristoteles, Metaphysik VI 1, 1026 a 24; XI 4, 1061 b 30-1. 4. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IV 1, 1003 a 21. 5. Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 2, 983 a 5-11; VI 1, 1026 a 18-22. 6. Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1, 981 b 27-9; I 2, 982 a 4-6. 7. Vgl. Aristoteles, Metaphysik III 1, 995 a 24.



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höchsten Stufe der drei theoretischen Wissensformen einordnet. Gleichwohl eignet dieser Bestimmung aber auch eine qualitativ-existenzielle Dimension, da sie als θεολογικὴ ἐπιστήμη (theologikê epistêmê) nicht nur als Wissenschaft vom Göttlichen im Sinne eines Gegenstandsgebietes zu verstehen ist, sondern zugleich auch als Wissenschaft des Göttlichen selbst als des obersten Erkenntnissubjektes gilt.8 Dieses besitzt im eigentlichen Sinne keine Erkenntnis ‚über‘ objektive Sachverhalte, sondern ist nichts anderes als der beständige Vollzug vollendeter intellektueller Selbsterkenntnis.9 So verstanden, ist die θεολογικὴ ἐπιστήμη (theologikê epistêmê) keine bloß theoretische Wissenschaft mehr, sondern eine Form der Praxis, die in der autark-immanenten, potentialitätsfreien Verwirklichung der dem Göttlichen eigenen Vernunftnatur besteht. Dies ist der Grund dafür, dass die von Menschen betriebene Metaphysik für Aristoteles ebenfalls keine rein theoretische Angelegenheit ist, sondern die vollkommenste Form menschlicher Selbstverwirklichung und damit auch die Höchstform möglicher Glückseligkeit überhaupt darstellt. Diese Glückseligkeit ist jedoch auch für den Philosophen nur von begrenzter Dauer, insofern sie an die faktische Ausübung des metaphysischen Denkens gebunden ist, dem ein menschliches Wesen bestenfalls einen Teil seiner Zeit, aber nicht jeden einzelnen Moment seines Lebens widmen kann.10 Wohl wird der Metaphysiker durch seine Erkenntnistätigkeit dem Göttlichen ähnlich, doch bleibt diese Vergöttlichung an konkrete Denkakte gebunden, die sich in einem diskursiven Nacheinander entfalten und so einen intentionalen Erlebniszusammenhang bilden, ohne jedoch mit dem menschlichen Leben als solchem zusammenzufallen. Die Autarkie und Spontaneität des göttlichen Intellekts verwirklicht sich letztlich oberhalb der irdischen Existenzsphäre und kann daher nur von einigen wenigen, privilegierten Individuen in mehr oder weniger hohem, aber nie vollkommenem Maße nachgeahmt werden.11 Eine die menschliche Existenz nicht nur prägende, sondern in

8. Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII 7, 1072 b 15-30. 9. Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII 7, 1072 b 18-22. 10. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177 a 12-1178 a 8. 11. Zu diesem qualitativen Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher θεωρία vgl. Stephan Herzberg, Menschliche und göttliche Kontemplation. Eine Untersuchung zum ‚bios theoretikos‘ bei Aristoteles (Heidelberg, 2013), 25. 111-2. 146. 150.

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teleologischer Hinsicht restlos erfüllende ‚Weisheit‘ ist die aristotelische Philosophie also nur in Ausnahmefällen. Im Unterschied zu dieser Form von Metaphysik, bei der die existenzielle Dimension der Philosophie nur als Grenzfall wissenschaftlichen Denkens zum Tragen kommt, konzentriert sich der Neuplatonismus von vornherein viel stärker auf das Motiv der persönlichen Umformung, die durch einen graduellen Aufstieg aus der sinnlich-materiellen Vielheit über das Denken hin zum Einen erfolgt. Die Stufung der verschiedenen Hypostasen stellt dabei nicht nur eine ‚objektiv‘ bestehende, innerweltliche Ordnung dar, sondern bezieht sich auch und vor allem auf die Art und Weise des menschlichen Selbstbezugs und die sich daraus ergebende Selbstsituierung innerhalb des metaphysischen Spektrums zwischen absoluter Einheit und mehr oder weniger großer Vielheit.12 Während bei Aristoteles das sich selbst denkende Denken des göttlichen Geistes eine weltüberhobene Instanz darstellt, der sich der Philosoph bestenfalls temporär und nur von außen annähern kann, ist das neuplatonische Eine gerade kein Gegenstand innerzeitlicher, theoretischer Erkenntnisakte mehr, sondern wird nur als Nichterfahrung erfahrbar, nämlich als nicht­ objektivierbare und nur nachträglich zu konstatierende, ekstatische Aufhebung des individuellen Denk- und Erlebniszusammenhangs.13 Der plotinsche ‚Aufstieg zum Einen‘ ist daher im eigentlichen Sinne keine Angleichung an eine äußere, transzendente Instanz, sondern der sich im Menschen selbst als progressive Verinnerlichung vollziehende Überstieg des intentionalen Bewusstseins auf jenen kategorial nicht zu fassenden Einheitsgrund hin, dem wir in Wirklichkeit immer schon nahe sind, auch ohne es zu wissen.14 Gerade der Umstand, dass es der neuplatonischen Metaphysik nicht primär um objektiv-theoretische Erkenntnis, sondern um eine bleibende Umformung der je eigenen Existenz geht, lässt sie eher als Weisheit denn als Wissenschaft erscheinen. Aus ebendiesem Grunde erscheint sie aber auch in wesentlich höherem Maße als die aristotelische Philosophie als eine mögliche Konkurrentin zu den diversen Formen religiösen Orientierungswissens, die sich in der Spätantike innerhalb der hellenistisch 12. Vgl. Plotin, Enneade V 6, 1-2; V 9, 1-9. 13. Vgl. Plotin, Enneade IV 8, 1,1-11. 14. Vgl. Plotin, Enneade VI 9, 8,34-9,11.



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beeinflussten Kultursphäre immer weiter ausbreiten. Speziell mit Blick auf das Christentum stellt sich die Frage, wie sich der biblische Offenbarungsglaube und die auf ihn bezogene Theologie zu den verschiedenen Grundansätzen der antiken Philosophie verhalten, genauer gesagt: ob die verschiedenen Formen einer philosophischen Theologie und philosophischen Lebensorientierung zum Christentum in Widerspruch stehen oder letztlich – wenn auch auf der Grundlage anderer Prämissen und anderer Methoden – mit ihm konvergieren. Auch wenn zahlreiche christliche Apologeten und frühe Kirchenschriftsteller das Christentum gerne als ‚wahre Philosophie‘ (vera philosophia) bezeichnen,15 ist die genaue Bestimmung dessen, was ‚Philosophie‘ in diesem Falle bedeutet, nicht immer identisch. In den meisten Fällen ist damit die existenzielle Dimension rationaler Selbsterkenntnis und die sich daraus ergebende praktische Form der Lebensgestaltung gemeint, wie sie vor allem bei den stoisch bzw. neuplatonisch geprägten Philosophenschulen im Mittelpunkt steht. In diesem Falle besteht der Anspruch des Christentums darin, eine ebenso vernunftgemäße, aber gewissere und vollkommenere Form der ‚Selbstsorge‘ und richtig verstandenen Selbstverwirklichung zu vertreten als die heidnischen Philosophenschulen.16 Die wissenschaftliche Dimension des philosophischen Denkens im engeren Sinne, d.h. die ἐπιστήμη (epistêmê) als theoretische, um ihrer selbst willen gesuchte Erkenntnis, tritt dagegen eher in den Hintergrund und wird nicht selten als nutzlose, nur der menschlichen Eitelkeit dienende Form der Neugierde kritisiert. Bei Augustinus schlägt sich die tendenzielle Entkoppelung von existenziell motivierter Selbsterkenntnis und theoretisch-wissenschaftlicher Welterkenntnis in der begrifflichen Unterscheidung zwischen sapientia und scientia nieder, wobei nur erstere für den Christen von unbedingter Wichtigkeit ist, da sie es mit dem Unvergänglichen und Ewigen zu tun hat. Die scientia hingegen spielt nur eine untergeordnete und sekundäre Rolle, da ihr Zuständigkeitsbereich sich ausschließlich auf zeitliche und somit 15. Vgl. Clemens Alexandrinus, Paedagogus II, cap. XI, 117,4 in C. Mondésert and H.-I. ­Marrou (eds.), Clément d’Alexandrie: Le Pédagogue II, Sources Chrétiennes 30 (Paris, 1965), 224; id., Stromata I, cap. I, 18,1-4; cap. XVIII, 90,1, in C. Mondésert (ed.), Clément d’Alexandrie: Les Stromates I, Sources Chrétiennes 30 (Paris, 1951), 56-7. 115. 16. Vgl. Justinus Martyr, Apologia minor, cap. 10, in M. Marcovich (ed.), Iustini Martyris Apologiae pro Christianis (Berlin a.o., 1994), 151-2.

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vergängliche Dinge erstreckt, die keine unmittelbare Heilsrelevanz besitzen.17 Neben dieser theologisch motivierten, kritischen Abgrenzung des biblischen Offenbarungsglaubens gegenüber dem antiken Ideal theoretischer Erkenntnis gibt es aber auch andere christliche Autoren, die die Bedeutung der griechischen Philosophie durchaus nicht nur auf ihre existenzielle, lebenspraktische Komponente reduziert sehen wollen, sondern die jeweiligen philosophischen Systemansätze ausdrücklich zur Schriftoffenbarung und der auf sie aufbauenden Theologie in Beziehung setzen. So beruft sich Origenes auf die stoische Unterteilung der philosophischen Disziplinen in Ethik, Physik und Logik, um sie zu drei der alttestamentlichen Weisheitsbücher – dem Buch der Sprichwörter, dem Buch Kohelet und dem Hohelied – parallelzusetzen.18 Auf diese Weise wird dem Eindruck vorgebeugt, der Wahrheitsanspruch der biblischen Offenbarung beschränke sich nur auf diejenigen Sachverhalte, die die menschliche Innerlichkeit betreffen und durch Introspektion und Reflexion erschlossen werden können. Vielmehr geht es auch um eine Erkenntnis der Natur der Dinge und der Welt insgesamt, in der sich der Mensch befindet. Selbsterkenntnis und Welterkenntnis sind also gar nicht voneinander zu trennen, sondern bedingen sich gegenseitig und gipfeln letztlich in der Theo-Logik, die in der einigenden Betrachtung des Göttlichen besteht. Die Architektonik der einzelnen philosophischen Disziplinen ist also für Origenes keineswegs irrelevant, sondern die unterschiedlichen Wissensgebiete werden vielmehr zu einem graduell fortschreitenden Erkenntnisweg dynamisiert, der letztlich das Überformtwerden des Menschen durch Gott zum Ziel hat.19 Ein zweiter spätantiker Autor, nämlich Boethius, greift dagegen auf das von Aristoteles entwickelte Stufenmodell der drei theoretischen Wissenschaften (Physik, Mathematik und Metaphysik) zurück und geht so weit, die christliche Theologie als solche mit der aristotelischen θεολογικὴ ἐπιστήμη (theologikê epistêmê) zusammenfallen zu lassen. Dabei spielen die einzelnen biblischen Bücher und selbst die Heilige Schrift als ganze 17. Vgl. Augustinus, De Trinitate XII, xv, 25; XIII, i, 1. 18. Vgl. Origenes, Commentarium in Canticum Canticorum, Prolog, in W.A. Baehrens (ed.), Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte VIII: Origenes (Leipzig, 1925), 75,2-9. 19. Vgl. Origenes, Commentarium in Canticum Canticorum, ed. Baehrens, 76,4-16.



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jedoch keine Rolle, ja sie werden von Boethius in seinem Traktat De Trinitate nicht einmal erwähnt. Es gibt für ihn keine zwei Theologien – die mit den Mitteln der natürlichen Vernunft betriebene philosophische Gotteslehre einerseits und die aus übernatürlichen Quellen stammende biblische Offenbarungstheologie andererseits –, sondern überhaupt nur eine theologische Wissenschaft, die das immaterielle, vollständig ‚abgetrennt‘ existierende Seiende zum Gegenstand hat.20 Die bei Aristoteles noch deutlich zu beobachtende Janusköpfigkeit der Metaphysik als allumfassender Wissenschaft vom Seienden als solchem einerseits und als speziellster Wissenschaft von dem im höchsten Maße Seienden, d.h. dem Göttlichen, andererseits wird bei Boethius durch die einseitige Betonung des theologischen Aspektes abgelöst. Was seinen Ansatz darüber hinaus von dem des Aristoteles unterscheidet, ist die Zuweisung der drei theoretischen Wissenschaften zu unterschiedlichen Erkenntnisvermögen, die ihren jeweiligen Erkenntnisgegenständen proportioniert sind und somit auch die grundsätzliche Erkennbarkeit des Göttlichen durch den Menschen verbürgen: Während die Gegenstände der Physik und Mathematik durch die ratio bzw. die disciplina erkannt werden, kommt bei Boethius im Falle der Theologie der intellectus zum Einsatz, der von Natur aus dazu fähig ist, die immaterielle Wirklichkeit zu erkennen.21 Erschien die θεολογικὴ ἐπιστήμη (theologikê epistêmê) bei Aristoteles noch als ein Grenzfall menschlicher Erkenntnis, der mit den Mitteln desselben Vernunftvermögens (νοῦς) ausgeübt wird wie die Physik und Mathematik und daher nicht dauernd betrieben werden kann, ohne mit den alltäglichen Erfordernissen des menschlichen Lebens zu kollidieren, so wird sie bei Boethius von vornherein einem Erkenntnisvermögen zugeordnet, das gegenüber dem Rest der Vernunftseele ebenso separat existiert wie der ihm entsprechende göttliche Gegenstand gegenüber der ganzen übrigen Wirklichkeit. Die Fähigkeit zur vollkommenen Erkenntnis des göttlichen Wesens als reiner 20. Vgl. Andreas Speer, ‚The Hidden Heritage. Boethian Metaphysics and Its Medieval Tradition‘, Quaestio 5 (2005), 163-81, 167-8. 21. Nam cum tres sint speculativae partes, naturalis …, mathematica, … theologica, sine motu abstracta atque separabilis (nam Dei substantia et materia et motu caret): in naturalibus igitur rationabiliter, in mathematicis disciplinaliter, in divinis intellectualiter versari oportebit (A.M.S. Boethius, De Trinitate, cap. 2, in C. Moreschini [ed.], De consolatione philosophiae / Opuscula theologica [München a.o., 2000], 168-9, 68-80).

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Form22 hängt demnach nicht von Gnade und Schriftoffenbarung ab, sondern ist dem Menschen prinzipiell von Natur aus möglich, auch wenn die tatsächliche Ausübung dieses Erkenntnisvermögens de facto bei den wenigsten Menschen in Form einer rein philosophisch-metaphysischen Gotteserkenntnis erfolgt. Die Heilige Schrift ist also durchaus Offenbarung von Wahrheit, aber keiner grundsätzlich anderen Wahrheit als der, die sich mit den Mitteln der natürlichen Vernunft vollständig einholen lässt. 2.2 Der Wandel des Wissenschaftsparadigmas in der aristotelisch geprägten Scholastik des 13. und 14. Jahrhunderts Das von Boethius geprägte Theologieverständnis ist bis in die Frühscholastik hinein prägend, was sich nicht zuletzt an der großen Anzahl von Kommentaren zu seinem De Trinitate ablesen lässt, die vor allem während des 11. und 12. Jahrhunderts verfasst werden.23 Mit der Wiederaneignung des gesamten aristotelischen Textkorpus im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert ändert sich dies jedoch grundlegend, da durch die direkte Rezeption von Aristoteles’ Metaphysik der problematische, onto-theologische Doppelcharakter der ‚Ersten Philosophie‘ wieder verstärkt in den Vordergrund tritt. Des Weiteren führt die Wiederentdeckung des De anima zu einer eingehenden Beschäftigung mit der aristotelischen Seelenlehre und Erkenntnistheorie, die der sinnlichen Erfahrung eine zentrale Rolle zuweist und die Möglichkeit einer direkten Erkenntnis der ‚getrennten Substanzen‘ unter epistemologischen Gesichtspunkten fraglich erscheinen lässt. Diese beiden Faktoren führen zunächst einmal dazu, dass das frühere Ideal einer rein apriorisch-axiomatisch verfahrenden Theologie zurückgedrängt wird und der historisch-positive Charakter der Grundlagen des christlichen Glaubens wieder verstärkt in den Vordergrund tritt.24 Gleichzeitig damit erfährt der scholastische Wissenschaftsbegriff durch die Rezeption von Aristoteles’ Zweiten Analytiken jedoch eine begriffliche Präzisierung, die seine Anwendbarkeit auf die christliche Offenbarungstheologie problematisch erscheinen lässt. 22. Sed divina substantia sine materia forma est atque ideo unum est, et est id quod est (A.M.S. Boethius, De Trinitate, cap. 2, ed. Moreschini, 170, 92-4). 23. Vgl. A. Speer, ‚The Hidden Heritage‘ (2005), 166. 24. Vgl. Marie-Dominique Chenu, La théologie comme science au XIIIe siècle (Paris, 1957), 16.



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Im Rahmen der aristotelischen Wissenschaftslehre bilden die ‚Prinzipien‘ (ἀρχαί) der einzelnen Wissenschaften jene nicht weiter begründbaren, ersten Grundsätze, von denen ausgehend alle nur möglichen Erkenntnisse innerhalb des jeweiligen Wissensgebietes abgeleitet werden können.25 Das bedeutet, dass es bei Aristoteles – abgesehen von den allgemeinen Grundsätzen der formalen Logik – nicht ‚das‘ oberste Prinzip der Wissenschaften gibt, sondern einen unaufhebbaren Pluralismus von Prinzipien, deren Verschiedenheit sich aus den für die einzelnen Disziplinen jeweils bestimmenden Seinsgattungen (γένη) ergibt.26 Dabei bezieht sich die wissenschaftliche Erkenntnis in erster Linie auf die Schlussfolgerungen, die innerhalb ein und derselben Disziplin entweder in rein deduktiver oder in epagogisch-induktiver Weise auf der Grundlage des jeweiligen ‚Ersterkannten‘ gewonnen werden können.27 Nicht jede Wissensform kann, wie etwa die Geometrie, aus ihren Prinzipien und Axiomen Schlussfolgerungen von absoluter Gewissheit ziehen, doch auch dort, wo – wie etwa im Falle der Physik – die zu erkennende Wirklichkeit materieller und somit aposteriorischer Natur ist, hängen die zu gewinnenden Erkenntnisse letztlich von gewissen ersten Prinzipien ab, die der bewegten, veränderlichen Wirklichkeit als solcher eigen sind und der auf sie bezogenen Wissenschaft Einheit verleihen. Man könnte somit die innere Struktur der aristotelischen Wissenschaften als longitudinal-diskursiv bezeichnen, da sie stets nur innerhalb der Grenzen ihrer je eigenen Seinsgattung (γένος) fortschreiten können. Diese Wissenschaftsauffassung wirft für die christliche Theologie insofern Probleme auf, als nach aristotelischer Auffassung die Prinzipien jeder Wissenschaft aus sich selbst heraus bekannt sein müssen.28 Es genügt also nicht, dass der theologische Diskurs als solcher dem Kriterium der deduktiven Verkettung rational nachvollziehbarer Argumente genügt, sondern vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern die Grund­ annahmen, auf die er sich stützt, den Anspruch auf rationale Evidenz erheben können. Diese Frage ist im Rahmen der christlichen Theologie weniger leicht zu beantworten als innerhalb der antiken Philosophie, da die anthropologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 25. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 10, 76 a 31-4. 26. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 28, 87 a 38-9. 27. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 1, 71 a 5-9. 28. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 6, 75 a 28-31.

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nicht dieselben sind. Die Reichweite des menschlichen Intellekts ist nicht mehr in eindeutiger Weise zu bestimmen, sondern wird in zweifacher Hinsicht differenziert, nämlich zum einen hinsichtlich des Unterschiedes zwischen der irdischen Existenz in via und dem jenseitigen Leben in patria und zum anderen mit Blick auf den Zustand des Menschen vor und nach dem Sündenfall. Das, was der menschlichen Erkenntnis de iure grundsätzlich möglich ist bzw. möglich gewesen wäre, ist somit nicht mehr deckungsgleich mit dem, was sie unter den gegenwärtigen Bedingungen de facto zu erreichen vermag. Das boethianische Modell eines univoken Theologiebegriffs, der sich aus dem intellectus als dem natürlichen Erkenntnisvermögen der immateriellen Wirklichkeit ergibt, wird in der aristotelisch geprägten Scholastik des 13. Jahrhunderts daher abgelöst durch die endgültige methodische Unterscheidung zwischen der Metaphysik, die Gott nur insofern betrachtet, als er mit den Mitteln der natürlichen Vernunft erschlossen werden kann, und der Offenbarungstheologie, die die göttliche Substanz, wie sich in sich selbst ist, zum Gegenstand (subiectum) hat. Da diese der menschlichen Vernunft als solcher unzugänglich ist, kann die Kenntnis der offenbarungstheologischen Prinzipien nur aus der freien Selbstmitteilung Gottes stammen und ist von Seiten des Menschen nicht mehr durch denkerische Bemühungen einzuholen, sondern lediglich im Glauben anzunehmen. Die genaue Bestimmung des für die Offenbarungstheologie spezifischen subiectum vollzieht sich dabei stets in Abgrenzung zum subiectum der Metaphysik und setzt die weiter gefasste Frage nach dem eigentlichen und angemessenen Gegenstand, dem obiectum proprium, der menschlichen Erkenntnis voraus. Unter den verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts ragen die des Thomas von Aquin und des Duns Scotus besonders hervor, da an ihnen zwei paradigmatische Grundmuster des Verhältnisses von Offenbarungstheologie und Metaphysik ablesbar werden, die für das Verständnis von Meister Eckharts Ansatz von zentraler Bedeutung sind. Sowohl Thomas als auch Duns Scotus kommen darin überein, dass die Metaphysik als primäres und eigentliches subiectum das Seiende als solches (ens inquantum ens) hat, doch fällt die genaue Bestimmung dessen, was mit dem ‚Seienden‘ jeweils gemeint ist und in welcher Beziehung Gott dazu steht, sehr unterschiedlich aus.



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Thomas von Aquin ist bestrebt, die christliche Offenbarungstheologie so weit wie möglich dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff anzugleichen. Zu diesem Zweck muss er den dazugehörigen Prinzipienbegriff allerdings dahingehend umdeuten, dass die dafür erforderliche Evidenz aus dem Bereich des theologietreibenden menschlichen Geistes ausgelagert wird in den göttlichen Intellekt.29 Da Gottes Wesen nur für Gott selbst adäquat erkennbar ist, besitzt auch nur er die für die Theologie als Wissenschaft konstitutiven Prinzipien im Modus evidenter Erkenntnis. Eine unter den Bedingungen des irdischen Lebens betriebene Theologie ist daher nur unter der Bedingung als Wissenschaft möglich, dass eine grundsätzliche Kontinuität zwischen der göttlichen Selbsterkenntnis und ihrer abgeleiteten, theoretischen Kenntnis durch den Menschen besteht. Diese Konzeption führt dazu, dass Thomas die Offenbarungstheologie als scientia subalterna konzipiert, die die für sie konstitutiven Prinzipien nicht selbst beweisen kann, sondern von Gott als dem eigentlichen Besitzer dieser Erkenntnis übernehmen muss. Unter dieser Voraussetzung kann die Theologie dann allerdings mit den Mitteln des rationalen Diskurses fortschreiten und ausgehend von den ihr im Glauben vorgegebenen Prinzipien alle abgeleiteten theologischen Einzelwahrheiten erschließen.30 Der Ehrgeiz, die Offenbarungstheologie so weit wie möglich als θεωρία (theôria) bzw. als scientia speculativa zu fassen, führt allerdings dazu, dass Thomas die Reichweite der Metaphysik als natürlicher Wissenschaft von den ersten Prinzipien beschneiden muss, um zu verhindern, dass sie zum Erkenntnisanspruch der christlichen Theologie in Konkurrenz tritt. In seinem Kommentar zu Boethius’ De Trinitate erkennt Thomas zwar grundsätzlich die Tatsache an, dass die Metaphysik von dem handelt, was getrennt von der Materie existieren kann, doch bezieht er dies in erster Linie auf die allgemeinen Grundsätze des Seins und der Erkenntnis, die vom ‚Seienden als solchem‘ gelten, unabhängig davon, ob es in der Materie oder getrennt von ihr existiert. Das im starken Sinne Immaterielle – d.h. das Göttliche sowie die übrigen getrennten Substanzen, die als rein geistige Formen existieren – kommt dagegen 29. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 2 c. 30. Utitur tamen sacra doctrina etiam ratione humana: non quidem ad probandum fidem, quia per hoc tolleretur meritum fidei; sed ad manifestandum aliqua alia quae traduntur in hac doctrina (Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 8 ad 2).

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nur indirekt ins Spiel, nämlich insofern es als Prinzip der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit fungiert und im Ausgang von dieser erschlossen werden kann. Für die Metaphysik bedeutet dies, dass Gott nicht Teil ihres subiectum ist, sondern nur als principium subiecti thematisiert werden kann. Der Begriff principium steht in diesem Zusammenhang für den realen Seinsgrund, der der menschlichen Vernunft nicht in apriorischer Weise bekannt ist, sondern nur aufgrund seiner wirkursächlichen Verbindung mit dem geschaffenen Sein aposteriorisch erkannt werden kann.31 Offenbarungstheologie und Metaphysik erscheinen demnach zwar beide als theoretische Wissenschaften im eminenten Sinne, unterscheiden sich jedoch in bleibender Weise secundum genus, d. h. durch die ihnen jeweils zugrunde liegende Seinsgattung.32 Es liegt auf der Hand, dass Thomas’ Ansatz unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten mehrere Schwierigkeiten in sich birgt. So setzt sein Modell der Offenbarungstheologie als scientia subalterna voraus, dass innerhalb ein und derselben Wissenschaft zwei verschiedene epistemologische Grundhaltungen zum Tragen kommen: hinsichtlich der Prinzipien der Modus des rational nicht einholbaren Glaubens, mit Blick auf die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen dagegen der Modus des theoretischen Wissens. Diese Konzeption birgt die Gefahr, dass die als Wissenschaft betriebene Theologie sich von der alltäglichen Glaubenspraxis der einfachen Christen zunehmend entfernt und auch zur ethisch-existenziellen Grunddisposition des Theologen in keinem inneren Zusammenhang mehr steht. Thomas’ Bestreben, eine Konkurrenz zwischen Metaphysik und Offenbarungstheologie möglichst zu vermeiden, führt ihn des Weiteren dazu, die Reichweite der menschlichen Vernunft von vornherein so eng zu fassen, dass nicht nur eine diesseitige Erkenntnis der getrennten Substanzen, sondern selbst die Gottesschau im Jenseits außerhalb der Grenzen ihrer natürlichen Möglichkeiten 31. Haec autem triplex consideratio, non diversis, sed uni scientiae attribui debet. Nam praedictae substantiae separatae sunt universales et primae causae essendi. Eiusdem autem scientiae est considerare causas proprias alicuius generis et genus ipsum: sicut naturalis considerat principia corporis naturalis. Unde oportet quod ad eamdem scientiam pertineat considerare substantias separatas, et ens commune, quod est genus, cuius sunt praedictae substantiae communes et universales causae. Ex quo apparet, quod quamvis ista scientia praedicta tria consideret, non tamen considerat quodlibet eorum ut subiectum, sed ipsum solum ens commune (Thomas von Aquin, In XII libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, Prooemium; vgl. auch id., In Boethii De Trinitate, q. 5 c). 32. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 1 ad 2.



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liegt.33 Der angemessene Gegenstand der menschlichen Vernunft ist lediglich die Wesensstruktur der materiellen Dinge (quidditas rei materialis), die nur mittels der empirischen Erfahrung erkannt werden kann. Dies hat die problematische Konsequenz, dass die jenseitige Glückseligkeit damit strenggenommen nicht mehr die natürliche Verwirklichung eines immanent im Menschen angelegten, natürlichen Telos darstellt, sondern ebenso von außen an ihn herangetragen wird wie die geoffenbarten Glaubenssätze während des irdischen Lebens. Duns Scotus unterzieht diese problematischen Aspekte von Thomas’ Ansatz einer deutlichen Kritik und versucht, ihnen durch eine grundsätzlich andere Metaphysik- und Theologiekonzeption zu begegnen. Sein Bestreben geht nicht länger dahin, die christliche Offenbarungstheologie so weit wie möglich mit dem aristotelischen Wissenschaftsparadigma kompatibel zu machen, sondern er betont von vornherein ihre Anders­ artigkeit, insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Disziplinen kein allgemeines, sondern ein absolut singuläres subiectum besitzt, nämlich Gott.34 Allerdings kann die theoretische göttliche Selbsterkenntnis für Scotus nicht mehr als Ursprung der Prinzipien der von Menschen betriebenen Theologie fungieren, sondern diese ist vielmehr als praktische Wissenschaft zu fassen, die keiner anderen Wissenschaft unter- oder übergeordnet ist, sondern von vornherein eine besondere Stellung genießt.35 Dafür billigt Scotus der menschlichen Vernunft als solcher eine größere Reichweite zu als Thomas, da der ihr angemessene Gegenstand – das ens inquantum ens – mit dem spezifischen subiectum der Metaphysik zusammenfällt. Der Ausdruck ens hat bei Duns Scotus jedoch insofern eine besondere Bedeutung, als er mit Blick auf Gott und die geschaffene Wirklichkeit in der gleichen, univoken Weise ausgesagt werden kann. Anders als bei Thomas ist bei Scotus daher Gott unter dem Gesichtspunkt der Gottheit (sub ratione deitatis) Teil des Gegenstandsbereichs der Metaphysik, allerdings nicht in Form einer direkten, intuitiven Erkenntnis seiner göttlichen Natur, sondern 33. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 12, a. 7 c; a. 11 c. 34. Vgl. Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensia, Lib. I, Prol., quaestiuncula 3 [15], in G. Lauriola (ed.), Opera omnia II/2 (Bari a.o., 1999), 47. 35. Vgl. Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensia, Lib. I, Prol., quaestiuncula 4 [17], Opera omnia II/2, ed. Lauriola, 48; vgl. auch id., Lectura in librum primum Sententiarum, Prol., pars 4, q. 2 [164], in C. Balić et al. (eds.), Opera omnia XVI (Città del Vaticano, 1960), 54.

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nur, insofern er als ein Seiendes im weitesten, formalen Sinne angesprochen werden kann.36 Duns Scotus versteht unter dem subiectum nicht nur den allgemeinen Gesichtspunkt, unter dem die einzelnen Erkenntnisgegenstände innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin betrachtet werden, sondern auch und vor allem den epistemologischen Ausgangspunkt, der virtuell sämtliche Erkenntnisse enthält, die man in der betreffenden Wissenschaft überhaupt gewinnen kann. Insofern Gott als ens infinitum Teil des subiectum der Metaphysik ist, kann man daher zumindest eine gewisse Anzahl distinkter, systematisch geordneter Attribute apriorisch ableiten, die auf Gott selbst zutreffen, ohne dass man ihn zur geschaffenen, außergöttlichen Wirklichkeit in Beziehung setzen müsste. Zwar handelt es sich hier nur um eine abstraktive Erkenntnis Gottes, die von der intuitiven Gottesschau im Jenseits nach wie vor unterschieden bleibt;37 der prinzipielle Rahmen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit – das Seiende als solches – wird allerdings bei Scotus auch durch die visio beatifica nicht grundsätzlich überschritten, sondern nur hinsichtlich der unmittelbaren Erkenntnis der darin virtuell enthaltenen, konkreten Inhalte durchgängig weiterbestimmt und ausgefüllt. Auch wenn der formale Seinsbegriff bei Duns Scotus jenen Indifferenzpunkt darstellt, der eine univoke philosophische Gottesrede ermöglicht, so betrifft die Univozität doch lediglich die Objektseite der Erkenntnis, nicht aber die Seite des denkenden und glaubenden Subjekts. Der Umstand, dass die Metaphysik nicht mehr als Wissenschaft vom Seienden als solchem, sondern lediglich als Wissenschaft vom Begriff des Seienden (conceptus entis) in seiner größtmöglichen Allgemeinheit definiert wird, hat zur Folge, dass das metaphysische Denken sich nicht mehr direkt auf reale Existenz bezieht und folglich auch für den Philosophierenden selbst keinerlei existenzielle Relevanz mehr haben kann. Der univoke Berührungspunkt zwischen Gott und Mensch ist somit nur unter der Bedingung univok, dass er gerade nicht mehr im 36. Deus sub ratione Deitatis, ut in se, est contentum sub ente, quod est per se obiectum primum intellectus nostri (Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensia, Lib. I, Prol., q. 3 [4], Opera omnia II/2, ed. Lauriola, 43). 37. Deus potest cognosci distincte cognitione abstractiva. Sed talis cognitio Dei abstractiva non repugnat viatori, licet cognitio intuitiva sibi non competat; igitur viator potest intelligere Deum distincte, licet non intuitive et clare, quia non omnis distincta cognitio est clara et intuitiva (Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensia, Lib. I, Prol., q. 2 [15], Opera omnia II/2, ed. Lauriola, 37).



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realen Sinne ist, sondern lediglich auf apriorisch-abstraktive Gedankenbeziehungen verweist, deren Wirklichkeitsgehalt nur ausgehend von der Erfahrung ermittelt werden kann.38 Auch wenn Duns Scotus der Metaphysik und der menschlichen Erkenntnis eine größere Reichweite zubilligt als Thomas von Aquin, bleibt die Aufgabe eines existenziell relevanten Orientierungswissens daher nach wie vor der Theologie vorbehalten, die – im Gegensatz zum tendenziell derealisierten Gegenstandsbereich der Metaphysik – in praktischer Weise auf konkrete, singuläre Wirklichkeit bezogen ist. 3. Das egologische Fundament von Meister Eckharts Wissenschaftstheorie Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten wissenschaftstheoretischen Grundsituation im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert wirkt Meister Eckharts philosophisch-theologischer Ansatz auf den ersten Blick wie ein Anachronismus. Obwohl er dank seiner Studien- und Lehrtätigkeit an der Pariser Universität zweifellos über die damaligen Debatten zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Offenbarungstheologie im Bilde ist, scheint das für seine Zeitgenossen unumstößlich geltende Grundprinzip der unaufhebbaren Dualität dieser beiden Disziplinen in seinem Denken keine Spuren hinterlassen zu haben, ebenso wenig wie die Verschärfung ihrer wechselseitigen Kompetenzabgrenzung im Gefolge der Verurteilung des averroistisch geprägten Aristotelismus im Jahre 1277.39 Dennoch wäre es eine unzulässige Vereinfachung, Eckharts Ansatz als eine bloße Rückkehr zum älteren Modell einer sapientia christiana nach patristischem Muster zu deuten, die unter ‚Metaphysik‘ ­vornehmlich eine Mystagogie der christlichen Existenz versteht.40 Die aristotelische Philosophie sowie die Interpretationen der arabischen 38. Vgl. Jean-François Courtine, Suárez et le système de la métaphysique (Paris, 1990), 137-54; Albert Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert (Leuven, 21998), 316-29. 39. Vgl. Andreas Speer, ‚Zwischen Erfurt und Paris: Eckharts Projekt im Kontext‘, in A. Speer and L. Wegener (eds.), Meister Eckhart in Erfurt, Miscellanea Mediaevalia 32 (Berlin a.o., 2005), 3-33, 13-5. 40. Vgl. Theo Kobusch, ‚Metaphysik als Lebensform‘, in W. Goris (ed.), Die Metaphysik und das Gute. Aufsätze zu ihrem Verhältnis in Antike und Mittelalter: FS J. A. Aertsen (Leuven, 1999), 29-56, 49-50.

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Aristoteles-Kommentatoren sind in Eckharts Denken nicht weniger präsent als die patristischen und frühscholastischen Autoren, ohne dass dies dem Grundgedanken einer fundamentalen Einheit von theoretisch erkannter Wahrheit und praktisch gelebter Wahrhaftigkeit Eintrag täte. Sein Ansatz kann als ein Versuch verstanden werden, auf die Probleme und Aporien in den wissenschaftstheoretischen Ansätzen seiner Zeitgenossen zu antworten, indem er die gängigen Unterteilungen zwischen Theologie und Metaphysik, Theorie und Praxis sowie Wissenschaft und Leben in Frage stellt und letztlich auf originelle Weise unterläuft. Meister Eckharts systematischer Standort ist insofern schwer zu bestimmen, als in seinen Schriften ganz verschiedene, um nicht zu sagen disparat wirkende Modelle einer Wissenschaftsarchitektonik scheinbar unverbunden nebeneinander stehen. So greift er in einem seiner frühesten akademischen Texte, nämlich einer lateinischen Universitätspredigt zum Fest des Hl. Augustinus aus dem Jahre 1293, explizit auf Boethius’ Einteilung der drei theoretischen Disziplinen zurück, an deren Spitze die Theologie steht, die im Gegensatz zur Physik und Mathematik intellectuabiliter (sic!) vorzugehen habe, um Gott als die reine Form zu erkennen.41 Damit sieht es zunächst so aus, als würde sich Eckhart einfach wieder dem erkenntnistheoretischen Modell aus De Trinitate zuwenden, das von einem strikten Parallelismus von Erkenntnisvermögen und Erkenntnisgegenstand ausgeht, die christliche Theologie mit der aristotelischen θεολογικὴ ἐπιστήμη (theologikê epistêmê) gleichsetzt und sie damit von einer positiv-historischen Offenbarung grundsätzlich unabhängig macht. Einer solchen Deutung steht jedoch die Tatsache entgegen, dass Eckhart, anders als Boethius, den so bestimmten Begriff der theologia zugleich auch als ethica bezeichnet und ihr damit neben der theoretischen zugleich auch eine praktische Dimension zuspricht.42 Die von Eckhart an dieser Stelle nicht weiter kommentierte, fast nonchalant wirkende Gleichsetzung der beiden Disziplinen – ethica sive theologia – lässt vermuten, dass seinem Denken ein besonders geartetes

41. Vgl. Eckhart, Sermo die b. Augustini n. 2, LW V 90, 2-5. 42. Vgl. Eckhart, Sermo die b. Augustini n. 2, LW V 90, 1; vgl. auch Andreas Speer, ‚Ethica sive theologia. Wissenschaftseinteilung und Philosophieverständnis bei Meister Eckhart‘, in J. A. Aertsen and A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter?, Miscellanea Mediaevalia 26 (Berlin a.o., 1998), 683-93, 686-90.



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Wissenschaftsverständnis zugrunde liegt, dessen systematische Grund­ lagen es zu erschließen gilt. Eckharts lateinische Schriften heben sich allein schon durch ihre literarische Form von den Werken zeitgenössischer Scholastiker ab: Während diese zumeist systematische Gesamtwerke in Form von Sentenzenkommentaren, Summen, Traktaten und fortlaufenden Aristoteleskommentaren produzieren, verfasst Eckhart lediglich eine verhältnismäßig geringe Anzahl von scholastischen Quaestiones und entfaltet dafür einen Großteil seines philosophisch-theologischen Ansatzes im Rahmen seiner Schriftkommentare, die Teil eines großangelegten Gesamtentwurfs, des Opus tripartitum, sind. Ursprünglich sollte dieses ‚dreigeteilte Werk‘ aus einem satzhaft-axiomatischen, einem systematisch-argumentativen und einem exegetischen Block von Schriften bestehen, wurde aber nur in sehr partieller, fragmentarischer Form ausgeführt. Eckharts Plan zufolge sollte also jeweils ein und dieselbe Fragestellung – wie etwa das Verhältnis zwischen Gott und dem Sein – auf drei verschiedene Weisen abgehandelt werden, von denen die ersten beiden begrifflich-apriorischer Natur gewesen wären, die dritte hingegen – aufgrund des Ausgehens vom Bibeltext – einen positiv-aposteriorischen Charakter gehabt hätte. Das Opus tripartitum hätte somit philosophische Theologie und Offenbarungstheologie in sich vereint, und zwar nicht nur in Form eines bloßen Nebeneinanders, sondern in Form eines Übergangs von einem Diskurskontext zum anderen. Eigenartigerweise enthalten jedoch selbst die erhaltenen Prologe zu diesem Gesamtwerk keine systematische Erörterung der damals schon klassischen Frage nach dem subiectum proprium der Metaphysik im Unterschied zu dem der Offenbarungstheologie, und das, obwohl die metaphysischen Transzendentalienbegriffe – ens, unum, verum und bonum – eine zentrale Rolle bei der inhaltlichen Gliederung des Opus tripartitum hätten spielen sollen.43 Muss man also daraus schließen, dass Eckhart die Frage nach den subiecta der einzelnen Wissenschaften nie ausdrücklich erörtert hat,44 oder entsteht der Eindruck der Unterlassung womöglich dadurch, dass man die Antwort nur an einer ganz bestimmten, herausgehobenen Stelle seiner Schriften sucht anstatt innerhalb seines gesamten Werkes? 43. Vgl. Eckhart, Prol. gen. in Op. tripart. n. 4, LW I 150, 1-4. 44. So die These bei A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? (21998), 1.

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In der Tat bieten Eckharts Bibelkommentare den Schlüssel zu seiner Wissenschaftstheorie. Das Proömium zu seinem Johanneskommentar legt die methodologischen Koordinaten von Eckharts exegetischem Programm fest. Das Faktum der biblischen Schriftoffenbarung des Alten und Neuen Testaments wird von Eckhart zunächst einmal ganz selbstverständlich vorausgesetzt,45 doch soll die Bibel, wie er ausdrücklich betont, ‚mit den natürlichen Vernunftgründen der Philosophen‘ (per rationes naturales philosophorum)46 ausgelegt werden. Diese hermeneutische Grundoption bedeutet keineswegs, dass der Buchstabe des biblischen Textes gewaltsam einem ihm fremden Auslegungskriterium unterworfen würde; vielmehr sind die rationes naturales deswegen auf die Heilige Schrift anwendbar, weil diese von vornherein nicht in anthropologischer Verengung als eine religiös-moralische Erbauungsschrift, sondern zugleich immer auch als ein Lehrbuch über die Prinzipien, Schlussfolgerungen und Eigentümlichkeiten der Naturdinge angesehen wird.47 Mit anderen Worten: Die Bibel wird der philosophischen Auslegungsmethode nicht als passiver Gegenstand unterworfen, sondern ist selbst Trägerin philosophischer Vernunfterkenntnis in all ihren Ausprägungsformen. Das bedeutet, dass es trotz des positiv-faktischen Charakters des biblischen Textes bei Eckhart – anders als bei Thomas von Aquin – zu keinem epistemologischen Bruch zwischen den nur im Glauben zugänglichen Prinzipien der Theologie und den mit den Mitteln der Vernunft daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen kommt. Das, was dem Glauben zunächst als ein vermeintlich äußeres, heterogenes Faktum gegenübersteht, soll im Laufe von Eckharts philosophischer Exegese auf seinen immer schon darin ­liegenden Vernunftgehalt hin durchsichtig gemacht werden, ohne dass der Text als solcher dadurch seine Relevanz verlöre.48 Insofern nimmt es nicht wunder, dass Eckhart auch seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen innerhalb seiner exegetischen Werke, vor allem im Rahmen seines Johanneskommentars, entfaltet. Die Kernpassagen betreffen dabei in durchaus traditionell wirkender Manier zum 45. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 125, LW III 108, 8-11. 46. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 2, LW III 4, 5-6. 47. Rursus intentio operis est ostendere, quomodo veritates principiorum et conclusionum et proprietatum naturalium innuntur luculenter … in ipsis verbis sacrae scripturae, quae per illa naturalia exponuntur. Interdum etiam ponuntur expositiones aliquae morales (Eckhart, In Ioh. n. 3, LW III 4, 14-7; vgl. auch ibid. n. 186, LW III 156, 4-6). 48. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 158, LW III 130, 13-131, 4.



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einen die Frage nach dem Gegenstandsgebiet der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie ihr systematisches Verhältnis untereinander und zum anderen die Frage nach dem angemessenen Gegenstand des menschlichen Intellekts. Die Verknüpfung dieser beiden Fragestellungen ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches, da gemäß der scholastischen Erkenntnistheorie das Verhältnis einer Wissenschaft zu dem ihr eigenen subiectum in analoger Entsprechung zum Verhältnis zwischen einem Erkenntnisvermögen und seinem spezifischen Erkenntnisgegenstand gefasst wird.49 Die ungewöhnliche Art und Weise, in der Eckhart die Frage nach dem obiectum proprium des menschlichen Intellekts beantwortet, ist daher auch der Grund für seine besonders geartete Wissenschaftsarchitektonik, die die einzelnen Disziplinen zwar nicht zum Verschwinden bringt, aber sie aufeinander hin transparent macht und in dynamischer Weise zueinander in Beziehung setzt. Eckharts Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er die gängige Definition der Wissenschaft als habitus conclusionum, d.h. als einer von den allgemeinen Prinzipien zu den einzelnen Schlussfolgerungen linear fortschreitenden Diskursivität, unterläuft. Zwar verwendet er ebenfalls die Begriffe principium, subiectum und obiectum, unterlegt ihnen aber eine andere Bedeutung, die sich aus seinem spezifischen Intellektverständnis ergibt. Eckharts Bestimmung der Physik als derjenigen Wissenschaft, die es mit der zeitlichen, von Werden und Vergehen geprägten Naturwirklichkeit zu tun hat, stimmt noch weitgehend mit der gängigen, aristotelisch-scholastischen Definition überein.50 Allerdings ist er – anders als Aristoteles und die meisten aristotelisch geprägten Scholastiker – nicht der Ansicht, dass diese empirisch-materielle Wirklichkeit in jeder Hinsicht den notwendigen Ausgangspunkt für die menschliche Erkenntnis bildet. Letztere ist nur in dem Maße auf Sinneseindrücke angewiesen, wie es um die Erkenntnis der innerweltlichen Dinge in ihrem konkreten, raumzeitlichen Dies-und-das-Sein geht. Der dem Menschen eigene Intellekt als solcher hat jedoch nicht nur die durch Abstraktion von den Sinneseindrücken gewonnenen Wesenheiten der Naturdinge zu seinem

49. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 7 c. 50. Physica autem, cuius subiectum est ens mobile in quantum mobile, non duas tantum intrinsecas, sed etiam extrinsecas causas speculatur (Eckhart, In Ioh. n. 443, LW III 380, 9-10).

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angemessenen Gegenstand, sondern vermag die rationes der Dinge direkt in ihren ersten Ursprüngen zu erfassen.51 Der Intellekt ist dazu in der Lage, weil er nicht auf die Erkenntnis der materiellen Wirklichkeit beschränkt ist, sondern das Seiende als solches (ens inquantum ens) zu seinem Gegenstand hat,52 das für Eckhart zugleich auch mit dem spezifischen Gegenstand der metaphysischen Erkenntnis identisch ist.53 Auf den ersten Blick scheint Eckhart damit in die Richtung der von Avicenna, Thomas von Aquin und den meisten anderen Scholastikern favorisierten Definition des subiectum proprium der Metaphysik zu gehen. Obwohl sich Eckhart in seinen Werken des Öfteren auf Avicenna und dessen Metaphysikdefinition beruft,54 gibt er der Bedeutung des ens inquantum ens jedoch eine besondere Wendung. Das ens steht bei ihm weder, wie bei Thomas von Aquin, für das kreatürliche ‚Sein im allgemeinen‘ (ens commune) noch, wie bei Duns Scotus, für den univoken Begriff des Seins (ens univocum), der in seiner formalen Allgemeinheit sowohl Gott als auch die Geschöpfe umfasst, sondern bezeichnet ‚das bloße, einfache und absolute Sein‘ (ens nudum simpliciter et absolute) bzw. jene ‚Fülle des Seins‘ (plenitudo esse), die mit der ‚bloßen Substanz Gottes‘ (nuda dei substantia) identisch ist. Für Thomas von Aquin ist die ‚Substanz Gottes, wie sie in sich selbst ist‘, der spezifische Gegenstand der christlichen Theologie, der uns Menschen unter den Bedingungen irdischer Erkenntnis nicht direkt zugänglich ist, sondern uns nur durch Gott selbst geoffenbart werden kann.55 In Eckharts Augen hingegen kann die ‚bloße Substanz Gottes‘ bereits durch den Intellekt als solchen erreicht werden, ja sie stellt als Fülle des absoluten, bestimmungslosen Seins sogar dessen angemessenen Gegenstand dar.56 Im Grunde ist der Begriff des ‚Gegenstandes‘ (obiectum) in diesem Zusammenhang irreführend, wenn man darunter ein intentional 51. Vgl. Eckhart, Super Eccl. n. 9, LW II 238, 2-7; id., In Ioh. n. 29, LW III 22, 13-23, 2. 52. Intellectus enim, in quantum intellectus, est similitudo totius entis, in se continens universitatem entium, non hoc aut illud cum praecisione. Unde et eius obiectum est ens absolute, non hoc aut illud tantum (Eckhart, In Gen. I n. 116, LW I 272, 3-6); vgl. auch id., In Sap. n. 10, LW II 331, 2. 53. Vgl. Eckhart, In Gen. II n. 121, LW I 386, 9-11; id., In Ioh. n. 443, LW III 380, 7-9. 54. Vgl. Eckhart, Prol. gen. in Op. tripart. n. 9, LW I 154, 4-6; id., In Exod. n. 169, LW II 147, 10-4. 55. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1, a. 6 c; a. 8 ad 2. 56. Obiectum autem intellectus proprie est ens nudum simpliciter et absolute …. Patet ergo quod … plenitudinem esse quae est nostra beatitudo, deus scilicet, consistit, invenitur, accipitur, attingitur et hauritur per intellectum (Eckhart, In Ioh. n. 677, LW III 591, 6-11).



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anvisierbares Gegenüber versteht. Eckharts Konzeption der ‚reinen Substanz‘ in ihrer völligen Bestimmungslosigkeit macht aus dem göttlichen Sein kein diffuses, anonymes Apeiron, über das man redet, sondern ist vielmehr Synonym jener vollendet reflexiven Selbsterkenntnis und Selbsthabe, die sich in der Verwendung des Pronomens ‚ich‘ manifestiert. Diese Überschreitung des aristotelischen Substanzbegriffes auf den Begriff der selbstbewussten Subjektivität hin erfolgt in Eckharts Exoduskommentar, genauer gesagt: in seiner Auslegung zu Ex 3,14. Die Aussage Ego sum qui sum wird von Eckhart nicht in einem primär ontologischen Sinne (‚Ich bin der, der ist‘), sondern in einem egologisch-performativen Sinne (‚Ich bin, der ich bin‘) gedeutet. Mit anderen Worten: Diese Selbst­offenbarung Gottes teilt dem Menschen keine Kenntnis über diese oder jene ‚Eigenschaft‘ Gottes mit, die man ihm hinsichtlich seines Bezuges zur Schöpfung beilegen könnte, sondern ist Selbstmanifestation des absoluten Intellekts in seinem energetischen Aktcharakter. Eckhart schreibt: Ich ist Fürwort der ersten Person. Das unterscheidende Fürwort bezeichnet die reine Substanz, die reine, sage ich, ohne alles Zufallende (Akzidens), ohne irgend etwas Fremdes, die Sub­ stanz ohne Beschaffenheit, ohne diese oder jene Form, ohne Dies oder Jenes. … die Wiederholung: ich bin, der ich bin zeigt die Lauterkeit der Bejahung unter Ausschluß jeder Verneinung von Gott an. Wiederum auch eine Art Rückwendung des Seins zu sich und auf sich selbst und ein Verharren oder Feststehen in sich, ferner aber gleichsam ein Aufwallen oder Sichselbst­ gebären – in sich brausend und in sich und auf sich fließend und wallend, Licht, das in Licht und zu (neuem) Licht (erstrahlt), das sich selbst ganz durchdringt, das von allen Seiten ganz auf sich selbst zurückfließt und -strahlt … Daher heißt es: ‚In ihm war das Leben‘ (Joh 1,4). Leben nämlich bedeutet eine Art Überquellen, wodurch etwas in sich selber anschwillt und sich zuerst ganz und gar in sich selbst ergießt, jedes Teilchen mit sich selbst durchdringend, bevor es sich ausgießt und überwallt.57 57. Li ego pronomen est primae personae. Discretivum pronomen meram substantiam significat; meram, inquam, sine omni accidente, sine omni alieno, substantiam sine qualitate, sine forma hac aut illa, sine hoc aut illo. … repetitio, quod bis ait: ‚sum qui sum‘, puritatem affirmationis excluso omni negativo ab ipso deo indicat; rursus ipsius esse quandam in se ipsum et super se ipsum reflexivam conversionem et in se ipso mansionem sive fixionem; adhuc autem quandam bullitionem sive parturitionem

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Vor dem Hintergrund einer solchen Auslegung von Ex 3,14 wandelt sich Eckharts Verständnis von Offenbarung in grundlegender Weise. Aufgrund der absoluten Einfachheit und Unteilbarkeit des ‚Ich‘-Aktes kann Gott uns gar nicht nur ‚etwas‘ von sich mitteilen, sondern geht ganz in seiner restlosen, rückhaltlosen Selbsterschließung auf. Insofern Gott nichts anderes ist als reine intellektuelle Dynamik, kann diese Offenbarung auf Seiten des Menschen wiederum nur unter der Bedingung aufgenommen werden, dass dieser auch über ein dazu proportioniertes, d.h. ebenso grenzenlos offenes Erkenntnisvermögen verfügt. Dies ist für ­Eckhart die Vernunft, aber nicht im Sinne der diskursiven ratio, sondern im Sinne des intellectus, der nicht erst durch Gnade, sondern bereits von Natur aus über-natürlich ist.58 Genaugenommen handelt es sich bei dieser Offenbarung auch gar nicht um die Mitteilung von Inhalten, die von außen an den Intellekt herangetragen würden, sondern die Offenbarung ist im eigentlichen Sinne immer schon beim Intellekt und in ihm als dessen eigenes Wesen.59 Die Eigenschaftslosigkeit und Unteilbarkeit des Ich als Akt der absolut reinen Substanz bedeutet letztlich aber auch, dass es im Grunde widersinnig ist, von einem ‚göttlichen Ich‘ im Unterschied zu einem ‚nur menschlichen Ich‘ zu reden. Das Ich als solches verträgt keine näheren Bestimmungen, sondern ist in allen intellektuellen Bewusstseinszentren im strengen Sinne ein und dasselbe, d.h. ein sich überall und zu jeder Zeit in absoluter Identität vollziehendes singulare tantum. Insofern das göttliche Wesen als Reinheit des Seins nichts anderes ist als vollkommene ichliche Selbstreflexion und Selbsthabe, könnte man daher sagen, dass für Eckhart das Ich nicht nur, wie bei Schelling, als Prinzip der Philosophie fungiert, sondern ebenso auch das Prinzip der Theologie darstellt, das dem Intellekt des Menschen immer schon innewohnt und nur noch ausgefaltet werden muss.60 sui – in se fervens et in se ipso et in se ipsum liquescens et bulliens, lux in luce et in lucem se toto se totum penetrans, et se toto super se totum conversum et reflexum undique … Propter hoc Ioh. 1 dicitur: ‚in ipso vita erat‘. Vita enim quandam dicit exseritionem, qua res in se ipsa intumescens se profundit primo in se toto, quodlibet sui in quodlibet sui, antequam effundat et ebulliat extra (Eckhart, In Exod. n. 14, LW II 20, 3-5; ibid. n. 16, LW II 21, 7-22, 6). 58. Vgl. Eckhart, Super Eccl. n. 10, LW II 240, 1-5; id., In Sap. n. 95, LW II 428, 4-7. 59. Revelatio proprie est apud intellectum vel potius in essentia animae quae proprie esse respicit. Esse autem deus esse nudum sine velamine est (Eckhart, Sermo XI,1 n. 115, LW IV 108, 11-2). 60. In virtute enim primorum principiorum naturaliter animae impressorum a deo est virtualiter et radicaliter omnis scientia secundum omne sui (Eckhart, In Gen. II n. 217, LW I 694, 7-9).



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Diese Konzeption des Intellekts und seines ihm angemessenen Gegenstandes hat tiefgreifende wissenschaftstheoretische Konsequenzen, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Offenbarungstheologie und Metaphysik. Der berühmte Satz aus Eckharts Johanneskommentar ‚Das Evangelium betrachtet das Seiende als solches‘ (Evangelium contemplatur ens inquantum ens)61 wirkt bei oberflächlicher Betrachtung wie ein methodologischer Kurzschluss zwischen dem ‚Gegenstand‘ der Offenbarungstheologie und dem ‚Gegenstand‘ der aristotelischen Ersten Philosophie, doch der Eindruck trügt: Eckhart betrachtet das Evangelium nicht als ein lediglich historisches Zeugnis über die Person Jesu in ihrer kontingenten, faktischen Individualität, sondern er liest diesen Text als Selbstmanifestation des Logos, der die Wahrheit in der absolut ursprunghaften Form der undeklinierbaren ‚Ich bin‘-Aussagen verkündet.62 Ebenso steht aber auch das ‚Seiende als solches‘ (ens inquantum ens) bei Eckhart nicht mehr in extensionaler Hinsicht für die quantitative Gesamtheit alles Seienden als solchen, über das man Aussagen machen kann, sondern bedeutet die absolute Fülle des Seins als rein intellektueller Substanz, die nicht mehr objektiviert werden kann, sondern ihrerseits als das unhintergehbare Subjekt aller Aussagen fungiert. Insofern Eckhart nicht mehr in analoger Weise zwischen dem ‚ungeschaffenen‘ Intellekt Gottes und dem ‚geschaffenen‘ Intellekt des Menschen unterscheidet, sondern beide als untrennbare Vollzugseinheit versteht, kann man bei ihm von einer absoluten Univozität der Intellektsphäre sprechen.63 So gesehen, ist das intellektuelle Ich sowohl das subiectum der Theologie als auch das subiectum der Metaphysik, jedoch nicht mehr im Sinne eines allgemeinen Gesichtspunktes, auf den die einzelnen Fragestellungen innerhalb jeder Wissenschaft hingeordnet bzw. zurückbezogen werden, sondern als der jeder Erkenntnisform und jedem Erkenntnisakt gleichermaßen als Prinzip innewohnende Quellpunkt, der sich als spontane Selbstproduktion und immer schon geschehene Selbstüberschreitung des Intellekts auf seine möglichen Gegenstände hin vollzieht. 61. Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 380, 13-4. 62. Vgl. Eckhart, In Ioh. n. 450, LW III 385, 7-10. 63. Vgl. Eckhart, Sermo XIV,2 n. 152, LW IV 144, 6-8; vgl. dazu Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart: Analogie – Univozität – Einheit (Hamburg, 1983), 56. 61.

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Das, was auf den ersten Blick wie eine Profanierung der Offenbarungstheologie bzw. ihre Auflösung in eine allgemeine Intellekttheorie aussieht, könnte man ebenso gut und vielleicht noch treffender als eine Divinisierung der Wahrheit in allen ihren Formen, auch und gerade im wissenschaftlichen Sinne, bezeichnen.64 Gerade aufgrund der Tatsache, dass bei Eckhart auch der Intellekt des Menschen von seinem ganzen Wesen her immer schon oberhalb des Geschaffenen steht, ist jede mit Hilfe des Intellekts erkannte Wahrheit im Grunde über-natürlichen Charakters, auch wenn sie sich auf die geschaffene Naturwirklichkeit bezieht. Genauer gesagt: Der Intellekt hat keine ‚Gegenstände‘, die ihm schlechthin äußerlich wären, sondern ist selbst die allumfassende, unüberschreitbare Sphäre, in der alles Seiende und die darauf bezogenen Erkenntnisse immer schon inbegriffen sind. Während die geschaffenen Seelenvermögen durch ihre jeweiligen Gegenstände (obiecta) ‚gefangen‘ sind, stellt der Intellekt jenen universalen Wahrheitsraum dar, der allen nur möglichen Erkenntnisobjekten und Einzelwahrheiten Platz bietet, sich selbst aber an keinen besonderen Gegenstand bindet und deshalb absolut frei ist.65 Weil der Intellekt aufgrund seiner Überzeitlichkeit keine diskursive, rationale Struktur mehr besitzt, kann die theologische bzw. metaphysische Wissenschaft in Eckharts Sinne auch nicht mehr primär als habitus conclusionum gedeutet werden, der sich immer weiter von den ersten Prinzipien entfernt, sondern besteht umgekehrt darin, die Dinge unter dem Gesichtspunkt ihrer ‚inneren Ursachen‘, d. h. Materie und Form, zu betrachten und die intelligiblen Formen in ihren ersten Ursprung, das reine, geistige Sein, zurückzutragen.66 Dies ist vor allem die Aufgabe des Metaphysikers, da er – im Gegensatz zum Physiker – nicht mehr die Wirk- und Zielursachen der Dinge im Blick hat, sondern allein ihre inneren, rein intelligiblen Gründe.67 Ohne die Realität der Dinge in ihrem raumzeitlichen Dies-und-das-Sein und die Relevanz der darauf bezogenen Wissenschaften zu leugnen, betont Eckhart doch auch, dass 64. Veritas est in intellectu, non ut res est aut natura, sed est in ipso ut intellectus, particeps divini intellectus (Eckhart, In Sap. n. 274, LW II 604, 3-4). 65. Omnes potentiae animae quodammodo limitatae et quasi captae sunt obiectis suis. Intellectus autem, in quo veritas est, liber est (Eckhart, Sermo XVII,2 n. 168, LW IV 160, 10-1). 66. Vgl. Eckhart, Super Eccl. n. 9, LW II 238, 2-7. 67. Vgl. Eckhart, In Gen. I n. 4, LW I 187, 13-188, 2.



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es Aufgabe des Intellekts ist, die Dinge nicht einfach in der Zersplitterung in die Vielheit stehenzulassen, sondern durch Rückbeziehung auf ihren intelligiblen Einheitsgrund ihr höheres, unvergängliches Sein freizulegen und sie dadurch gleichsam zu ‚erlösen‘.68 Auch und gerade die Metaphysik hat daher einen eminent praktischen Charakter, da sie den Menschen nicht nur dazu auffordert, seinem eigentlichen, ungeschaffenen Ich nach zu leben und alle Aspekte seiner Existenz von diesem Einheitsgrund her zu gestalten; vielmehr ist er als Vernunftwesen auch gehalten, mit seiner intellektuellen Erkenntniskraft die gesamte Wirklichkeit zu durchdringen, so dass er bei seiner ‚Selbstwerdung‘ und ‚Selbst-verwirklichung‘ in einer universalen Aufstiegsbewegung zugleich auch die Wesenheiten aller geschaffenen Dinge mitnimmt und in ihren Ursprung zurückträgt. Trotz ihres neuplatonisch anmutenden Aufstiegscharakters bezieht sich Eckharts praktische Metaphysik daher nicht nur auf die Immanenzsphäre der je eigenen Seele, sondern ebenso auch auf das absolute ‚Draußen‘ unserer Intellektnatur, die als sphaera infinita immer schon die Welt als ganze in sich trägt und von jedem beliebigen Punkt der Wirklichkeit aus zur Wahrheit als solcher vorstoßen kann.69 Das bedeutet nicht, dass die traditionellen Unterteilungen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen hinfällig würden, sondern nur, dass das statische Nebeneinander ihrer jeweiligen Prinzipien und der daraus in linear absteigender Richtung gewonnenen Schlussfolgerungen zugunsten eines horizontalen bzw. transversalen Bewegungsschemas durchbrochen wird. Alle nur denkbaren Wissensformen – Schriftoffenbarung und Theologie, Metaphysik, Naturphilosophie, Ethik, die praktischen und theoretischen Künste sowie das positive Recht – stehen bei Eckhart auf derselben Ebene, d.h. sie stehen in keinem Subalternationsverhältnis zueinander, werden aber auch nicht einfach nur nebeneinander stehengelassen, sondern ‚erfließen alle aus derselben Ader‘.70 Das bedeutet, dass ihre jeweiligen Genera 68. Vgl. Eckhart, In Exod. n. 265, LW II 213, 11-214, 7; id., Sermo XI,1 n. 113, LW IV 106, 3-6. Vgl. dazu insgesamt W. Goris, ‚The Unpleasantness with the Agent Intellect in Meister ­Eckhart‘, in S. F. Brown, T. Dewender and T. Kobusch (eds.), Philosophical Debates at Paris in the Early Fourteenth Century (Leiden, 2009), 151-9. 69. Vgl. Eckhart, Sermo XI n. 112, LW IV 105, 7-9; id., Sermo XLV n. 458, LW IV 379, 12-380, 1; id., Sermo XLVIII,1 n. 501, LW IV 416, 2-8. 70. Ex eadem vena descendit veritas et doctrina theologiae, philosophiae naturalis, moralis, artis factibilium et speculabilium et etiam iuris positivi (Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 381, 5-6).

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mitsamt den dazugehörigen Prinzipien nicht einfach vorgegeben sind, sondern aus der beständigen, selbsterzeugenden generatio des intellektuellen Ich hervorgehen, das die Wirklichkeit nicht einfach passiv entgegennimmt, sondern die zu ihrer Erkenntnis nötigen, intelligiblen Strukturen aus sich selbst heraus erzeugt. Gerade die Tatsache, dass die Vielzahl der wissenschaftlichen Disziplinen und ihrer relativen subiecta in das denkende Ich als absolutes subiectum zurückgenommen wird, macht es auch möglich, in horizontaler Richtung die Aussagen einer Wissenschaft in den Diskurskontext einer anderen Wissenschaft zu übersetzen, ohne sich einer μετάβασις εἰς ἄλλο γένος (metabasis eis allo genos) schuldig zu machen.71 Dies ist letztlich der Grund dafür, dass Eckhart das Verhältnis zwischen den einzelnen Wissenschaften nicht ein für allemal zu Beginn seiner Werke mittels entsprechender Subjekt- und Methodendefinitionen festlegt, sondern diese Fragestellung in seinen Schriftkommentaren auf elementare, fast mikroskopisch zu nennende Weise durchexerziert. Anstatt über ‚die‘ Offenbarungstheologie, ‚die‘ Metaphysik, ‚die‘ Naturphilosophie oder ‚die‘ Ethik im Allgemeinen zu reden, greift Eckhart ganz konkret einzelne Bibelverse heraus und übersetzt sie durch einen Austausch bestimmter Termini salva veritate in metaphysische, naturphilosophische und ethische Wahrheiten. Auch wenn Eckhart seinem Ansatz einerseits eine extrem starke Intellekttheorie zugrunde legt, so wirkt andererseits das Ausgehen von einzelnen, konkreten Sätzen wie eine Vorwegnahme des nominalistischen Prinzips, dem zufolge jeder wahre wissenschaftliche Satz im Grunde als scientia bezeichnet werden kann.72 Es gibt also letztlich so viele Wissenschaften, wie es wahre Sätze gibt, ganz gleich, welchem Erkenntnisbereich sie auch angehören. Dennoch wird die Wahrheit bei Eckhart nicht einfach als additive Gesamtheit aller wahren Aussagen angesehen, sondern hat ihre primäre Quelle im Intellekt, der ‚ebenso der Same für die Tugenden wie für die Wissenschaften ist‘ (semen est tam virtutum quam scientiarum).73

71. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora I 7, 75 a 38. 72. Ad tertium dico quod metaphysicae et similiter mathematicae non est unum subiectum, loquendo de virtute sermonis, sed quot sunt subiecta conclusionum tot sunt subiecta scientiarum (Wilhelm von Ockham, Scriptum in primum librum Sententiarum, Prolog, q. 9 ad 3, in Gedeon Gal [ed.], Opera theologica I [New York, 1967], 255). 73. Eckhart, In Gen. II n. 200, LW I 672, 12-673, 1.



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Damit wird letztlich die Trennung zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Leben‘ hinfällig, die für das immer stärkere Auseinanderdriften von universitärer Theologie und mystisch-religiöser Glaubenspraxis im 13. und 14. Jahrhundert verantwortlich ist. Gerade weil alle wissenschaftliche Aktivität sich nicht allein aus allgemeinen Grundsätzen, Axiomen und Methoden speist, sondern an der beständigen, spontanen Selbstproduktion des vernünftigen Ich hängt, kann wissenschaftliche Welterkenntnis nie in einer theoretisch-distanzierten Haltung betrieben werden, sondern ist auf die Selbsterkenntnis und das rechte Selbstverhältnis des Denkenden angewiesen. Umgekehrt bedeutet in Eckharts Ansatz die absolute Einheit mit Gott keinen ekstatischen Ausbruch aus dem Denken, sondern vollzieht sich immer schon in der Univozität des ungeschaffenen Intellekts, der keinen Gegenstand im Besonderen mehr hat, gerade deswegen aber alles, was ist, immer schon in sich trägt. Eine so verstandene Mystik hat es nicht nötig, sich in polemischer Weise gegen die vermeintliche ‚leere Neugierde‘ (vana curiositas) der Wissenschaften abzugrenzen, sondern kann jedes beliebige Ding und jeden beliebigen wahren Satz als Auszeugung jener intelligiblen Strukturen begreifen, in denen Gott sich selbst erkennt. So gesehen, gibt es überhaupt keine ‚profanen‘ Erkenntnisse, sondern jede Wahrheitserkenntnis ist gleichbedeutend mit dem Eintreten in den Lebenszusammenhang des absoluten Ich, das als solches weder göttlich noch menschlich, sondern der vollzugshafte Indifferenzpunkt von Gott und Mensch ist. 4. Schluss Wie die vorangehenden Analysen gezeigt haben, ist Meister Eckharts systematischer Grundansatz durchaus von den älteren, patristischen Schemata einer Wissenschaftsarchitektonik beeinflusst, die bei den meisten seiner Zeitgenossen bereits als überwunden gelten. So macht er sich einerseits in weiten Teilen Boethius’ Theologiebegriff zu eigen, der von der Möglichkeit einer natürlichen Vernunfterkenntnis der immateriellen Wirklichkeit ausgeht. Das Projekt einer philosophischen Schriftaus­ legung, dem die Parallelisierung des Alten und Neuen Testamentes mit der aristotelischen Physik und Metaphysik zugrunde liegt,74 rückt 74. Patet quod evangelium et lex vetus se habent ad invicem sicut demonstrator et topicus, sicut metaphysicus et physicus (Eckhart, In Ioh. n. 444, LW III 380, 12-3).

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Eckhart dagegen eher in die Nähe von Origenes’ Ansatz, vor allem mit Blick auf seinen existenziell gewendeten Metaphysikbegriff. Gleichwohl beschränkt sich Eckhart nicht darauf, lediglich diese älteren wissenschaftstheoretischen Modelle zu rehabilitieren, sondern gibt ihnen vor dem Hintergrund der zu seiner Zeit aktuellen Debatte um das Verhältnis von christlicher Offenbarungstheologie und aristotelischer Wissenschaft eine neue Deutung. Die Grundbegriffe und Grundeinsichten der aristotelischen Philosophie und Wissenschaftstheorie werden von Eckhart sehr wohl rezipiert, zugleich aber auf den wesentlich als ‚Ich‘-Akt verstandenen Intellekt zurückgeführt, in dem sich der biblische und der philosophische Gottesbegriff berühren. Das Ego sum qui sum löst bei Eckhart allerdings nicht nur das aristotelische ens qua ens als subiectum der Metaphysik ab, sondern ist zugleich auch die Anweisung auf jenes wahre Selbstsein des vernünftigen Subjekts, das innerhalb der christlichen Tradition jedem Gläubigen in Form der Nachfolge Christi aufgetragen ist. Eckhart begnügt sich jedoch nicht mit der bloßen Nachfolge, so als sei Christus das Vorbild, dem man lediglich in mehr oder weniger hohem Maße nacheifern könne, ohne die Distanz doch jemals wirklich zum Verschwinden zu bringen, sondern postuliert die univoke, vollzugshafte Identität jedes Vernunftwesens mit dem Sohn Gottes.75 Mit anderen Worten: In unserem ‚Ich‘ spricht sich kein anderes Prinzip aus als dasjenige, das auch den ‚Ich bin‘-Aussagen Jesu im Neuen Testament und jedem nur denkbaren Satz der Theologie und aller anderen Wissenschaften zugrunde liegt. Die ‚christliche Weisheit‘ in Eckharts Sinne ist daher genaugenommen weder eine Theologie noch eine Metaphysik noch eine philosophische Anthropologie, sondern vielmehr eine besonders geartete Egologie, die sich nicht darauf beschränkt, Gott in der eigenen Innerlichkeit zu finden, sondern sich vielmehr darum bemüht, im Ausgang von der immer schon bestehenden, ichhaften Vollzugseinheit mit dem Logos die gesamte Wirklichkeit zu durchdenken, zu durchwirken und wieder in ihren Ursprung zurückzutragen. Vom Ich als Prinzip der Philosophie über das Ich als Prinzip der Theologie gelangt man auf diese Weise letztlich zum 75. Natura est nobis omnibus aequaliter communis cum Christo univoce. Ex quo datur fiducia quod, sicut in ipso, sic et in quolibet nostrum proprie verbum caro factum habitare〈t〉 in nobis (Eckhart, In Ioh. n. 289, LW III 241, 7-9).



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Ich als Prinzip der christlichen Existenz, die keine andere Wahrheit zu suchen braucht als die Wissenschaften, weil sie weiß, dass sie sich gemeinsam mit diesen immer schon in demselben Wahrheitsraum des vernünftigen Ichbewusstseins befindet, ohne das auch Gott nicht Gott wäre.

‚Contemplata aliis tradere‘ Aspekte der inneren Schau und der Vermittlung bei Meister Eckhart Freimut Löser, Universität Augsburg Abstract This article intends to examine the way in which Meister Eckhart talks about Truth and how, from his point of view, Truth can be recognized, experienced, and transmitted to others. The well-known Dominican ‘motto’ Contemplata aliis tradere (chapter 1) gives a hint towards a possible definition of what Eckhart may have meant by contemplata and by aliis tradere. Chapter 2 compares Eckhart’s view of vita activa and vita contemplativa and looks into the descriptions of contemplatio given in his German works. Particular attention is paid to the specific German words he employs in comparison with the terminology used at that time, e.g. in vocabularies. Eckhart’s view, in general, seems to be concentrated on and directed towards inwardness: Truth and God, according to him, are not to be found in the outer world but only ‘inside’. On the other hand, Eckhart criticizes an excessive emphasis of innicheit. Given the didactic intention a preacher always seems to have, his innicheit has to turn itself to the outside in order to reach other people and to transmit to them the Truth he has discovered within himself. As it seems, ratio plays a very important part when inner Truth is to be conveyed. In Eckhart’s approach, another important aspect of contemplatio is the ‘point of view’ and ‘viewing’ (schauen). But this view does not consist in images, concrete pictures, or ‘visions’; rather, the same ‘movement’ from the inside out also applies with regard to schauen. Everything that has been ‘seen’ has to be made visible to others, too. Chapter 3 deals with the question of how the inner experience and (non-)visions can be transmitted to the public when a teacher addresses himself to different audiences in Latin and in German.

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er Beitrag geht aus von Thesen und Forschungsdesideraten, die in der Einladung zum Kolloquium von Martina Roesner formuliert worden waren: Meister Eckhart lebt und wirkt im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert, also zu einer Zeit, in der sich die wechselseitige Abgrenzung von universitär betriebener Offenbarungstheologie und Philosophie bereits so sehr verfestigt hat, dass sie unüberwindlich scheint. Trotz seiner Studien- und Lehrtätigkeit an der Pariser Universität gibt Eckhart sich jedoch nicht mit einem bloßen Nebeneinander von natürlicher Vernunfterkenntnis und Schriftoffenbarung zufrieden, sondern verfolgt das ehrgeizige Programm, die vollkommene Konvertibilität des Inhaltes der Heiligen Schrift mit der aristotelischen Metaphysik, Naturphilosophie und Ethik zu erweisen und darüber hinaus die Erträge seines spekulativen philosophisch-theologischen Denkansatzes für die Glaubenspraxis fruchtbar zu machen. Das Kolloquium will dem Thema der universalen, performativen Übersetzbarkeit von Wahrheit im Werk Meister Eckharts unter historischen, systematischen und praktischen Gesichtspunkten nachgehen. In diesem Beitrag sollen die historischen und systematischen Aspekte im Vordergrund stehen; dabei sollen besonders die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Vernunft, Erkenntnis und Schriftoffenbarung und nach der Übersetzbarkeit der einmal erkannten Wahrheit behandelt werden. Wenn man von Eckhart spricht, wird zudem die Frage nach der ‚Mystik‘ (was immer das sei) nicht außen vor bleiben können, und damit wird nach dem Erfahrungscharakter der Wahrheit zu fragen sein. Die Frage stellt sich also so: Wie wird bei Eckhart und durch Eckhart Wahrheit erkannt, erfahren und vermittelt? In gewisser Weise auf den Punkt gebracht hat Eckharts Zeit das Thema in einer Formulierung, die man im Internet als dominikanisches Motto findet: Contemplata aliis tradere. Für ein erstes, heutiges Verständnis dieses Mottos kann der Wikipedia-Artikel zu Contemplata aliis tradere stehen: Contemplata aliis tradere is a Latin phrase which translates into English as to ‘give to others the fruit of contemplation.’ Drawn from the writings of St. Thomas Aquinas, the phrase is often



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used to express the distinct Dominican view of vocation, and for that reason, it has become a motto of the Dominican Order. … In his Summa Theologica, begun in 1265 approximately fifty years after St. Dominic founded the Dominican Order, Thomas Aquinas wrote: Vita contemplativa simpliciter est melior quam activa quae occupatur circa corporales actus, sed vita activa secundum quam aliquis praedicando et docendo contemplata aliis tradit, est perfectior quam vita quae solum contemplatur, quia talis vita praesupponit abundantiam contemplationis. Et ideo Christus talem vitam elegit (Summa Theologica, II-II, q. 188, a. 6).1 Das heißt: Die vita contemplativa für sich genommen ist besser als die vita activa, denn letztere ist von körperlichen Tätigkeiten bestimmt. Und dennoch: Diejenige Form der vita activa, in der jemand durch seine Predigt und Lehrtätigkeit die contemplata anderen vermittelt, ist perfekter als die Lebensform, die sich auf die Kontemplation beschränkt, weil ein solches aktives Leben einen Überfluss (wörtlich zu nehmen!) an Kontemplation voraussetzt. Und daher hat Christus selbst dieses Leben gewählt. Als Bestandteile, oder besser Wesensmerkmale, des Kontemplativen werden im genannten Wikipedia-Artikel für die dominikanische Spiritualität Meditation und Studium der Heiligen Schrift erkennbar, als Merkmal des tradere tritt der apostolische Dienst hervor: The phrase of Saint Thomas came to express the heart of the vocation and spirituality of the Dominicans. It is a core motto of the order. Since the foundation of the Order in 1216 by Saint Dominic and under his direct inspiration, the Preachers dedicated themselves to the meditation and study [of] Scripture, while having the explicit goal of entering the apostolic ministry. They combine contemplative life and apostolic ministry.2 Ein Blick gerade auch in heutige dominikanische Quellen macht deutlich, was damit gemeint ist und was es folglich heißt, Eckharts Spiritualität in seinem Orden zu verorten: Die Spiritualität des Ordens wird vom Ziel her bestimmt: ‚den Namen des Herrn Jesus Christus aller Welt zu verkündigen‘ (Papst Honorius III.). Die Predigt fließt aus der Fülle der 1. Englische Übersetzung im zitierten Artikel: unter Anm. 8. 2. http://en.wikipedia.org/wiki/Contemplata_aliis_tradere; aufgerufen am 30.09.2014, 11:53h.

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Beschauung, so daß Thomas von Aquin formulieren konnte: contemplari et contemplata aliis tradere (sich der Kontemplation widmen und die Frucht der Kontemplation weitergeben). Die spezifische Lebensform der Dominikaner, für die das Gemeinschaftsleben, das feierliche gemeinsame Chorgebet und das ständige Studium charakteristisch ist, führt zur Verkündigung in Wort und anderen apostolischen Aktivitäten.3 Vermittlung heißt also zuvörderst Predigt. Vermittelt werden soll aber nicht beliebiges Wissen oder auf beliebige Weise erworbenes Wissen, sondern das, was aus der Fülle der Beschauung fließt. Es geht dabei nicht darum, die eigentlichen contemplata selbst zu vermitteln (wie sollte das auch gehen?), sondern deren Frucht. Die Kontemplation selbst aber wird durch die spezifische Lebensform der Dominikaner geprägt (gemeinsames Leben, Gebet und Studium). Das wird in der Folge des Internet-Eintrags noch schärfer greifbar: Als Dominikaner leben wir aus der Kraft der Kontemplation (Betrachtung). Dazu gehören Gebet, Schriftlesung und Medi­ tation, die Feier der Eucharistie, das Stundengebet – und auch das persönliche Studium. Der hl. Thomas von Aquin hat Kontemplation als ‚einfachen Anblick der Wahrheit selbst‘4 beschrieben. Er drückt damit aus, was uns heute noch bewegt: Wahrheitssuche nicht nur als Aufgabe wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu verstehen, sondern als Ausdruck unseres Glaubens. Wir leben in der Spannung von Kontemplation und Aktion, die Thomas mit den Worten contemplari et contemplata aliis tradere5 ausgedrückt hat: das in der Betrachtung Erfahrene anderen weitergeben.6 All dies lässt sich auf das Tagungsthema beziehen: Wahrheitssuche wird als Aufgabe des Studiums wie als Ausdruck des Glaubens beschrieben; diese Suche nach Wahrheit trifft in der Kontemplation auf den einfachen Anblick der Wahrheit selbst, die damit ungeteilt und ganz und eines ist; gesucht wird die Einheit mit dem Gebet und der Heiligen Schrift. Aber Wahrheitssuche hat nicht genug mit dem Streben nach 3. http://www.dominikaner-worms.de/dominikanerorden/; aufgerufen am 30.09.2014, 11:59h. 4. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, q. 180, a. 3 ad 1. 5. Vgl. ST II-II, q. 188, a. 6. 6. http://www.dominikaner-werden.de/unsere-starken/gebet/; aufgerufen am 30.09.2014, 12:02h.



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Wahrheit, sondern sie will diese geschaute und erfahrene Wahrheit eben auch anderen vermitteln und in der Predigt performativ übersetzen. Man könnte vielleicht sagen: Wahrheit ist erst dann ganz und ungeteilt, wenn sie nicht privatisiert, sondern mit anderen geteilt wird. Diesem spezifisch dominikanischen Aspekt des Themas lässt sich ein weiterer Ansatz zur Seite stellen, der sich in einem Alois Haas gewidmeten Festkolloquium und einer Festschrift findet, die Contemplata aliis tradere betitelt ist; dort wird dieser Titel auch auf unser eigenes wissenschaftliches Tun bezogen: Thomas von Aquin hat die Formel geprägt, die Titel des vorliegenden Bandes ist. In seiner Summa theologica führt er aus, dass höher als das beschauliche das tätige Leben stehe, in dem der Mensch durch Predigt und Belehrung das in der Betrachtung Geschaute anderen Menschen mitteilt: ‚… vita activa, secundum quam aliquis praedicando et docendo contemplata aliis tradit, est perfectior quam vita quae solum contemplatur.‘ Das Contemplata aliis tradere umreisst im weiteren Sinne der Ausführungen des Thomas, worum es den Veranstaltern des Kappeler Kolloquiums ging: Im contemplari um den Aspekt der Erfahrung Gottes, wie sie in den Texten zum Ausdruck kommt; im aliis um den Bezug zu einem Hörer und Leser, in dem die besagte Erfahrung in bestimmter Form zur Sprache kommt und der Blick sich daher auf die Sprache und den Text selbst, aber immer auch auf die pastorale, paränetische, mystagogische Funktion der Texte zu richten hat; im tradere schliesslich geht es nicht nur um den Aspekt der unmittelbaren Mitteilung und Rezeption, sondern um den Aspekt der Textgeschichte und der Textgeschichten, aber auch der wissenschaftlichen und spirituellen Formen von Erinnerung, Vergegenwärtigung und hermeneutischer Erschliessung, die damit verbunden sind.7 Damit wäre umrissen, wie der Satz des Thomas einerseits vom heutigen Dominikanerorden verstanden wird und wie er sich andererseits auch wissenschaftlich nutzbar machen ließe. Auf das Tagungsthema angewandt, hieße das, bei Eckhart die Rolle des tätigen und des beschaulichen Lebens zu vergleichen, nach seiner Gotteserfahrung ebenso zu fragen wie nach den Bezügen zu Hörern und Lesern und dabei das Augenmerk 7. Claudia Brinker, ‚Einleitung‘, in ead. et al. (eds.), ‚Contemplata aliis tradere‘. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität: FS. A. Haas (Bern, 1995), VII.

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insbesondere auf die Vermittlungsaspekte seiner Predigt sowohl in deren intentionalen und unmittelbaren als auch in ihrer historisch-textgeschichtlichen Wirkung zu richten. Die erste Frage müsste damit aber die sein, was Eckharts Zeitgenossen eigentlich unter der Formel Contemplata aliis tradere verstanden haben und vor allem, was er selbst darunter verstanden haben könnte. Der folgende Beitrag unternimmt dazu zwei Schritte; er widmet sich zunächst dem Aspekt der Contemplata, dann dem des tradere. Die Interpretation durch Thomas von Aquin ist klar und eindeutig, wie auch die Übersetzung des Eingangszitats der Summa aus dem oben zitierten Wikipedia-Artikel deutlich macht: The contemplative life is, absolutely speaking, more perfect than the active life, because the latter is taken up with bodily actions: yet that form of active life in which a man, by preaching and teaching, delivers to others the fruits of his contemplation, is more perfect than the life that stops at contemplation, because such a life is built on an abundance of contemplation, and consequently such was the life chosen by Christ.8 Es geht also darum, sich in rechtverstandener Christus-Nachfolge der Kontemplation zu widmen und die Früchte der Kontemplation weiterzugeben. Aber was heißt Kontemplation? 2.  ‚Contemplata‘ Ein Schlüsseltext für Eckhart ist im lateinischen Bereich in seinem Johanneskommentar zu finden. Eckhart analysiert Joh 21,20, erläutert am Beispiel von Petrus und Johannes vita activa und vita contemplativa und setzt beides in Relation zur Wahrheit: Petrus wandte sich um und sah jenen Jünger, den Jesus liebte. … Ferner aber sagt die Glosse hier: daß Petrus mehr liebe und Johannes mehr geliebt werde, sei als Lebensform des tätigen Lebens von Petrus gesagt, die des beschaulichen Lebens von Johannes. Das tätige Leben wird in der Pilgerschaft des Leibes durch den Glauben gelehrt, hier wo es Seligkeit nur der Hoffnung nach gibt, Elend aber bei Widerwärtigkeiten und Sünden 8. Wie Anm. 2.



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gegenwärtig ist. Das beschauliche Leben jedoch besteht in der Unsterblichkeit, wo es kein Übel gibt, sondern nur Vollendung des Guten. … Die Tätigen liebt er weniger, da sie ja die Elenderen sind; die Beschaulichen liebt er mehr, da sie ja die Glücklicheren sind. Immer wird nämlich von Gott jenes mehr und eher geliebt, was vollkommener ist, später aber und mittelbarer das, was unvollkommener ist. … Daher heißt es von Johannes: ‚ich will, daß er so bleibt, bis ich komme‘, so als sei gesagt: ‚die begonnene Betrachtung möge bleiben, bis ich komme‘ und sie vollende, damit ‚die Fülle des Wissens‘ offenbar sei. … Wenn Christus gekommen ist, der sagt: ‚ich will, dass er so bleibt, bis ich komme‘, wird Johannes aber, in der Wahrheit selbst selig, völlig von Christus geliebt werden. … Auf das, was im Vorangehenden von Petrus, dem Tätigen, und Johannes, dem Beschaulichen, im Zustand des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens gesagt ist, spielt passend an, wenn Petrus die Schlüssel zum Binden und Lösen der Sünden übergeben werden, Johannes aber ‚an der Brust des Herrn lehnte‘, wo die Wahrheit getrunken wird.9 Demnach bedeutet die hier bevorzugte vita contemplativa aus Eckharts Sicht im Johanneskommentar: – die große Nähe zur Unsterblichkeit, Vollkommenheit und Freiheit vom Bösen; – größeres Glück; – vom Herrn mehr geliebt zu werden; – die langanhaltende Betrachtung, die dem Künftigen gilt und ins Künftige zielt; – die Fülle des Wissens (scientiae!); 9. Conversus Petrus vidit illum discipulum quem diligebat Iesus. … Adhuc autem Glossa hic dicit quod Petrum plus diligere et Iohannem plus diligi dictum est in typo de vita activa per Petrum et de vita contemplativa per Iohannem. Activa per fidem hic agitur in corporis peregrinatione, ubi beatitudo tantum est in spe, sed miseria est praesto de adversis et de peccatis. Contemplativa vero est in immortalitate, ubi nihil mali, sed perfectio boni. … Activos minus diligit, utpote miseriores; contemplativos magis diligit, utpote feliciores. Semper enim a deo illud plus et prius diligitur quod perfectius, posterius autem et mediatius id quod est imperfectius. … Hinc est quod de Iohanne dicitur: ‚sic eum volo manere, donec veniam‘, quasi ‚inchoata contemplatio maneat, donec veniam‘ perficiendo, ut sit manifesta ‚plenitudo scientiae‘. … Iohannes vero, cum venerit Christus qui ait: ‚sic eum volo manere, donec veniam‘, in ipsa veritate beatus plane diligetur a Christo. … Praemissis quae de Petro activo et Iohanne contemplativo statu praesentis saeculi et futuri dicta sunt, apte alludit quod Petro dantur claves ad liganda et solvenda peccata, Iohannes vero ‚supra pectus domini‘, ubi bibitur veritas (Eckhart, In Ioh. nn. 736-40, LW III 642-5; trans. ibid.; meine Hervorhebungen).

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– die Betrachtung der Wahrheit (veritatis), die direkt an der Brust des Herrn getrunken wird. So viel ist dem lateinischen Zentraltext Eckharts zu entnehmen. Auf weitere Belege aus dem lateinischen Werk, in denen von contemplata, contemplatio etc. die Rede ist, sei hier verzichtet; sie führen in unserem Zusammenhang nicht weiter. Wie sieht es im deutschen Werk Eckharts aus? Die Übersetzungsfrage stellt sich damit doppelt, zum einen wörtlich (Latein-Deutsch), zum zweiten im übertragenen Sinn: 1. Welche Begriffe verwendet Eckhart in der Volkssprache? Was sind contemplata und was ist die vita contemplativa im Deutschen bei Eckhart selbst und allgemein zu seiner Zeit? 2. Wie werden im Sinne des Thomas’schen Diktums contemplata aliis tradere die von Eckhart erfahrenen contemplata durch ihn an andere vermittelt? Wie werden sie gerade in die Volkssprache und in der Volkssprache über-setzt? Ein Blick in mittelalterliche Wörterbücher kann zeigen, wie zu Eckharts Zeit die Begriffe allgemein im Deutschen wiedergegeben wurden. Der Liber ordinis rerum etwa gibt für die artes folgende Liste: a) Artes liberales freye kunst b) Theorica Contemplatiua Speculatiua schawliche kunst c) Theoloia Sciencia diuina götliche kunst d) Methaphisica Sapiencia vber naturlich kunst e) Mathematic messende kunst f) Astronomus Astrologus des hymmel lauff kunstiger g) Astronomia Astrologia kunst von dem lope des ./. ./. sterntes B1 / der sternen I1 von dem lauf des hymels10 10. Liber ordinis rerum (Esse-Essencia-Glossar) I: Einleitung, Text, in P. Schmitt (ed.), Texte und Textgeschichte 5/1 (Tübingen, 1983), 140-1.



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Der Liber ordinis ordnet seine lateinischen Lemmata nicht alphabetisch, sondern systematisch. Diesem systematischen Ansatz entsprechend, wird auch die Theorica/Contemplativa/Speculativa in ein System eingeordnet. Ihr kommt in diesem System der künste als schawliche kunst ein sehr bestimmter Platz zu, eingeordnet zwischen den artes liberales und der Theologie als Sciencia divina. Konsequenterweise ist das Lemma contemplativus im Kapitel über die virtutes intellectuales eingeordnet und in ein großes System des Wissens eingebaut. Die dort entworfene Ordnung beginnt mit sapiens, reicht über prudens und sagax bis subtilis zu scientificus und fährt fort (die Lesarten der einzelnen Redaktionen und Handschriften aus der Edition werden, mit ihren Siglen versehen, hier ebenfalls mitgeteilt): a) A (B Y3-Y9) Sciens b) B (A Y3-Y9) Sciuus (Scius Y1) wetende X1* wyßsendig Y1 weissinnig Y3 – chünstig weyssinnig Me2 + chunstig Sb1 – chünnig M19 – weysung Ab1 c) Sciencia wysheyt XY (B1) wißenheyt L1 weyssinnichait Y3 – chunst D2 Wi2 – weysenkait Ab1 d) Docilis ghelerech B1 / lerich Wo2 XY gelernig Y1 (D1) gelernig Y2 – lerhaftich lerlik Wo1 – geliernig M24 – lernig K1 – lierleich Me2 – gelirnung Ab1 e) Doctus gelart f) Litteratus schrift gelart geschrift gelert Y9 (M1) geschrift lernung Y11 Aa Litteralis Wo1 – scriftgelarder Wo1 – ghelert der scrift Wo2 – geschrift gelert Gi1  M23 M4 – gelerter M24 Me2 22.1 Literatura geschrifft lernung M23

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g) Litteratura schriftlerung Y1 schrift lernung Y3 geschrifft lernung Y9.1 schrifft gelernung Y10 – schriftgebitte Ma1 – gschrifftlernung M4 h) Jlluminatus irlucht – erluchtiget Wo1 – geleichtet M4 i) Jllustris durchluchtig – dorluchtet Wo2 – durchleichtig M4 – durcherlewchtiger Wi2 j) A Speculatiuus B Contemplatiuus jnbeschawlich inbendig beschawleich Y3 jnwendiger beschawer Y10 (M2) – inbeschauwer Wo1 inbeschower D1 – beschauelich Ma1 – beschawung W3 – inwenig schowen D2 – inwennig schauleich M4 (A) – beschawer himelischer oder götleicher oder jnwendiger ding (B fehlt) Me2 – inwendig beschawer M6 – inbendig beschenlich Sb3 – jnbendiger schawer Ab1 k) Peritus kundig – konnend D1 – kunstiger D2 – chündig chunstreich mayster Me211 Auffällig ist zum einen die Verbindung von contemplativus und speculativus. Auffällig ist zum zweiten, dass gerade das Lemma contemplativus/ speculativus die meisten Einträge der verschiedenen Redaktionen und Schreiber des Liber ordinis rerum provoziert. Das heißt: Es existieren im Bereich der virtutes intellectuales gerade für dieses lateinische Lemma die meisten deutschen Varianten. Diese zahlreichen deutschen Varianten vermitteln aber ein erstaunlich einheitliches Bild; sie führen in der Regel zu zwei miteinander verbundenen Begriffen: inwendig und schauen. Dieses Ergebnis bestätigt sich, wenn man Diefenbachs Sammlung zum Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis12 zu Rate zieht, wo sich für contemplatio folgende deutsche Ensprechungen finden lassen: 11. Ibid., 502-3. 12. Frankfurt/Main, 1857; reprographischer Nachdruck: Darmstadt, 1997, 146.



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be-schauwenisse, -schawung, andaͤchtig beschawung, ynwendig trachtinge / himmeltrechtikeit / betrachtunge des obersten gotis / ynnige andacht / bewegung / des ynnigen geistes andacht / bekentnisse des grundelosen gotis / bek. der obersten dinge; eyn ynnige beschawunge des obersten gutes / betrachtunge des oberisten gutes / bewegung in innersten geistes. Zusammengefasst ergibt sich: Wörterbuch-Einträge weisen regelhaft für contemplari in die Richtung einer Kombination des Adverbs inwendig mit dem Verb schouwen, für contemplatio entsprechend zur Kombination des Adjektivs inwendig mit dem Substantiv schau, schauung. Man wird also nicht fehlgehen, wenn man probeweise erhebt, ob der Terminus des innerlich Geschauten eine mögliche Verdeutschung von contemplata auch bei Eckhart bieten könnte. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Eckhart beides (inneclîche/inwendic und schouwen) selten zusammenbringt. Dennoch könnte die Einzelbetrachtung jedes einzelnen Übersetzungslemmas für sich genommen weiterführen. Deshalb sollen hier die Begriffe inneclîche und schouwen bei Eckhart untersucht werden. 2.1  Contemplata: inneclîche Mit dem deutschen Wort inneclîche/inwendic fasst Eckhart, wie zu zeigen sein wird, gleich mehrere Merkmale dessen, worum es hier gehen soll.13 Es kann für Eckhart seinen deutschen Werken zufolge zunächst einmal kaum ein Zweifel daran bestehen, dass das innere Werk dem äußeren vorzuziehen ist (und das korreliert mit der bereits beschriebenen Darstellung des äußeren und inneren Lebens anhand der Beispielfiguren Petrus und Johannes in Eckharts lateinischem Johanneskommentar): Zum dritten sollen wir, wo er sagt ‚Lade die Werkleute und gib ihnen ihren Lohn‘, den Lohn erwägen. Davor muss sich niemand fürchten, dass er sagt, man solle den Werkleuten ihren Lohn geben. Wenn er alt oder schwach ist, dass er leibhaftige Werke nicht zu tun vermag, so halte er sich an die inwendigen geistlichen Werke, die vor Gott edler und größer sind als die

13. Zur Erläuterung: Eine Zusammenstellung der einschlägigen Lemmafunde in den deutschen Predigten und Traktaten, wie sie hier geboten wird, ist noch keine systematische Untersuchung. Sie bietet notgedrungen nur einen ‚ersten Steinbruch‘, erste Ergebnisse.

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äußeren Werke; das sind der gute Wille und die Liebe zu Gott. Damit erhält er den Lohn.14 Das scheint die inneren Werke, die edler und größer seien als die äußeren, zunächst auf den guten Willen und die Liebe zu Gott zu reduzieren; und es scheint darum gesagt zu sein, um denen, die zu lîphaftigen werken nicht in der Lage sind, dennoch einen Weg zu eröffnen. Es geht Eckhart aber um mehr; und es sind besonders die Predigten 104 und 102, die das erläutern:15 Nun könntest du sagen: ‚Ach, Herr, wie soll sich denn der Mensch halten, der von sich selbst und von allen Dingen ganz und gar frei und leer werden soll: Soll er immer in einem Zustand des Wartens auf das Werk Gottes sein und dabei selbst nicht wirken? Oder soll er [nicht doch] dann und wann selbst etwas tun, wie beten und lesen und andere tugendhafte Werke, wie beispielsweise Predigten zu hören oder sich in der Heiligen Schrift zu üben?‘16 Für Eckhart zählt damit das, was die eingangs zitierten heutigen Web­ sites dem contemplari zuschreiben, nämlich Gebet und Schriftlektüre, schon zu den Werken, die man (be)wirkt. Damit erscheint erst recht die Vermittlung (tradere) schon nicht mehr eigentlich als Vermittlung zwischen Innen und Außen, sondern sie ist bereits dem tätigen Leben (dem Außen) zugeordnet. Deshalb stellt sich für Eckhart die Frage: Da nun dieser Mensch nichts vom Äußerlichen nehmen soll, sondern vielmehr alles vom Innerlichen von seinem Gott, wenn nun dieser Mensch diese äußeren Werke nicht tut, versäumt er dann nicht etwas? Pass auf! Alle äußeren Werke sind aus dem Grund eingesetzt und eingerichtet, dass der äußere Mensch damit auf Gott gerichtet und zu ihm hingeordet wird und zu 14. Ze dem dritten mâle suln wir prüeven daz lôn, dâ er sprichet: ‚lade die werkliute und gip in ir lôn‘. Hie vor ensol sich nieman erværen, daz er sprichet, daz man den werkliuten ir lôn sol geben. Ob er alt oder krank ist, daz er lîphaftiger werke niht vermac, sô halte er sich an diu inwendigen geistlîchen werk, diu edeler und grœzer sint vor gote dan ûzwendigiu werk, daz ist guot wille und liebe ze gote. Dar ane beheltet er daz lôn (Eckhart, Pr. 91A, DW IV,1 94, 81-5; meine Übersetzung). 15. Vgl. Eckhart, Pr. 104, DW IV,1 584, 210-585, 224. 16. Nû möhtest dû sprechen: ach, herre, wie sol sich der mensche halten, der sîn selbes und aller dinge zemâle sol ledic und wüeste werden: weder sol der mensche alzît in einem wartenne sîn des werkes gotes und niht würken, oder sol er etwenne selber etwaz würken als beten und lesen und anderiu tugentlîchiu werk würken, ez sî predige hœren oder die geschrift üeben? (Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 602, 426-34; meine Übersetzung).



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geistlichem Leben und zu guten Dingen; damit er nicht sich von sich selbst verirre in irgendeine Ungleichheit [seiner selbst und Gottes]; damit er damit gezähmt werde, dass er nicht sich selbst entfliehe in fremdartige Dinge; damit, wann immer Gott seine Werke wirken will, er den Menschen dazu bereit finde und ihn nicht erst noch von fremden und grob-materiellen Dingen wieder wegziehen muss. Denn je größer die Lust zu äußeren Dingen wäre, umso schwerer wäre die Abkehr davon, denn je größer die Liebe, umso größer das Leid, wenn es ans Scheiden geht. Schaut, deshalb ist alles Tun wegen der Übung der Tugend erfunden (Beten, Lesen, Singen, Fasten, Wachen und was auch immer es an Tugend-Übungen gibt), dass der Mensch damit gefangen werde und von fremden und ungöttlichen Dingen abgehalten werde.17 Eckhart bezeichnet damit das, was die heutigen, einleitend zitierten Texte dem contemplari zuordnen, als (äußere) Tugendübungen, die aber dazu dienen, den Drang des Menschen nach außen einzuhegen, ihn nach innen zu konzentrieren. Damit führen alle eigentlichen äußeren Tugendwerke ebenso wie die Werke des contemplari letztlich als solche selbst konsequent nach innen. Und bei Eckhart ist nicht zuletzt deshalb auch eine Höherschätzung des Inneren erkennbar. Einer derart begründeten Bevorzugung der inneren werke entspricht auch Eckharts Seelenlehre und die Lehre von den Kräften der Seele, die er besonders klar in Predigt 102 formuliert: Nun hat sich die Seele mit den Kräften ausgebreitet und jede Kraft in das ihr eigene Werk zerstreut: Die Kraft des Sehens in das Auge, die Kraft des Hörens in die Ohren, die Kraft des Sprechens in die Zunge; und deshalb sind ihre Kräfte umso schwächer, im Inneren zu wirken, denn jede zerstreute Kraft ist 17. Sît daz dirre mensche niht nemen ensol von ûzwendicheit, mêr: allez von inwendicheit von sinem gote, und ob dirre mensche disiu [= die äußeren] werk niht entuot, versûmet er denne iht? Daz merke! Alliu ûzwendigiu werk sint dar umbe gesetzet und geordent, daz der ûzer mensche dâ mite werde in got gerihtet und geordent und ze geistlichem lebene und ze guoten dingen, daz er im selber niht entgê ze keiner unglîcheit, daz er hie mite gezemet werde, daz er im selber iht entloufe in vremdiu dinc, swenne got sîniu werk welle würken, daz er den menschen bereit vinde und in niht von verren und von groben dingen endürfe wider ziehen. Wan sô der gelust ze ûzern dingen ie grœzer wære, sô daz vonkêren ie swærer wære, wan sô ie grœzer liep, ie grœzer leit, sô ez an ein scheiden gât. Sehet, dar umbe ist allez würken vunden umbe üebunge der tugende: beten, lesen, singen, vasten, wachen und swaz tugentlîcher üebunge ist, daz der mensche dâ mite werde gevangen und enthalten von vremden und ungötlîchen dingen (Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 602, 435-603, 462; meine Übersetzung).

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unvollkommen. Deshalb, wenn die Seele im Inneren kraftvoll wirken will, dann muss sie all ihre Kräfte nach Hause rufen und sie von allen zerstreuten Dingen in ein inneres Wirken sammeln.18 Die Seelenkräfte sind recht eigentlich im Inneren zuhause und müssen gewissermaßen aus der Zerstreuung nachhause gerufen werden und im Inneren versammelt und konzentriert werden. Im Verhältnis von Innen und Außen ergibt sich hier eine klare und in Eckharts Augen gebotene und notwendige Bewegung nach Innen. Dem folgt wiederum konsequent eine Warnung vor der Zerstreuung der Seelenkräfte nach außen: Deshalb sagt ein Meister: ‚Wann immer der Mensch ein inwendiges Werk wirken soll, so muss er alle seine Kräfte hineinziehen wie in einen Winkel seiner Seele und sich vor allen Bildern und Formen verbergen; und genau dort kann er wirken.‘19 Fließt sie dann mit ihrer [ganzen] Andacht zu äußeren Werken, so muss sie notwendig im Inneren bei ihren inneren Werken schwächer sein, denn zu dieser Geburt will und muss Gott eine ledige, unbekümmerte, freie Seele haben, in der nichts sein darf außer alleine er und die nichts und niemand wahrnehmen darf als ihn alleine.20 Nur die mit nichts bekümmerte, ganz freie Seele ist bereit für Gott; und sie ist es nur dann, wenn sie sich nicht an die äußeren Werke – und seien es Werke der Tugend – verliert. Der Grund für die Bevorzugung der inwendigen werke fällt also zusammen mit Eckharts Auffassung von der Seele und deren Kräften und mit seiner Auffassung der Gottesgeburt. Dieser Grund liegt vor allem aber darin, dass – 1. – das wahre Sein 18. Nû hât sich diu sêle ûzgespreitet mit den kreften und zerströuwet ieglîche in ir werk: die kraft des sehennes in daz ouge, die kraft des hœrennes in die ôren, die kraft des sprechennes in die zungen; und alsô sint iriu werk deste krenker inwendic ze wirkenne, wan ein ieglîchiu zerspreitetiu kraft ist unvolkomen. Her umbe, wil si krefticlîche würken inwendic, sô muoz si wider heim ruofen allen irn kreften und samenen von allen zerspreiten dingen in ein inwendic würken (Eckhart, Pr. 102, DW IV,1 415, 78-416, 83; meine Übersetzung). 19. Dar umbe sprichet ein meister: swenne der mensche ein inwendic werk sol würken, sô muoz er alle sîne krefte înziehen rehte als in einen winkel sîner sêle und sich verbergen vor allen bilden und formen, und aldâ mac er würken (Eckhart, Pr. 102, DW IV,1 419, 119-21; meine Übersetzung). 20. Vliuzet si denne mit ir andâht ze ûzerlîchen werken, sô muoz si von nôt inwendic deste krenker sîn an irn inwendigen werken, wan ze dirre geburt sô wil got und muoz haben ein ledige, unbekümberte, vrîe sêle, in der niht ensî dan er aleine, noch diu nihtes noch niemannes enwarte dan sîn aleine (Eckhart, Pr. 102, DW IV,1 418, 109-13; meine Übersetzung).



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(wesen) ebenso im Inwendigen verortet wird wie – 2. – die Wahrheit, wie – 3. – Gott und die Gottesgeburt: 1. Sein im Innersten: Dass Sein (wesen) im Innersten zu verorten ist, begründet Eckhart mehrfach (so in Pr. 74 und 4) mit einem ähnlichen Gedankengang: Je allgemeiner etwas ist, umso edler und wertvoller ist es. Das Leben habe ich mit den Dingen gemein, die leben, bei denen das Leben zum Sein hinzukommt. Deren aber gibt es mehr, die 〈bloßes〉 Sein, als die 〈zudem〉 Leben haben. Die Sinne habe ich gemein mit den Tieren. Ich ließe mir eher meine Sinne nehmen als mein Leben. Das 〈Sein〉 aber ist mir am allerliebsten, 〈denn〉 es gehört mir am allermeisten zu und ist mir am allerinnersten. Ich ließe eher von allen 〈Wesen〉, die unterhalb Gottes sind. Das Sein fließt unmittelbar aus Gott, und das Leben fließt aus dem Sein, und deshalb schmeckt dieses 〈= das Sein〉 mir am allerbesten und ist von allen Kreaturen am meisten geliebt. Je gemeinsamer 〈= mitteilsamer〉 unser Leben ist, umso besser und edler ist es.21 Je edler etwas ist, umso allgemeiner ist es. Den Sinn habe ich mit den Tieren gemein und das Leben 〈zudem〉 mit den Bäumen. Das Sein ist mir noch innerlicher, das habe ich gemein mit allen Kreaturen.22 Auffällig ist hier in beiden Fällen Eckharts Gedanke, dass das Edelste zugleich das Allgemeinste ist; d.h. eigentlich genauer gefasst, ist die Beziehung kausal: Es ist dadurch das Edelste, dass es das Gemeinste (und Mitteilsamste) ist. Diese Allgemeinheit wird aber eben nicht durch eine Zerstreuung nach außen erreicht, sondern durch eine Rückbindung ans 21. Ie das ding gemeiner ist, ye es edler vnd wirdiger ist. Ich han gemein das leben mit den dingen, die da lebent, 〈da leben〉 mit dem wesen ist. Der ist mer, die da wesen habent denn leben. Ich hab gemein die sinn mit den thieren. Ich ließ mir ee mein sinn nemen denn meyn leben. Das wesen ist mir allerliebst, es ist mir aller gemeinst vnd i〈st〉 mir aller inwendigest. Ich ließ er alle, die vnder got seind. Dz wesen fleüsset on mittel auß gott, vnnd das leben fleusset von dem wesen, vnnd darumb schmacket es mir aller bast vnd ist allen creaturen aller meist geliebt. Ie vnser leben gemeyner ist, ye besser vnd edler es ist (Eckhart, Pr. 74, DW III 287, 28-36; trans. ibid. 557-8). 22. Sô daz dinc ie edeler ist, sô ez ie gemeiner ist. Den sin hân ich gemeine mit den tieren und daz leben ist mir gemeine mit den boumen. Daz wesen ist mir noch inner, daz hân ich gemeine mit allen crêatûren (Eckhart, Pr. 4, DW I 66, 8-67, 2; trans. ibid. 443).

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Innerste (Sein ist das Innerste), die zugleich Mitteilsamkeit nicht ausschließt, sondern einfordert.23 Der inwendige Grund ist aber nicht nur gewissermaßen die Heimat des wesen, sondern auch der Ort der Wahrheit; auch dafür ist wieder die oben schon zitierte Predigt 102 signifikant: 2. Wahrheit im Innersten: Deshalb sagt der Heilige Augustinus: Es gibt viele, die Licht und Wahrheit gesucht haben, aber ganz im Äußerlichen, wo die Wahrheit nicht war. Deshalb kommen sie zuletzt so fern hinaus, dass sie niemals wieder heim noch zurück ins Innere kommen. Und deshalb haben sie die Wahrheit nicht gefunden, denn Wahrheit ist innen im Grund und nicht außen. Wer nun das Licht und die ganze Bedeutung aller Wahrheit finden will, der achte auf diese Geburt in ihm und im Grund und nehme sie wahr, so werden alle Kräfte und der äußere Mensch [gleichzeitig] erleuchtet. Denn sobald Gott den Grund innerlich berührt, wirft sich das Licht sogleich in die Kräfte, und der Mensch ist in diesem Zustand bisweilen zu mehr fähig, als ihn irgendjemand lehren kann.24 23. Der Gedanke des Edleren im möglichst Allgemeinen, des Guten im Sich-Verallgemeinernden in Relation zum Innen findet sich bei Eckhart häufiger. Vgl. Eckhart, Pr. 9, DW I 149, 1-12: Nû sprichet doch got: ‚nieman enist guot dan got aleine‘. Waz ist guot? Daz ist guot, daz sich gemeinet. Den heizen wir einen guoten menschen, der gemeine und nütze ist. Dar umbe sprichet ein heidenischer meister: ein einsidel enist weder guot noch bœse in dem sinne, wan er niht gemeine noch nütze enist. Got ist daz aller gemeineste. Kein dinc gemeinet sich von dem sînen, wan alle crêatûren von in selber niht ensint. Swaz sie gemeinent, daz hânt sie von einem andern. Sie gebent sich ouch niht selben. Diu sunne gibet irn schîn und blîbet doch dâ stânde, daz viur gibet sîne hitze und blîbet doch viur; aber got gemeinet daz sîne, wan er von im selber ist, daz er ist, und in allen den gâben, die er gibet, sô gibet er sich selben ie zem êrsten. Er gibet sich got, als er ist in allen sînen gâben, als verre als ez an im ist, der in enpfâhen möhte; trans. ebd. 463: ‚Nun aber sagt doch Gott selbst: „Niemand ist gut als Gott allein“ 〈Mark. 10,18〉. Was ist gut? Das ist gut, was sich mitteilt. Den nennen wir einen guten Menschen, der sich mitteilt und nützlich ist. Darum sagt ein heidnischer Meister: Ein Einsiedler ist weder gut noch böse in diesem Sinne, weil er sich nicht mitteilt noch nützlich ist. Gott ist das Allermitteilsamste. Kein Ding teilt sich aus Eigenem mit, denn alle Kreaturen sind nicht aus sich selbst. Was immer sie mitteilen, das haben sie von einem andern. Sie geben auch nicht sich selbst. Die Sonne gibt ihren Schein und bleibt doch an ihrem Ort stehen; das Feuer gibt seine Hitze und bleibt doch Feuer; Gott aber teilt das Seine mit, weil er aus sich selbst ist, was er ist, und in allen Gaben, die er gibt, gibt er zuerst stets sich selbst. Er gibt sich als Gott, wie er es in allen seinen Gaben ist, soweit es bei dem liegt, der ihn empfangen möchte.‘ 24. Dar umbe sprichet sant Augustinus: vil ist der, die lieht und wâhrheit hânt gesuochet, und aber alles ûzwendic, dâ si niht enwas. Des koment sie ze dem lesten alsô verre ûz, daz sie niemer wider heim noch wider în enkoment. Und des enhânt sie die wârheit niht vunden, wan wârheit ist inwendic



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Ähnlich, wie die Seelenkräfte seiner Ansicht nach nachhause ins Innerste gerufen werden müssen (s.o.) und wie er vor einer Zersplitterung der Kräfte und einem ‚Verlaufen‘ nach außen gewarnt hat, fordert Eckhart auch die Wahrheitssucher auf, ins Innere heimzukehren, wo die Wahrheit zu finden sei: Im Grund, nicht außen. Eckhart verbindet dabei bezeichnenderweise den Hinweis auf die Erkenntnis der Wahrheit im Innersten mit der Gottesgeburt im Seelengrund, denn für ihn gilt, dass dieses Innerste auch der Ort Gottes ist. 3. Gott im Innersten: Nicht nur Sein und Wahrheit, auch Gott ist in diesem Innersten zuhause. Wer ihn finden will, der muss sich folglich auf dieses Innerste konzentrieren; das wird zum einen – in einer Art Umkehrschluss – dadurch belegt, dass Gott einem Menschen, dem die eigene Inwendigkeit ungewohnt ist, fremd ist: Dieser Mensch erfaßt Gott in seinem Eigensein und in seiner eigenen Einheit und in seiner eigenen Gegenwart und in seiner eigenen Wahrheit; mit einem solchen Menschen ist es gar recht bestellt. Aber der Mensch, der von inwendigen Dingen nichts gewöhnt ist, der weiß nicht, was Gott ist. Wie ein Mann, der Wein in seinem Keller hat, aber nichts davon getrunken noch versucht hätte, der weiß nicht, daß er gut ist.25 Zum anderen sagt Eckhart auch ganz direkt, dass Gott im Innersten wohnt. Und das macht ihn für die vernünfticheit erreichbar, die ihn gerade dort sucht. In Predigt 69 beschreibt Eckhart fünf eigenschefte der vernünfticheit, nennt als vierte, dass sie zu ir selber würkende oder suochende ist (DW III 169, 4), und erläutert: in dem grunde und niht ûzwendic. Wer nû wil vinden lieht vnd underscheit aller wârheit, der warte und neme war dirre geburt in im und in dem grunde, sô werdent alle krefte erliuhtet und der ûzer mensche. Wan alzehant sô got den grunt gerüeret inwendic, mit der vart sô wirfet sich daz lieht in die krefte und kan der mensche mê underwîlen, dan in ieman gelêren mac (Eckhart, Pr. 102, DW IV,1 414, 57-415, 64; meine Übersetzung). 25. Der mensche nimet got in sîn selbes eigenschaft und in sîn selbes einicheit und in sîn selbes gegenwerticheit und in sîn selbes wârheit; dem menschen dem ist gar reht. Aber dem menschen, der von inwendigen dingen nie gewon enist, der enweiz niht, waz got ist. Als ein man, hât er wîn in sînem keller und enhæte er sîn niht getrunken noch versuochet, sô enweiz er niht, daz er guot ist (Eckhart, Pr. 10, DW I 164, 3-8; trans. ibid. 468).

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Viertens: daß sie 〈= die Vernunft〉 allwegs inwendig sucht. Gott ist ein solches Wesen, das allwegs im Allerinnersten wohnt. Darum ist die Vernunft allwegs 〈nach〉 innen suchend. Der Wille hingegen geht nach außen auf das 〈hin〉, was er liebt. Kommt beispielsweise mein Freund zu mir, so ergießt sich mein Wille mit seiner Liebe vollends auf ihn und findet darin sein Genügen.26 Dementsprechend kann Gott in uns entdeckt werden; und das heißt: ent-deckt im doppelten Sinn, nämlich gefunden und aufgedeckt: Er sagt: ‚dass in uns entdeckt werde‘. ‚In uns‘: Das Wort ‚uns‘ meint ein bloßes Sein. Sollen wir dazu gelangen, dass in uns diese ‚Klarheit‘ entdeckt werde, so muss die Seele entblößt werden von Hoffnung, Furcht, Freude, Jammer und von allem, das ihr zufallen kann; so entblößt sich Gott im Gegenzug vor ihr und gibt sich ihr mit allem, was er leisten kann. Das andere: Dass man innen suchen soll und nicht außen, denn St. Paulus sagt: ‚Das Reich Gottes ist in Euch‘. Das dritte: in dem Aller­ innigsten, dass er dort aufgedeckt werde.27 Dabei ist es auffällig, dass in diesem Innersten, wo – wie gerade zu sehen war – nicht der nach außen strebende Wille (Liebe) zuhause ist, sondern wo die nach innen suchende vernünfticheit ihre Heimat findet, Gott und wârheit zusammenfallen: Deshalb sagt Augustinus: Oh Herr, wie viele sind die, die aus sich selbst ausgegangen sind, um die Wahrheit zu suchen, die noch nie zu sich selbst kamen? Deshalb haben sie die Wahrheit niemals gefunden, denn Gott ist die innerste Innigkeit der Seele.28 26. Daz vierde: daz si alwege inwendic suochende ist. Got ist ein solch wesen, daz alwege wonet in dem allerinnigesten. Dar umbe vernünfticheit ist alwege inne suochende. Aber der wille gât ûz ûf daz, daz er minnet. Alsô: kumet mir mîn vriunt, sô giuzet sich mîn wille mit sîner minne ûf in und benüeget im dar ane (Eckhart, Pr. 69, DW III 174, 5-175, 1; trans. ibid. 538). 27. Er sprichet, ‚daz in uns entdaht werde‘. ‚In uns‘: daz wort ‚uns‘ meinet ein blôz wesen. Suln wir hie zuo komen, daz in uns entdaht werde disiu ‚klârheit‘, sô muoz diu sêle entblœzet werden hoffenunge, vorhte, vröude, jâmer, alles des, daz ane gevallen mac; so entblœzet sich ir got wider und gibet sich ir mit allem dem, daz er geleisten mac. Daz ander: daz man suoche inne und niht ûze, wan sant Paulus sprichet: ‚daz rîche gotes ist in iu‘. Daz dritte: in dem aller innigesten, daz er alsô hie etwaz entdaht werde (Pr. 94, DW IV,1 149, 70-6; meine Übersetzung). 28. Her umbe sprichet sant Augustînus: ô herre, wie vil ist der, die ûz in selber gegangen sint ze suochenne die wârheit, die noch nie ze in selber enkâmen? Hie umbe enhânt sie die wârheit niht vunden, wan got ist der sêle innerste innicheit (Eckhart, Pr. 90, DW IV,1 70, 183-5; meine Übersetzung). Vgl.



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Weil aber Gott mir inniger ist dan ich mir selber bin, deshalb ist auch der Ort der Gottesgeburt dieses Innerste: Die inwendige Geburt Gottes in der Seele ist ein Vollbringen ihrer ganzen Seligkeit; und diese Seligkeit nutzt ihr mehr, als dass unser Herr im Leib unserer Herrin Sankta Maria Mensch wurde und dass er das Wasser berührte. Alles, was Gott jemals wirkte oder tat um des Menschen willen, das hülfe ihm nicht so viel wie eine Bohne, wenn er nicht in einer geistlichen Vereinigung mit Gott vereint wird, wo Gott in der Seele geboren wird und die Seele in Gott geboren wird.29 So auch wird das ewige Wort innerlich in dem Herzen der Seele gesprochen, im Innersten, im Lautersten, im Haupt der Seele, wovon ich neulich sprach, in der Vernunft: dort innen vollzieht sich die Geburt.30 Hierum sagt das Wörtlein, das ich euch vorgelegt habe: ‚Gott hat seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt‘; das dürft ihr nicht im Hinblick auf die äußere Welt verstehen, wie er mit uns aß und trank: ihr müsst es verstehen mit Bezug auf die innere Welt. So wahr der Vater in seiner einfaltigen Natur seinen Sohn natürlich gebiert, so wahr gebiert er ihn in des Geistes Innigstes, und dies ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund.31 auch id., Pr. 77, DW II 339, 4-340, 3: Dar umbe: waz sie sint in der wârheit, daz sint sie in gote, und dar umbe ist got aleine in der wârheit. Und alsô meinet daz wort ‚ich‘ die isticheit götlîcher wârheit, wan ez ist ein bewîsunge eines ‚istes‘. Darumbe bewîset ez, daz er aleine ist. Daz ander: ez meinet, daz got ungescheiden ist von allen dingen, wan got ist in allen dingen, wan er ist in inniger, dan sie in selben sint. Alsô ist got ungescheiden von allen dingen; trans. ebd. 567: ‚Darum: Was sie in Wahrheit sind, das sind sie in Gott, und darum ist in Wahrheit 〈nur〉 Gott allein. Und so 〈also〉 meint dann das Wort „ich“ die Seinsheit göttlicher Wahrheit, denn es 〈= das „ich“〉 ist die Bezeugung eines Seienden. Deshalb bezeugt es, daß er allein ist. Zum zweiten meint es, daß Gott ungeschieden ist von allen Dingen, denn Gott ist in allen Dingen, da er ihnen inniger ist, als sie 〈es〉 sich selbst sind. So 〈also〉 ist Gott ungeschieden von allen Dingen.‘ 29. Diu inwendige geburt gotes an der sêle ist ein volbringunge aller irer sælicheit, und diu sælicheit vrumet ir mê, dan daz unser herre mensche wart in unser vrouwen sant Marîen lîbe und dan daz er daz wazzer rüerte. Waz got ie geworhte oder getete durch den menschen, daz enhülfe im niht als umbe einen bônen, er enwürde vereinet mit gote an einer geistlîchen vereinunge, dâ got geborn wirt in der sêle und diu sêle geborn wirt in gote … (Eckhart, Pr. 87, DW IV,1 27, 66-28, 70; meine Übersetzung). 30. Alsô wirt daz êwige wort gesprochen inwendic in dem herzen der sêle, in dem innersten, in dem lûtersten, in dem houbete der sêle, dâ ich nû von sprach, in vernünfticheit: dâ geschihet diu geburt inne (Eckhart, Pr. 38, DW II 229, 4-230, 1; trans. ibid. 679). 31. Her umbe sprichet daz wörtelîn, daz ich vür geleit hân: ‚got hât gesant sînen einbornen sun in die werlt‘; daz sult ir niht verstân vür die ûzwendige werlt, als er mit uns az und trank: ir sult ez verstân vür die inner werlt. Als wærlîche der vater in sîner einvaltigen natûre gebirt sînen sun natiurlîche,

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Auf diesen Gott im Innersten muss die Seele gewissermaßen zugehen; sie muss sich in ihr Innerstes wenden, sich dort konzentrieren, um Gott in der Gottesgeburt zu begegnen, anstatt ‚auszugehen‘; Eckhart fordert dabei zum einen vom Menschen, daz er genzlîche und alzemâle ûferhaben sî in got mit bekantnisse und mit minne und mit wârer, ganzer innicheit.32 Er erläutert andererseits auch Gottes Innerstes so: Nun spricht er: ‚Freut euch im Herrn!‘ Darin erkennen wir zweierlei Aussagen. Das erste ist, daß man beständig innebleibe ‚in dem Herrn‘ und nichts außerhalb seiner in Erkenntnis und in Lust suche, vielmehr sich allein in dem Herrn freue. Die andere Aussage besagt: ‚Freut euch in dem Herrn!‘, in seinem Innersten und in seinem Ersten, dort, wo alle Dinge von ihm empfangen, er aber von niemand. … Darum spricht er: ‚Sorgt euch nicht; der Herr ist hier nahe bei euch!‘, das heißt: in unserm Innersten, wenn er uns daheim findet und die Seele nicht ausgegangen ist mit den fünf Sinnen zu spazieren. Die Seele muss daheim sein in ihrem Innersten und in dem Höchsten und in ihrem Lautersten und beständig innebleiben und nicht auslugen; dort ‚ist Gott dabei und ist Gott nahe.‘33 So werden Gottes innigestes und das innigeste der Seele zusammengeführt. Gemeinsam ist ihnen das Innig-Sein. Und nur so, wenn die Seele ‚zuhause‘ ist, wird sie von Gott ‚heimgesucht‘: ‚Ich hân in geruofet und in gelocket und in geladen, und in mich ist komen der geist der wîsheit‘. Wer im ruofet in dem allerinnigesten, in den kumet ‚der geist der wîsheit.‘34 als gewærlîche gebirt er in in des geistes innigestez, und diz ist diu inner werlt. Hie ist gotes grunt mîn grunt und mîn grunt gotes grunt (Eckhart, Pr. 5b, DW I 90, 3-8; trans. ibid. 450). Vgl. auch id., Pr. 102, DW IV,1 411, 19-27. 32. Eckhart, Pr. 49, DW II 429, 6-430, 1; trans. ibid. 714: ‚daß er gänzlich und allzumal mit Erkenntnis und mit Liebe und mit wahrer, ganzer Innigkeit zu Gott emporgehoben sei.‘ 33. Nû sprichet er: ‚vröuwet iuch in dem herren!‘ Dâ merken wir zwei wörtelîn. Daz êrste ist, daz man allez inneblîbende sî ‚ín dem herren‘ und niht ûzer im ensuoche in bekantnisse und in luste dan aleine ist sich vröuwende ín dem herren. Daz ander wörtelîn: ‚vröuwet iuch in dem hérren!‘, in sînem innigesten und in sînem êrsten, dâ alliu dinc von enpfâhent und er von niemanne. … Dar umbe sprichet er: ‚ensorget niht; der herre ist hie bî iu nâhe!‘, daz ist: in unserm innigesten, ob er uns dâ heime vindet und niht diu sêle ûzgegangen enist sponzieren mit den vünf sinnen. Diu sêle muoz dâ heime sîn in irm innigesten und in dem hœhsten und in irm lûtersten und allez inneblîbende und niht ûzluogende; dâ ‚ist got bî und got ist nâhe‘ (Eckhart, Pr. 34, DW II 163, 5-164, 4; trans. ibid. 666). 34. Eckhart, Pr. 59, DW II 624, 4-6; trans. ibid. 753: ‚Ich habe ihn gerufen und ihn gelockt und ihn geladen, und der Geist der Weisheit ist in mich gekommen. Wer ihn im Allerinnersten ruft, in den kommt „der Geist der Weisheit“.‘



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Das heißt zusammengenommen: Die kontemplative Konzentration auf das Seeleninnere ent-deckt dort – – – –

das wahre Sein, die Wahrheit, Gott, dem sie Raum für die Gottesgeburt schafft. Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass der innere Ort der Gottesgeburt, der Wahrheit und des Seins für Eckhart mit der vernünfticheit verknüpft ist und von dieser suchenden Kraft erreicht werden kann, weil sie nach innen strebt (anders als der Wille).

Damit kann es aber kein Genügen haben, denn schon diese Bewegung, ins ‚Innigste‘ zu gehen, dort daheim zu sein, dort Gott zu empfangen, verlangt nach mehr. In einer Stelle der Predigt 4, deren unmittelbare Fortsetzung schon zitiert wurde,35 macht Eckhart deutlich, dass man dâheime sein muss, dass Gott und das Sein dort sind, dass alles, was ins Wort zu setzen ist, aus dem Inneren, von innen kommen muss, aber eben auch herauskommen muss, nach außen: Ich sprach einest: swaz eigenlich gewortet mac werden, daz muoz von innen her ûz komen und sich bewegen von innerer forme und niht von ûzen her în komen, mêr: von inwendic sol ez her ûz komen.36 Auch in der ebenfalls schon zitierten Predigt 104 hebt Eckhart den eigentlichen Zusammenhang zwischen Innen und Außen, oder besser: zwischen dem Wort im Innersten der Seele und der notwendig nach außen gerichteten Verkündigung hervor: A-Fassung Sant Paulus sprichet ze Timotheô: ‚lieber vriunt Timothee, dû solt ûzpredigen daz wort‘. Meinet er daz ûzer wort, daz den luft sleht? Nein, sicherlîche. Er meinet daz inwendic geborn und doch verborgen wort, daz dâ liget bedecket in der sêle: daz

B-Fassung Sant Paulus sprichet: ‚lieber sun Timothee, predige ûz diz wort‘. Meinet er daz ûzer wort, daz *der luft sleht? Nein, sicherlîche. Er meinet daz inwendic gegeben wort, daz dâ liget bedecket in der inwendicheit der sêle: daz hiez er in ûzpredigen,

35. Siehe oben S. 93 unter Nr. 1 ‚Sein im Innersten‘ und unter Anm. 22. 36. Eckhart, Pr. 4, DW I 66, 3-5; trans. ibid. 443: ‚Ich sagte einst: Was im eigentlichen Sinne in Worten geäußert werden kann, das muß von innen heraus kommen und sich durch die innere Form bewegen, nicht dagegen von außen herein kommen, sondern: von innen muß es heraus kommen.‘

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heizet er in ûzpredigen, daz ez den kreften kunt werde und dar abe gespîset werden, und sich ouch der ûzer mensche her ûz gebe in allez daz ûzer leben, dâ ez der ebenmensche bedürfe, daz man daz allez an dir vinde volvüerende nâch dîner maht. Ez sol in dir sîn in dem gedanke, in der vernunft und in dem willen, und sol ouch ûzliuhten an den werken. Alsô sprach Kristus: ‚iuwer lieht sol liuhten vor den liuten‘. Er meinte die liute, die aleine ahtent der schouwelicheit und niht enahtent tugentlîcher würkunge und sprechent, sie enbedürfen sîn niht, sie sîn dar über komen. Die enmeinte Kristus niht, dô er sprach: ‚der sâme viel in ein guot ertrîche und brâhte hundertveltige vruht‘. Mêr: ez sint die, die er meinte, dô er sprach: ‚der boum, der niht vruht enbringet, den sol man abehouwen.‘ 37

daz daz den kreften kunt würde und dar abe gespîset würden und ouch in dem ûzern menschen an aller bewîsunge, und sich hât zuo gegeben an allez daz ûzer leben, dâ ez der næhste bedarf: daz man daz an dir vinde in besorgenne. Ez sol ûzliuhten an dem gedanke und an der vernunft und an dem willen und an den sinnen, als unser herre sprach: ‚alsô sol iuwer lieht liuhten vor den liuten‘. Daz ist wider etlîche liute, die dâ nur ahtent der schouwelicheit und niht enahtent der würklicheit und sprechent, sie enbedürfen der üebunge der tugende niht, sie sîn dar über komen. Von den ensprach unser herre niht, dô er sprach: ‚dô diz wort viel in daz guot ertrîche, dô brâhte ez hundertveltige vruht‘. Und anderswâ sprichet er: ‚der baum, der niht vruht enbringet, den sol man abehouwen.‘ 38

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All dem zufolge ist es sogar gefährlich, nur die innere Schau gelten zu lassen und die äußeren Werke für nichts zu achten. In einer scharfen Wendung gegen Sektierer, die die Notwendigkeit der Tugendwerke ablehnen, betont Eckhart die Notwendigkeit des Ausstrahlens und 37. Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 582, 183-584, 209. Meine Übersetzung (A-Fassung): ‚Sankt Paulus sagt zu Timotheus: „Lieber Freund Timotheus, du musst das Wort hinauspredigen.“ Meint er damit das äußere Wort, das die Luft trifft? Nein, mit Sicherheit nicht: Er meint das inwendig geborene und doch verborgene Wort, das dort in der Seele [noch] bedeckt liegt; das heißt er ihn hinauspredigen, dass es den Kräften bekannt werde und dass sie damit gespeist werden, und dass sich auch der äußere Mensch selbst hinausgebe in das ganze äußere Leben, wo ihn der Mitmensch braucht, dass man dies alles, so gut du es vermagst, an dir finde. Es soll in dir sein in den Gedanken, in der Vernunft und in dem Willen und soll auch ausstrahlen in den Werken. So sagte Christus: „Euer Licht soll vor den Leuten leuchten.“ Er zielte damit auf die Leute, die alleine auf die [innere] Schau achten und die die Wirkung tugendhafter Werke für nichts halten und behaupten, sie bedürften ihrer nicht, sie seien darüber gelangt. Die hatte Christus nicht im Sinn, als er sagte: „Der Samen fiel in eine gute Erde und brachte hundertfältige Frucht.“ Vielmehr sind es diese, auf die er zielte, als er sagte: „Der Baum, der keine Frucht bringt, den soll man abhacken“‘ (meine Hervorhebung). 38. Eckhart, Pr. 104B, DW IV,1 582, 183-584, 209.



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Vermittelns und Hinauswirkens. In der B-Fassung der Predigt fällt an dieser Stelle der Begriff der in(wend)icheit.39 Und dass es damit nicht genügt, hat Eckhart an anderer Stelle sehr deutlich gesagt: Dieses personhafte Mensch-Gott-Sein entwächst und schwebt ganz über dem äußeren 〈körperhaften〉 Menschen, so daß dieser es niemals erreichen kann. Auf sich selbst gestellt 〈stehend〉 empfängt er wohl von dem personhaften Sein auf mancherlei Weise Süße, Trost und Innigkeit, was gut ist; es ist aber das Beste nicht. Bliebe er 〈= der äußere, körperhafte Mensch〉 so in sich selbst ohne Gehaltensein 〈= Stütze〉 seiner selbst, so müßte, wiewohl er aus Gnade und unter Mitwirkung der Gnade Trost empfinge, was doch das Beste nicht ist, der innere Mensch sich aus dem Grunde, in dem er 〈mit dem göttlichen Grunde〉 eins ist, auf geistige Weise herausbiegen und müßte sich nach dem gnadenhaften Sein verhalten, von dem er gnadenhaft getragen 〈= gehalten〉 wird.40 Ganz ähnlich – und noch schärfer – sieht Eckhart (bis in die Formulierung hinein: daz beste niht) das in den Rede(n) der underscheidunge: Nun gibtʼs aber noch ein zweites: das ist ein Ausbruch und ein Werk der Liebe. Das sticht recht in die Augen, wie Innigkeit und Andacht und Jubilieren, und ist dennoch allwegs das Beste nicht. Denn es stammt mitunter gar nicht von der Liebe her, sondern es kommt bisweilen aus der Natur, daß man solches Wohlgefühl und süßes Empfinden hat oder es mag des Himmels Einfluß oder auch durch die Sinne eingetragen sein; und 39. Vgl. auch Eckhart, Pr. 4, DW I 61, 7-62, 6: Ez sî siechtage oder armuot oder hunger oder durst oder swaz ez sî, waz got über dich verhenget oder niht verhenget, oder swaz dir got gibet oder niht engibet, daz ist dir allez daz beste; ez sî andâht oder innicheit, daz dû der beider niht enhâst, und swaz dû hâst oder niht enhâst: setze eht dû dich rehte dar în, daz dû gotes êre meinest in allen dingen, und swaz er dir denne tuot, daz ist daz beste; trans. ibid. 442: ‚Es sei 〈nun〉 Krankheit oder Armut oder Hunger oder Durst oder was immer es sei, das Gott über dich verhängt oder nicht verhängt oder was dir Gott gibt oder nicht gibt, das alles ist für dich das Beste; sei’s, daß du keines von beiden, weder Andacht noch Innerlichkeit hast und was immer du hast oder nicht hast: stelle dich nur recht darauf ein, daß du Gottes Ehre in allen Dingen im Auge hast, und was immer er dir dann antut, das ist das Beste.‘ 40. Diz persônlich wesen mensche-got entwehset und überswebet dem ûzersten menschen alzemâle, daz er ez niemer ervolgen enkan. Stânde an im selber er enpfæhet wol der gnâde învluz von dem persônlîchen wesene in maniger hande wîse süezicheit, trôst und innicheit, daz guot ist; aber ez enist daz beste niht. Blibe er alsô an im selber âne understantnisse sîn selbes, aleine er wol trôst enpfienge von gnâden und mitwürkunge der gnâde, daz doch sîn bestez niht enist, sô müeste der inner mensche nâch geistes art sich herûzbiegen ûzer dem grunde, in dem er ein ist, und müeste sich halten nâch dem gnædelîchen wesene, von dem er gnædelîchen enthalten ist (Eckhart, Pr. 67, DW III 134, 9-16; trans. ibid. 530).

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die dergleichen öfter erfahren, das sind nicht allwegs die Allerbesten. Denn seiʼs auch, daß es wirklich von Gott stamme, so gibt unser Herr das solchen Menschen, um sie zu locken oder zu reizen und auch wohl, auf daß man dadurch von anderen Menschen recht ferngehalten wird. Wenn aber diese selben Menschen hernach an Liebe zunehmen, so mögen sie leicht nicht mehr soviel Gefühle und Empfindungen haben …41. Daß man solche Empfindungen bisweilen aus Liebe lassen soll, das bedeutet uns der liebende Paulus, wo er sagt: ‚Ich habe gewünscht, daß ich von Christo geschieden werden möge um der Liebe zu meinen Brüdern willen‘ 〈Röm. 9,3〉.42 Eckhart verbindet hier Erscheinungsformen der mystischen Spiritualität seiner Zeit wie die Entrückung im Jubilus, oder auch die fromme Andacht mit dem Terminus innicheit. Die Frage, die sich ihm stellt, ist die, ob hier die Entrückung tatsächlich von Gott kommt oder ob es dem Menschen in diesem Zustand nur um die Qualität der Empfindungen geht. Dabei steht Eckhart der innicheit, wie man sieht, insgesamt skeptisch gegenüber. Man muss seiner Meinung nach – das klang schon eben im Paulus-Zitat an – die innicheit und die andâht im Zweifelsfall sogar lassen; dies wird, wieder mit Paulus formuliert, noch deutlicher gesagt: Gesetzt nun, daß es voll und ganz Liebe sei, so ist es doch das Allerbeste nicht. Das wird aus folgendem deutlich: Man soll nämlich von solchem Jubilus bisweilen ablassen, um eines Besseren aus Liebe willen und um zuweilen ein Liebeswerk zu wirken, wo es dessen nottut, seiʼs geistlich oder leiblich. Wie ich auch sonst schon gesagt habe: Wäre der Mensch so in Ver­ zückung, wieʼs Sankt Paulus war, und wüßte einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete 41. Nû ist ein anderz, daz ist ein ûzbruch und ein werk der minne. Daz schînet sêre als innicheit und andâht und jubilieren und enist alwege daz beste niht; wan ez enist etwennne von minne niht, sunder ez kumet von natûre etwenne, daz man solchen smak und süezicheit hât, oder ez mac des himels îndruk sîn, oder ez mac sinneclich îngetragen sîn. Und die des mêr hânt, daz ensint alwege die aller besten niht; wan, ez sî ouch, daz ez wol von gote sî, sô gibet unser herre daz solchen liuten durch ein lückern und durch ein reizen und ouch, daz man dâ mite sêre enthalten wird von andern. Aber die selben, sô sie her nâch mêr minne gewinnent, sô enhânt sie lîhte niht als vil vüelennes und enpfindennes … (Eckhart, Rede DW V 219, 10-220, 9; trans. ibid. 514). 42. Daz man solchez enpfinden sül durch minne lâzen underwîlen, daz bewîset uns der minnende Paulus, dâ er sprichet: ‚ich hân gewünschet, daz ich müeste gescheiden werden von Kristô umbe die minne mîner brüeder‘ (Eckhart, Rede DW V 223, 9-224, 1; trans. ibid. 515).



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es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe.43 Demgemäß gilt: – In der innicheit gibt es eine Qualität des empfindens, die Eckhart abweist. – Ihm geht es auch in der kontemplativen Wendung nach innen um die Wahrheit und die vernünfticheit. – smac und süezicheit oder gar bilde, die dabei empfunden oder gesehen werden, sind in Eckharts Augen nicht die wahren Früchte der Kontemplation, sondern es ist die nackte, bloße, bildlose Wahrheit, die auf der Ebene der vernünftigen Erkenntnis liegt. – Innicheit ist in einer Wendung nach außen aufzugeben. Der Nächste ist wichtiger als die eigene innicheit und schon gar als die Empfindung, die diese eigene innicheit auslöst. Ihre Hinwendung zum Nächsten, zum Mitmenschen, ist der höhere Wert, höher selbst als der înzuck in die Gottheit. Genauso interessant wie der Inhalt dieser Aussagen aber ist ihre Art und Weise. Der Sprachduktus ist dialektisch belehrend (und das mag an der Textsorte Predigt liegen); aber hier bestätigt sich die These vom Mystagogen Eckhart. Dass Eckhart die Empfindung der innicheit abwehrt und stets auf die vernünfticheit abhebt, ist kein Zufall. Auch rhetorisch herrscht vernünfticheit, nicht Gefühl. Zudem: Eckhart spricht nie von sich. Wenn von einem ich die Rede ist, dann als verallgemeinerte Beispielfigur. In dem Innersten, das er ûzprediget, sind keine persönlichen Empfindungen oder Erfahrungen auszumachen, sondern allgemeine Wahrheiten. Das deckt sich mit der eben zitierten Stelle aus Predigt 104 vom Hinauspredigen des verborgenen Wortes, das in der Seele bedeckt liegt. Und dieser Gedanke, dass das inwendige, verborgene Wort hinausgepredigt werden muss, wiederum schließt den Kreis – dorthin, wo Eckhart in der Maria-Martha-Predigt (Nr. 86) Marthas Leben den Vorzug 43. Nû sî, daz ez zemâle minne sî, sô enist ez doch daz aller beste niht; daz schînet dar ane: wan man sol solchen jubilus underwîlen lâzen durch ein bezzerz von minne und underwîlen durch ein minnewerk ze würkenne, dâ man sîn nôt hât, geistlîchen oder lîplîchen. Als ich mêr gesprochen hân: wære der mensche alsô in einem înzucke, als sant Paulus was, und weste einen siechen menschen, der eines suppelîns von im bedörfte, ich ahtete verre bezzer, daz dû liezest von minne von dem und dientest dem dürftigen in mêrer minne (Eckhart, Rede DW V 221, 1-8; trans. ibid. 514-5).

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gibt, weil es aktiv ist, und dorthin, wo er sich in Predigt 48 Gedanken über die innicheit und die Predigt macht: Als ich heute hierher ging, da sann ich darüber nach, wie ich euch so verständlich predigen könnte, daß ihr mich gut verstündet. Da erdachte ich mir ein Gleichnis; könntet ihr das recht verstehen, so verstündet ihr den von mir gemeinten Sinn und den Grund meines ganzen Anliegens, über den ich seit je gepredigt habe.44 Das Ich, von dem hier die Rede ist, berichtet nicht von seinen inneren Empfindungen, nicht von dem, was es schaut, sondern von dem, wie es das Erkannte vermitteln will und kann.45 Die Stelle zeigt auch, wie in Eckharts Sicht alle Predigten im grunt aller meinunge eins sind. Eckhart bedient sich dabei der uneigentlichen Rede (ein glîchnisse). Aber wer dieses eine glîchnisse entschlüsselt hat, der ist in der Lage, alles, was er je gepredigt hat, zu verstehen. Die Stelle (Dô ich hiute her gienc, dô gedahte ich) zeigt weiter einen Prediger, der mit seinen Worten unterwegs ist und der sie im wahrsten Sinne des Wortes hinausträgt. Oberstes Ziel des Predigers aber muss es sein, dass diese Worte auch ihr Ziel erreichen, dass er sich also mithilfe eines Gleichnisses verständlich machen kann. Deshalb denkt er schon im Vorfeld der aktuellen Predigt darüber nach, wie er predigen wird. Seine Antwort: vernünfticlîche.46 Dafür hat er wiederum vernünftige Gründe, die vor allem aus einer Stelle der Paradisus-Predigt Nr. 46 (= Pr. 95, DW IV,1) ersichtlich werden, in der Eckhart zunächst über die innicheit des Priesters bei der Messe handelt: Man kann mit größerer Innigkeit Messe hören, als Messe lesen. Wenn ein Priester während der Messe zu viel Innigkeit suchen wollte, könnte er etwas Schädliches tun. Der beste Rat ist, dass 44. Dô ich hiute her gienc, dô gedâhte ich, wie ich iu alsô vernünfticlîche gepredigete, daz ir mich wol verstüendet. Dô gedâhte ich ein glîchnisse, und kündet ir daz wol verstân, sô verstüendet ir mînen sin und den grunt aller mîner meinunge, den ich ie gepredigete (Eckhart, Pr. 48, DW II 416, 1-4; trans. ibid. 712). 45. Vgl. zum Folgenden: Freimut Löser, ‚Werkkonzepte und „Individualisierung“ bei ­Eckhart, Tauler und Seuse‘, in Freimut Löser and Dietmar Mieth (eds.), Religiöse Individualisierung in der Mystik. Eckhart – Tauler – Seuse, MEJb 8 (Stuttgart, 2014), 145-80, 153-4. 46. Quint übersetzt an dieser Stelle vernünfticlîche mit ‚verständlich‘ und erzeugt so eher eine Tautologie: ‚wie ich euch so verständlich predigen könnte, daß ihr mich gut verstündet.‘ Eckharts Verwendung der Termini vernünfticheit, vernünfticlîche, deren nhd. Äquivalente und ihre Diskussion im Rahmen seiner Intellekttheorie wäre ein umfangreiches eigenes Kapitel.



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man vorher und nachher Innigkeit suche, und wenn man ein Werk tut, dass man das vernünftig tue.47 So – und nur bis zu diesem Punkt – war die Stelle der Eckhart-Predigt aus der Sammlung des Paradisus anime intelligentis bekannt. Der Redaktor dieser Sammlung hat die Texte bekanntlich häufig gekürzt. Glück­ licherweise ist vor etlichen Jahren eine neue Eckhart-Handschrift aufgetaucht. So wissen wir jetzt, wie Eckhart eigentlich fortfuhr: Wollte ein Prediger in seiner Predigt Innigkeit suchen, dann könnte er seine Rede nicht gut halten. Mir reicht es leicht, dass ich während der Predigt nur halb so viel Innigkeit habe, wie ich haben kann, wenn ich sie erdenke.48 Mir scheint diese Stelle für Eckharts Einordnung als ‚Mystiker‘, aber auch als Prediger signifikant: Stellen, an denen Eckhart distanziert innekeit als guot, aber eben nicht als bestez bezeichnet, wurden schon analysiert. Hier nun wird der Grund für die Distanz und die Skepsis klar erkennbar. Eckhart spricht sich nicht grundsätzlich gegen innikeit aus, weist ihr aber einen begrenzten Ort und eine begrenze Zeit für den Prediger zu: Der Platz der innikeit ist während der Vorbereitung auf den Gottesdienst (oder danach = fore und nach). Dort, wo der Prediger noch ganz bei sich ist, dort, wo er die Predigt bedenket, dort ist innikeit am Platz. Aber während der Messe, während des Gottesdienstes, ist zu viel priesterliche innikeit sogar schädlich, denn wer als Prediger während der Lesung der Messe zu viel eigene innikeit sucht, könnte Schaden bewirken; und mehr noch: Wer während der Predigt die eigene innikeit anzielen würde, hinderte sich selbst an der guten Rede, an einer Rede, die auf Kommunikation und Verständlichkeit zielen sollte. Demnach sollten Priester und Prediger in Messe und Gottesdienst bestenfalls auf die 47. [M]an mac inneclicher messe horin dan messe sprechin, wolde ein pristir zu vile innekeit suchin in der messe, he mochte tun daz schedelich were. Der beste rait ist daz man fore und noch innekeit suche, und wan man ein [werk] tu, daz man daz redeliche tu (Philipp Strauch, Niklaus Largier and Gilbert Fournier [eds.], Paradisus anime intelligentis: Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers Abschrift [Hildesheim, 1998], Pr. 46, 104, 26-9; meine Übersetzung). 48. Wolde ein prediger innikeit suchen an der predigate, er mochte sine rede nicht wol gethün. Mir genüget wol, das ich halb als vel ynnikeit hette in der predigate also ich haben mag, also ich sy bedenke. Vgl. Freimut Löser, ‚Als ich mê gesprochen hân. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes‘, ZfdA 97 (1986), 206-27; vgl. jetzt Eckhart, Pr. 95, DW IV,1 183A (meine Übersetzung).

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innikeit ihrer Zuhörer abzielen, nicht auf die eigene. In der Kommunikation mit der Zuhörerschaft geht es um Verständlichkeit, wie das Zitat aus Predigt 48 gezeigt hat, nicht um innikeit des Predigers. Priester und Prediger sollten redelich handeln und eine wohl gepflegte verständliche rede halten. Der Gleichklang des Wortes ist alles andere als Zufall: Die öffentliche Rede und das öffentliche Auftreten des Priesters oder Redners soll Eckhart zufolge redelich sein. Redelich aber heißt – den schon eingangs zitierten Wörterbüchern zufolge – rationalis.49 Das heißt: Eckharts Predigt und deren Wirkung zielt auf eine rational bestimmte Kommunikation. Im Vordergrund steht für ihn die Vermittlung in der rede, nicht die (eigene) innikeit. Die – nötige! – Wendung nach innen kann für einen Prediger wie Eckhart nicht Ausdruck und Genügen im Rückzug in die eigene innikeit finden. Sein Zielpunkt ist nie die abgesonderte innikeit, sondern stets die redeliche Wendung nach außen, die Kommunikation im ûzpredigen des Wortes. Eckhart orientiert sich laut Aussage dieser Stelle also am Adressatenkreis, an der Gottesdienstbindung der Predigt und an der ratio mehr als an der eigenen innikeit. Damit ist der entscheidende Punkt in einer – nur scheinbar überraschenden – Wendung gefunden: Schon die Betrachtung der innicheit und des Inwendigen bei ­Eckhart führt zu dem Ergebnis, dass sie hinausgepredigt werden muss, und zwar vernünfteclîche. Oder: Contemplata sind bei Eckhart ganz aus sich selbst heraus, insofern sie inwendig sind, niemals hermetisch abgeschlossen, sondern notwendig verbunden mit dem Konzept des aliis tradere. Diese Beobachtung wird zu ergänzen sein, indem der zweite deutsche Begriff herangezogen wird, der bei der Betrachtung der contemplata von Bedeutung ist: die innere Schau. 2.2  Contemplata: Schauen Auch die Analyse des Verbs schouwen, des Adjektivs schouwelich etc. bei Eckhart führt zunächst zu einem ähnlichen Gegensatz zwischen Innen und Außen. Eckhart exemplifiziert seine Auffassung beispielsweise in der 49. Klaus Grubmüller, Bernhard Schnell et al. (eds.), Vocabularius Ex quo. Überlieferungs­ geschichtliche Ausgabe V, TTG 26 (Tübingen, 1989), 2241, Art. R. 18.1: Racionalis et hoc -le, redelich vel vernunftig. Vgl. ibid., Art. R 15.



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bekannten Maria-Martha-Predigt, wo Maria die vita contemplativa, Martha die vita activa versinnbildlicht. Eckhart hat dort bekanntlich im Vergleich mit der im Mittelalter sonst absolut vorherrschenden Sichtweise überraschenderweise Marthas Lebensform den Vorzug gegeben; dementsprechend ist Marias Schau aus Marthas Sicht, aber auch aus der des Predigers, unvollkommen: Ganz so stand es mit Martha. Deshalb sagte sie: ‚Herr, heiß 〈sie〉, daß sie mir helfe‘, als hätte sie sagen wollen: ‚Meiner Schwester dünktʼs, sie könne 〈auch schon〉, was sie 〈nur〉 wolle, solange sie 〈nur〉 bei dir unter deinem Troste sitze. Laß sie nun erkennen, ob dem so sei, und heiß sie aufstehen und von dir gehen!‘ Zum anderen warʼs zärtliche Liebe, wenngleich sieʼs nicht in diesem Sinne 〈= abseits vom eigentlich gemeinten Sinne〉 ausdrückte. Maria war so erfüllt von Verlangen, sie sehnte sich, ohne zu wissen, wonach, und wünschte, ohne zu wissen, was. Wir haben sie im Verdacht, die liebe Maria, daß sie irgendwie mehr um des wohligen Gefühls als um des geistigen Gewinns willen dabeigesessen habe. Deshalb sprach Martha: ‚Herr, heiß sie aufstehen‘, denn sie fürchtete, daß sie 〈= Maria〉 in diesem Wohlgefühl stecken bliebe und nicht weiterkäme 〈nicht gediehe zu tätigem Wirken〉.50 Auch hier sind ähnliche Argumente feststellbar wie bei der Erörterung von Innen und Außen: Marias ‚Schauen‘ ist verbunden mit dem Wohlgefühl, Marthas tätiges Leben mit dem redelîchen Nutzen. Eine Gefahr des Lebens, das dem ‚Schauen‘ ergeben ist, besteht dann in der Beschränkung auf die Empfindung der Lust, die nicht mehr vorankommt. Auch anhand der biblischen Exempel, die er heranzieht, macht Eckhart also klar: In der ‚Schau‘ ist Gott zwar zu finden (so wie in der Wendung nach innen); sie steht aber nicht allein, sondern muss durch andere Fähig­ keiten ergänzt werden:

50. Alsô stuont ouch Marthâ. Dâ von sprach si: ‚herre, heiz, daz si mir helfe‘, als ob si spraeche: ‚mîne swester dunket, si vermüge, swaz si welle, die wîle si bî dir in dem trôste sitzet. Nû lâz sie schouwen, ob ez alsô sî, und heiz sie ûfstân und von dir gân‘. Daz ander was ein lieplich minnen, wan daz si ez spræche ûz dem sinne. Marîâ was sô vol girde: si gerte, si enwiste wes, und wolte, si enwiste waz. Wir hân sie arcwænic, die lieben Marîen, si sæze etwenne mê durch lust dan durch redelîchen nutz. Dâ von sprach Marthâ: ‚herre, heiz sie ûfstân‘, wan si vorhte, daz si blibe in dem luste und niht vürbaz enkæme (Eckhart, Pr. 86, DW III 483, 10-7; trans. ibid. 592-3).

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Sie waren ‚auf dem Berge Sion‘. ‚Sion‘ bedeutet soviel wie ‚schauen‘; ‚Jerusalem‘ bedeutet soviel wie ‚Friede‘. Wie ich neulich in Sankt Mariengarten51 sagte: Diese zwei zwingen Gott; hast du die an dir, so muß er in dir geboren werden.52 Wer nun vollkommen sein will in dieser dreierlei Liebe, der muß notwendig vier Dinge haben. Das erste: eine wahre ‚Abgeschiedenheit‘ von allen Kreaturen. Das zweite: ein wahres Leben der Lya, das bedeutet ein tätiges Leben, das da im Grunde der Seele bewegt sei durch die Berührung des Heiligen Geistes. Das dritte: ein wahres Leben der Rahel, das ist ein beschauliches Leben. Das vierte: einen aufklimmenden Geist.53 Ähnlich wie bei der Betrachtung der innikeit führt auch die Analyse der ‚Schau‘ bei Eckhart zur Aufdeckung einer Konzentrationsbewegung nach innen. Und auch in Verbindung mit dem Verb schouwen stößt man bei Eckhart auf die Wahrheit: Um wie viel mehr wir uns von allen Dingen entziehen und all unsere Kräfte sammeln sollten, um die alleinige, unermessliche, ewige Wahrheit zu schauen und zu erkennen! Dazu sammle all deine Kräfte, all deine Sinne, deine ganze Vernunft und dein ganzes Gedächtnis: das alles wende in den Grund, worinnen der Schatz verborgen liegt. Wenn dies geschehen soll, so musst du all deinen Werken entfallen und in ein Unwissen gelangen, damit du dies finden kannst.54 Dabei ist es signifikant, dass Eckhart auch hier beim inneren Schauen nicht von Empfindungen spricht, sondern – auf rationale Art auch hier 51. Tatsächlich spricht Eckhart hier von dem Kloster der Kölner Zisterzienserinnen St. Marien­ garten; vgl. DW I 372-3. 52. Sie wâren ûf dem berge Syon. Syon sprichet als vil als schouwen; Jêrusalem sprichet als vil als vride. Als ich nû niuwelîche sprach ze 〈sant〉 Margarêten: diu zwei twingent got; und hâst dû diu an dir, sô muoz er in dir geborn werden (Eckhart, Pr. 13, DW I 214, 10-3; trans. ibid. 480-1). 53. Wer nû volkomen wil sîn an dirre drîerleie minne, der muoz von nôt vier stücke hân. Daz êrste: eine wâre abegescheidenheit von allen crêatûren. Daz ander: ein wâr leben Lyae, daz bediutet ein würkende leben, daz dâ beweget sî in dem grunde der sêle von der berüerunge des heiligen geistes. Daz dritte: ein wâr leben Rachêlis, daz ist ein schouwelich leben. Daz vierde: einen ûfklimmenden geist (Eckhart, Pr. 75, DW III 301, 9-302, 3; trans. ibid. 561). 54. Wie unglîche mê wir uns entziehen solten von allen dingen und samenen alle unsere krefte ze schouwenne und ze bekennenne die einige, ungemezzene, êwige wârheit! Her zuo samene alle dîne krefte, alle dîne sinne, alle dîne vernunft und allez dîn gehugnisse: daz kêre in den grunt, dâ dirre schatz inne verborgen liget. Sol diz geschehen, sô muost dû allen werken entvallen und komen in ein unwizzen, solt dû diz vinden (Eckhart, Pr. 102, DW IV,1 417, 92-7; meine Übersetzung).



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– dazu aufruft, alle Kräfte der Seele, alle Sinne, die gesamte Vernunft und die gehugnisse (= memoria) zu versammeln.55 Die Bedingungen der Schau Gottes lassen sich dabei recht genau definieren – und es zeigt sich hier, dass auch die Frage nach der Schau Gottes unauflöslich mit verstantnisse verknüpft ist. Der Wille ist nötig, denn er sorgt für gerunge und damit für eine Grundbedingung der menschlichen Gottessuche (s.u.). Höher aber ist bekantnisse, deren Werk einvaltic ist, weil es in der reinen Erkenntnis des bloßen Gottes besteht.56 Um Gott zu schauen, muss man aber auch, wie gerade schon erkennbar, die rehte begerunge (und die wahre Demut zugleich) haben 55. Vgl. zu gehugnisse und der Kräftetrias die ebenfalls mit Mariengarten verbundene Predigt 14: Stant vp iherusalem ind verheiff dich ind werde verluchtet. De myster inde de heylgen sprechent gemeynlichen, dat de sele haue dri creften, dar an sy gelich sy der dryueildicheit. De eirsten craft is gehochnysse, de ment eyne heymeliche, verborgen konst; de nennet den vader. De ander craft heyscht inteligencia, dat is eyne intgegenwordicheit, eyn bekennen, eyne wysheit. Dey dirde crafte de heysset wylle, eyn vloit des heylgen geistes (Eckhart, Pr. 14, DW I 230, 6-231, 3); trans. ibid. 485: ‚„Steh auf, Jerusalem, und erhebe dich und werde erleuchtet.“ Die Meister und die Heiligen sagen gemeinhin, daß die Seele drei Kräfte habe, womit sie der Dreifaltigkeit gleiche. Die erste Kraft ist das Gedächtnis, womit ein geheimes, verborgenes Wissen gemeint ist; die bezeichnet den Vater. Die andere Kraft heißt intelligentia, das ist eine Vergegenwärtigung, ein Erkennen, eine Weisheit. Die dritte Kraft heißt Wille, eine Flut des Heiligen Geistes.‘ 56. Eckhart, Pr. 45, DW II 363, 30-366, 8: Nû sprichet er ‚Pêtre‘, daz ist als vil als ‚der got schouwet‘. Nû vrâgent die meister, ob der kerne des êwigen lebens mê lige an der verstantnisse oder an dem willen. Wille hât zwei werk: begerunge und minne. Verstantnisse, der werk ist einvaltic; dar umbe ist si bezzer; ir werk ist bekennen und engeruowet niemer, si enrüere blôz, daz si bekennet. Und alsô gât si dem willen vor und kündet im, daz er minnet. Die wîle man der dinge begert, sô enhât man ir niht. Sô man sie hât, sô minnet man sie; sô vellet begerunge abe. Wie sol der mensche sîn, der got schouwen sol? Er sol tôt sîn. Unser herre sprichet: ‚nieman enmac mich gesehen und leben‘. Nû sprichet sant Grêgôrius: der ist tôt, der der werlt tôt ist. Nû prüevet selbe, wie ein tôte sî und wie wênic ez in allez berüeret, daz in der werlt ist. … Diu varwe, diu an der want ist, sol diu getragen werden in mîn ouge, sô muoz si gebiutelt werden und kleinlich gemachet werden in dem lufte und in dem liehte und alsô geistlîche getragen werden in mîn ouge. Alsô muoz diu sêle gebiutelt werden in dem liehte und in der gnâde, diu got schouwen sol; trans. ibid. 704-5: ‚Nun spricht er 〈= Matthäus〉: „Petrus“, das heißt so viel wie „der Gott schaut“. Nun fragen die Meister, ob der Kern des ewigen Lebens mehr in der Vernunft oder im Willen liege. Der Wille hat zweierlei Werk: Begehren und Liebe. Der Vernunft Werk ist einfaltig; darum ist sie besser; ihr Werk ist das Erkennen, und sie ruht niemals, bis sie das, was die erkennt, unverhüllt berührt. Und auf solche Weise geht sie dem Willen voraus und macht ihm bekannt, was er liebt. Solange man die Dinge begehrt, solange hat man sie nicht. Wenn man sie hat, dann liebt man sie; dann fällt das Begehren weg. Wie soll der Mensch sein, der Gott schauen soll? Er soll tot sein. Unser Herr spricht: „Niemand kann mich sehen und leben“ 〈2Mos. 33,20〉. Nun sagt Sankt Gregorius: Der ist tot, der für die Welt tot ist. Nun schaut selbst, wie ein Toter 〈daran〉 sei und wie wenig ihn alles das berührt, was in der Welt ist. … Die Farbe, die an der Wand ist, soll die in mein Auge getragen werden, dann muß sie in der Luft und in dem Licht gesiebt und verfeinert und so vergeistigt in mein Auge hineingetragen werden. So 〈auch〉 muß die Seele, die Gott schauen soll, durchsiebt werden in dem 〈göttlichen〉 Licht und in der Gnade.‘

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– und dann kann man in einer für Eckhart typischen Wendung Gott twingen: Dass wir Gott nicht sehen können, das kommt von der Kleinheit unseres Begehrens und von der Menge der Kreaturen. Wer hohe Dinge begehrt, der ist hoch. Wer Gott schauen soll, der muss hoher Begehrung sein. Wisst, dass ernsthaftes Begehren und niedergeworfene Demut Wunder bewirken. Ich behaupte, dass Gott alles vermag; und doch vermag er es nicht, dem Menschen irgendetwas zu versagen, der demütig und voller großen Begehrens ist. Und wo auch immer ich Gott nicht zwingen kann, dass er alles tut, was ich will, da fehlt es mir entweder an Demut oder an Begehren.57 Die Schau Gottes ist gleichzeitig selbstverständlich ganz und nur von Gott abhängig; Gott offenbart sich oder entzieht sich – wobei er das Wohl des Menschen im Auge hat. Der Zwang, den der Mensch auf Gott ausüben kann, ist begrenzt, denn er geht, wie Eckhart immer wieder betont, gerade vom demütigen Menschen, vom wahrhaft demütigen Menschen aus.58 Und er beschneidet Gott keineswegs in seiner Freiheit, denn die Schau wird letztlich durch Gott bewerkstelligt: Wenn sich aber der menschliche Geist nach all seinem Vermögen in der rechten Treue übt, dann nimmt sich der Geist Gottes seiner und seines Werkes an, und dann schaut und erleidet der Geist Gott. Da aber dieses Leiden und Schauen Gottes dem [menschlichen] Geist besonders in diesem Körper zu schwer ist, deshalb entzieht sich Gott mitunter dem Geist. Und das ist das, was er so sagte: ‚Über ein kleines, und ihr seht mich; und abermals über ein kleines, und ihr seht mich nicht.‘59

57. Daz wir got niht gesehen enmügen, daz kumet von kleine der gerunge und von menige der crêatûren. Swer hôher dinge gert, der ist hôch. Swer got schouwen sol, der muoz hôher gerunge sîn. Wizzet, daz ernsthaftiu gerunge und verworfeniu dêmüeticheit wunder würket. Ich spriche, daz got alliu dinc vermac: und er envermac des niht, daz er dem menschen iht versage, der dêmüetic und grôzer gerunge ist. Und swâ ich got niht entwinge, daz er tuot allez, daz ich wil, dâ gebristet mir eintweder dêmuot oder gerunge (Eckhart, Pr. 100, DW IV,1 272, 18-274, 30; meine Übersetzung). 58. Vgl. Freimut Löser, ‚Maître Eckhart et l’humilité. Du Sermo Pasqualis au procès de Cologne‘, in M.-A. Vannier (ed.), L’humilité chez les mystiques rhénans et Nicolas de Cues = Demut in Eckhart und Cusanus (Paris, 2015), 41-62. 59. Sô sich aber der geist üebet nâch sîner maht in rehten triuwen, sô underwindet sich sîn gotes geist und des werkes und denne sô schouwet und lîdet der geist got. Wan aber daz lîden und daz schouwen gotes dem geiste überlestic ist sunderlîche in disem lîbe, dar umbe underziuhet sich got dem geiste



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Was Gott ist, der im Glanz und in der Klarheit geschaut wird, kann dabei differenziert ausgedrückt werden: Es reicht von den Bildern, die alle ein einziges Bild (und damit kein Bild) sind, von der Überfülle Gottes und seiner menschlichen Gestalt zum Glanz und der Klarheit Gottes – blôz und lûter: Nun gebt acht! Sankt Paulus sagt: Wenn wir mit entblößtem Antlitz anschauen den Glanz und die Klarheit Gottes, so werden wir wiedergebildet und eingebildet in das Bild, das ganz ein Bild Gottes und der Gottheit ist 〈vgl. 2Kor. 3,18〉. Als sich die Gottheit ganz in Unserer Frau Vernunft gab, empfing sie, da sie rein und lauter war, Gott in sich; und aus der Überfülle der Gottheit brach es aus und floß über in den Leib Unserer Frau, und es ward ein Leib gebildet vom Heiligen Geiste im Leibe Unserer Frau.60 Das heißt: Eckhart geht es – im Unterschied etwa zu manchen Visionären und Visionärinnen seiner Zeit – nicht um Bilder Gottes, sondern stets um den blôzen got:61 underwîlen. Und daz ist, daz er dô sprach: ‚ein kleine sehet ir mich, und ein kleine ensehet ir mich niht‘ (Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 572, 75-573, 85; meine Übersetzung). 60. Nû merket! Sant Paulus sprichet: als wir mit enblœztem antlütze aneschouwen den glanz und die klârheit gotes, sô werden wir widergebildet und îngebildet in daz bilde, daz al éin bilde ist gotes und der gotheit. Dô sich diu gotheit gap in unser vrouwen vernunft alzemâle, wan si blôz und lûter was, dô enpfienc si got in sich; und von der übervülle der gotheit brach ez ûz und vlôz über in den lîp unser vrouwen und wart gebildet ein lîchame von dem heiligen geiste in unser vrouwen lîbe (Eckhart, Pr. 23, DW I 397, 3-9; trans. ibid. 521-2). 61. Eckhart betont dabei auch, dass in dieser Schau des blôzen Gottes die höchste Freude liegt: Pr. 2, DW I 32, 8-34, 2: Hæte ein mensche ein ganzez künicrîche oder allez daz guot von ertrîche und lieze daz lûterlîche durch got und würde der ermesten menschen einer, der ûf ertrîche iener lebet, und gæbe im denne got alsô vil ze lîdenne, als er ie menschen gegap, und lite er allez diz unz an sînen tôt und gæbe im denne got einen blik ze einem mâle ze schouwenne, wie er in dirre kraft ist: sîn vröude würde alsô grôz, daz alles diss lîdens und armüetes wære nochdenne ze kleine. Jâ, engæbe im joch got her nâch niemer mê himelrîches, er hæte nochdenne alze grôzen lôn enpfangen umbe allez, daz er ie geleit; wan got ist in dirre kraft als in dem êwigen nû; trans. ibid. 436: ‚Besäße ein Mensch ein ganzes Königreich oder alles Gut der Erde und gäbe das lauterlich um Gottes willen hin und würde der ärmsten Menschen einer, der irgendwo auf Erden lebt, und gäbe ihm dann Gott so viel zu leiden, wie er je einem Menschen gab, und litte er alles dies bis an seinen Tod, und ließe ihn dann Gott einmal nur mit einem Blick schauen, wie er in dieser Kraft ist: – seine Freude würde so groß, daß es an allem diesem Leiden und dieser Armut immer noch zu wenig gewesen wäre. Ja, selbst wenn Gott ihm nachher nimmermehr das Himmelreich gäbe, er hätte dennoch allzu großen Lohn empfangen für alles, was er je erlitt; denn Gott ist in dieser Kraft wie in dem ewigen Nun.‘ Eckhart, Pr. 2, DW I 36, 1-7: Wærlîche, in dirre kraft ist alsô grôziu vröude und alsô grôziu, unmæzigiu wunne, daz nieman vollen dar abe gesprechen noch geoffenbâren kan. Ich spriche aber: wære ein einic mensche, der hie inne schouwete vernünfticlîche in der wârheit einen ougenblik die wunne und

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Wenn immer nun die Seele mit dieser Kraft Bildhaftes schaut – ob sie 〈nun〉 eines Engels Bild oder ob sie ihr eigenes Bild schaut – so ist dies an ihr etwas Unzulängliches. Selbst, wenn sie Gott schaut, so, wie er Gott 〈im Gegensatz zu Gottheit〉 oder wie er Bildhaftes oder Dreiheit ist, so ist es an ihr etwas Unzulängliches. Wenn aber alle ‚Bilder‘ der Seele abgeschieden werden und sie nurmehr das 〈schlechthin〉 einige Eine schaut, dann findet das reine Sein der Seele erleidend 〈= passiv〉 in sich selbst ruhend das reine, formenfreie Sein göttlicher Einheit, das ein überseiendes Sein ist. O, Wunder über Wunder, welch edles Erleiden ist es, wenn das Sein der Seele nichts anderes ertragen kann als einzig die reine Einheit Gottes!62 Eckhart setzt dabei dem momenthaften Durchbruch das Schauen Gottes während aller Zeit entgegen. So, wenn vom obersten Antlitz der Seele die Rede ist: Die Meister sagen, die Seele habe zwei Antlitze: das obere Antlitz schaut allzeit Gott, und das niedere Antlitz sieht etwas nach unten und lenkt die Sinne; das obere Antlitz aber ist das Höchste der Seele, das steht in der Ewigkeit und hat nichts zu schaffen mit der Zeit und weiß nichts von der Zeit noch vom Leibe. Und ich habe zuweilen gesagt, in ihm liege so etwas wie ein Ursprung alles Guten verdeckt und so etwas wie ein leuchtendes Licht, das allzeit leuchtet, und wie ein brennender Brand, der allzeit brennt, und dieser Brand ist nichts anderes als der Heilige Geist.63 die vröude, diu dar inne ist: allez daz er gelîden möhte und daz got von im geliten wolte hân, daz wære im allez kleine und joch nihtes niht; ich spriche noch mê: ez wære im alzemâle ein vröude und ein gemach; trans. ibid. 436: ‚Wahrlich, in dieser Kraft ist so große Freude und so große, unermeßliche Wonne, daß es niemand erschöpfend auszusagen oder so zu offenbaren vermag. Ich sage wiederum: Gäbe es irgendeinen Menschen, der hierin mit der Vernunft wahrheitsgemäß einen Augenblick lang die Wonne und die Freude schaute, die darin ist, – alles, was er leiden könnte und was Gott von ihm erlitten haben wollte, das wäre ihm alles geringfügig, ja ein Nichts; ich sage noch mehr: es wäre ihm vollends eine Freude und ein Gemach.‘ 62. Swenne nv̍ die sel mit dirre kraft schowet bildekeit – schowet si eins engels bilde, schowet si ir selbis bilde –, es ist ir ein gebreste. Schowet si got, als 〈er〉 got ist oder als er bilde ist oder als er drv̍ ist –, es ist ir ein gebreste. Swenne aber alle bilde der selen abegescheiden werden vnd 〈si〉 allein schowet das einig ein, so vindet das bloze wesen der selen das blose formlose wesen gotlicher einkeit, dc do ist ein vberwesende wesen, lidende ligende in ime selben. Eya, w〈u〉nder vber w〈u〉nder, wel ein edel liden das ist, das das wesen der selen nit anders liden mag dan allein bloz einekeit gotiz! (Eckhart, Pr. 83, DW III 437, 10-438, 3; trans. ibid. 584). 63. Die meister sprechent, diu sêle habe zwei antlütze, und daz ober antlütze schouwet alle zît got, und daz nider antlütze sihet etwaz her abe und berihtet die sinne; und daz oberste antlütze daz ist daz oberste der sêle, daz stât in êwicheit und enhât niht ze schaffenne mit der zît und enweiz niht von



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So aber auch, wenn vom Sohn Gottes selbst gesprochen wird: [A]llzeit blieb er trotzdem die Gottheit anschauend mit ununterbrochenem wiedereingeborenem Lobpreis für die väterliche Herrschaft.64 Es hatte sich ja schon zuvor gezeigt, dass Eckhart mit der Schau Gottes essentiell eines verknüpft: verstantnisse, bekantnisse, vernünfticheit. Eckhart macht also klar, dass das Verb aneschouwen an das Adverb vernünfticlîche geknüpft ist, wie in derselben, gerade zitierten Predigt deutlich wird: Da meinte er nicht seine edle Seele nach der Weise, wie sie erkennend das höchste Gut anschaut, mit dem er in der Person vereint und 〈das er〉 nach dieser Vereinigung und nach der Person selbst ist: das schaute er selbst in seinem allerhöchsten Leiden in seiner obersten Kraft ununterbrochen an, gleich nahe und ganz so, wie er es jetzt tut; da hinein konnte keine Betrübnis noch Pein noch Tod fallen. … Auf eine Weise so, wie ich vorhin sagte, daß die edle Seele ein erkennendes Anschauen der ganzen göttlichen Natur 〈zusammen〉 mit dem ewigen Worte hatte.65 In der eben zitierten Predigt wird auch deutlich, dass dieses vernünftic aneschouwen Gottes mit der Gotteserkenntnis, so wie sich Gott selbst erkennt, identisch ist. Damit ist die Voraussetzung der Gottesgeburt im Menschen durch den Menschen mit Gott gegeben: Wenn dich der Vater in dieses selbe Licht hineinnimmt, auf daß du dieses Licht in diesem Lichte erkennend anschaust nach derselben Eigenart, wie er sich und alle Dinge in seiner väter­ lichen Macht in diesem Worte 〈= in dem Lichte〉 erkennt, 〈wie der zît noch von dem lîbe; und hân etwenne gesprochen, daz in dem liget bedecket als ein ursprunc alles guotes und als ein liuhtende lieht, daz alle zît liuhtet, und als ein brinnender brant, der alle zît brinnet, und der brant enist niht anders dan der heilige geist (Eckhart, Pr. 26, DW II 30, 1-7; trans. ibid. 643). 64. Sô bleip er nochdanne alle zît die gotheit aneschouwende mit wider îngebornem lobe die veterlîche hêrschaft âne underlâz (Eckhart, Pr. 49, DW II 443, 11-444, 2; trans. ibid. 718). 65. Dô enmeinte er (Christus) niht sîne edele sêle nâch der wîse, als si vernünfticlîche aneschouwende ist daz oberste guot, dâ er mite geeiniget ist an der persône und selber ist nâch der einunge und nâch der persône: daz was er in sînem allerhœhsten lîdenne aneschouwende in sîner obersten kraft âne underlâz, glîche nâhe und über al, als er nû tuot; dâ enmohte kein betrüepnisse învallen noch pîne noch tôt. … In einer wîse, als ich ê sprach, daz diu edel sêle ein vernünftic aneschouwen hâte mit dem êwigen worte alle götlîche natûre (Eckhart, Pr. 49, DW II 440, 5-9; 442, 2-3; trans. ibid. 717).

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er erkennt〉 dasselbe Wort nach Vernunft und Wahrheit 〈= secundum rationem et veritatem〉, wie ich gesagt habe, so gibt er dir die Macht, mit ihm selbst dich selbst und alle Dinge zu gebären, u.zw. 〈gibt er dir〉 seine eigene Kraft, ganz wie demselben Worte. So denn gebierst du mit dem Vater ohne Unterlaß in des Vaters Kraft dich selbst und alle Dinge in einem gegenwärtigen Nun.66 Diese Geburt aber meint Gotteserkenntnis ebenso wie Fruchtbarkeit. Und das heißt: Ebenso, wie wir das im Blick auf Eckharts Auffassung der innicheit feststellen konnten, führt Eckhart auch hier zielgerichtet aus der reinen Schau wieder hinaus. Ein zentraler Text dafür ist die schon zitierte Predigt 104, wo Eckhart die Missachtung der Tugendwerke scharf zurückweist. So sagt Christus: ‚Euer Licht soll vor den Leuten leuchten.‘ Er zielte damit auf die Leute, die alleine auf die [innere] Schau achten und die die Wirkung tugendhafter Werke für nichts halten und behaupten, sie bedürften ihrer nicht, sie seien darüber gelangt. Die hatte Christus nicht im Sinn, als er sagte: ‚Der Samen fiel in eine gute Erde und brachte hundertfältige Frucht.‘67 Um das Verhältnis zwischen vita activa und vita contemplativa zu erläutern, hatte sich Eckhart in derselben Predigt zuvor auf einen Gewährsmann berufen: Meister Thomas sagt, das tätige Leben sei besser als das schauende Leben, weil man in der Tätigkeit aus Liebe heraus das ausgießt, was man in der Schau in sich aufgenommen hat.68 66. Als dich der vater nimet in diz selbe lieht, vernünfticlîche ane ze schouwenne diz lieht in disem liehte nâch der selben properheit, als er sich und alliu dinc nâch veterlîcher gewalt in disem worte bekennet, daz selbe wort nâch rede und nâch wârheit, als ich gesprochen hân, sô gibet er dir gewalt, mit im selben ze geberne dich selben und alliu dinc, und sîn selbes kraft glîch disem selben worte. Alsô bist dû mit dem vater gebernde âne underlâz in des vaters kraft dich selben und alliu dinc in einem gegenwertigen nû (Eckhart, Pr. 49, DW II 436, 10-437, 6; trans. ibid. 716). 67. Alsô sprach Kristus: ‚iuwer lieht sol liuhten vor den liuten‘. Er meinte die liute, die aleine ahtent der schouwelicheit und niht enahtent tugentlîcher würkunge und sprechent, sie enbedürfen sîn niht, sie sîn dar über komen. Die enmeinte Kristus niht, dô er sprach: ‚der sâme viel in ein guot ertrîche und brâhte hundertveltige vruht‘ (Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 583, 198-584, 206; meine Übersetzung). 68. Meister Thomas sprichet: dâ sî daz würkende leben bezzer dan daz schouwende leben, dâ man in der würklicheit ûzgiuzet von minne, daz man îngenomen hât in der schouwunge (Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 579, 155-580, 159; meine Übersetzung).



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Das aber ist nichts anderes als die Definition des Contemplata aliis tradere durch Thomas von Aquin.69 Eckhart hebt aber, und das ist entscheidend, die Dichotomie auf und führt beides – die vita contemplativa und die vita activa – zusammen. Eckhart fährt zum Thomas-Zitat nämlich fort: Das ist nichts als ein Einziges, denn man ergreift nirgendwo anders etwas als in demselben Grund der Schau, und das macht man in der Tätigkeit fruchtbar; und auf diese Weise wird die wahre Bedeutung der Schau vollbracht. Auch wenn dort Bewegungen geschehen, so ist es doch nichts als ein Einziges: Es kommt aus einem Ende, das Gott ist, und es geht wieder in dasselbe, gerade so, als ob ich im Haus von einem Ende ans andere ginge. Das wäre durchaus Bewegung, und wäre doch nichts anderes als Eines in Einem. In dieser Tätigkeit hat man genauso nichts anderes als eine Schau in Gott; das Eine ruht in dem anderen und vollbringt das andere. Denn Gott meint in der Einheit der Schau die Fruchtbarkeit der Tätigkeit. Denn in der Schau dienst du nur allein dir selbst, aber in der tugendvollen Tätigkeit, da dienst du der Menge.70 Mit der Frage, worin die genannte vruhtbærkeit besteht, kommen wir zum Vermittlungsthema: Contemplata aliis tradere. Der Aspekt ist nicht unproblematisch, denn in Predigt 2 hat Eckhart die Schwierigkeit der Rede und der Mitteilung formuliert; er betont die Freude der inwendigen Schau:

69. Vgl. oben Anm. 1 und 8. Zu Thomas-Zitaten im deutschen Werk Eckharts: Pr. 104, DW IV,1 580 Anm. 29 und die dort erwähnte Stelle Pr. 90, DW IV,1 46, 65 und Pr. 101, DW IV,1 325. Zur vorliegenden Stelle: Dietmar Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler (Regensburg, 1969), 219-23; Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik (München, 1996), 161-3. 70. Dâ enist niht dan einez, wan man engrîfet niergen dan in dem selben grunde der schouwunge und maht daz vruhtbære in der würkunge; und dâ wirt diu meinunge der schouwunge volbrâht. Aleine beschehent dâ bewegunge, ez enist niht dan einez: ez kumet ûz einem ende, daz got ist, und gât wider in daz selbe, als ob ich gienge in dem hûse von einem ende an daz ander. Daz wære wol bewegunge und enwære doch niht dan einez in einem. Alsô in dirre würklicheit enhât man anders niht dan eine schouwelicheit in gote: daz eine ruowet in dem andern und volbringet daz ander. Wan got meinet in der einicheit der schouwunge die vruhtbrærkeit der würkunge. Wan in der schouwunge dienest dû aleine dir selber, aber in der tugentlîchen würkunge dâ dienest dû der menige (Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 580, 159-581, 177; meine Übersetzung).

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Ich sage wiederum: Gäbe es irgendeinen Menschen, der hierin mit der Vernunft wahrheitsgemäß einen Augenblick lang die Wonne und die Freude schaute, die darin ist, – alles, was er leiden könnte und was Gott von ihm erlitten haben wollte, das wäre ihm alles geringfügig, ja ein Nichts; ich sage noch mehr: es wäre ihm vollends eine Freude und ein Gemach.71 Aber er zeigt auch, dass sie letztlich nicht vermittelbar ist: Wahrlich, in dieser Kraft ist so große Freude und so große, unermeßliche Wonne, daß es niemand erschöpfend auszusagen oder zu offenbaren vermag.72 Wie also fassen wir Eckharts Auffassung von seiner eigenen Vermittlungstätigkeit? Oder: wie stellt sie sich für ihn dar? 3.  aliis tradere – Publikum und Lehrmethoden Die Frage nach dem Publikum, das Eckhart anspricht, und nach den Methoden des Lehrens lässt sich recht differenziert beantworten.73 Über das Publikum seines lateinischen Werkes gibt der Prologus generalis in opus tripartitum Auskunft: Eckhart plant – neben seinen deutschen Werken – systematisch ein dreigeteiltes lateinisches Werk und benennt die einzelnen Teile dieses Werkes genau. Zur Offenlegung dieser Planung stellt er dem Gesamten ein generelles Vorwort, den Teilen nochmals einzelne Vorreden voraus, die den Zweck und die Bestimmung erläutern. Er gibt Rechenschaft über seine eigene Intention, und er tritt als Universitätslehrer auf, den seine Studenten zur Niederschrift seiner Lehre veranlassen. Sein lateinisches Werk erscheint als Reaktion auf die Bitten eifriger oder studierwilliger Mitbrüder.

71. Ich spriche aber: wære ein einic mensche, der hie inne schouwete vernünfticlîche in der wârheit einen ougenblik die wunne und die vröude, diu dar inne ist: allez daz er gelîden möhte und daz got von im geliten wolte hân, daz wære im allez kleine und joch nihtes niht; ich spriche noch mê: ez wære im alzemâle ein vröude und ein gemach (Eckhart, Pr. 2, DW I 36, 3-7; trans. ibid. 436). 72. Wærlîche, in dirre kraft ist alsô grôziu vröude und alsô grôziu, unmæzigiu wunne, daz nieman vollen dar abe gesprechen noch geoffenbâren kan (Eckhart, Pr. 2, DW I 36, 1-3; trans. ibid. 436). 73. Vgl. zu Teil III: F. Löser, ‚Werkkonzepte und „Individualisierung“‘ (2014), 146-50. Vgl. besonders: Id., ‚Meister Eckhart und seine Schüler. Lebemeister oder Lesemeister?‘, in A. Speer and T. Jeschke (eds.), Schüler und Meister, Miscellanea Mediaevalia 39 (Berlin, Boston, 2016), 255-76.



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Bei den großen Provinzkapiteln hat der Provinzial Eckhart vor seinesgleichen in lateinischer Sprache gepredigt. Die lateinischen Predigten, zum Teil auch Konzepte, die für ihn selbst zur Ausführung bestimmt waren, wurden vor Mitbrüdern oder – in Einzelfällen – im weiteren Horizont der Universität Paris gehalten. Für die volkssprachlichen Texte sind in Einzelfällen Adressaten klar benennbar: Den Liber Benedictus mit dem Buch der göttlichen Tröstung und der Lesepredigt Vom edlen Menschen hat Eckhart der Königin Agnes von Ungarn geschickt.74 Für einen zweiten volkssprachlichen Traktat lässt sich eine konkrete Lehrsituation erkennen; dabei handelt es sich um die rede[n] der underscheidunge, in denen Eckhart im Gestus des Lehrenden auftrat. Das berichtet die Handschriftengruppe, die den konkreten Textzweck benennt: Die rede[n] der underscheidunge sind (das sagen die Handschriften) die Reden, die der Vikar von Thüringen, der Prior von Erfurt, Bruder Eckhart, Predigerordens, mit solchen 〈geistlichen〉 Kindern geführt hat, die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Lehrgesprächen beieinander saßen.75 Der vicarius und prior Eckhart redet also mit seinen kindern, unter denen nicht nur Novizen, sondern alle Mitbrüder des Erfurter Konvents zu verstehen sind. Eckhart lehrt sie; denn mit collationes sind – Walter ­Senner zufolge – mehrere mögliche Situationen bezeichnet, die allesamt einen ‚Lehrcharakter‘ haben.76 Was immer man genauerhin unter den Erfurter rede[n] oder collationes verstehen will – dass Eckhart als Lehrmeister auftrat, steht außer Zweifel. Er scheint zudem ein didaktisch geschulter Meister gewesen zu sein, denn die Handschriften betonen die vertrauensvollen Fragen der Zuhörer, den Antwortcharakter des Meisters und vor allem das mit einander.

74. Vgl. DW V 5-7; Kurt Ruh, Meister Eckhart: Theologe, Prediger, Mystiker (München, 1989), 115-35. 75. [D]ie reden, die der vicarius von Thüringen, der prior von Erfurt, bruoder eckhart predigerordens mit solchen kindern hâte, diu in dirre rede vrâgeten vil dinges, dô sî sâzen in collationibus mit einander (Eckhart, Rede DW V 185, 1-6; trans. ibid. 505). 76. Walter Senner, ‚Die Rede der underscheidunge als Dokument dominikanischer Spiritualität‘, in A. Speer and L. Wegener (eds.), Meister Eckhart in Erfurt, Miscellanea Mediaevalia 32 (Berlin, 2005), 109-21, hier 110-3. 2

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Für die deutschen Predigten wissen wir von einigen, dass sie in Köln gehalten wurden, und zwar in den Klosterkirchen der Benediktinerinnen und Zisterzienserinnen von St. Macchabaeorum und Mariengarten. Wir wissen, dass sich Eckhart in einzelnen Predigten an Nonnen wandte, wir wissen aber auch, dass sein Publikum größer war und Beginen wie städtische Laien miteinbezog. Wir wissen, dass er mit seinen volkssprachlichen Werken auch dezidiert die ‚Ungelehrten‘ ansprach.77 Die Frage ist, wie Eckhart vorgeht, wenn er diese verschiedenen Kreise lehren will. Für das lateinische Werk hat er seine Methode im genannten Prologus selbst offengelegt. Daraus ergibt sich:78 Eckhart hebt dabei die von ihm selbst gebotenen Auslegungen als expositiones raras hervor. Das mittelalterliche Vokabular Ex quo übersetzt rarus mit: das nit dicke [= häufig] ist, mit selden oder gar selczen [= seltsam, fremdartig, unbekannt].79 Eckhart ist sich also bewusst, dass er Ungewohntes bietet. Er greift bewusst zu diesen nova et rara, weil sie (An)Reiz ausüben, orientiert sich also in didaktischer Absicht am Horizont des Publikums, den er absichtsvoll durchbricht. All dies lässt Eckhart als Lehrmeister erscheinen, der auf die Wünsche seiner Hörer eingeht, der diese aber auch fordert und gezielt verblüfft, indem er Neues und Ungewohntes bietet. Seine dringende Absicht, Ungelehrte zu lehren, hat er verteidigen müssen, weil man ihm vorgehalten hatte, daz man sôgetâne lêre niht ensol sprechen noch schrîben ungelêrten. Eckhart zieht also keine scharfe Grenze zwischen den gelehrten Meistern und den Ungelehrten, sondern er will die Ungelehrten zu Gelehrten werden lassen. Und dies durch die Lehre des Gelehrten, die nichts zurückhält. Man könnte sich hier fragen, ob es 77. Dies zeigt sich etwa an jenem berühmten Zitat aus dem Buch der göttlichen Tröstung: Man werde ihm vorhalten, sagt Eckhart da, daz man sôgetâne lêre niht ensol sprechen noch schrîben ungelêrten. Dar zuo spriche ich: ensol man niht lêren ungelêrte liute, sô enwirt niemer nieman gelêret, sô enmac nieman lêren noch schrîben. Wan dar umbe lêret man die ungelêrten, daz sie werden von ungelêret gelêret (Eckhart, BgT 3, DW V 60, 25-61, 1; trans. ibid. 497: ‚… daß man solche Lehren nicht für Ungelehrte sprechen und schreiben solle. Dazu sage ich: Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer gelehrt, und so kann niemand dann lehren oder schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden.‘). Dass Eckhart solche ‚Lehren für die Ungelehrten‘ im Sinne hatte, geht übrigens nicht nur aus diesem einen berühmten Zitat hervor; ganz ähnlich postuliert er in Predigt 7, daz ein ungelêret mensche mit minne und mit begir mac kunst nemen und lêren (Eckhart, Pr. 7, DW I 120, 6-7; trans. ibid. 456: ‚… daß ein ungelehrter Mensch 〈allein〉 durch Liebe und Begehren Wissen erlangen und lehren kann‘). 78. Vgl. detaillierter bei F. Löser, ‚Meister Eckhart und seine Schüler‘ (2016) [Anm. 73]. 79. Vocabularius Ex quo [Anm. 49], Bd. V 2250, Art. R 58 und R 59.



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nicht gerade diese rückhaltlose Weitergabe und die Methode der Verblüffung und Forderung der Zuhörer ist, die zu den bekannten Problemen geführt hat, etwa wenn die Bulle In agro dominico vom 27. März 1329 Eckhart vorhält, er habe ‚zahlreiche Lehrsätze vorgetragen, die den wahren Glauben in vieler Herzen vernebeln, die er hauptsächlich vor dem einfachen Volke in seinen Predigten lehrte‘.80 Und dass Eckhart eben auch die subtilia der schuole in der Predigt vermitteln will, sagt er deutlich; wenn er etwa davon spricht, dass man manche subtilia in der schuole darstellt, aber auch auf dem Predigtstuhl in der Volkssprache verkündigen kann. Insgesamt kann man Eckharts Bemühen um eine didaktische ­Orientierung greifen. Besonders die Rede[n] der underscheidunge sind davon geprägt. Aus seinen direkten Äußerungen über sein Lehrverfahren und aus seinen didaktischen Verfahren ist zu schließen: Eckhart ist sich des Vermittlungscharakters seiner Tätigkeit sehr bewusst, und er gestaltet diesen Vermittlungscharakter bewusst. Wie aber vermittelt er contemplata? 4.  Contemplata aliis tradere Für Eckhart ist zunächst Christus der wahre lêrer;81 in einer Predigt, deren Echtheit freilich (noch?) nicht nachgewiesen ist, wird dem Meister auf dem Predigtstuhl, durch den das göttliche Wort fließt, auch einmal die Schule des Heiligen Geistes82 konfrontiert, in der wir die Lehre, die aus dem Herzen des Vaters fließt, wahrhaftig verstehen. Dies geschieht, wenn wir in die Einigkeit Gottes zurückfließen.83 Deshalb auch hier: Um 80. Josef Quint, Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate (München, 1963), 449. 81. Eckhart, Pr. 66, DW III 116, 3-9; Pr. 12, DW I 193, 7-194, 6; Pr. 12, DW I 193, 1-7; Pr. 10, DW I 169, 11-170, 10; Pr. 109, in Franz Pfeiffer (ed.), Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. 2: Meister Eckhart (Leipzig, 1857; Nachdruck: Aalen, 1962; im Folgenden abgekürzt: Pf), 357, 32-358, 5; 360, 33-361, 3; 362, 19-25; Pr. 101, DW IV,1 354, 112-355, 117; Pr. 90A/B, DW IV,1 54, 1-55, 9; 66, 130-40; Pr. 84, DW III 587, 454-5; Pr. 68, DW III 534, 152; Pr. 54b, DW II 564, 8-13; 565, 6-13; 568, 8-27; Pr. 54a, DW II 548, 1-549, 5; Pr. 25, DW II 13, 3-10; Pr. 21, DW I 358, 8-359, 1. 82. Vgl. zur Schule des Heiligen Geistes die Kölner Klosterpredigten des Meister Gerhard: Freimut Löser, ‚Predigten in dominikanischen Konventen. Kölner Klosterpredigten und Paradisus anime intelligentis‘, in Burkhard Hasebrink, Nigel F. Palmer and Hans-Jochen Schiewer (eds.), ‚Paradisus anime intelligentis‘. Studien zu einer dominikanischen Predigtsammlung aus dem Umkreis Meister Eckharts (Tübingen, 2009), 227-63, 240. 83. Eckhart, Pr. 17, Pf 76, 34-77, 4 und 77, 16-22: Ze dem andern mâle suln wir bekennen daz êwige wort, daz dâ fliuzet von dem meister ûf dem stuole. Wir sullen ez nemen in sîner eigenschaft, als

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die göttliche Lehre zu empfangen und aufzunehmen, bedarf es wiederum der Wendung nach innen und der Konzentration der Kräfte, die wir schon festgestellt haben: ‚Und lehrte‘. Sankt Augustinus sagt: ‚Wer da lehrt, der hat seinen Stuhl in den Himmel gesetzt‘. Wer Gottes Lehre empfangen will, der muß hinaufgehen und hinausgehen über alles, was ausgebreitet ist: dessen muß er sich entschlagen. Wer Gottes Lehre empfangen will, der muß sich sammeln und sich in sich selbst verschließen und sich von allen Sorgen und Kümmernissen und dem Getriebe niederer Dinge abkehren. Die Kräfte der Seele, deren so viele sind und die sich so weit zerteilen, über die muß er hinausschreiten, ja sogar noch 〈über die Kräfte〉, soweit sie im Bereich des 〈diskursiven〉 Denkens liegen, obgleich das Denken, wo es rein in sich selbst ist, Wunder wirkt. 〈Auch〉 über dieses Denken muss man hinausschreiten, soll Gott in jene Kräfte 〈ein-〉sprechen, die nicht 〈mehr〉 zerteilt sind.84 Dem wahren Lehrer Christus werden die (scheinbar nur in ihren eigenen Augen) so gelehrten Meister konfrontiert, die a) ein Problem damit haben, dass Christus nichts ausnimmt, sondern alles offenbaren will, und die b) mit irer eigen vernunft lehren und dabei am wahren Wissen Gottes vorbeigehen. Zu a): Unser Herr sprach nun: ‚Ich habe euch nicht Knechte geheißen, ich habe euch Freunde geheißen, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr will‘ 〈Joh. 15,15〉. Auch mein Freund könnte etwas wissen, was ich nicht wüßte, dafern er’s mir nicht offenbaren wollte. Unser Herr aber sprach: ‚Alles, was ich von daz wazzer fliuzet dur den kenel, alsô fliuzet daz êwige wort dur den meister. Wir sullen niht ansehen, ob der meister stât in dekeinem gebresten: wir suln daz êwige wort ansehen in sîme wesenne, als ez êwiclîche gevlozzen ist ûz dem grunde sîn selbes. … Hie sprechent die meister, daz wir billîche sullen îlen zuo der schuole, dâ der heilige geist lesemeister ist. Und wizzent, wâ er lesmeister ist und sîn sol, dâ wil er studenten wol bereitet vinden, daz si sîne edele lêre wol verstân mügen, diu ûz des vater herzen fliuzet. Nû hât diu sêle, ob si wil, den vater und den sun und den heiligen geist: dâ fliuzet si in die einikeit und dâ wirt ir geoffenbâret blôz in blôz. 84. ‚Und lêrte‘. Sant Augustînus sprichet: ‚swer dâ lêret, der hât gesetzet sînen stuol in den himel‘. Swer gotes lêre enpfâhen wil, der muoz ûfgân und übergân über allez, daz ûzgespreitet ist: des muoz er sich verzîhen. Swer gotes lêre enpfâhen wil, der muoz sich samenen und însliezen in sich selber und sich kêren von allen sorgen und kumbernissen und von dem gewerbe niderr dinge. Die krefte der sêle, der alsô vil ist und sich alsô wîte teilent, die sol er übergân dannoch, dâ sie sint in den gedenken, swie doch der gedank wunder würket, dâ er in im selber ist. Disen gedank sol man übergân, sol got sprechen in die krefte, die niht geteilet ensint (Eckhart, Pr. 72, DW III 240, 1-8; trans. ibid. 548).



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meinem Vater gehört habe, das habe ich euch geoffenbart‘ 〈Joh. 15,15〉. Nun wundert’s mich bei manchen Pfaffen, die recht gelehrt sind und große Pfaffen sein wollen, daß sie sich’s so schnell genügen und sich betören lassen und das Wort hernehmen, das unser Herr sprach: ‚Alles, was ich gehört habe von meinem Vater, das habe ich euch kund getan‘, und es so verstehen wollen und sagen, er habe uns geoffenbart, soviel uns ‚auf dem Wege‘ not tue zu unserer ewigen Seligkeit. Ich halte nicht dafür, daß es so zu verstehen sei, denn es ist keine Wahrheit. Warum ist Gott Mensch geworden? Darum, daß ich als derselbe Gott geboren würde.85 Zu b): Die ganze Wahrheit, die alle Meister mit ihrer eigenen Vernunft und ihrem eigenen Verständnis jemals lehrten oder jemals lehren werden bis zum Jüngsten Tag, die haben nicht auch nur das Allerkleinste in diesem Wissen und in diesem Grund verstanden.86 Letzlich geht es bei allen Lehrkonzepten Eckharts um Einheit: Einheit zwischen Lehrer und Schüler, die in der Lehre vermittelt wird (und die signifikanterweise an Gott als Lehrer erläutert und so zur Einheit Gott-Mensch wird): Gott macht uns sich selbst erkennen, und erkennend macht er uns sich selbst erkennen und sein Sein ist sein Erkennen, und es ist dasselbe, daß er mich erkennen macht und daß ich erkenne. Und darum ist sein Erkennen mein, so wie es ein und dasselbe ist: im Meister, daß er lehrt, und im Jünger, daß er gelehrt wird. Und da denn sein Erkennen mein ist und da seine Substanz sein Erkennen und seine Natur und sein Sein ist, so 85. Nû sprach unser herre: ‚ich enhân iuch niht knehte geheizen, ich hân iuch vriunde geheizen, wan der kneht enweiz niht, waz sîn herre wil‘. Ouch möhte mîn vriunt wizzen, daz ich niht enweste, enwölte er ez mir niht offenbâren. Aber unser herre sprach: ‚allez, daz ich von mînem vater gehœret hân, daz hân ich iu geoffenbâret‘. Nû wundert mich von etlîchen pfaffen, die wol gelêret sint und grôze pfaffen wellent sîn, daz sie sich alsô schiere lâzent genüegen und lâzent sich betœren und nement daz wort, daz unser herre sprach: ‚allez, daz ich gehœret hân von mînem vater, daz hân ich iu kunt getân‘ – daz wellent sie alsô verstân und sprechent alsô, er habe uns geoffenbâret ûf dem wege, als vil uns nôtdürftic wære ze unser êwiger sælicheit. Des enhalte ich niht, daz ez alsô ze verstânne sî, wan ez enist kein wârheit. War umbe ist got mensche worden? Dar umbe, daz ich got geborn würde der selbe (Eckhart, Pr. 29, DW II 83, 1-84, 2; trans. ibid. 653-4). 86. Alle die wârheit, die alle meister ie gelêrten mit irer eigen vernunft und verstantnisse oder iemer mê suln biz an den jüngesten tac, die enverstuonden nie daz allerminste in disem wizzenne und in disem grunde (Eckhart, Pr. 101, DW IV,1 366, 207-9; meine Übersetzung).

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folgt daraus, daß sein Sein und seine Substanz und seine Natur mein sind.87 Einheit zwischen Lehrendem und Lehre: Was lehrt er? Er lehrt unser Verständnis, wie es wirken solle. Denn das, was lehren soll, das lehrt nach dem, was es selbst ist. Daher: Weil Christus ein Verständnis ist, so lehrt er unser Verständnis.88 In dieser Einsicht in die Einheit begründet Eckhart sogar eine höhere Einsicht, als sie durch Predigt und Lehre möglich sei: Ich pflege zuweilen ein Wort zu sagen: In welcher Seele ‚Gottes Reich‘ sichtbar wird und welche ‚Gottes Reich‘ als ihr ‚nahe‘ erkennt, der braucht niemand zu predigen noch Belehrung zu geben: sie wird dadurch belehrt und des ewigen Lebens versichert; und die weiß und erkennt, wie ‚nahe‘ ihr ‚Gottes Reich‘ ist. Und die kann sagen, wie Jakob sagte: ‚Gott ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht‘; nun aber weiß ich’s.89 In Predigt 104, die sich schon im Blick auf die Frage nach dem schouwenden leben als ein Schlüsseltext erwiesen hatte (s.o.), stellt sich Eckhart die Frage – formuliert als potentieller Einwand eines Zuhörers –, ob nicht gerade ein Lehrer, Prediger und Seelsorger dieser Einheit verlustig geht (auch weil seine Vermittlungstätigkeit ja ein äußeres Werk ist): Jetzt könntest du sagen: Ach Herr, was soll das denn heißen mit dem Stillschweigen, von dem Ihr uns so viel gesagt habt? 87. Got machet uns sich selber bekennende, und bekennende machet er uns sich selber bekennende, und sîn wesen ist sîn bekennen, und ez ist daz selbe, daz er mich machet bekennende und daz ich bekenne. Und dar umbe ist sîn bekennen mîn, als in dem meister ein ist, daz er lêret, und in dem jünger, daz er gelêret wirt. Und wan denne sîn bekennen mîn ist und wan sîn substancie sîn bekennen ist und sîn natûre und sîn wesen, dar nâch volget, daz sîn wesen und sîn substancie und sîn natûre mîn ist (Eckhart, Pr. 76, DW III 320, 8-321, 3; trans. ibid. 563-4). 88. Waz lêret er? Er lêret unser verstantnisse, wie daz würken solte. Wan swaz lêren sol, daz lêret nâch dem, daz ez selber ist. Her umbe, wan Kristus ein verstantnisse ist, sô lêret er unser verstantnisse (Eckhart, Pr. 90A/B, DW IV,1 57, 27-58, 32; meine Übersetzung). 89. Ich pflige under zîten ein wort ze sprechenne: in swelcher sêle ‚gotes rîche‘ erschînet, diu ‚gotes rîche‘ ir nâhe bekennet, der endarf nieman predigen noch lêren: si wirt dâ von gelêret und wirt versichert des êwigen lebens; und diu weiz und bekennet, wie ‚nâhe‘ 〈ir〉 ‚gotes rîche‘ ist. Und diu mac sprechen, als Jâkob sprach: ‚got ist in dirre stat, und des enweste ich niht‘; mêr: nû wéiz ich (Eckhart, Pr. 68, DW III 143, 4-144, 3; trans. ibid. 532). Vgl. dazu mit weiteren Belegen: Freimut Löser, ‚Predigt über Predigt – Meister Eckhart und Johannes Tauler‘, in Volker Mertens, Hans-Jochen Schiewer, Regina D. ­Schiewer and Wolfram Schneider-Lastin (eds.), Predigt im Kontext (Berlin, Boston, 2013), 155-80, 166.



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Denn dazu gehören [doch] viele Bilder, weil ja doch ein jedes Werk in seinem eigenen Bild geschehen muss, es seien innere oder äußere Werke, sei es, dass ich diesen lehre oder jenen tröste und dies oder das erledige. Welche Stille kann ich denn da haben? … Jetzt könntest du sagen: Ach Herr, da man dazu eines Gemütes bedarf, das von allen Bildern und von allen Werken frei ist, die aber dennoch – und zwar von Natur aus – in den Kräften sind, wie kann es denn da sein bei den äußeren Werken, die man manchmal ja doch tun muss, wie Werke der Nächstenliebe, die alle im Äußren geschehen, wie z.B. zu lehren und die Bedürftigen zu trösten, soll man dann in Ausübung dieser [äußeren] Tätigkeit selbst beraubt werden, wie die Jünger unseres Herrn sich selbst oft geschäftig machten, wie der Heilige Augustinus sagt, dass Sankt Paulus so sehr mit den Leuten beladen und bekümmert war, als ob er sie alle selbst zur Welt gebracht hätte?90 In Predigt 50 schließlich hat Eckhart die Problematik auf den Punkt gebracht: Die Propheten, die da wandelten im Licht, die erkannten und fanden die geheime Wahrheit unter dem Einfluß des Heiligen Geistes. Sie wurden bisweilen 〈dazu〉 bewegt, sich nach außen zu wenden und über die Dinge zu reden, die sie zu unserer Beseligung erkannten, auf daß sie uns lehrten, Gott zu erkennen. Dann widerfuhr es ihnen, daß sie verstummten, so daß sie nicht sprechen konnten, und daran waren drei Dinge schuld. Zum ersten: Das Gut, das sie in Gott erkannten und schauten, das war so groß und so verborgen, daß es sich in ihrem Erkennen nicht abzubilden vermochte; denn alles, was sich darin abzubilden vermochte, das war dem, was sie in Gott schauten, ganz ungleich und war so falsch gegenüber der Wahrheit, daß sie schwiegen und nicht lügen wollten. – Der zweite Grund: Alles, was sie in Gott schauten, das war so groß und edel, daß 90. Nû möhtest dû sprechen: ach, herre, waz sol ez denne sîn mit dem stilleswîgenne, von dem ir uns sô vil gesaget hat? Wan hie zuo gehœrent vil bilde, wan ein ieglich werk muoz geschehen in sînem eigenen bilde, ez sîn inwendigiu oder ûzwendigiu werk, ez sî, daz ich disen lêre oder den trœste und diz und daz berihte. Waz stille mac ich dâ gehaben? … Nû möhtest du sprechen: ach, herre, sît daz man hie zuo bedarf eines ledigen gemüetes von allen bilden und von allen werken, diu nochdenne in den kreften sint joch von natûre, wie sol ez denne ergân von den ûzern werken, diu man doch underwîlen tuon muoz, als minnewerk, diu alliu ûzwendic geschehent, als lêren und trœsten die dürftigen, sol man in disem beroubet werden, als die jünger unsers herren sich dicke unmüezic mahten, als sant Augustînus sprichet, daz sant Paulus alsô sêre mit den liuten beladen und bekümbert was, als ob er sie alle ze der werlt geborn hæte? Ich zitiere hier, wegen unerheblicher Fassungsunterschiede, nur die A-Fassung. Eckhart, Pr. 104A, DW IV,1 584, 210-585, 218 und 577, 131-578, 145 (meine Übersetzung).

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sie weder 〈ein〉 Bild noch 〈eine〉 Form davon zu entnehmen vermochten, um 〈davon〉 zu reden. – Der dritte Grund, warum sie verstummten, war der, daß sie in die verborgene Wahrheit schauten und das Geheimnis in Gott erfanden, ohne es in Worte fassen zu können. Zuweilen jedoch geschah es, daß sie sich 〈doch〉 nach außen wandten und sprachen; wegen der Ungleichheit 〈verglichen mit〉 der Wahrheit aber verfielen sie auf die grobe Materie und wollten uns Gott durch die niederen Dinge der Kreatur erkennen lehren.91 Das bedeutet für diese wichtige Stelle insgesamt: Die heimliche warheit wird im Innersten nicht nur ent-deckt; sie liegt im in flvsse des heiligen geistes, wird also auch offenbart. Der Ent-deckung durch den nach innen schauenden Menschen liegt also die Eingießung durch den Heiligen Geist voraus, die einerseits Offenbarung ist, andererseits heimlich und verborgen. Diejenigen, denen die Offenbarung solcher heimlichkeit in ihrem Inneren zuteil wird, werden auch zu Zeiten (bi stunden) dazu bewegt, sich nach außen zu wenden und von den Dingen, die sie erkannt haben, zu reden, wie es heißt: zu unserer Seligkeit. Und das heißt sowohl, dass ihnen diese Dinge zu unserer Seligkeit erkennbar gemacht wurden, als auch, dass sie um unserer Seligkeit willen davon reden. Dabei aber verstummen sie; aus drei Gründen: 1. Die Größe und verborgenheit der Erkenntnis und der Schau in Gott ist dergestalt, dass sie sich im verstantnisse der Schauenden nicht in adäquate Bilder fassen lässt; alles, was sich abbilden lässt, ist dem Geschauten ungleich und vor der geschauten Wahrheit falsch; Vermittlungsversuche wären daher Lüge. 91. Die propheten, die da wandelten in dem liechte, die bekantten vnd funden die heinliche warheit In dem in flvsse des heiligen geistes. Si wurden bi stvnden beweget, das si sich har us solten keren vnd reden von den dingen, dv̍ si bekanten ze vnserre selikeit, das si vns lerten got bekennen. So ges〈ch〉ach in, das si verstvmeten, das si nicht enkonden gesprechen, vnd das was drier dinge schv̍lt. Das erste: das gv̊t, das si bekanten vnd sahen in gotte, das was so gros vnd so verborgen, das es sich nicht erbilden mochte in irme verstantnisse; want alles, das sich erbilden mochte, das was dem als vngelich, das si sahen in gotte, vnd was so valsch wider der warheit, das si swigen vnd wolten nicht liegen. – Dv̍ ander sache: alles, das si in gotte sachen, das was so gelich gros vnd edele, das si weder bilde noch forme mochte〈n〉 da von genemen ze redende. – Dv̍ dritte sache, war vmbe si verstumeten, das was, das si sahen in die verborgenen warheit vnd fvnden die heimlicheit in gotte, das si nicht geworten enkonden. Doch vnder ziten geschach, das si sich har vs kerten vnd da sprachen; vnd von der vngelicheit der warheit do vielen si in die groben materie vnd wolten vns leren got bekennen mit den nideren dingen der creature (Eckhart, Pr. 50, DW II 454, 3-18; trans. ibid. 721).



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2. Für die Größe und Edelkeit des Geschauten gibt es weder Bild noch Form der Aussage. 3. Was sie sehen, ist eine verborgene Wahrheit und eine heimlicheit in gotte, die sich aufgrund ihres Geheimnischarakters nicht in Worte fassen lässt. Dennoch geschieht es zu bestimmten Zeiten, dass sie sich nach außen wenden und sprechen. Weil aber die genannte Ungleichheit mit der Wahrheit besteht, fallen sie mit ihrer Rede in die grobe Dinglichkeit und wollen uns lehren, Gott anhand der niederen Dinge der Geschöpflichkeit zu erkennen. Das heißt: Die Rede von Gott ist nicht die geschaute Wahrheit, sondern immer eine Gleichnisrede. Die Vermittlungsnotwendigkeit und die Probleme der Vermittlung sind Eckharts Thema. Die Uneigentlichkeit der Aussage von Gott ist ein Proprium dieser Vermittlungstätigkeit, die notwendig unvollkommen ist, aber notwendig. Zu unserer Seligkeit. 5. Zusammenfassung Der Ansatz des ‚dominikanischen Mottos‘ Contemplata aliis tradere scheint sich für Eckhart als fruchtbar zu erweisen. Der kontemplative Aspekt hat dabei nichts zu tun mit Empfindungen, meditativer innerer Versenkung, Verzückung und visionärer Schau, oder gar mit Weltflucht; auch die Gebetspraxis und der Gottesdienst selbst spielen eine überraschend untergeordnete Rolle. Innicheit sieht Eckhart skeptisch, dort, wo sie mit Empfindung gleichgesetzt wird. Sowohl die Analyse des Inwendigen wie der Schau bei Eckhart zeigen eine je enge Verknüpfung mit der vernünfticheit, deren Ziel der blôze got ist. Gleichzeitig ist aber zu beachten, dass die Ent-deckung Gottes sowohl das Werk der göttlichen Gnade und des Heiligen Geistes wie der Einkehr des Menschen nach innen ist. Die Gottesgeburt im Inneren hat notwendig den Aspekt der Fruchtbarkeit; und der besteht in der Vermittlung nach außen zum Nächsten zu dessen Seligkeit; er besteht im aliis tradere, das selbst Teil dieser Öffnung nach außen, ein äußeres Werk und daher so notwendig wie notwendig unvollkommen ist. Die Sprache dieser Vermittlung ist nicht die der reinen Vernunft, sondern die der Bilder und der Gleichnisse, die aus dem Kreatürlichen genommen werden müssen.

Edles Wissen: Schellings Philosophie und die Deutsche ‚Mystik‘ Meister Eckhart, Johannes Tauler und das Pseudo-Taulerische Buch von der geistigen Armut Andrés Quero-Sánchez, Universität Erfurt1 Abstract This article attempts to prove in a concrete manner which works by Meister Eckhart (and in which form) Schelling has been familiar with, as well as to determine when he became acquainted with them. By means of a concrete analysis of two crucial passages in both Schellings Weltalter and his first Erlangen Lecture in 1821 (Initia philosophiae universae), the author shows that all the Sermons by Eckhart which are relevant for these two passages were contained in the Basle edition of Tauler’s Sermons in 1521 (reproduced a year later). Schelling probably became acquainted with this edition – as it seems, with the reproduction of 1522 – in 1810/1811. Additionally, it can be shown that ‘mystical thought’ was also crucial for the development of Schelling’s philosophy before 1809, that is, for his transcendental philosophy as well as for the so-called ‘Philosophy of Identity’. Spener’s edition/translation of Tauler’s sermons, which Schelling has demonstrably read and which contains in addition (among others works) the Pseudo-Taulerian Book of Spiritual Poverty as well as some of Eckhart’s Sermons (here presented as Tauler’s works) proved surely 1. Dieser Beitrag ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsprojekts „Der ewige Begriff des Individuums“: Eine historisch-philologisch-systematische Untersuchung der ‚mystischen Vernunft‘ und deren Rezeption im Werk Schellings (QU 258/3-1) entstanden. Die Untersuchung wird an der von Dietmar Mieth neugegründeten und geleiteten Meister-­ Eckhart-Forschungsstelle am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt durchgeführt, in Zusammenarbeit mit Dietmar Mieth, Markus Vinzent (King’s College, Universität London) sowie der von Jörg Rüpke und Martin Mulsow am Max-Weber-Kolleg geleiteten Kolleg-Forschergruppe Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive (FOR 1013).

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A ndrés Q uero -S ánchez

decisive for these earlier developments of Schelling’s thought. However, this does not mean that we should primarily understand German Idealism as a theological – that is to say: not strictly philosophical – or even ultimately irrationalistic form of thought. Rather, German Idealism (surely not ‘only’ but ‘also’) represents a revival of the understanding of reason which was characteristical of the so-called ‘German mysticism’: detached, abstract or – even – absolute reason. 1. Einleitung

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er Einfluss der Mystik auf das Werk Schellings ist bekanntlich insbesondere seit 1806 spürbar – das ist die Zeit, als er nach München ging und zunächst in fast täglichem Kontakt mit dem an Mystik stark interessierten Franz von Baader stand. Vor allem die Freiheitsschrift (1809) zeigt sich vom mystischen Denken geprägt, in welcher ja nicht nur Baader selbst dreimal namentlich erwähnt wird, sondern auch Jakob Böhme und Friedrich Christoph Oetinger nachweislich präsent sind, obwohl deren Namen von Schelling – aus welchen Gründen auch immer – dort unerwähnt blieben.2 Die Forschung stellt übereinstimmend – und, wie ich meine, zu Recht – fest, dass mit der Freiheitsschrift eine neue Phase in der Denkentwicklung Schellings initiiert wird, welche freilich nicht völlig unabhängig von seinem früheren philosophischen Schaffen vor sich geht, sondern eine nicht zu unterschätzende Kontinuität aufweist.3 Diese ‚Wende‘ kann man allerdings insofern nicht als ‚mystische Wende‘ bezeichnen, als die Mystik schon bei der Transzendentalund Identitätsphilosophie Schellings – also bei denjenigen seiner philosophischen Projekte, die vor 1806/1809 zustande gebracht wurden – eine zentrale Rolle spielt.4

2. Siehe die Nachweise von Thomas Buchheim in seiner Edition des Textes in der Philosophischen Bibliothek (Meiner-Verlag): Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Unter­ suchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (Hamburg, 1997; ²2011). 3. Siehe die Diskussion in Andrés Quero-Sánchez, Über das Dasein: Albertus Magnus und die Metaphysik des Idealismus, MEJb, Beihefte 3 (Stuttgart, 2013), 387-8. 484-99. 4. Vgl. Andrés Quero-Sánchez, ‚Schellings neuzeitliche Repristination der „mystischen“ Vernunft – als Kritik an der „modernen Ansicht“‘, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 17 (2014), 166-220; id., ‚Die „mystische“ Voraussetzung der Identitätsphilosophie Schellings‘, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 43 (2018), 1-28; id., ‚Schellings philosophische Lektüre des Buchs von der geistigen Armut (auch Buch von der Nachfolgung des armen Lebens Christi genannt)‘, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 62 (2015), 240-80. Siehe noch unten, S. 162-73.

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2. Die Präsenz Meister Eckharts im Werk Schellings nach der ‚Wende‘ von 1806/1809 Nach der ‚Wende‘ von 1806/1809 ist jedenfalls nicht nur die Präsenz von Böhme und Oetinger, sondern auch die der Predigten Meister Eckharts in den Schriften Schellings nicht nur spürbar, sondern sogar nachweisbar. Schelling gebraucht nämlich, wie gleich zu zeigen sein wird, eine ganze Fülle von eckharttypischen Motiven, welche er zudem keineswegs bloß in ‚auswendiger Form‘ aufnimmt, sondern in der Bedeutung, die sie im Werk Eckharts haben, welche er dann freilich ‚aktiv rezipiert‘, indem er, wie er selbst in der sogenannten Carus-Rezension bei Friedrich August Carus lobt, seine Texte ‚aus alten Büchern als Quellen auf neue Art schöpft‘.5 Es sind vor allem zwei Stellen, an denen man dies deutlich zeigen kann, welche ich in früheren Publikationen bereits untersucht habe.6 Es handelt sich dabei zunächst um eine in den verschiedenen erhalten gebliebenen Fassungen der Weltalter enthaltene Stelle sowie um eine Passage aus einer im WS (vom 4. Januar bis 31. März) 1821 gehaltenen Erlanger Vorlesung (Initia philosophiae universae), deren ersten Teil Schellings Sohn Karl Friedrich August mit dem Titel Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft erstmals im Jahre 1861 – also erst nach dem Tode des Vaters – herausgab.7 Ich möchte im Folgenden meine ursprüngliche Analyse beider Passagen erweitern sowie methodologisch insofern präzisieren, als ich bei meinen Nachweisen ausschließlich auf Stellen in Predigten Eckharts verweise, die im Basler Tauler-Druck aus dem Jahre 1521 (gedruckt bei Adam Petri im Auftrag von Johann R ­ ynman von Öhringen [Nachdruck 1522]) überliefert sind.8 Der Nachdruck im 5. Schelling (zugeschrieben), [Rezension]. Anaxagoreae Cosmotheologiae fontes indagavit Frider. Aug. Carus, Philos. D. et P. P. Lips. 1797, 4, ed. W.G. Jacobs and W. Schieche, in Historisch-­kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1,4 (Stuttgart, 1988), 221,3-7. 6. Vgl. Andrés Quero-Sánchez, ‚Über die Nichtigkeit des Gegebenen: Schellings und Hegels Verteidigung des ontologischen Arguments und der Deutsche Idealismus im Spätmittelalter‘, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 14 (2009-2010-2011), 191-232, hier 192-6; id., Über das Dasein (2013), 377-86. 7. Siehe unten, S. 132-53 bzw. 154-61, wo die Passagen im Wortlaut angeführt werden. 8. Joannis Tauleri des heilige lerers Predig/fast fruchtbar zu eim recht christlichen leben. … Getruckt zu Basel. Anno M. D. XXI [XXII] (VD16: J784) (Ausgabe von 1521; Nachdruck 1522 [VD16: J785]). Im Folgenden zitiere ich nach der korrigierten Ausgabe von 1522, abgekürzt als ‚BT 1522‘. Ich lasse beiseite die Ausgaben Halberstadt, 1523 (im niedersächsischen Dialekt) und Hamburg, 1621 (im Meißener Dialekt; siehe unten, S. 160, Anm. 76), welche beide die Texte der Basler Ausgabe – auch diejenigen Eckharts – aufnehmen. Siehe dazu die ausgezeichnete Darstellung von Eckhart

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Jahre 1522 weist allerdings einige Differenzen auf, meist – jedoch nicht nur9 – orthographischer Natur. Mein methodologischer Ansatz wäre nun wie folgt zu rechtfertigen. Für eine direkte Rezeption der eckhartschen Motive seitens Schellings kann nur – zumindest zunächst, d.h. als naheliegende Ausgangshypothese – das deutsche Werk Eckharts in Frage kommen, da das lateinische – von welchem ja heute (und wohl auch schon zu Lebzeiten Schellings) sehr wenige Handschriften erhalten geblieben sind10 – erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts durch Heinrich S. Denifle wiederentdeckt wurde, also erst nach dem Tode Schellings am 20. August 1854.11 Dass Schelling jedoch spätestens um 1806, vermittelt durch die Person Franz von Baaders, Eckharts deutsche Schriften gekannt hat, kann man nicht ernsthaft in Frage stellen. Da nun die erste ‚moderne‘ Ausgabe der deutschen Schriften Eckharts erst drei Jahre nach dem Tode Schellings, ­nämlich in der von Franz Pfeiffer herausgegebenen Edition aus dem Jahr 1857, erschienen ist,12 spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Baader und Schelling zunächst13 vor allem Eckharts Predigten aus dem Triebel, http://www.eckhart.de/index.htm?tauler.htm. Zum Thema siehe in Kürze Janina Franzke, ‚Der – sogenannte – Basler Taulerdruck und die Predigten Meister Eckharts‘, in Andrés Quero-Sánchez (ed.), Eine Lichtung des deutschen Waldes: Mystik und Idealismus, Studies on Mysticism, Idealism and Phenomenology [SMIP] 1 (Leiden, Boston, 2018) (im Druck). 9. Siehe unten, S. 159-60. 10. Vgl. Loris Sturlese, ‚Über die Entstehung und die Entwicklung von Eckharts Opus tripartitum‘, in Meister Eckhart, LW I,2 VII-LVII, hier IX-XII. 11. Vgl. Heinrich S. Denifle, ‚Meister Eckeharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre‘, Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), 417-615. 12. Franz Pfeiffer, Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. II: Meister Eckhart (Leipzig, 1857 [Nachdruck: Göttingen, 1906; 1914; Aalen, 1962; 1991]). 13. Erst Jahre später hat Franz von Baader sich daran gemacht, die in München handschriftlich vorhandenen Predigten Meister Eckharts zu sammeln in der Absicht, sie herauszugeben. Freunden nämlich, deren Unterstützung für dieses Projekt er gewinnen wollte, schrieb er am 2. Januar 1830 in diesem Sinne: ‚Ein wichtiges Werk habe ich unter der Feder – die sämmtlichen Predigten von Meister Eckart, dem Lehrer Taulers, von dem letzterer alle speculativen Schätze hat‘ (Franz von Baader, Sämtliche Werke, Bd. XV [Leipzig, 1857; Nachdruck: Aalen, 1963; 1987], 457). Der Plan Baaders scheiterte zwar zunächst, er wurde jedoch Jahre später von seinem Schwiegersohn, dem Altphilologen und Religionshistoriker Ernst von Lasaulx (1805-1861), fortgesetzt. ‚Lasaulx kam im Laufe seiner Studien‘, so berichtet Remigius Stölzle, Ernst von Lasaulx: Ein Lebensbild (Münster, 1904), 23, ‚angeregt durch Schelling, Baader und Görres auf die Mystiker. Auf der Staatsbibliothek in München machte er mehrere handschriftliche Funde zu Eckhart. Diese Entdeckungen reizten ihn zu weiteren Nachforschungen in anderen Bibliotheken‘. Es ist indessen vermutet worden, dass Pfeiffer, der in Verbindung mit Baaders Schüler Magg stand, die Vorarbeiten von Baader und Lasaulx für seine Ausgabe nützen konnte (vgl. David Baumgard, Franz von Baader und die philosophische Romantik [Halle, 1927], 35).

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genannten Basler Tauler-Druck kannten. Dieser enthält nämlich über 60 Predigten Eckharts, darunter diejenigen, die sich für die Analyse der oben genannten Passagen Schellings besonders relevant zeigen: Predigt 2 (296ra-297vb), Predigt 3 (285va-286rb), Predigt 52 (Rede von der armuot) (306va-308rb),14 Predigt 69 (258ra-259va), Predigt 71 (242va-244va) sowie der sogenannte Salzburger Armutstext (Predigt 114) (188va-191rb). Es gibt freilich weitere Tauler-Drucke mit Eckharts Predigten,15 doch ist der Basler Druck der einzige, in dem Eckhart als Autor namentlich erwähnt wird.16 Geht es darum, die innere Verwandtschaft zwischen der ‚Mystik‘ Eckharts und der Philosophie Schellings aufzuzeigen, so ließen sich natürlich auch Stellen in Werken Eckharts heranziehen – etwa in seinen lateinischen Schriften –, die Schelling mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht kennt. Geht es jedoch um einen Versuch – und das ist mein Ziel bei der folgenden Analyse –, den konkreten Einfluss Eckharts auf Schellings Schriften nach 1806/1809 historisch-­ philologisch nachzuweisen, so sollten nur diejenigen Werke Eckharts herangezogen werden, die er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damals kannte, was, wie gesagt, insbesondere für diejenigen Predigten gilt, die im Basler Tauler-Druck enthalten sind. Die Tatsache nun, dass – wie gleich zu zeigen sein wird – alle von Schelling in den uns beschäftigenden Passagen aus den Erlanger Vorlesungen bzw. den Weltaltern aufgenommenen eckhartschen Motive in den im Basler Tauler-Druck überlieferten Predigten Eckharts nachgewiesen werden können, kann als ein zusätzliches Argument für die Ausgangshypothese gelten: dass Schelling nämlich um diese Zeit (1809/1811) diesen Basler Druck kannte.17 14. Bei der sogenannten ‚Predigt 52‘ Eckharts handelt es sich eher um eine collatio (mhd. rede), welche ich deshalb im Folgenden als Rede von der armuot bezeichne; vgl. Andrés Quero-­ Sánchez, ‚Meister Eckhart’s Rede von der armuot in the Netherlands: Ruusbroec’s Critique and Geert Grote’s Sermon On Poverty‘, in Marie-Anne Vannier (ed.), Mystique Rhénane et Devotio Moderna (Paris, 2017), 77-102, 78-81. 15. Siehe dazu die Darstellung von E. Triebel, http://www.eckhart.de/index.htm?tauler.htm. 16. Vgl. BT, 242va,1-29. 17. Die früheste bekannte Fassung der Weltalter finden wir in den (im Juli 1944 zerstörten) Druckfahnen aus dem Jahre 1811, welche uns dank der von Manfred Schröter im Jahre 1943 durchgeführten Abschrift zur Verfügung stehen. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter: Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, ed. Manfred Schröter (München, 1946; Nachdruck 1979), VII-XII. An diesem Werk hat er schon Mitte September 1810 gearbeitet (vgl. Aldo Lanfranconi, Eine Lektüre der ‚Weltalter‘-Texte F.W.J. Schellings [Stuttgart, 1992], 59-83 [‚Zur Entstehungsgeschichte der Weltalter-Texte (1810-1833)‘]. Siehe auch die erhalten gebliebenen Fragmente aus dem

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Bei meinen Nachweisen führe ich deshalb die Texte Meister E ­ ckharts sowohl in dem Wortlaut der historisch-kritischen Edition von Josef Quint (bzw. von Georg Steer) (zusammen mit der neuhochdeutschen Übersetzung von Quint, mit meinen kursiviert gekennzeichneten Änderungen) als auch in dem des genannten Basler Tauler-[Nach]Drucks (BT 1522) an. Das wird uns ermöglichen, uns ein gutes Bild über die sprachlichen Eigenheiten dieses Drucks zu machen, dessen umfassende Untersuchung allerdings in den nächsten Monaten von Janina Franzke an der Universität Augsburg, unter der Betreuung von Freimut Löser, beendet werden soll. Und es gibt tatsächlich Fälle – ein solcher wird uns unten noch begegnen18 –, bei denen die vorhandenen Unterschiede zwischen dem im Basler Druck überlieferten und dem in der historisch-kritischen Edition der Predigten Eckharts angebotenen Text entscheidend für die Beantwortung der Frage sind, ob Eckhart oder doch ein anderer Autor als Quelle für bestimmte von Schelling aufgenommene Motive zu betrachten ist. Ja, es gibt sogar einen Fall, bei dem der zwischen dem Text des Drucks von 1521 und dem des Nachdrucks von 1522 bestehende Unterschied im Zusammenhang mit der Frage nach Schellings Rezeption der Predigten Eckharts besonders aussagekräftig ist.19 2.1  Die Weltalter (ab September 1810) Bei der ersten der oben angekündigten Stellen im Werk Schellings, an denen die Präsenz Eckharts deutlich spürbar ist, handelt es sich um folgende Passage aus den Weltaltern: Es ist nur Ein Laut in allen höheren und besseren Lehren, daß das Seyn schon ein tieferer Zustand des Wesens, und daß sein urerster unbedingter Zustand über allem Seyn ist. … Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freyheit. Freyheit ist der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit ist. Den meisten, weil sie jene höchste Freyheit nie empfanden, scheint es das Höchste, ein Seyendes oder Subjekt zu seyn; Berliner Nachlass: Schelling, Weltalter-Fragmente, ed. Klaus Grotsch. Mit einer Einleitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann (Stuttgart, Bad Cannstatt, 2002 [2 Bände]). 18. Siehe unten, S. 147-50. 19. Siehe unten, S. 159-60.

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daher fragen sie: was denn über dem Seyn gedacht werden könne? und antworten sich selbst: Das Nichts, oder dem Aehnliches. Ja wohl ist es ein Nichts, oder wie die lautre Freyheit ein Nichts ist; wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird. … Was alles in sich hat, kann es eben darum nicht zugleich äußerlich haben. Ein jedes Ding hat Eigenschaften, woran es erkannt und gefaßt wird; und je mehr es Eigenschaften hat, desto faßlicher ist es. Das Größte ist rund, ist eigenschaftslos. Am Erhabenen findet der Geschmack, d.i. die Unterscheidungsgabe, nichts zu schmecken, so wenig als am Wasser, das aus der Quelle geschöpft ist. König, sagt ein Alter, ist, der nichts hofft, und der nichts fürchtet. So wird in dem sinnreichen Spiel eines älteren deutschen Schriftstellers voll Innigkeit derjenige Wille arm genannt, der, weil er alles in sich hat, nichts außer sich hat, das er wollen kann. … Wie fangen wir es nur an, diese Lauterkeit zu beschreiben? Fragen wir nur, was im Menschen allem wirklichen, allem bedingten Seyn vorangeht; denn was im Menschen das Höchste ist, das ist in Gott, das ist in allen Dingen das Wesen, die eigentliche Ewigkeit. Sehet ein Kind an, wie es in sich ist ohne Unterscheidung, und ihr werdet in ihm ein Bild der reinsten Göttlichkeit erkennen. … Es ist die reine Frohheit in sich selber, die sich selbst nicht kennt, die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist von sich selber und an nichts denkt, die stille Innigkeit, die sich freut ihres nicht Seyns. Ihr Wesen ist nichts als Huld, Liebe und Einfalt. Sie ist im Menschen die wahre Menschheit, in Gott die Gottheit. Daher wir gewagt, jene Einfalt des Wesens über Gott zu setzen, wie schon einige der Aelteren von einer Ueber-Gottheit geredet, unähnlich darinn den Neueren, die in verkehrtem Eifer diese Ordnung wieder umkehren wollten. Sie ist nicht Gott, sondern der Glanz des unzugänglichen Lichtes, in dem Gott wohnt, die verzehrende Schärfe der Reinheit, welcher der Mensch nur mit gleicher Lauterkeit des Wesens sich nähern kann. Denn da sie alles Seyn in sich als in einem Feuer

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verzehrt, so muß sie jedem unnahbar seyn, der noch im Seyn befangen ist. Daher die so allgemeine Frage: wie wir denn diese Lauterkeit erkennen? Die einzige Antwort ist: werde in dir selber eine gleiche Lauterkeit, fühle und erkenne sie in dir als das Höchste und du wirst sie unmittelbar als das absolut Höchste erkennen. Denn wie soll dem, der in sich selbst zertheilt und vielfältig ist, die höchste Einfalt Etwas werden?20 Man kann diese Stelle natürlich nicht ausschließlich von Eckharts Werk her verständlich machen wollen, da andere Traditionen – insbesondere Dionysius (Pseudo-)Areopagita, Johannes Tauler und das Pseudo-­ Taulerische Buch von der geistigen Armut sowie auch Jakob Böhme – dabei präsent sind. Aber eine ganze Fülle von Elementen weisen auf Thesen hin, die – ‚auch‘, vielleicht ‚insbesondere‘, gelegentlich sogar ‚ausschließlich‘ – in den im Basler Tauler-Druck enthaltenen deutschen Predigten Eckharts nachweisbar sind. Wir schauen uns diese Elemente im Folgenden einzeln an. 2.1.1  Das Absolute als Nichts Schelling unterscheidet zwischen dem (unendlichen) Wesen (‚dem ­urersten, unbedingten Zustand des Wesens, der über allem Seyn ist‘) und dem (jeweils vom Fall zu Fall verschiedenen) (endlichen) Seienden (‚dem, was bloß ein Seyendes oder Subjekt ist‘). Und weil das urerste, unbedingte Wesen eminenter als die bloß vorhandenen Seienden – und in diesem Sinne ‚über-seiend‘ – sei, lasse es sich als ‚Nichts‘ bezeichnen:

20. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 14,15-15,8 und 15,25-16,20. Entsprechende Passagen finden wir auch in den sonst bekannten Fassungen des Werkes; vgl. Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck II (1813), ed. M. Schröter, ibid., 133,1-134,4; Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck III, in ­Schelling, Sämmtliche Werke, ed. K.F.A. Schelling, Bd. VIII (Stuttgart, Augsburg, 1861), 234,15-236,26; Die Weltalter. Entwürfe und Fragmente zum Ersten Buch, ed. M. Schröter, ibid., 209,11-210,14 und 226,12-228,27; Schelling, System der Weltalter: Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, ed. Siegbert Peetz (Frankfurt a.M., 1990; ²1998), 162,8-163,9. Siehe noch die erhalten gebliebenen Fragmente aus dem Berliner Nachlass: Schelling, Weltalter-Fragmente, ed. K. Grotsch (2002), Bd. I, 173,6-175,4; 279,4-284,15; 402,7-403,5 und 407,12-409,1; Bd. II, 91,1-92,9.

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es ist nämlich nichts Endliches, nichts Bestimmtes: ‚Jawohl ist es ein Nichts‘, schreibt Schelling unmissverständlich in diesem Sinne.21 In ­Eckharts Predigt 71 lesen wir nun ähnlich: ‚Paulus stuont ûf von der erden, und mit offenen ougen ensach er niht‘. Mich dünket, daz diz wörtelîn vier sinne habe. Ein sin ist: dô er ûfstuont von der erden, mit offenen ougen sach er niht, und daz niht was got; wan, dô er got sach, daz heizet er ein niht.

Paulus stud uff von der erden/ vnd mit offnen augen sahe er nicht. Mich dunckt/ das diß wrtlin vier sin hab. Ein syn ist/ do er vff stund von der erde/ mit offnen augen sahe er nicht/ vnnd das nicht was got/ wan do er got sahe/ das heisset er ein nicht.

(‚Paulus stand auf von der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts‘ [Apg 9,8]. Mich dünkt, dass dies Wörtlein vierfachen Sinn habe. Der eine Sinn ist dieser: Als er aufstand von der Erde, sah er mit offenen Augen nichts, und dieses Nichts war Gott; denn, als er Gott sah, das nennt er ein Nichts).22 Auch für Eckhart ist Gott also, der mit dem Sein im absoluten Sinne des Wortes (esse absolute) gleichzusetzen ist (esse est deus),23 vom jeweiligen, von Fall zu Fall verschiedenen – konkreten, bedingten, endlichen – ­Seienden zu unterscheiden (ens hoc)24 und in diesem Sinne nichts oder gar das Nichts.25

21. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 15,1. 22. Eckhart, Pr. 71, DW III 211, 3-7 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 543); BT 1522, 242vb,4-12 (rechte Spalte). 23. Vgl. Andrés Quero-Sánchez, Sein als Freiheit: Die idealistische Metaphysik Meister Eckharts und Johann Gottlieb Fichtes (Freiburg i.Br., München, 2004), 63-75 (‚Das Sein ist Gott [esse est deus]‘). 24. Vgl. ibid., 75-85 (‚Die Unterscheidung „Sein [absolut]“ / „Etwas-Bestimmtes-Sein“ [esse absolute und esse hoc]‘). 25. Vgl. Andrés Quero-Sánchez, ‚Non-Situated Being: On the Reality of Nothing‘, in J. Vinzent and C. Wojtulewicz (eds.), Performing Bodies: Time and Space in Meister Eckhart and Taery Kim, Eckhart: Texts and Studies 6 (Leuven, 2016), 143-66; id., Über das Dasein (2013), 317-8; id., ‚Individuum, Modernität und Aufklärung im Denken Meister Eckharts und Sigers von ­Brabant‘, in F. Löser and D. Mieth (eds.), Religiöse Individualisierung in der Mystik: Meister ­Eckhart, Heinrich Seuse, Johannes Tauler, MEJb 8 (Stuttgart, 2014), 11-53, 48-53.

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2.1.2  Nichts-Wollen (Nichts-Wissen, Nichts-Haben) Die wahre Freiheit setzt Schelling dabei ausdrücklich mit der Freiheit des Willens gleich, ‚der nichts will, der keine Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird‘.26 Und er selbst beruft sich hier auf ‚einen älteren deutschen Schriftsteller voll Innigkeit‘, von dem ‚derjenige Wille arm genannt [wird], der, weil er alles in sich hat, nichts außer sich hat, das er wollen kann‘.27 Dieses Motiv, das auch für die Passage aus den Erlanger Vorlesungen, die unten noch zu analysieren sein wird, zentral ist,28 macht nun den Leitgedanken der Rede von der armuot Eckharts aus, der zu Beginn derselben wie folgt formuliert wird: daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhât.

Das ist ein arm mensch/ das nicht wil/ vnd nicht weißt/ vnnd nicht hat.

(Ein armer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat).29 2.1.3 Lauterkeit Der in der Passage Schellings entscheidende Begriff ‚Lauterkeit‘ ist ebenso bei Eckhart – natürlich auch für andere Autoren wie insbesondere Johannes Tauler – grundlegend. Unter den zahlreichen Belegstellen im Werk Eckharts führe ich hier nur eine aus der auch im Basler Druck überlieferten Predigt 3 an:

26. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 15,2-3. 27. Ibid., 15,20-1. 28. Siehe unten, S. 156-9. 29. Eckhart, Pr. 52, ed. G. Steer, in id. and L. Sturlese (eds.), Lectura Eckhardi: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. I (Berlin, Köln, Stuttgart, 1998), 168-80, hier 168,23-4 (linke Spalte) (trans. K. Flasch, ibid., 169) (vgl. DW II 488, 5-6); BT 1522, 306vb,31-3 (rechte Spalte).

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Wan denne got ein überswenkende wesen hât, dar umbe überswenket er allem bekantnisse, als ich êgester sprach in dem jüngesten sermône, daz diu sêle îngebildet wirt in die êrsten lûterkeit, in den îndruk der lûtern weselicheit, dâ si gotes gesmecket, ê er wârheit oder bekantlicheit an sich vâhe, dâ alliu nemelicheit abe geleget ist: dâ bekennet si aller lûterlîchest, dâ nimet si daz wesen in ebenmæzicheit. Dâ von sprichet Paulus: ‚got wonet in einem liehte, dâ niht zuoganges enist‘. Er ist ein înhangen in sîn selbes lûter weselicheit, dâ niht zuohangendes enist. Swaz zuoval hât, daz muoz abe. Er ist ein lûter înstân in im selber, dâ noch diz noch daz enist; wan swaz in gote ist, daz ist got.

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Wan denn got eyn überschwenckend wesen hatt/ darumb überschwenckt er alle bekantnuß/ als ich egester sprach in der nechsten sermon/ das die sel ingebildet wirt in die erste lauterkeit in den intruck der lauteren wesenligheit/ da sy gottes schmecket/ ee das er warheit/ oder bekantnuß an sich vahe/ da alle nemligkeit abgeleytet ist/ da bekennet sy aller luterlichest/ da nymmet sy das wesenn in ebenmessigkeit. Dauon sprach Paulus. Gott wonet in eym liecht da nitt zu ganges ist. Es ist eyn inhangen in seyn selbs lauter weßlichkeit/ da nicht zuhangendes ist/ Was zufall hatt/ das muß ab/ Er ist eyn lauter ynstan in sich selber/ da weder diß noch das ist/ wann was in gott ist/ das ist gott.

(Da denn Gott ein überschwengliches Wesen hat, darum übersteigt er auch alle Erkenntnis, wie ich vorgestern in meinem letzten Sermon sagte: dass die Seele in die erste Lauterkeit eingebildet wird, in den Eindruck der lauteren Wesenheit, wo sie Gott schmeckt, ehe er Wahrheit oder Erkennbarkeit annimmt, dort, wo alle Nennbarkeit abgelegt ist; dort erkennt sie am allerlautersten, dort nimmt sie das Wesen in voller Gemäßheit. Deshalb sagt Paulus: ‚Gott wohnt in einem Lichte, zu dem es keinerlei Zugang gibt‘ [1Tim 6,16]. Er ist ein Einwohnen in seiner eigenen lauteren Wesenheit, in der es nichts Anhaftendes gibt. Was Zufall hat, das muss hinweg. Er ist ein lauteres In-sich-selbst-Stehen, wo es weder dies noch das gibt; denn was in Gott ist, das ist Gott).30 Eckhart spricht dabei von der lauteren Wesenheit, in welcher die Seele ‚Gott schmeckt‘, und zwar Gott als die lautere Wesenheit selbst, ‚ehe er Wahrheit oder Erkennbarkeit annimmt‘. ‚Denn‘, so hatte er geschrieben zu Beginn der Passage, ‚da Gott ein überschwengliches Wesen hat, 30. Eckhart, Pr. 3, DW I 55, 8-56, 8 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 440); BT 1522, 286ra,43-b,15 (rechte Spalte).

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darum übersteigt er auch alle Erkenntnis‘. Schelling betont nun seinerseits in eben diesem Sinne, wie das Kind als Bild der reinsten Göttlichkeit oder der ‚Lauterkeit‘ ‚sich selbst nicht kennt‘, ‚an nichts denkt‘ und ‚sich ihres nicht Seyns freut‘. Ja, es ist, so Schelling, ‚die reine Frohheit in sich selber …, die ganz erfüllt ist von sich selber‘, oder, wie Eckhart an der zitierten Stelle sagt: ein lûter înstân in im selber (‚ein lauteres In-sich-selbst-Stehen‘). Zitiert Eckhart in diesem Kontext Paulus’ Gleichsetzung von Gott mit einem ‚Licht, zu dem es keinerlei Zugang gibt‘ [1Tim 6,16], so formuliert Schelling denselben Gedanken mit einer an Dionysius (Pseudo-)Areopagita erinnernden – ich komme unten noch dazu31 – Begrifflichkeit: ‚der Glanz des unzugänglichen Lichtes‘. 2.1.4 Einfalt Schelling beschreibt die ihn interessierende ‚Lauterkeit‘ (die ‚reinste Göttlichkeit‘), wie wir gerade gesehen haben, durch den Vergleich mit dem Kind und der für dasselbe kennzeichnenden Einfalt: ‚Es ist … die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist von sich selber und an nichts denkt … Ihr Wesen ist nichts als Huld, Liebe und Einfalt‘.32 Auch dies ist ein zentraler Aspekt der eckhartschen Metaphysik des Warumlosen, wie sie in Predigt 26 – welche auch im Basler Tauler-Druck (251vb-252vb) überliefert ist – am deutlichsten zur Sprache kommt.33 Entscheidend in diesem Kontext ist allerdings wiederum Eckharts Predigt 71. Hier zieht er zunächst die durch Mittel-Zweck-Verhältnisse bestimmte Vernunft in Betracht: vernünfticheit, als si noch suochende ist, d.h. die Vernunft, insofern sie einen Menschen charakterisiert, der nicht auf nichts oder gar auf das Nichts aus ist, sondern doch etwas – für sich selbst oder für was oder wen auch immer – (haben) will oder gar kennt. Eine solche Vernunft ist von etwas Anderem oder überhaupt von Anderem – nämlich vom intendierten ‚Ding‘ – abhängig; sie ist außerhalb des Selbst, in der Fremde oder gar entfremdet: Außerhalb des Wesens als dessen, was selbst oder durch sich selbst ist. Die nicht durch Mittel-Zweck-Verhältnisse 31. Siehe unten, S. 148-50. 32. Ibid., 16,1-4. 33. Eckhart, Pr. 26, DW II 26, 8-27, 10 (trans. J. Quint, ibid., 642-3); BT 1522, 252ra,29-47. Vgl. noch id., Pr. 5b, DW I 91, 10-92, 6. Auch Eckharts Predigt 5b wird in BT überliefert (266va-267va, die erwähnte Stelle hier 267rb,3-13).

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bestimmte – somit nicht bloß instrumentelle, sondern absolute – Vernunft ist hingegen, so Eckhart, niht suochende, d.h. sie will oder kennt überhaupt nichts – eben nichts als das Nichts selbst – und stât dâ in irm lûtern einvaltigen wesene: Über die gedenke ist vernünfticheit, als si noch suochende ist. Si gât alumbe und suochet; si lûzet her und dar, und ir gât zuo und abe. Über die vernünfticheit, diu dâ suochende ist, sô ist ein ander vernünfticheit, diu dâ niht ensuochet, diu dâ stât in irm lûtern einvaltigen wesene, daz dâ begriffen ist in dem liehte. Und ich spriche, daz in disem liehte alle die krefte der sêle sich erhœhent. Die sinne entspringent in die gedenke: wie hôch und wie gruntlôs die sîn, daz enweiz nieman wan got und diu sêle.

Uber die gedecke ist vernünfftigkeit/ als sy noch suchend ist. Sy gat all vmb vnd suchet/ sy laustert ht vnd dar/ vnd ir gat zu vnd ab. Uber die vernünfftigkeit die da suchend ist/ so ist ein vernünfftigkeyt die da nitt suchet/ die statt in irem lautern einfeltigen wesen das da begreiffen ist in dem liecht. Vu ich sprich/ das in dysem liechte/ alle die krefft der sel sich erhhent. Die sin entspringent in die gedencke/ wie hoch vnd wie gruntloß die seind/ das weyßt nyemant dan got vnd die seel.

(Über die Gedanken hinaus aber geht die Vernunft, soweit sie nach etwas sucht. Sie geht ringsum und sucht: sie späht hierund dorthin, und sie nimmt zu und ab. Über dieser Vernunft aber, die nach etwas sucht, ist noch eine andere Vernunft, die da nichts sucht, die da in ihrem lautern, einfältigen Wesen steht, das in jenem Lichte umfangen ist. Und ich sage, dass in diesem Lichte alle Kräfte der Seele sich erhöhen. Die Sinne springen auf in die Gedanken: wie hoch [aber] und wie grundlos die sind, das weiß niemand als Gott und die Seele).34 Quints Übersetzung mit ‚einfaltiges Wesen‘ ist hier sicherlich richtig, denn es handelt sich dabei ja um den Gegenbegriff zu ‚mannigfaltig‘. Nun bedeutet mhd. einvaltic vor allem ‚einfältig‘ (simplex).35 Das mystische Wesen ist also nicht nur deshalb einvaltic, weil es Eines ist und sich damit über die Verschiedenheit als solche – über jegliches von Situation zu Situation verschiedene ‚Warum‘ – hinwegsetzt, sondern vor allem 34. Eckhart, Pr. 71, DW III 215, 7-216, 2 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 544); BT 1522, 243ra,16-28 (rechte Spalte). 35. Papst Johannes XXII. selbst gebraucht den lateinischen Ausdruck in seiner Bulle In agro dominico (Acta Echardiana, n. 65), LW V 600, 104 (corda simplicium).

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deswegen, weil es – und zwar eben deshalb, weil es von jeglichem von Situation zu Situation verschiedenen ‚Warum‘ oder besonderen Interesse absieht – ‚einfältig‘ ist, d.h. ‚arglos‘, ‚gutmütig‘, ‚ohne Argwohn‘, ‚nicht schlau oder raffiniert‘. 2.1.5 Gelassenheit Spricht Schelling nun, wie wir gerade gesehen haben, von ‚der gelassenen Wonne‘ des einfältigen Kindes, so bedient er sich damit eines Begriffes, der bekanntlich für Eckhart – natürlich auch für andere Autoren, insbesondere für Tauler – charakteristisch ist (gelâzenheit, gelâzen). Bei Meister Eckhart ließen sich in diesem Kontext eine ganze Fülle von Stellen als Beleg anführen; ich beschränke mich hier auf folgende Stelle in der auch im Basler Tauler-Druck (312vb-314ra) überlieferten Predigt 12: Der sich zemâle lieze einen ougenblik, dem würde zemâle gegeben. Und wære ein mensche zweinzic jâr gelâzen, næme er sich selben wider einen ougenblik, er enwart noch nie gelâzen. Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet stæte, unbeweget in im selber und unwandellîche, der mensche ist aleine gelâzen.

Der mesch der sich ye zumal ließ eine augeblick/ dem wurde zumal gegebe/ Vnd wer ein mesch zwentzig iar gelassen/ nem er sich selb eynen augenblick wider/ er ward noch nie gelassen. Der mesch der gelassen hat/ vn gelassen ist/ vn der nymermer gesicht einen augeblick/ vff das/ daß er gelassen hat/ vn bleit stett vnbewegt in im selber vn vnwandelbar/ der mensch ist allein gelassen.

(Wer sich gänzlich [nur] einen Augenblick ließe, dem würde alles gegeben. Wäre dagegen ein Mensch zwanzig Jahre lang gelassen und nähme sich selbst auch nur einen Augenblick zurück, so ward er noch nie gelassen. Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst und unwandelbar, – der Mensch allein ist gelassen).36

36. Eckhart, Pr. 12, DW I 202, 11-203, 5 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 478-9); BT 1522, 314ra,22-32 (rechte Spalte).

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2.1.6  Gott-(unmittelbar)Erkennen als Göttlich-Sein Die Lauterkeit des göttlichen Wesens übersteigt, wie wir oben gesehen haben,37 alle Erkenntnis – gemeint ist damit allerdings nur alle bloß ‚theoretische‘ Erkenntnis, denn es gibt nach Schelling doch eine im Leben und durch das Leben selbst vollzogene Erkenntnisform: eine ‚unmittelbare‘ Erkenntnis des lauteren göttlichen Wesens, die dadurch zustande zu bringen ist, dass man selbst ‚göttlich‘ – ‚lauter‘, ‚wesentlich‘ – wird: ‚Werde in dir selber eine gleiche Lauterkeit, fühle und erkenne sie in dir als das Höchste und du wirst sie unmittelbar als das absolut Höchste erkennen‘.38 Auch dies wird immer wieder von Meister Eckhart betont, und zwar in Kontexten, in denen, wie es bei der eben zitierten Stelle Schellings der Fall ist, ‚unmittelbare‘ Erkenntnis gefordert wird. Wichtig ist diesbezüglich insbesondere Eckharts Predigt 69: Der got bekente von verre als in einem mittel oder in einem wolken, der enschiede sich nicht von gote einen ougenblik umbe alle dise werlt. Waz wænet ir denne, der got âne mittel sihet, wie grôz daz ist? … Enwære kein mittel zwischen gote und der sêle, alzehant sæhe si got, wan got enhât kein mittel; er enmac ouch kein mittel gelîden. Wære diu sele alzemâle entblœzet und entdecket von allem mittel, sô wære ir got entblœzet und entdecket und gæbe sich ir alzemâle. … Eyâ, nû merket mit vlîze und gehaltet diz wol; in dem hât ir die pre dige alzemâle: bilde und bilde ist sô gar ein und mit einander, daz man keinen underscheit dâ verstân enmac. Man verstât wol daz viur

Ir sollen das wissen/ sehe die seel gott von ferre/ als in einem mittel oder in eine wolcken einen augenblick/ so kerte sy sich vo gott nit vmb alle diß welt/ Was wenent ir dan wie daß sey/ do man gott sicht in im selber/ als er ist on mittel in sein blossen wesen? … Wer kein mittel zwüschen got vnd der seel/ alzehant sehe sy gott/ Wan gott hat kein mittel nit/ er mag auch kein mittel leiden. Wer die sel alzu� mal entblsset oder entdecket von allem mittel/ so wer ir gott entblßt vnd entdeckt/ vnd geb sich ir bloß allzemal. … Eya nun merckent mit fleiß vnd behalten diß woll/ in dem hand ir die predig allzumal. Bild vnnd bild ist so gar eins/ vnd mit einader/ das

37. Siehe oben, S. 136-8. 38. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 16,16-8.

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âne die hitze und die hitze âne daz viur. Man verstât wol die sunnen âne daz lieht und daz lieht âne die sunnen. Aber man enmac keinen underscheit verstân zwischen bilde und bilde. Ich spriche mê: got mit sîner almehticheit enmac keinen underscheit dâ verstân, wan ez wirt mit einander geborn und stirbet mit einander. … Sehet, alsô ist ez hie: vergienge daz bilde, daz nâch gote gebildet ist, sô vergienge ouch daz bilde gotes.

man kein vnderscheid da versteen mag. Ma verstat wol das feüer on die hitz/ vnnd die hitz on das feüer. Man verstat woll die sonne on das liecht/ vnd das liecht on die sonne/ aber man mag keyn vnderscheid verstan zwyschent bild vnnd bild. Ich sprich me. Gott mit seyner almechtigkeit mag keyn vnderscheid da verstan/ wann es wirt mit einander geboren/ vnd stirbt mit einander/ … Sehet/ also ist es hie/ vergieng das bild das nach gott gebildet ist/ so vergieng auch dz bild gottes.

(Wer Gott [nur] von fern wie durch ein Vermittelndes oder in einer Wolke erkennen würde, [schon] der würde sich [selbst] um [den Preis] dieser ganzen Welt nicht einen Augenblick [mehr] von Gott trennen. Was glaubt ihr aber dann, wie überwältigend es ist, wenn man Gott unvermittelt schaut? … Wäre [nämlich] kein Vermittelndes zwischen Gott und der Seele, so würde sie ohne weiteres Gott sehen; denn Gott kennt kein Vermittelndes; er kann auch kein Vermittelndes dulden. Wäre die Seele gänzlich entblößt oder enthüllt von allem Vermittelnden, so wäre [auch] Gott für sie entblößt und enthüllt und gäbe Gott sich ihr gänzlich. … Wohlan, nun gebt gespannt acht und behaltet dies wohl, [denn] die ganze Predigt habt ihr darin [beschlossen]: [Ab]Bild und [Ur]Bild ist so völlig eins und miteinander, dass man da keinerlei Unterschied erkennen kann. Man kann wohl das Feuer ohne die Hitze denken und die Hitze ohne das Feuer. Man kann wohl [auch] die Sonne ohne das Licht denken und das Licht ohne die Sonne. Aber man kann keinerlei Unterschied erkennen zwischen [Ab]Bild und [Ur]Bild. Mehr noch sage ich: Gott mit seiner Allmächtigkeit vermag da keinerlei Unterschied zu erkennen, denn es wird miteinander geboren und stirbt auch miteinander. … Seht, ebenso ist es hier: Verginge das ‚Bild‘, das nach Gott gebildet ist, so verginge auch das ‚Bild‘ Gottes).39 39. Eckhart, Pr. 69, DW III 161, 1-3; 165, 4-7 und 176, 3-178, 2 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 535, 536 und 538); BT 1522, 258rb,19-25; 258va,24-30 und 259rb,28-va,4. Zur ‚Unmittelbarkeit‘ siehe unten, S. 167-8.

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Der Text des Basler-Drucks, der sich in diesem Fall zum Teil von dem der kritischen Ausgabe unterscheidet, ist besonders aussagekräftig: do man gott sicht in im selber/ als er ist on mittel in sein blossen wesen (‚dann sieht man Gott, wie er in sich selbst [= an sich] ist, so [nämlich], wie er selbst unvermittelt, in seinem reinen Wesen ist‘).40 Die unmittelbare Erkenntnis – wenn man so will: die durch das göttliche Leben selbst zustande zu bringende ‚intellektuelle oder kontemplative Anschauung‘ – verstattet uns in diesem Sinne Zugang zu Gott als zum Ansich selbst.41 Die (richtig verstandene) Theoria (θεωρία – contemplatio) ist im Grunde – nicht nur bei Schelling, sondern schon in der Antike – eine Lebensform, d.h. sie wird im Leben oder durch das richtige Leben vollzogen. Die (richtig verstandene) Theoria ist alles andere als ‚lebenslos‘ oder ‚inaktiv‘, alles andere als ein vom Leben absehendes ‚theoretisches‘ Konstrukt, alles andere als ein Eintreten für tatenlose Passivität oder gar für irgendwelche Hinnahme des Vorgegebenen. Und indem der Mensch durch eine solche, nicht bloß ‚theoretische‘ Theoria zum Abbild Gottes als seines Urbildes wird, wird er nicht bloß Gott ähnlich, sondern er verwirklicht selbst das göttliche – sprich: absolute, wesentliche – Sein selbst, so dass das Abbild selbst zum Urbild selbst wird: und darin besteht die unmittelbare Erkenntnis Gottes. Da der mittelhochdeutsche Ausdruck für ‚Abbild‘ und für ‚Urbild‘ nun ein und derselbe ist, nämlich bilde, so kann Eckhart diesen seinen radikalen Gedanken prägnant formulieren: man enmac keinen underscheit verstân zwischen bilde und bilde.42

40. Ibid., BT 1522, 258rb,24-5. 41. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in Sämmtliche Werke, ed. K.F.A. Schelling, Bd. VI (Stuttgart, Augsburg, 1860), 150,32-3; 151,16-21 und 153,23-8: ‚Es ist eine unmittelbare Erkenntniß Gottes oder des Absoluten. … // Gott oder das Absolute ist der einzige unmittelbare Gegenstand der Erkenntniß, alle andere Erkenntniß, nur mittelbare.– Der Gegensatz zwischen der Ansicht des Dogmatismus und der wahren Philosophie ist schon hinlänglich dadurch bezeichnet, daß jener überall bloß eine mittelbare Erkenntniß des Absoluten, diese aber eine durchaus unmittelbare behauptet. … // Die Erkenntnißart des Absoluten also, wenn sie eine absolute ist, ist auch eine contemplative.– Jede unmittelbare Erkenntniß ist überhaupt = Anschauung, und insofern ist auch alle Contemplation Anschauung. Da aber die Vernunft hier das Erkennende ist, so ist diese Anschauung eine Vernunft-, oder, wie auch sonst genannt, eine intellektuelle Anschauung‘. 42. Eckhart, Pr. 69, DW III 177, 4.

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2.1.7  Eigenschaftslosigkeit und Jungfräulichkeit Die gepriesene Lauterkeit der ewigen, göttlichen Freiheit ist nun, so Schelling, ‚eigenschaftslos‘: ‚Ein jedes Ding hat Eigenschaften, woran es erkannt und gefaßt wird; und je mehr es Eigenschaften hat, desto faßlicher ist es. Das Größte ist rund, ist eigenschaftslos. Am Erhabenen findet der Geschmack, d.i. die Unterscheidungsgabe, nichts zu schmecken, so wenig als am Wasser, das aus der Quelle geschöpft ist‘.43 Auch dies ist ein zentraler Gedanke der ‚Mystik‘ Meister Eckharts, bei dem der Begriff eigenschaft, der freilich auch im Werk Taulers und Jakob Böhmes sehr wichtig ist, in einer – zumindest sehr ähnlichen – Bedeutung nachweislich ist: Diz ist guot ze merkenne, wan diz einic ein daz ist sunder wîse und sunder eigenschaft. Und dar umbe bî gote: sol got iemer dar în geluogen, daz muoz in kosten alle sîne götlîche namen und sîne persônlîche eigenschaft: daz muoz er alzemâle hie vor lâzen, sol er iemer dar în geluogen. Sunder als er ist ein einvaltic ein, sunder alle wîse und sunder eigenschaft: dâ enist er vater noch sun noch heiliger geist in disem sinne und ist doch ein waz, daz enist noch diz noch daz.

Diß ist gut zu merckent/ wann diß einig ein/ ist on weyse vnd on eygenschafft. Vnd darumb sol gott ymmer darin geluge/ es muß in kosten alle sein gtliche nammen/ vnnd sein personlich eygenschafft/ das muß er alzumal hie verlassen/ sol er ymmer darin gelugen/ sunder als ist ein einfaltig Ein/ on alle weyse vnd eygenschafft/ da ist er weder vatter noch sun/ noch heyliger geyst/ in disem sinne/ vnd ist doch ein ettwas/ das ist/ weder diß noch das.

(Dies ist leicht einzusehen, denn dieses einige Eine ist ohne Weise und ohne Eigenschaft. Und drum: Soll Gott je darein lugen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte Eigenschaft; das muss er allzumal draußen lassen, soll er je darein lugen. Vielmehr, so wie er einfaltiges Eins ist, ohne alle Weise und Eigenschaft, so ist er weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist in diesem Sinne und ist doch ein Etwas, das weder dies noch das ist).44 43. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 15,13-7. 44. Eckhart, Pr. 2, ed. G. Steer and H. Vogl, ‚Die bürgelîn-Predigt Meister Eckharts: Mutmaßungen zur Entstehung der Predigt und ihrer Beziehung zu Nikolaus von Kues. Neue text­ geschichtliche Ausgabe der Predigt und der lateinischen Übersetzung aus der Koblenzer Handschrift‘, in H. Schwaetzer and G. Steer (eds.), Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, MEJb 4

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Dabei ist Eckharts These freilich unabhängig vom streng theologischen Kontext, in dem sie formuliert wird (Trinitätslehre), zu verstehen. Bei Schelling ließe sich noch eine besonders bedeutsame Stelle heranziehen, nämlich folgende: Lauterkeit ist, was der Mensch in allen Dingen sucht u. über alles hoch u. werth achtet. … Aber alles andre hat Eigenschaften, woran es erkannt u. gefaßt wird, und je mehr Eigenschaften es hat, desto faßlicher ist es. Die vollkommene Lauterkeit aber ist eben das, was übrig bleibt, wenn alle Eigenschaftigkeit abgethan ist, die reine Bloßheit; Abgeschiedenheit von allem, die an nichts hängt, das keine Berührung verträgt, gleichsam eine Jungfräulichkeit, vollkommene Einfalt der man also nicht unmittelbar sich nähern kann als durch ein völliges Aufgeben der Erkenntniß; wenn man sie nicht will ist sie da, wenn man nach ihr greift entflieht sie.45 Um die für das Göttliche kennzeichnende ‚Eigenschaftslosigkeit‘ zu beschreiben, gebraucht Schelling dabei wiederum verschiedene Motive, die für die ‚Mystik‘ Eckharts charakteristisch sind und bereits oben erläutert wurden: ‚Lauterkeit‘ (oder ‚Bloßheit‘), ‚Einfalt‘, ‚Unmittelbarkeit‘ sowie ‚Aufgabe von bewusster Erkenntnis und bewusstem Willen‘. Es kommen dabei noch zwei bei Eckhart nachweisbare Motive: ‚Abgeschiedenheit‘ und ‚Jungfräulichkeit‘ (‚Abgeschiedenheit von allem, die an nichts hängt, das keine Berührung verträgt, gleichsam eine Jungfräulichkeit‘) hinzu. Ich konzentriere mich im Folgenden auf das – freilich wiederum ebenso bei Tauler, Böhme und Baader nachweisbare – ‚Jungfräulichkeits‘-Motiv, da ich Eckharts Verständnis der abegescheidenheit in früheren Arbeiten bereits ausführlich diskutiert habe.46 Hier lässt sich insbesondere Eckharts Predigt 2 als Quelle für Schelling anführen:

(Stuttgart, 2011), 139-259, hier 239,148-54 (vgl. DW I 43, 5-44, 2) (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 437); BT 1522, 297va,38-b,4 (rechte Spalte). 45. Schelling, Die Weltalter. Entwürfe und Fragmente zum Ersten Buch, ed. M. Schröter (1946 [1979]), 214,26-215,5. 46. Siehe insbesondere Eckhart, Pr. 53, DW II 528, 5-6: Swenne ich predige, sô pflige ich ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sîn selbes und aller dinge. Vgl. BT 1522, 274va-275va, hier 274vb,13-6. Den Begriff abegescheidenheit kennt Schelling allerdings insbesondere durch das Buch von der geistigen Armut vermittelt; siehe A. Quero-Sánchez, ‚Schellings philosophische Lektüre des Buchs von der geistigen Armut‘ (2015), 268-72. Zum Zusammenhang zwischen abegescheidenheit und ‚Absolutheit‘ siehe auch: Id., ‚Sein als Absolutheit (esse als

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Ich hân ein wörtelîn gesprochen in dem latîne, daz stât geschriben in dem êwangeliô und sprichet alsô ze tiutsche: unser herre Jêsus Kristus der gienc ûf in ein bürgelîn und wart enpfangen von einer juncvrouwen, diu ein wîp was. Nû merket mit vlîze diz wort: ez muoz von nôt sîn, daz si ein juncvrouwe was, von der Jêsus wart enpfangen. Juncvrouwe ist alsô vil gesprochen als ein mensche, der von allen vremden bilden ledic ist, alsô ledic, als er was, dô er niht enwas.

Vnser herr Jesus Christus giege vff ein bürglin/ vnd ward empfangen vo einer iunckfrawe die ein weib was. Eya nun merckent mit fleiß diß wort. Es muß vo nott sein/ das sy ein iunckfraw was/ der mensch von de Jesus empfange ward. Junckfraw ist als vil gesprochen/ als ein mensch/ der von allen bilde ledig ist/ vnnd also ledig/ als do er nit was.

(Ich habe ein Wörtlein gesprochen, zunächst auf Lateinisch, das steht geschrieben im Evangelium und lautet zu Deutsch also: ‚Unser Herr Jesus Christus ging hinauf in ein Burgstädtchen und ward empfangen von einer Jungfrau, die ein Weib war‘ [Lk 10,38]. Wohlan, achtet nun aufmerksam auf dieses Wort: Notwendig muss es so sein, dass sie eine ‚Jungfrau‘ war, jener Mensch, von dem Jesus empfangen ward. Jungfrau besagt soviel wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, als er nicht war).47 Wie eine solche die ‚Jungfräulichkeit‘ konstituierende ‚Entbildung‘ – es heißt nämlich: Juncvrouwe ist alsô vil gesprochen als ein mensche, der von allen vremden bilden ledic ist – zu verstehen ist, soll noch unten, im Kapitel 3 (Schellings Identitätsphilosophie als ‚mystisches‘ Projekt) erläutert werden.48 Wichtig für uns ist hier zunächst insbesondere die Tatsache, dass in der Fortsetzung der Passage Eckhart selbst – wie Schelling – beide Motive, ‚Jungfräulichkeit‘ und ‚Eigenschaftslosigkeit‘, in Verbindung bringt:

abegescheidenheit)‘, in id. and G. Steer (eds.), Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, MEJb 2 (Stuttgart, 2008), 189-218. 47. Eckhart, Pr. 2, ed. G. Steer and H. Vogl (2011), 219, 3-220, 9 (vgl. DW I 24, 3-25, 2) (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 434); BT 1522, 296ra,35-b,5 (rechte Spalte). 48. Siehe unten, S. 162-73.

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Nû merket daz underscheit, daz wil ich iu bewîsen. Wære ich alsô vernünftic, daz alliu bilde vernünfticlîche in mir stüenden, diu alle menschen ie enpfiengen und diu in gote selber sint, wære ich der sunder eigenschaft, daz ich enkeinez mit eigenschaft hæte begriffen in tuonne noch in lâzenne, mit vor noch mit nâch, sunder daz ich in disem nû vrî und ledic stüende nâch dem liebesten willen gotes und den ze tuonne âne underlâz, in der wârheit sô wære ich juncvrouwe âne hindernisse aller bilde als gewærlîche, als ich was, dô ich niht enwas niht enwil und niht enweiz und niht enhât.

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Nun merckend den underscheyd/ den wil ich euch beweysen. Were ich als vernünfftig/ das alle bild vernünfftiglich in mir werent die menschen ye empfiengen/ vnd die in gott selber seind/ vnd were ich des on eygenschafft/ das ich keines mitt eygenschafft hette begriffen/ weder in thun noch in lassen/ weder vor noch mit nach/ sunder das ich in disem (nun) frey vnnd ledig stünde nach dez liebsten willen gottes/ vnd den zu thunde on vnderloß/ in der warheyt/ so were ich iunckfraw/ on hindernus aller bilden/ als warlich als ich was/ do ich nitt was.

(Nun gebt Acht auf die Unterweisung, die will ich euch dartun. Wäre ich so der Vernunft entsprechend, dass alle Bilder in mir der Vernunft entsprechen würden, die sämtliche Menschen je [in sich] aufnahmen, und in Gott selbst sind – [oder auch:] wäre ich da ohne Eigenschaft, so dass ich kein Bild im Tun noch im Lassen, mit Vor noch mit Nach, mit Eigenschaft begriffen hätte, sondern vielmehr in diesem gegenwärtigen Nun frei und ledig stünde für den liebsten Willen Gottes und ihn zu erfüllen ohne Unterlass, wahrlich, so wäre ich Jungfrau ohne Behinderung durch alle Bilder, ebenso gewiss, wie ich’s war, als ich nicht war).49 2.1.8 Ueber-Gottheit Schelling gebraucht an der uns beschäftigenden Stelle – und dasselbe tut er in der Passage der Erlanger-Vorlesung, die unten noch zu untersuchen sein wird, wo er in diesem Zusammenhang auf ‚einen der vorzüglichsten Mystiker früherer Zeit‘ verweist50 – den Ausdruck ‚Ueber-Gottheit‘: ‚Daher wir gewagt, jene Einfalt des Wesens über Gott zu setzen, wie

49. Eckhart, Pr. 2, ed. G. Steer and H. Vogl (2011), 221, 12-8 (vgl. DW I 25, 5-26, 3) (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 434); BT 1522, 296rb,11-25 (rechte Spalte). 50. Siehe unten, S. 160.

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schon einige der Aelteren von einer Ueber-Gottheit geredet‘.51 Der damit gemeinte Autor – ‚einer der Älteren‘ (Weltalter) bzw. ‚einer der vorzüglichen Mystiker früherer Zeit‘ (Erlanger Vorlesung) – ist nicht, wie vermutet wurde, Angelus Silesius52 – obwohl auch bei diesem der Ausdruck ‚ber-Gottheit‘ nachweisbar ist53 –, sondern wohl Dionysius (Pseudo-) Areopagita, in dessen Werken sowohl das Substantiv ὑπερθέοτης als auch das Adjektiv ὑπέρθεος vorkommen.54 Dies wird insbesondere daraus deutlich, dass Schelling über eine solche ‚Übergottheit‘ noch schreibt, sie sei ‚nicht Gott, sondern der Glanz des unzugänglichen Lichtes‘,55 womit er eine für Dionysius typische Ausdrucksweise gebraucht.56 Allerdings verwendet auch Meister Eckhart in der im Basler Tauler-Druck als angebliches Werk Taulers überlieferten Predigt 101 (2vb-5va bzw. 168vb) – sich ausdrücklich auf Dionysius Areopagita berufend – den Ausdruck ‚der unbekante übergotete got‘: Hie zuo mânete Dionysius sînen jünger Timotheum und sprach: ‚lieber mîn sun Timothee, dû solt mit umbegekêrten sinnen dich erswingen über dich selber und über alle krefte, über redelicheit 51. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 16,6-8. 52. Vgl. A. Quero-Sánchez, ‚Über die Nichtigkeit des Gegebenen‘ (2009-2010-2011), 194. 53. Vgl. Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann, I,15, ed. L. Gnädinger (Stuttgart, 1984), 29. 54. Siehe etwa Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia, in Corpus Dionysiacum, Bd. II: De coelesti hierarchia, De ecclesiastica hierarchia, De mystica theologia, Epistulae, ed. G. Heil and A.M. Ritter (Berlin, New York, 1991), 141,3-5 (ὑπέρθεος) (vgl. die deutsche Übersetzung von A.M. Ritter [Stuttgart, 1994], 74: ‚erhaben über … alles Göttliche‘). Das Substantiv ἡ ὑπερθέοτης gebraucht Dionysius in seiner Abhandlung Über die göttlichen Namen, in Corpus Dionysiacum, Bd. I: De divinis nominibus, ed. B.R. Suchla (Berlin, New York, 1990), 229,10-3 (vgl. die deutsche Übersetzung von A.M. Ritter [1994], 102: ‚Übergottheit‘). 55. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 16,10. 56. Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia, ed. G. Heil and A.M. Ritter (1991), 141,3-142,4: ἔνθα τὰ ἁπλᾶ καὶ ἀπόλυτα καὶ ἄτρεπτα τῆς θεολογίας μυστήρια κατὰ τὸν ὑπέρφωτον ἐγκεκάλυπται τῆς κρυφιομύστου σιγῆς γνόφον, ἐν τῷ σκοτεινοτάτῳ τὸ ὑπερφανέστατον ὑπερλάμποντα καὶ ἐν τῷ πάμπαν ἀναφεῖ καὶ ἀοράτῳ τῶν ὑπερκάλων ἀγλαϊῶν ὑπερπληροῦντα τοὺς ἀνομμάτους νόας (vgl. die deutsche Übersetzung von A.M. Ritter [1994], 74: ‚Dort liegen ja der Gotteskunde Mysterien in überlichtem Dunkel geheimnisvoll verhüllten Schweigens verborgen: einfach, absolut und unwandelbar. Inmitten undurchdringlichen Dunkels übertreffen sie [noch] an Glanz, was [bereits] größere Leuchtkraft besitzt als alles Übrige; inmitten des gänzlich Unbegreifbaren und Unsichtbaren machen sie die [dafür] blinden Geister jenes Glanzes übervoll, der an Schönheit alles in den Schatten stellt‘). Zu der ähnlichen, auch von Meister Eckhart in Predigt 3 gebrauchten Paulus-Formulierung (1Tim 6,16: ‚Gott wohnt in einem Lichte, zu dem es keinerlei Zugang gibt‘) siehe oben, S. 138.

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und über vernunft, über werk und wîse und wesen in die verborgene stille dünsternisse, ûf daz dû komest in ein bekantnisse des unbekanten übergoteten gotes‘. Ez muoz ein entziehen sîn von allen dingen. Gote dem versmâhet ze würkenne in bilden. (Hierzu ermahnte Dionysius seinen Jünger Timotheus und sprach: Lieber Sohn Timotheus, du sollst mit unbekümmerten Sinnen dich hinausschwingen über dich selbst und über alle deine Kräfte, über das Erkenntnisvermögen und über die Vernunft, über Werk und über Weise und Sein in die verborgene stille Finsternis, auf dass du kommest in ein Erkennen des unerkannten übergotteten Gottes. Man muss sich allen Dingen entziehen. Gott widerstrebt es, in Bildern zu wirken).57 Auffällig ist allerdings, dass Dionysius an der von Eckhart hier zitierten Stelle den Ausdruck ὑπέρθεος doch nicht gebraucht, sondern bloß vom ‚überseienden Strahl des göttlichen Dunkels‘ spricht.58 Zu fragen wäre nun, ob wir etwa Eckharts Predigt 101 als unmittelbare Quelle für ­Schelling betrachten sollen. Dagegen spricht jedoch schon die Tatsache, dass Schelling – im Unterschied zu Eckhart – nicht das Adjektiv (übergotet), sondern das Substantiv (‚Ueber-Gottheit‘) gebraucht. Darüber hinaus: Gehen wir davon aus, dass Schelling diese Predigt entweder über den Basler Tauler-Druck oder über die Tauler-Ausgabe des Pietisten Philipp Jakob Spener (1635-1705) – welche er nachweislich gelesen hat59 – kannte, so ist diese Frage eindeutig zu verneinen. Denn die Stelle wird in diesen beiden Ausgaben in einem verschiedenen Wortlaut überliefert:

57. Eckhart, Pr. 101, DW IV,1 359, 146-360, 150 (trans. J. Quint, in Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate [München, 1955], 421 [hier Pr. 57]). 58. Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia, ed. G. Heil and A.M. Ritter (1991), 142,10: καθαρῶς ἐκστάσει πρὸς τὸν ὑπερούσιον τοῦ θείου σκόπους ἀκτῖνα (vgl. die deutsche Übersetzung von A.M. Ritter [1994], 74: ‚du wirst in Reinheit zum überseienden Strahl des gött­ lichen Dunkels emporgetragen‘). 59. Siehe unten, S. 174. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wären folgende Auflagen der von Spener herausgegebenen Bearbeitung der Werke Taulers zu nennen (welche alle u.a. auch das Buch Von der Nachfolgung des armen Lebens Christi enthalten): Frankfurt a.M., 1681 (bei Johann Haase); Frankfurt a.M., 1692 (bei Philipp Fievert); Frankfurt a.M., Leipzig, 1703 (bei Johann Friedrich Gleditsch) und Frankfurt a.M., Leipzig, 1720 (Verlag: Hallisches Wäysenhaus). Ich zitiere im Folgenden nach der erstgenannten Ausgabe, abgekürzt als ‚Spener 1681‘, in der sowohl Taulers Sermones de tempore als auch dessen Sermones de sanctis als auch das Pseudo-Taulerische Buch von der geistigen Armut eine voneinander gesonderte Paginierung aufweisen.

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Hierzu manet Dionysius seinen iünger Timotheum. Du solt mit vnbegerten sinnen dich erschwingen über dich selber/ vn über alle krefft über red/ vnnd über vernunfft/ über werck/ vnnd über weiß/ vnnd über wesen/ in die verborgen stille finsternuß/ auff das du kommest in ein bekantniß des vnbekante überguten gottes. Es muß ein entziehe sein von alle dingen/ es verschmehet gott zu wirche in bilde.

Hiervon erinnert der H. Dionysius seinen Júnger Timotheum/ und sacht: O mein lieber Timothee/ du solt mit unbegehrten Sinnen dich erschwingen ber dich selbst/ ber alle Krffte und Rede/ ber alle Vernunfft und Wercke/ ber alle Weiß und Wesen/ daß du kommest in die verborgene stille Finsternuß/ und mit dem vereiniget und bekandt werdest/ der da ist ber alles Wesen und Erkanntnuß/ das ist/ GOtt der HErr: Dann es muß ein Entziehen geschehen von allen Dingen/ es verschmhet Gott zu wircken in Bilden.60

Beide Ausgaben vermeiden also den gewagten Ausdruck der unbekante übergotete got, sowohl die Ausgabe Basel 1522 – und dasselbe war schon in der Originalausgabe des Jahres 1521 der Fall –, bei der es heißt: auff das du kommest in ein bekantniß des vnbekante überguten gottes, als auch die Ausgabe Speners, der hier, wie auch sonst, in den ursprünglichen Text deutend eingreift und ihn sich sozusagen ‚zurechtlegt‘: und mit dem vereiniget und bekandt werdest/ der da ist ber alles Wesen und Erkanntnuß/ das ist/ GOtt der HErr. Der ‚übergotete Gott‘ ist bei Spener also zu ‚Gott dem Herren‘ geworden und damit zu einem Gott, der eben nicht ‚übergöttlich‘ ist. 60 2.1.9  (Philosophische) Gleichgültigkeit Der Wille, der nichts will, wird von Schelling zugleich als derjenige beschrieben, ‚dem alle Dinge gleich sind‘.61 Die göttliche Lauterkeit ist, so heißt es an anderer Stelle, die ‚Gleichgültigkeit gegen Seyendes und Seyn (oder, was dasselbe ist, gegen Existenz)‘.62 Dieser Aspekt ist bei 60. Eckhart, Pr. 101, BT 1522, 4va,40-b,2 (linke Spalte); Spener 1681 (De tempore), 81,1-9 (rechte Spalte). 61. Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit. Druck I (1811), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 15,3. 62. Vgl. ibid., Druck II (1813), ed. M. Schröter (1946 [1979]), 132,7-12: ‚Also werden wir nun sagen, das Unbedingte, das Aussprechende alles Wesens, alles Seyenden und alles Seyns, rein in sich

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Schelling – im Übrigen ebenso bei Hegels Verständnis des ontologischen Arguments, ja beim Idealismus als solchem – zentral.63 Auch in der Erlanger Vorlesung äußert er sich in diesem Sinne: Nämlich statt wesentlicher Freiheit können wir auch sagen: 1) es sey das ewige, lautere Können, nicht das Können von etwas (womit schon ein Beschränktes), sondern das Können um des Könnens willen, das absicht- und gegenstandlose Können: dieß ist überall das Höchste, und wo wir es sehen, glauben wir einen Strahl jener ursprünglichen Freiheit zu sehen; 2) es sey Wille – nicht Wille eines von ihm verschiedenen Wesens, sondern es sey nichts als Wille – der lautere Wille selbst, auch nicht der Wille von Etwas (denn damit schon beschränkt), sondern der Wille an sich, nicht der Wille, der wirklich will, doch auch nicht der, der nicht will, nämlich abstößt, sondern der Wille, sofern er weder will noch nicht will, sondern in völliger Gleichgültigkeit ist (einer Gleichgültigkeit, die sich selbst wieder und die Nichtgleichgültigkeit einschließt) – und historisch wenigstens ist ihnen vielleicht bekannt, daß eben diese Gleichgültigkeit – diese Indifferenz als Form des eigentlichen Absoluten angegeben worden.64 Damit ist nicht ‚Gleichgültigkeit‘ in der üblichen – zu Recht negativen – Bedeutung des Wortes gemeint, sondern in einem speziell philosophischen Sinne. Es gibt freilich qualitativ abgestufte Verschiedenheit, aber die verschiedenen Qualitätsstufen sind erst dann so, wie sie an-sich sind, sichtbar, wenn sie im Lichte des Einen – welches als solches sich von Situation zu Situation nicht ändert, sondern eben glîch bleibt – betrachtet oder angeschaut werden: wenn man in welcher Situation auch immer Gott als der glîcheit selbst treu bleibt und man damit selbst glîch – Eines betrachtet sey ein lauterer Wille überhaupt; dasselbe aber nach seiner Gleichgültigkeit gegen Seyendes und Seyn (oder, was dasselbe ist, gegen Existenz), dasselbe also als das Widerspruchlose, welches wir suchten, sey der Wille der nichts will‘. 63. Vgl. A. Quero-Sánchez, ‚Über die Nichtigkeit des Gegebenen‘ (2009-2010-2011), 218-22; id., ‚Libertas enim filiorum non excludit accipere filios et Deum dare: Eine philosophische Darlegung des im Votum Avenionense beanstandeten Freiheitsverständnisses‘, in D. Mieth and B. Müller-­ Schauenburg (eds.), Mystik, Recht und Freiheit: Religiöse Erfahrung und kirchliche Institutionen im Spätmittelalter (Stuttgart, 2012), 135-72, 143-8. 64. Schelling, Erlanger Vorträge: Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft, in Sämmtliche Werke, ed. K.F.A. Schelling, Bd. IX (Stuttgart, Augsburg, 1861), 220,30-221,2. Vgl. die entsprechende Passage in der Enderlein-Nachschrift: Schelling, Initia Philosophiae universae, ed. H. ­Fuhrmans (Bonn, 1969), 23,14-24,13.

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im Einen – ist. Um das Absolute sein zu lassen, muss man nämlich ‚gleichgültig‘ gegenüber dem Hoc als einem solchen sein, in allen Lebenssituationen sozusagen ‚ein gleiches Gemüt haben‘. Es geht dabei nämlich, wie Schelling selbst an der eben zitierten Stelle es ausdrückt, um ‚den lauteren Willen selbst‘, nicht bloß um den ‚Willen von etwas‘. Der Wille will freilich immer etwas, aber dieses gewollte ‚Etwas‘ wird erst im Nichts-wollen sichtbar oder gar hervorgebracht. Dass in diesem Zusammenhang Eckharts Werk als unmittelbare Quelle – ich habe dabei vor allem den Begriff glîcheit (bzw. glîch) im Sinne – heranzuziehen ist, lässt sich, wie mir scheint, nicht von der Hand weisen. Die berühmteste Passage befindet sich in den sogenannten Erfurter Reden (Rede der underscheidunge)65 und somit in einem Werk, das S­ chelling mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gekannt hat. Eckhart verweist an dieser Stelle jedoch (als ich mêr gesprochen hân), wie Freimut Löser gezeigt hat,66 auf den sogenannten Salzburger Armutstext, einen früheren Text Eckharts nämlich, der – im Unterschied zu den Erfurter Reden – sowohl im Basler Tauler-Druck (188va-191rb) als auch in der Ausgabe Speners (De tempore, 643-652) (in beiden als angebliches Werk Taulers) überliefert wird und von Georg Steer als Predigt 114 ediert werden soll. Eckhart selbst wehrt sich dabei gegen ein falsches Verständnis der ‚Gleichgültigkeit‘: Ze dem andern mâle wolt dû dich vlîzen, daz dû glîche stândest in allen dingen. Sô blîbest dû in grôzer ruowe alle zît. Sol ich alliu dinc glîche ahten? Nein. Dâ möhten wir gar sêre ane irren. Wer zwîvelt daz ane, ez sî ein bezzer werk beten

Das ander Stck zu Außreutung der bósen Wurtzeln/ und Reinigung des verderbten Grundes nthig/ ist/ daß der Mensch sich befleissige in allen Dingen gleich und ohne Unterschied zu stehen/ so kan er allezeit grossen Frieden und Ruhe

Z dem andern mal ker dich darz vnnd fleyß dich des/ das du gleich standest in alle dinge/ so bleibstu grßlich zfrid allzyt. Nun merck wie. Sol ich alle ding gleich achten? Neyn liebs kind/ wan also mchtstu vast übel irren. Wan wer

65. Eckhart, RdU 6, DW V 203, 1-12. 66. Vgl. Freimut Löser, ‚Meister Eckhart, die Reden und die Predigt in Erfurt: Neues zum sogenannten Salzburger Armutstext‘, in D. Gottschall and D. Mieth (eds.), Meister Eckharts Erfurter ‚Reden‘ in ihrem Kontext, MEJb 6 (Stuttgart, 2013), 65-96, 83-6.

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und an got gedenken dan kochen oder spinnen? Aber dû solt glîche stân, niht diu dinc, sunder dû solt glîche stân in den dingen.

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haben. Wie ist aber diß zu verstehen? soll dann der Mensch alle Ding gleich achten? Resp. Mit nichten. Dann wer das thte/ der wúrde grblich irren. Dann wer wolte daran zweiffeln/ daß beten nicht ein besser Werck sey/ als kochen oder waschen? daß an Gott gedencken nicht besser sey/ als springen [sic!]? daß in der Kirche seyn/ nicht besser sey als im Wirthaus seyn? Wer diß nicht also hlt/ der ist ein Ketzer. So soll nun der Mensch allezeit gleich seyn gegen ungleiche Wercke und Dinge.

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wlt daran zweyflen/ es sey ein besser werck betten dan kochen? vnd besser sey an got gedencke dan spinnen/ vnd in der kirchen sein/ besser/ dan vff der straß? vnd wer das nit hielt der were ein ketzer. Aber du solt gleych stan/ nit die ding sondern.

(Du sollst dich andererseits darum bemühen, dass du in jeder Lebenssituation gleich bleibst [= dass du gegenüber der Verschiedenheit der Lebenssituationen als einer solchen gleichgültig bist], so wirst du jederzeit ganz zufrieden sein. Merke dir nun, wie du dies erreichen kannst. ‚Sollen mir alle Dinge gleich-gültig [gleichwertig] sein?‘ Nein, mein liebes Kind. Denn damit würdest du dich sehr irren. Denn wer soll daran zweifeln, dass Beten ein besseres Werk ist als Kochen, und dass es besser ist, wenn man Gott im Sinne hat als Spinnen, und in die Kirche zu gehen als auf der Straße zu stehen? Wer diesbezüglich anders dächte, der wäre ein Ketzer – aber du sollst gleich bleiben bei allen Dingen [= du sollst gegenüber der Verschiedenheit der Dinge als einer solchen gleichgültig sein], ohne dass die Dinge selbst gleichgültig [oder gleichwertig] werden).67

67. Meister Eckhart, Pr. 114, ed. G. Steer, DW IV,2 (im Druck) (linke Spalte); Spener 1681, 648,37-649,9 (mittlere Spalte); BT 1522, 190rb,44-va,11 (rechte Spalte, von mir selbst übersetzt).

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2.2  Die Erlanger Vorlesungen (1821) Ich komme jetzt zur Analyse der zweiten der oben angekündigten Passagen im Werk Schellings, nämlich der aus seiner Erlanger Vorlesung aus dem Jahre 1821 (Initia philosophiae universae): Allein mit dem Subjekt der Philosophie ist es etwas ganz anderes. Dieses ist schlechthin indefinibel. Denn … es ist nichts – nicht etwas, und selbst dieß wäre wenigstens eine negative Definition; allein es ist auch nichts nicht, d.h. es ist alles. Es ist nur nichts einzeln, stillstehend, insbesondere; … Es ist nichts, das es wäre, und es ist nichts, das es nicht wäre. Es ist in einer unaufhaltsamen Bewegung, in keine Gestalt einzuschließen, das Incoercible, das Unfaßliche, das wahrhaft Unendliche. Zu diesem muß sich erheben, wer der vollkommen freien, sich selbst erzeugenden Wissenschaft mächtig werden will. Hier muß alles Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden, die letzte Anhänglichkeit schwinden; hier gilt es alles zu lassen – nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes. … Es [sc. das absolute Subjekt] ist also insofern über Gott, und wenn selbst einer der vorzüglichsten Mystiker früherer Zeit gewagt hat von einer Uebergottheit zu reden, so wird dieß auch verstattet seyn, und es wird ausdrücklich hier bemerkt, damit nicht etwa das Absolute – jenes absolute Subjekt – geradezu mit Gott verwechselt werde. Denn dieser Unterschied ist sehr wichtig. Also selbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will. Hier heißt es: Wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden. Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglichen. Was Dante an der Pforte des Infernum geschrieben seyn läßt, dieß ist in einem andern Sinn auch vor dem Eingang zur Philosophie zu schreiben: ‚Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr eingeht‘. Wer wahrhaft philosophiren will, muß aller Hoffnung, alles Verlangens, alle Sehnsucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen. … Aber nicht bloß die Objekte, auch

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sich selbst muß der lassen, der sich in jenen freien Aether erschwingen will.68 Auch in diesem Fall schauen wir uns die auf den Einfluss der ‚Mystik‘ Meister Eckharts hinweisenden Momente einzeln an. 2.2.1  Gott ist zugleich ‚Nichts‘ und ‚Etwas‘ Schon der Beginn der Passage hört sich ‚eckhartisch‘ an, wenn Schelling nämlich schreibt: Gott oder das Absolute als das Subjekt der Philosophie ‚ist nichts – nicht etwas …; allein es ist auch nichts nicht, d.h. es ist alles. … Es ist nichts, das es wäre, und es ist nichts, das es nicht wäre‘. Diese Sätze lassen sich jedenfalls sehr gut im Sinne der für Schelling charakteristischen ‚aktiven Rezeption‘ deuten, und zwar als Erläuterung folgender berühmter Passage in der Predigt 71 Eckharts: Got ist ein niht, und got ist ein iht. Swaz iht ist, daz ist ouch niht. Swaz got ist, daz ist er alzemâle.

Gott ist ein nicht/ vnd got ist ein icht. Was icht ist/ dz ist auch nicht/ Was gott ist/ das ist er allzumal.

(Gott ist ein Nichts, und Gott ist ein Etwas. Was etwas ist, das ist auch nichts. Was Gott ist, das ist er ganz).69 Freilich gibt es auch im Werk von Dionysius (Pseudo-)Areopagita ähnliche Stellen,70 aber der Satz leitet immerhin eine Passage ein, in der die 68. Schelling, Erlanger Vorträge: Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft, ed. K.F.A. Schelling (1861), 217,3-218,7 und 218,23-4. Siehe noch die entsprechende Passage in der Enderlein-Nachschrift: Schelling, Initia Philosophiae universae, ed. H. Fuhrmans (1969), 16,10-19,11. Die historisch-kritische Edition des originalen Vorlesungsmanuskripts Schellings, das im Berliner Nachlass (NL 103) enthalten ist (vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, ‚Schellings Weltalter in der Tradition abendländischer Spiritualität. Einleitung zur Edition der Weltalter-Fragmente‘, in ­Schelling, Weltalter-Fragmente, ed. K. Grotsch [2002], Bd. I, 1-106, 104), wird zurzeit vorbereitet (unter der Leitung von Lore Hühn). 69. Eckhart, Pr. 71, DW III 223, 1-2 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 545); BT 1522, 243va,43-5 (rechte Spalte). 70. Vgl. Dionysius (Pseudo-)Areopagita, De mystica theologia, ed. G. Heil and A.M. Ritter (1991), 150,2: οὐδέ τι τῶν οὐκ ὄντων, οὐδέ τι τῶν ὄντων ἐστίν (vgl. die deutsche Übersetzung von A.M. Ritter [1994], 80: ‚Sie gehört weder dem Bereich des Nichtseienden noch dem des Seienden an‘). Siehe auch Jakob Böhme, Von der Gnaden wahl, ed. W. Buddecke, in Die Urschriften, vol. 2 (Stuttgart, Bad Cannstatt, 1966), 13 (Kapitel I, n. 4): ‚Der selbe vngrntliche vnfasliche/ vn naturliche vnd vn Creaturliche wille/ welcher nur Einer ist/ vnd nichts für ihme/ noch hintter ihme hat/ welcher in sich selber nur Eines ist/ welcher als ein Nichtes/ vnd doch alles ist/ der heisset/ vnd ist der einige Gott/ welcher sich in sich selber fasset vnd findet/ vnd Gott aus Gott gebühret‘.

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Präsenz der Rede von der armuot Eckharts, wie gleich zu zeigen sein wird, eindeutig nachweisbar ist. 2.2.2  Alles, was ist – sogar Gott selbst –, soll verlassen werden Verlassen soll man, wie Schelling eigens bemerkt, ‚alles Endliche, alles was noch ein Seyendes ist‘, und zwar darum, dass man ‚sich allein mit dem Unendlichen‘ – welches in diesem Sinne also kein (bloß) Seiendes, sondern ein ‚Überseiendes‘ ist – ‚sieht‘. Schellings radikale Bestimmung der Philosophie ist hier von Eckharts Armutspredigt (Predigt 52) geprägt. Das gilt vor allem für die These, nach der der arme Mensch nicht nur die ganze Welt, sondern sogar – ja, insbesondere – Gott selbst ‚lassen‘ soll, um für die Wahrheit Platz zu gewinnen. Es lassen sich in diesem Zusammenhang zwei entscheidende Passagen aus der genannten Predigt anführen. Bei der ersten heißt es: Dô ich stuont in mîner êrsten sache, dô enhâte ich keinen got, und dô was ich sache mîn selbes; do enwolte ich niht, noch enbegerte ich niht, wan ich was ein ledic sîn und ein bekenner mîn selbes nâch gebrûchlîcher wârheit. Dô wolte ich mich selben und enwolte kein ander dinc; daz ich wolte, daz was ich, und daz ich was, daz wolte ich, und hie stuont ich ledic gotes und aller dinge. Mêr: dô ich ûzgienc von mînem vrîen willen und ich enpfienc mîn geschaffen wesen, dô hâte ich einen got; wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was. Dô die crêatûren gewurden und sie enpfiengen ir geschaffen wesen, dô enwas got niht got in im selben, mêr: er was got in den crêatûren.

Do ich stund in meiner erste vrsach/ do hat ich keine got/ vnnd was ich mein selbs/ ich wolt nicht/ ich begeret nicht/ wann ich was ein ledig sein/ vnnd ein bekenner meyn selbs nach gtlicher warheit/ do wolt ich mich selber/ vnnd wolt keyn ander ding/ das ich wolt/ das was ich/ vn dz ich was/ das wolt ich/ vnd hie stund ich ledig gottes/ vnd aller dinge. Aber do ich entgieng meyne fryen willen/ vnnd empfieng meyn geschaffen wesen/ do hat ich einen gott. Wan ee die creature warent/ do was gott nitt gott/ er was das er was/ Do die creature wurden/ vnnd sy anfienen ir geschaffen wesen/ do was gott nit in im selber got/ sunder in den creaturen was er got.

(Als ich in meinem ersten Grund stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Grund meiner selbst. Da wollte ich nichts. Dort verlangte ich nach nichts, denn ich war ein absolutes Sein

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und ein Erkennender meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und sonst kein Ding. Was ich wollte, das war ich. Was ich war, das wollte ich. Und hier stand ich, absolut von Gott und allen Dingen. Aber als ich dann aus meinem freien Willen heraustrat und mein [bloß] geschaffenes Sein annahm, da bekam ich einen Gott. Denn bevor die Geschöpfe waren, da war Gott nicht Gott, sondern er war das, was er war. Aber als die Geschöpfe entstanden und ihr [bloß] geschaffenes Sein empfingen, da war Gott nicht mehr Gott in sich selbst, sondern er war Gott in den Geschöpfen).71 Die zweite relevante Passage, die Friedrich Nietzsche im Übrigen kennt (allerdings wohl durch seine Lektüre Schopenhauers vermittelt) und gelegentlich sogar erwähnt, lautet nun: Alsô sprechen wir, daz der mensche alsô arm sül stân, daz er niht ensî noch enhabe deheine stat, dar got inne müge würken. Dâ der mensche stat beheltet, dâ beheltet er underscheit. Her umbe sô bite ich got, daz er mich quît mache gotes, wan mîn wesenlich wesen ist obe gote, alsô als wir got nemen begin der crêatûren; wan in dem wesene gotes, dâ got ist obe wesene und ob underscheide, dâ was ich selbe, und dâ wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen. Her umbe sô bin ich mîn selbes sache nâch mînem wesene, daz êwic ist, und niht nâch mînem gewerdenne, daz zîtlich ist. Her umbe sô bin ich geborn, und nâch mîner gebornen wîse sô bin ich sterblich. Nâch mîner ungebornen wîse sô bin ich êwiclîche gewesen und bin nû und sol êwiclîche blîben. Daz ich bin nâch geborn-

Also sagen wir/ das der mensch arm sll steen/ das er nicht sey/ noch habe kein stat darin gott müg würckenn. Do der mensch stat behaltet/ da behaltet er vnderscheyd. Hierumb so bitt ich gott/ das er mich quit mache gots/ wan vnweselich wesen ist ober gott vn ober vnderscheyd/ da wz ich selber/ da wolt ich mich selber vnd bekante mich selber zu machende disen menschen/ vn hierub so bin ich mein selbs sache/ nach meyne wesen das ewig ist/ vnd meinem wesenn das zeytlich ist. Vnd hierumb so bin ich geboren/ vnd nach meiner geburt weise (die ewig ist) so mag ich nimmer ersterben. Nach meiner ewigen geburt weyse so bin ich ewigklich gewesen/ vnnd bin nun/ vnd sol ewigklich bleiben. Das ich bin nach der zeyt das sol sterben/ vnnd sol zu nicht werdenn wan es ist teglich/ hierumb so muß es mit der zeyt ver-

71. Eckhart, Pr. 52, ed. G. Steer (1998), 172,1-9 (vgl. DW II 492, 3-493, 2) (linke Spalte); BT 1522, 307ra,38-b,7 (rechte Spalte).

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heit, daz sol sterben und ze nihte werden, wan ez ist zîtlich; her umbe sô muoz ez mit der zît verderben. In mîner geburt dâ wurden alliu dinc geborn, und ich was sache mîn selbes und aller dinge; und hæte ich gewolt, ich enwære niht, noch alliu dinc enwæren niht; und enwære ich niht, sô enwære ouch got niht. Daz got got ist, des bin ich ein sache; enwære ich niht, sô enwære got niht got.

derben. In meiner geburt wurdent alle ding geboren/ vnd ich was sach mein selbs vnd aller dingen/ vnd wlte ich/ ich were noch nitt alle ding/ were ich nit/ so were nit got.

(Also sagen wir, der Mensch solle so arm dastehen, dass er keine Stätte sei und keine Stätte habe, in der Gott wirken könnte. Wo der Mensch noch eine solche Stätte behält, dort weist er Verschiedenheit auf. Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott, denn mein wesentliches Sein ist oberhalb Gottes als des Schöpfers der Geschöpfe. Denn in demselben Wesen Gottes, in dem Gott jenseits von Sein und Verschiedenheit ist, da war ich selbst. Und dort wollte ich mich selbst, und dort erkannte ich mich selbst als den, der diesen Menschen schuf. Darum bin ich Grund meiner selbst, nach meinem Wesen, das ewig ist, nicht nach meinem [bloß] gewordenen Sein, das zeitlich ist. Als Gewordenes bin ich geboren und als solches bin ich sterblich. Als Ungeborenes bin ich [doch] ewig gewesen, bin ich noch jetzt ewig und werde ewig bleiben. Als Geborenes werde ich sterben und zunichte werden, denn das ist [bloß] zeitlich, darum muss es in der Zeit zugrunde gehen. Bei meiner Geburt, da wurden alle Dinge geboren, und ich war Grund meiner selbst und aller Dinge, und hätte ich gewollt, so wäre ich nicht, und alle Dinge wären nicht. Und wäre ich nicht, dann wäre auch Gott nicht. Dass Gott Gott ist, dafür bin ich der Grund. Und wäre ich nicht, dann wäre Gott nicht Gott).72 Der Philosoph soll nach Schelling also – ebenso wie der arme mensche nach Eckhart – ‚alles Endliche verlassen‘, ‚alles, was nur Ist, selbst Gott, lassen‘; gemeint ist freilich nur (!) Gott insofern, als man ihn als ein bloß 72. Ibid., 176,27-178,15 (vgl. DW II 502, 4-504, 3) (linke Spalte); BT 1522, 308ra,5-29 (rechte Spalte). Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, IV, Nr. 292, in Werke: Kritische Gesamtausgabe, ed. G. Colli and M. Montinari, Bd. V,2 (Berlin, New York, 1973), 213,17-9.

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endliches ‚Ding‘ auffasst. Denn es gibt Menschen, die, wie Eckhart in der auch im Basler Tauler-Druck überlieferten deutschen Predigt 16b (299ra-300rb) feststellt, wellent got mit den ougen anesehen, als sie eine kuo anesehent, und wellent got alsô minnen, als sie eine kuo minnent. Die minnest dû umbe die milch und umbe die kæse und umbe dînen eigenen nutz.

wllet got mit den ougen ansehen/ als sy ein ku ansent/ vnnd wllen gott lieb han/ als sy ein ku lieb haben (die hastu lieb vmb die milch/ vn vmb den kß/ vn vmb dein eignen nutz.

([aber manche Leute] wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens).73 2.2.3  Die Unterscheidung zwischen ‚Gott‘ und ‚dem, was Gott ist‘ Gott als Endliches – als ein bestimmtes ‚Ding‘ nämlich, von dem man ‚unter Umständen‘ oder ‚bedingterweise‘ profitieren könnte – soll also beiseite geschoben werden, damit Gott als unendliches Wesen – als das Unbedingte – freigelegt wird. Zieht man nun die entsprechende Passage in der erhalten gebliebenen Enderlein-Nachschrift der zitierten Vorlesung Schellings in Betracht, so begegnet uns noch eine für die Rede von der armuot charakteristische Wendung: Die Unterscheidung nämlich zwischen ‚Gott‘ und ‚dem, was Gott ist‘. Denn, so heißt es: ‚Das absolute Subjekt ist [gewiß] auch Gott zu nennen. Es ist wohl das, was Gott ist, aber nicht Gott‘.74 Bei Eckhart heißt dies nun: wan ê die crêatûren wâren, dô enwas got niht got, mêr: er was, daz er was.

Wan ee die creaturē warent / do was gott nitt gott / er was das er was.

(Denn bevor die Geschöpfe waren, da war Gott nicht Gott, sondern er war das, was er war).75

73. Eckhart, Pr. 16b, DW I 274, 1-3 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 494); BT 1522, 300ra,42-6 (rechte Spalte). 74. Schelling, Initia Philosophiae universae, ed. H. Fuhrmans (1969), 18,9-11. 75. Eckhart, Pr. 52, ed. G. Steer (1998), 172,7 (vgl. DW II 492, 8-9) (linke Spalte); BT 1522, 307rb,2-4 (rechte Spalte).

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Auffällig ist hier allerdings, dass der ursprüngliche Basler Druck aus dem Jahre 1521 die Stelle in zum Teil veränderter Form überliefert (do was gott mit [sic!] got [1521] statt do enwas gott nitt gott [1522]). Und dasselbe gilt für den Nachdruck aus dem Jahre 1621 (Hamburg, im Meißener Dialekt).76 Dies scheint dafür zu sprechen, dass Schelling die Predigt in dem 1522 nachgedruckten Text kannte. 2.2.4 Ueber-Gottheit Dass man nun, wenn Schelling an der uns beschäftigenden Stelle der Erlanger Vorlesung von einem ‚der vorzüglichsten Mystiker früherer Zeit‘ spricht, der ‚gewagt hat von einer Uebergottheit zu reden‘, Dionysius (Pseudo-)Areopagita und nicht Angelus Silesius oder gar Meister Eckhart als direkte Quelle zu betrachten hat, wurde bereits oben anhand der Diskussion einer Parallelstelle in den Weltaltern gezeigt.77 2.2.5  Lauterkeit und Gelassenheit Ebenso wurden die Begriffe ‚Lauterkeit‘ und ‚Gelassenheit‘ im Laufe der die Weltalter betreffenden Diskussion oben erläutert. Beide sind nun auch in der Erlanger Vorlesung präsent, etwa an folgender Stelle der Enderlein-Nachschrift: Es ist das älteste Gefühl der Menschheit ein Gefühl von der Unlauterkeit alles Seins. Worauf gründet sich dieses allgemeine Gefühl? Nur das Sein erscheint uns als unlauter, in das der Wille sich mischt und es anzieht. Das lauterste Sein glauben wir daher in der gelassenen, seiner selbst erfüllten Wonne zu sehen, worin sich kein Wissen und kein Wollen mischt. (So wird auch der Wille dadurch aus seiner Freiheit gesetzt, indem ihn das Sein anzieht; und indem er das Sein nicht lassen will und kann, so läßt auch das Sein, wenn es durch den Willen aus seiner 76. Postilla Johannis Tauleri … Gedruckt zu Hamburg/ durch Hans Mosen. In Verlegung Michael Herings. Anno M, DC, XXI, Anhang (mit gesonderter Paginierung): Folgen etliche Predigten/ so ber besondere Sonntags vnd Fest Evangelien oder Episteln/ Welche von vornehmen gelehrten Leuten/ so vor vnd zu D. Tauleri zeiten gelebt haben/ zumal Meister Eckarten/ dessen Taulerus in seinen Schrifften offte gedencket/ gehalten/ vnd dem Exemplar der Predigten Tauleri Anno 1521. zu Basel gedruckt beygefgt sein, hier 104,29: Dann ehe die Creaturen waren/ da war Gott mit Gott/ er war das er war. 77. Siehe oben, S. 147-50.

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Lauterkeit gesetzt wird, auch den Willen nicht los). Alles dieses zeigt, daß Wille und Sein ursprünglich einerlei sind, und daß sie in die Zweiheit nur dadurch treten, daß der Wille das Sein, das er selbst ist, sich zum Gegenstand und dadurch zum Gegensatz macht. Die [ursprüngliche] Einheit besteht in der Gelassenheit [des] Willens und des Seins, d.i. wo der Wille das Sein läßt und das Sein vom Willen gelassen wird.78 2.3 Fazit Wir können – wie ich meine, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – folgende These aufstellen: Um 1810/1811, in der Zeit also, als die ersten Fassungen der Weltalter – und mit diesen zusammen sicherlich auch die der im WS (vom 4. Januar bis 31. März) 1821 gehaltenen Erlanger Vorlesung Initia philosophiae universae79 – entstanden sind, kennt Schelling Eckharts deutsche Predigten – was insbesondere für die Predigten 2, 3, 52, 69, 71 und 114 gilt – durch unmittelbare Lektüre. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist insbesondere Schellings Gebrauch der eckhartschen Unterscheidung zwischen ‚Gott‘ und ‚dem, was Gott ist‘.80 Schelling kennt Eckharts Predigten höchstwahrscheinlich – zumindest ‚auch‘ oder gar ‚insbesondere‘ – über den Basler Tauler-Druck, und zwar – zumindest ‚auch‘, wobei dies eher als ‚begründete Hypothese‘ zu betrachten ist81 – über den Nachdruck aus dem Jahre 1522. 78. Schelling, Initia Philosophiae universae, ed. H. Fuhrmans (1969), 70,35-71,7. 79. Vgl. Schelling, Initia Philosophiae universae, ed. H. Fuhrmans (1969), Einleitung, XIV: ‚Er begann seine erste Vorlesungstätigkeit im W.S. 1820/21 vielmehr erst am 4. Januar 1821 und schloß sie am 31. März … Dabei las er nicht, wie K. Fischer sagt, „Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft“ (das war vielmehr nur der 1. Teil der Vorlesung), sondern „Initia universae philosophiae“ bzw. „Grundzüge der gesamten Philosophie“. Diese Vorlesung … brachte von Schelling her nichts eigentlich Neues. Sie nahm vielmehr nur in leise geänderter Form das auf, was Schelling seit 1810 beschäftigte. Hatte er seitdem immer wieder über seinem großen Werk die Weltalter gegrübelt, ohne je wirklich über den ersten Teil, über die Erörterungen über das göttliche Sein und die Mächte in ihm hinauszukommen, so trug er solches nun vor. Das Vorgetragene ist also ein Stück Weltalter-Entwurf‘. Vgl. ibid., XV: ‚Das erste Semester [scil. WS 1820/21] brachte … nichts eigentlich Neues‘. Vgl. ähnlich W. Schmidt-Biggemann, ‚Schellings Weltalter‘ (2002), 84: ‚Aus dem Kontext [scil. der Entstehungsgeschichte der Weltalter] und mit dem Texten der Weltalter formuliert Schelling 1820/21 die Erlanger Vorlesung, und bis in diese Zeit läßt sich seine Beschäftigung an und mit den Weltaltermanuskripten aus den Manuskripten selbst nachweisen‘; vgl. ibid., 3. 80. Siehe oben, S. 159-60. 81. Siehe oben, S. 160.

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Solche eindeutigen Stellen wie die gerade – aus den Weltaltern bzw. der Erlanger Vorlesung – analysierten, finden wir keineswegs in den früheren Schriften Schellings. Bedeutet dies, dass Schellings Philosophie vor 1809/1811, insbesondere seine Transzendental- und Identitätsphilosophie, nichts mit der ‚Mystik‘ Eckharts zu tun hätte? Nein, das ist sicherlich nicht der Fall. Man kann nämlich zeigen, dass das Grundanliegen der Identitätsphilosophie Schellings, ja sogar das seiner früheren Transzendentalphilosophie, sehr genau dem der ‚Mystik‘ Eckharts entspricht. Das werde ich im nächsten Kapitel (3: ‚Schellings Identitätsphilosophie als „mystisches“ Projekt‘) durch die Analyse einer zentralen Passage in Schellings Würzburger System aus dem Jahre 1804 zeigen. Dabei wird zugleich deutlich werden, inwieweit Schelling bestimmte für die Transzendental- und Identitätsphilosophie zentrale Begriffe – insbesondere die Begriffe ‚unmittelbar‘ und ‚grundlos‘– eben in der Bedeutung gebraucht, die für die ‚Mystik‘ Eckharts charakteristisch ist. Im letzten Kapitel (4: ‚Begründete Hypothesen zur Chronologie‘) wird anschließend die Frage erörtert, ob Schelling Eckharts Schriften – insbesondere den Basler Tauler-Druck – vor 1810/1811 oder gar vor 1806, also bevor er nach München ging, gekannt hat oder ob die für Transzendental- und Identitätsphilosophie kennzeichnenden ‚mystischen‘ Momente bloß durch die Vermittlung anderer Autoren in sein Werk Eingang gefunden haben, insbesondere durch die Vermittlung des Predigtwerks Taulers und des Pseudo-Taulerischen Buchs von der geistigen Armut.82 3.  Schellings Identitätsphilosophie als ‚mystisches‘ Projekt Schenkt man den innerhalb der Forschung herrschenden Deutungen Glauben, so hätte das Denken Schellings sowohl einen – mit Ausnahme der Elegie bei Hahn’s Grabe gesungen – rein philosophischen Anfang sowie eine – abgesehen von einzelnen ‚mystischen‘ Motiven in der Naturphilosophie, im Dialog Bruno und in der Abhandlung Philosophie und Religion – rein philosophische Entwicklung gehabt, und zwar bis 1806/1809, als das ‚Mystische‘ nämlich richtigen Einfluss auf sein Werk

82. Vgl. A. Quero-Sánchez, ‚Schellings philosophische Lektüre des Buchs von der geistigen Armut‘ (2015). Siehe auch unten, S. 175-7.

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gewonnen habe.83 Eine bescheidene Ausnahme kann allerdings genannt werden. In einem in Erfurt im Jahre 1927 publizierten Buch – es handelt sich dabei um eine unter Ernst Cassirer in Hamburg verfasste Dissertation – stellt Kurt Leese nämlich lapidar fest: ‚Das Prinzip der Identitätsphilosophie ist aus dem Geist der Mystik geboren‘.84 Er bringt zwar jeweils eine Stelle von Schelling und von Meister Eckhart als Unterstützung für diese seine Aussage,85 führt den Gedanken jedoch nicht weiter aus, da er sich sonst, wie ja in der Forschung schon damals und bis heute Usus ist, ausschließlich dem Nachweis des Einflusses der Werke Böhmes bzw. Oetingers auf die Schriften Schellings nach dem (angeblichen) ‚mystischen Bruch‘ von 1806/1809 zuwendet.86 Aber Leese hat mit seiner Aussage zweifelsohne Recht, wie man mittels der Analyse einer zentralen Passage in Schellings Würzburger System aus dem Jahre 1804 gut zeigen kann. Es handelt sich dabei um § 7.87 Schelling definiert dabei ‚das Absolute oder Gott‘88 durch die ‚unmittelbare‘ Relation von Idealität und Realität: ‚Das Absolute ist dasjenige, welches unmittelbar durch seine Idee auch ist, oder es ist dasjenige, zu dessen Idee es gehört zu seyn, dessen Idee also die unmittelbare Affirmation von Seyn ist. … Dasselbe ist auch so ausgedrückt worden: In Ansehung des Absoluten ist das Ideale unmittelbar auch das Reale‘.89 Dies ist der Grundgedanke der Identitätsphilosophie Schellings, der sich vielleicht kompliziert anhört, es jedoch nicht ist, und den man mit Hilfe eines einfachen Beispiels – welches freilich nirgendwo bei Schelling zu finden ist – gut erläutern kann. Angenommen, eine 83. Siehe die Kritik an einer solchen ‚klassischen‘ Deutung in A. Quero-Sánchez, ‚Die „mystische“ Voraussetzung‘ (2018), Abschnitt 1.2: Hat es bei Schelling eine ‚mystische Wende‘ um 1806/1809 gegeben? 84. Kurt Leese, Von Jakob Böhme zu Schelling: Zur Metaphysik des Gottesproblems (Erfurt, 1927), 10. 85. Vgl. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, ed. H. Buchner, W.G. Jacobs and A. Pieper, in Historisch-kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I,3 (Stuttgart, 1982), 87,1-8 und 88,6-10; Eckhart, Pr. 76, DW III 316, 5-317, 2. Vgl. K. Leese, Von Jakob Böhme zu Schelling (1927), 10 und 11, Anm. 2. Auch Eckharts Predigt 76 ist im BT überliefert (314ra-315vb; vgl. hier 314va,45-b,9). 86. Vgl. K. Leese, Von Jakob Böhme zu Schelling (1927), 65: ‚Die vorstehende Abhandlung beschränkt sich streng auf die zwischen Boehme, Oetinger und dem späteren Schelling obwaltenden Beziehungen. Im Mittelpunkt derselben steht der merkwürdige Begriff der „Natur in Gott“‘. 87. Schelling, System der gesamten Philosophie, ed. K.F.A. Schelling (1860), 148,18-150,31. 88. Ibid., 148,19-20. 89. Ibid., 149,4-9.

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Regierungskommission hat die Entscheidung darüber zu treffen, welche Baufirma man mit dem Bau eines mit öffentlichen Geldern zu finanzierenden Opernhauses beauftragt. Es gibt dafür eine öffentliche Ausschreibung, und verschiedene, konkurrierende Projekte werden eingereicht, welche die Kommission dann zu prüfen hat, bevor sie ihre Entscheidung trifft. Angenommen, es gibt in einem solchen Fall objektive Kriterien, die eines der Projekte – wir nennen es A1 – eindeutig als das beste – und zwar nicht an sich, sondern unter den gegebenen Umständen – erkennen lassen. Es gibt dann prinzipiell zwei mögliche Reaktionsweisen der Kommission auf diesen Tatbestand. Entweder entscheidet sie sich für A1 als für das beste Projekt unter den gegebenen Umständen. In diesem Fall trifft die Kommission eine absolute Entscheidung. Es gilt dann: Die Idee – in diesem Fall das Projekt A1 – ist der alleinige Grund für die Entscheidung der Kommission, so dass aus der Idee das Reale – sprich: die konkrete Entscheidung der Kommission für A1 bzw. dessen konkrete Verwirklichung oder reale Durchführung – ‚unmittelbar‘ folgt. Oder – worin eine nichtabsolute Entscheidung bestünde: die Kommission – sich dem von außen, durch reine Machtverhältnisse ausgeübten Druck beugend, eine eventuelle zukünftige Strafe fürchtend oder Bestechungsgelder annehmend (wir nennen alle solchen der Sache selbst äußerlichen Faktoren oder Kräfte hier ‚B‘) – entscheidet sich für das Projekt A2, obwohl es, objektiv betrachtet, nicht das beste unter den gegebenen Umständen ist. In diesem zweiten Fall folgt die Realität – die konkrete Entscheidung bzw. die konkrete Verwirklichung des Projektes – nicht aus der Idee allein (A) ‚unmittelbar‘, sondern bloß dank der ‚Vermittlung‘ durch Anderes (dank der ‚Vermittlung‘ durch B, etwa dank der geflossenen Bestechungsgelder); oder, wie Schelling schreibt: ‚ich muß also auf etwas von meinem Denken, welches ein bloßes Denken von A ist, Unabhängiges, auf ein anderes als A, auf B hinausgehen, um A als reell zu setzen, von B wieder auf C u.s.f.‘.90 Das Absolute als der Grundbegriff der Identitätsphilosophie Schellings besteht gerade in dem ‚Aufgehobensein‘ einer solchen ‚Bestechlichkeit‘ oder ‚Käuflichkeit‘, d.h. in dem Geltenlassen des ‚Integren‘: ‚Bei dem Absoluten dagegen gehe ich nicht über die Identität des Begriffes hinaus auf ein anderes, sondern indem ich A als Begriff denke, setze ich unmittelbar und nothwendig dasselbe A auch 90. Ibid., 149,17-20.

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als Seyn – und hier wird uns dann erst die volle reelle Bedeutung des Vernunftgesetzes A = A deutlich‘.91 All dies erinnert sehr an Eckharts Predigt 1, die Schelling sicherlich kennt,92 natürlich nur für denjenigen, der diese Stelle von innen heraus, rein philosophisch oder ‚in-wendig‘ versteht. Wer bloß rein historisch-philologisch oder gar ‚aus-wendig‘ denkt, will in einer solchen Passage nichts sehen, was überhaupt mit ‚Mystik‘ zu tun hätte.93 Wir schauen uns die, wie ich meine, zentrale These in Eckharts Predigt 1 an: Wir lesen in dem heiligen êwangeliô, daz unser herre gienc in den tempel und was ûzwerfende, die da kouften und verkouften, und sprach ze den andern, die dâ hâten tûben und sôgetâniu dinc veile: ‚tuot diz hin, tuot diz enwec!‘. …. Ez enmac niht bî einander gestân daz lieht und diu vinsternisse. Got der ist diu wârheit und ein lieht in im selber. Swenne denne got kumet in disen tempel, sô vertrîbet er ûz unbekantnisse, daz ist vinsternisse, und offenbâret sich selber mit liehte und mit warheit. Denne sint die koufliute enwec, als diu wârheit wirt bekant, und diu wârheit begert dekeiner koufmanschaft. Got ensuochet des sînen niht; in allen sînen

In diesem Text hóren wir unter andern vom HErrn JEsu/ daß er ist in den Tempel GOttes gangen/ und hat die Káuffer und Verkáuffer hinauß getrieben: Auch den Taubenkrámern und Wechslern ihre Tische umbgestossen/ und gesagt: ‚Traget das von dannen: und machet meines Vatters Haus nicht zum Kauffhause‘. … Es kan das Licht und Finsternúß nicht bey einanderstehen. Nun ist GOtt das Licht und die Warheit in ihm selbst: wann er dann komt zu diesem Tempel/ das ist zu unser Seele/ so treibt er aus alle Finsternúß und Unwissenheit/ und offenbaret sich selbst mit seinem Licht und Warheit. Alsdann aber sind alle Kauff-

Wir lesen  dem heilige ewangelio/ Das vnser herre gieng in den Tempel/ vnd was vßwerffen die/ die da kaufften vn verkauffte. Vnd sprach zu den die do taube veil hatten/ thund diß hynweg. … Es mag nit beieinander stan das lieht vnd die finsternuß. Gott ist die warheit vn das lieht in im selber/ wen got den kompt in disen tepel/ so treibt er auß vnbekatnuß vnd finsternuß/ vnd offenbart sich selber mit lieht vnd mit warheit. Den seind die kauffleüt hinweg/ so die warheit wirt bekant/ vnnd die warheit begert kein kauffmanschafft/ gott sucht des seinen nichts/ in allen seyne wercke ist er ledig vnd frey/ vnd würckt sy von rechter lieb. Also thut auch

91. Ibid., 149,20-4. 92. Eckharts Predigt 1 ist nämlich sowohl im BT (186rb,2-187vb,24) als auch in Spener 1681 (De tempore, 268,21-274,19) – in beiden als angebliches Werk Taulers – überliefert. 93. Zur Unterscheidung zwischen ‚in-wendig‘ und ‚aus-wendig‘ siehe A. Quero-Sánchez, Über das Dasein (2013), 36-9.

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werken ist er ledic und vrî und würket sie ûz rehter minne. Alsô tuot ouch dirre mensche, der mit gote vereinet ist; der stât ouch ledig und vrî in allen sînen werken und würket sie aleine gote ze êren und ensuochet des sînen niht, und got der würket ez in im.

leute aus unser Seele vertrieben/ wann die Warheit darinnen erkant und angenommen ist: Und diese Warheit weiß von keiner Krmerey mit GOtt. Dann gleichwie GOtt in allen seinen Wercken nicht das Seine suchet/ sondern alles thut und wircket aus freyer und reiner Liebe: Also thut ein solcher Mensch auch/ in dessen Seel oder Tempel GOtt recht eingegangen ist/ und dieselbe mit ihm vereiniget hat: In allen seinen Wercken stehet er gantz frey und ledig/ thut sie ohne einige Betrachtung seines eigenen Nutzens/ sondern nur aus bloßer Liebe GOtt zu Ehren: Und ein solches wircket GOtt selbst in ihm.

diser mesch der mit got vereinet ist/ der stat auch ledig vnd frey in allen seynen wercke vn würckt sy von liebe on warub/ das ist on eigen ansehe/ allein gott zu eren/ vn sucht des seinen nicht darinn/ vnd gott der würckt es in im.

(Wir lesen im heiligen Evangelium, dass unser Herr in den Tempel ging und hinauswarf, die da kauften und verkauften, und zu den anderen, die da Tauben und dergleichen Dinge feilhielten, sprach: ‚Tut dies fort, schafft dies hinweg!‘ … Es kann nicht miteinander bestehen das Licht und die Finsternis. Gott ist die Wahrheit und ein Licht in sich selbst. Wenn denn Gott in diesen Tempel kommt, so vertreibt er daraus die Unwissenheit, das ist die Finsternis, und offenbart sich selbst mit Licht und mit Wahrheit. Dann sind die Kaufleute fort, wenn die Wahrheit erkannt wird, und die Wahrheit begehrt nicht nach irgendwelchem Kaufhandel. Gott sucht das Seine nicht; in allen seinen Werken ist er ledig und frei und wirkt sie aus echter Liebe. Ganz ebenso tut auch der Mensch, der mit Gott vereint ist; der steht auch ledig und frei in allen seinen Werken und wirkt sie allein Gott zu Ehren und sucht das Seine nicht, und Gott wirkt es in ihm).94 94. Eckhart, Pr. 1, DW I 4, 3-5, 1 und 8, 8-9, 6 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 429 und 430); Spener 1681 (De tempore, 268,22-7 und 270,1-13) (mittlere Spalte); BT 1522, 186rb,2-10 und 186va,28-46 (rechte Spalte).

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Die Entscheidung der Kommission für A1 sowie die konkrete Verwirklichung von A1 bzw. A1 selbst als verwirklichte konkrete Realität erfolgt nicht dank der Kraft, Macht oder überhaupt Vermittlung eines Anderen (B), sondern allein durch die Kraft oder (angeblich machtlose) Macht des Denkens selbst. Oder, wie Eckhart es ausdrückt: Denne sint die koufliute enwec, als diu wârheit wirt bekant, und diu wârheit begert dekeiner koufmanschaft. Es gilt somit: das Reale (die verwirklichte konkrete Realität) ist zugleich das Ideale (die zuvor ‚begriffene‘ oder ‚gedachte‘ Realität als die ‚Idee‘). Dies ist die Grundlage, von der aus man die schellingsche – im Übrigen auch die hegelsche – Verteidigung des sogenannten ‚ontologischen Arguments‘ zu verstehen hat.95 Die angeführten Texte Schellings lassen sich nun keineswegs als Eckhart-Zitate erkennen, ja, sie stellen keineswegs Zitate Eckharts dar, doch ist die Bedeutung der ‚Unmittelbarkeit‘, die dabei zum Ausdruck kommt, dieselbe, die für Eckharts ‚Mystik‘ kennzeichnend ist. Freilich gibt es Passagen, etwa in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), in denen seine Verteidigung der ‚unmittelbaren Erkenntnis‘ die Formulierungen Jacobis eindeutig aufnimmt, aber das dabei ver­ tretene Verständnis der ‚Unmittelbarkeit‘ ist nicht dasjenige Jacobis, sondern Eckharts.96 Die entscheidende Stelle in Eckharts Predigt 69 wurde bereits oben (zum Teil) angeführt: wan got enhât kein mittel; er enmac ouch kein mittel gelîden. Wære diu sêle alzemâle entblœzet und entdecket von allem mittel, sô wære ir got entblœzet und entdecket und gæbe sich ir alzemâle. Alle die wîle daz diu sêle niht entblœzet und entdecket enist von allem mittel, swie kleine daz sî, sô ensihet si got niht.

Wan gott hat kein mittel nit/ er mag auch kein mittel leiden. Wer die sel alzumal entblsset oder entdecket von allem mittel/ so wer ir gott entblßt vnd entdeckt/ vnd geb sich ir bloß alzemal. Aber all dieweil die sel nit entblßt oder entdecket ist von allem mittel wie klein das sey/ so sicht sy gottes nit.

(Gott kennt kein Vermittelndes; er kann auch kein Vermittelndes dulden. Wäre die Seele gänzlich entblößt oder enthüllt von allem Vermittelnden, so wäre [auch] Gott für sie entblößt und 95. Siehe dazu A. Quero-Sánchez, ‚Über die Nichtigkeit des Gegebenen‘ (2009-2010-2011), 191-232; id., Über das Dasein (2013), 394-7, 433-43 und 511-6; id., ‚Libertas enim filiorum‘ (2012), 139-48. 96. Vgl. A. Quero-Sánchez, ‚Schellings neuzeitliche Repristination‘ (2014), 212-9.

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enthüllt und gäbe Gott sich ihr gänzlich. Solange die Seele [noch] nicht enthüllt und entblößt ist von allem Vermittelnden, so klein es auch sein mag, so lange sieht sie Gott nicht).97 Was man unter ‚Mittel‘ oder ‚Vermittlung‘ zu verstehen habe, erläutert Eckhart selbst auch in der geraden zitierten deutschen Predigt 69 mit Hilfe eines Zitats des spätantiken Autors Boethius: ‚Freude und Pein‘, sagt er, ‚Furcht und Zuversicht‘ (vröude und pîne, vorhte und zuoversiht), all das also, was ich in dem im Zusammenhang mit Schellings Identitätsphilosophie diskutierten Beispiel oben als ‚B‘ bezeichnet habe. Es heißt nämlich: Boethius sprichet: ‚wilt dû die wârheit lûterlîche bekennen, sô lege abe vröude und pîne, vorhte und zuoversiht oder hoffenunge‘. Vröude und pîne ist ein mittel, vorhte und zuoversicht: ez ist allez ein mittel. Die wîle sô dû ez anesihest und ez dich wider anesihet, sô ensihest dû gotes niht.

Boetius ein meister spricht/ Wiltdu die warheit lauterlich bekenne/ so leg ab freud vn forcht/ zuuersicht/ hoffnug vnd leid es ist alles mitel/ dieweil du es ansichst vn es dich wider ansicht/ so sichstu gottes nit.

(Boethius sagt: ‚Willst du die Wahrheit lauter erkennen, so lege ab Freude und Pein, Furcht und Zuversicht oder Hoffnung‘. Freude und Pein ist ein Vermittelndes, Furcht und Zuversicht: das alles ist ein Vermittelndes. Solange du es ansiehst und es hinwiederum dich ansieht, so lange siehst du Gott nicht).98 Schelling selbst gebraucht in diesem Zusammenhang – und zwar schon in den 1795/96 publizierten Philosophischen Briefe über Dogmatismus und

97. Eckhart, Pr. 69, DW III 165, 5-8 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 536); BT 1522, 258va,26-33 (rechte Spalte). 98. Eckhart, Pr. 69, DW III 166, 2-167, 1 (linke Spalte) (trans. J. Quint, ibid., 536); BT, 258va,37-43 (rechte Spalte). Weitere Stellen bei Meister Eckhart (zu ‚Unmittelbarkeit‘): Pr. 70, DW III 194, 5-195, 5 (BT, 257va,4-27); Pr. 71, DW III 226, 1-227, 5 (BT, 244ra,1-19); Pr. 41, DW II 296, 10-297, 3 (BT, 309rb,29-45); Pr. 49, DW II 442, 1-8 (BT, 290rb,38-290va,7); Pr. 52, ed. G. Steer (1998), 180, 6-9 (vgl. DW II 506, 1-3) (BT, 308rb,13-9). Weitere, im Basler Tauler-Druck nicht überlieferte relevante Stellen im Werk Eckharts: Pr. 45, DW II 366, 3-367, 3; ibid., 370, 1-10; BgT DW V 19, 17-20, 5; ibid., 116, 20-117, 12; ibid., 31, 1-32, 7; ibid., 52, 1-19; ibid., 114, 21-115, 12; RdU DW V 284, 9-285, 4; ibid., 304, 8-306, 2. Siehe A. Quero-Sánchez, ‚Schellings neuzeitliche Repristination‘ (2014), 215-8, Anm. 140.

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Kriticismus – auch den Ausdruck ‚grundlos‘ mit einer ähnlichen Bedeutung wie ‚unmittelbar‘: Denn im Gebiete des Absoluten selbst gelten keine andre als bloß analytische Sätze, hier wird kein andres Gesetz, als das der Identität befolgt, hier haben wir mit keinen Beweisen, sondern nur mit Analysen, nicht mit mittelbarer Erkenntniß, sondern nur mit unmittelbarem Wissen zu thun – kurz hier ist alles begreiflich. Kein Satz kann seiner Natur nach grundloser sein, als der, der ein Absolutes im menschlichen Wissen behauptet. Denn eben, weil er ein Absolutes behauptet, kann von ihm selbst weiter kein Grund angegeben werden. Sobald wir ins Gebiet der Beweise treten, treten wir auch ins Gebiet des Bedingten.99 Inwieweit Schellings Verständnis des Ausdrucks ‚grundlos‘ demjenigen, das wir in den Predigten Eckharts finden, ähnelt, habe ich neulich diskutiert.100 Wichtig zum Verständnis des uns hier beschäftigenden § 7 in Schellings Würzburger System ist seine Aussage an der eben zitierten Stelle der Philosophischen Briefe, nach der ‚Grundloses‘ oder ‚Unmittelbares‘ durch analytische, das Gesetz der Identität befolgende Sätze ausgedrückt wird. Synthetische Sätze drücken hingegen Sachverhalte aus, die einen ‚Grund‘, ein ‚Warum‘, eine ‚Vermittlung‘ oder eine ‚Bedingung‘ – was ich oben als ‚B‘ bezeichnet habe – haben. Ist ein Projekt A1 das unten den gegebenen Umständen objektiv beste – sozusagen: das unter den gegebenen Umständen und doch zugleich ‚an sich‘ beste –, so ist folgender, die Entscheidung der Kommission ausdrückender Satz ein (im Sinne der Identitätsphilosophie Schellings) analytischer Satz: ‚Das Projekt A1 wird hiermit bewilligt und soll verwirklicht, d.h. zur konkreten Realität gebracht werden‘. Der Satz hingegen ‚Das Projekt A2 wird 99. Schelling, Philosophische Briefe, ed. H. Buchner, W.G. Jacobs and A. Pieper (1982), 76,10-20. 100. Relevante Stellen bei Meister Eckhart (zu ‚Grundlosigkeit‘): Pr. 12, DW I 194, 1-8 (BT, 313ra,30-44) (vgl. Acta Echardiana, n. 48 [Responsio], LW V 325, 18-20 [Processus Coloniensis II, n. 33]); Pr. 29, DW II 84, 2-9 (BT, 263va,21-35); Pr. 42, DW II 309, 3-5 (BT, 268va,2-7); Pr. 52, ed. G. Steer (1998), 168, 6-8 (vgl. DW II 486, 4-6) (BT, 306va,43-b,6); Pr. 52, ed. G. Steer (1998), 172, 11-21 (vgl. DW II 493, 3-494, 3) (BT, 307rb,7-27); Pr. 66, DW III 112, 1-113, 7 (BT, 310ra,8-36); Pr. 71, DW III 215, 3-216, 2 (BT, 243ra,5-28). Weitere, im Basler Tauler-Druck nicht überlieferte relevante Stellen im Werk Eckharts: Pr. 7, DW I, 122, 5-123, 5; Pr. 14, DW I 235, 4-13; Pr. 15, DW I 246, 9-13; Pr. 80, DW III 378, 2-5; ibid., 380, 1; RdU DW V 238, 2-6. Siehe A. Quero-­ Sánchez, ‚Schellings neuzeitliche Repristination‘ (2014), 197-9, Anm. 91.

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hiermit bewilligt und soll verwirklicht, d.h. zur konkreten Realität gebracht werden‘, wo die Entscheidung durch Bestechungsgelder erkauft – durch ein B ‚vermittelt‘ oder ‚begründet‘ (!) – worden wäre, wäre ein (im Sinne der Identitätsphilosophie Schellings) synthetischer Satz. Das Besondere dabei ist nun, dass nach Schelling allein analytische Sätze – somit eben nicht die synthetischen – uns darüber informieren, was wirklich ist. Anders verhält es sich bekanntlich nach Kant, ja überhaupt (oder all-‚gemein‘). Denn in der Regel – oder all-‚gemein‘ – denkt (!) man, dass nur synthetische Sätze besagen, wie die Welt wirklich ist, nicht jedoch analytische, welche bloß relations of ideas angehen, die völlig unabhängig davon, wie die Welt de facto konstituiert ist, gültig seien. Schelling selbst verweist auf die kantische Distinktion von analytischen und synthetischen Sätzen im § 7 des Würzburger Systems, aber er versteht sie – eindeutig – in seinem eigenen, vom kantischen völlig verschiedenen Sinne: In der gemeinen Reflexion werden zweierlei Arten des Wissens unterschieden: 1) bedingtes, wo Affirmatives und Affirmirtes nicht a n s i c h eins, sondern verschieden sind. Von dieser Art ist das von Kant sogenannte synthetische Wissen. Es ist eben diejenige Art von Wissen, in welchem zu dem Begriff = A noch ein anderes, was nicht dieser Begriff ist, = B hinzukommen muß, um A als reell zu setzen; 2) unbedingtes. Ein solches kommt im gemeinen Wissen nicht anders vor als in der Gestalt eines bloß subjektiven oder, wie es Kant nennt, analytischen Wissens. Hier wird der Satz A = A bloß formell, nämlich so verstanden: wenn ich A denke, so denke ich A. Hier gehe ich nun allerdings auch nicht über mein Denken hinaus, dagegen sage ich auch keine Realität aus. Im gemeinen Wissen ist also der Gegensatz, wie ihn auch Kant macht, der: Entweder ich weiß von einem Wirklichen, einem Objektiven, mein Wissen ist ein reelles, alsdann aber ist es auch bloß bedingter, synthetischer Art. Oder ich weiß zwar unbedingt, aber dann ist mein Wissen kein Objektives, sondern ein bloß subjektives, ich komme nicht über mich selbst hinaus. Ueber der Realität verliere ich immer die Unbedingtheit, so wie über der Unbedingtheit die Realität.101

101. Schelling, System der gesamten Philosophie, ed. K.F.A. Schelling (1860), 149,24-150,10.

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Die These also, nach der allein synthetische Sätze beschreiben, wie die Dinge wirklich sind, kennzeichnet, so Schelling, die ‚gemeine Reflexion‘, die ‚gemeine Logik‘, das ‚gemeine Wissen‘. ‚Gemein‘ meint dabei dasselbe wie grop und gemeine bei Meister Eckhart, also nicht bloß ‚allgemein‘, sondern eben all-‚gemein‘. Wer grop und gemein denkt, denkt nicht edel,102 das heißt, nicht im Sinne dessen, was Schelling an der genannten Stelle die ‚höhere Ansicht wahrer Philosophie‘ nennt. Der Edle lässt das Wirkliche – das unter den gegebenen Umständen beste Projekt A1 – zur Realität kommen, und zwar getragen durch seine – des Projekts selbst – eigene Kraft. Der Edle tut dabei nichts als eben nichts: er lässt die Sache selbst selbst [bis!] sein. Man lese dies nicht als eine Form von Quietismus, denn nichts fordert von uns so viel Kraft und so viele Taten wie ein solches vom Idealismus angestrebtes Nichtstun im Seinlassen. Diese Position ist auch im lateinischen Werk Eckharts grundlegend, welches Schelling freilich nicht kennt. Indem das Wirkliche, so Eckhart, das ist, ‚was uns durch seine eigene Kraft anzieht‘ (quod ‚sua vi‘ trahit), darf es suave genannt werden, d.h. es ist ‚sanft‘ (suave), weil es ‚durch die eigene Kraft‘ (sua vi) anzieht.103 Wer grop und gemein denkt, sieht nichts als bloß durch B vermittelte, d.h. nichtabsolute Realität (A2, A3, A4, etc.): Es gebe nichts als durch Anderes vermittelte ‚Entscheidungen‘ und überhaupt zustande gekommene ‚Realitäten‘ (im Plural!). Aber, so ­Schelling, gerade solche Menschen, die allein durch synthetische Sätze ausgedrückte, ‚plurale‘, ‚bunte‘, ‚mannigfaltige‘ (angebliche) ‚Realitäten‘ sehen, verlieren – indem sie ‚etwas‘ sehen – doch das allein im ‚Nichts‘ – und somit ‚unmittelbar‘ – anzuschauende Wirkliche aus dem Auge: So verhält es sich allerdings auf demjenigen Standpunkt, auf welchem die gemeine Logik und auf welchem namentlich Kant mit seiner ganzen Philosophie steht, der daher auch nur im bedingten, synthetischen Wissen Realität sieht, welches 102. Zum Gegensatz grop und gemein/edel im Werk Meister Eckharts siehe A. Quero-­Sánchez, ‚Libertas enim filiorum‘ (2012), 131-4. Der entsprechende lateinische Ausdruck, der auch bei Dietrich von Freiberg in dieser Bedeutung vorkommt, ist rudis; siehe ibid., 132, Anm. 582. Auch im Pseudo-Taulerischen Buch von der geistigen Armut spielt der Ausdruck grop eine Rolle; vgl. Das Buch von geistlicher Armuth bisher bekannt als Johann Taulers Nachfolgung des armen Lebens Christi. Unter Zugrundelegung der bis jetzt bekannten Handschriften zum ersten Male vollständig hg. von P. Heinrich Seuse Denifle aus dem Predigerorden (München, 1877), 71,1-26 (I, n. 142) (vgl. Spener 1681, 65,34-66,19 [n. 147]). 103. Vgl. Eckhart, In Eccl. n. 13, LW II 242, 10.

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vielmehr nach der höheren Ansicht wahrer Philosophie gerade ein Wissen ohne Realität ist.104 Die gemeine Realität ist somit von der wahren oder wirklichen Realität zu unterscheiden – wir sagen: die (bloße) ‚Realität‘, die ‚gemein‘ ist und freilich ‚all-gemein‘ gilt oder gar herrscht, soll von der (wahren) ‚Wirklichkeit‘ als von der durch die bloße Idee bestimmten, nicht käuflichen Realität unterschieden werden. Auch eine solche, von der Idee gegründete Wirklichkeit lässt bunte Pluralität zu, so etwa wie unser auf dem Grundgesetz basierender Rechtsstaat gesunde Pluralität zulässt und sogar befördert.105 Wollen wir hingegen durch Erfahrung bestimmen, wie es sich wirklich verhält, so werden wir nichts Anderes erkennen als die ‚gemeine‘ und ‚all-gemein‘ geltende Realität: durch B1, B2, B3, etc. bestimmte ‚Realitäten‘ (A2, A3, A4, etc.). Oder etwa nicht? Denn das Gemeine ist, wie es scheint, überall zu finden; es ist dasjenige, was man, wie schon der junge Schelling in seinem frühen Timaios-Kommentar aus dem Jahre 1794 – er war damals neunzehn Jahre alt – schreibt, ‚täglich vor Augen sieht‘, da ja nicht die Sache selbst, nicht rein sachliche Gründe – wie es heißt: ‚nicht Überzeugung durch ächte Beweiße‘ – das Argumentieren bestimmen, sondern der Sache äußere und damit äußerliche ‚Gründe‘, welche dasjenige, was man für Wahrheit hält, ‚vermitteln‘: ‚politische Übermacht, die eine gewiße Meinung nun einmal privilegirt hat [und] die Stimme des Widerspruchs zum Schweigen … zwingt‘. Diejenigen hingegen, die im Sinne einer ‚höheren Logik‘ – philosophisch eben – argumentieren, haben, wie es heißt, ‚keine andere Macht auf ihre Seite …, als die Macht der Wahrheit oder wenigstens der Überzeugung‘.106 104. Schelling, System der gesamten Philosophie, ed. K.F.A. Schelling (1860), 150,10-4. 105. Zum Verhältnis von Idealismus, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie siehe Andrés Quero-Sánchez, ‚„Wäre ich noch bei Kräften …!“ (εἰ μὲν γὰρ ἐγὼ ἔτι ἐν δυνάμει ἦ …): Idealismus und Rechtsstaatlichkeit in Platons Politeia‘, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63 (2015), 273-310. 106. Vgl. Schelling, Kommentar zum ‚Timaeus‘, ed. C. Danz, in Historisch-kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2,5 (Stuttgart, 2016), 152,12-23: ‚es ist eine Unbilligkeit, die sich mit der Aufrichtigkeit eines unbefangnen Geschichtforscher’s nicht verträgt, eine Unbilligkeit die ganz das vergißt, was sie doch täglich vor Augen sieht, wie häufig nämlich nicht Überzeugung durch ächte Beweiße sondern politische Übermacht, die eine gewiße Meinung nun einmal privilegirt hat, die Stimme des Widerspruchs zum Schweigen oder wenigstens zum leisen kaum hörbaren Reden zwingt, eine Unbilligkeit, die eben nicht groß ist, als das triumphirende Spotten privilegirter Lehrer über Andersdenkende, die keine andre Macht auf ihrer Seite haben, als die Macht der Wahrheit oder wenigstens der Überzeugung, und deren Geist durch den täglichen

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Wer also die Wirklichkeit durch Erfahrung – somit durch die ‚gemeine‘ Realität ‚vermittelt‘ oder ‚begründet‘ (!) – erkennen will, verliert sie doch eben dadurch aus dem Auge. Man muss deshalb, so Schelling, von der Erfahrung absehen – nichts oder gar Nichts sehen –, um dadurch das Wirkliche überhaupt zu sehen oder unmittelbar anzuschauen, welches man dann – als das durch die bloße Idee A1 bestimmte, konkrete, reale A1 – seinlässt. Einen solchen Prozess des Absehens von der Erfahrung, um dasjenige, was durch die eigene Kraft (sua vi) gilt, unmittelbar anzuschauen, nennt Meister Eckhart, ja nennt die Mystik überhaupt ‚Entbildung‘.107 Denn die durch bloße Bilder oder Vorstellungen (bilde) vermittelte Welt sei nichts als bloße ‚Erscheinung‘, welche die Welt, wie sie ‚an sich‘ ist, verdecke. Wer Gott oder die wahre Wirklichkeit sehen will, der soll deshalb nichts – oder gar das Nichts – sehen, d.h. die Welt nicht durch synthetische, durch Erfahrung vermittelte Sätze zu beschreiben suchen, sondern durch analytische, eine Identität (A1 = A1) ausdrückende Sätze; der soll die Realität – genauer: die mit Gott selbst identische Wirklichkeit (esse est deus) – im Begriff selbst finden. 4.  Begründete Hypothesen zur Chronologie Da nun so viele eckhartsche Motive – dazu noch in einer auffällig prägnanten und konzentrierten Form – in den analysierten Passagen aus den Weltaltern bzw. der Erlanger Vorlesung (Initia philosophiae universae) Anblik der Herrschaft solcher Säze, die, ihrer g e w i ß e n h a f t e s t e n überzeugung nach, falsch sind, schon zu viel, als daß man nöthig hätte, ihn mit einem höhnenden Troz auf Privilegien in den Staub zu drüken‘. 107. Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 11, 9-14 (Processus Coloniensis I n. 8, LW V 201, 6-25); ibid., DW V 12, 21-13, 4 (vgl. Processus Coloniensis I n. 10, LW V 202, 9-18); ibid., DW V 21, 7-11; ibid., 27, 6-7; VeM DW V 112, 19-22; ibid., 116, 12-17; Pr. 40, DW II 278, 4-6. Vgl. Wolfgang ­Wackernagel, Ymagine denudari: Éthique de l’image et métaphysique de l’abstraction chez Maître Eckhart (Paris, 1991), 18-24 (‚Occurrences du verbe entbilden‘). Schelling kannte wahrscheinlich keine der gerade erwähnten Passagen Eckharts, der Ausdruck kommt jedoch sowohl im Buch von der geistigen Armut als auch im Predigtwerk Taulers vor, und zwar an Stellen, an denen der Einfluss Eckharts unübersehbar ist. Vgl. Buch von der geistigen Armut, ed. H. Denifle (1877), 25,29-26,8 (I, n. 54) (vgl. Spener 1681, 22,29-23,8); Johannes Tauler, Pr. 55 (= Pr. 64 in der neuhochdeutschen Übersetzung von G. Hofmann [Freiburg i.Br., 1961; Nachdruck, mit einer Einführung von A.M. Haas, in zwei Bänden: Einsiedeln, 1991]), ed. Ferdinand Vetter, in Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften (Berlin, 1910), 257,21-258,6 (BT 1522, 156va,17-b,10; Spener 1681 [De sanctis, 145,17-146,4]).

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präsent sind, wäre davon – als von einer ‚plausiblen Hypothese‘ – auszugehen, dass Schelling in eben dieser Zeit oder kurz vorher, also um 1806/1810, den Basler Tauler-Druck – und zwar den Nachdruck aus dem Jahre 1522, der als einziger Eckharts Unterscheidung von ‚Gott‘ und ‚dem, was Gott ist‘ in Predigt 52 richtig überliefert (do enwas gott nitt gott [1522] statt do was gott mit [sic!] got [1521]) – in die Hände bekommen hat, wohl – was allerdings nicht nachgewiesen werden kann – über die Person Franz von Baaders. Wir haben allerdings ein Zeugnis vom April 1811 für Schellings Interesse an Tauler und inbesondere an den ältesten Drucken seiner Werke. Am 25. April 1811 schreibt er nämlich an Gotthilf Heinrich von Schubert: Ich schreibe Ihnen noch wegen eines andern Buchs …: ich meine Tauleri Schriften, besonders Von der Nachahmung des armen Lebens Christi; es existirt eine so viel ich weiß vollständige – aber im Ausdruck zu viel modernisirte Ausgabe von Spener; ich suche besonders von letzter Schrift eine alte (je älter desto lieber), die noch alle Eigenheiten des Verfassers treulich bewahrt hat.108 Diese Stelle belegt eindeutig, dass Schelling damals das Werk Taulers – einschließlich des Pseudo-Taulerischen Buchs von der geistigen Armut, das er ungefähr mit dem Titel nennt, mit dem Daniel Sudermann es als erster im Jahre 1621 in Frankfurt a.M. (bei Lucas Jennis) herausgab (Nachfolgung des armen Lebens Christi) – in der bereits oben erwähnten Edition Speners kannte.109 Diese Stelle besagt allerdings darüber hinaus noch, dass Schelling um 1811 nach älteren Ausgaben der Schriften Taulers gesucht hat. Bedeutet dies etwa, dass er den Basler Druck damals noch nicht kannte? Das glaube ich nicht. Vielmehr suchte er am 25. April 1811 noch insbesondere nach einer älteren Ausgabe des Buchs von der geistigen Armut, welches ja im Basler Druck nicht enthalten ist. Ja, selbst die Tatsache, dass er sich damals für ältere dieses Buch enthaltende Ausgaben interessierte, scheint dafür zu sprechen, dass er eben um diese Zeit den Basler Tauler-Druck in die Hände bekam. Plausibel scheint mir 108. Aus Schellings Leben: In Briefen, ed. G.L. Plitt (Leipzig, 1869-1870 [3 Bände]; Nachdruck Hildesheim, 2003), Bd. II, 252-3. 109. Siehe oben, S. 149.

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nämlich folgende Hypothese zu sein: Als Schelling den Basler Druck las, konnte er nicht nur feststellen, inwieweit Eckharts Predigten philosophisch interessanter als diejenigen Taulers sind, sondern auch, wie stark Spener bei seiner Ausgabe in die ursprünglichen Texte der Predigten Taulers eingegriffen hatte. Und dies war der Grund dafür, dass er jetzt nach älteren Drucken Taulers suchte: zum einen in der Hoffnung, weitere Predigten Eckharts darin zu finden; zum anderen in der Hoffnung, einen von Spener nicht ‚vermittelten‘ Text des Buchs von der geistigen Armut lesen zu können. Denn er vermutete – fälschlicherweise, da in diesem Fall der bloß orthographisch modernisierte Text der Edition Sudermanns angeboten wurde –, dass Spener auch den ursprünglichen Text des Buchs von der geistigen Armut ‚verfälscht‘ hatte. Es mag sein, dass Schelling schon vor 1809/1811, vielleicht sogar während seiner Studienzeit am Tübinger Stift (1790-1795), vereinzelte Predigten Eckharts gekannt hat, jedoch nicht den Basler Tauler-Druck.110 Für die Entwicklung von Schellings Transzendental- bzw. Identitäts­ philosophie ist somit nicht so sehr (oder zumindest ‚nicht allein‘) seine Lektüre Kants, Spinozas und Fichtes,111 sondern vor allem seine 110. Nach Theodor Lorenz Haering, Hegel: sein Wollen und sein Werk; eine chronologische Entwicklungsgeschichte der Gedanken und der Sprache Hegels, Bd. I (Leipzig, 1929; Nachdruck Aalen, 1963), 54, habe Hegel Eckhart (und Tauler) bereits in den Tübinger Studienjahren (1788-1793) gekannt: ‚Auch die Mystiker, Eckardt und Tauler, scheinen ihm in diesem Kreise schon bekannt geworden zu sein, ohne daß er doch schon damals tieferes Interesse für sie gefaßt und sie mehr wie nur als Zeugen lebendiger Religiosität (s. die Berner Zeit!) geschätzt hätte‘. Es bleibt zu überprüfen, inwiefern man dieser Angabe Glauben schenken darf. Nach dem Bericht von Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben (Berlin, 1844; Nachdruck Darmstadt, 1977), 102, habe Hegel Eckhart um 1796 gekannt: ‚Schon am Ausgang der Schweizerperiode finden sich unter Hegel’s Papieren Excerpte von Stellen aus Meister Eckart und Tauler‘. Der junge Hegel hat jedenfalls schon um 1796 einige Artikel der Bulle In agro dominico exzerpiert; vgl. Hegel, Gesammelte Werke. Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III: Frühe Exzerpte (1785-1800), ed. Fr. Nicolin (Hamburg, 1991), 215-6. Bezieht sich Rosenkranz auf diese Exzerpte? Das hatte ich noch in meiner Dissertation vermutet; vgl. A. Quero-Sánchez, Sein als Freiheit (2004), 263-4. Doch scheint mir diese Annahme inzwischen eher unbegründet zu sein. Denn Hegel nennt Eckhart dabei nicht namentlich, da er ja aus Johann Lorenz von Mosheim, Institutiones historiae ecclesiasticae (Helmstedt, ²1764), 482, Anm., exzerpiert, wo Eckhart nicht erwähnt wird, sondern die Aussagen als die der secta fratrum et sororum liberi spiritus präsentiert werden. Ja, Rosenkranz schreibt ausdrücklich, dass Hegel die ‚am Ausgang der Schweizerperiode‘ exzerpierten Stellen ‚sich aus Literaturzeitungen abschrieb‘. Und wenn Hegel damals – sei es ‚bereits in den Tübinger Studienjahren‘, sei es ‚am Ausgang der Schweizerperiode‘ – Eckhart und Tauler gekannt hat, scheint mir völlig ausgeschlossen zu sein, dass es sich bei Schelling, der damals in engstem Kontakt mit Hegel stand, anders verhalten hätte. 111. Vgl. A. Quero-Sánchez, ‚Schellings neuzeitliche Repristination‘ (2014), 166-220.

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philosophische Rezeption der Spener-Ausgabe der Werke Taulers entscheidend gewesen, welche er, der in seinem Elternhaus in einem dem Pietismus nahen Milieu aufgewachsen war, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem sehr frühen Zeitpunkt seines Lebens las. Die Ausgabe Speners, welche (unter anderem) Eckharts Predigten 1 (De tempore, 268-74; auch in BT, 186ra-187vb), 101 (ibid., 74-85; auch in BT, 2vb-5va), 102 (ibid., 107-14; auch in BT, 9va-11rb), 103 (ibid., 120-8; auch in BT, 12vb-14va) und 114 (ibid., 643-52; auch in BT, 188vb-191rb) sowie das Buch von der geistigen Armut (mit separater Paginierung) enthält,112 ist also – und das gilt jedenfalls für die beiden oben diskutierten Begriffe insbesondere (‚Unmittelbarkeit‘113 und ‚Grundlosigkeit‘114) – für die 112. Eckharts Predigt 104 (B), die in BT enthalten ist (14vb-17vb), ist in der Edition Speners m.W. nicht enthalten. 113. Vgl. Pseudo-Johannes Tauler, Buch von der geistigen Armut, ed. H. Denifle (1877), 25,2926,8 (I, n. 54) (vgl. Spener 1681, 22,29-23,8); ibid., 45,11-16 (I, n. 98) (vgl. Spener 1681, 41,22-7); ibid., 69,26-35 (I, n. 140) (vgl. Spener 1681, 64,26-33 [n. 145]); ibid., 71,1-26 (I, n. 142) (vgl. Spener 1681, 65,34-66,10 [n. 147]); ibid., 75,11 (I, n. 147) (vgl. Spener 1681, 69,36 [n. 154]); ibid., 89,19-29 (I, n. 169) (vgl. Spener 1681, 82,36-83,9 [n. 173]); ibid., 132,37-133,2 (II, n. 52) (vgl. Spener 1681, 121,7-11 [n. 59]); ibid., 136,36-137,6 (II, n. 57) (vgl. Spener 1681, 124,34-125,5 [n. 65]); ibid., 172,15-29 (II, n. 101) (vgl. Spener 1681, 156,30-157,6 [n. 112]). Im Predigtwerk Johannes Taulers siehe vor allem folgende Stellen: Pr. 6, ed. F. Vetter (1910), 26,3-27,17 (vgl. BT, 18ra,23vb,5; Spener 1681 [De tempore, 163,16-165,23]); Pr. 9, ed. F. Vetter (1910), 45,33-46,4 (vgl. BT, 26rb,17-23; Spener 1681 [De tempore, 234,8-11]); Pr. 10, ed. F. Vetter (1910), 47,31-49,8 (vgl. BT, 27ra,37-vb,11; Spener 1681 [De tempore, 244,1-246,25]); Pr. 20, ed. F. Vetter (1910), 82,24-8 (vgl. BT, 44ra,30-41; Spener 1681 [De tempore, 412,12-21] [weder BT noch Spener gebrauchen dabei allerdings den Ausdruck sunder mittel, den wir im Originaltext Taulers finden]); Pr. 20, ed. F. Vetter (1910), 84,8-9 (vgl. BT, 44vb,13-5; Spener 1681 [De tempore, 414,29-31]); Pr. 23, ed. F. Vetter (1910), 91,28-92,19 (vgl. BT, 49vb,3550ra,26; Spener 1681 [De tempore, 435,4-35]); Pr. 32, ed. F. Vetter (1910), 118,17-24 (vgl. BT, 66rb,413; Spener 1681 [De tempore, 524,11-9]); Pr. 56, ed. F. Vetter (1910), 262,19-26 (vgl. BT, 120vb,20-30; Spener 1681 [De tempore, 813,7-15]); Pr. 57, ed. F. Vetter (1910), 267,8-11 (vgl. BT, 97vb,36-40; Spener 1681 [De tempore, 708,4-6]); Pr. 64, ed. F. Vetter (1910), 349,7-11 (vgl. BT, 105ra,34-43; Spener 1681 [De tempore, 735,32-7]). 114. Vgl. Pseudo-Johannes Tauler, Buch von der geistigen Armut, ed. H. Denifle (1877), 63,3464,6 (I, n. 130) (vgl. Spener 1681, 59,16-27 [n. 136]); ibid., 117,33-6 (II, n. 37) (vgl. Spener 1681, 107,2-5 [n. 42]). Im Predigtwerk Johannes Taulers siehe vor allem folgende Stellen (‚grundlos‘ bzw. ‚Abgrund‘): Pr. 1, ed. F. Vetter (1910), 8,28-30 (vgl. BT, 1va,19-24; Spener 1681 [De tempore, 46,6-8]) (von dieser Predigt 1 Taulers schreibt Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. III [München, 1996], 487, allerdings: sie ‚dürfte ein Meister-Eckhart-Kompilat sein‘); Pr. 55, ed. F. ­Vetter (1910), 257,21-258,6 (vgl. BT, 156va,17-b,10; Spener 1681 [De sanctis, 145,17-146,4]); Pr. 9, ed. F. Vetter (1910), 44,16-45,2 (vgl. BT, 25va,5-b,25; Spener 1681 [De tempore, 231,31-232,24]); Pr. 14, ed. F. Vetter (1910), 66,7-10 (vgl. BT, 34ra,32-38; Spener 1681 [De tempore, 277,2-7]); Pr. 15, ed. F. Vetter (1910), 67,24-68,4 (vgl. BT, 34vb,17-40; Spener 1681 [De tempore, 337,34-338,17]); Pr. 21, ed. F. Vetter (1910), 88,1-4 (vgl. BT, 46va,40-5; Spener 1681 [De tempore, 422,9-12]); Pr. 24, ed. F. Vetter (1910), 101,28-102,26 (vgl. BT, 49rb,10-va,15; Spener 1681 [De tempore, 432,25-433,28]); Pr. 26, ed. F. Vetter (1910), 109,15-30 (vgl. BT, 55va,22-b,3; Spener 1681 [De tempore, 458,4-22]); Pr. 28, ed. F. Vetter (1910), 115,18-20 und 115,32-116,2 (vgl. BT, 57vb,22-58ra,44; Spener 1681 [De

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Entwicklung der früheren Philosophie Schellings – und damit der Philosophie des gesamten Deutschen Idealismus der nachkantischen Zeit überhaupt – entscheidend gewesen. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass die Philosophie des Deutschen Idealismus letztlich ein bloß theologisches – sprich: nicht streng philosophisches – oder gar irrationales Unternehmen darstellt. Vielmehr gilt die Umkehrung: die ‚Mystik‘ lässt eine rationale Struktur erkennen, die schon die frühesten philosophischen Projekte Schellings wiederbelebt und weitergegeben haben. Und Schelling selbst wusste es – schon um 1795 – ganz genau: Schwerlich hätte je ein Schwärmer sich an dem Gedanken, in dem Abgrund der Gottheit verschlungen zu sein, vergnügen können, hätte er nicht immer an die Stelle der Gottheit wieder sein eignes Ich gesetzt. Schwerlich hätte je ein Mystiker sich als vernichtet denken können, hätte er nicht als Substrat der Vernichtung immer wieder sein eignes Selbst gedacht.115

tempore, 485,12-486,22]); Pr. 28, ed. F. Vetter (1910), 117,14-118,6 (vgl. BT, 28vb,17-59ra,43; Spener 1681 [De tempore, 488,35-490,19]); Pr. 32, ed. F. Vetter (1910), 120,17-32 (vgl. BT, 66vb,30-67ra,11; Spener 1681 [De tempore, 527,8-29]); Pr. 32, ed. F. Vetter (1910), 121,12-3 und 121,23-122,1 (vgl. BT, 67ra,41-b,36; Spener 1681 [De tempore, 528,12-529,18]); Pr. 38, ed. F. Vetter (1910), 152,35-6 (vgl. BT, 81vb,45-7; Spener 1681 [De tempore, 604,3-4]); Pr. 41, ed. F. Vetter (1910), 174,26-31 (vgl. BT, 89ra,3-14; Spener 1681 [De tempore, 633,18-26]); Pr. 41, ed. F. Vetter (1910), 175,28-176,15 (vgl. BT, 89rb,16-va,5; Spener 1681 [De tempore, 634,26-635,17]); Pr. 43, ed. F. Vetter (1910), 189,4-7 (vgl. BT, 94rb,4-12; Spener 1681 [De tempore, 677,15-20]); Pr. 45, ed. F. Vetter (1910), 200,6-13 (vgl. BT, 103va,27-b,40; Spener 1681 [De tempore, 730,15-731,19]); Pr. 54, ed. F. Vetter (1910), 251,1-14 (vgl. BT, 106vb,24-45; Spener 1681 [De tempore, 746,12-25]); Pr. 57, ed. F. Vetter (1910), 273,29-33 (vgl. BT, 99vb,4-11; Spener 1681 [De tempore, 714,28-32]); Pr. 60, ed. F. Vetter (1910), 278,5-19 (weder überliefert in BT noch in Spener 1681); Pr. 61, ed. F. Vetter (1910), 331,1-332,16 (vgl. BT, 140ra,10-va,20; Spener 1681 [De sanctis, 74,14-75,31]); Pr. 65, ed. F. Vetter (1910), 358,8 (vgl. BT, 153rb,28-8; Spener 1681 [De sanctis, 135,2-3]); Pr. 66, ed. F. Vetter (1910), 363,4-17 (vgl. BT, 112va,31-b,10; Spener 1681 [De tempore, 769,31-770,10]); Pr. 75, ed. F. Vetter (1910), 406,34-407,3 (vgl. BT, 127va,32-b,9; Spener 1681 [De tempore, 842,4-18]); Pr. 81, ed. F. Vetter (1910), 434,10-17 (m.W. weder überliefert in BT noch in Spener 1681). 115. Schelling, Philosophische Briefe, ed. H. Buchner, W.G. Jacobs and A. Pieper (1982), 89,1-5.

Das Buch Ijob und Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung Ludger Schwienhorst-Schönberger, Universität Wien Abstract This article attempts to interpret the Old Testament Book of Job in the light of Meister Eckhart’s Liber Benedictus and especially its first part, the Book of Divine Consolation. Based on Eckhart’s metaphysical foundation of consolation, the analysis focuses on the surprising similarities between the two books, especially with regard to their perspective on suffering as a way to God. Both the Book of Divine Consolation and the Book of Job deal with suffering that is not to be considered as a consequence of sin and, therefore, not as punishment. Both Job and Meister Eckhart emphasise the fact that a sufferer can ultimately never be really consoled by other human beings. As the contribution will discuss in more detail, they both are convinced that suffering can truly be overcome only through a process that takes place in the consciousness of the sufferer himself. Job talks about ‘seeing God’, Eckhart about ‘becoming conscious of the divine ground’ and ‘being born from God’, which, in turn, leads to the abandonment of all created being. Both the Book of Job and Meister Eckhart stress the inseparable connection between knowing God and knowing oneself. From Eckhart’s perspective, Job’s path can be interpreted as a path towards ‘Godlessness’, understood as letting-go of God for God’s sake. Furthermore, both books refrain from proposing an explicitly eschatological solution to the problem. The question remains, however, why Eckhart’s Liber Benedictus does not contain a single direct quotation from the Book of Job. We shall propose at least some plausible explanations for this fact, without pretending to have a definitive answer.

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1. Einleitung

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Man kennt wohl manches über das Verhältnis der Philosophie und der Poesie. Wir wissen aber nichts von der Zwiesprache der Dichter und Denker, die ‚nahe wohnen auf getrenntesten Bergen.‘1

n der Tat, der Dichter des alttestamentlichen Buches Ijob und ­Eckhart, der Denker und ,Philosoph des Christentums‘,2 – sie wohnen nahe auf getrenntesten Bergen. Dies zumindest ist die These, die im Folgenden – soweit ich sehe, erstmals – erörtert werden soll. Darf, ja kann man überhaupt zwei so unterschiedliche Gestalten miteinander vergleichen? Meister Eckhart vertritt das Programm einer philosophischen Schrift­ auslegung. Er verfolgt die Absicht, ,die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen (per rationes naturales philosophorum) auszulegen‘.3 Unter den Bildern und der Oberfläche des Wortsinnes enthält die Bibel verborgene Wahrheiten. Diese gilt es herauszuarbeiten wie ,Honig aus verborgenen Waben‘.4 Damit steht Eckhart in der Tradition der patristischen Exegese.5 Seine Auslegungen atmen jedoch einen Geist der Kühnheit, wie er vor ihm nicht anzutreffen ist. Gerade als philosophische Auslegung ist Eckharts Exegese zutiefst existenziell. Eckhart liest die Schrift radikal als gegenwärtiges Wort. Dies aber ist nur möglich, wenn sich der Buchstabe des überlieferten Textes radikal in das verwandelt, was man als die Schrift des Herzens bezeichnen könnte. Die Schrift des Herzens aber ist in das Innere des Menschen eingeschrieben vor aller Schriftlichkeit äußerer Texte, wie bereits Paulus hervorhebt (2Kor 3,3) … Hätte nicht der Geist des lebendigen Gottes auf fleischerne Tafeln geschrieben, nämlich die Herzen, wäre alle Schriftlektüre leeres Bemühen. Wohl aber ist die Schrift des Herzens dem Träger dieses Herzens im Allgemeinen verborgen. Da aber mag 1. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? (Frankfurt a. M., 111975), 51-2. 2. Kurt Flasch, Meister Eckhart: Philosoph des Christentums (München, 2010). 3. Eckhart, In Ioh. n. 2, LW III 4, 5-6; EW II 489, 27-31. 4. Eckhart, In Gen. II n. 1, LW I 449, 1-2; LWSA I, 203. 5. Zum patristischen Erbe Eckharts vgl. vor allem Theo Kobusch, Die Philosophie des Hochund Spätmittelalters, in W. Röd (ed.), Geschichte der Philosophie, Bd. V (München, 2011), 372-5.

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der äußere Buchstabe der Schrift Anstoß werden für das Herz, seiner Inschrift inne zu werden. Der Geist, in dem die Heilige Schrift abgefasst wurde, so unterschiedlich er in ihren verschiedenen Teilen erscheinen mag, ist eins mit dem Geist, der sich in das Herz eingeschrieben hat: Das ist das Vertrauen, das alle Schriftauslegung Eckharts leitet. Nicht die Schrift als Schrift, als Buchstabe, der tötet, ist die Offenbarung, sondern die Schrift als Geistiges, das den im Herzen verborgenen Geist freilegt und zum Sprechen und Handeln im Sinne Christi bewegt. Der Ausleger hat immer wieder neu die Aufgabe, alles Erstarrte und Fixierte des äußeren Buchstabens abzulegen, damit unter seiner Hülle der in ihm verborgene, zur Offenbarung drängende Herzensgeist sichtbar werden kann.6 Eckhart verbindet mit seinem Projekt drei Pole, die in unserer Zeit zu ihrem eigenen Schaden weitgehend beziehungslos nebeneinander stehen: Exegese, Philosophie und Spiritualität. Eine sich ausschließlich historisch verstehende Exegese lässt sich von der Philosophie nichts mehr einreden. Sie arbeitet seit vielen Jahren auf einer anderen Geschäftsgrundlage.7 Die zeitgenössische Mystik, ,a topic of central concern today‘, 8 tut sich schwer mit der bildreichen Sprache der Bibel und den Implikationen und Aporien eines vermeintlich theistischen, kontingent-geschichtlichen Gottesbildes. Sie hat sich, selbst in christlich geprägten Kulturen, von der Bibel weitgehend frei gemacht und fühlt sich von den a-theistischen Wegen der Mystik, wie sie in bedeutenden Richtungen asiatischer Geistigkeit wie etwa dem Zen gelehrt und praktiziert werden, besser verstanden.9 Auf der anderen Seite findet die zeitgenössische Philosophie derzeit kaum einen genuin philosophischen Zugang zur Bibel, zu Religion und Spiritualität. Der Grund dafür liegt einerseits in der von der analytischen Philosophie erhobenen Behauptung, die Frage nach dem Sinn des 6. Reiner Manstetten, ‚Meister Eckharts Verfahren der Schriftauslegung‘, in G. Bonheim and P. Kattner (eds.), Mystik und Schriftkommentierung, Böhme-Studien 1 – Beiträge zu Philosophie und Philologie (Berlin, 2007), 101-23, 122. Vgl. auch id., ‚Die Gleichnisse bewahren die Wahrheit, die Wahrheit zerbricht die Gleichnisse: Meister Eckharts Programm der Bibelauslegung‘, in H.-J. ­Röllicke (ed.), Auslegung als Entdeckung der Schrift des Herzens (München, 2002), 133-63. 7. Vgl. Klaus Berger, Exegese und Philosophie, SBS 123/124 (Stuttgart, 1986). 8. Bernard McGinn, The Presence of God. A History of Western Christian Mysticism. The Foundations of Mysticism: Origins to the Fifth Century (New York, 1991), XI. 9. Zum Dialog beider Traditionen sei paradigmatisch verwiesen auf Hugo M. Enomiya-­ Lassalle, Zen und christliche Mystik (Freiburg, 1966, 31986). Zu Meister Eckhart ibid., 325-40.

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Lebens hätte in der Philosophie nichts verloren, da sich diese nach mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden auszurichten habe, sondern sei ausschließlich eine Sache der Kunst, Literatur, Musik, und eben der Religion. Andererseits tut sich die sogenannte ‚postmoderne‘ Philosophie, die den überzogenen Ansprüchen einer szientistischen Rationalität abgeschworen hat, schwer mit einer philosophischen Durchdringung von Bibel und Spiritualität, weil es für sie generell nicht mehr um universale Wahrheiten, sondern um individuelle ‚Erlebnisse‘ und ‚Gefühle‘ gehen soll. Ein vorsichtiger Versuch, biblisches und philosophisches Denken wieder in einen Dialog zu bringen, findet sich bei Habermas, allerdings eher in Form eines von ihm formulierten Desiderats, da er selbst laut eigenem Bekunden ‚religiös unmusikalisch‘ ist und diese Vermittlung selbst nicht zu leisten vermag.10 Andere zeitgenössische Philosophen wiederum, wie Alain Badiou oder Giorgio Agamben, praktizieren eine philosophische Paulus-Rezeption, was aber eher noch eine Ausnahme darstellt.11 In Eckhart begegnet uns eine Gestalt, die das scheinbar Unvereinbare zu vereinbaren vermag.12 Er versteht sich als Philosoph, der unbefangen auf die Einsichten der ,heidnischen Meister‘ zurückgreift.13 Er ist Theologe und Dominikaner, der in seinem lateinischen Werk an den theologischen Debatten der Zeit teilnimmt und der zugleich mit seinen deutschen Predigten als Seelsorger und Lehrer des geistlichen Lebens hoch geschätzt und bekannt ist. In seinen wissenschaftlichen Kommentaren wie in seinen Predigten versteht sich Eckhart als Ausleger der 10. Vgl. Jürgen Habermas, ‚Vorpolitische Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates?‘, in id., Zwischen Naturalismus und Religion (Frankfurt a. M., 2005), 106-18, 107. 109. 118; id., ‚Religion in der Öffentlichkeit‘, in id., Zwischen Naturalismus und Religion (2005), 119-54, 136-8. 143-9. 11. Vgl. Alain Badiou, Saint Paul: la fondation de l’universalisme (Paris, 42002); Giorgio Agamben, Il tempo che resta: un commento alla Lettera ai Romani (Torino, 2000). 12. Vgl. Shizuteru Ueda, ‚„Ohne Warum“ bei Meister Eckhart und im Zen‘, MEJb 10 (2016), 75-85, 76: ‚Im „Leben ohne Warum“, in dieser gelebten Freiheit, sehen wir eine wesenhafte Geistesund Lebensverwandtschaft von Meister Eckhart und Zen. Das Existenzdenken Meister Eckharts ist von drei Grundgedanken durchdrungen … Diese drei Grundgedanken finden sich ebenso genau im Zen-Buddhismus. Das wahre Menschsein liegt für beide im dynamischen Zug zurück zum Urgrund und wieder aus diesem heraus, auch wenn dies mit sehr verschiedenen Begriffen formuliert wird, die je dem betreffenden geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund entspringen.‘ 13. Vgl. dazu den Beitrag von Martina Roesner, ‚„Nun spricht ein heidnischer Meister …“. Meister Eckharts deutsche Predigten als Ort philosophischer Schriftauslegung‘, erscheint in V.S. Dóci (ed.), Bibelstudium und Predigt bei den Dominikanern, Dissertationes historicae / Archivum Fratrum Praedicatorum (Roma, 2018).

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Heiligen Schrift. Nach Karl Heinz Witte steht er an einem Wendepunkt der Geistesgeschichte. Allerdings wurde die durch ihn eröffnete Wende in der Folgezeit nicht wirklich vollzogen.14 Während Eckhart in der Gottverbundenheit ein Wesensmerkmal des Menschen sah, wurde in den nachfolgenden dominierenden Richtungen der Theologie Gott in die Übernatur verbannt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mensch sich anschickte, auf ganz ,natürliche‘ Weise zu leben, und das heißt: ohne Gott. Ist der zeitgenössische Nihilismus möglicherweise Folge einer Entwicklung, die anders verlaufen wäre, wenn die von Eckhart vertretene Richtung kirchlich und theologisch zum Zuge gekommen wäre? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. 1.1  Ziel des Vergleichs Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, das Ijobbuch des Alten Testaments von Meister Eckharts Liber Benedictus, insbesondere von dessen erstem Teil, dem Buch der göttlichen Tröstung, her zu verstehen. Angeregt ist die Untersuchung durch die Beobachtung, dass die im Buch Ijob präsentierte Antwort auf die darin aufgeworfene Frage nach dem Leiden des Gerechten von der zeitgenössischen Exegese und Theologie nicht selten als unbefriedigend angesehen wird. Im Anschluss an die Gottesreden erklärt Ijob den Streit mit Gott für beendet. Noch bevor er äußerlich wiederhergestellt wird, ist er mit Gott und der Welt versöhnt.15 Nach Felix Gradl hinterlassen die Gottesreden einen zwiespältigen Eindruck.16 Ihm zufolge ‚bleibt der ungute Geschmack des billigen Trostes zurück‘.17 Diese und ähnliche Äußerungen lassen die Frage aufkommen, ob das im Ijobbuch angelegte Problembewusstsein und der dialogisch-narrativ entfaltete Lösungsansatz nicht unterschätzt werden. Es gibt zu denken, dass das Leid in der christlichen Tradition nie zu einer derart grundsätzlichen Infragestellung des Glaubens geführt hat, wie es in der neuzeitlichen Philosophie der Fall ist. Der Behauptung, erst die 14. Karl Heinz Witte, ‚Eckhart lesen und mit ihm leben‘, MEJb 7 (2013), 195-235, 200. Vgl. auch id., Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung (München, 32013). 15. Vgl. Klaudia Engljähringer, Theologie im Streitgespräch. Studien zur Dynamik der Dialoge des Buches Ijob, SBS 198 (Stuttgart, 2003), 195. 16. Vgl. Felix Gradl, Das Buch Ijob, NSK.AT 12 (Stuttgart, 2001), 338. 17. F. Gradl, Das Buch Ijob (2001), 323.

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Neuzeit habe die Abgründigkeit menschlichen Leids erstmals als solche erkannt, kann die Frage entgegengehalten werden, ob diese Ansicht nicht um den Preis erkauft wurde, dass der Zugang zu jenen Einsichten verstellt wurde, die das Leiden als einen Weg zu Gott verstehen. Meister Eckhart zumindest ist der Ansicht, dass genau dies der Fall ist: ‚Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit trägt, ist das Leiden; denn es genießt niemand mehr ewige Süße als die, die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen‘.18 Da Gott selbst gelitten hat, führt der Weg des Leids nicht von Gott weg, sondern zu Gott hin. Der Mensch, so Eckhart, möge das ihm zugedachte Leid mit Geduld ertragen und es als eine Übung annehmen: ‚Das lass dir leid sein, und ertrage es mit Geduld, und nimm es als eine Übung, und sei zufrieden. Gott der leidet gern Schmach und Ungemach … Es steht geschrieben, und es spricht unser Herr, dass die selig sind, die da leiden um der Gerechtigkeit willen [Matth. 5,10]‘.19 Allerdings gilt es, zwischen zwei unterschiedlichen Formen des Leids zu unterscheiden. Es gibt das Leiden derer, die sich von Gott entfernt haben und dem Kreatürlichen verfallen sind. Diese Menschen leiden um ihrer selbst willen, und dieses Leiden tut weh: ‚Leidest du um deiner selbst willen, in welcher Weise es immer sei, so tut dir dieses Leiden weh und ist dir schwer zu ertragen‘.20 Diese Form des Leidens überwindet, wer sich Gott anheimgibt und ganz bei Gott ist. Auch dieser Mensch muss leiden, doch sein Leiden ist ‚leicht und süß‘: Leidest du aber um Gott und um Gottes willen allein, so tut dir dieses Leiden nicht weh und ist dir auch nicht schwer, denn Gott trägt die Last. In voller Wahrheit: Gäbe es einen Menschen, der um Gott und rein nur um Gottes willen leiden wollte, und fiele auf ihn alles das Leiden miteinander, das sämtliche Menschen je erlitten und das die ganze Welt mitsammen trägt, das täte ihm nicht weh und wäre ihm auch nicht schwer, denn Gott trüge die Last … Was immer der Mensch um Gott und um Gottes willen allein leidet, das macht ihm Gott leicht und süß.21 18. Eckhart, VA DW V 433, 1-3; trans. ibid. 547; EW II 459, 4-7. 19. Eckhart, RdU 23, DW V 304, 8-305, 3; trans. ibid. 537; EW II 429, 28-35. 20. Eckhart, Pr. 2, DW I 36, 8-37, 1; trans. ibid. 436; EW I 33, 6-8. 21. Eckhart, Pr. 2, DW I 37, 1-6; 38, 1-2; trans. ibid. 436-7; EW I 33, 8-21.

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In gewisser Weise ist dieses Leiden in und mit Gott kein Leiden mehr. Deshalb kann Eckhart an anderer Stelle sagen: ‚Solange der Mensch bei Gott ist, ist es unmöglich, dass er leide‘.22 Nimmt er das Leiden aus dem Willen Gottes heraus an, ist es ein Leid ohne Leid.23 Eckhart spricht in diesem Zusammenhang vom vollkommenen Leid. Der Unterscheidung Eckharts zwischen zwei unterschiedlichen Formen des Leidens entspricht der Sache nach die biblische Unterscheidung zwischen dem Leiden der Frevler und dem Leiden der Gerechten. Das Leiden der Frevler ist unfruchtbar und letztlich unerträglich. Doch auch die Gerechten müssen leiden. Ihr Leiden jedoch ist ein Leiden um Gottes und seiner Wahrheit willen; in seinem Innersten bleibt der Gerechte davon unberührt: ‚Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren‘ (Weish 3,1). Beide Aspekte des Leids können in einer Person zusammenkommen. Während seines Martyriums ruft der jüdische Schriftgelehrte Eleasar aus: ‚Mein Körper leidet qualvoll unter den Schlägen, meine Seele aber erträgt sie mit Freuden, weil ich ihn fürchte‘ (2Makk 6,30). Das Buch der göttlichen Tröstung, ‚für Eckharts Lehre ein Schlüsselwerk‘,24 lädt dazu ein, die Frage nach dem Leid und seiner Überwindung im Gespräch mit dem alttestamentlichen Buch Ijob neu aufzurollen. In einer Zeit, in der sich die Trennung von Exegese, systematischer Theologie und Philosophie in grundsätzlicher Weise bereits vollzogen hat,25 verfolgt Eckhart mit seinen Werken die Absicht, ‚die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen‘.26 Dieser von Eckhart erhobene Anspruch, die in der Heiligen Schrift angedeutete Wahrheit 22. Eckhart, Pr. 13, DW I 214, 7-8; trans. ibid. 480; EW I 155, 9-10. 23. Vgl. Eckhart, BgT 2, DW V 22, 9-19; trans. ibid. 477-8; EW II 253, 14-28. 24. Alois M. Haas, Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Dokimion 4 (Freiburg [Schweiz], 21989), 208. 25. Vgl. Marie-Dominique Chenu, La théologie comme science au XIIIe siècle (Paris, 1957); Jan A. Aertsen et al. (eds.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte, Miscellanea Mediaevalia 28 (Berlin, New York, 2001); Günther Mensching, De usu rationis. Vernunft und Offenbarung im Mittelalter (Würzburg, 2007); T. Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (2011), 212-5. 225-6. 239-41. 249-52. 26. Eckhart, In Ioh. n. 2, LW III 4, 4-6; EW II 488, 25-7: … intentio est auctoris, … ea quae sacra asserit fides christiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per rationes naturales philosophorum.

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mit den Gründen der natürlichen Vernunft beweisen zu können, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Im Prologus generalis in Opus tripartitum weist er darauf hin, dass vieles von dem, was er in dem von ihm geplanten Werk zu sagen beabsichtige, neu und ungewöhnlich sei und deshalb zunächst den Leser irritieren könne.27 Ja, beim ersten Anblick könne es sogar ‚ungeheuerlich, zweifelhaft oder gar falsch erscheinen‘.28 Doch ein genaueres Nachdenken, so Eckhart, werde zeigen, dass die Wahrheit und das Gewicht der Heiligen Schrift für das Gesagte ein hellleuchtendes Zeugnis ablege.29 1.2  Ein erster Eindruck: Die auffälligsten Entsprechungen Das Buch Ijob und Eckharts Buch der göttlichen Tröstung gehören zwei unterschiedlichen literarischen Gattungen an. Beim Ijobbuch handelt es sich um einen narrativ eingebetteten Dialog zwischen dem Protagonisten Ijob und seinen Freunden, nach dessen erfolglosem Ende Gott selbst in zwei langen Reden das Wort ergreift. Es wird diskutiert, ob das Ijobbuch als Lesedrama zu verstehen ist.30 Beim Buch der göttlichen Tröstung dagegen handelt es sich um einen argumentativ angelegten philosophischen Traktat. In diesem Buch, so Eckhart, wird eine ‚Lehre‘ niedergeschrieben.31 Mit dieser Lehre verfolgt Eckhart die Absicht, den Menschen zu trösten ‚in allem seinem Ungemach, Trübsal und Leid‘.32 Allerdings handelt es sich bei dem Traktat, wie wir noch sehen werden, nicht um ein Werk, das der zu seiner Zeit verbreiteten Trostliteratur im engeren Sinne zuzurechnen ist. Was im Buch der göttlichen Tröstung trösten soll, sind Einsicht und Vollzug einer philosophisch-theologischen Lehre. Die Frage nach der Intention des Ijobbuches wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Eine Auslegungsrichtung nimmt an, dass es sich um ein seelsorglich ausgerichtetes Buch handle. Nach Sicht von Manfred Oeming ‚ist das Hiobbuch seiner ganzen Anlage nach ein Lehrstück der „Seelsorge“. Es ist ein zum Kunstwerk ausgebautes Protokoll eines 27. Eckhart, Prol. gen. n. 2, LW I 148, 13-149, 2; LWSA I 2; EW II 463, 19-23. 28. Eckhart, Prol. gen. n. 7, LW I 152, 4-5; LWSA I 4; EW II 467, 26-8. 29. Eckhart, Prol. gen. n. 7, LW I 152, 5-7; LWSA I 4; EW II 467, 30-3. 30. Vgl. Bernhard Klinger, Im und durch das Leiden lernen. Das Buch Ijob als Drama, BBB 155 (Hamburg, 2007). 31. Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 9; trans. ibid. 471; EW II 233, 16. 32. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 10-1; trans. ibid. 471; EW II 233, 17-8.

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seelsorglichen Gesprächs … Es wird geredet, um zu trösten.‘33 Wenn dies der Fall sein sollte, gingen die Intentionen beider Schriften in die gleiche Richtung, allerdings auf sehr unterschiedlichen Wegen. Vor diesem Hintergrund fällt jedoch auf, dass Eckhart Ijob in der besagten Schrift mit keinem Wort ausdrücklich erwähnt. Auffallend ist allerdings, dass Eckhart an zwei oder drei Stellen auf Ijob anzuspielen scheint. Eine erste Anspielung findet sich zu Beginn seines Traktates, wo er von einem dreifachen Leid spricht. Eine zweite Anspielung lässt sich in der ausdrücklichen Zurückweisung der Ansicht erkennen, Leid sei als Folge menschlicher Schuld zu verstehen. Eckhart scheint hier die Freunde Ijobs im Blick zu haben, wenn er schreibt: Nun kann man erkennen und einsehen die Grobsinnigkeit der Leute, die es gemeinhin wundernimmt, wenn sie gute Menschen Schmerz und Ungemach erleiden sehen und ihnen dabei oft der Gedanke und der Wahn einfällt, dass es von der heimlichen Sünde jener herkomme, und sie sagen denn auch bisweilen: Ach, ich wähnte, dass jener Mensch gut sei.34 Eckhart dürfte also bei der Abfassung seiner Schrift das Ijobbuch vor Augen gestanden haben. Umso dringlicher stellt sich die Frage, weshalb er in seinem Buch der göttlichen Tröstung Ijob mit keinem Wort erwähnt, obwohl doch im Buch Ijob wie in keiner anderen Schrift der Bibel das Leid ebenso wie der Trost derart im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. 2.  Das Buch der göttlichen Tröstung 2.1 Entstehung Der Liber Benedictus besteht aus zwei Schriften, dem Traktat Das Buch der göttlichen Tröstung (BgT) und der Lesepredigt Vom edlen Menschen (VeM). Sowohl die handschriftliche Überlieferung als auch Hinweise im

33. Manfred Oeming, Wolfgang Drechsel, ‚Das Buch Hiob – ein Lehrstück der Seelsorge? Das Hiobbuch in exegetischer und poimenischer Perspektive‘, in T. Krüger et al. (eds.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen. Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.19. August 2005, AThANT 88 (Zürich, 2007), 421-40, 422-3. 34. Eckhart, BgT 2, DW V 55, 11-5; trans. ibid. 494; EW II 303, 26-31.

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Text selbst bezeugen die Zusammengehörigkeit beider Schriften.35 Der Titel Buch der göttlichen Tröstung stammt nicht von Eckhart, sondern wurde von einem späteren Schreiber hinzugefügt. Der Überlieferung nach soll Eckhart den Liber Benedictus der ‚leidgeprüften‘ Königin Agnes von Ungarn gewidmet haben. Diese hatte im Jahre 1301 ihren Gatten, 1308 ihren Vater, König Albrecht I. von Habsburg, und 1313 ihre Mutter verloren. Ihr Vater wurde von seinem Neffen Herzog Johann von Schwaben ermordet. Kurt Ruh jedoch relativiert den in der Forschung in diesem Zusammenhang gewöhnlich verwendeten Begriff ‚leidgeprüft‘ und weist darauf hin, dass Das Buch der göttlichen Tröstung zwar nicht gänzlich außerhalb der traditionellen mittelalterlichen Trostliteratur steht, in ihr aber doch insofern eine Sonderstellung einnimmt, als es Eckhart in dieser Schrift nicht darum geht, einem bestimmten Menschen in einer konkreten Leidsituation Trost zuzusprechen. Vielmehr handelt es sich um eine ins Grundsätzliche gehende, metaphysisch begründete Form des Trostes, die für jeden Menschen, insofern er Mensch ist, gilt. Nicht zuletzt aufgrund dieser Eigenart stellt Kurt Ruh die verbreitete und auch von ihm selbst zunächst übernommene Annahme, Eckhart habe das Buch der Königin Agnes von Ungarn gewidmet, infrage.36 Wie dem auch sei, die Schrift dürfte in Eckharts Straßburger Zeit, also zwischen 1313 und 1323, entstanden sein. Eckhart selbst gliedert die erste Schrift, Das Buch der göttlichen Tröstung, in drei Teile. Der erste Teil ist ein systematisch angelegter, philosophisch-theologischer Traktat, in dem jene Wahrheit dargelegt wird, ‚von der zu entnehmen ist, was den Menschen füglich und gänzlich trösten kann und wird in allem seinem Leid‘.37 Im zweiten Teil findet man eine Zusammenstellung von dreißig ‚Lehren, in deren jeglicher man recht und völlig Trost zu finden vermag‘.38 Hierbei handelt es sich um eine Zusammenstellung von Worten und Gedanken vor allem aus der 35. Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. III: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik (Würzburg, 1996), 308-9. 36. K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. III (1996), 322. Im Anhang zum entsprechenden Kapitel schreibt er: ‚Wenigstens in einer Art Fußnote möchte ich doch einem Zweifel Ausdruck geben, der immer stärker in mir umgeht und sich zur These verdichtet: Eckhart hat den „Liber Benedictus“ nicht für die Königin Agnes, sondern für trostbedürftige Menschen seiner Lebenswelt geschrieben, Schwestern und Brüder, denen er predigte.‘ 37. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 10-1; trans. ibid. 471; EW II 233, 20-2. 38. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 14-5; trans. ibid. 471; EW II 233, 23-4.

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Heiligen Schrift, die dem Menschen helfen können, in rechter Weise Trost zu finden. Der dritte Teil ist ähnlich ausgerichtet und stellt Personen vor, die sich im Leid vorbildlich verhalten haben. Es fällt auf, dass weder hier noch sonst in der Schrift Ijob namentlich genannt wird. 2.2  Der erste Teil: Metaphysische Grundlegung des Trostes Eckhart nennt im ersten Abschnitt seiner Schrift ‚dreierlei Betrübnis, die den Menschen anrührt und bedrängt in diesem Elend‘39: den Schaden an äußerem Gut, den Schaden, der Verwandten und Freunden zustößt, und den Schaden, der einem Menschen ‚selbst widerfährt in Geringschätzung, Ungemach, körperlichen Schmerzen und Herzeleid‘.40 Die Aufzählung eines dreifachen Leids könnte als Anspielung auf den Prolog des Ijobbuches verstanden werden. Auch Ijob wird von genau diesen drei Formen des Leids getroffen: zunächst verliert er Hab und Gut (Ijob 1,137: Knechte, Schafe, Kamele), dann seine zehn Kinder (Ijob 1,18-9), und schließlich wird er selbst mit schwerem Aussatz geschlagen (Ijob 2,7). Das dreifache Leid, das Eckhart vor Augen steht, deckt das gesamte Spektrum dessen ab, was auch Ijob an Leid widerfährt. Der Schlüssel zum Verständnis der Eckhart’schen Lehre vom Trost findet sich in der Bestimmung des Verhältnisses der transzendentalen Allgemeinbegriffe (perfectiones generales) zu ihren irdischen Trägern. Es handelt sich bei diesen Ausführungen Eckharts um ‚ein Kernstück seines Denkens‘.41 Es durchzieht in gleicher Weise seine philosophisch-theologischen Werke und Bibelkommentare wie seine Predigten. Eckharts praktische Theologie und Seelsorge, die auf eine breite Zuhörerschaft hin ausgerichtet ist, folgt demnach keinen anderen Prinzipien als seine für ein Fachpublikum verfassten wissenschaftlichen Werke.42 Von zentraler Bedeutung dabei ist der Begriff der Geburt. Weisheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gutheit sind weder geschaffen noch 39. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 4-5; trans. ibid. 471; EW II 233, 9-10. 40. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 7-8; trans. ibid. 471; EW II 233, 11-5. 41. Niklaus Largier, Kommentar zum BgT, EW II 755. Zu Eckharts Lehre von den Transzendentalien vgl. Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie – Univozität – Einheit (Hamburg, 1983), 65-74; Reiner Manstetten, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes (Freiburg i.Br., München, 1993), 262-92. 42. Vgl. Eckhart, Prol. gen. n. 8, LW I 152, 8-153, 11; LWSA I, 5-9.

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gemacht noch geboren, sie gebären jedoch ihrerseits den Weisen, den Wahren, den Gerechten und den Guten. ‚Die Gutheit gebiert sich und alles, was sie ist, in dem Guten‘.43 Die Gutheit und der Gute sind somit in ihrem Sein eins. Der einzige Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass die Gutheit gebiert und der Gute geboren wird. Der Gute empfängt alles, was er ist, von der Gutheit. Die Gutheit des Guten ist ihm von der ungeborenen Gutheit eingeboren. Der Gute ist also der eingeborene Sohn der Gutheit. Es ist offenkundig, dass Eckhart das Verhältnis der Transzendentalien zu ihren individuellen Trägern nach genau demselben Schema wie den innertrinitarischen Prozess der Geburt des Sohnes aus dem Vater versteht.44 Der Mensch wird Sohn Gottes, wenn er sich seines kreatürlichen Geschaffenseins in der Zeit zugunsten seines Geborenseins vor der Zeit entäußert. Zur Begründung verweist Eckhart auf Joh 1,12-3: ‚Denn so spricht Sankt Johannes in seinem Evangelium, dass „allen denen Macht und Vermögen gegeben ist, Gottes Söhne zu werden, die nicht vom Blute noch vom Willen des Fleisches noch vom Willen des Mannes, sondern von Gott und aus Gott allein geboren sind“.‘45 Das Leid entsteht nach Eckhart dadurch, dass sich der Mensch von Gott abwendet und dem Kreatürlichen anheimgibt. So kann ihn das kreaturhafte Unrecht erreichen und ins Leid stürzen. In dem Maße nun, in dem sich der Mensch seines kreaturhaften Seins entäußert (‚entbildet‘) und ganz in Gott eingeht, erfährt er Trost, da er in seinem Geborensein aus Gott mit diesem eins ist und somit von keinem äußeren Schaden erreicht werden kann. In Gott ist weder Traurigkeit noch Leid noch Ungemach. Willst du alles Ungemachs und Leids ledig sein, so halte dich und kehre dich in Lauterkeit nur zu Gott. Sicherlich, alles Leid kommt nur daher, dass du dich nicht allein in Gott und zu Gott kehrst. Stündest du ausschließlich in die Gerechtigkeit gebildet und geboren da, fürwahr, so könnte dich ebensowenig irgend etwas in Leid bringen wie die Gerechtigkeit Gottes selbst.46 43. Eckhart, BgT 1, DW V 9, 9; trans. ibid. 471; EW II 235, 6-7. 44. Zum Motiv der Gottesgeburt bei Eckhart vgl. vor allem N. Largier, Kommentar zu Pr. 6, EW I 814-8. 45. Eckhart, BgT 1, DW V 10, 15-20; trans. ibid. 472; EW II 237, 8-13. 46. Eckhart, BgT 1, DW V 12, 2-7; trans. ibid. 473; EW II 239, 12-9.

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Diese Lehre, so Eckhart, entspricht dem Evangelium und kann zugleich mit dem natürlichen Lichte der Vernunft mit Sicherheit als wahr erkannt werden.47 In ihr ‚findet der Mensch wahren Trost für alles Leid‘.48 Als biblischen Beleg für seine These, dass den Gerechten, insofern er gerecht ist, kein Leid erreichen kann, zitiert er aus dem Buch der Sprichwörter Salomos (Spr 12,21): ‚Den Gerechten betrübt nichts von alledem, was ihm widerfahren mag‘.49 Anhand dieses Zitats trifft Eckhart eine wichtige Unterscheidung: Er unterscheidet zwischen dem Gerechten und dem gerechten Menschen. Was Eckhart bisher von der Gerechtigkeit gesagt hat, gilt in gleicher Weise vom Gerechten, nicht jedoch vom gerechten Menschen. Wahres Sohnsein und damit wahre Gerechtigkeit kommen nur dem Gerechten zu. Er ist als ungeschaffener Sohn der Gerechtigkeit ganz in Gott und aus Gott und kann von keinem Leid berührt werden.50 Anders steht es um den gerechten Menschen. Dieser lebt nicht rein aus der Gerechtigkeit und aus Gott, sondern auch aus seinem zeitlichen Geschaffensein. Er kann durch Akzidentelles betroffen werden. Er ‚hat einen Vater auf Erden und ist Kreatur, gemacht und geschaffen‘.51 Da er aus seinem Geschaffensein heraus lebt, wird er, wie alles Geschaffene, vom Leid berührt. Will er frei werden von allem Leid, so hat er sein Geschaffensein zugunsten seines Geborenseins aufzugeben: ‚Drum soll der Mensch sich sehr befleißigen, dass er sich seiner selbst und aller Kreaturen entbilde und keinen Vater kenne als Gott allein; dann kann ihn nichts in Leid versetzen oder betrüben, weder Gott noch die Kreatur, weder Geschaffenes noch Ungeschaffenes, und sein ganzes Sein, Leben, Erkennen, Wissen und Lieben ist aus Gott und in Gott und ist Gott selbst‘.52 Konkret geschieht dies dadurch, dass sich der Mensch von allem Geschaffenen ab- und Gott zuwendet.53 Das Leid wird nach Eckhart letztlich nicht dadurch überwunden, dass es im Bereich des Kreatürlichen beseitigt wird. Weder wird die an Gott gerichtete Bitte, dem Menschen das Leid abzunehmen, noch der an den Menschen gerichtete Aufruf, sich dem Leid entgegenzustemmen, 47. Eckhart, BgT 1, DW V 11, 20-2; trans. ibid. 473; EW II 239, 5-8. 48. Eckhart, BgT 1, DW V 11, 21-2; trans. ibid. 473; EW II 239, 7-8. 49. Eckhart, BgT 1, DW V 12, 7-8; trans. ibid. 473; EW II 239, 20-1. 50. Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 12, 12-6; trans. ibid. 473; EW II 239, 28-33. 51. Eckhart, BgT 1, DW V 12, 11-2; trans. ibid. 473; EW II 239, 25-7. 52. Eckhart, BgT 1, DW V 12, 21-13, 4; trans. ibid. 473; EW II 241, 4-11. 53. Vgl. Eckhart, BgT 1, DW V 12, 3-7; trans. ibid. 473; EW II 239, 13-9.

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zum wahren und bleibenden Trost führen. Solange der Mensch dem Kreatür­lichen verhaftet bleibt, muss er leiden. Natürlich kann er sich in der Welt des Kreatürlichen Erleichterung verschaffen. Eckhart verachtet das nicht, im Gegenteil. Im zweiten Teil seiner Schrift stellt er ‚etwa dreißig Stücke‘ vor, durch die ein Mensch Trost finden kann in seinem Leid. Es handelt sich um lebenspraktische Ratschläge, die der Welt menschlicher Erfahrung entnommen sind. Dieser zweite Teil der Schrift ist jedoch im Lichte des ersten Teils zu lesen. Die berechtigten Bemühungen, in der Welt des Kreatürlichen Trost zu finden, werden nur dann der Gefahr einer in die Verzweiflung führenden und letztlich vergeblichen Anstrengung entgehen, wenn sie im Lichte jener Übung verstanden werden, die dem Menschen hilft, in die Dimension des SohnSeins zu gelangen. Entsprechend werden die praktischen Ratschläge des zweiten Teils immer wieder in den Horizont der grundsätzlichen Erwägungen des ersten Teils gerückt. Damit ist die Frage angesprochen, ob der Mensch durch geistige Übungen in die göttliche Dimension seines Sohn-Seins hineingelangen kann. Wird Übung in diesem Zusammenhang recht verstanden, so ist die Frage eindeutig zu bejahen. Theo Kobusch spricht von metaphysischen Übungen und von der ‚Übung der Selbstvergessenheit‘.54 Eckhart war nicht nur Lese-, sondern auch Lebemeister: ‚Der Lesemeister ist der Meister der theoretischen Metaphysik, der Lebemeister lehrt – gemäß auch einer alten Tradition – die Philosophie des Lebens, er lehrt die Philosophie als Lebensform.‘55 Wenn Eckhart sich kritisch zu übertriebenen Formen der Askese äußert, so ist dies nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der Mensch, der in sein wahres Menschsein hineinfinden will, keinerlei Übung bedarf. Eckhart wendet sich gegen ein instrumentelles Missverständnis geistiger Übungen. ‚Die Verwandlung des Menschen und die Erzeugung des Sohn-Seins‘ ist nach Reiner Manstetten bei Eckhart nicht als ‚eigene Leistung des Menschen‘ zu verstehen. Sie ‚kann nicht zum Worum-Willen bestimmter Anstrengungen gemacht werden. 54. T. Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (2011), 383. 55. T. Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (2011), 379. Eckhart nimmt damit die später von Kant so bezeichnete Unterscheidung zwischen der ‚Philosophie nach dem Schulbegriff‘ und der ‚Philosophie nach dem Weltbegriff‘ vorweg, trennt die beiden Formen des philosophischen Wissens aber nicht voneinander und spielt sie auch nicht gegeneinander aus, sondern ist darum bemüht, sie zusammenzuhalten und zu integrieren.

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Dennoch bedarf es einer bestimmten Art von Geübtheit im Annehmen, um in die Dimension des Sohn-Seins zu gelangen.‘56 Die Übung, um die es bei Eckhart geht, ist die Übung der inneren Sammlung: Ein Anfänger, der mit einem guten Leben beginnen soll, der beachte folgenden Vergleich: Wer einen Kreis ziehen will, – wie der zuerst den Fuß [= Standfuß] setzt, so bleibt er stehen, bis er den Kreis [mit dem andern Fuß oder mit einem Bindfaden] vollendet; dann wird der Zirkel gut. Das will sagen: Der Mensch lerne zuerst, dass sein Herz beständig werde, dann wird er beständig in allen seinen Werken. Was immer er an großen Dingen tut, – ist sein Herz unbeständig, so hilft es nichts.57 Nach Manstetten ist für Eckhart ‚Ruhe … das Ziel aller Übung. Zwar impliziert Ruhe in gewisser Weise eine Ruhigstellung des äußeren Menschen, aber sie muss im Innern geübt und gefestigt werden. Der Anfänger eines geistigen Lebens soll deswegen seine Übung im Innern, im Herzen, dem Zentrum der Lebenskräfte, beginnen, nicht mit der Verrichtung besonderer Tätigkeiten‘.58 Theo Kobusch weist darauf hin, dass Eckhart damit in einer bis in die Patristik und die antike Philosophie reichenden Tradition steht, ‚in der die Metaphysik als eine geistige Übung, als die Übung der Gottangleichung oder Gottwerdung verstanden wird.‘59 Entsprechend kennt Eckhart durchaus verschiedene Grade des Trostes. Im mittelhochdeutschen Text verwendet er in diesem Zusammenhang das Wort wîte, von Quint mit ‚Abstufungsweite‘ ins Neuhochdeutsche übersetzt.60 Eckhart erläutert den Gedanken wie folgt: So sage ich auch, dass ein guter Mensch wohl ein guter Mensch sein kann und doch von natürlicher Liebe zu Vater, Mutter, Schwester, Bruder mehr oder weniger berührt werden und schwanken, jedoch nicht von Gott noch von der Gutheit abfällig werden kann. Indessen ist er in dem Maße gut und besser, in dem er weniger und mehr getröstet und berührt wird von natürlicher

56. R. Manstetten, Esse est Deus (1993), 527-8. 57. Eckhart, Pr. 81, DW III 397, 4-8; trans. ibid. 577; EW II 169, 18-26. 58. R. Manstetten, Esse est Deus (1993), 531. Zum Thema Übung bei Meister Eckhart vgl. ibid., 527-37. 547; vgl. grundlegend zu diesem Thema: Andreas Schönfeld, Meister Eckhart. Geistliche Übungen. Meditationspraxis nach den ‚Reden der Unterweisung‘ (Mainz, 2002). 59. T. Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (2011), 385. 60. Vgl. Eckhart, BgT 2, DW V 25, 8; trans. ibid. 479; EW II 256, 18.

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Liebe und Zuneigung zu Vater und Mutter, Schwester und Bruder und zu sich selbst und sich ihrer bewusst wird.61 Eckhart fügt jedoch sogleich hinzu, dass sich der Mensch gerade mit dieser Schwäche ganz in Gottes Willen hineinbegeben soll, dann ‚stünde es ganz recht mit ihm, und er würde sicherlich im Leiden getröstet‘.62 3.  Eingehender Vergleich: Leid als Weg zu Gott Auf den ersten Blick scheint das Eckhart’sche Modell des Trostes nicht mit dem kompatibel zu sein, was im Buch Ijob erzählt wird. Darin wird geklagt und gerungen, und am Ende spricht Gott. Die jüngere Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte hebt vor allem den aporetischen Charakter des Buches hervor. Der Ijob des Dialogteils, ‚Ijob, der Rebell‘, dessen Fragen unbeantwortet bleiben, beherrscht das Bild.63 Der Ijob der Rahmenerzählung, ‚Ijob, der Dulder‘, der die ältere Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte geprägt hat, tritt in den Hintergrund.64 Eine Lektüre des Buches im Lichte der Philosophie Meister Eckharts vermag Sinndimensionen des Textes zu erschließen, die in seiner bisherigen Rezeptions- und Auslegungsgeschichte kaum zur ­Geltung gekommen sind. Mehr noch: die theologisch-spekulative Lehre Eckharts kann ­helfen, einige der als provokant empfundenen Züge des Buches, mit denen sich Forschung und Auslegungsgeschichte bis in die Gegenwart hinein schwergetan oder die sie geradezu übersehen haben, besser zu verstehen.

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61. Eckhart, BgT 2, DW V 25, 10-6; trans. ibid. 479; EW II 257, 22-30; Hervorhebung von

62. Eckhart, BgT 2, DW V 25, 21; trans. ibid. 479; EW II 259, 1-2. 63. Vgl. den instruktiven Überblick von Georg Langenhorst, ‚„Sein haderndes Wort“ (Paul Celan) – Hiob in der Dichtung unserer Zeit‘, in T. Seidl and S. Ernst (eds.), Das Buch Ijob. Gesamtdeutungen – Einzeltexte – Zentrale Themen, ÖBS 31 (Frankfurt a.M., 2007), 279-304 (dort weitere Literatur). ‚Vor allem in seiner Rezeptionsgeschichte lebt der alttestamentliche Hiob weiter, stellt er seine Warum-Frage bis in unsere Gegenwart und wird sie weiter stellen, eben weil sie – im Sinne einer Theodizee, also der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens – schlichtweg unbeantwortbar ist‘ (ibid., 304). Vgl. auch Ludger Schwienhorst-Schönberger, ‚„Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks.“ Joseph Roths „Hiob“ vor dem Hintergrund seiner biblischen Vorbilder‘, in J.G. Lughofer (ed.), Im Prisma: Joseph Roths Romane, Bd. I (Wien, St. Wolfgang, 2009), 223-36. 64. Ein knapper Überblick dazu findet sich bei F. Gradl, Das Buch Ijob (2001), 353-5.

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3.1  Leid – keine Folge menschlicher Schuld Als erstes wird vor dem Hintergrund der Lehre Eckharts verständlich, warum Ijob leiden muss. Das Leid, von dem Eckhart im Liber Benedictus spricht, hat nichts mit menschlicher Schuld zu tun. Das Motiv der göttlichen Strafe spielt in der Theologie des Leids bei Eckhart keine Rolle. Leid ist keine Strafe Gottes im eigentlichen Sinn. Es hängt vielmehr mit der Kreatürlichkeit des Menschen zusammen, genauer: mit der Bindung des Menschen an sein zeitliches Geschaffensein. Dies jedoch ist kein Schicksal, sondern Folge einer Wahl. In gewisser Weise ist das Leid dann doch eine Folge menschlichen Fehlverhaltens, aber nicht in dem Sinn, dass der Mensch ein Gebot Gottes übertreten hätte und dafür von Gott bestraft würde, sondern in dem Sinn, dass der Mensch nicht aus dem ungeschaffenen Grund seines Lebens heraus lebt, sondern sich und sein Leben vom Zeitlichen her bestimmt und bestimmen lässt. In diesem Sinne hält das Ijobbuch daran fest, dass Ijob keine Schuld auf sich geladen hat. Natürlich kennt das Buch die im Alten Testament breit bezeugte Ansicht, wonach Gott Menschen für ihr sittliches Fehlverhalten straft. Auch die Freunde Ijobs versuchen, das Leid ihres Freundes mit Hilfe dieser Deutung zu erklären und zu verstehen: ‚Bedenke doch: Wer geht ohne Schuld zugrunde, und wo kommen Redliche um?‘, gibt Elifas Ijob zu bedenken. Vor allem im dritten Redegang (Ijob 22-8) erheben die Freunde Ijob gegenüber den Vorwurf, er habe schwere Verbrechen begangen: ‚Ist nicht groß deine Bosheit, ohne Ende dein Verschulden? Du hast gepfändet deine Brüder ohne Grund, hast Nackten ihre Kleider ausgezogen‘, wirft ihm Elifas vor (Ijob 22,5-6). Ijob weist die Vorwürfe seiner Freunde zurück und betont seine Unschuld (Ijob 31). Der allwissende Erzähler stellt dies nicht in Frage. Auch Gott spricht Ijob nicht schuldig. Vielmehr weist er die Freunde, die dies getan haben, mit einem an Elifas gerichteten Wort zurecht: ‚Mein Zorn ist entbrannt gegen dich und deine beiden Gefährten, denn ihr habt nicht recht zu mir gesprochen wie mein Knecht Ijob‘ (Ijob 42,7). So geht es im Buch Ijob wie in der Trostschrift Eckharts um ein Leid, das nicht als Folge einer menschlichen Schuld im engeren Sinne zu verstehen ist. Von der im Prolog eröffneten Erzähllogik her gesehen, muss Ijob leiden, weil er ‚einem himmlischen Test unterworfen‘ wird: ‚Gott

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betreibt ein grausames Experiment mit Hiob‘.65 Mit dem Experiment möchte Gott in Erfahrung bringen, ob der vom Satan geäußerte Verdacht, Ijobs Frömmigkeit sei eigennützig, zutreffend ist. ‚Hiobs Leiden hat seinen Grund weder darin, dass Hiob sich aktuell gegen Gott vergangen hat, noch darin, dass er als Mensch vor Gott ja gar nicht gerecht sein kann, und auch die göttliche Erziehungsmaßnahme muss ausscheiden. Der Grund für Hiobs Leiden liegt allein im grausamen himmlischen Test, den Gott und der Satan mit ihm treiben, wie es der Prolog mit aller Klarheit statuiert.‘66 In metaphysischer Hinsicht präsentiert das Buch also keine Antwort auf die Frage nach dem Leid. Gerade diese metaphysische Offenheit ermöglicht es, über die im Buch erzählte Lösung nachzudenken. Die Lehre Meister Eckharts bietet dazu überraschende Ansatzpunkte. Mit den Augen Eckharts gelesen, geht Ijob den Weg vom gerechten Menschen zum Gerechten. Als gerechter Mensch muss Ijob leiden, da er noch mit dem Kreatürlichen behaftet und noch nicht ganz in Gott eingegangen ist. Genau diesen Verdacht äußert auch der Satan im Prolog. Ijobs Frömmigkeit, so der Satan, sei eigennützig. Er sei gottesfürchtig, weil er persönlich einen Vorteil davon habe: Ist Ijob ohne Grund gottesfürchtig? Beschützt du ihn nicht, sein Haus und alles, was ihm gehört, von allen Seiten? Das Werk seiner Hände hast du gesegnet, und sein Besitz hat sich ausgebreitet im Land. Aber streck’ doch deine Hand aus und rühr an alles, was ihm gehört. Wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht fluchen (Ijob 1,9-11). Der Gedanke fügt sich mit einer Beobachtung, die eine Differenz zwischen dem hebräischen Text und seiner griechischen Übersetzung betrifft. Im Masoretischen Text wird Ijob im Prolog mit folgenden vier Prädikaten vorgestellt: ‚Ein Mann lebte einst im Lande Uz. Ijob war sein Name. Dieser Mann war rechtschaffen und untadelig, gottesfürchtig und dem Bösen fern‘ (Ijob 1,1). Der Sache nach wird Ijob hier als ein gerechter Mann vorgestellt, auch wenn das gewöhnlich dafür verwendete hebräische Wort sadiq an dieser Stelle nicht vorkommt. Es ist nun interessant 65. Konrad Schmid, Hiob als biblisches und antikes Buch. Historische und intellektuelle Kontexte seiner Theologie, SBS 219 (Stuttgart, 2010), 21. 66. K. Schmid, Hiob als biblisches und antikes Buch (2010), 23.

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zu sehen, dass die Septuaginta in die Mitte der vierfachen Prädikation das Wort δίκαιος (‚gerecht‘) einfügt. Sie zeichnet damit gleich zu Beginn der Exposition Ijob als den Prototyp des Gerechten.67 Die Vulgata hingegen hält sich relativ wörtlich an die vierfache Qualifikation Ijobs, wie sie in der hebräischen Vorlage anzutreffen ist: ‚Erat vir simplex et rectus ac timens Deum et recedens a malo‘. Aus Eckharts Sicht gelesen, ist die Qualifikation Ijobs im Prolog im Sinne eines gerechten Menschen zu verstehen. Hervorgehoben werden sein Reichtum und seine Frömmigkeit. Mit Eckhart gesprochen, lebt Ijob im Modus des kreatürlichen Seins. Er ist ein gerechter Mensch. Das Leid, das ihn trifft, nimmt ihm alles, ‚was ihm gehört‘ (Ijob 1,10): seinen Besitz, seine Kinder, seine Gesundheit und schließlich sogar seinen Glauben (vgl. Ijob 6,14). Im Unterschied zum Prolog ist im Epilog nicht mehr davon die Rede, dass Ijob an Gott glaubt. Der dafür im Alten Testament üblicherweise verwendete Begriff ‚gottesfürchtig‘, der im Prolog insgesamt viermal begegnet (Ijob 1,1; 1,8-9; 2,3), findet sich im Epilog nicht mehr. Ijob ist den Weg vom Glauben zum Schauen gegangen: ‚Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut‘ (vgl. Ijob 42,5).68 Mit Eckhart gesprochen: Ijob ist von einem gerechten Menschen zu einem Gerechten geworden. Der Gerechte ist nach Eckhart so arm, dass er alles gelassen hat, sogar Gott: ‚So denn sagen wir, dass der Mensch so arm dastehen müsse, dass er keine Stätte sei noch habe, darin Gott wirken könne … Darum bitte ich Gott, dass er mich „Gottes“ quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Ursprung der Kreaturen fassen‘.69 3.2  Grenzen menschlichen Tröstens Ijobs Freunde sind gekommen, um ihren vom Leid schwer getroffenen Freund zu trösten. Die Erzählung lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihr Trost ernst gemeint ist. Schon bald zeigt sich jedoch, dass 67. Vgl. dazu Ludger Schwienhorst-Schönberger, ‚Weisheit und Gottesfurcht. Ihr Verhältnis zueinander in den weisheitlichen Schriften nach MT und LXX‘, in S. Kreuzer et al. (eds.), Die Septuaginta – Entstehung, Sprache, Geschichte, WUNT 286 (Tübingen, 2012), 112-34, 129-30. 68. Vgl. dazu Ludger Schwienhorst-Schönberger, ‚Vom Glauben zum Schauen. Der Weg Ijobs‘, in T. Pröpper et al. (eds.), Mystik – Herausforderung und Inspiration. FS Gotthard Fuchs zum 70. Geburtstag (Ostfildern, 2008), 150-9. 69. Eckhart, Pr. 52, DW II 502, 4-7; trans. ibid. 730; EW I 561, 16-22.

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ihre Worte Ijob nicht wirklich zu trösten vermögen. Im Laufe des Dialogteils entwickelt sich eine zunehmende Entfremdung zwischen Ijob und seinen Freunden, bis schließlich im letzten und dritten Redegang (Ijob 22-8) ihre Beziehung in offene Feindschaft umschlägt. Auch ein später hinzugekommener vierter Freund, Elihu mit Namen, der eine hoch reflektierte, spirituell ausgerichtete Theologie vertritt, ist nicht in der Lage, das Defizit der Freunde, das er klar erkannt hat, zu kompensieren. Ijob bleibt auf der Ebene des rein Menschlichen ungetröstet und spricht dies auch deutlich aus: ‚Leidige Tröster seid ihr alle‘ (Ijob 16,2). In der Forschung wird die Frage gestellt, was die Freunde eigentlich falsch gemacht haben. Auf die unterschiedlichen Antworten soll hier nicht weiter eingegangen werden. Aus der Perspektive Eckharts stellt sich der Sachverhalt so dar, dass es eine Dimension des Trostes gibt, die von menschlichem Zuspruch grundsätzlich nicht erreicht werden kann. Der gescheiterte Dialog zwischen Ijob und seinen Freunden würde in diesem Fall die prinzipiellen Grenzen menschlichen Tröstens anschaulich vor Augen führen. Dieser Deutung kommt insofern eine gewisse Plausibilität zu, als das Angebot an Trost, das die Freunde zu bieten haben, in der Tradition des Alten Testaments breit belegt ist. Sie scheitern, obwohl ihre Worte und ihre Theologie ‚richtig‘ sind. Aus der Sicht Eckharts muss das notwendig so sein; kann seiner Ansicht nach der Mensch wahren Trost doch nur finden, wenn er die Ebene des Kreatürlichen grundsätzlich verlässt: Willst du volle Freude und Trost haben und finden in Gott, so sieh zu, dass du ledig seist aller Kreaturen, allen Trostes von den Kreaturen; denn sicherlich, solange dich die Kreatur tröstet und zu trösten vermag, findest du niemals rechten Trost. Wenn dich aber nichts zu trösten vermag als Gott, wahrlich, so tröstet dich Gott und mit ihm und in ihm alles, was Wonne ist. Tröstet dich, was nicht Gott ist, so hast du weder hier noch dort Trost. Tröstet dich hingegen die Kreatur nicht und schmeckt sie dir nicht, so findest du sowohl hier wie dort Trost.70

70. Eckhart, BgT 2, DW V 29, 14-30, 2; trans. ibid. 481; EW II 263, 14-21.

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Eckhart deutet in dem letzten der hier zitierten Sätze an, dass mensch­ licher Trost erst dann seine Wirkung entfalten kann, wenn der Mensch zuvor in Gott Trost gefunden hat. Damit dies geschieht, muss er zunächst sämtlichen Trost der Kreaturen lassen: Kein Gefäß kann zweierlei Trank in sich fassen. Soll es Wein enthalten, so muss man notgedrungen das Wasser ausgießen; das Gefäß muss leer und ledig werden. Darum: sollst du göttliche Freude und Gott aufnehmen, so musst du notwendig die Kreaturen ausgießen. Sankt Augustinus sagt: Gieß aus, auf dass du erfüllt werdest. Lerne nicht lieben, auf dass du lieben lernst. Kehre dich ab, auf dass du zugekehrt werdest. Kurz gesagt: Alles, was aufnehmen und empfänglich sein soll, das soll und muss leer sein.71 Ijob ist diesen von Eckhart beschriebenen Weg gegangen. Im Laufe des Dialogs wendet er sich in zunehmendem Maße von seinen Freunden ab und Gott zu. Die letzten Worte Ijobs im Dialogteil sind ganz auf Gott hin ausgerichtet. Sie werden in der Forschung gewöhnlich als ‚Herausforderungsreden Ijobs‘ bezeichnet (Ijob 29-31). Aus ihnen gewinnt man den Eindruck, als ginge es Ijob jetzt gar nicht mehr um die Wiedererlangung seiner Gesundheit, sondern allein darum, mit Gott in Kontakt zu kommen: ‚Gäbe es doch einen, der mich hört! Hier ist mein Zeichen! Der Allmächtige antworte mir!‘ (Ijob 31,35). Aus dieser radikalen Hinwendung zu Gott, die eine ebenso radikale Abkehr von allem Kreatürlichen impliziert, ergibt sich nach Eckhart mit Notwendigkeit, dass Gott sich in die entleerte Seele ergießt. Eckhart greift immer wieder auf Beispiele aus der Natur zurück, um diesen Prozess als einen geradezu naturnotwendigen Vorgang zu beschreiben: Wäre der Mensch imstande und könnte er einen Becher vollkommen leer machen und leer halten von allem, was zu füllen vermag, auch von Luft, der Becher würde zweifellos seine Natur verleugnen und vergessen, und die Leere trüge ihn hinauf bis zum Himmel. Ebenso trägt Bloß-, Arm- und Leer-Sein von allen Kreaturen die Seele auf zu Gott.72

71. Eckhart, BgT 2, DW V 28, 3-9; trans. ibid. 480; EW II 261, 12-21. 72. Eckhart, BgT 2, DW V 30, 5-9; trans. ibid. 481; EW II 263, 24-9.

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Der hier beschriebene Prozess ist nach Eckhart ‚notwendig wahr‘.73 Er ist ein ‚Naturgesetz‘ des göttlichen Wesens. Biblisch gesehen, entspricht dem der universale Heilswille Gottes. Ijob geht den Weg vom menschlichen zum göttlichen Trost. Dieser Weg wird ihm nicht zuletzt aufgrund des Fehlverhaltens seiner Freunde gewiesen. Zu Recht wird die Frage gestellt, was die Freunde eigentlich falsch machen. Alles, was sie sagen, hat eine Grundlage in der Heiligen Schrift. Von Eckhart her gesehen, besteht das Problem darin, dass es bei den Worten der Freunde, die vor allem im ersten Redegang noch gut und aufrichtig gemeint sind, letztlich doch nur um einen rein menschlichen Trost geht. Sie können erst dann ihre tröstende Kraft entfalten, wenn sich ihre Dimension auf den göttlichen Trost hin geöffnet hat. In diesem Sinne dürfte die Aussage Eckharts zu verstehen sein: ‚Tröstet dich hingegen die Kreatur nicht und schmeckt sie dir nicht, so findest du sowohl hier wie dort Trost‘.74 ‚Sowohl hier wie dort‘ meint im Kontext ‚sowohl bei Gott wie bei den Kreaturen‘. Damit ist nicht gemeint, dass göttlicher und menschlicher Trost wie zwei unterschiedliche Flüssigkeiten in einem Becher nebeneinander bestehen, um das oben erwähnte Beispiel zu zitieren, sondern gemeint ist die ontologische Priorität des göttlichen vor dem menschlichen Trost. Erst wenn der Mensch von allem menschlich-­ kreatürlichen Trost gelassen und sich ganz in den göttlichen Trost begeben hat, kann er den menschlichen Trost aus Gott heraus empfangen. Vor diesem Hintergrund erhellt sich noch einmal die Abfolge der beiden ersten Teile des Liber Benedictus. Im ersten Teil geht es ausschließlich um jene, dem göttlichen Trost entsprechenden metaphysischen Strukturen; im zweiten Teil geht es um Beispiele und Ratschläge aus dem praktischen Leben, die einem Menschen helfen, Trost zu finden. Diese gleichsam in den Bereich des Kreatürlichen hineingesprochenen Worte sind im Horizont der vorangehenden fundamental-ontologischen Ausführungen zu lesen, die Eckhart entsprechend im zweiten Teil seines Werkes durchgehend in Erinnerung ruft. Die Abfolge von ‚Ablassen von menschlichem Trost – Empfangen des göttlichen Trostes – Annahme des menschlichen Trostes aus dem göttlichen Grund‘ findet sich in ähnlicher Weise auch im Ijobbuch. Nachdem sich Ijob von 73. Eckhart, BgT 2, DW V 31, 2; trans. ibid. 481; EW II 265, 8. 74. Eckhart, BgT 2, DW V 30, 2-4; trans. ibid. 481; EW II 263, 21-3.

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seinen Freunden, den ‚leidigen Tröstern‘ (Ijob 16,2), ab- und mit ganzem Herzen Gott zugewandt und bei ihm Trost gefunden hatte, besuchten ihn ‚seine Brüder, alle seine Schwestern und alle seine früheren Bekannten und aßen Brot mit ihm in seinem Haus. Sie bezeigten ihm ihr Mitleid und trösteten ihn wegen all des Unglücks, das JHWH über ihn hatte kommen lassen. Ein jeder schenkte ihm eine Kesita und einen goldenen Ring‘ (Ijob 42,11). 3.3  Gott schauen Die Auseinandersetzung Ijobs mit Gott und seinen Freunden findet ein Ende, noch bevor Ijob äußerlich wiederhergestellt wird. Der Schlüsselsatz des Buches lautet: ‚Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut‘ (Ijob 42,5). Damit ist der Streit beendet. Ijob ist mit sich und seiner Lage versöhnt, ohne dass sich äußerlich etwas geändert hat. Diese Lösung entspricht insofern der Lehre ­Eckharts, als auch er den wahren Trost nicht an die Rückerstattung äußerer Güter oder an menschlichen Zuspruch bindet. Wahren Trost, so Eckhart, findet der Mensch erst dann, wenn es ihm gelingt, sich der unmittelbaren Gegenwart Gottes bewusst zu werden. In seinem Kommentar zum Johannesevangelium unterscheidet ­Eckhart zwischen einer Erkenntnis des Göttlichen durch Belehrung von außen (discendo ab extra) und einer Erkenntnis des Göttlichen durch Erleben (patiendo). Bemerkenswert erscheint, dass er den Gedanken an dieser Stelle mit Verweis auf Ijob 42,5 erläutert. Meines Erachtens hat Eckhart damit die Bedeutung von Ijob 42,5 sowie den Sinn des Buches insgesamt richtig erfasst. Das Ijob-Problem wird nicht durch eine Belehrung von außen, wie es die Freunde Ijobs vergeblich versuchen, sondern durch eine Erkenntnis von innen her gelöst. Bezeichnend ist, dass ­Eckhart den Gedanken an der besagten Stelle des Johanneskommentars in Verbindung mit dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Gerechtem ins Spiel bringt. Grundlegend ist sein Axiom, dass die Prinzipien des Seins und des Erkennens dieselben sind (In Ioh. n. 189, LW III 158, 8-11). Daraus folgt, dass nur derjenige die Gerechtigkeit erkennt, der selbst ein Gerechter ist. Entsprechend erkennt Gott nur, wer selbst göttlich ist: der homo divinus. Im Zusammenhang lautet die Argumentation Eckharts, die am Ende auf Ijob 42,5 hinausläuft, wie folgt:

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Zudem aber muss man wissen, dass der Gerechte dadurch die Gerechtigkeit kennt und erkennt, dass er selbst gerecht ist, wie denn auch, wer im Besitz der Tugend ist, dadurch, dass er tugendhaft ist, weiß, was zur Tugend gehört, und wie er der Tugend gemäß handeln muss. Daher ist für ihn tugendhaft sein und die Tugend erkennen dasselbe. Daher lernte Hierotheus, wie Dionysius sagt, das Göttliche durch Erleben kennen, nicht durch Belehrung von außen. Das besagt das Wort: ‚wer sich an die Gerechtigkeit hält, wird sie erfassen‘ (Jes. Sir. 15,1); denn sie halten und haben heißt sie erfassen, sie erkennen. Das ist oben gesagt worden: ‚das Leben war das Licht der Menschen‘ (1,4), das heißt ‚das Leben ist für die Lebewesen das Sein‘, und das Sein ist das Licht, das heißt die Erkenntnis oder das Erkennen der göttlichen Menschen. Das besagt dieses Wort: der im Schoß des Vaters ist, er hat ihn kundgetan. Denn dort ist das Sein Wissen und Kundtun. Anders verhält es sich mit den übrigen, die nicht im Besitz der Tugend sind, sondern sie nur durch Belehrung von außen, vom Hörensagen kennen lernen. Demgemäß kann man das Wort auslegen: ‚mit dem Ohr hörte ich dich, nun aber sieht dich mein Auge‘ (Hiob 42,5), und das andere weiter unten: ‚sie sagten zu dem Weibe: nun glauben wir nicht mehr wegen deiner Rede; denn wir wissen, dass dieser wahrhaft der Heiland der Welt ist‘ (4,42). Dem entspricht das Wort: ‚was wir mit unseren Augen gesehen haben‘ usw., ‚verkünden wir euch‘ (1Joh. 1,1).75 Hier besteht eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Eckharts Lehre von der Überwindung des Leids und dem im Buch Ijob erzählten Geschehen. Ijobs Leid findet ein Ende, noch bevor er äußerlich wiederhergestellt wird. Zwar wird im Epilog auch von der äußerlichen Wiederherstellung Ijobs erzählt (Ijob 42,10). Die Lösung des im Dialogteil aufgeworfenen Problems geht dem jedoch voraus. Nach den Gottesreden erklärt Ijob den Streit mit Gott für beendet. Er klagt nicht mehr, er bittet nicht mehr um Heilung, er atmet auf ‚in Staub und Asche‘. Auch Eckhart kennt in seinem Liber Benedictus eine innere und eine äußere Seite des Leids. Im zweiten Teil präsentiert er ‚dreißig Stücke und Lehren, in deren jeglicher man recht und völlig Trost zu finden vermag‘.76 Es handelt sich um eine lockere Aufzählung von Beispielen und 75. Eckhart, In Ioh. n. 191, LW III 159, 15-160, 13. 76. Eckhart, BgT 1, DW V 8, 13-5; trans. ibid. 471; EW II 233, 22-4.

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­ berlegungen, die in recht pragmatischer Weise darlegen, wie der Ü Mensch in seinen täglichen Nöten Trost und Erleichterung finden kann. Dazu gehören so einfache psychologische Ratschläge wie der, dass man, wenn es einem übel geht, daran denken soll, dass andere Menschen noch übler dran sind. Auf den ersten Blick scheint dieser Teil gegenüber dem ersten, transzendentalphilosophisch-prinzipiell ausgerichteten Teil des Traktates abzufallen und in einer gewissen Spannung dazu zu stehen. Ein genauer Blick jedoch zeigt, dass beide Teile sehr wohl zueinander passen. Die prinzipiellen Erwägungen des ersten Teils werden im zweiten Teil keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern bleiben als philosophisch-theologische Grundlage der dort angeführten, auf die praktische Lebensgestaltung hin ausgerichteten Überlegungen präsent. Sie finden sich durchgehend in die praktischen Ratschläge zur Lebensgestaltung eingestreut.77 Ähnlich widersprechen sich die beiden im Ijobbuch präsentierten Lösungen nicht. Die innere, prinzipielle Lösung, die in der bildlosen Gottesschau besteht und auf der Ebene des menschlichen Bewusstseins anzusiedeln ist (Ijob 42,5), geht der äußeren Lösung, die in der Rückerstattung der verlorenen Güter besteht, voraus (Ijob 42,10-1). Das Ijobbuch bleibt also auch in seinem diskursiv angelegten Dialogteil nicht in der Aporie stecken, wie häufig angenommen wird. Das Problem wird gelöst, indem Ijob zu einer Einsicht geführt wird. Auffallend ist, wie sehr dabei die Rolle der Erkenntnis betont wird. Der Weg führt von der Selbsterkenntnis (Ijob 40,1-5) zur Gotteserkenntnis (Ijob 42,1-6) und damit zum Ende des Leids. Er entspricht damit genau dem Weg, der nach Eckhart zum wahren Trost und damit zur Überwindung des Leids führt. ‚Der Mensch leidet und bedarf deswegen des Trostes; doch dieser Trost kann nur von Gott kommen.‘78 Nach Eckhart besteht 77. So beispielsweise findet sich als dritter Ratschlag: ‚Alles Leid kommt her von Liebe und Zuneigung. Drum, habe ich Leid wegen vergänglicher Dinge, so habe ich und hat mein Herz noch Liebe und Hang zu vergänglichen Dingen und habe ich Gott nicht aus meinem ganzen Herzen lieb und liebe noch nicht das, was Gott von mir und mit sich geliebt wissen will. Was Wunder ist es dann, wenn Gott zulässt, dass ich ganz zu Recht Schaden und Leid erdulde?‘ (Eckhart, BgT 2, DW V 17, 9-14; trans. ibid. 475; EW II 245, 37-247, 7). Ähnlich der vierte Ratschlag: ‚Einem guten Menschen soll nicht zum Trost, sondern zur Pein gereichen alles, was Gott fremd und ungleich und nicht ausschließlich Gott selbst ist‘ (Eckhart, BgT 2, DW V 18, 5-6; trans. ibid. 476; EW II 247, 16-8). 78. Christine Büchner, Gottes Kreatur – ‚ein reines Nichts‘? Einheit Gottes als Ermöglichung von Geschöpflichkeit und Personalität im Werk Meister Eckharts, Innsbrucker theologische Studien 71 (Innsbruck, Wien, 2005), 274.

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alles Leid in der Trennung des Menschen von Gott. Überwunden wird die Trennung, wenn der Mensch leer wird und alles Kreatürliche lässt. Es handelt sich um eine Art von Sterben. ‚Man soll bis auf den Grund tot sein, so dass uns weder Lieb noch Leid berühre‘.79 Faktisch ist Ijob genau diesen Weg gegangen, zunächst freilich widerwillig und in offener Rebellion; am Ende, da er nur noch von Gott eine Antwort erhoffte (Ijob 31,35), mit innerem Einverständnis. In der Mitte des Dialogteils spricht Ijob die Hoffnung aus, dass er auf diesem Weg, da ihm alles genommen wurde, dahin gelangen werde, Gott zu schauen: ‚Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen‘ (Ijob 19,26). Von ihrer ursprünglichen Bedeutung her bezieht sich die Aussage nicht auf die visio beatifica post mortem. Ijob hofft, noch in ‚diesem Leben‘ Gott zu schauen, und sei es, dass er dabei nur noch wie eine Art Totengerippe existiert. Diese Hoffnung geht am Ende, hundertvierzig Jahre vor seinem Tod, in Erfüllung (Ijob 42,5). Auch Eckhart verbindet das Motiv der Gottesschau vor dem Tod mit einer vollständigen Überwindung des Leids. Das folgende Zitat könnte erneut eine Anspielung auf Ijob sein, vergleicht doch auch Ijob sich und seine Stellung vor seinem Leid mit der eines reichen und mächtigen Königs (Ijob 29,25): Besäße ein Mensch ein ganzes Königreich oder alles Gut der Erde und gäbe das lauterlich um Gottes willen hin und würde der ärmsten Menschen einer, der irgendwo auf Erden lebt, und gäbe ihm dann Gott so viel zu leiden, wie er je einem Menschen gab, und litte er alles dies bis an seinen Tod, und ließe ihn dann Gott einmal nur mit einem Blick schauen, wie er in dieser Kraft ist: – seine Freude würde so groß, dass es an allem diesem Leiden und an dieser Armut immer noch zu wenig gewesen wäre. Ja, selbst wenn Gott ihm nachher nimmermehr das Himmelreich gäbe, er hätte dennoch allzu großen Lohn empfangen für alles, was er je erlitt; denn Gott ist in dieser Kraft wie in dem ewigen Nun.80 Auch hier wird das Leid nicht äußerlich, sondern innerlich überwunden; nicht durch Zuteilung einer Gabe oder aufgrund eines tröstenden 79. Eckhart, Pr. 8, DW I 135, 4-5; trans. ibid. 460; EW I 101, 30-1. 80. Eckhart, Pr. 2, DW I 32, 8-34, 2; trans. ibid. 436; EW I 31, 3-14.

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Zuspruchs, sondern durch Vollzug einer Einsicht, aufgrund der Annahme eines gewährten Schauens. Wenn Ijob Gott ante mortem schaut, ergibt sich ein Problem mit dem Gotteswort aus Ex 33,20: ‚Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben‘. Ijob jedoch schaut Gott hundertvierzig Jahre vor seinem Tod. Wie passen diese einander scheinbar widersprechenden Worte zusammen? In Ijob 42,5 wird die Gottesschau einem Menschen zuteil, der alles, was er besaß, verloren hat und um den seine Freunde bereits getrauert haben wie um einen Toten (vgl. Ijob 2,13). Die im Ijobbuch präsentierte Lösung lässt sich mit Ex 33,20 vereinbaren, wenn der Tod, der einem Menschen in der Gottesschau zuteilwird, als mystischer Tod (mors mystica) verstanden wird.81 In diesem Sinne verbindet Eckhart das Schauen Gottes mit der Abgeschiedenheit und der Gelassenheit. Die damit einhergehende ‚Überwindung der kreaturhaft vermittelten Erfüllung des Daseins‘ versteht er als Tod: Wie soll der Mensch sein, der Gott schauen soll? Er soll tot sein. Unser Herr spricht: ‚Niemand kann mich sehen und leben‘ (2Mos. 33,20). Nun sagt Sankt Gregorius: Der ist tot, der für die Welt tot ist … Dies ist das erste: dass man tot sei, wenn man Gott schauen will.82 ‚Der Begriff des Todes bezieht sich dabei auf die Forderung, sich selbst und allen Dingen abzusterben, um so empfänglich zu werden für die Überbildung in Gott … Der Mensch muss sich deshalb zur Welt verhalten, als wäre er tot‘.83 Hier zeigt sich, dass das ‚Tot-Sein‘ als Voraussetzung für die Gottesschau in einem existenzial-ontologischen Sinn zu verstehen ist. 3.4  Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis Wenn die contemplatio Dei, das ‚Schauen Gottes‘, von dem Ijob 42,5 spricht, als Lösung des im Buch dargelegten Problems angesehen wird und diese Lösung von Meister Eckhart her verstanden werden kann, 81. Vgl. Alois M. Haas, ,Mors mystica. Thanatologie der Mystik, insbesondere der Deutschen Mystik‘, Zeitschrift für Philosophie und Theologie 23 (1976), 304-92, wiederabgedruckt in id., Sermo mysticus (1989), 392-480. 82. Eckhart, Pr. 45, DW II 364, 5-365, 1; 365, 5-366, 1; trans. ibid. 704-5; EW I 483, 14-25. 83. N. Largier, Kommentar zu Pr. 45, EW I 1029.

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dann bedarf das Motiv der Gottesschau einer Klarstellung, die sie von naheliegenden Missverständnissen abgrenzt. Wenn Eckhart vom ‚Schauen Gottes‘ spricht, dann ist damit keine ‚gegenständliche‘ Erkenntnis gemeint. Es geht nicht um Visionen oder innere Bilder, die einem Menschen zuteilwerden. ‚Wenn der Mensch „die Schar verlässt“, so gibt sich Gott in die Seele ohne „Bild“ und ohne Gleichnis‘.84 Es handelt sich also nicht um die Erkenntnis des ‚Dies und das‘: ‚Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott [so] sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins‘.85 Da ist kein Subjekt mehr, das Gott als eine von sich unterschiedene Wirklichkeit erkennen würde. Vielmehr ist derjenige, der erkennt, und dasjenige, was erkannt wird, ein ‚einzig Eines‘.86 ‚Das reine Wesen Gottes ist einfach, darum sieht der Geist in seiner Schau Gottes keine unterschiedlichen Vorstellungsgehalte.‘87 Diese Deutung gründet in Eckharts Theorie von der Einfachheit des Intellekts. Im schlechthin einfachen, akzidenslosen Akt des intellektuellen Erkennens vermag der Mensch das reine göttliche Sein ohne Vermittlung zu erkennen: ‚Ein einfaltiges Erkennen ist so rein in sich selbst, dass es das reine, bloße göttliche Sein unmittelbar erkennt‘.88 Je mehr der Mensch aus sich selbst ausgegangen ist, ‚je reiner losgelöst der Mensch von sich selbst in sich selbst ist, umso einfaltiger erkennt er alle Mannigfaltigkeit in sich selbst und bleibt er unwandelbar in sich selbst‘.89 Der in Wahrheit arme und demütige Mensch ist eins mit Gott. Er muss ihn um nichts mehr bitten, ‚denn alles, was Gottes Eigen ist, das ist sein Eigen‘.90 Ohne an dieser Stelle auf die Komplexität des Themas näher einzugehen, sei eine kleine Passage aus Predigt 71 zitiert, in der Eckhart sich eingehend mit der Frage der Gotteserkenntnis befasst. Dabei geht er von 84. Eckhart, Pr. 72, DW III 242, 1-2; trans. ibid. 548; EW II 81, 33-5. 85. Eckhart, Pr. 6, DW I 113, 6-7; trans. ibid. 455; EW I 87, 7-10. 86. Eckhart, Pr. 15, DW I 251, 15; trans. ibid. 490; EW I 179, 33. Zur Übersetzung ‚einzig Eines‘ vgl. die Ausführungen von K.H. Witte, ‚Eckhart lesen und mit ihm leben‘ (2013), 205. 87. K.H. Witte, ‚Eckhart lesen und mit ihm leben‘ (2013), 204. 88. Eckhart, Pr. 15, DW I 250, 17-8; trans. ibid. 490; EW I 179, 10-1. 89. Eckhart, Pr. 15, DW I 250, 13-5; trans. ibid. 489-90; EW I 179, 5-7. 90. Eckhart, Pr. 15, DW I 246, 7-8; trans. ibid. 488; EW I 175, 9-10. ‚Ja, der demütige Mensch braucht darum [Gott] nicht zu bitten, sondern er kann ihm wohl gebieten, denn die Höhe der Gottheit kann es auf nichts anderes absehen als auf die Tiefe der Demut; denn der demütige Mensch und Gott sind Eins und nicht Zwei‘ (Eckhart, Pr. 15, DW I 246, 10-3; trans. ibid. 488; EW I 175, 13-7).

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der Entrückung Pauli aus, wie sie in der Apostelgeschichte erzählt wird, näherhin in dem Satz Apg 9,8: Surrexit autem Saulus de terra apertisque oculis nihil videbat. Eckhart fasst die Kommentierung dieses Verses in vier Punkten zusammen: Mich dünkt, dass dies Wörtlein vierfachen Sinn habe. Der eine Sinn ist dieser: Als er aufstand von der Erde, sah er mit offenen Augen nichts, und dieses Nichts war Gott; denn, als er Gott sah, das nennt er ein Nichts. Der zweite Sinn [ist]: Als er aufstand, da sah er nichts als Gott. Der dritte: In allen Dingen sah er nichts als Gott. Der vierte: Als er Gott sah, da sah er alle Dinge als ein Nichts.91 Auch in dieser Predigt spricht er den Zusammenhang von Gotteserkenntnis und Überwindung des Leids an: Dadurch, dass er [scil. Paulus] von jenem Licht umfangen war, sah er sonst nichts [als Gott]; denn alles, was zu seiner Seele gehörte, war bekümmert und beschäftigt [= befasst] mit dem Licht, das Gott ist, so dass er sonst nichts wahrzunehmen vermochte. Und das ist uns eine gute Lehre; denn, wenn wir uns um Gott bekümmern, so sind wir wenig von außen her bekümmert.92 Von einer philosophisch-spekulativen Durchdringung der Ijob zuteilgewordenen Gottesschau ist das Ijobbuch weit entfernt. Und doch finden sich in der Art und Weise, wie hier erzählt wird, bedenkenswerte Analogien zur Lehre Eckharts von der Überwindung des Leids. Eckharts Lehre kann als eine Transformation des im Ijobbuch Erzählten in die Sphäre der Ontologie, besser: der Metaphysik verstanden werden. Da er in seiner Lehre, sowohl in seinen Kommentaren als auch in seinen Predigten, durchgehend von der Heiligen Schrift ausgeht und auf sie Bezug nimmt, kann seine Lehre insgesamt als eine Biblische Metaphysik verstanden werden.93 Eckharts Denken ist als eine ,Metaphysik des Wortes‘

91. Eckhart, Pr. 71, DW III 211, 5-212, 2; trans. ibid. 543; EW II 65, 8-14. 92. Eckhart, Pr. 71, DW III 228, 1-5; trans. ibid. 546-7; EW II 75, 29-35. 93. Zu einem zeitgenössischen Ansatz einer Biblischen Ontologie sei verwiesen auf Ferdinand Ulrich, Gabe und Vergebung. Ein Beitrag zur Biblischen Ontologie, in id., Schriften, Bd. V, ed. und eingeleitet von Stefan Oster (Freiburg i.Br., 2006). Zum Begriff ‚biblische Ontologie‘ vgl. den gleichnamigen Abschnitt im Vorwort von Stefan Oster, ibid., XX-XXVI.

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zu verstehen.94 In den Gottesreden des Ijobbuches wird kein inhaltliches Wissen vermittelt. Gott stellt ausschließlich Fragen. Ijob wird von einem vermeintlichen Wissen befreit, indem ihm sein Nicht-Wissen vor Augen geführt wird. Dieser Vorgang entspricht Eckharts Lehre, dass der menschliche Intellekt dort, wo er eins mit Gott ist, nichts weiß, da er sich von allem Kreatürlichen abgesondert hat. Damit korrespondiert, dass nirgends davon die Rede ist, dass Ijob eine Vision gehabt habe, von denen in prophetischen Texten des Alten Testaments durchaus erzählt wird (vgl. Jes 6; Ez 1-3; Am 7-9). Nirgends wird das Aussehen Gottes beschrieben. Gott hat gesprochen und Ijob hat ‚geschaut‘. Konkret besteht die Überwindung des Leids darin, dass Ijob zur Erkenntnis seiner selbst und zur Erkenntnis Gottes geführt wird. In der Abfolge der beiden Gottesreden und der beiden Antworten Ijobs deutet sich ein Zusammenhang von Selbst- und Gotteserkenntnis an. In der ersten Antwort Ijobs geht es um die Selbsterkenntnis. In gewisser Weise erkennt er sich angesichts der Wirklichkeit Gottes in seiner Nichtigkeit: ‚Siehe, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, doch ich werde nicht antworten; ein zweites Mal, doch ich fahre nicht fort!‘ (Ijob 40,4-5) In der zweiten Antwort Ijobs geht es um die Erkenntnis Gottes: ‚Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut‘ (Ijob 42,5). Die Korrelation von Selbst- und Gotteserkenntnis, wie sie in den Antworten Ijobs im Anschluss an die beiden Gottesreden präsentiert wird, entspricht Eckharts Lehre von der Einheit von Selbst- und Gotteserkenntnis. Wenn sich der Mensch in radikaler Abgeschiedenheit selbst in seiner Ungeschaffenheit erkennt, dann erkennt er Gott. Er erkennt sich in Gott und Gott in sich: ‚Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben‘.95 ‚Hier ist der Mensch ein wahrer Mensch, und in diesen Menschen fällt kein Leiden, so wenig wie es in das göttliche Sein fallen kann‘.96 94. Vgl. Émilie Zum Brunn and Alain de Libera, Métaphysique du Verbe et théologie négative chez Maître Eckhart (Paris, 1984). 95. Eckhart, Pr. 12, DW I 201, 5-8; trans. ibid. 478; EW I 149, 34-7. 96. Eckhart, Pr. 12, DW I 197, 6-8; trans. ibid. 477; EW I 147, 34-7.

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Nach Eckhart findet der Mensch einen bleibenden Trost erst dann, wenn er existenziell erkennt, dass er immer schon in Gott ist. Entsprechend, so die Deutung von Christine Büchner, ist ‚die Kreatur … unerlöst und daher leidend, solange sie ihre Erlöstheit nicht erkennen und erfahren kann … Für den Menschen kann dieses objektiv immer vorhandene Sein in Gott, das ohne Leiden ist, weil es mit dem Leiden aller grenzenlos vereint, durch die eigene Aktivität der Seele bzw. des Erkennens subjektiv erfahrbar werden.‘97 Wo dies geschieht, ist der Mensch nicht mehr im Leid, sondern in Gott. Dabei scheint nach Eckhart auch die Schöpfung mit einbezogen zu sein. Denkt man diesen Gedanken weiter, so fällt von daher ein neues Licht auf die ausführliche Darstellung der Schöpfung in den Gottesreden des Ijobbuches. Sie haben in der Exegese immer wieder für Unverständnis gesorgt. Statt Ijob von seinem Leid zu befreien, so ein verbreiteter Vorwurf, hält ihm Gott eine Vorlesung über außergewöhnliche Natur­ erscheinungen. Nach Felix Gradl bleibt ‚bei aller Sympathie für solche Gedankengänge … der ungute Geschmack des billigen Trostes zurück.‘98 Christine Büchner weist darauf hin, dass sich Eckharts Lehre von der Überwindung des Leids nur verstehen lässt, wenn auch das Leid der Schöpfung mit in den Blick genommen wird. Der Mensch ist in die einzigartige Freiheit hineingegeben, die seinsspendende Einheit Gottes anzunehmen – und zwar für sich selbst wie für die gesamte Schöpfung. Der Mensch, der erfährt, dass Gott mit ihm ist in allem Leiden, und von innen her (mit Eckharts Bild: durch das ‚Umhülltsein mit Gott‘) aufbricht, der scheint dann nicht nur mit den Menschen eins zu sein, sondern eben mit der ganzen Schöpfung, die er aus der Zeit mit in die Zeitlosigkeit des Seins Gottes hineinholt.99 Eckharts Platonismus mitsamt seiner ‚Zeitlosigkeit‘ ist gerade kein Ausdruck einer Welt- und Schöpfungsverachtung, sondern im Gegenteil der Versuch, die gesamte Schöpfung auf Gott hin transparent zu machen: Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennen würde, der brauchte an keine Predigt zu denken, denn jegliche Kreatur ist 97. C. Büchner, Gottes Kreatur (2005), 282-3. 98. F. Gradl, Das Buch Ijob (2001), 323. 99. C. Büchner, Gottes Kreatur (2005), 284.

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Gottes voll und ist ein Buch. Der Mensch, der dazu gelangen will, … der muss sein wie ein Morgenstern: immerzu Gott gegenwärtig und immerzu ‚bei‘ [ihm] und gleich nahe und erhaben über alle irdischen Dinge und muss bei dem ‚Worte‘ ein ‚Beiwort‘ sein.100 3.5  Gott um Gottes willen lassen Im Dialogteil des Buches vollzieht Ijob eine Bewegung, die sich als eine radikale Hinwendung zu Gott beschreiben lässt. Die Hinwendung zu Gott geht nicht nur, wie bereits dargelegt, mit einer Abwendung von den Freunden einher, sondern auch mit einer spezifischen Form der Gott-losigkeit. Ijob wendet sich von Gott ab und wird, wie seine Freunde zu Recht erkannt haben und wie er selbst zugibt, gott-los (vgl. Ijob 6,14; 15,4). Im Prolog erscheint Ijob als ein Mann des Glaubens. Mit vier Ausdrücken, die entsprechend den vier Himmels­richtungen auf Vollständigkeit verweisen, wird Ijob als ein in Theorie und Praxis gottesfürchtiger Mann vorgestellt: ‚Dieser Mann war rechtschaffen und untadelig, gottesfürchtig und dem Bösen fern‘ (Ijob 1,1). Ijobs Gottesfurcht ist unbestritten. Sie wird von Gott ausdrücklich bestätigt. Dieser bezeichnet Ijob als ‚seinen Knecht‘ (Ijob 1,8; vgl. 2,3). Selbst der Satan stellt die Gottesfurcht Ijobs nicht in Frage; er vermutet lediglich eigennützige Motive: ‚Ist Ijob umsonst (ohne Grund) gottesfürchtig?‘ (Ijob 1,9). Doch Ijob hält trotz der schweren Unglücksschläge, die ihn getroffen haben, an seinem Glauben fest. Inmitten seiner Not spricht er einen Lobpreis auf JHWH: ‚JHWH hat gegeben, und JHWH hat genommen; der Name JHWHs sei gepriesen‘ (Ijob 1,21). ‚Bei alldem‘, so sagt der Erzähler, ‚sündigte Ijob nicht und stieß keine Verwünschung aus gegen Gott‘ (Ijob 1,22). Auch nach einem zweiten Unglücksschlag scheint sich daran nichts geändert zu haben. Seine Frau macht ihm den Vorwurf: ‚Noch immer hältst du fest an deiner Frömmigkeit? Verfluche Gott und stirb!‘ (Ijob 2,9). Doch Ijob entgegnet: ‚Wie eine von den Törinnen redest du. Ach, das Gute sollen wir annehmen von Gott, und das Übel sollen wir nicht annehmen?‘ (Ijob 2,10). Und erneut hält der Erzähler fest: ‚Bei alldem sündigte 100. Eckhart, Pr. 9, DW I 156, 7-157, 2; trans. ibid. 465; EW I 115, 18-26.

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Ijob nicht mit seinen Lippen‘ (Ijob 2,10). Im Prolog wird Ijob als ein gottesfürchtiger Mann vor Augen gestellt, der das schwere Leid, das ihn getroffen hat, gottergeben annimmt. Er hält an seinem Glauben fest, auch wenn er keinen Vorteil davon zu haben scheint. Er scheint Gott um seiner selbst willen zu lieben. Dieser Ijob entspricht dem von ­Eckhart im zweiten Teil seines Liber Benedictus entworfenen Ideal, dem zufolge der Mensch Gott ‚in Gemach und Ungemach‘ in gleicher Weise dienen soll. Mehr noch: Im ‚eigentlicheren Sinne‘ nimmt man Gott ‚entbehrend als nehmend‘. Denn wenn jemand Gott liebt und dabei Wonne empfindet, so ist nicht leicht zu erkennen, ob er Gott liebt oder die Wonne, die er von ihm empfängt. Wer Gott um Gottes willen liebt, dem dient Ungemach zu Gemach und Leid gleicherweise wie Liebes, und doch beachte dabei in ebendem noch einen besonderen Trost: denn, wenn ich die Gnade und die Gutheit habe, von der ich gerade gesprochen habe, so bin ich allzeit und in allen Dingen gleichmäßig völlig getröstet und froh; habe ich aber nichts davon, so soll ich’s um Gottes willen und in Gottes Willen entbehren. Will Gott geben, wonach ich begehre, so habe ich es damit und bin in Wonne; will Gott hingegen nicht geben, nun, so empfange ich’s entbehrend im gleichen Willen Gottes, in dem er eben nicht will, und so also empfange ich, indem ich entbehre und nicht nehme. Woran fehlt’s mir dann? Und sicherlich, im eigentlicheren Sinne nimmt man Gott entbehrend als nehmend; denn, wenn der Mensch empfängt, so hat die Gabe das, weswegen der Mensch froh und getröstet ist, in sich selbst. Empfängt man aber nicht, so hat noch findet noch weiß man nichts, worüber man sich freuen könnte, als Gott und Gottes Willen allein.101 Ijobs Haltung des gleichmütigen Ertragens ändert sich im zweiten Teil des Buches. Nach einer Zeit siebentägigen Schweigens, die der Protagonist gemeinsam mit seinen drei Freunden durchlebt (Ijob 2,11-3), ‚öffnete Ijob seinen Mund und verfluchte seinen Tag‘ (Ijob 3,1). Nun setzt eine ungeheure Klage ein, die in der Bibel ihresgleichen sucht. Ijob, der Dulder, wird zum Rebell. Er rebelliert gegen sich, gegen Gott und gegen seine Freunde. Er verflucht den Tag seiner Empfängnis und den Tag 101. Eckhart, BgT 2, DW V 22, 20-23, 11; trans. ibid. 478; EW II 253, 31-255, 10.

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seiner Geburt (Ijob 3,3; 7,16: ‚Ich mag nicht mehr, ich will nicht ewig leben‘), er begehrt auf gegen Gott (Ijob 7,20: ‚Hab’ ich gefehlt? Was tat ich dir, du Menschenwächter?‘), er wendet sich von seinen Freunden ab (Ijob 13,5: ‚Dass ihr endlich schweigen wolltet; das würde Weisheit für euch sein!‘). Der Prozess, der hier zum Vorschein kommt, kann als ein Zerbrechen des Glaubens beschrieben werden. Dies wird sowohl von den Fremden als auch von Ijob selbst so wahrgenommen. Ijob scheint über sich zu sprechen, wenn er sagt: ‚Des Freundes Liebe gehört dem Verzagten, auch wenn er den Allmächtigen nicht mehr fürchtet‘ (6,14). Ijob ist es, der den Allmächtigen nicht mehr fürchtet. Und gerade in dieser Situation des Verlustes bedarf er der Liebe seiner Freunde; doch diese bleibt aus. Gerade weil Ijob Gott nicht mehr fürchtet, gehen seine Freunde auf Distanz zu ihm. ‚Du brichst sogar die (Gottes-)Furcht, zerstörst das andächtige Besinnen vor Gott‘ (15,4), hält ihm Elifas von Teman, der Wortführer der drei Freunde, vor. Die Äußerungen Ijobs deuten in der Tat darauf hin, dass Elifas nicht Unrecht hat. Die Gottesfurcht, so wie Ijob sie bisher gelebt und verstanden hat, ist ihm zerbrochen. Da ist zunächst das mit dem biblischen Gottesbegriff konstitutiv verbundene Element der Gerechtigkeit, das dem leidenden Ijob zerrinnt. Gott ist seinem Wesen nach gerecht, bekennt die biblische Tradition, und mit ihr tun es auch die Freunde Ijobs: ‚Beugt etwa Gott das Recht, oder beugt der Allmächtige die Gerechtigkeit?‘, fragt Bildad entsetzt (Ijob 8,3). Ijob dagegen kann von Gottes Gerechtigkeit nichts mehr erkennen: ‚Schuldlos wie schuldig bringt er um‘ (Ijob 9,22). Für ihn verbindet sich Gott mit dem Gegenteil von Gerechtigkeit: mit dem Unrecht, mit dem Frevel. Diese Erfahrung führt Ijob zu der ungeheuerlichen Behauptung, die Erde sei in die Hand eines Frevlers gegeben. Die zunächst offen gehaltene Aussage, die vom Frevler im Singular spricht, ist, wie der weitere Textverlauf zeigt, auf Gott zu beziehen: ‚Die Erde ist in Frevlerhand gegeben, das Gericht ihrer Richter deckt er zu. Ist er es nicht, wer ist es dann?‘ (Ijob 9,24). So fällt Ijob in tiefe Hoffnungslosigkeit (Ijob 17,13-5). In seiner Hoffnungslosigkeit wird ihm klar, dass nicht nur sein Leben, sondern das Leben eines jeden Menschen, wird es von seinem Ende her gesehen, ohne Hoffnung ist. ‚Du machst das Hoffen der Menschen zunichte … Du entstellst sein Gesicht und schickst ihn fort‘ (Ijob 14,19-20).

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Noch von einer zweiten Seite wird Ijobs Glaube zerrüttet. In eigenartiger Weise erfährt er Gott als anwesend und abwesend zugleich. Dabei werden jedoch Grundstrukturen biblischer Gotteserfahrung, wie sie vor allem aus den Psalmen vertraut sind, in eigenartiger Weise auf den Kopf gestellt. Gottes Nähe wird Ijob zur Qual. Bittet der Psalmist um die Zuwendung Gottes (‚Schau her!‘ Ps 13,4), so Ijob um dessen Abwendung: ‚Lass ab von mir, dass ich ein wenig heiter blicken kann‘ (Ijob 10,20). Wie ein Löwe hat Gott ihn angefallen (Ijob 10,16), wie ein Jäger hat er sein Netz auf ihn geworfen (Ijob 19,6) – so zumindest nimmt Ijob seine Lage wahr. Von diesem Gott frei zu werden – das würde ihm Erleichterung verschaffen. Auf der anderen Seite beklagt Ijob Gottes Abwesenheit. Er möchte mit ihm in Kontakt kommen, er möchte mit ihm einen Rechtsstreit führen, er möchte zu ihm gelangen, er sucht, eine Antwort von ihm zu erlangen. Doch Gott schweigt; er ist nicht da: ‚Gehe ich nach Osten, so ist er nicht da, nach Westen, so merke ich ihn nicht, nach Norden, sein Tun erblicke ich nicht; biege ich nach Süden, sehe ich ihn nicht‘ (Ijob 23,8). Der allseitigen Frömmigkeit Ijobs – man beachte die Bedeutung der vierfachen Aufzählung in 1,1 – entspricht eine allseitige Abwesenheit Gottes. Vor allem der im mittleren Teil des Dialogs ablaufende Prozess lässt sich als eine Transformation des Gottesbildes verstehen. Die Schlüsseltexte sind Ijob 16,18-22 und 19,25-9. In beiden Fällen entwirft Ijob eine von Gott zu unterscheidende ‚himmlische‘ Figur, auf die er seine Hoffnung setzt und mit deren Hilfe er sich von Gott abwendet, um im weiteren Verlauf dieses Prozesses zu erkennen, dass dieser ‚Andere‘ kein anderer ist als der eine Gott, von dem Ijob sich losgesagt hat. In Ijob 16,18-22 ist ‚der andere Gott‘ der Zeuge im Himmel, in Ijob 19,25-9 der ‚Löser‘. Schauen wir uns den Transformationsprozess an den genannten Stellen näher an. Mit Ijob 16,18-22 befinden wir uns an einer Schlüsselstelle des Buches. Es findet ein innerer Klärungsprozess statt. In Ijob bricht die Gewissheit durch, dass es noch einen ‚anderen Gott‘ gibt als den, ‚der ihn in die Hand der Frevler stößt‘ (Ijob 16,11). Diesen ‚anderen Gott‘ bekennt Ijob als ‚seinen Zeugen im Himmel‘ und als ‚seinen Bürgen in den Höhen‘ (V 19). Zu diesem Gott hin blickt schlaflos sein Auge (V 20). Dieser Gott möge Recht verschaffen ‚dem Mann‘, das heißt: Ijob,

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und zwar ‚bei Gott‘, das heißt: bei dem Gott, der Ijob zerschmettert (Ijob 16,12), und bei den Freunden, die Ijob verspotten (V 21). Erstmals bekennt sich Ijob – über die Brücke des Zeugen – ausdrücklich zu einem ‚Gott gegen Gott‘: 18 O Erde, deck mein Blut nicht zu,
und ohne Ruhestatt sei mein Hilfeschrei! 19 Nun aber, seht: Im Himmel ist mein Zeuge,
mein Bürge in den Höhen. 20 Da meine Freunde mich verspotten,
tränt zu Gott hin mein Auge. 21  Recht schaffe er dem Mann bei Gott
und zwischen Mensch und Mensch. 22 Denn nur wenige Jahre werden noch kommen,
dann muss ich gehen den Weg ohne Wiederkehr. Der Prozess, der hier abläuft, lässt sich als innere Klärung des Gottesbildes verstehen. Nirgendwo wird auf der Ebene der Erzählung gesagt, dass Gott Ijob geschlagen oder angegriffen habe. Ijob sagt es, aber nicht der Erzähler. Auf der Ebene der Erzählung wird Ijob vom Satan geschlagen, nicht jedoch von Gott. In Ijob vollzieht sich ein Prozess der Klärung, bei dem der Unterschied zwischen dem, was er wahrnimmt, und dem, was ‚wirklich‘ ist, immer deutlicher hervortritt. In ihm bricht die Erkenntnis durch, dass es noch einen ‚anderen Gott‘ gibt als den, von dem er meint, dass er ihn verfolge. Da es aber in der monotheistischen Tradition, aus der heraus Ijob spricht, neben dem einen Gott keinen anderen Gott gibt, ist der ‚andere Gott‘, den Ijob als Zeugen anruft, kein anderer als der eine, wahre Gott, der ‚ihm Recht verschafft‘: Nemo contra Deum, nisi Deus ipse – dieses Wort unbekannter Herkunft, mit dem Goethe im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit das Dämonische zusammenfassend kennzeichnet, könnte auch als Überschrift über Ijob 16,18-22 stehen. Die Deutung bestätigt sich im Blick auf Ijob 19,25-7: 25 Doch ich, ich weiß: Mein Erlöser lebt! Als Letzter erhebt er sich über dem Staub. 26 Ohne meine Haut, die so zerfetzte,
und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. 27 Ihn selber werde ich dann für mich schauen;
meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd,
(wenn auch) meine Nieren schwinden in meinem Innern.

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Ijob weiß sich in dreifacher Weise verfolgt und verlassen: von seinen Verwandten und Bekannten (Ijob 19,13-20), von seinen Freunden (Ijob 19,22) und von Gott (Ijob 19,21). In dieser ‚Verfolgung von allen Seiten‘ bekennt Ijob: ‚Ich aber weiß: Mein Erlöser lebt!‘ (V 25). Seine Dramatik gewinnt das Bekenntnis im vorliegenden Zusammenhang dadurch, dass Ijob sein Vertrauen nicht auf Gott setzt, der ihn verfolgt (Ijob 19,22-3), sondern auf einen (Er)Löser, der sich ‚als letzter über dem Staub erheben wird‘ (V 25), dieser (Er)Löser aber – wie der weitere Textverlauf eindeutig macht – kein anderer ist als Gott selbst. In der exegetischen Forschung wird immer wieder die Frage diskutiert, ob der Erlöser nicht doch eine von Gott zu unterscheidende Gestalt sei, vielleicht ein Engel oder ein himmlischer Fürsprecher. Dies wird heute weitgehend und zu Recht abgelehnt. Der Erlöser, von dem Ijob weiß, dass er lebt, und der sich ‚als letzter über dem Staub erheben wird‘, ist der Gott, den Ijob schauen wird (V 26), mit eigenen Augen, ‚nicht mehr fremd‘ (V 27). Dieses Wissen geht am Ende tatsächlich in Erfüllung (Ijob 42,5). Aus der Sicht Ijobs wird man den hier beschriebenen Prozess als Wandlung seines Gottesbildes bezeichnen dürfen. War Gott für Ijob vor seinem Leid der ‚gute und gerechte Gott‘, dessen Freundschaft über seinem Zelte stand (vgl. Ijob 29,4), so wird er in seinem Leid zum ‚bösen Gott‘, zum Frevlergott (vgl. Ijob 9), zum ‚grausamen Feind‘ (Ijob 30,21), zum Verfolgergott (Ijob 19,22). Im Bekenntnis zu seinem Erlöser bricht nun – ähnlich wie im Bekenntnis zu seinem ‚Zeugen und Bürgen im Himmel‘ (Ijob 16,19) – eine beide Größen überschreitende Gotteswirklichkeit in sein Bewusstsein ein. Ijob, so könnte man den Prozess deuten, muss Gott lassen, um zu Gott zu finden. Wohl kaum ein Theologe hat diesen Gedanke so radikal durchdacht und zum Ausdruck gebracht wie Meister Eckhart. In seiner berühmten Armutspredigt findet sich der viel zitierte Gedanke: Darum bitten wir Gott, dass wir ‚Gottes‘ ledig werden … So denn sagen wir, dass der Mensch so arm dastehen müsse, dass er keine Stätte sei noch habe, darin Gott wirken könne. Wo der Mensch [noch] Stätte [in sich] behält, da behält er [noch] Unterschiedenheit. Darum bitte ich Gott, dass er mich ‚Gottes‘ quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Ursprung der Kreaturen fassen.102 102. Eckhart, Pr. 52, DW II 493, 7-8; 502, 4-7; trans. ibid. 728; 730; EW I 555, 26; 561, 16-22.

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Von seinem Charakter als Lesedrama und seiner Verankerung in der hebräisch-biblischen Tradition her gesehen, finden sich im Ijobbuch wie auch in anderen Büchern des Alten Testaments keine metaphysischen und intellekttheoretischen Reflexionen, wie dieses Lassen Gottes näher zu verstehen und zu bestimmen ist. Der Sache nach aber vollzieht Ijob genau jene Bewegung, die Eckhart mit den Worten beschreibt: ‚Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse‘.103 Dabei geht es auch darum, den eigenen Willen ganz und gar zu lassen: ‚Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat‘.104 Am Ende des Dialogteils ist Ijob zu einem solchen Menschen geworden. Ihm wurde alles genommen, was er besaß (Ijob 1-2); er bekennt sich zu seinem Nichtwissen (Ijob 40,3-5), und schließlich ist auch sein Wollen erloschen (Ijob 42,1-6). ‚Er ist mit Gott und mit seiner schrecklichen Lage versöhnt.‘105 Gerade diese Art des Leerwerdens führt dann aber dazu, dass er alles ‚auf das Doppelte‘ zurückbekommt (Ijob 42,10). Die Dialektik von Leere und Fülle durchzieht das Werk Meister Eckharts. Wer nichts mehr hat, hat alles. Wer ganz leer geworden ist, in den muss sich die Fülle göttlichen Seins ergießen. Nach Eckhart ist das notwendigerweise so. Am Beispiel des Funkens und des Feuers erläutert Eckhart im Liber Benedictus, dass der Funke ganz zunichte werden muss, wenn er in seinen Ursprung, das Feuer des Himmels, zurückkehrt. Das Fünklein verlässt nicht nur ‚Vater und Mutter, Bruder und Schwester auf Erden‘, sondern auch sich selbst: ‚vielmehr verlässt, vergisst und verleugnet es auch sich selbst aus Liebesdrang, zu seinem rechten Vater, dem Himmel, zu kommen, denn es muss notgedrungen erlöschen in der Kälte der Luft‘.106 So sehr Eckhart gewöhnlich die Sprunghaftigkeit, das ‚Entweder-­ oder‘ dieses Prozesses betont, so weiß er aber doch auch um verschiedene Grade der Gotteinung. Am Beispiel des Funkens und des Feuers spricht er im Liber Benedictus von einem Mehr oder Weniger an Lauterkeit und Armut:

103. Eckhart, Pr. 12, DW I 196, 6-7; trans. ibid. 477; EW I 147, 3-4. 104. Eckhart, Pr. 52, DW II 488, 5-6; trans. ibid. 727; EW I 551, 30-1. 105. K. Engljähringer, Theologie im Streitgespräch (2003), 195. 106. Eckhart, BgT 2, DW V 32, 4-6; trans. ibid. 482; EW II 265, 30-3.

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Und wie vorhin vom Leer-Sein oder Bloß-Sein gesagt wurde, dass die Seele, je lauterer, entblößter und ärmer sie ist und je weniger Kreaturen sie hat und je leerer an allen Dingen sie ist, die Gott nicht sind, um so reiner Gott und um so mehr in Gott erfasst und mehr eins mit Gott wird und in Gott schaut und Gott in sie von Antlitz zu Antlitz, wie in einem Bilde überbildet.107 Von daher ist es logisch, dass im Epilog des Buches nicht mehr von der Gottesfurcht Ijobs die Rede ist. Ijob wird vom Glauben zum Schauen geführt. Dieser Weg entspricht der Lehre Eckharts insofern, als auch der Mensch ‚Gott um Gottes willen lasse‘.108 3.6  Keine eschatologische Lösung Eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Ijob und Eckharts Buch der göttlichen Tröstung besteht darin, dass in beiden keine eschatologische Lösung des Problems angeboten wird. Leid kann hier und jetzt überwunden werden, wenn sich der Mensch all seiner Kreatürlichkeit entäußert und ganz in Gott hineinfindet. Natürlich nimmt Eckhart die zeitliche Differenz zwischen dem, was in der Gegenwart der Fall ist, und dem, was dem Menschen möglich ist, wahr. Andernfalls wären seine Reden und Predigten sinnlos. Eckhart lädt seine Leser und Hörer ein, sich aus den Verhaftungen an das Zeitliche zu lösen und in den zeitlosen Vorgang des Geborenwerdens aus Gott hineinzufinden. In diesem Sinne versteht und zitiert er 1Joh 5,4: ‚Alles, was aus Gott geboren ist, das überwindet die Welt‘.109 In der Hinführung zu diesem Wort der Schrift und in der Kommentierung desselben wird die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft deutlich. Man könnte den Kommentar ­Eckharts mit dem zugegebenermaßen bereits ein wenig abgegriffenen Wort: ‚Der Weg ist das Ziel‘ umschreiben, wenn er schreibt: ‚Was aus Gott geboren ist, das sucht Frieden und läuft in den Frieden. Darum sprach er: „Vade in pace, lauf in den Frieden!“ Der Mensch, der sich im beständigen Laufen befindet, und zwar in den Frieden, der ist ein „himmlischer“ 107. Eckhart, BgT 2, DW V 8-12; trans. ibid. 482; EW II 265, 36-267, 5. 108. Eckhart, Pr. 12, DW I 196, 6-7; trans. ibid. 477; EW I 147, 4. 109. Eckhart, Pr. 7, DW I 118, 4-5; trans. ibid. 456; EW I 89, 19-20.

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Mensch‘.110 Eckharts Predigten enden gewöhnlich mit der Bitte: ‚dazu helfe uns Gott‘. Wenn Eckhart eine Predigt mit den Worten: ‚Dass wir zu dieser Wahrheit kommen, dazu helfe uns die Wahrheit, von der ich gesprochen habe‘ beschließt, dann zeigt dies, dass Eckhart sehr wohl um die Spannung zwischen gegenwärtiger Not und zukünftigem Heil weiß. Die Auflösung dieser Spannung wird von ihm jedoch nicht in ein zukünftiges Jenseits verschoben, sondern sie ist im Hier und Jetzt, im zeitlosen, gegenwärtigen Nun,111 möglich. ‚Insofern Gott im Menschen geboren wird, ist die Zeit erfüllt, das heißt zu ihrem Ende gekommen.‘112 So gesehen, kennt Eckhart keine ‚Lehre von den zukünftigen Dingen‘. Er vertritt mit zentralen Texten des Johannesevangeliums eine präsentische Eschatologie.113 Dies liegt in der Konsequenz seiner Intellekttheorie: Der tätige Intellekt steht außerhalb von Zeit und Ort; er erwartet nichts, er hofft nichts. Gott kann ihm nichts nehmen, Gott kann ihm nichts geben, denn er gibt immer schon sein selbsttätiges Hervorgehen. Dies bedeutet die Ent-Eschatologisierung und Ent-Historisierung des Christentums. Die wirkende Vernunft kennt kein Davor und kein Danach; ihr Inhalt ist das zeitlose Wesen.114 Auch das Ijobbuch verlagert die Lösung des Problems nicht in eine zukünftige postmortale Existenz des Protagonisten. Von einem Fortleben nach dem Tod, von einer Erlösung durch den Tod oder gar einer Belohnung im ewigen Leben nach dem Tod wird nirgends gesprochen. Zwar sehnt Ijob einige Male den Tod als Erlösung herbei. Damit verbindet er jedoch nicht die Vorstellung einer seligen Gemeinschaft mit Gott im 110. Eckhart, Pr. 7, DW I 118, 5-8; trans. ibid. 456; EW I 89, 20-4. 111. Vgl. Eckhart, Pr. 38, DW II 231, 9-10; trans. ibid. 680; EW I 409, 18. 112. N. Largier, Kommentar zu Pr. 38, EW I 999. 113. N. Largier, Kommentar zum BgT, EW II 762: ‚Der Begriff der Fülle verweist auf den Horizont präsentischer, auf die Gegenwart bezogener Eschatologie, der Eckharts Denken kennzeichnet: Die Fülle in Gott ist Erfüllung allen Strebens.‘ 114. Kurt Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der ‚Deutschen Mystik‘ aus dem Geist der arabischen Philosophie (München, 32013), 156-7 (Hervorhebung von L.S.). Flasch fährt in einer durchaus bedenkenswerten polemischen Zuspitzung fort: ‚Dieser Ent-Zeitlichung des Denkens im Umkreis Dietrichs und Eckharts stellt sich heute das Interesse von Modetheologien des 20. Jahrhunderts an Zeit und Geschichtlichkeit entgegen, sie fordern Apokalyptik und Endzeithoffnung. Die Intellekttheorie betreibt die kritische Sublimierung der herkömmlichen, insbesondere der thomistischen Begriffe der Erschaffung durch Gott als causa efficiens, des Höllenfeuers, der Gnade und der beseligenden Schau‘ (ibid., 157).

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Himmel. Vielmehr verbindet er mit dem Tod eine Art verminderter Schattenexistenz, bei der jede Form (schmerzhafter) Wahrnehmung verschwindet oder doch zumindest stark reduziert wird (vgl. Ijob 3,11-9). Auch Ijob 19,25: ‚Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen‘, ist von seiner ursprünglichen Bedeutung her nicht als Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tod zu verstehen. Zwar wurde sie vor allem in der christlichen Rezeptionsgeschichte gewöhnlich so gedeutet, diese Deutung entspricht jedoch nicht der ursprünglichen Bedeutung des Textes.115 Mit dieser Ansicht steht das Buch im Hauptstrom der alttestamentlichen Tradition. Der Tod als Ausgang aus seinem schmerzerfüllten Leben ist Ijob versperrt. Die Lösung des Problems besteht darin, dass er vor seinem Tod Gott schaut. Am Ende stirbt Ijob ‚hochbetagt und satt an Lebenstagen‘ (Ijob 42,17). Dieser Tod wird nicht als Problem empfunden. Auch darin steht das Buch im breiten Strom alttestamentlicher Eschatologie. Nicht der Tod an sich, sondern der frühe und plötzliche Tod wird als Not wahrgenommen, vor der Gott den Beter bewahren möge. In der griechischen Fassung des Buches ändert sich die Perspektive. Hier richtet sich der Blick über den Tod hinaus. In der Septuagintafassung findet sich am Ende des Buches ein Zusatz, der von der Auferstehung spricht: ,Es steht aber geschrieben, dass er wiederum auferstehen wird mit denen, die der Herr auferstehen lässt.‘116 Eckhart steht mit seinem Konzept in der Tradition der hebräischen Fassung des Ijobbuches. Der Trost, von dem er spricht, wird nicht als eine dem Menschen in der Gegenwart unerreichbare Zukunft vor Augen gestellt. Damit unterläuft Eckhart, wie auch das Ijobbuch, den in der Neuzeit gegenüber dem Christentum vielfach erhobenen Vorwurf, der Glaube sei eine billige Vertröstung auf eine Zukunft im Jenseits und lähme die Kräfte, sich der gegenwärtigen Not im Diesseits entgegen­ zustellen.

115. Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob (Freiburg i.Br., 2007; 42016), 114-6. 116. Vgl. dazu den Kommentar in Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare Bd. II: Psalmen bis Daniel, ed. M. Karrer and W. Kraus (Stuttgart, 2011), 2048.

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4.  Warum wird Ijob im Liber Benedictus nicht erwähnt? Das Buch Ijob erzählt die Geschichte eines Mannes, der ohne Schuld von schwerem Leid getroffen wird und der nach einer schmerzhaften und langwierigen Auseinandersetzung mit seinen Freunden und mit Gott am Ende zur Gottesschau und zum Ende seiner Klagen geführt wird. Von der Struktur her gesehen, entspricht das im Buch erzählte Geschehen der von Eckhart im Liber Benedictus entworfenen Lehre vom wahren Trost. Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass ­Eckhart das Ijobbuch im Liber Benedictus kein einziges Mal zitiert. Auch im zweiten und dritten Teil, in denen er eine Reihe biblischer Figuren und Verhaltensweisen als im Leid vorbildlich präsentiert, wird Ijob mit keinem Wort erwähnt. Dabei kannte er das Buch sehr gut, wie die insgesamt 117 Zitate in seinen Werken bezeugen. Loris Sturlese und Markus Vinzent, die Herausgeber des Index Eckhardianus, heben die Bedeutung des Ijobbuches für Eckhart hervor: Nach den Büchern Genesis und Exodus, die Eckhart beide durchlaufend kommentierte, ist, von Beginn der Schrift gerechnet, Iob das erste Buch, welches Eckhart nicht nur zwecks weniger Verse heranzieht, sondern das ihm durchgehend vom Anfang des Buches bis zu seinem Ende stets präsent ist und das ihm somit zu unterschiedlichsten Verweisen dient … Iob mit seinem gleichnamigen Protagonisten muss ihm sehr nahe gewesen sein, was sich bereits von seiner frühen Osterpredigt an zeigt und über die intensive Benutzung bei der Abfassung der lateinischen Schriften und auch der deutschen führt.117 Umso dringlicher stellt sich die Frage, warum Ijob im Buch der göttlichen Tröstung nicht ausdrücklich erwähnt wird. Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Ijob, der Protagonist des Buches, macht einen zwiespältigen Eindruck. Er ist Dulder und Rebell in einem. Seine Doppelnatur geht möglicherweise auf die Entstehungsgeschichte des Werkes zurück. Im Prolog (Ijob 1-2) wird Ijob als der große Dulder gezeichnet, der sein Leid aus der Hand Gottes ergeben annimmt. Im Dialogteil jedoch, der den Hauptteil des Buches ausmacht, mutiert Ijob zum Rebellen (Ijob 3-31). Er klagt und hadert mit Gott und 117. Dabei sind auch Mehrfachzitate mitgezählt. Vgl. Loris Sturlese and Markus Vinzent, Index Eckhardianus. Meister Eckhart und seine Quellen. I. Die Bibel (Stuttgart, 2015), 74.

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seinem Leid. Aufs Ganze gesehen, hinterlässt das Buch den Eindruck einer großen Klage. Das könnte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Eckhart der Ijobfigur im Rahmen seiner Argumentation nicht viel abgewinnen konnte; geht es Eckhart in seinem Trostbuch doch gerade um die Überwindung der Klage: ‚Ein guter Mensch soll niemals über Schaden klagen noch über Leid; er soll vielmehr nur beklagen, dass er klage und dass er das Klagen und Leid in sich wahrnimmt.‘118 Genau das tut Ijob aber nicht. Auf der anderen Seite weiß Eckhart sehr wohl, dass der von ihm beschriebene Weg, der zum wahren Trost führt, ‚mit Widerstreit, mit Erregung und Unruhe‘ einhergeht. Er deutet diesen Gedanken im Zusammenhang des Beispiels von Feuer und Holz an. Wenn alle Ungleichheit zwischen Feuer und Holz abgelegt ist, ‚so wird das Feuer still und schweigt das Holz‘.119 Solange dies jedoch noch nicht der Fall ist, vollzieht sich das ‚Werden des Feuers … mit Widerstreit, mit Erregung und Unruhe und in der Zeit; die Geburt des Feuers aber und die Lust ist ohne Zeit und ohne Ferne‘.120 Ijobs Weg lässt sich nach diesem Modell verstehen. Im Ijobbuch nehmen ‚Widerstreit, Erregung und Unruhe‘ den größten Raum ein, Eckhart richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Zeit, da das Kind geboren ist und die Mutter Leid und Pein vergisst.121 Ferner konnte durch die äußere Wiederherstellung Ijobs, wie sie im Epilog erzählt wird, der Eindruck entstehen, dass Ijob durch Menschen und ihre Gaben seinen Trost gefunden habe. In Ijob 42,11 heißt es, dass seine Verwandten und Bekannten Ijob trösten: ‚Da kamen zu ihm alle seine Brüder und alle seine Schwestern und alle seine früheren Bekannten und aßen mit ihm Brot in seinem Haus. Sie bekundeten ihm ihr Mitleid und trösteten ihn (Vulgata: et consolati sunt eum) wegen all des Unglücks, das der Herr über ihn gebracht hatte.‘ Dass die entscheidende Wende bereits mit der Gottesschau in Ijob 42,5 eintritt, konnte dabei 118. Eckhart, BgT 2, DW V 19, 14-6; trans. ibid. 476; EW II 249, 13-6. Vgl. auch BgT 2, DW V 27, 3-7; trans. ibid. 480; EW II 259, 28-34: ‚Darum soll der Mensch keinen Schaden beklagen. Er soll vielmehr beklagen, dass ihm Trost unbekannt ist, dass Trost ihn nicht zu trösten vermag, so wie der süße Wein dem Kranken nicht schmeckt. Er soll beklagen, wie ich oben geschrieben habe, dass er der Kreaturen nicht gänzlich entbildet und nicht mit seinem ganzen Sein der Gutheit eingebildet ist.‘ 119. Eckhart, BgT 2, DW V 34, 3-4; trans. ibid. 482; EW II 269, 1-3. 120. Eckhart, BgT 2, DW V 34, 17-9; trans. ibid. 483; EW II 269, 19-22. 121. Eckhart, BgT 2, DW V 34, 20-35, 2; trans. ibid. 483; EW II 269, 24-7.

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leicht übersehen werden, obwohl Eckhart den Vers an anderer Stelle im Zusammenhang seiner Lehre von den Transzendentalien und der cognitio Dei experimentalis zitiert.122 Der Weg Ijobs ist aus der Perspektive Eckharts zunächst als eine alteratio zu verstehen, als eine ihm von außen auferlegte Veränderung, gegen die er sich sträubt. Gegen Ende der Geschichte jedoch wird ihm die alteratio zunehmend als eine generatio erschlossen, als eine Verwandlung aufgrund von Erzeugung beziehungsweise Geburt.123 Nach Eckhart besteht das Ziel des menschlichen Lebens darin, dass der Mensch wesensgleich (consubstantialis) mit Gott werde, dass er ‚im univoken Sinne Gott‘ werde, ‚gerecht, gut, weise, wahr, eines, seiend‘.124 Eckhart bezeichnet diesen Vorgang als generatio filii, als die Geburt des Sohnes Gottes oder als die Geburt Gottes in der Seele. So wie Christus, der Sohn Gottes, eins ist mit dem Vater, so soll auch der Mensch Sohn werden, das heißt eins mit Gott, dem Vater. Dem Menschen ist seine wahre Bestimmung nach Eckhart in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus geoffenbart worden. Das ist der Kern der Frohen Botschaft. Christus als der Mensch gewordene Gott gab ‚denen, die ihn aufnahmen, die Macht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben‘ (Joh 1,11). Demnach ist der Mensch noch nicht an seinem Ziel. Er lebt noch in der Trennung von Gott und ist daher noch nicht Gott gleich. Um dies zu werden, bedarf er der Verwandlung. Verwandlung kann auf zwei unterschiedliche Weisen erfahren werden. Zum einen als eine von außen auferlegte gewaltsame Veränderung (alteratio), der sich ein Mensch mit allen seinen Kräften widersetzt, um einen gegebenen Zustand aufrechtzuerhalten. Zum anderen aber kann ein Mensch der ihm auferlegten Veränderung zustimmen und sie aus innerer Freiheit als einen Weg der Wandlung zu einem höheren Leben, als Erzeugung (generatio) eines neuen Lebens verstehen. Damit sind zwei unterschiedliche, einander widerstrebende Aspekte des Leidens angesprochen. In der ersten Form verdoppelt der Mensch sein Leid dadurch, dass er sich ihm widersetzt. Im Horizont einer sein Denken und Tun prägenden Absonderung von Gott sieht er in der ihm auferlegten Veränderung 122. Eckhart, In Ioh. n. 191, LW III 159, 15-160, 13. Vgl. dazu oben in diesem Beitrag Abschnitt 3.3 (‚Gott schauen‘). 123. Zum Folgenden vgl. R. Manstetten, Esse est Deus (1993), 509-27. 124. R. Manstetten, Esse est Deus (1993), 511.

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(alteratio) keinen Sinn. An die Stelle des von ihm nicht zu erkennenden Sinns verleiht das von Gott getrennte Ego dem ihm auferlegten Geschehen seinen eigenen Sinn, der gewöhnlich darin besteht, dass das ihm auferlegte Leiden als sinnlos angesehen wird. In dieser Eigensinnigkeit widersetzt sich der Mensch dem Leid und erzeugt gerade durch seinen ohnmächtigen Widerstand neues Leid. Die Alternative zur Verweigerung des Einverständnisses bildet die Annahme des Leids. Sie besteht zunächst in dem Glauben, dass sich in der dem Menschen auferlegten Veränderung (alteratio) eine Zeugung, eine Geburt (generatio), vollzieht. Im Horizont der Menschwerdung Gottes wird der dem Menschen auferlegte Verwandlungsprozess als Geburt des Sohnes einsichtig. Der Mensch tritt in das Sohn-Sein ein, wenn er die ihm auferlegte Veränderung nicht mehr als ein dumpfes Werden der Natur widerwillig erleidet, sondern als eine von Gott und auf die Einheit mit Gott hin in Gang gesetzte Erzeugung versteht und aktiv annimmt. In diesem Sinne ist das Leiden für den Menschen, der es annimmt, der schnellste Weg zur göttlichen Vollkommenheit: ‚Das schnellste Tier, das euch zu dieser Vollkommenheit trägt, ist Leiden, denn es genießt niemand größere Süße als diejenigen, die mit Christus in der größten Bitterkeit stehen‘.125 Der Mensch kann diesen Weg gehen, weil Gott ihn selbst gegangen ist. Wer das Leid annimmt, ist nicht allein, sondern hat Christus, der das Leid angenommen hat, an seiner Seite. Das ist nach Eckhart der Sinn der Menschwerdung: ‚Es gehört, wenn man Sohn sein soll, dazu, dass man leide. Weil Gottes Sohn in der Gottheit und in der Ewigkeit nicht leiden konnte, darum sandte ihn der himmlische Vater in die Zeit, damit er Mensch würde und leiden könnte. Willst du denn Gottes Sohn sein und willst doch nicht leiden, so hast du gar unrecht‘.126 Damit wird ein bedeutender Schritt von einer entfremdend-heteronomen hin zu einer immanent-autonomen Auffassung des Leids und der Veränderung getan. In der Gestalt Ijobs ist dieser Weg zu erahnen. Deshalb hat die christliche Tradition in ihm eine figura Christi gesehen. Im Horizont der Theologie der Menschwerdung wird dieser Weg von Eckhart ‚mit Hilfe

125. Eckhart, VA DW V 433, 1-3; trans. ibid. 547; EW II 459, 4-7. 126. Eckhart, BgT 2, DW V 48, 4-7; trans. ibid. 490; EW II 291, 28-33.

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der natürlichen Gründe der Philosophen‘127 geistig durchdrungen: ‚Wenn unser Herr, der Sohn, spricht: „der verleugne sich selbst und hebe sein Kreuz auf und komme zu mir“, so meint er dies: Werde Sohn, wie ich Sohn bin, geborener Gott, und werde dasselbe Eine, das ich bin‘.128

127. Eckhart, In Ioh. n. 2, LW III 4, 4-6; EW II 489, 30-1. 128. Eckhart, BgT 2, DW V 46, 6-8; trans. ibid. 489; EW II 289, 7-10.

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