Wiener Urbanitäten: Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt 9783205791683, 9783205794615

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Wiener Urbanitäten: Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt
 9783205791683, 9783205794615

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ETHNOGRAPHIE DES ALLTAGS, BAND 1

WIENER URBANITÄTEN KULTURWISSENSCHAFTLICHE ANSICHTEN EINER STADT

Herausgegeben von Brigitta Schmidt-Lauber , Klara Löffler , Ana Rogojanu und Jens Wietschorke

2013 BÖHL AU VERL AG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

Stadt Wien , MA7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung : Hans Klaus Techt / APA / picturedesk.com

© 2013 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG , Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1 , A-1010 Wien , www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung : Michael Haderer Lektorat / Korrektorat : Herbert Nikitsch , Lisa Welzel , Laura Gozzer , Herbert Hutz Herstellung und Satz : Carolin Noack Druck und Bindung : Arrabona Print Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-79461-5

INHALT EINLEITUNG 8 Writing City Vorüberlegungen zu den »Wiener Urbanitäten« Brigitta Schmidt-Lauber

ORTE 16

Vom Recht auf Erinnerung im Garten der Rosen Elke Krasny

34 Wie kommen die Nibelungen auf die Schmelz? Zur Straßenbenennung in einem Wiener Grätzel Herbert Nikitsch 48 Die Staatsoper und ihr kulturelles Souterrain Eine Versuchsanordnung zum Thema »Musikstadt Wien« Jens Wietschorke 68 »…erlebnismäßigen Zusammenhang mit dem Volke« Volkskunde in der Laudongasse zwischen Elite und Volksbewegung Birgit Johler und Magdalena Puchberger 94 »Dämon der modernen Zeit« Der Konflikt um die Wiener Großschlächterei im 19. Jahrhundert Lukasz Nieradzik 109 Informationsvermittlung im 18. Jahrhundert Das Wiener Frag- und Kundschaftsamt Anton Tantner

SZENEN 132 Der Südbahnhof Ethnographie eines Abschieds Daniela Schadauer 151 Ethnographie der Sponsion an der Universität Wien Deutungsangebote zu einem akademischen Ritual der Macht Brigitta Schmidt-Lauber 185

Straßentauben als teilhabende Akteure des Wiener Stadtraums Svenja Reinke

204 Als Volunteer bei der Fußballeuropameisterschaft in Wien Anna Stoffregen 214 Die ephemere Stadt Urbane Sequenzen in Wiener Amateur- und Gebrauchsfilmen Siegfried Mattl

BEWEGUNGEN 234 Sitzen/Liegen Möbel und Körper im Museumsquartier Wien Birgit Johler 250 Lebende Statuen auf dem Stephansplatz Eine ethnographische Skizze Charlotte Räuchle 266 Im Lift Bewegungen in einer städtischen Vertikalen Monika Hönig 284 Streckenänderung Aus gegebenem Anlass Klara Löffler

EINDRÜCKE 300 Auf den Spuren städtischer Atmosphären Empirische Annäherungen Ana Rogojanu 322 Das Gesprächssummen Freundschaftlichkeit als Erscheinungsform der Fußballbegeisterung auf der Friedhofstribüne des Wiener Sportclub-Platzes Jochen Bonz 348 »Wiener Lärm« Akustische Großstadtkritik um 1900 Peter Payer 369 Der gedehnte Blick auf ethnographisches Material zu Gehörlosigkeit in Wien Malte Borsdorf 386 AutorInnenverzeichnis

Brigitta Schmidt-Lauber

WRITING CITY VORÜBERLEGUNGEN ZU DEN »WIENER URBANITÄTEN« »Wien ist anders« – so lautet ein viel zitierter Satz aus der Wiener Tou­ris­mus­ werbung. Differenz wird vielfach als Signatur moderner Stadtkultur verstanden , und zwar sowohl im Sinne innerer Heterogenität als auch im Sinne der Zuschreibung von Differenz zwischen Städten. Der vorliegende Band folgt dieser doppelten Spur und befragt sowohl die Vielseitigkeit als auch die angebliche Spezifik der Stadt Wien. In einer Reihe ethnographischer und historischer Fallstudien , bebilderter Essays und Mo­ment­­aufnahmen über und aus Wien beschreiben die hier versammelten Autorinnen und Autoren eine große Bandbreite städtischer Handlungsorte und Lebenswelten und bieten damit kulturwissenschaftliche Sichtweisen auf die Stadt an. Der Tücken unseres Unterfangens sind wir uns sehr wohl bewusst : Bücher wie dieses tragen zur Typologisierung von ›Stadt‹ und in diesem Fall konkret zur Inszenierung von Wien bei. Gerade in Zeiten wie diesen , in denen die Suche nach der Spezifik einzelner Städte – nach dem Habitus oder der Eigenlogik einer Stadt – in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft hoch im Kurs steht , ist die Wirkmacht von Impulsen der Typologisierung groß. Mit Titel und Thema des Bandes ( re )produzieren und festigen wir ein ganz bestimmtes Bild der Stadt , das jedoch vieles und Wesentliches ausklammert. Die vorliegende Zusammenstellung basiert auf bestimmten Kriterien der Textauswahl und konturiert den Blick auf die Stadt in einer Weise , die selbst lohnenswerter Gegenstand einer Analyse wäre. Im Ergebnis kommen Themen zum Zuge , die wir dem Städtischen zuordnen und die einer »Anthropology in the City« oder einer »Anthropology of the City«1 zugeordnet werden können , in der also einerseits Phänomene in der Stadt und andererseits die Stadt selbst zum Gegenstand der Forschung erhoben werden. Wir sind uns also bewusst , dass auch die hier vorgelegten wissenschaftlichen Analysen und Essays zur Konstruktion des Gegenstands ›Stadt‹ beitragen und sich in die Narrative der Stadt einschreiben. Writing city – so lässt sich dieses Tun beschreiben , womit Anregungen des linguistic turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften aufgegriffen werden , mit dem Sprache nicht länger als Medium der Faktenvermittlung , sondern als ein Regeln und Diskursen unterliegendes System der sozialen Konstruktion von ›Wahrheit‹, ›Welt‹, ›Geschichte‹ und ›Kultur‹ verstanden wird. Zugleich analogisiert der Begriff wissenschaftsreflexive Konzepte verschiedener Disziplinen wie ›writing culture‹ und ›writing 1

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Vgl. Hannerz ( 1980 ): Anthropology of the City.

history‹. Das Hervorbringen des Erforschten – sei es Kultur , Geschichte oder eben Stadt – durch die Forschenden und deren Texte findet darin einen tragfähigen Ausdruck. Auch im Bereich kulturwissenschaftlicher Stadtforschung hat sich längst ein praxeologisches Kulturverständnis durchgesetzt , demzufolge Stadt nicht einfach gegeben und einheitlich ist : Sie ist weder zufälliges noch präzise planbares Produkt , sondern wird auf komplexe Weise von ganz unterschiedlichen Akteuren und Instanzen – eben auch von der Wissenschaft – ausgehandelt und geschaffen. Wenn hier von ethnographischer Stadtforschung die Rede ist , so meint dies neben Spezifika des methodischen Zugangs zugleich eine solche reflexive Auseinandersetzung mit den Entstehungsbedingungen des Forschungsgegenstands und -prozesses sowie mit den gefundenen Ergebnissen. Aus all diesen Gründen sprechen wir im Untertitel von den »kulturwissenschaftlichen Ansichten einer Stadt«, um die perspektivisch geleitete Sicht auf die Themen zu spiegeln , welche die kennzeichnende Verwobenheit zwischen Darsteller /  Darstellerin , Darstellung und Dargestelltem beinhaltet. Auch der Haupttitel »Wiener Urbanitäten« ist mit Bedacht gewählt und verweist auf dem Band vorausgehende begriffstheoretische Überlegungen , auf die hier rekurriert wird und die benannt werden sollen , auch wenn sie im Weiteren nicht den Gegenstand des Buches bilden. Über den Plural »Urbanitäten« soll Kritik an einem normativ verstandenen Urbanitätsbegriff angezeigt , und Urbanität dennoch als tragfähiger Terminus für die kulturwissenschaftliche Forschung behauptet werden. In Wissenschaft wie Alltagssprache ist der Begriff im Singular gebräuchlich und als Chiffre für eine spezifische großstädtische Lebensweise festgeschrieben. Er ist in seiner alltäglichen Verwendung auffallend positiv besetzt , was sich besonders in seiner adjektivischen Nutzung zeigt : »Urban« ist heutzutage geradezu ein Qualitätsmerkmal , das Menschen , Lokalitäten , Modetrends oder Konsumpraktiken zugeschrieben wird und das Benannte darüber mit einem erstrebenswerten Lebensstil und einer entsprechenden Ästhetik konnotiert , ja auszeichnet. Damit ist Urbanität in hohem Maße vermarktbar. In vergleichbarer Weise normativ ist der Urbanitätsbegriff in den Sozialund Kulturwissenschaften besetzt , insofern er weitestgehend auf Vorstellungen von »Großstadt« bezogen bleibt : Er benennt eine großstädtische Lebensweise ( »way of life«)2 , die in ganz bestimmten Räumen beziehungsweise Milieus zu finden und dabei eng mit klassischen Vorstellungen von Modernität verknüpft ist. Stadt an sich wird in dieser Logik also mit Großstadt gleichgesetzt und auf eine spezifische , linear verstandene Entwicklung bezogen : auf die europäische Großstadt speziell im 19. und 20. Jahrhundert nämlich. Dieses Verständnis von Urbanität als großstädtischer Lebensweise folgt vielfach dem , was schon Klassiker wie Georg Simmel oder Willy Hellpach als »großstädtischen« Habitus cha2

Vgl. Wirth ( 1938 ): Urbanism as a way of life.

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rakterisiert hatten. Die so verstandene Urbanität wurde zu einem »Mythos«,3 und erst wenige neuere Arbeiten haben urbane Lebensformen auch jenseits der Großstadt in den Blick genommen.4 Trotz dieser starken Deutungstradition halten wir den Begriff Urbanität für wichtig und gerade aus der Perspektive der Alltagskulturwissenschaft Europäische Ethnologie unter bestimmten Voraussetzungen für tragfähig , Stadt und Leben in der Stadt kulturwissenschaftlich zu untersuchen : dann nämlich , wenn er ausdrücklich nicht normativ verstanden wird. So sehen wir in Urbanität einen allgemeinen Terminus für städtisches Leben , der per definitionem die Heterogenität städtischer Lebensweisen anvisiert und sich auf Städte verschiedener Größe und Art anwenden lässt. Ein solches Begriffsverständnis folgt weniger der Simmel’schen Tradition als vielmehr einer Auffassung von Urbanität als pluralem Set von Lebensstilen in verschiedenen städtischen Kontexten. Deshalb vermeiden wir den Singular , der eine Homogenisierung städtischen Lebens und städtischer Vielfalt suggeriert , und sprechen stattdessen von Urbanitäten. Heterogenität ist in mehrerer Hinsicht ein Prinzip des Buches. »Ways of life« gibt es ( nicht nur ) in Wien viele. Weder konzeptionell noch thematisch erheben wir mit und in diesem Band Anspruch auf Vollständigkeit. Die Beiträge sind also nicht als repräsentatives Abbild Wiener Urbanitäten zu verstehen ( das wir auch gar nicht für möglich halten ), sie bilden kein gezielt gestecktes Blumenbouquet , sondern eher eine Art bunten Wiesenblumenstrauß , in dem aktuell Vorhandenes beziehungsweise Entstandenes locker zusammengestellt ist. Die damit anvisierte Heterogenität zeichnet auch die nachfolgend zu lesenden Beiträge aus , in denen nicht nur ganz unterschiedliche Orte , Menschen , Situationen und Fragen in den Blick genommen werden , sondern die jeweiligen Themen auch in verschiedenen Formaten und Stilen verhandelt werden. Weder sollten nur detaillierte wissenschaftliche Abhandlungen noch nur essayistisch gehaltene Bilderschienen zu lesen sein , vielmehr stellen die Texte in ihrer Vielfalt mehrere Möglichkeiten der Repräsentation von Stadt und Stadtkultur zur Diskussion. Auch die Entstehungskontexte der Texte sind verschieden. Ihren gemeinsamen Nenner aber bildet das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien , an dem aktuell alle Herausgeberinnen und der Herausgeber dieses Buches tätig sind. Ein Teil der Beiträge geht auf ein Institutskolloquium unter dem Titel »Urbanität und populäre Kulturen« zurück , das wir im Sommersemester 2010 am Institut für Europäische Ethnologie in Wien abgehalten haben , ein anderer Teil auf einen ebendort entstandenen Diskussionszirkel über Stadtforschung , der experimentelle Formen ethnographischer Repräsentation 3 4

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Wüst : Urbanität. 2004. Vgl. z. B. Dirksmeier ( 2009 ): Urbanität als Habitus ; Schmidt-Lauber ( Hg. ) ( 2010 ): Mittelstadt.

Brigitta Schmidt-Lauber

in den Blick nahm , und manche Beiträge sind auch ergänzend eingeworben worden. Damit spiegelt der Band einen in Forschung und Lehre verankerten thematischen Schwerpunkt des Instituts auf kulturwissenschaftlich-ethnographischer Stadtforschung.5 Die Beiträge des Buches sind vier Kategorien zugeordnet , wobei die so entstandenen Abschnitte nicht als trennscharfe Kapitel zu verstehen sind : Orte  – Szenen – Bewegungen – Eindrücke. Den Anfang machen Texte , die ganz unterschiedliche Orte der Stadt fokussieren. Elke Krasny startet den Reigen mit einem Durchlauf durch den Volksgarten , in welchem sie auf verschiedenen Zeitebenen das Sichtbare wie die Rosenstöcke , den Tempel oder die vor diesem stehende Statue auf ihre unsichtbaren historischen Kontexte hin befragt und an Ausgeblendetes der Stadtvergangenheit erinnert. Es schließt Herbert Nikitsch an , der den Straßenbenennungen des seit 1912 so benannten Nibelungenviertels nachspürt. Jens Wietschorke folgt dem Imaginären der Stadt anhand einer ­ihrer repräsentativen Institutionen : Ausgehend von der Staatsoper am Ring liest er ausgewählte Orte der Musikstadt Wien als symbolische Anordnungen von »hoher« und »niederer« Kultur. Die hier gelegten »volkskundlichen« Spuren zum »kulturellen Souterrain« der Stadt vertiefen Birgit Johler und Magdalena Puchberger in ihrem Beitrag , der aus einem laufenden Forschungsprojekt am Volkskundemuseum in der Wiener Laudongasse berichtet und das Wirken der volkskundlich aktiven Laien wie Experten am Museum in den 1930er-Jahren untersucht. Lukasz Nieradzik widmet sich dem Schlachthaus St. Marx und seziert den dortigen Konflikt verschiedener Interessengruppen um die Einführung der Wiener Großschlächterei Ende des 19. Jahrhunderts , wobei Interessenkollisionen vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse der Moderne aufscheinen. Abschließend stellt Anton Tantner die Geschichte des Wiener Frag- und Kundschaftsamts im 18. Jahrhundert als städtische Institution und analoge ›Suchmaschine‹ vor. Die Szenen werden eingeleitet von Daniela Schadauer , die einen historischen Moment der Stadt Wien ethnographiert : die Verabschiedung des Südbahnhofs , der Ende 2009 für die Errichtung des Hauptbahnhofs geschlossen und abgerissen wurde. Der Text spürt der Art und Weise nach , wie im Zuge dessen unterschiedliche Akteursgruppen den Bahnhof umnutzen und umdeuten und so spezifische Bilder von der Vergangenheit und der Zukunft der Stadt entwickeln. Eine akademische Szene betrachtet Brigitta Schmidt-Lauber , die die 5

So entstehen zahlreiche Qualifikationsarbeiten über österreichische und deutsche Städte , und seit 2011 läuft am Institut für Europäische Ethnologie in Wien ein vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ( FWF  ) gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema »Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim«, an dem aktuell fünf Personen arbeiten.

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sogenannte Sponsion an der Universität Wien als Ritual der Inszenierung der akademischen Eigenwelt einer kulturwissenschaftlichen Deutung unterzieht und sich damit einem Ausschnitt ihrer eigenen Alltags- und Arbeitswelt ethnographisch nähert. Den Tauben als alltagsrelevantem Bestandteil des ( W iener ) Stadtraums , um den herum sich Konflikte und Zusammenschlüsse formieren , wendet sich Svenja Reinke zu , gefolgt von Anna Stoffregen , die Phänomene der Inklusion und Exklusion im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Volunteer der Fußballeuropameisterschaft in Wien diskutiert. Siegfried Mattl geht in seinem Essay den Effekten des »Ephemeren« in Wiener Amateur- und Gebrauchsfilmen nach und pluralisiert so auf seine Weise den Blick auf Stadt und Urbanität – hin zu einem »mehrdimensionalen Stadttext«. Der dritte Abschnitt – Bewegungen übertitelt – startet mit einem Beitrag von Birgit Johler , die die städtischen Praxen des Liegens und Sitzens im öffentlichen Raum am Beispiel des Museumsquartiers und seiner Möblierung unter die Lupe nimmt. Charlotte Räuchle beschäftigt sich mit »Lebenden Statuen« als Form der Straßenkunst im Zentrum Wiens und zeigt , dass diese nicht nur Blickfang sind , sondern auch Interaktionen auf unterschiedlichen Ebenen provozieren. Vertikale Mobilität reflektiert Monika Hönig , die den Lift beziehungsweise das Fahren im Lift als spezifische soziale und kommunikative Situation betrachtet. Klara Löffler schließt den Abschnitt und verknüpft Beobachtungen zu Streckenänderungen in den alltäglichen Praktiken des Gehens in der Stadt mit Überlegungen zu den Perspektiven einer Stadtforschung , die diese Bewegungen allzu schnell typisiert. Der vierte und letzte Abschnitt behandelt städtische Eindrücke und wird eröffnet durch einen Text von Ana Rogojanu , die dem kulturwissenschaftlich und philosophisch aktuellen Thema der städtischen Atmosphären nachspürt und theoretische Reflexionen auf ihre empirische Umsetzbarkeit hin befragt. Jochen Bonz widmet sich anschließend einer besonderen Atmosphäre , die durch die Akustik beim Fußballspiel entsteht : Am Beispiel des »Gesprächssummens« am Wiener Sportclub-Platz liefert er eine kulturwissenschaftliche SoundscapeAnalyse. Auch Peter Payer folgt der Frage nach städtischen Geräuschkulissen und zeichnet nach , wie um 1900 ( auch ) anhand urbanen Lärms Großstadtkritik geübt wurde. Den Abschluss des Bandes bildet ein weiterer auf die Akustik abzielender Text , in dem Malte Borsdorf die Möglichkeiten einer Ethnographie zur Gehörlosigkeit erprobt und damit die Wahrnehmung und Erfahrung städtischer Umwelten ohne Geräusche und Lärm thematisiert. Der entstandene Strauß an Texten ist als Lesebuch zu verstehen , das in verschiedene Ansichten der Stadt Wien und in verschiedene kulturwissenschaftliche Diskursfelder hineinführt. Wir danken allen Autorinnen und Autoren an dieser Stelle herzlich für die Mitwirkung an diesem Buch. Auch Herbert Nikitsch danken wir für die redaktionelle Mitarbeit und Korrektur der Texte

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Brigitta Schmidt-Lauber

sowie Lisa Welzel für die Unterstützung zur Fertigstellung der Druckfassung. Die »Wiener Urbanitäten« stellen den ersten Band der Schriftenreihe des Instituts für Europäische Ethnologie zum Thema Ethnographie des Alltags dar. Die Reihe bildet ein Publikationsforum für eigenständige kulturwissenschaftliche Abhandlungen ( Monografien ) schwerpunktmäßig aus der Europäischen Ethnologie /  Volkskunde /  Kulturanthropologie /  Empirischen Kul­ tur­w issenschaft sowie für Tagungs- und Sammelbände von empirisch arbeitenden Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern , die Fragen der Alltagskultur aus einer ethnographischen Perspektive reflektieren. In der Reihe werden Studien zu alltagskulturellen Themen in Gegenwart und Geschichte publiziert. Den Begriff Ethnographie verstehen wir in diesem Zusammenhang somit weit und nicht allein als methodische Spezifizierung einer besonderen Vorgehensweise qualitativer Gegenwartskulturanalyse. Zugleich meinen wir damit konkrete , anschauliche Darstellungsstile und schließlich eine spezifische Epistemologie6 , die wir für kennzeichnend für unser Fach halten. »Ethnographie des Alltags« benennt somit Themen und Zugänge Empirischer Kulturwissenschaft und bildet zugleich einen unterschiedlichen Feldern übergeordneten Schwerpunkt der Lehre und Forschung am Institut für Europäische Ethnologie ab.

LITERATUR Dirksmeier , Peter ( 2009 ): Urbanität als Habitus : Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land. Bielefeld. Hannerz , Ulf ( 1980 ): Anthropology of the City. Inquiries toward an Urban Anthro­ pology. New York 1980. Hellpach , Willy ( 1939 ): Mensch und Volk der Großstadt. Stuttgart. Europäische Ethnologie ( 2012 ). In : ÖGL : Zeitschrift Österreich in Geschichte und Literatur ( mit Geographie ) 56 , 2. Schmidt-Lauber , Brigitta ( Hg. ) ( 2010 ): Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der ­Metropole. Frankfurt am Main /  New York. Simmel , Georg ( 1903 ): Die Großstädte und das Geistesleben. In : Die Großstadt , Jahrbuch der Gehe-Stiftung IX , S. 186–206. Wietschorke , Jens ( 2012 ): Beziehungswissenschaft. Ein Versuch zur kulturwissenschaftlichen Epistemologie. In : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde , Neue Serie 115 , 3+4 , S. 325–359. Wirth , Louis ( 1938 ): Urbanism as a Way of Life. In : The American Journal of Sociology 44 , 1 , S. 1–24. Wüst , Thomas ( 2004 ): Urbanität. Ein Mythos und sein Potential. Wiesbaden.

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Vgl. Wietschorke ( 2 012 ): Beziehungswissenschaft ; vgl. Europäische Ethnologie ( 2012 ).

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Elke Krasny

VOM RECHT AUF ERINNERUNG IM GARTEN DER ROSEN Sommer 2011 Ausdauernd zieht sie ihre Runden. Mindestens fünfundvierzig Minuten lang wird sie von nun an hier jeden Abend laufen , solange das wunderbar milde Herbstwetter es zulässt. Das hat sie sich fest vorgenommen. So viel Zeit muss sein. Eine Uhr hat sie nicht dabei. Weder um den Arm noch in der Tasche soll ein mitgetragenes Zeitmessungsgerät sie für diese Dreiviertelstunde , die der Intensivierung der körperlichen Erfahrung gewidmet sein soll , beschweren. Trotzdem kann sie ohne Mühe herausfinden , wie viel von der Laufzeit , die sie sich verordnet hat , sie bereits absolviert hat , indem sie auf das große und weithin sichtbare Zifferblatt mit den römischen Zahlen schaut , das zu der Uhr gehört , die sich auf einem der Türme des gegenüberliegenden Rathauses befindet. Der intensive Duft einer großen Anzahl in Reih und Glied angeordneter Rosen erfüllt die langsam über den Garten in der Stadt hereinbrechende Dämmerung. Gerne würde sie dieser Verführung nachgeben , innehalten , stehen bleiben , einzelne dieser an die rund 400 verschiedenen Rosenarten langsam und speziell würdigen , sie in ihrer Unterschiedlichkeit genauer wahrnehmen , ihre Aromen genießerisch einatmen und auskosten , ihre Farben und Pracht nicht nur im Vorbeilaufen flüchtig aus dem Augenwinkel bemerken. Doch das Laufen muss Vorrang haben. Die Verpflichtung zur Gesunderhaltung der Körper zeigt sich zunehmend in den öffentlichen Räumen. Es ist nicht nur eine ästhetische Verpflichtung , ebenso gesund wie fit zu sein , sondern zunehmend auch eine ökonomisierte. Das Wohlergehen des eigenen Körpers ist zur Verpflichtung jedes Einzelnen geworden. Nicht mehr die wohlfahrtsstaatliche Vorsorge trägt der Gesund­heit Rechnung , Abb. 1  : Die Übersicht bewahren Sesselreihe und Rosenreihen im Volksgarten, 2012. Foto: Elke Krasny

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sondern der Einzelne ist in die Pflicht genommen : Er trägt Verantwortung für den gesund zu erhaltenden Körper , während das allgemeine Wohl im Abnehmen ist. Der langsame , aber sichere Abbau des Wohlfahrtsstaates korreliert mit den Körpern , die sich im öffentlichen Raum laufend bewegen. Sie tragen der Sorge um sich selbst Rechnung. Sie erhalten sich gesund. Sie leisten einen Beitrag. Sie demonstrieren soziale wie ästhetische Verantwortung im neoliberalen Takt des Mitlaufens als flexible und eigenständige Selbste , die ihr Vergnügen und ihre Verantwortung mitei­nander verbinden und demonstrativ zur Schau stellen. Laufen ist nicht einfach nur Laufen. Es hat Nebenbedeutungen , derer sie sich bewusst sein muss. Das Laufen hat seine Unschuld verloren , wie so vieles andere auch. Lebenslanges Lernen , lebenslange Gesundheit , lebenslang … Sie überlegt , was als nächstes kommen wird und aus einem emanzipatorischen , gesellschaftskritischen Anspruch eine gesellschaftlich verordnete Notwendigkeit machen wird. Sie denkt an einen Namen , der ihr in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt. Das McFit Fitnessstudio. Wie sie auf deren Website gelesen hat , »eine der erfolgreichsten Fitness-Studio-Ketten Deutschlands«1 , die auch in Österreich und in Wien mehrmals zu finden ist. Von McFit zu McJob ist die Assoziationskette nicht weit. In den 1990er-Jahren schrieb Douglas Coupland in »Generation X : Tales for an Accelerated Culture« über die McJobs , die schlecht bezahlt , ­ohne Zukunftsperspektiven , ohne Anerkennung , vorwiegend im Servicesektor zu finden sind. Vorwiegend Frauen betreffen , ergänzt sie. Zeithistorisch betrachtet gehört sie selbst auch zu dieser Generation X. Um mit der beschleunigten Kultur mitzuhalten , muss sie folglich weiter laufen , um zu wissen , was es bedeutet , muss sie über das Laufen und seine Orte nachdenken , während sie läuft. Das ist auch Teil ihrer Generation , die Selbstreflexivität und die Verpflichtetheit zum kritischen Bewusstsein , das sich immer wieder neu an den geänderten Verhältnissen ausrichten muss , ohne das Gewordensein des Spezifischen der Orte und ihrer Bedingtheiten aus den Augen zu verlieren. Sie wählt den Ort mit den Rosen , um zu laufen und über die zunehmenden Verschiebungen sozialer Gerechtigkeiten auf die Ungerechtigkeitsskala nachzudenken. Allmählich passt sich der Rhythmus des Joggens wie von selbst den ständig wechselnden Beats an , die der Wind aus der »Banane« herüberweht und so für eine akustische Untermalung der einen Hälfte ihrer Laufrunde sorgt. Die »Banane« ist ein Teil der den Garten begrenzenden Unterhaltungsinfrastruktur. Im Jahr 2011 wurde die »Banane«, die zwischen dem »Pavillon« und der »Clubdiskothek« liegt , in »Säulenhalle« umbenannt. Das geht auf die früheste Nutzung zurück , die Cortische Säulenhalle. »1819 gibt der Hof dem aus Mailand gekommenen Kaffeesieder Pietro Corti die Erlaubnis zur Errichtung eines ›Kaffee- Thee- , 1

https://www.mcfit.com ( 30. 10. 2012 ).

Vom Recht auf Erinnerung im Garten der Rosen

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[ sic ] und Chokoladen-Ausschanks mit practicablen Tischen , Bänken und auch Gestühle‹.«2 Die Entwürfe für das Cortische Kaffeehaus stammten von Peter von Nobile , dem damaligen Hofbaumeister. Errichtet wurde es zwischen 1820 und 1823. Das , was später als Wiener Kaffeehauskultur zum tiefenwirksamen Selbstbild und zum touristischen Exportartikel werden sollte , erfuhr durch die Expertise und den Geschäftssinn des Mailänder Kaffeeexperten Pietro Corti eine entscheidende Verbesserung. Das Kaffeehaus erreichte den Garten. Das Kaffeehaus wurde erfrischend. Bis dahin hatten ausschließlich verrauchte Räume in der dicht verbauten Stadt die Kaffeehauskultur geprägt. Die politische Prominenz , die internationale Diplomatieszene , lokale Schriftsteller wie Franz Grillparzer , Ferdinand Raimund , Ignaz von Castell trafen einander im Cortischen Kaffeehaus. Hier wurde , formell und informell , Politik und Kultur gemacht. Johann Strauß , Josef Lanner , Richard Wagner , sie alle trugen bei , um die mentalitätsgeschichtliche Tiefenschicht Wiens als Stadt der Musik aufzubauen. Am 10. März 1867 wurde hier der Donauwalzer von Johann Strauß Sohn uraufgeführt. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Cortische Kaffeehaus durch Luftangriffe zerstört. Der Vater der jetzigen Betreibergeneration , Peter Böhm , investierte in den Wiederaufbau , der zwischen 1947 und 1953 erfolgte. Die Entwürfe stammten von Oswald Haerdtl , der Bestand wurde um ein Restaurant , eine Milchbar , einen Gastgarten sowie eine Terrasse erweitert. Die Diskothek besteht seit 1974. Die beiden Wiener Architekturbüros BEHF Architekten und Artec Architekten zeichnen für die jetzige Gestaltung verantwortlich , die sich auf die bestehende Raumdramaturgie von Oswald Haerdtl stützt. 2011 war das Jahr der Investitionen in ein architektonisches Update , um zwischen Denkmalschutz und zeitgemäßem Designanspruch den größtmöglichen Gestaltungsspielraum he­rauszuschälen. »Die cortische Säulenhalle mit den Raumergänzungen von Haerdtl wird ›entrümpelt‹ und in ihrer kraftvollen Kurvung spürbar gemacht.«3 Die »Säulenhalle« erinnert zwar namentlich nun wieder an die »Cortische Säulenhalle«, doch der aus Mailand eingewanderte Corti , dessen Bedeutung für die Entwicklung der Wiener Kaffeehaustradition nicht zu unterschätzen ist , ist in der heutigen Benennung endgültig aus der städtischen Namensoberfläche verschwunden. Die , die in die Stadt einwandern , machen Stadtgeschichte , sie produzieren Stadt , werden aber unsichtbar gemacht. Im Jahr 2011 wird der historische Einwanderer Pietro Corti aus der für alle lesbaren Einschreibung in die Adressen der Stadt und der im Alltag ausgesprochenen Benennung nochmals eliminiert , nicht wieder in die Erinnerung gerufen. Die Säulenhalle bleibt , Corti ist verschwunden. Das wird tiefenwirksam werden. 2 3

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Alexandra Matzner : Der Wiener Volksgarten , http://www.textezukunst.com ( 30.  10. 2012 ). http://www.artec-architekten.at/project.html?id=144 ( 30. 10. 2012 ).

Elke Krasny

Abb. 2 : Ein frühmorgendliches Frühstück. Volksgarten, 2012 Foto: Elke Krasny

Die Klänge aus der zur Säulenhalle mutierten »Banane« wehen über den öffentlichen Garten. Der Mann mit den asiatischen Gesichtszügen , an dem sie nun schon viele Male vorbeigekommen ist , lässt sich von diesen lauten und intensiv schallenden Beats keineswegs aus seinem ruhigen und Eleganz ausstrahlenden Gleichmaß bringen. Unbeirrbar setzt er voller Konsequenz die Abläufe seiner Tai-Chi-Übungen fort. Platziert hat sich der Mann zentralperspektivisch vor dem Denkmal , dessen geschützte Nische er für sein konzentriertes Ritual nutzt. Woher dieser gekonnt Tai-Chi praktizierende Mann kommt , lässt sich nicht ersehen. Mit jeder ethnisierenden Zuschreibung seiner Herkunft könnte sie genau so gut richtig liegen wie falsch. Über die Herkunft des Mannes , über seine nationale Zugehörigkeit , lässt sich mit Bestimmtheit keine Aussage treffen. So hat sich die Stadt , die nach außen so veränderungsresistent erscheint , durchaus gravierend verändert. Sie ist sich selbst nicht gleich geblieben. Darüber ist sie froh. Vielleicht ist er ein Österreicher. Vielleicht lebt er in der Diaspora. Vielleicht ist er ein Arbeitsmigrant. Vielleicht ist er ein Expat. Vielleicht ist er ein Tourist. Vielleicht ist er auf der Durchreise. Seit dem Ende des Kalten Krieges , seit den zunehmenden Globalisierungswellen ist die Stadt zeitgenössisch wieder multiethnisch geworden. Es gibt ein chinesisches Wien , ein lateinamerikanisches Wien , ein afrikanisches Wien , ein türkisches Wien , ein ex-jugoslawisches Wien , noch viele andere Wiens. Der Mann , der hier TaiChi praktiziert , könnte aus einem dieser Wiens sein , aber vielleicht ist er auch gar nicht aus Wien. Die globalisierten Verhältnisse der Gegenwart wirken der nationalisierenden Zuschreibung der Körper und möglicher Herkunftslogiken

Vom Recht auf Erinnerung im Garten der Rosen

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entgegen. Er hat seine Tai-Chi-Routine in den öffentlichen Raum verlegt. So wie ihn hat sie viele im Renmin Park in Schanghai üben sehen , vor vielen Jahren , als sie Anfang der 1990er zum ersten Mal in China war. Damals hat sie die Verbindung und Vermischung von öffentlichem Raum , kollektiven Bewegungen und privater Konzentration , die sie dort zu sehen vermeinte , fasziniert. Der Mann erinnert sie an diesen Eindruck , auch er scheint ganz privat im öffentlichen Raum mit seinen Übungen in Einklang zu stehen. Auch er ist , wie sie , um die Gesunderhaltung seines Körpers bemüht. Er ist geübt. Immer wieder führt er eine Abfolge von Bewegungen durch. Dieser Mann hat sich in den Garten zurückgezogen , einen Streifen Gras , dessen Betreten nicht gestattet ist , überwunden und den Raum , den das Denkmal um sich herum beansprucht , betreten. Monumente isolieren. Sie müssen für sich stehen , um ihre räum­liche und symbolische Wirkung entfalten zu können. In diese Respektabstand gebietende , sonst leer bleibende Zone um das Denkmal hat sich der Körper dieses Mannes begeben und füllt den Raum mit der nahezu rituell anmutenden Konzentration , mit der er seine Tai-Chi-Übungen öffentlich zelebriert. Dem Denkmal selbst hat er seinen Rücken zugekehrt. Aus den Augenwinkeln sehen sie sich an , die Laufende und der Mann , sie nehmen einander wahr , sie auf ihren Runden um die in Reih und Glied gepflanzten , geometrisch exakt angeordneten Rosen , er vor dem Denkmal , das Franz Grillparzer gewidmet ist. Der anbrandende Verkehrslärm , der ihre Ankunft begleitete , ist fast vollständig abgeebbt , die Stadt der Autos hinter die Stadt der Rosen zurückgewichen. Das gleichmütig und beruhigend plätschernde Wasser , das auf das den Springbrunnen umgebende Wasserbecken trifft und sachte unregelmäßige , aber dennoch harmonisch sich wiederholende Klänge erzeugt , mischt sich mit den ständig wechselnden , immer schneller werdenden Rhythmen aus der »Banane«. Je länger sie ihre zwar um nichts schneller , aber doch gefühlt anstrengender werdenden Runden zieht , umso nuancierter werden all diese verschiedenen Klänge , Töne und Geräusche voneinander unterscheidbar. Die Wahrnehmung wird von der visuellen Aufmerksamkeit auf den Hörsinn gelenkt. Das , was sich öffentlich hören lässt , wird mehr und mehr voneinander differenzierbar. Einzelne Stimmen , die miteinander im Gespräch sind , lassen sich voneinander unterscheiden , Fragmente der Unterhaltungen der anderen , die sich auch hier befinden , lassen sich ausmachen , manchmal sogar verstehen. Die anderen laufen nicht , sie haben es sich auf den Bänken gemütlich gemacht oder sitzen aufrecht auf den einzelnen Stühlen , sie gehen die asphaltierten Spazierwege entlang , bleiben ab und an stehen , um an den Rosen zu riechen. Manche haben auch Stative mitgebracht , montieren ihre Fotokameras auf diesen und machen Nahaufnahmen der Rosen. Das Murmeln der beständig geführten Unterhaltungen und das unablässige Zwitschern der Vögel , deren verschiedene Arten sie nicht an diesem zu erkennen imstande ist , begleiten das Dunkelwerden. Sie denkt

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Elke Krasny

an die Stadt und die Sinne. Hier im Garten der Rosen treffen die verschiedenen Sinne aufeinander. In der alltäglichen Erfahrung ist die Stadt ein Ort der Sinne : das Sehen , das Hören , das Riechen , das Fühlen , das Schmecken. Der letztgenannte Sinn wird nur in der Vorstellung geweckt , wie diese Rosen wohl schmecken mögen , als Marmelade , als Gelee , das vermag sie sich zwar vorzustellen , ausprobieren wird sie es aber nicht.

Abb. 3 : Die Sessel sind befestigt, die Rosen mit persönlichen ­W idmungen versehen. Volksgarten, 2012 Foto: Elke Krasny

Noch hat ihr Laufen nicht jenen endorphinausschüttenden Intensitätsgrad erreicht , der den Strom der Gedanken und Reflexion unterbricht und den Körper ganz bei sich im Laufen sein lässt. Sie denkt unablässig über den Ort nach , an dem sie sich befindet. Sie versucht , sich diesen Ort zu vergegenwärtigen , in seiner für sie bedeutsamen Tiefendimension , versucht darüber nachzudenken , warum davon an der Oberfläche des öffentlich Wahrzunehmenden gar nichts geblieben ist , warum das , woran sie sich hier erinnert , der gängigen , kollektiven Vorstellungslandschaft vollständig entzogen worden ist. Der Ort , an dem sie läuft , der Ort , über dessen Wahrnehmung aus seiner feministischen Perspektivierung sie nachdenkt , der Ort , dessen kritische Relektüre und geschichts­ politische Befragung ihm zu einer anderen öffentlichen Identifikation verhelfen müsste , ist der Volksgarten in Wien , der erste öffentlich zugängliche Park , der sich in Hofbesitz befand und seit 1825 diesen Namen trägt.

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Sommer 1848 »… das demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten …« Erster Wiener Demokratischer Frauenverein 4 »Hüten Sie sich zu glauben , daß wir nicht vom lebhaftesten Interesse für die Emanzipation der Menschheit durchdrungen sind. [ … ] Wir beanspruchen Gleichheit der politischen Rechte.« Eine im Namen Unzähliger , Leserinnenbrief im »Freimüthigen« 5

Sie kann sich ein Bild von ihnen machen. Sie sieht sie deutlich vor sich , wie sie sich zielstrebig und mit ernster Miene aufgemacht haben , um sich gemeinsam einzufinden. Als Aktivistinnen gehen sie auf die Straße , um einander zu treffen , ihr vereinbartes Ziel ist der Volksgarten. Dort werden sie ihre revolutionäre Gründungsversammlung abhalten. Sie sind ebenso energiegeladen wie unaufhaltsam. Sie fürchten ihre Gegner nicht , denn sie wissen um die Bedeutung ihrer Mission. Sie kann sie sich deshalb so gut vorstellen , weil sie intensiv recherchiert hat , weil sie sie in der Geschichte gefunden hat. Würde sie sich auf die Wahrnehmung vor Ort verlassen , auf das , was der Ort über sich selbst preisgibt , dann hätte sie keine Vorstellung von ihnen , dann wäre es ihr unmöglich , sich ein Bild von ihnen zu machen. Denn heute gibt der Ort , an dem ihre Versammlung stattgefunden hat , mit keiner Spur zu erkennen , wie brisant die Ereignisse , die hier stattgefunden haben , waren. Der Ort erzählt keinem mehr , dass er Teil einer radikalen , frauenbewegten Geschichte ist. Der Volksgarten mit seinen blühenden Rosen und der verführerischen Idylle der Farben und Aromen verschweigt geflissentlich , dass hier einst von Frauen Revolution gemacht worden ist. Ihre Kleider sind lang und bunt. Auf dem Kopf tragen sie Hüte , die wie große Hauben aussehen. Unter dem Kinn sind sie festgebunden. Ihre Schuhe sind zierlich und flach , sie haben keine Absätze und sind auch nicht wirklich für das lange Gehen auf der Straße , geschweige denn das mühsame Demonstrieren , Marschieren oder Klettern auf die Barrikaden gemacht. Ihre Korsette sind engstens geschnürt , die Ärmel sind weit geschnitten. Ihre Haare sind , so wie es sich geziemt , tief im Nacken gebändigt und zum schlichten Knoten gebunden , bei manchen von ihnen ringeln sich die mit der Brennschere gebrannten Korkenzieherlocken an den Schläfen. Sie kommen vom Kohlmarkt und vom Graben , aus der Mariahilfer Straße und aus der Dorotheergasse , aus der Kärntner Straße , der Mölkerbastei , der Schiff­ 4 5

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http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/qs1lp.html ( 30. 10. 2012 ). Eine im Namen Unzähliger. Leserinnenbrief im »Freimüthigen«, zit. nach Hauch ( 1990 ): Frau Biedermeier , S. 140.

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gasse , der Breitenfelder Hauptstraße , der Alser Vorstadt und der Josefstadt. Von wo sie sonst noch aufgebrochen sind und die Stadt durchquerten , um sich mit den anderen zu vereinigen , das lässt sich heute , über 160 Jahre später , nicht mehr herausfinden. Es sind ihrer über hundert , vielleicht sind es jedoch sogar viel mehr , mehrere Hundert Frauen. Später werden die Quellen variieren und wollen sich nicht auf eine genaue Zahl festlegen. »Am 28. August versammelten sich vorwiegend bürgerliche Frauen , aber auch Arbeiterinnen – es ist von 150 bis zu mehreren hundert Frauen die Rede  – im Volksgarten , um über Gründung , Aufgaben und Statuten eines Frauenvereins zu diskutieren. Dieser Verein , in dem sich ausschließlich Frauen zusammenschlossen , unterstützte die Revolutionsbewegung und forderte als einziger die politische Gleichberechtigung der Frauen.«6 In den Augen der damaligen Öffentlichkeit war dies ungeheuerlich , durfte nicht Platz greifen , war nicht zu dulden. Die Frauen , die in aller Öffentlichkeit Rechte als Bürgerinnen der Stadt forderten , gleiche Rechte , über die Klassengrenzen hinweg , waren nicht nur der Nationalgarde ein Dorn im Auge , sondern zum Teil auch anderen , revolutionär gestimmten Männern. Gleichberechtigung war die Forderung. Das ging zu weit. Das war zu radikal , die Vereinsversammlung der Frauen wurde gestürmt und empfindlich gestört , auch mit frauenfeindlichen und sexistischen Diffamierungen öffentlich schlechtgemacht : »Die erste Vereinsversammlung , von der ausgeschlossenen männlichen Presse genüßlich bespöttelt und sogar als Treffen von ›Freudenmädchen‹ diffamiert , fand im Wiener Volksgarten statt und verlief nicht ohne Störungen : Neugierige Männer drückten die Fensterscheiben ein , und gewaltsam eindringenden Nationalgardisten gelang es schließlich , das Treffen zu sprengen , indem sie auf die Tische sprangen und die Rednerinnen nachäfften.«7 Vergegenwärtigt sie sich nochmals die damalige Bedeutung des Volksgartens , an dem politisch wie kulturell , auf lokaler wie internationaler Ebene , informell jene Beziehungen geknüpft wurden und jener Austausch gepflegt wurde , der die Geschichte machte , dann ist die Wahl des Volksgartens als Versammlungsort der Frauen eine bewusste Umdeutung und Aneignung dieses patriarchalen Machtortes. Auf die konstituierende Sitzung des »Wiener demokratischen Frauen-Vereins«, der insgesamt nicht länger als zwei Monate bestehen sollte , folgte die gemeinsame Verfassung der Statuten , die die Frauen als Gruppe kollektiv entwickelten und festsetzten. Nur Frauen konnten Mitglieder werden , Männer wie Frauen gleichermaßen waren als unterstützende Mitglieder willkommen. Diese Statuten sind in der Wienbibliothek aufbewahrt , auch auf der unweit gelege6 7

85 Jahre allgemeines Frauenwahlrecht in Österreich , http ://www.onb.ac.at / Ariadne /  projekte /  frauen_waehlet /  nebRaum02.html ( 30. 10. 2012 ). Erster Wiener Demokratischer Frauenverein , http://www.onb.ac.at/Ariadne/vfb/ fv_ewdfv.htm ( 30. 10. 2012 ).

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nen Österreichischen Nationalbibliothek findet sich ein Exemplar. Sechzehn Seiten umfassen sie. Die Forderungen und Aufgaben des Vereins waren ebenso aktuell motiviert wie auf nachhaltige Wirkung in der Zukunft angelegt. Sie wollten die Gesellschaft verändern und die herrschenden Regeln außer Kraft setzen. Sie wollten Revolution machen. Die Teilhabe an der Demokratie und ein Leben in Freiheit beruht in ihrer Argumentation auf der Möglichkeit , Zugang zu Bildung zu haben. Die Aufgabe des Vereins ist eine dreifache : eine politische , eine sociale und eine humane : a ) eine politische , um sich durch Lectüre und belehrende Vorträge über das Wohl des Vaterlandes aufzuklären , das demokratische Princip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten , die Freiheitsliebe schon bei dem Beginne der Erziehung in der Kinderbrust anzufachen , und zugleich das deutsche Element zu kräftigen ; b ) eine sociale um die Gleichberechtigung der Fauen anzustreben , durch Gründung öffentlicher Volksschulen und höherer Bildungsanstalten den weiblichen Unterricht umzugestalten , und die Lage der ärmeren Mädchen durch liebevolle Erhebung zu veredeln ; c ) eine humane , um den tiefgefühlten Dank der Frauen Wiens für die Segnungen der Freiheit durch sorgsame Verpflegung aller Opfer der Revolu­ tion auszusprechen.8

Sie setzten auf Engagement und intensive Involviertheit. Im Paragraf 22 der Statuten heißt es , dass »jede Woche wenigstens zwei regelmäßige Sitzungen stattfinden sollen«.9 Mindestens ebenso bedeutsam , wenn nicht noch bedeutsamer , ist der Umstand , dass sie klassenübergreifend agierten. Wiewohl sie vorwiegend der bürgerlichen Schicht oder dem niedrigen Adel angehörten , fanden sich auch Arbeiterinnen unter ihnen , und die Argumentation war die einer Solidarisierung ohne Ansehen der gesellschaftlichen Klasse. »Unter den Mitgliedern darf kein Standesunterschied gelten ; man sagt einfach Frau und Fräulein. Verheiratete Frauen haben vor unverheirateten keinen Vorzug.«10 Die Gründung hatte eine unmittelbare Vorgeschichte der Politisierung und Radikalisierung. Die Tageslöhne für die ErdarbeiterInnen waren drastisch gesenkt worden. Die HilfsarbeiterInnen im Baugewerbe wurden als ErdarbeiterInnen bezeichnet. Die hohen Arbeitslosenzahlen , die eklatante Wohnungs8 Statuen ( Sommer 1848 ), S. 5. 9 Ebd. , S. 10. 10 Ebd. , S. 7.

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not und die immensen Teuerungswellen verstärkten die revolutionäre Energie. Nicht nur die vehemente Unterdrückung durch die Zensur und der polizeistaatliche Überwachungsstaat führten zum Aufstand , die ökonomische Krisensituation verstärkte die Revolten. Um sowohl der Arbeitslosigkeit gegenzusteuern als auch das revolutionäre Potenzial durch Zeiteinschnürungen zu unterbinden , wurden die sogenannten »Notstandsarbeiten«11 eingeführt. Vor allem im Prater und in der heutigen Brigittenau wurden diese Beschäftigungsprogramme im Baugewerbe initiiert , um Menschen einzusetzen und ihre Zeit zu bündeln. »Für zwölf Stunden Arbeit erhielten Erwachsene 20 und Kinder 15 Kreuzer.«12 Am 21. August des Jahres 1848 wurde von Ernst Schwarzer Edler von Heldenstamm , dem Minister für öffentliche Arbeiten , eine gravierende Lohnreduktion für die Erdarbeiterinnen und Erdarbeiter angekündigt , die alle betraf , die im öffentlichen Bauwesen tätig waren.13 Die Lohnkürzungen kamen einem Verdikt zum Verhungern gleich. Zwölf Stunden Arbeit würden nicht einmal mehr für die Ausgaben , ein Mittagessen zuzubereiten , ausreichen. Tausende gingen auf die Straße , um zu demonstrieren. Die Frauen trugen Schwarz. Wut , Verzweiflung , Empörung waren groß. Sie machten Krawall. Von als Journalisten tätigen Zeitzeugen wurde der Einsatz der Frauen nicht gewürdigt , ganz im Gegenteil. Sie wurden diffamiert , wobei nicht ihr politischer Einsatz dargestellt und der Kritik unterzogen wurde , sondern ihr Benehmen , das Anlass zu herabwürdigenden Beschreibungen gab. Die Frauen , die auf die Straße gingen , die Frauen , die die Waffen in die Hand nahmen und Krawall schlugen , entsetzten , da sie mit den herrschenden Konventionen brachen. Sie überschritten alle Grenzen und wurden in die schicklichen Rahmenbedingungen zurückverwiesen. Sie wurden als öffentliches Ärgernis wahrgenommen. Die Kritik richtete sich ebenso an ihr Geschlecht wie an ihr Benehmen. »Besonders die Weibsbilder betrugen sich wie die Furien ; auf die roheste , empörendste , unsittlichste Weise wurde die Garde beleidigt.«14 Die Bedrohung , die von der revolutionären Durchbrechung der Geschlechtergrenzen ausging , war in den Augen der männlichen Berichterstatter immens. So erscheint es im historischen Rückblick als konsequent , dass die Erhebung der Frauen , ihr revolutionärer Kampf und ihre Ansprüche , die sie bereits 1848 aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit sowohl in politischer wie ökonomischer Hinsicht formulierten , aus der Geschichtsschreibung wieder hinaus­ geschrieben wurde. Die Frauen als Akteurinnen der Revolution spielen in der 11 http://www.dasrotewien.at/Arbeiterdemonstrationen-august-1848.html ( 30. 10. 2012 ). 12 Ebd. 13 Siehe : https://www.wien.gv.at/kultur/Archiv/geschichte/zeugnisse/frauenverein.html ( 30. 10. 2012 ). 14 Hauch ( 1999 ): Das Geschlecht der Revolution , S. 88.

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hegemonialen Darstellung der Geschichte und ihrer Orte keine Rolle. Erst durch die frauenspezifische respektive feministische Geschichtswissenschaft wurden die Revolutionärinnen der Vergangenheit wiederentdeckt.15 Der revolutionäre Sommer 1848 war der Sommer der Revolutionärinnen. Die Revolution der Frauen ist eine Revolution innerhalb der Revolution. Ihr Kampf um Gleichberechtigung war für die anderen Revolutionäre nicht selbstverständlich gleichberechtigt , gleich notwendig , sie mussten diesen Kampf der Revolutionärinnen innerhalb der Revolution behaupten. Die außergewöhn­ liche Politisierung und Solidarisierung , die der Gründungsakt des »Wiener demokratischen Frauen-Vereins« darstellt , liegt darin , dass er Frauen aus unterschiedlichsten Schichten umfasste. Zugleich wurde der Gründungsakt , und das ist an symbolischem Anspruch der Repräsentationslogiken ebenso wenig zu unterschätzen , im Volksgarten einberufen. Der Volksgarten war »einer der ersten öffentlichen Gärten in Wien , wurde direkt zum Wohle des Volkes für das allgemeine Publikum geschaffen«.16 Mit der Wahl des Volksgartens schreiben sich die Frauen , die sich hier versammelten , in diese raumpolitische Logik eines Gartens zum Wohle des Volkes ein. Nicht nur machen sie sich damit politisch und repräsentationslogisch zum Teil des Volkes , sondern sie verfolgen auch eine Logik , die das Wohl aller auf demokratische Weise einschließt. Der Volksgarten war durch Kaiser Franz I. zur Verfügung gestellt worden. An die Stelle der kaiserlichen Zurverfügungstellung für das Wohl aller tritt im Wiener demokratischen Frauen-Verein die Forderung des Rechts auf die Inklusion aller zu ihrem eigenen Wohl. Sie fordern ihre Rechte – als Bürgerinnen , als Arbeiterinnen , als Adlige , als Städterinnen , als Teil des Volks , dem dieser Garten gewidmet wurde. Sie machen den Raum des Gartens öffentlich , den Volksgarten erst zum Volksgarten. Sie sind radikal , sie sind politisch , sie sind aufgewühlt. Sie setzen sich zur Wehr. Sie schreiben Geschichte. Die Geschichte wird die Geschichte , die sie geschrieben haben , für lange Zeit wieder aus der hegemonialen Erzählung verbannen. Die Zwangslage der Erdarbeiterinnen und ihr Einsatz in der Praterschlacht führten zu einer klassenübergreifenden Solidarisierung mit ihren Anliegen und zu einer frauenspezifischen Politisierung , die Rechte für Bürgerinnen einforderte. Am 21. August hatte die Praterschlacht stattgefunden , eine Woche später brachen die Frauen in den Volksgarten auf , um den Wiener demokratischen Frauen-Verein zu gründen. Der Volksgarten ist ein geschichtspolitisch bedeutender Ort des Kampfes um Gleichberechtigung , ein Ursprungsort der Frauenbewegung in Österreich. Frauenspezifischer politischer und sozialer Aktivismus hat hier Geschichte gemacht , die in der 15 16

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Hauch ( 1990 ): Frau Biedermeier , sowie Hauch ( 1998 ): Frauen-Räume in der Männer-Revolution , S. 841–900. Auböck /  Ruland ( 1999 ): Paradiesträume , S.  70.

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Gegenwart vor Ort nicht mehr greifbar werden kann. Im heutigen Volksgarten wird man nach einer Erinnerungsspur an diese Ereignisse vergeblich suchen. Das sagt vieles aus über eine Stadt , in der die obsessive Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zwischen verzerrender Glorifizierung und Verdrängung , zwischen kulissenhaftem Feiern und bewusstem Vergessen schwankt. Geht sie 2011 laufen , so ist der Volksgarten in seinem offiziellen Auftritt kein geschichtsmächtiger Ort des Beginns der Frauenbewegung in Österreich , an dem zeitgenössische FeministInnen eine Topografie radikaler und widerständiger Erinnerungen identifizieren könnten. Geht sie 2011 im Volksgarten laufen , so ist sie auf ihr Wissen und ihre Imaginationskraft angewiesen , um sich die Ereignisse vorzustellen. Sie muss sich diesen Ort im August 1848 imaginieren , ihre Vorstellung bemühen , sich auf die Suche nach Quellen begeben , um ein Korrektiv der gegenwärtigen hegemonialen Wahrnehmung darstellen zu können. Öffentliche Erinnerungspolitik ist ein Ausdruck der herrschenden Verhältnisse. An die Kaiserin Elisabeth wird mit einem Denkmal im Volksgarten erinnert , an die revolutionären Frauen des Jahres 1848 nicht. Sie ist ernüchtert , aber nicht resigniert. Sie denkt über Möglichkeiten nach , die Erinnerung für die Zukunft zu verändern , das würde zu einer anderen Haltung der Geschichte gegenüber führen.

Sommer 2012 Sie geht noch einmal in den Volksgarten , um ihn in seiner alltäglichen Nutzung einen Morgen lang zu beobachten und zu dokumentieren. Ihr Sohn begleitet sie. Sie sehen den Park langsam erwachen , die ersten TouristInnen treffen ein , sie gehen langsam , setzen sich nieder. Eine obdachlose Frau hat in einem vollgepackten Einkaufswagen und mehreren Taschen ihr Hab und Gut bei sich. Es wird mit Blick auf den Theseustempel geparkt. Der Tempel erstrahlt in restauriertem Glanz. Ein Arbeiter hat seinen Kaffee mitgebracht , verzehrt sein Frühstück , auf einem der Parksessel sitzend. Mehrere Gärtnerinnen des Stadtgartenamts sind im Einsatz , binden die Rosen an , schneiden das Gras , zupfen das Unkraut. In der Meierei unterhalten sich Wienerinnen über das Wetter. Die Betreiber der Meierei fahren mit dem Auto vor , liefern die Schokoladetorten , den Kaffee , die Karotten und die Kartoffeln. Die ersten Kunstbesucher gehen in den Theseustempel. Der Tempel verbindet den Krieg mit der Kunst. Seine komplexe Geschichte ist ihm heute nicht mehr anzusehen , seine translokale Beeinflussung sehr wohl , deutlich ist er die bauliche Aneignung eines antiken Tempels in Athen. Ursprünglich hatte Napoleon die Theseusgruppe für den Corso in Mailand bei Canova in Auftrag gegeben. Franz I. sah sie auf seiner Hochzeitsreise in Canovas Atelier. 1819 wurde

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Abb. 4 : Eine Pause im Obdachlosenalltag. Volksgarten, 2012 Foto: Elke Krasny

die eineinhalb Tonnen schwere Skulptur von Theseus und Kentaur nach Wien transportiert. »Mit dem Wiener Kongress wurde die Lombardei wieder österreichisch , die Denkmalsangelegenheit zu einem Kapitel der österreichischen Verwaltung , und Franz I. trat die Nachfolge des ursprünglichen Auftraggebers an. Politisch heikel wie die Auftragsgeschichte des Denkmals und die Interpretationsmöglichkeiten der dargestellten Kampfszene , war auch die Wahl des Aufstellungsortes. Die Neugestaltung des äußeren Burgplatzes war ein Resultat der zweiten Einnahme Wiens durch Napoleon 1809. Damals habe jener ›im bübischen Zorne‹ ( Hormayr ) die Sprengung der Festungswerke vor der Burg angeordnet. Der Grundstein für das neue Burgtor wurde 1821 gelegt , der Volksgarten 1823 eröffnet und das neue Burgtor am 18. Oktober 1824  – ›am eilften Jahrestage der für ganz Europa , und besonders für Deutschland so entscheidenden Schlacht bey Leipzig‹, wie die ›Wiener Zeitung‹ am 16. Oktober 1824 meldete. Zwei große Denkmäler sollten ›die Stätten früherer Zerstörung verherrlichen‹, das Burgtor ›als Erinnerung an die besiegte Vergangenheit‹, der Theseustempel ›der Kunst gewidmet‹ und das ›größte Werk‹ Canovas enthaltend. Sämtliche Bauten , so die ›Wiener Zeitung‹ weiter , ›wurden durch das Militär ausgeführt , und so trugen dieselben Arme , welche während mehr als zwanzigjährigen Kriegen den Feind des Vaterlandes bekämpft hatten , nach errungener Ruhe , zu den schönsten Werken des Friedens bey.‹«17 Der Entwurf für den Theseustempel , dem Theseion in Athen nachempfunden , stammt von Peter 17 Veigl ( 2008 ): Athen in Wien , S. 3.

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Nobile. Die translokalen , kriegslogischen und imperialen Verstrickungen sind komplex. Als die Figurengruppe nach Wien kam , hatte sich die geopolitische Konstellation geändert , Napoleon , der ehemalige Auftraggeber , war besiegt. Die Figurengruppe des Theseus , der den Kentaur zu Boden zwingt , war wieder zu haben. Peter Nobile , in Campestro ( Schweiz ) geboren , hatte bei Canova studiert , war ab 1819 Direktor der Architekturabteilung an der Akademie der bildenden Künste Wien und plante für das Werk seines Lehrers einen Tempel. Das Athener Original , Hephaisteion , Theseion oder Theseum , ist einer der best­ erhaltenen Tempel in Athen. Die verkleinerte Kopie in Wien beherbergte bis 1890 die Canova-Statue , die ab dann in das Kunsthistorische Museum übersiedelt wurde. Bei ihrem Besuch ist der Boden des Theseustempels mit Tausenden winzigen Bronzescheiben übersät. Auch vor dem Tempel , im Park , finden sich die kleinen Bronzepartikel. Sie sind Teil der Bodenarbeit des belgischen Künstlers Kris Martin , die den Titel »Festum«, Fest , trägt. Der Tempel kann nun , in frisch ­res­tauriertem Glanz , auch für private Feste gebucht werden. Sucht man etwas Besonderes , so kann man auf die öffentlichen Ressourcen des Museums zugreifen. Das öffentliche Wohl wird zur privaten Feier. Die Even­tisierung der öffentlichen Ressour­cen dient im Neoliberalismus zur Steigerung von Exklusivität. Das Museum , seine Geschichte , seine Deutungsmacht , werden zur Ressource , die den Genuß nobilitiert Abb. 5 : Die Bronzepartikel leuchten golden. und das Besondere unterstreicht , das Die Ausstellungsbesucher tragen sie in den die Massen ausschließt. »Der ThePark. Volksgarten, 2012 seustempel im Volksgarten lädt Sie Foto: Elke Krasny diesen Sommer zum Feiern ein. In antiker Kulisse umgeben von sattem Grün der üppigen Volksgartenvegetation können Sie Ihren Gästen edle Getränke und köstliche Speisen servieren. Lassen Sie bei Ihrem Fest die Antike wiederaufleben. Ergreifen Sie die Möglichkeit , den frisch sanierten Tempel für Ihre Veranstaltung zu nutzen ! Genießen Sie das beeindruckende Ambiente für einen Sommerabend , den Sie nie vergessen werden ! Veranstaltungen bis 22.00

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Uhr möglich.«18 Für Cocktails können »100 Personen« geladen werden , fürs Dinner »50 Personen«. Die Kosten belaufen sich auf 1. 500 ,– plus Umsatzsteuer für die Miete und auf 300 ,– bis 600 ,– plus Umsatzsteuer für das Personal.19 Auf den Fotografien , die auf dem Informationsblatt zur Miete zu sehen sind , ist der »Jugendliche Athlet« visuell und räumlich prominent ins Bild gesetzt.20 Die Statue vor dem Theseustempel , der Athlet , erfreut sich größter Foto­ beliebtheit bei den Touristinnen und Touristen. Auch hier führen das mangelnde historische Bewusstsein und die mangelnde Informationslage an der Oberfläche des Volksgartens bei ihr zu Entsetzen. Das , was nicht gewusst werden kann , beklemmt. Der Athlet stammt aus dem Jahr 1921. Sein Autor ist der Bildhauer Josef Müllner. Die Namen der Statue variieren zwischen »Jugendlicher Athlet«, »Der Sieger« oder »Denkmal der Jugend«. Auf dem Sockel steht die Inschrift »Der Kraft und Schönheit unserer Jugend«. Die nationalisierende Dimension schon im nationalsozialistischen Duktus , die politischen Implikationen seiner Aufstellung in der Zwischenkriegszeit sind nicht zu unterschätzen. Die Einreihung des »Jugendlichen Athleten« in die anderen Arbeiten Müllners und somit auch die kritische Aufarbeitung des Verbleibs des Athleten im Volksgarten sind längst überfällig. Der Athlet war ein Zeichen des erstarkenden Nationalismus , der Feier der sportlich-siegreichen Körper und des kämpferischen Geists der Zwischenkriegszeit. Im offiziellen Austria-Lexikon verlängert sich die fehlende Kritik , die Nicht-Problematisierung , die affirmative Lesart , ins Onlinegedächtnis : »Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das amputierte Österreich so wie Deutschland mit dem sportlichen Boykott belegt. Die Sieger wollten auch auf diesem Gebiet demütigen. Aus Freude , daß dies nicht gelang und Österreichs Sport trotz Not und Inflation einen gewaltigen Aufstieg nahm , ließen die Sportverbände die Bronzestatue eines schönen Jünglings nach antikem Vorbild gießen und vor tausenden Sportlern im Mai 1923 von Bundespräsident Michael Hainisch enthüllen. Das Denkmal stand vor dem Theseustempel. Es war ein Dokument , dass Österreichs Sport lebte.«21 So weit , so selbst-decouvrierend , wie sie hofft. Von Müllner stammt auch der Siegfriedskopf , der zwei Jahre später , 1923 entstanden ist. »Das Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gestorbenen Studierenden und Lehrenden der Universität Wien wurde 1923 , in der Aula aufgestellt. Seine Symbolik verweist auf die Siegfriedmythologie der Nibelungensage und die ›Dolchstoßlegende‹ des Ersten 18 http://www.khm.at/entdecken/Angebote/mieten-sie-das-museum/theseustempel /  ( 30. 10. 2012 ). 19 www.khm.at/fileadmin/content/KHM/Allgemein/2011/Architektur/Theseustempel.pdf ( 30. 10. 2012 ). 20 Ebd. 21 http://austria-forum.org/Af/Wissenssammlungen/Denkmale/Jugendlicher%20 Athlet ( 30. 10. 2012 ).

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Weltkriegs. Der so genannte ›Siegfriedskopf‹ wurde 1923 von Josef Müllner , Professor für bildende Kunst , entworfen und auf Initiative der ›Deutschen Studentenschaft‹ und ihrer Lehrer errichtet , die zu diesem Zeitpunkt deutlich antisemitisch und antidemokratisch war. Sie schloss jüdische wie weibliche , aber auch sozialdemokratische , kommunistische und liberale Studierende von Mitgliedschaft und Vertretung aus.«22 Auch das Karl-Lueger-Denkmal sowie »eine Adolf Hitler-Büste in der Aula der Akademie gehen auf sein bildhauerisches Konto«.23 Von 1910 bis 1948 war Müllner Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien. Er war »ein offener Sympathisant des Nationalsozialismus«.24

Abb. 6 : Der nackte Athlet zieht die Blicke auf sich. Auf vielen touristischen Fotos wird er global verbreitet. Die geschichts­politische Aufarbeitung drängt. Foto: Elke Krasny

Vor dem Theseustempel , der verkleinerten Kopie des in Athen befind­ lichen Tempels , der sein Raumvorbild war , steht bis heute unbehelligt und unkommentiert der Athlet. Niemand nimmt an ihm Anstoß. Auf vielen Fotografien , die bei touristischen Besuchen von Wien entstehen , ist er mit im Bild. Viele Wiener und Wienerinnen gehen an ihm vorbei , schenken ihm kurz einen Blick. Kinder fragen nach seiner Nacktheit , manche von ihnen wundern sich , warum er hier steht , ihre Eltern können ihnen keine Antwort darauf geben. Anstoß nimmt niemand. Die Verflechtungen Müllners mit dem Nationalsozialismus scheinen der prominenten Positionierung des Denkmals des Jünglings im Volksgarten keinen Abbruch zu tun , sie scheinen ohne Bedeutung zu sein , nicht der Thematisierung zu bedürfen , sie sind als verdrängte präsent.25 An all das wird

22 http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-zeitgeschichte/projekte/siegfriedskopf ( 30. 10. 2012 ). 23 http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2010/umfunktionieren-lernen/plattform-geschichtspolitik.htm ( 30. 10. 2012 ). 24 Nierhaus ( 1990 ): Adoration und Selbstverherrlichung , S. 130. 25 An der Akademie der bildenden Künste Wien hat in jüngster Zeit die »Plattform Geschichtspolitik« auf die Verflechtungen Müllners mit dem Nationalsozialismus

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nicht erinnert. Ohne kritischen Kommentar , ohne Aufruf zu seiner Entfernung , ohne geschichtspolitisches Bewusstsein steht der Athlet vor dem Theseustempel. Das ist ebenso erschreckend wie ernüchternd. Das , was in der Gegenwart des Volksgartens fehlt , ist in höchstem Maße aufschlussreich für eine städtische Oberfläche , die die kritische Erinnerung verhindert , die keinen Anstoß nimmt , an dem , was ist , und an dem , was fehlt. Sie ist noch immer nicht resigniert. Sie wird nicht aufgeben , über geschichtspolitische , über feministische Arbeit nachzudenken , die in jeder Gegenwart notwendig bleibt. Aber das ist nicht einfach. Das , was vor Ort an Erinnerungen fehlt , das , was vor Ort geblieben ist , das , was die Geschichte in die Gegenwart verlängert , wiegt schwer. Die Geschichte der Einwanderer in den Volksgarten fehlt , die Geschichte der revolutionären Frauen im Volksgarten fehlt , die Geschichte des »Jugendlichen Athleten« ist ebenso präsent , als Denkmal aufgestellt , wie verdrängt , ohne Kommentar , ohne Kritik. Das gibt ihr zu denken. Der Duft der Rosen ist immer noch verführerisch , doch selbst er wird zur Ressource im Neoliberalismus – auch diese sind für private Widmungszwecke käuflich , indem man bei den Bundesgärten eine Patenschaft für den Zeitraum von fünf Jahren erwirbt , um den Preis von 290 Euro käuflich zu erwerben.26 Das Laufen an diesem Ort ist ihr für einige Zeit vergangen.

LITERATUR Auböck , Maria /  Ruland , Gisa ( 1999 ): Paradiesträume. Parks , Gärten und Landschaften in Wien. Wien. Hauch , Gabriella ( 1990 ): Frau Biedermeier auf den Barrikaden. Frauenleben in der Wiener Revolution 1848 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik , 49 ). Wien. Hauch , Gabriella ( 1998 ): Frauen-Räume in der Männer-Revolution. In : Dowe , Dieter /  Haupt , Heinz-Gerhard /  Langewiesche , Dieter ( Hg. ): Europa 1848. Revolution und Reform (= Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte , 48 ). Bonn , S. 841–900. Hauch , Gabriella ( 1999 ): Das Geschlecht der Revolution im tollen Jahr 1848 /  49. In : Fröhlich , Gerhard /  Grandner Margarethe /  Weinzierl , Michael ( Hg. ): 1848 im europäischen Kontext Querschnitte 1. Wien , S. 74–96. Nierhaus , Irene ( 1990 ): Adoration und Selbstverherrlichung. Künstlerische und kunstpolitische Schwerpunkte der Akademie der bildenden Künste von den dreißiger bis Ende der vierziger Jahre. In : Seiger , Hans /  Lunardi , Michael /  Populorum , Josef / Plakolm-Forsthuber , Sabine ( Hg. ): Im Reich der Kunst. Die Wiener Akademie der bildenden Künste und die faschistische Kunstpolitik. Wien , S. 65–141. hingewiesen und auch Vorschläge zur Umgestaltung einer Müllner-Skulptur in der Aula der Akademie gemacht ( Informationen zur Plattform finden sich u. a. auf : Plattform Geschichtspolitik ). http://kulturrisse.at/Ausgaben/032010/kunstpraxen/ nichts-passt , ( 30. 10. 2012 ). 26 http://www.bundesgaerten.at/Article/Articleview/81805 ( 30. 10. 2012 ).

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Elke Krasny

Statuen des ersten demokratischen Wiener Frauen-Vereins , zu haben im Comptoir des Radikalen Dorotheergasse , Nr. 1119 , ohne Jahr ( Sommer 1848 ). Veigl , Christa : Athen in Wien. Der Theseustempel und Antonio Canovas dislozierte Plastik. In : »Extra« der Wiener Zeitung vom 30. August 2008 , S. 3.

INTERNETQUELLEN http://www.artec-architekten.at/project.html?id=144 ( Stand 30. 10. 2012 ). http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2010/umfunktionieren-lernen/plattformgeschichtspolitik.htm ( 30. 10. 2012 ). http://kulturrisse.at/Ausgaben/032010/kunstpraxen/nichts-passt ( 30. 10. 2012 ) https://www.mcfit.com ( 30. 10. 2012 ). http://www.onb.ac.at/Ariadne/projekte/frauen_waehlet/nebRaum02.html ( 30. 10. 2012 ). http://www.onb.ac.at/Ariadne/vfb/fv_ewdfv.htm , Erster Wiener Demokratischer Frauenverein ( 30. 10. 2012 ). http://www.dasrotewien.at/Arbeiterdemonstrationen-august-1848.html ( 30. 10. 2012 ). http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-zeitgeschichte/projekte/siegfriedskopf ( 30. 10. 2012 ). Matzner , Alexandra Der Wiener Volksgarten. Geschichte – Architekturen – Denkmäler. Teil 1 : Anlage , Caféhaus und Theseustempel. http://www.textezukunst.com ( 30. 10. 2012 ). https://www.wien.gv.at/kultur/Archiv/geschichte/zeugnisse/frauenverein.html ( 30. 10. 2012 ). http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/qs1lp.html ( 30. 10. 2012 ). http://www.bundesgaerten.at/Article/Articleview/81805 ( 30. 10. 2012 ).

Vom Recht auf Erinnerung im Garten der Rosen

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WIE KOMMEN DIE NIBELUNGEN AUF DIE SCHMELZ? ZUR STRASSENBENENNUNG IN EINEM WIENER GRÄTZEL Die Gegend »Auf der Schmelz«, ein im westlichen Teil Wiens gelegener Höhenrücken der gleichnamigen Stadtterrasse zwischen Wienfluss und Ottakringer Bach , war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein ausschließlich landwirtschaftlich genutztes Gebiet1 , das dann lange Zeit als Parade- und Exerzierplatz diente – die 1894 /  96 erbaute Radetzkykaserne erinnert daran – und erst 1910 aus ärarischem Besitz zur Verbauung freigegeben wurde. Das städtebauliche Konzept , das hierauf in Angriff genommen wurde , stammt vermutlich von dem Stadtplaner und späteren Stadtbaudirektor Heinrich Goldemund 2 und war höchst ambitiös : Vorgesehen war ein durch den Bau von rund 500 bürgerlichen Wohnhäusern großzügig gestaltetes Stadtviertel , in dem über die reine Wohnfunktion hinaus so mancher repräsentative Bau entstehen sollte.3 Verwirklicht wurde dieser ursprünglich als »Luegerstadt« bezeichnete Stadtteil infolge der weiteren politischen Verhältnisse allerdings nur zum Teil. Ab 1912 wurde das Areal um den zentral gelegenen Kriemhildplatz zwar mit großteils im Stil des »Wiener Secessionismus« errichteten großbürgerlichen Miethäusern verbaut ,4 doch durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs erfuhren Teile des ehemaligen Exerzierplatzes eine andere Nutzung : Zum einen wurde wegen der herrschenden Lebensmittelknappheit in ›wilder‹ Landnahme gewissermaßen Landwirtschaft 1

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Eine Ansicht von Franz Xaver Schweickhardt zeigt noch für die Zeit um 1840 das Gebiet zur Gänze von Weingärten bzw. Acker- und Weideland bedeckt ; Schweickhardt ( 2006 ): Perspectiv-Karte , IV. Section : Südliche nahe Umgebung von Wien. – Der Name »Schmelz« stammt möglicherweise von einem bis 1865 existierenden Schmelzhaus »für anderwärtig verbotene Schmelzarbeiten«; Czeike ( 1992 /  97 ): Historisches Lexikon Wien. Goldemund ( 1863–1947 ) ist v. a. wegen seiner Projekte zur Erhaltung des Wald- und Wiesengürtels und seines frühen Plans zur Anlage einer Wienerwald-Höhenstraße ( 1905 ) bekannt , vgl. ÖBL ( 1999 ); Czeike ( 1992 / 1997 ): Historisches Lexikon Wien ; Rigele ( 1993 ): Höhenstraße , S. 79–84. Geplant war unter anderem ein Neubau der Akademie der bildenden Künste durch Otto Wagner oder der Bau eines Historischen Museums der Stadt Wien ( »Kaiser Franz Joseph-Stadtmuseum«), das etwa an der Stelle der heutigen Stadthalle stehen sollte und dessen Bau ( ebenfalls nach Entwürfen von Otto Wagner ) auch begonnen , mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs allerdings eingestellt wurde. Vgl. Dehio ( 1996 ): Kunstdenkmäler Österreichs , S. 362. Das erste in der Hütteldorfer Straße Nr. 74 ; vgl. Klusacek /  Stimmer ( 1978 ): Rudolfs­ heim-Fünfhaus , S. 88.

in Kleindimension betrieben , wurden Gemüse- und Kartoffelbeete angelegt – woraus sich die Schrebergartenkolonie »Zukunft« entwickelte , die heute inklusive der gleichnamigen Schutzhütte eine der letzten Erinnerungen an die »proletarische Siedlungsbewegung« darstellt.5 Zum anderen kaufte nach 1918 die nunmehr sozialdemokratisch verwaltete Gemeinde Wien systematisch Parzellen auf und kam auch in diesem Stadtteil ihrem Wohnbauprogramm6 nach , in dessen Folge viele bestehende Baulücken durch großzügige kommunale Wohnhausanlagen geschlossen wurden. So finden sich hier auf relativ engem Raum Gebäude , in denen sich die Abfolge wie auch die Verwerfungen der seinerzeitigen politischen Systeme und gesellschaftlichen Konstellationen dokumentieren : das Spätgründerzeitensemble als Repräsentant des bürgerlich-repräsentativen privaten Wohnbaus , der kommunale Wohnblock aus der Ära des »roten Wien«, ein Beispiel des ›ständestaatlichen‹ Fürsorgewesens in Gestalt eines später zum gemeindeeigenen Wohnhaus umfunktionierten städtischen »Familienasyls«7 sowie eine unterschiedlichen Konfessionen dienende Sakralarchitektur.8 Doch auf all diese städtebaulichen Inskriptionen des Viertels – die zum Teil auch als Materialisationen eines ( säkularen beziehungsweise konfessionellen ) Kulturkampfes österreichisch-zeitpolitischer Prägung gesehen werden können – soll nicht eingegangen werden. Vielmehr wird im Weiteren ein Blick auf die symbolische Topografie geworfen , wie sie sich in der lokalen Straßenbenennung manifestiert. Straßennamen sind ja nicht nur behördlich festgeschriebene »städteräumliche Ordnungssysteme«, sondern können auch »eine starke bewußtseinsformierende , eine mentalitäts- und affektprägende Wirkung« haben.9 Nach dieser Rolle als zumindest potenzieller »Teil der öffentlichen Erinnerungskultur«10 sollen hier die Straßennamen jenes zwischen Hütteldorfer Straße , Vogelweidplatz , Gablenzgasse und Stutterheimstraße gelegenen Grätzels11 befragt werden , dessen Verkehrsflächen im Jahre 1912 vorwiegend nach 5 6

Ehmer ( 1996 ): Rundgang , S. 260. Für dieses 1923 begonnene und von der Einführung der Wohnbausteuer flankierte Programm waren mit der ein Jahr davor erfolgten Abtrennung Wiens von Niederösterreich auch die politisch-administrativen Voraussetzungen gegeben. Zu den Gemeindebauten aus dieser Zeit vgl. Hautmann /  Hautmann ( 1980 ): Gemeindebauten des Roten Wien. 7 Vgl. Die Familien-Asyle der Stadt Wien ( 1937 ). 8 Vor allem die 1933 /  34 von Clemens Holzmeister erbaute ehemalige Seipel-DollfußGedächtniskirche ( die heutige Pfarrkirche Neufünfhaus ) auf dem Kriemhildplatz oder die 1936 /  37 erbaute nahe gelegene Zwingli-Kirche ; vgl. Pawlowsky ( 2002 ): Staatsmonument. 9 Korff ( 1992 ): Namenswechsel , S. 325. 10 Ebd. , S. 324. 11 Um diesen freilich wenig präzisen wienerischen Ausdruck zu gebrauchen , der einen »von Straßen umgebenen zusammengehörigen Häuserkomplex um ein Zen­

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Gestalten der Nibelungensage benannt worden sind und das deshalb bis heute landläufig als »Nibelungenviertel« bekannt ist. Ein solches »Nibelungenviertel« gibt es nicht nur in Wien , auch beispielsweise in Nürnberg , Hamburg oder Berlin findet sich dergleichen – wie es ja auch eine Reihe von »Nibelungenstädten« gibt , von denen sich einige wie Gernsheim , Plattling oder Worms gar zur »Arbeitsgemeinschaft der Nibelungenstädte« zusammengeschlossen haben ,12 um etwa einschlägige Festspiele zu veranstalten13 und so ihren ( tatsächlichen oder vermeintlichen ) Bezug zum Nibelungenlied zu lokalem Marketing einzusetzen. Immerhin können die genannten Orte wenigstens eine gewisse historische beziehungsweise geografische Beziehung zu den »alten maeren« für sich in Anspruch nehmen14 – wovon im 15. Wiener Gemeindebezirk Rudolfsheim-Fünfhaus allerdings nicht die Rede sein kann. Warum also begegnen hier Kriemhild , Hagen , Gunter & Co. , welcher »Erinnerungskultur« sollte hier gehuldigt werden ? Eine Antwort auf diese Frage kann im Folgenden nur annäherungsweise gegeben werden – denn die Umstände der Straßenbenennungen in diesem Wiener Grätzel sind kaum auszumachen. In heimatkundlicher Literatur stoßen wir nur auf folgende Bemerkung : »Geradezu einzig dürfte der 15. Bezirk mit seinem Nibelungenviertel dastehen. Unsere herrliche deutsche Volkssage , eine der schönsten Blüten der Weltliteratur , hat einen dauernden Niederschlag in den auf engem Raum zusammengedrängten Gassennamen. Dem Anreger dieser Namengebung gebührt jedenfalls der herzlichste Dank.«15 Einen Hinweis , wer dieser Anreger gewesen ist , bleibt das »Heimatbuch« des Bezirkes allerdings schuldig. Und auch die Primärquellen zu den Straßenbezeichnungen anno 1912 lassen keine konkreten Aussagen in dieser Angelegenheit zu. Zwar findet sich im »Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien« vom 27. September 1912 die Rekapitulation der StadtratsSitzung vom 17. September 1912 , in der »Stadtrat Schreiner über die Benennung der neu entstandenen Gassen , Straßen und Plätze auf den Schmelzgründen [ re-

tralgebäude im Stadtbereich« bezeichnet ; Hornung /  Swossil ( 1998 ): Wörterbuch der Wiener Mundart , S. 418. 12 Vgl. http://www.nibelungenstaedte.de /  ( 4. 1. 2013 ). 13 Vgl. http://www.nibelungenfestspiele.de/nibelungenfestspiele/index.php ( 4. 1. 2013 ). 14 Wie das , um ein österreichisches Beispiel zu nennen , auch bei der Nibelungenstadt Pöchlarn der Fall ist  – wobei sich allerdings im Fall dieses »Bechelaren« spätestens mit dem Jahr 1938 die politische Instrumentalisierung des Nibelungenliedes deutlich dokumentiert , wenn es etwa in seinerzeitiger Diktion heißt , dass hier »der uralte Sang von deutscher Größe , Treue und Kampfgenossenschaft [ … ] mächtiger aufklingt als anderswo«. Raubal ( 1942 ): Nibelungenstadt Pöchlarn , S. 4. 15 Lukesch ( 1922 ): Unsere Gassen- und Straßennamen , S. 268.

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feriert ]« und diese auch ( erfolgreich ) beantragt hat.16 Im Weiteren wird allerdings nur die namentliche Aufzählung der neuen Verkehrsflächen des Viertels samt der Namensherkunft ( »Kriemhildplatz , nach der aus der Nibelungensage bekannten Gattin Siegfrieds«, »Markgraf Rüdigergasse , nach dem bekannten Markgrafen Rüdiger v. Bechelaren« etc. ), jedoch keine Begründung des Antrags geboten. Und ebenso wenig Auskunft geben die wenigen Archivalien , die sich zu dieser Causa im Wiener Stadt- und Landesarchiv finden lassen. In einem Schreiben des Wiener Stadtbauamtes an die zuständige Magistratsabteilung vom 24. August 1912 wird lediglich darauf aufmerksam gemacht , »daß , da die Verbauung auf den Gründen der Schmelz rasch fortschreitet , die Angelegenheit der Benennung der neuen Straßenzüge dortselbst somit sehr dringlich scheint«17 ; und einen Monat später verständigt besagte Magistratsabteilung von der in der oben genannten Stadtratsitzung erfolgten Festsetzung der Namen »für die aus der Parzellierung der Schmelz im XV. Bezirk entstandenen neuen Gassen , Strassen und Plätze«18. Das Protokoll dieser Stadtratsitzung vom 17. September 1912 , aus dem sich vielleicht Näheres erschließen ließe , scheint verschollen – und also die Begründung der Namensgebungen ( wie sie auch in diesem Fall sicher diskutiert und dokumentiert worden ist19 ) nicht überliefert. Da hilft dann auch das einschlägige Lexikon nicht weiter mit seinem Befund , dass man in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts fallweise versuchte , »in Aufschließungsgebieten thematisch einheitliche Benennungen durchzuführen« – nachdem bereits »knapp vor dem 1. Weltkrieg mit dem Nibelungenviertel ein Anfang gemacht worden war«.20 16 Nr. 78 , Jg. 21 , vom 27. September 1912 , S. 2596 f. unter P. Z. 14536 , M. A. XVI , 11579 / 11. 17 Wiener Stadtbauamt , Benennung der neuen Straßenzüge auf der Schmelz , 24. Aug. 1912 , WStLA , 1. 3. 2. 116.A15 /  9 – Q 9 – Straßenbenennungen / 1903–1919 , Schachtel 3. 18 Schreiben der Mag. Abt. XVI  – 11579 / 1911 vom 23. September 1912 , WStLA , 1. 3. 2. 116.A38 – Straßenbenennungen / 1908–1925 , 15. Bezirk. 19 In der Regel finden sich recht ausführliche Dokumentationen zu den jeweiligen Anträgen auf Benennungen von Verkehrsflächen , vgl. etwa den zeitlich ( 1911 ) und topografisch nahe liegenden Akt »Antrag Stadler. Umbenennung der Tellg. in Gebrüder Lang-Gasse«, WStLA , 1. 3. 2. 116.A15 /  9 – Q 9 – Straßenbenennungen / 1903–1919 , Schachtel 3. – Im Übrigen ist allgemein zur Quellenlage zu sagen , dass die Bezirksämter zwar angewiesen waren , alle für Straßenbenennungen relevanten Akten und Gemeinderatsprotokolle zu sammeln , diese Unterlagen , die auch die begründeten Vorschläge der Vorortgemeinden enthielten , aber als verschollen anzusehen sind ; vgl. Peter ( 1991 ): Geschichte der Wiener Straßennamen , S. 99. 20 Einheitliche Benennungen finden sich etwa für das Blumenviertel im 22. Bezirk , das Edelsteinviertel im 21. Bezirk oder die Per-Albin-Hansson-Siedlung , wo die Verkehrsflächen nach schwedischen Städten und Persönlichkeiten benannt sind , Czeike ( 1992 / 1997 ): Historisches Lexikon Wien , Eintrag »Straßennamen«.

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Im Übrigen wurden im ›Nibelungenviertel‹ auch Straßennamen aus ›aktuellem‹ Anlass21 oder nach alten Flur- und Riednamen22 vergeben – und das lässt auch an die damaligen , vom Stadtrat vorgelegten Bestimmungen denken , wonach für neue Straßennamen vor allem berühmte Persönlichkeiten und lokale Ereignisse und Umstände heranzuziehen waren.23 Und der Hinweis , dass trotz dieser Vorgaben in den folgenden Jahren »der Zusammenhang zwischen Name und Straße immer lockerer«24 wurde , lässt überhaupt ein gewisses zufälliges Moment in Erwägung ziehen – und man fühlt sich angesichts der Tatsache , dass das ›Nibelungenviertel‹ »ein Kuriosum in der Geschichte der Wiener Straßennamen dar[ stellt ]«25 , an das bekannte »Occham’sche Rasiermesser«26 als Aufforderung zu ökonomischem , also interpretatorisch zurückhaltendem Denken erinnert. Doch soll andererseits im Versuch , allen vorzufindenden Deutungsspuren zur Namensgebung nachzugehen , auch etwa der Eintrag im »Österreichischen Biographischen Lexikon« über den im Amtsblatt anno 1912 genannten Antragsteller Stadtrat Karl Schreiner berücksichtigt werden , dem die Eckdaten zu Biografie und Karriere dieses »Politikers und Gartenarchitekten« entnommen werden können : Schreiner ( geboren in Fünfhaus 1860 , gestorben in Wien 1916 ) war nach Absolvierung der Handelsschule und einer Ausbildung zum Gärtner zunächst in einem Gartenbauunternehmen und dann als selbstständiger Gartenarchitekt tätig , wurde 1895 von seinem Heimatbezirk als christlichsozialer Abgeordneter in den Wiener Gemeinderat gewählt , übernahm bereits ein Jahr später das Amt eines Stadtrates und war als solcher neben den Gartenanlagen und dem städtischen Forstwesen vor allem für das Verkehrswesen zuständig – 21 Etwa in der Benennung einer Gasse nach dem 1911 verstorbenen Bildhauer Josef Hermann Tautenhayn. 22 Beispielsweise Langmaisgasse , Krebsengartengasse. 23 Die Eingemeindung der Vororte hatte eine große Zahl an neuen Straßennamen bzw. Straßenumbenennungen notwendig gemacht. Die 1894  – im Anschluss an frühere Vorschläge des Stadtarchivars Karl Weiß  – vorgelegten »Normen für die Benennung der Straßen , Gassen , Plätze , Brücken und sonstigen Verkehrsobjekte in Wien und für die Numerierung derselben« enthielten folgende Bestimmungen : »Die Benennung der Straßen , Gassen , Plätze etc. hat zu erfolgen : a ) nach topographischen Bezeichnungen ; b ) wenn hiezu kein Anhaltspunkt vorhanden ist , nach wichtigen localen Begebenheiten ; c ) falls auch letztere fehlen , nach Personen , die sich durch ihr Wirken einer öffentlichen Ehrung verdient gemacht haben.« – Zit. nach Peter ( 1991 ): Geschichte der Wiener Straßennamen , S. 95 f. 24 Peter ( 1991 ): Geschichte der Wiener Straßennamen , S. 76. 25 Ebd. , S. 147. 26 Gewöhnlich vereinfachend formuliert mit »Entia non sunt multiplicanda« – was zu Deutsch heißt , dass man keine weithergeholten Erklärungen bemühen soll , wenn bzw. solange man mit naheliegenden das Auslangen findet. Vgl. Cloeren ( 1984 ): Ockham’s razor.

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in seine Amtszeit fallen beispielsweise die Elektrifizierung der Straßenbahn ( ab 1897 ), die systematische Erweiterung des Verkehrsnetzes und die Übernahme des Straßenbahnnetzes in das Eigentum der Gemeinde Wien. Im Übrigen ist Schreiner im Komitee zur Erbauung von Untergrundbahnen tätig gewesen und nebenbei auch im Ausschuss für den Kaiser-Jubiläums-Theaterverein gesessen , also an der Errichtung der Volksoper ( erbaut 1898 ) beteiligt gewesen.27 In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse aber ist , dass Schreiner neben allen diesen Tätigkeiten und Funktionen auch einen jener ab 1887 in rascher Folge sich konstituierenden Wiener Bezirkshausherren-Vereine28 ( diesfalls den »Verein der Hausbesitzer im 15. Bezirk«) gegründet hat und zudem später Ausschussmitglied des Zentralverbandes der Wiener Hausbesitzervereine gewesen ist.29 Als solcher hat er die Interessen jener Gruppe der Wiener Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vertreten , deren nachhaltiger Einfluss nicht nur auf die bauliche Entwicklung30 der Stadt notorisch ist : Schon in der liberalen , vor allem aber in der christlich-sozialen Ära31 waren die »Hausherren« im Wiener Gemeinderat überproportional vertreten und sie hatten – bis zur 1917 kriegsbedingten Einführung des Mieterschutzes und dem daraus resultierenden Renditenverlust – gesellschaftliches Prestige und politische Macht.32 So mag die Stimme dieses einflussreichen Mitglieds einer einflussreichen Interessenvertretungsgruppe – auch jenseits seines Portefeuilles als »Verkehrsstadtrat« – kein geringes Gewicht gehabt haben , als es darum ging , das neu entstehende Grätzel auf der Schmelz zu benennen. Und es ist also recht naheliegend , zumindest im politisch-ideologischen Umfeld des »Hausbesitzers« Karl Schreiner die Motive einschlägiger Straßennamensbezeichnungen in dem hier vorgestellten Rayon zu vermuten – und so auf jene »Deutungs- und Selbstverständigungsmuster« zu rekurrieren , die der Nibelungenstoff bestimmten soziokulturellen Milieus offeriert hat.33 27 Vgl. ÖBL ( 1999 ), S. 210 f. 28 Stonek ( 2006 ): Die Hausherren-Vereine von Wien 1888–1916. 29 Ebd. ; vgl. auch die Hausherren-Zeitung. Offizielles Organ des Reichsverbandes der Hausbesitzervereine Österreichs , Nr. 690 vom 1. Juli 1916 ( »Gedenktafel«, S. 10 ). 30 Etwa in dem Beharren auf die ( erst nach dem 1. Weltkrieg neu formulierte ) seinerzeitige Bauordnung , die eine extreme Verbauungsdichte begünstigte , vgl. Czeike ( 1992 / 1997 ): Historisches Lexikon Wien , Eintrag »Bauordnung«; Stonek ( 2006 ): Die Hausherren-Vereine von Wien 1888–1916 , S. 18–20. 31 Die Christlichsoziale Partei wurde geradezu als »Hausherren-Partei« tituliert ; zu erinnern ist auch daran , dass Josef Strobach , Handlanger Luegers und kurzfristiger Bürgermeister während des »Dermaliums« 1896 /  97 , ein führender Funktionär der »Zentralverbandes der Hausbesitzer von Wien und Umgebung« gewesen ist ; vgl. Stonek ( 2006 ): Die Hausherren-Vereine von Wien 1888–1916 , S. 1 und 104. 32 Büwendt ( 1991 ): Die Hausherren in Wien von 1888–1914. 33 Münkler ( 1995 ): Mythen-Politik , S. 159.

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Dabei möchte ich keine Rezeptionsgeschichte des Nibelungenlieds wiedergeben ,34 sondern nur eine Tendenz dieser Rezeption andeuten , nämlich seine Mythisierung und propagandistische Verwertung. Diese Tendenz setzte früh ein : Bereits im späten 18. Jahrhundert wurde das Nibelungenlied von seinen Editoren mit der »Ilias« verglichen , um dann allmählich zum deutschen Natio­nalepos stilisiert zu werden.35 Als konkrete politische Metapher begegnet es vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert und verstärkt natürlich im Ersten Weltkrieg – bekannt ist der Begriff der »Nibelungentreue«, 1909 von Reichskanzler Bernhard von Bülow geprägt , der damit das Bündnis des deutschen Kaiserreiches mit Österreich-Ungarn angesprochen hat , bekannt sind auch martialische Ausdrücke wie »Siegfriedlinie« oder »Hagenangriff«, womit der letzte deutsche Durchbruchsversuch an der Westfront bezeichnet wurde.36 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang wohl auch an den 1922 von Josef Müllner auf Initiative der »Deutschen Burschenschaft« für die Wiener Universität als Kriegerdenkmal geschaffenen »Siegfriedskopf«37 oder an Fritz Langs Nibelungenfilm aus dem Jahr 1924 , dessen Einfluss auf die Masseninszenierungen der NSDAP vielfach beschrieben worden ist.38 Denn selbstverständlich wurde das Nibelungenlied dann vor allem in der NS-Zeit propagandistisch eingesetzt , was nicht nur damalige Veröffentlichungen mit Titeln wie »Germanisches Leben im Spiegel der altnordischen Sage«39 oder »Das Nibelungenlied. Dichtung und Schicksalsgestaltung«40 dokumentieren , sondern etwa auch , besonders markant , die Rede Hermann Görings anlässlich des 10. Jahrestages der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Jänner 1943 , in der die Situa­tion vor Stalingrad mit dem Untergang der Nibelungen in der Burg Attilas /  Etzels verglichen wurde.41 34 Zur Rezeption des Nibelungenliedes gibt es breite Literatur , genannt sei hier nur Ehrismann ( 1975 ): Nibelungenlied in Deutschland ; Heinzl /  Waldschmidt ( 1991 ): Ein deutscher Wahn. 35 Frembs ( 2001 ): Nibelungenlied und Nationalgedanke , bes. S. 14–31. 36 Vgl. Pulle ( 1994 ): Mythos der Nibelungen , S. 521. 37 Davy /  Vašek ( 1991 ): Der »Siegfried-Kopf«. 38 Pulle ( 1994 ): Mythos der Nibelungen , S. 521 ; Heller ( 1991 ): Fritz Langs Nibelungen-Film. 39 Süsskand ( 1936 ). 40 Ittenbach ( 1944 ). Diese Publikation ist übrigens – um diesen fachgeschichtlichen Bezug anzumerken – von ihrem Autor , dem Germanisten und damaligen Gießener Professor Max Ittenbach , »dem verehrten Lehrer Hans Naumann [ … ] zugeeignet«, hatte Ittenbach doch 1930 bei Naumann über »Mehrgesetzlichkeit. Studien am deutschen Volkslied in Lothringen« dissertiert ; vgl. Schmook ( 1993 ): Gesunkenes Kulturgut – primitive Gemeinschaft , S. 190. 41 Pulle ( 1994 ): Mythos der Nibelungen , S. 520 f. ; Krüger ( 1991 ): Etzels Halle und Stalingrad ( hier auch der Abdruck der ganzen Rede , S. 170–187 ).

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Wenn übrigens zuweilen angemerkt wird , dass das Nibelungenlied im Verlauf des 19. Jahrhunderts »von der entstehenden Germanistik«42 zum deutschen Nationalmythos stilisiert worden ist , so können , in fachgeschichtlichem Seitenblick auf die österreichische Volkskunde , hier auch die einschlägigen Interessen der sogenannten »Wiener Schule« der Germanistik angesprochen werden  – und zwar sowohl in ihrer »ritualistischen« Denomination43 als auch in jener »mythologischen« Richtung44 , die »aus Religionswissenschaft und Wagnerstudium des Deutschbalten und Wiener Indologen Leopold von Schröder«45 erwachsen war. »Wagnerstudium«: Damit ist sicher das geeignetste Stichwort im Zusammenhang mit den Straßennamen des Nibelungenviertels gefallen. Denn wenn auch einige von ihnen »an die Geschichte des österreichischen Mittelalters ( Vogelweidplatz , Reuenthalgasse , Akkonplatz … )« erinnern46 und so auch die allgemeine Mittelalter-Begeisterung ins Kalkül zu ziehen ist , wie sie zum Zeitpunkt ihrer Benennung grassierte und von verschiedenen Vereinen wachgehalten wurde47 , sind Stoff und Gestalten des Nibelungenlieds doch wohl erst durch Richard Wagner beziehungsweise durch den spätestens mit dessen Tod 1883 exzessiv werdenden Wagner-Kult ins allgemeine Bewusstsein gelangt.48 42 Münkler ( 1995 ): Mythen-Politik , S. 158. 43 Vertreten etwa durch Otto Höfler , der sich ausführlich mit dem Nibelungenlied beschäftigt hat , vgl. Höfler ( 1965a ): Deutsche Heldensage ; ders. ( 1965b ): Zur Anonymität des Nibelungenliedes. 44 Mit ihren Protagonisten Rudolf Much und Edmund Mudrak ; vgl. Much ( 1913 ): Rüdiger von Pechlarn ; Mudrak ( 1939 ): Die deutsche Heldensage , hier v. a. S. 136–235 ( »Die Sagen von den Nibelungen«). Zu Mudrak & Co. vgl. Nikitsch ( 2013 ): Stadiongasse 9. 45 Weber-Kellermann u. a. ( 2003 ): Einführung in die Volkskunde /  Europäische Ethnologie , S. 118. 46 Peter ( 1991 ): Geschichte der Wiener Straßennamen , S. 147. 47 Wie beispielsweise vom Verein »Deutsche Heimat«, der , 1905 als »Gesellschaft zur Förderung historischer und kulturhistorischer Bestrebungen in Deutsch-Österreich« gegründet , sich der »Verbreitung der Kenntnis der vaterländischen und insbesondere örtlich geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Vergangenheit« widmete , vgl. dazu Nikitsch ( 1997 ): Zur Organisation von Heimat , bes. S. 289–294. 48 Dass dieser Wagner-Kult auch parodistisch-ironisch kommentiert wurde , sei nur am Rande erwähnt und neben Nestroys bekannter Tannhäuser-Parodie ( Uraufführung 1857 ) die Operette »Die lustigen Nibelungen« von Oscar Straus ( uraufgeführt am 12. November 1904 im Karltheater , Text von Rideamus  =  Fritz Oliven ) genannt ; vgl. Bauer ( 1955 ): Opern und Operetten in Wien. Letztgenanntes Stück soll übrigens immer wieder Proteste seitens deutschnationaler Kreise hervorgerufen und unter dem Nationalsozialismus verboten gewesen sein ( http://de.wikipedia.org/wiki/Die_lustigen_Nibelungen , 4. 1. 2013 ). Zu weiteren Parodien vgl. Harrandt ( 2012 ): Richard Wagner und die Wiener Öffentlichkeit , S. 77.

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Richard Wagner , wenngleich nur kurze Zeit in Wien ansässig ,49 war eine der zentralen Figuren im Kulturleben Wiens um die Jahrhundertwende50 – und er war auch eine Art Galionsfigur großdeutscher Sehnsüchte in der ausgehenden k. u. k. Monarchie. Schon der junge Hermann Bahr sah in Wagner nicht nur den Hauptvertreter der ›neudeutschen‹ Musikrichtung51 , sondern jemanden , der »nicht blos mit Phrasen , sondern auch mit Thaten für seine politische Anschauung eingetreten [ ist ]. Er war ein großdeutscher Politiker und Österreich eine schwerbüßende Kundry , die sehnsüchtig des Erlösers harrt. [ … ] Richard Wagner hat auch nicht vergessen , daß 8 Millionen deutscher Brüder hart an der Grenze des deutschen Reiches [ leben ].«52 Das war 1883 , im Todesjahr Wagners , geschrieben , und im selben Jahr und aus ebendiesem Anlass war Bahr auch Sprecher bei einer der vielen auch in Wien abgehaltenen Trauerveranstaltungen , die recht tumultuös und unter Polizeieinsatz abgelaufen ist 53  – wie ja der ganze Wagner-Kult eindeutig politisch-weltanschaulich besetzt war , seit Georg von Schönerer , der »Führer der Alldeutschen«, diesen Trauerkommers der Burschenschaften zu einer deutschnationalen Kundgebung gemacht hatte.54 Seitdem waren auch im Weiteren die deutschnationalen Feste stets von Wagner-Musik begleitet , beispielsweise das große Schulvereins-Fest am 8. Dezember 1909 in Wien55 – wobei in diesem Zusammenhang nochmals an den damals in Wien herrschenden politischen Ton zu erinnern ist : Hier hatten die Liberalen – die auf ( cisleithanischer ) Reichsebene bereits ab 1879 abdanken mussten – spätestens mit Ernennung Karl Luegers zum Bürgermeister im Jahr 1897 ihre Vorherrschaft endgültig an die christlichsoziale Massenpartei verloren , deren Demagogen nun all das propagierten , »was dem klassischen Liberalismus verhaßt war : Antisemitismus , Klerikalismus und Sozialismus auf kommunaler Ebene«56. 49 Leibnitz ( 2012 ): Richard Wagner in Wien , S. 31–34. 50 Vgl. Deaville ( 1999 ): Wacht an der Donau , S. 52. 51 Vgl. aus musikwissenschaftlicher Sicht Kowar ( 1984 ): Vereine für die Neudeutschen in Wien. 52 Brief Bahrs an seinen Vater vom 13. März 1883 , zit. nach Deaville ( 1999 ): Wacht an der Donau , S. 50. 53 Schorske ( 1994 ): Wien , S.  142. 54 Hamann ( 1998 ): Hitlers Wien , S. 95 ; Näheres zum Ablauf bei Deaville ( 1999 ): Wacht an der Donau , S. 67 f. 55 Vgl. ebd. Der nicht zufällig im Jahr des Erlasses der Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren 1880 in Wien konstituierte »Deutsche Schulverein« konzentrierte sich auf Schulgründungen in ethnisch ›gemischten‹ Grenzgebieten. Er propagierte damit zugleich eine Förderung des ›Volkstums‹ und zielte in zunehmendem politischweltanschaulichem Rigorismus auf deutschnationale Hegemonie. Nikitsch ( 1997 ): Zur Organisation von Heimat , S. 289–294. 56 Schorske ( 1994 ): Wien , S.  5.

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Und zumindest in ihrer antisemitischen Attitüde traf sich diese Partei mit ihrem immer stärker werdenden deutschnationalen pateipolitischen Widerpart. In dessen politischem Umfeld wurde auch der 1890 gegründete »Neue Richard Wagner Verein zu Wien« zu einer Pflegestätte eines Germanenkults mit dem erklärten Ziel , »die deutsche Kunst aus Verfälschung und Verjudung zu befreien«57. Dieser Verein rekrutierte sich aus ideologisch radikalen ehemaligen Mitgliedern des »Wiener Akademischen Wagner-Vereins«, der 1873 als einer von vielen innerhalb und außerhalb Deutschlands entstandenen WagnerVereine mit dem auf den ersten Blick unverdächtigen Ziel der Verbreitung des Opernwerkes von Richard Wagner und der Unterstützung der Bayreuther Festspiele gegründet worden war.58 Allerdings nennen dessen Statuten als weiteren Vereinszweck , »die Erkenntnis der Bedeutung Richard Wagner’s für die deutsche Kunst und das Leben zu erwecken und zu fördern«59  – und wenngleich Vorstand und Mitglieder in ihrer Konduite vergleichsweise moderat gewesen sind , wird die programmatische Ausrichtung doch deutlich , wenn etwa der Historiker Adalbert Horawitz im ersten Jahresbericht des »Wiener Akademischen Wagner-Vereins« 1873 schreibt : »An Wagners Wirken und Vollbringen fühlt es jeder , dass er den tiefgebildeten begeisterten Patrioten vor sich hat. Deshalb ist auch seine Sache Deutschlands Sache ; unser Volk hat die Pflicht für dieselbe einzustehen !«60 Kurzum und »in other words , the Society was to serve and unite the Viennese Wagnerians and to stimulate a broader interest in the Gospel of Wagner , both for life and art in a German-national sense«.61 Dieses »Evangelium« wurde freilich in den unterschiedlichsten weltanschaulichen Lagern gepredigt. Denn , wie Carl E. Schorske am Beispiel der bewundernden Haltung Camillo Sittes ausführt , bot ja Wagner eine »Theorie , die es ermöglichte , die historische Bildung mit der handwerklichen Überlieferung zu einer ästhetischen und gesellschaftlichen Mission zu vereinigen«.62 Und dieser ästhetisch-lebensreformerische Impuls Wagners – der für viele seiner Anhänger als »Befreier des Herzens gegen den Kopf , des Volkes gegen die Masse , der Revolte des Jungen und Kraftvollen gegen das Alte und Verknöcherte«63 galt – fand auch in seinen politisch-ideologischen Implikationen Anklang : »Am Vorabend des preußischen Sieges über Frankreich und der deutschen Einigung breitete sich Wagners Nationalismus unter den jungen österreichischen Intellektuellen 57 Hamann ( 1998 ): Hitlers Wien , S. 344 ; Harrandt ( 2012 ): Richard Wagner und die Wiener Öffentlichkeit , S. 82. 58 Harrandt ( 2012 ): Richard Wagner und die Wiener Öffentlichkeit , S. 77–86. 59 Zit. nach Deaville ( 1999 ): Wacht an der Donau , S. 54. 60 Zit. nach Deaville ( 1999 ): Wacht an der Donau , S. 60. 61 Deaville ( 1999 ): Wacht an der Donau , S. 54. 62 Schorske ( 1994 ): Wien , S.  65. 63 Ebd. S. 154.

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rasch aus , während der Krach von 1873 Wagners Verherrlichung der deutschen mittelalterlichen Handwerkergemeinschaft der Meister im Gegensatz zur modernen kapitalistischen Gesellschaft besonders anziehend machte.«64 So ist – um resümierend noch einmal zum ›Nibelungenviertel‹ zurückzukommen – die apodiktische Bemerkung , dass dessen Bezeichnung »Ausdruck für den deutschen Nationalismus [ ist ] , der sich vor dem ersten Weltkrieg breit machte«65 , zweifellos nicht von der Hand zu weisen. Doch war ein Anlass der Straßenbenennungen wohl auch ganz schlicht die damalige Popularität des Komponisten. Schließlich nahm zum Zeitpunkt der Entstehung des Grätzels das Werk Richard Wagners , das anfangs von den Wiener Spielstätten nur zögerlich akzeptiert worden war ,66 breiten Raum im Spielplan der Wiener Oper ein. Beispielsweise waren allein im Juni 1908 an neun Abenden jeweils unterschiedliche Wagner-Opern angesetzt.67 Und so ist es nicht verwunderlich , dass schon 1894 der »Goetheplatz« im 16. Bezirk mit Hinweis auf seine Nähe zum Standort des ( 1870 abgerissenen ) Thaliatheaters , in dem anno 1857 die Wiener Erstaufführung des »Tannhäuser« stattgefunden hatte , in »Richard-Wagner-Platz« umbenannt wurde. Der Antrag dazu war bereits 1883 gestellt worden , und zwar mit dem nicht eben verfänglich anzuhörenden Ansinnen , »der Gemeinderat wolle in Erwägung ziehen , in welcher Weise das Andenken des großen Todten für alle kommenden Zeiten in würdiger Weise geehrt werden soll«68. Dass dieses Andenken immer wieder als Munition bei den politischen Auseinandersetzungen in der ausgehenden Monarchie diente und so auch zu deren Untergang mit beitragen sollte , war allerdings auch so manchem Zeitgenossen bereits bewusst. So etwa Karl Kraus , der – wie so oft divinatorisch und in ernstem Spott – angesichts des »Siegfried im Opernhaus« notiert hat , dass »der sonnige Jüngling da oben mit den k. k. Dämonen wohl bald fertig werden wird«.69

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Ebd. , S. 65. Peter ( 1991 ): Geschichte der Wiener Straßennamen , S. 147. Vgl. Leibnitz ( 2012 ): Richard Wagner in Wien. Vgl. Hamann ( 1998 ): Hitlers Wien , S. 89. Zit. nach Peter ( 1991 ): Geschichte der Wiener Straßennamen , S. 107. Karl Kraus : Siegfried im Opernhaus. Zit. nach Wunberg ( Hg. ) ( 1981 ): Wiener Moderne , S. 600.

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DIE STAATSOPER UND IHR KULTURELLES SOUTERRAIN EINE VERSUCHSANORDNUNG ZUM THEMA »MUSIKSTADT WIEN« Wie kaum ein anderes musikalisches Genre ist die Oper mit Formen höfischer , nationaler und bürgerlicher Selbstrepräsentation verbunden. Die »opera seria« als zutiefst feudalaristokratische Kunstform des 18. Jahrhunderts ,1 die politische Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Stücken wie Verdis »Nabucco«, Smetanas »Libuse« oder Wagners »Meistersinger« als »nationale Festopern«2 und die mit dem Musiktheater verbundenen bürgerlichen Vergesellschaftungsrituale in »historistisch aufgedonnerten Dekorationen«3 weisen dieses als einen signifikanten Faktor politischer Kultur aus. Dementsprechend zentrale Bedeutung hatten im 19. und 20. Jahrhundert auch die Architekturen der Oper : die Opernhäuser als repräsentative Orte nationaler Hochkultur und als Teil einer hochkulturellen Topografie der Stadt.4 Der vorliegende Beitrag nähert sich der Wiener Staatsoper , die Theodor W. Adorno in seiner Einleitung in die Musiksoziologie einmal als »profanen Sakralbezirk«5 bezeichnet hat und in der sich die dominante Erzählung von der »Musikstadt Wien« exemplarisch verdichtet wie nirgendwo sonst.6 Allerdings soll hier weniger nach der historischen Entwicklung und kulturellen Faktur der Staatsoper selbst gefragt werden , sondern vielmehr nach den stadträumlichen Einschreibungen des »Musikstadt«Motivs , so wie sie sich im weiteren Umfeld des Hauses am Opernring manifestieren. Eine Ausgangsthese der vorliegenden Überlegungen ist , dass sich die musikbezogenen kulturellen Repräsentationen im Wiener Stadtraum nur in ihren wechselseitigen Bezügen , Spiegelungen und Brechungen und damit als eine Konfiguration angemessen erfassen lassen. Erst wenn die Staatsoper in dem gesamten Feld der viel beschworenen »Kultur- und Musikstadt« Wien , 1 2

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Vgl. in aller Kürze Blanning ( 2010 ): Triumph der Musik , S. 95–96. Ausführlicher z. B. Strohm ( 1979 ): Die italienische Oper. Aus sozialgeschichtlicher Sicht Daniel ( 1995 ): Geschichte des Theaters. Zur nationalen Semantik der Oper vgl. Ther ( 2009 ): Wie national war die Oper ? Zur Oper als einer politischen Repräsentationsform vgl. außerdem Heinemann ( 2004 ): Kleine Geschichte der Musik , S.  252–262 ; Müller /  Toelle ( 2008 ): Bühnen der Politik. Hermand ( 2008 ): Glanz und Elend , S. 8. Vgl. den Überblick von Forsyth ( 1992 ): Bauwerke für Musik. Adorno ( 1973 ): Einleitung in die Musiksoziologie , S. 265. Zur »Musikstadt Wien« vgl. die kultur- und diskursgeschichtliche Studie von Nußbaumer ( 2007 ): Musikstadt Wien.

von »Highbrow« und »Lowbrow«, situiert wird , kann dieser höfisch-bürger­ liche »Sakralbezirk« in seiner Bedeutung für die Stadt und ihre kulturelle Spezifik verstanden werden , so wie sie Lutz Musner in seiner Studie »Der Geschmack von Wien« untersucht hat.7 Mit diesem konfigurativen Ansatz folge ich der von Rolf Lindner formulierten kulturanalytischen Grundannahme , dass »der Sinngehalt kulturaler Phänomene erst durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts entschlüsselt wird , dem sie ihre spezifische Gestalt verdanken«8. Anja Schwanhäußer etwa hat in diesem Sinne am Beispiel von »Black Vienna« zu zeigen versucht , wie sich in der »Juxtaposition von scheinbar Gegensätz­ lichem [ … ] der Gegenstand in einem neuen Licht« zeigt.9 In diesem Sinne soll hier nach dem Zusammenhang von Juxtapositionen und Gegensätzen gefragt werden , über den die Wiener Staatsoper als urbaner Ort gelesen werden kann. Überlegungen zur Stadttopographie und zur Wiener Musiktradition verbinden sich dabei mit tentativen Einblicken in das »kulturelle Souterrain« und bilden eine experimentelle Versuchsanordnung , in der etwas von dem aufscheint , was Musner als das widersprüchliche Signum der »Wiener Geschmackslandschaft« ausgemacht hat : »Wien ist – um es auf den Punkt zu bringen – deshalb anders , weil das Andere , das Verborgene und das Gegenläufige integrale Bestandteile der Repräsentation und Imagination der Stadt sind und der urbane Habitus letztlich auch seine ironische Paraphrase , seine Karikatur und seine partielle Selbstaufhebung mit einschließt.«10

Kulturelle Hierarchisierungen: Staatsoper und Volksoper In ihrer Studie »The Politics and Poetics of Transgression« haben die Literaturwissenschaftler Peter Stallybrass und Allon White das Verhältnis von »Oben« und »Unten« als strukturierendes Moment der europäischen Kulturgeschichte durchleuchtet. Sie zeigen , wie sich die moderne bürgerliche Kultur seit dem 19. Jahrhundert durch eine doppelte Geste konstituiert , mittels derer das gesellschaftliche »Unten« sowohl abgelehnt als auch ins heimliche Zentrum des Begehrens gerückt wird. »The ›top‹ attempts to reject and eliminate the ›bottom‹ for reasons of prestige and status , only to discover , not only that it is in some way frequently dependent upon that low-Other [ … ] , but also that the top in­cludes that low symbolically , as a primary eroticized constituent of its own fantasy life.«11 7 8 9 10 11

Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien. Ebd. , S. 179. Schwanhäußer ( 2010 ): Black Vienna , S. 170. Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien , S. 282. Stallybrass /  W hite ( 1986 ): The Politics and Poetics , S. 5.

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Kurzum : »Hochkultur« basiert in ihrer Konstitution auf der symbolischen Zurückweisung und Domestizierung des Popularen als ihres Anderen , genau darin aber bleibt sie auf das Imaginarium des »Niederen« angewiesen und bezieht daraus ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte. Indem ich im Folgenden auf das stadträumliche Umfeld der Wiener Oper eingehe , möchte ich zeigen , wie sich diese Dynamik symbolischer Hierarchisierung von hoher und niederer Kultur in der »doppelte[ n ] Faltung städtischen Terrains« im Wien des 19. und 20. Jahrhunderts spiegelt.12 Denn wie die kulturelle Produktion – von der legitimen bis zur illegitimen Kultur – ist auch der urbane Raum sozial segregiert und hierarchisiert. In Wien ist diese Hierarchisierung besonders sinnfällig : Um den als historisches und kulturelles Zentrum definierten ersten Bezirk herum gruppieren sich die 1850 eingemeindeten inneren Vorstädte , wobei die Leopoldstadt jenseits des Donaukanals als Sonderfall zu werten ist. Hinzu kam 1890 und 1904 eine Reihe von Vororten , die außerhalb des ehemaligen Linienwalls lagen und als dörfliche Peripherie der Stadt fungierten. Dieser Stadtstruktur entspricht eine Hierarchie der Räume , die sich in zahlreichen sozialen Indikatoren sowie dem guten oder schlechten Ruf bestimmter Gegenden spiegelt. Im Wesentlichen folgt die Wiener Stadttopografie also einem »konzentrischen Muster , in welchem sich innere und äußere Vorstädte , sozial abfallend , um das Zentrum gruppieren«.13 Die Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Ringstraße und der Ende des 19. Jahrhunderts ausgebaute Gürtel bilden bis heute die beiden sozialräumlichen und symbolischen Trennlinien , die diesen hierarchisch gestuften Raum konstituieren. Das Gebäude der 1869 eröffneten Wiener Hofoper befindet sich am Rande des ersten Bezirks , an einer stadttopografisch zentralen Stelle , nämlich am Schnittpunkt von Ringboulevard und Kärntner Straße.14 Wie Martina Nußbaumer ausgeführt hat , war die Oper der erste repräsentative Bau in einer ganzen Serie von »materiellen Zeichensetzungen«, in denen sich das Selbstbild der Musikstadt Wien manifestierte. Kurz darauf folgte der Bau des Musikvereinsgebäudes , dann die prominent positionierten Denkmäler für die Heroen der Wiener Musikgeschichte , Schubert , Beethoven , Mozart , Bruckner , Lanner , Strauß und Brahms , zuletzt die Eröffnung des Konzerthauses beim Stadtpark im Jahr 1913.15 Unter all diesen »Bezugspunkten des musikbezogenen Bildgedächtnisses der Stadt«16 war es aber stets die Hofoper bzw. Staatsoper , die den zentralen Rang beanspruchen konnte. Errichtet als Manifest dynastischer Stär12 Musner /  Maderthaner ( 1999 ): Die Anarchie der Vorstadt , S. 51. 13 Ebd. , S. 10. 14 An allgemeiner Literatur über die Hofoper bzw. Staatsoper vgl. u. a. die populären Darstellungen Hadamowsky /  W iteschnik ( 1969 ): 100 Jahre Wiener Oper ; Seebohm ( 1986 ): Die Wiener Oper ; Sinkovicz ( 1996 ): Die Wiener Staatsoper. 15 Nußbaumer ( 2007 ): Musikstadt Wien , S. 65. 16 Ebd. , S. 66.

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Abb. 1 : Die Wiener Staatsoper bei Nacht, Blick von der Albertinaterrasse Foto: infraredhorsebite, Wikimedia Commons

ke und österreichischer Identität nach der Revolution von 1848 , symbolisierte der Prachtbau insbesondere die innige Verbindung zwischen der Wiener Musikgeschichte und der politischen Führung der Habsburgermonarchie.17 Doch auch später blieb die Oper ein zentraler Repräsentationsraum der politischen Führung Österreichs. Bei ihrer Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg im November 1955 wurde sie von Ernst Marboe als »Krönungsjuwel der österreichischen Freiheit« bezeichnet und galt als Symbol der wiedergewonnenen Unabhängigkeit des Staates Österreich.18 Besonders deutlich wird diese Funktion des Hauses an der Geschichte des aus den Hofopern-Soiréen und Redouten hervorgegangenen Opernballs. Seit der Ersten Republik galt : »Wer zu den Ballbesuchern zählte , gehörte zur Führungselite Österreichs , die Teilnahme legitimierte die Herrschenden , sie präsentierten sich als Elite des Landes und waren unter sich.«19 Bis heute dienen die »Feste der konservativen Elite Österreichs«20 immer auch der Inszenierung eines spezifischen Wiener Konservativismus. So heißt es in einer von Ulrike Messer-Krol herausgegebenen Hochglanzpublikation zum Opernball und dem »Mythos des Walzertanzens«: »Sechzig Jahre Geschichte und keine Veränderung , wie viele Institutionen können das von sich behaupten ?«21 In der symbolischen Mitte der Stadt und gleichsam der Republik am Opernring hat Veränderung keine Repräsentanz : 17 Ebd. , S. 73–77. 18 Vgl. Stachel ( 2008 ): Das Krönungsjuwel. 19 Reumann ( 1995 ): Tu felix Austria , S. 71. 20 Ebd. 21 Messer-Krol ( 1995 ): Der Wiener Opernball , S. 165.

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Hier herrschen – zumindest dem Selbstverständnis nach – die Statik eines seit Hofopernzeiten nur unwesentlich aktualisierten musikdramatischen Repertoires sowie die zeitlose »Entrückung im Walzerrausch«22. Szenenwechsel : Am Währinger Gürtel wurde im Jahr 1898 das »Kaiser-Jubiläums-Stadttheater« eröffnet , für das sich seit 1904 der Name »Volksoper« eta­ bliert hat.23 Dieses Haus war neben dem Deutschen Volkstheater ( 1889 ) und dem Raimundtheater ( 1893 ) eine von drei Ende des 19. Jahrhunderts neu begründeten Wiener Spielstätten , mit denen an die Tradition des deutschsprachigen Volksstücks und insbesondere der Alt-Wiener Komödie angeknüpft werden sollte. Mit seinem Pamphlet »Wien war eine Theaterstadt« polemisierte Adam Müller-Guttenbrunn , Initiator des Kaiser-Jubiläums-Stadttheaters , 1885 gegen den französisch beeinflussten »dekadenten« Theaterbetrieb an den großen Bühnen der Stadt. Die spätere Volksoper wurde dagegen dezidiert als »eine neue Bühne volksthümlicher Art« konzipiert , »die sich auf die Pflege der deutschen Kunst zu stützen hätte [ … ]. Sie würde namentlich der kleineren Bürgerschaft nach Last des Tages geistige Erfrischung bieten und unsere Mitbürger zu einer durch die Kunst verschönten Geselligkeit vereinen.«24 Fixpunkte des Programms waren die »Volksstücke« Raimunds , Nestroys und Anzengrubers , die Dramen von Grillparzer , Halm , Bauernfeld und Hebbel , darüber hinaus aber die gesamte deutsche Sprechtheatertradition , für die Schillers Diktum von der Schaubühne als »moralische Anstalt« reklamiert wurde.25 Bei der Eröffnung setzte man auf das Lokalkolorit der Vorstadt , verband dieses aber mit einem deutschnationalen Statement : Aufgeführt wurden das Festspiel »An der Währinger Linie« von Franz Wolff sowie Heinrich von Kleists »Hermannschlacht«.26 Diese beiden Stücke gaben die Linie vor , mit der Müller-Guttenbrunn einen »Kulturkampf gegen den Zerfall der Werte«27 führen wollte – die Bühne war von Beginn an ein ausgeprägt antisemitisches Unternehmen , aus dem jüdische Autoren und Schauspieler per Dekret ausgeschlossen wurden , gerichtet gegen alle internationalen Tendenzen des Theaters. »Man stellte sich«  – so Herbert Zeman – »leidenschaftlich und bewußt in Gegensatz zur Wiener Operette , der leichtgeschürzten Nachfolgerin der ›bodenständigen‹ volkstümlichen Komödie , zum dekadenten Lebensspiel Arthur Schnitzlers , zur literarischen Nervenkunst 22 Roschitz ( 1995 ): Vom Mythos des Walzertanzens , S. 9. 23 Vgl. dazu v. a. die beiden Jubiläums-Veröffentlichungen zum 100-jährigen Bestehen des Hauses : Bachler u. a. ( 1998 ): Die Volksoper ; Prikopa ( 1999 ): Die Wiener Volksoper. 24 So eine Erklärung des »Kaiserjubiläums-Theatervereins«, zit. nach Zeman ( 1998 ): Die Wiener Volksoper , S. 9. 25 Vgl. ebd. , S. 7. 26 Ebd. , S. 11. 27 Ebd. , S. 15.

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Jung-Wiens , und gegen allen ähnlichen ausländischen Einfluß von Oscar Wilde bis Gabriele d’Annunzio.«28 Zugleich aber stellte das neue Vorstadttheater auch einen Gegenentwurf zur Hofoper dar , deren Direktor Gustav Mahler kurz vor der Übernahme dieses Postens zum Katholizismus konvertiert war , aber dennoch als »jüdischer Dirigent« par excellence galt.29 Müller-Guttenbrunns Versuch , draußen an der Währinger Linie ein Bollwerk des deutschnationalen und christlich-konservativen Theaters zu errichten , ist schnell gescheitert : Bereits 1903 musste er das Kaiser-Jubiläums-Stadttheater abgeben. Mit Lessing und Grillparzer , Peter Rosegger und Felix Dahn , Ludwig Anzengruber und Hermann Sudermann konnte die Bühne kein ausreichendes Publikum anziehen , ohne öffentliche Finanzierung erwirtschaftete das umstrittene Haus hauptsächlich Schulden. Müller-Guttenbrunns Nachfolger , Rainer Simons , setzte daher auf das Musiktheater und die Umwandlung zur »Volksoper«. Diese Entwicklung begann mit Aufführungen »volkstümlicher« Opern von Weber , Flotow und Lortzing in der Spielzeit 1904 /  05 , bald wagte sich der Wagnerianer Simons aber auch an die große Oper. Nun hielt auch »der Nervenkitzel des Verismo [ … ] Einzug auf dem Währinger Gürtel«.30 Mit einer Melange aus Operettengastspielen , Georges Bizet und Charles Gounod , Umberto Giordano und Giacomo Puccini , Albert Lortzing und Heinrich Marschner , Richard Wagner und Richard Strauss wurde nun – abseits fixierter ideologischer Vorstellungen von einem vaterländischen Nationaltheater – der Publikumsgeschmack getroffen und eine echte Alternative zur Hofoper geboten. Gleichzeitig wurde der »Judenpunkt« aus den vertraglichen Abmachungen gestrichen – was in der Folge erstklassige Musiker wie Alexander von Zemlinsky als Kapellmeister an das Haus brachte.31 1918 wandte sich Simons der Frage nach einer popularen Bühne auch publizistisch zu und veröffentlichte seine Schrift »Braucht Wien ein Theater fürs Volk ?«32. Zwar scheiterte die kunstpädagogische Vision Simons’ von einem »wahrhaften Volkstheater« und einer von ihm ausgehenden »Veredelung der Sitten und des Geschmackes der Nation« an der Dynamik der Publikumsnachfrage ,33 dennoch konnte sich das Haus als dezidiert bürgerlich zugeschnittene Alternative zur alten Hofoper – nunmehr Staatsoper – behaupten. Die weitere Geschichte der Wiener Volksoper soll an dieser Stelle nicht rekapituliert werden  – für den hier untersuchten Zusammenhang ist vor allem die stadttopografische Situation dieses Theaterbaus interessant. Denn bei des28 Ebd. 29 Vgl. Dahm ( 2007 ): Der Topos der Juden , explizit zu Mahlers Konversion  S. 199 ( Anm. 108 ). Ausführlicher dazu Scheit /  Svoboda ( 2002 ): Feindbild Gustav Mahler. 30 Zeman ( 1998 ): Die Wiener Volksoper , S. 20. 31 Ebd. , S. 21. 32 Simons ( 1918 ): Braucht Wien ein Theater fürs Volk ? 33 Zit. nach Zeman ( 1998 ): Die Wiener Volksoper , S. 39.

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sen Gründung spielte die Lage am Linienwall eine entscheidende Rolle. Als sich das »provisorische Comité« des Kaiserjubiläums-Theatervereins , bestehend aus Währinger Kommunalpolitikern , Bürgervertretern und Theaterleuten , im November 1895 an den zuständigen niederösterreichischen Statthalter Graf Erich von Kielmannsegg wandte , verwies es darauf , dass »unter den Bewohnern des nordwestlichen Teiles der Stadt Wien das dringende Verlangen nach einem gut geleiteten , mit billigen Plätzen ausgestatteten Theater« gebe , »weil die bestehenden Wiener Theater , abgesehen von höheren Preisen der Plätze , mit Rücksicht auf die in den letzten Jahren erfolgte rasche Ausdehnung des obigen Stadtteiles für die Bewohner desselben in eine zu weite Entfernung gerückt erscheinen«.34 Damit sollte also der im ersten Bezirk und den angrenzenden bürgerlichen Gegenden konzentrierten Wiener Theaterlandschaft eine dezidierte Vorstadtbühne entgegengesetzt werden. »In eine zu weite Entfernung gerückt« war diese Theaterlandschaft weniger in geografischer – das Theater in der Josefstadt etwa lag nicht sehr weit vom Bauplatz der späteren Volksoper entfernt – als vielmehr in sozialer Hinsicht : Für die Währinger markierte der Linienwall bzw. die Gürteltrasse eine soziale Trennlinie , die nicht leicht zu überwinden war. Insofern ist die Geschichte der Volksoper als Gegenstück zur Hofoper anders und besser zu begreifen , wenn man das urbane »Raumbild« Wiens zwischen Ringstraße und Gürtel in den Blick nimmt.35 Um 1900 befand sich der neu angelegte Gürtel in einer Phase des Ausbaus zum Boulevard.36 Allerdings brachte die Entwicklung dieser Straße von Beginn an neue soziale Festschreibungen mit sich. Durch den Bau der Wiener Stadtbahn in den Jahren 1894 bis 1900 wurden die äußeren Vorstädte durch ein effektives Verkehrsmittel miteinander verbunden , und damit wurde die bestehende Stadtstruktur bestätigt : Die Linienführung entlang der Gürteltrasse »erlaubte nicht nur eine stärkere ökonomische Integration der Vorstädte und ihrer zumeist proletarischen Bewohner , sondern verfestigte zugleich die tradierte kulturelle Grenzziehung zwischen Zentrum und Peripherie , die schon vorher durch den Linienwall symbolisch und lebensweltlich voneinander getrennt waren«.37 Mit dem Bau des Raimundtheaters und der Volksoper als dezidiert »volkstümliche« Spielstätten erhielt der Gürtel seine scheinbar adäquaten Theaterbauten , von denen nicht nur eine Neubelebung der »Alt-Wiener« Komödie ausgehen sollte , sondern auch eine national-erzieherische Wirkung. In der neuen Theater34 Hadamowsky ( 1988 ): Wien , S.  751. 35 Zum »Raumbild« des Gürtels vgl. u. a. Schneider /  Strohmeier ( 2000 ): Raumbildung und Raumbilder ; Petrovic ( 1998 ): Der Wiener Gürtel. 36 Gegen die Charakterisierung des Gürtels als »Boulevard« argumentiert Békési ( 2011 ): Kontrollierte Bewegungen , S. 88–93. 37 Musner ( 2004 ): Kultur als Textur des Sozialen , S. 92.

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Topografie spiegelt sich also das spezifische soziale Raumbild der Stadt Wien : Hofoper und Burgtheater als Stätten der Hochkultur am großbürgerlichen Ring , Raimund- und Kaiser-Jubiläums-Theater als deren Gegenpole am kleinbürgerlichen Gürtel oder »Volksring«,38 der in den 1920er-Jahren als »Ringstraße des Proletariats« seinen ganz eigenen klassenkulturellen Charakter erhalten sollte. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte bilden die symbolischen Setzungen von Hofoper und Volksoper zusammen eine räumliche Konfiguration , die wir zu berücksichtigen haben , wenn es um die populare und hochkulturelle Traditionen kombinierende Erzählung von der »Musikstadt Wien« geht. Ein Wort noch zur Architektur der beiden genannten Wiener Opernhäuser : Hier wie dort griff man auf das Formenrepertoire der Renaissance zurück , allerdings in unterschiedlicher Weise. Während sich die Hofoper von Siccardsburg und van der Nüll in einer groß dimensionierten romantischen Neorenaissance präsentiert , kopiert das alte Kaiser-Jubiläums-Stadttheater in einigen seiner baulichen Details wie den geschwungenen Ziergiebeln Elemente des bürgerlichen Wohnbaus dieser Epoche. Nicht nur in den Baukosten also – mit fast 2. 000 Gulden pro Zuschauerplatz war die Hofoper ein veritabler Luxusbau ,39 während die Volksoper mit 436 Gulden pro Platz deutlich günstiger war 40 – , sondern auch in den Baustilen standen sich hier also »höfische« und »bürgerliche« Anmutung gegenüber. Peter Haiko hat in einem Beitrag über das von den Theaterarchitekten Fellner und Helmer entworfene Volkstheater gezeigt , wie sich der Anspruch des Hauses als »betont bürgerliche[ r ] Antipode zu den beiden großbürgerlichen Hoftheatern« architektonisch niederschlug 41  – ähnlich ließe sich auch im Hinblick auf den Gegensatz von Hofoper und Volksoper argumentieren. Seitlich der Staatsoper in der Operngasse findet sich heute noch ein weiterer architektonischer Kontrapunkt zu diesem Haus : 1999 bezog das »Österreichische Volksliedwerk«  – und damit eine Institution , die sich explizit der Erforschung und Pflege popularer Musiktraditionen verschrieben hat42 – neue Schauräume in der Operngasse. Ein bauliches Detail verdient dabei besondere Aufmerksamkeit : nämlich der Türbogen eines 1862 erbauten Mühlviertler Bauernhauses , der den Eingang rahmt und damit symbolisch den Eintritt in 38 Vgl. Fassbender ( 1898 ): Ein Volksring für Wien. 39 Haiko ( 1995 ): Ein Theater für das Bürgertum , S. 154. 40 Eigene Berechnung nach den Zahlen von Zwickelsdorfer ( 1998 ): Kleine Baugeschichte , S. 233–234. Allerdings war das Volkstheater mit 226 Gulden Baukosten pro Zuschauerplatz noch deutlich günstiger , vgl. Haiko ( 1995 ): Ein Theater für das Bürgertum , S. 154. 41 Haiko ( 1995 ): Ein Theater für das Bürgertum , S. 160. 42 Zur Geschichte und Programmatik des Volksliedwerks vgl. Deutsch ( 1995 ): 90 Jahre , S. 12–50.

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das Reich musikwissenschaftlich aufbereiteter »Volkskultur« in Szene setzt.43 In seinem Bogenschnitt ähnelt das sandsteinerne Stück erstaunlich exakt den Fensterformen des Neorenaissance-Opernbaus von Siccardsburg und van der Nüll und bezieht sich damit antipodisch auf die architektonisch inszenierte Hochkultur am Opernring. »Bäuerliche Traditionskultur« statt romantisch aufgeladener staatlicher Selbstdarstellung : Diese Gegenüberstellung , gespiegelt in Gewänden von Tür und Fenster , ist signifikant – ebenso wie der Umstand , dass die in den Schlussstein des Türbogens eingravierte Datierung 1862 mit der Entstehungszeit des Opernbaus übereinstimmt. Bei aller gebotenen Vorsicht der Spekulation kann also das Volksliedwerk an diesem Standort Operngasse 6 als ein Versuch gedeutet werden , die populare Traditionslinie Wiener Musik , also Volksmusik und Wienerlied ,44 der Hochkulturtradition zur Seite zu stellen. Nehmen wir die architektonische Zeichensprache von Hofoper , Volksoper und Volksliedwerk vergleichend in den Blick , so wird ein Spiel der feinen wie groben Unterschiede sichtbar , das zum Verständnis der kulturellen Topografie Wiens beitragen kann. Im Folgenden wird allerdings ein urbaner Ort beleuchtet , der nochmals eine ganz andere Chance bietet , das offizielle Bild der Wiener Staatsoper produktiv zu durchkreuzen. Um dorthin zu gelangen , ist nichts weiter nötig als eine kurze Fahrt mit der Rolltreppe.

Unterwelten der Kultur: die Opernpassage Wenige Meter unterhalb des kulturellen Hochplateaus der Staatsoper liegt eine ganz andere Welt : die der Opern- und Karlsplatzpassage. Hier ist der Ort , an dem die Oper gleichsam ihre kulturelle Inversion erfährt. Wenige Stufen führen hinunter in ein weitläufiges Rondell mit niedriger Deckenkonstruktion , und gleich zu Beginn schlägt dem Besucher der seifige Geruch der rechter Hand gelegenen »Opera Toilet« entgegen , begleitet von einer akustischen Endlosschleife der »Schönen Blauen Donau«. Betritt man dann die Toilette , so kann man sich gegen Gebühr auch bei der Bedürfnisverrichtung vom Wiener Walzer begleiten lassen. Das Pissoir ist in der Kulisse einer Bar eingerichtet , die Toilettenkabinen sind als durchnummerierte Opernlogen mit seidenbespannten Türen gestaltet. Im Eingangsbereich gibt es sogar eine »Behindertenloge«. Unumstritten ist diese unterirdische Lokalität nicht. Der Architekturkritiker 43 Den Hinweis auf diese Eingangssituation verdanke ich meinem Kollegen Bernhard Fuchs , der im Rahmen einer kleinen Stadtführung im Umkreis der Hanuschgasse darauf aufmerksam gemacht hat. 44 Als Überblicksdarstellung zur Wiener Popularmusik vgl. Fritz /  Kretschmer ( Hg. ) ( 2006 ): Wien.

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der Wiener »Presse« Christian Kühn bezeichnet die »Opera Toilet« beiläufig als »Tiefpunkt der Wiener Gastlichkeit«45 und dokumentiert damit die besondere Relevanz von Geschmacksfragen auf diesem exponierten urbanen Terrain. In der Tat gab es hinter dem Drehkreuz der Operntoilette schon so manches zu sehen , was alle Grenzen des guten Geschmacks überschritt. So hatte die Ausstattung der Herrenpissoirs durch den privaten Betreiber der Anlage Gerhard Neuhold im Herbst 2006 für einen kleinen Bezirksskandal gesorgt : Die Urinale waren bis dato in Form von geöffneten Frauenmündern gestaltet , was nicht nur die Frauenstadträtin Sonja Wehsely dazu veranlasste , von einer »widerwärtigen , frauenfeindlichen Geschmacklosigkeit sondergleichen« zu sprechen. Auch die Frauensprecherin der Wiener Grünen fand diese Gestaltungsidee »sexistisch und unangebracht«, Bezirksvorsteherin Ursula Stenzel erstattete sogar Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses – Neuhold ließ die Urinale daraufhin demontieren.46 Wenn die Entwicklungsgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten in erster Linie eine Geschichte der Domestizierung körperlicher Bedürfnisse ist ,47 dann konterkarierte das Neuhold’sche Arrangement diesen Zivilisierungsprozess. Kritisch diskutiert wird die Opernpassage auch im Internet. Für die Wiener Bloggerin Isabella F. ist die Bedürfnisanstalt unter dem Opernring »einer der schrägsten Plätze in ganz Wien«, allerdings findet sie : »Die kitschige Verkleidung passt irgendwie überhaupt nicht in diesen chaotischen unterirdischen Fußgeherkreisverkehr [ … ]. Es riecht chronisch intermittierend nach frischen Kipferln und Urin , aber das hat der Karlsplatz überhaupt so an sich.«48 Aufgrund des schlechten Rufs der Opern- und Karlsplatzpassage ist die Umgebung der Operntoilette auch für Michael T. aus Wien »kein Platz , mit dem Wien Werbung machen kann«, da sich dort »allerhand Gesindel , vom obdachlosen Alkoholiker bis zum drogensüchtigen Junkie oder Dealer alles tummelt [ sic ] was Wien an , und man kann es leider nicht anders sagen , Abschaum zu bieten hat«.49 Ein Kommentator auf »newsgrape.com« verpackt seine Abneigung gegen die Opernpassage sogar in eine kleine fiktive Erzählung , die nicht zuletzt von dem Schauermotiv des Hinabsteigens lebt :

45 Kühn ( 2008 ): Es entsteht halt überall was , S. 213. 46 Vgl. »krone.at« vom 19. Oktober 2006 : http://www.krone.at/Oesterreich/Opera_ Toilet-Pissoirs_werden_abgebaut-Frauenmuender_ade-Story–55134 ( 11. 4. 2012 ). 47 Vgl. zur Geschichte der öffentlichen Toilettenanlagen Payer ( 2000 ): Unentbehrliche Requisiten. 48 Isabella F. am 13. September 2010 auf : http://www.yelp.at/biz/opera-toilet-wien ( 11. 4. 2012 ). 49 Ebd.

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1010 Wien. Es ist Nachmittag an einem schwülen Frühlingstag. Die Sonne scheint zwischen den ersten Blüten einer jungen Kastanie hindurch , und dem fröhlichen Touristen , der gerade sein am Ring gelegenes Hotel verlässt , direkt in die Augen. Er und seine Frau haben beschlossen sich den berühmten Schönbrunner Tierpark anzusehen. Wie sie gelesen haben , soll die Wiener U-Bahn , im Vergleich zu manch anderen Großstädten durchaus ertragbar sein. Also schlendern die beiden gut gelaunt in Richtung Oper. Sie nehmen die Rolltreppe hinunter. Stirn-runzelnd verharren sie kurz in der Betrachtung einer Drehtür hinter der klassische Musik dröhnt , und die zum Besuch einer Toilette einzuladen scheint. Sie sehen einander kopfschüttelnd an und spazieren weiter. Hinter der großen , unterirdischen Halle mit dem Bäcker in der Mitte , sind sie plötzlich in einem schummrigen und grauen Durchgang. Es stinkt und mehrere Hunde bellen. In diesem Moment wird die junge Frau angerempelt. Sie dreht sich um und sieht in die geröteten Augen eines abgemagerten Jugend­ lichen. Speichel hängt an seinen knall-blauen Lippen. Erschrocken geht sie weiter , die Hand ihres Begleiters umklammernd. Dieser sieht sich noch einmal nach dem Junkie um und stolpert dabei fast über einen auf dem Boden liegenden Penner.50

Für die beiden imaginierten Touristen bleibt in der Logik dieser Erzählung , die versucht , »die Atmosphäre der Karlsplatz-Passage einzufangen«, nur eines : »Raus aus dieser Unterwelt.« Und für den unbekannten Blogger stellt sich nur eine Frage : »Kann man denn [ … ] eine solche Drehscheibe wie diesen Bahnhof , die einzige Station an der sich drei U-Bahn Linien treffen , die Station die den Beinamen ›Oper‹ trägt , die eigentlich an der Ecke des Hotels Sacher und der Kärntnerstrasse ist , so aussehen lassen ?«51 Auffallend ist in diesem Text – neben dem herablassenden Degout , der sich nicht um soziale Zusammenhänge schert , sondern einzig die touristische Benutzeroberfläche des öffentlichen Raums im Blick hat – die klare Entgegensetzung von Oberwelt und Unterwelt : dem repräsentativen Bereich rund um die Oper mit Hotel Sacher und Kärntner Straße sowie dem »schummrigen und grauen Durchgang«, der den Touristen zugemutet wird. Von dieser Differenz lebt diese »Rede von den Unwirtlichkeiten des unterirdischen Gangs«52 – implizit eine Bestätigung dessen , was Stallybrass und White über »the top and the bottom« im bürgerlichen Wertehaushalt festgehalten haben. Unweit der »Opera Toilet« befinden sich zwei Souvenirgeschäfte , die ihre Billigware in improvisiert wirkenden Ladenlokalen anbieten. In den Auslagen 50 Eintrag vom 10. August 2010 auf : http://www.newsgrape.com/A/brauchst-substidie-opernpassage ( 11. 4. 2012 ). Hier und bei den folgenden Zitaten wurde die Interpunktion beibehalten. 51 Ebd. 52 Haider ( 2007 ): Unten durch , S. 41.

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lässt sich das kulturelle Imaginäre der Stadt Wien gewissermaßen en miniature studieren : Handmodelle architektonischer Sehenswürdigkeiten von der Staatsoper bis zum Stephansdom , kleine Klimt-Plastiken fürs Wohnzimmerregal , Aschenbecher mit Stadtmotiven , Schlüsselanhänger der Fußballvereine Vienna und Austria , Wien-Sparschweine und Porzellanglöckchen mit österreichischem Wappen , alpine Kuhfiguren , Puppen der Firma »Austria Doll«, Schneekugeln mit Prater und Riesenrad , Souvenirlöffel , Basecaps und Tücher , Trachtenpuppen mit edelweißbesticktem Dirndl , Sissi-Schatullen , Flaschen mit »Sissi-Vermouth« und Postkartensets. Eine zentrale Rolle im Souvenirangebot nehmen musikalische Motive ein : Da gibt es zerbrechliche Mozartfigurinen , Tassen mit Notenschlüssel , weiße Musikerbüsten von Beethoven , Mozart und Strauß , Spielzeugviolinen und -klaviere , »Eau de Toilette Johann Strauß« im Geigen­ flakon sowie die unvermeidlichen Mozartkugeln , Mozarttaler und Mozarttafeln samt Mozart- und Nannerl-Liqueur. Dazwischen aber auch preiswerte Lederund Kunstlederwaren , russische Matroschkas , allerhand Ritter-Nippes bis hin zu einer lebensgroßen Rüstung , folkloristische Steinguthumpen und Miniaturservice. In Schaukästen wirbt ein Händler für Sammlerware : Briefmarken , Münzen und Orden ; in einer kleinen Tabak-Trafik finden sich weitere Ansichtskarten in ausklappbaren Sets. Zwei asiatische Imbissläden sowie zwei ­Bäckereien bilden das eher schmale kulinarische Angebot im Bereich des Rondells.53 Die Opernpassage zeigt die oberirdische Wiener Innenstadt wie in einem Hohlspiegel : die architektonischen Sehenswürdigkeiten werden hier ebenso wie die Heroen der Musikgeschichte miniaturisiert und in dekorative Accessoires überführt. Die Staatsoper erscheint als Setzkastenmodell , der Dom schwimmt in der Plastikschneekugel , Mozart gibt es als Liqueur und Johann Strauß als Damenduft aus der Großdrogerie. Wenn die Intention von Kitschprodukten darin besteht , »Elemente der Kunst in Gebrauchs- oder sogar Dekorationsgegenstände des täglichen Lebens zu überführen«54 , dann ist die Opernpassage eine veritable Galerie des touristisch zugerichteten Kitsches. Hochkulturelle Formen werden hier »verzerrt , verniedlicht , banalisiert«, aber »die Künstlichkeit der Imitation bleibt vollkommen offensichtlich , und gleichzeitig muß hinter der banalen , billigen Kopie das Original immer kenntlich bleiben«.55 Die Operntoilette geht von hier aus noch einen Schritt weiter : der Kitsch kippt in »Trash«, die legitime Kultur der Staatsoper wird nicht mehr nur verniedlicht , sondern in ihrer kulturellen Logik umgekehrt. Das rotgoldene Operninterieur ist hier nur mehr in billigem d-c-fix an den Wänden aufgeklebt , die seidenbe53 Die Schilderung basiert auf eigenen Beobachtungen und Notizen , vor allem aus den Monaten September und Oktober 2011. 54 Roller ( 2002 ): Trash Couture , S. 222. 55 Ebd. , S. 222–223.

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spannten Logen werden vom hehren Ort des Kunstgenusses zum gewöhnlichen Ab-Ort. Dem entspricht der Eintrittspreis : Statt der 172 Euro für die Logen im 1. Rang bei »Tosca« kosten diese »Opernlogen« nur mehr 70 Cent. Gleichzeitig ist die ganze Passage ein uneindeutiger , transitorischer Ort – wie die oberirdische Opernkreuzung , die Peter Payer in einem neuen Essay als neuralgischen Punkt und »hochfrequente[ n ] Repräsentationsort für die ganze Stadt« charakterisiert hat.56 Ebenso uneindeutig ist der nahe gelegene Karlsplatz , von dem man eigentlich nicht einmal so genau weiß , wo er sich befindet.57 Über wie unter der Erde ist hier eine Stadtlandschaft entstanden , deren Signatur überaus komplex ist – gerade auch was die Sinneseindrücke angeht , die dieser Ort vermittelt : Ein interdisziplinäres Forscherteam hat im Rahmen einer »urbanen Haptik- und Geruchsforschung« auch die Geruchsspezifik der Opernpassage untersucht. Dabei wurde mittels gaschromatografischer Methoden festgestellt , dass deren Luft »weder als reine Innenluft , noch als reine Außenluft gesehen werden« kann , sondern »vielmehr als eine Mischung davon«, in der neben dem Duft von Backwaren , Schnellimbissangeboten und Kaffee vor allem Emissionen des Straßenverkehrs dominieren.58 Ein Kreuzungspunkt aus Innen und Außen , Oben und Unten also – in olfaktorischer Hinsicht wie in akustischer : »Man kann ihn hören , den Platz , im Zweikanalton : von oben die Straßengeräusche , herunten die U-Bahn und die Walzermusik der Operntoilette.«59 Doch bald soll alles anders werden. Derzeit – zu Jahresbeginn 2013 – wird diese liminale Zone im Stadtraum grundlegend renoviert ; die Opern- und Karlsplatzpassage soll zur »Kulturpassage« werden. Damit soll sie eine offizielle Imagekorrektur erfahren , die ihrer prominenten innerstädtischen Lage zwischen herausragenden Sehenswürdigkeiten der Stadt entspricht. Es bleibt abzuwarten , ob die anstehende Neustrukturierung etwas an der Verortung der Passage im kulturellen Souterrain der Stadt ändern wird.

Highbrow/Lowbrow: Spiegelungen, Inversionen, Synkretismen In der Gegenüberstellung von Staatsoper und Opernpassage spiegelt sich das bürgerliche Klassifikationsschema von »Oben« und »Unten«, das Peter Stallybrass und Allon White in seiner Funktion folgendermaßen bestimmt haben : »The bourgeois subject contineously defined and re-defined itself through the exclu56 Payer ( 2013 ): Die Wiener Opernkreuzung , S. 45. 57 Vgl. dazu das literarische Karlsplatzporträt von Schrefel ( 2012 ): Weder Nicht-Ort noch Umfeld. 58 Buchbauer u. a. ( 2011 ): Wiener Opernpassage. 59 Schrefel ( 2012 ): Weder Nicht-Ort noch Umfeld , S. 32.

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sion of what it marked out as ›low‹ – as dirty , repulsive , noisy , contaminating.«60 Damit ist auch die symbolische Ordnung des urbanen Raums benannt , über die Rolf Lindner in Anlehnung an Stallybrass und White schreibt : »So wie die Topographie der Stadt über eine Hierarchie verfügt  – mit Rathaus , Gericht und Kirche an der Spitze , Slum und Kloake als Abort – , so auch der bürgerliche Körper : mit dem ›Haupt‹ einerseits und den ›niederen Körperregionen‹, den ›lower parts‹ andererseits.«61 Das direkte Nebeneinander der nationalen Kulturinstitution Staatsoper und der unterirdischen Passage mit Operntoilette kann als ein exemplarischer Beleg für diese These verstanden werden : Der kurze Weg vom ehrwürdigen »Haus am Ring« über eine Rolltreppe hinunter in die Passage versinnbildlicht den Abstieg in die »lower parts« der Stadt , die Wahrnehmung des ausführlich zitierten unbekannten Bloggers auf »newsgrape.com« inszeniert diesen Abstieg als totale kulturelle Differenz und bedient damit das genannte bürgerliche Klassifikationsschema.62 Wenn also die Staatsoper ein klassischer Ort der geistigen Produktion ist und zusammen mit Rathaus , Gericht und Kirche das »Haupt der Stadt« bildet , dann steht ihr mit der Passage eine Unterwelt des schlechten Geschmacks , des Kitsches und der körperlichen Bedürfnisse  – von »Kipferln , Urin und Heroin«  – entgegen. Doch der intellektuelle Stoffwechsel in den Tempeln der Hochkultur konstituiert sich nach Stallybrass und White wesentlich über den Ausschluss der »schmutzigen« Körperlichkeit und deren Verdrängung ins Souterrain. Vor rund zehn Jahren ist ein Tübinger Sammelband erschienen , der gerade die Erforschung der »Unterwelten der Kultur« als kulturwissenschaftliches Programm ausgegeben hat ,63 und in der Tat könnte man – etwa mit Utz Jeggle – das räumliche Ensemble von Oper und Opernpassage psychoanalytisch interpretieren : die Oper als ungeheure Verdrängungs- und Sublimierungsleistung , die Passage als Speicher der »rohen Triebregungen«64. So gesehen hatte Gerhard Neuhold damals mit seiner Gestaltung der Urinale genau den Punkt getroffen : nämlich eine sexistische Männerfantasie , die in den Liebesduetten der Oper nur mehr in verfeinerter Form enthalten ist. Hier »unten« wurde explizit , was »oben« nur als in die Grenzen des comme il faut gezwungene und musikalisch veredelte Leidenschaft gezeigt werden konnte. Sicherlich ist Richard Strauss’ »Rosenkavalier« im Staatsopernrepertoire eines der wenigen Stücke , die diesen Konflikt tatsächlich austragen : Ist nicht der Baron Ochs von Lerchenau mit seinem »fetten lüsternen Gesicht , 60 61 62 63 64

Stallybrass /  W hite ( 1986 ): The Politics and Poetics , S. 191. Lindner ( 2004 ): Walks on the Wild Side , S. 21. Vgl. dazu auch die Überlegungen in Wietschorke ( 2013 ): Vergnügen , S. 57–58. Maase /  Warneken ( Hg. ) ( 2003 ): Unterwelten der Kultur. Vgl. Jeggle ( 2003 ): Inseln hinter dem Winde.

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halb Fuchs , halb Schwein«65 ein wahrer kultureller Grenzgänger zwischen oben und unten , zwischen Operntoilette und Opernball ? Im Übrigen ist diese wienerischste Oper von allen nicht der schlechteste Beleg dafür , dass das kulturelle Imaginäre der Stadt immer auch auf Konstruktionsleistungen aus der Außenperspektive basiert. Als gebürtiger Münchner aus der Bierbrauerfamilie Pschorr komponierte Strauss diese in Dresden uraufgeführte »Apotheose des Wienerischen«,66 und zwar Jahre bevor er als Direktor an die Wiener Hofoper ging. Das Stück ist durch und durch synkretistisch : eine kunstvolle Epochenspiegelung zwischen Rokoko und Fin de Siècle , ein Zwitterwesen aus derber volkstümlicher Komödie und feingeistigem Kabinettstück , musikalisch schwebend zwischen virtuoser historistischer Stilkopie , blühender Walzer­ seligkeit und schillernder moderner Harmonik. Zu den später berühmt gewordenen Walzerfolgen des zweiten und dritten Aktes war Strauss durch seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal , seinerseits gebürtiger Wiener , angeregt worden. Dieser empfahl ihm 1909 , in den »Rosenkavalier« einen Walzer einzufügen »mit dem Klang von Johann Strauß , delikatem Geschmack , Erinnerungen an die Vergnügungen , die der sprichwörtliche Wiener Charme bescheren kann , übergossen mit Sentimentalität , gewonnen aus Operetten , Nostalgie und Saccharin«67. Deutlicher kann kaum belegt werden , dass der unverwechselbare »Wiener Klang« eine bewusste erinnerungskulturelle bricolage aus vorhandenem musikalischem Material ist , das Authentische erweist sich hier – wie so oft – als hochartifizielles Kunstprodukt. Und doch ist die Materialbasis eben nicht beliebig : Jede Konstruktion des »Wienerischen« muss sich auf einen vorhandenen und abrufbaren Geschmack stützen können , der sie überhaupt als wienerisch erkennt , und das geeignete urbane Setting muss bereitstehen , um solche Narrative plausibel verankern zu können. In diesem Sinne hat es die an stadtspezifischen Stilbildungen interessierte Stadtforschung mit einem permanenten Wechselspiel aus Mythenbildungen und Materialisierungen zu tun – und der »Stadtcharakter« ist kein bloßes Klischee , sondern immer auch eine Assemblage im Sinne Bruno Latours : ein Netzwerk von »Artefakten , Dingen , Menschen , Zeichen , Normen , Organisationen , Texten und vielem mehr«68 , das wirkmächtig ist und erkennbare habituelle Muster generiert. Doch noch einmal zurück zum Wiener Walzer , der im Diskurs über die »Musikstadt Wien« immer wieder als Vermittlungsfigur par excellence gedeutet wird. Nach Karlheinz Roschitz zog der Walzer eine »Verbindungslinie« zwischen 65 So der Librettist Hugo von Hofmannsthal über seine Figur des Barons von Lerchenau , zit. nach Frink ( 1987 ): Animal Symbolism , S. 162. 66 Grasberger ( 1969 ): Richard Strauss , S. 181. 67 Zit. nach Roschitz ( 1995 ): Vom Mythos des Walzertanzens , S. 19. 68 Belliger /  Krieger ( 2006 ): Einführung , S.  15.

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volkstümlichem Vergnügen , bürgerlicher Unterhaltung und höfischem Amüsement ;69 er steht in besonderer Weise für das Ineinander von Hochkultur , leichter Muse und volksmusikalischen Formen , das als eine Signatur der Stadt Wien gilt. Folgt man diesem Narrativ , dann liegen Hoch- und Populärkultur in kaum einer anderen Stadt so nah beieinander wie hier , ablesbar an den Schnittmengen von Opern- und Konzertkultur auf der einen , Schrammel- , Wienerlied- und Tanzmusiktradition auf der anderen Seite.70 In keinem musikalischen Genre aber wurde das »Wiener Wesen« so sehr wiedergefunden wie im Walzer , der – so ein Reiseführertext aus dem Jahr 1913  – »dem fröhlichen Geist der Bewohner , ihrem ausgeprägten musikalischen Gefühl , der lieblichen Landschaft und dem goldenen Weine der Rebenhügel seine Geburt verdankt. Die heitere Sinnlichkeit , die durch eine alte Kultur geläuterte Empfindung der Wiener , [ … ] vielleicht auch die Empfänglichkeit für das Schöne , das in dem Wesen und der Musik fremder Völker lag , mit denen Wien in ständiger Berührung war , hat den subtilen Geschmack der Wiener für eine bestimmte Art melodiöser und leichter Musik begründet«.71 Von hier aus ist es kein Zufall , dass diese »Marseillaise der Herzen«72 – so der Musikkritiker Eduard Hanslick über den Wiener Walzer – so tief in die touristische Topografie der Stadt eingeschrieben ist. Denn nicht nur die »Opera Toilet« wartet mit einer süßlichen Walzerkulisse auf – im öffentlichen Raum des ersten Bezirks finden sich mehrere Stellen , an denen Besucherinnen und Besucher der Stadt im Dreivierteltakt beschallt werden. So erklingt auch vor dem Staatsopernmuseum im Hanuschhof und in den beiden Durchgängen des josephinischen Traktes der Hofburg an der Herrengasse »Wiener Musik«. Im Sommer werden dann auch ausgewählte Opernaufführungen aus der Staatsoper ins Freie übertragen – nicht zu vergessen die Opern- und Operettenfilme , die im Rahmen des populären »Sommerkinos« vor dem Wiener Rathaus gezeigt werden. Wenn also in Wien – wie der preußische Graf Wolkersdorf in Willi Forsts Operettenverfilmung »Wiener Blut« von 1942 sagt – buchstäblich »Musik aus jedem Mauerloch dringt«73 , dann ist das auch das Ergebnis eines sehr bewussten und gesteuerten Anknüpfens an das kulturelle Imaginäre der »Musikstadt Wien«. Der Johann Strauß-Walzer »An der schönen blauen Donau« ist vielleicht das zentrale Versatzstück dieses urbanen Narrativs. Er ist im Zuge der touristischen Imageproduktion74 zu einem »Superzeichen« für die Stadt Wien aufgestiegen , 69 Roschitz ( 1995 ): Vom Mythos des Walzertanzens , S. 18. 70 Vgl. Nußbaumer ( 2007 ): Musikstadt Wien. 71 Paul Busson , Wien , seine Sehenswürdigkeiten und Vergnügungen , Wien 1913 , hier zit. nach Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien , S. 146. 72 Zit. nach Roschitz ( 1995 ): Vom Mythos des Walzertanzens , S. 19. 73 Das Zitat nach Nußbaumer ( 2010 ): Lustvolles Drehen , S. 61. 74 Vgl. zur touristischen Konstruktion Wiens das kompakte Kapitel bei Mattl ( 2000 ): Wien , S. 7–22.

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was sich gerade am Opernring gut nachvollziehen lässt , wo die »Schöne blaue Donau« sowohl oben beim Opernball in der Staatsoper als auch unten in der Operntoilette erklingt. Mit diesem Walzer hatte Johann Strauß »der Stadt Wien ihre unverwechselbare , weltweit identifizierte musikalische Signatur« geschaffen , »der das Heitere und Grazile ebenso eigentümlich ist wie die Schwermut und die Vorausahnung von Auflösung und Zerfall«.75 So und ähnlich ist auch die Musik Franz Schuberts und Gustav Mahlers – vielleicht der beiden »wienerischsten« Komponisten der Stadtgeschichte  – charakterisiert worden : als Ausdruck doppelbödiger Heiterkeit mit einer Farbpalette , die überschwängliche Begeisterung ebenso beinhaltet wie milde Resignation und grelle Verzweiflung. Auch im Werk dieser beiden Komponisten verbinden sich volksmusikalische Motive mit avancierter Kunstmusik : Oben und Unten spiegeln einander , bedingen einander , sind auf alle Fälle durch ein geheimes Band miteinander verbunden. Vielleicht ist auch das Ensemble von Kunsttempel und Musikurinal am Opernring damit einer der wienerischsten Orte der Stadt , in der – um noch einmal Lutz Musners These aufzunehmen  – »das Andere , das Verborgene und das Gegenläufige integrale Bestandteile der Repräsentation und Imagination« sind ? Auch das touristische Spiegelbild der großen Wiener Musiktradition – der in den Souvenirshops der Opernpassage angebotene musikalische Nippes : Mozart auf Gläsern , Tassen , Tellern und Medaillons , Johann Strauss-Statuetten , Beethoven- und Schubertbüsten , Mozartkugeln , Mozarttaler und Mozarttafeln , kleine ModellMusikinstrumente , Pralinen in geigenförmigen Verpackungen , und all das eingereiht zwischen asiatischen Winkekatzen , Fake-Aquarien , »Austria«-Basecaps und bajuwarischen Bierhumpen – präsentiert in gewisser Weise eine popularisierte Dimension dessen , was eine Treppe höher mehr oder minder exklusiv für die Hautevolee veranstaltet wird. Wie dem auch sei : Eine ethnographisch-kulturanalytische Stadtforschung , die sich einer hochkulturellen Institution wie der Staatsoper zuwendet , hat sich gerade auch dem zuzuwenden , was die Oper nicht ist und damit das Netz aus Positionen , Relationen und Differenzen zu berücksichtigen , in dem sich das hierarchische System von »Highbrow« und »Low­ brow« überhaupt erst konstituiert.76 Während der Gegensatz von Staatsoper und Volksoper den Gegensatz von »Oben« und »Unten« im Sinne einer innerbürgerlichen Differenzierung des Geschmacks sozialräumlich reflektiert , zeigt die Opernpassage ein Abbild der Musikstadt »en miniature«. Freilich sind die Begriffe von »Oben« und »Unten« als analytische Konzepte im Grunde genommen denkbar ungeeignet : zu vielschichtig und changierend sind ihre Bedeutungen. Im Sinne von Stallybrass und White aber konvergieren diese Bedeutungen in einem Bündel symbolischer Zuschreibungen und Asso75 Maderthaner ( 2006 ): Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945 , S. 207. 76 Vgl. dazu Levine ( 1988 ): Highbrow /  L owbrow.

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ziationen : Das soziale , das kulturelle und das räumliche »Unten« treffen sich dort , wo sie die Imagination einer »anderen Seite der Stadt« freisetzen. Festzuhalten bleibt , dass in Wien wie in anderen europäischen Metropolen Innen und Außen , Oben und Unten mit all ihren kulturellen Bezügen und Spannungen ineinander verschränkt sind : Ringstraße und Gürtel , Gustav Mahler und Johann Schrammel , Hans Makart und Josefine Mutzenbacher gehören zusammen. Um die Wiener Staatsoper als urbanen Ort besser zu verstehen , lohnen sich also die Fahrt ins Draußen und der Abstieg ins Souterrain allemal.

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»… ERLEBNISMÄSSIGEN ZUSAMMENHANG MIT DEM VOLKE« VOLKSKUNDE IN DER LAUDONGASSE ZWISCHEN ELITE UND VOLKSBEWEGUNG

Einleitung Das heutige Österreichische Museum für Volkskunde , 1895 vom Verein für Volkskunde in Wien gegründet , ist seit 1917 in einem barocken Palais im 8. Wiener Gemeindebezirk – einem traditionell bürgerlichen Bezirk – beheimatet. Das Museum hatte als Zentrum heimatlich-volkskundlicher Wissenschafts- und Laientätigkeit eine Schlüsselstellung gerade in jener Zeit inne , in der das politisch-ideologische Potenzial des Faches so offenkundig wurde. Um so mehr erstaunt , dass für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren großen politischen Umbrüchen für dieses Haus in der Laudongasse bislang wenige Arbeiten aus fachgeschichtlicher Perspektive der Volkskunde /  Europäischen Ethnologie vorliegen. Zwar behandeln Beiträge volkskundlicher Autorinnen und Autoren wie etwa die 1960 erschienene Museumsgeschichte des langjährigen Direktors Leopold Schmidt die Zeit vor 1945 ,1 allerdings bleiben in diesen Arbeiten die ideologische Ausrichtung des Museums im Nationalsozialismus oder auch im »Ständestaat«, das Zusammenspiel der volkskundlichen Akteurinnen und Akteure mit den staatlichen Behörden oder auch die Wechselbeziehungen mit der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbehandelt. Dieses Desiderat ist insofern bemerkenswert , als das damalige Museum für Volkskunde schon im Austrofaschismus eine spürbare Aufmerksamkeitssteigerung hinsichtlich inhaltlicher und ökonomischer Möglichkeiten erfuhr ; auch sind hier erstmals jene Vertreterinnen und Vertreter des Faches gegenwärtig , die nach 1938 und auch nach 1945 die Volkskunde in Wien und Österreich wesentlich beeinflussten.2 Im vorliegenden Beitrag unternehmen wir den Versuch , uns dieser bisher vernachlässigten Zeit in der Fach- und Museumsgeschichte über zwei Beispiele 1 2

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Schmidt ( 1960 ): Das Österreichische Museum für Volkskunde. Aktuell wird die Geschichte des Museums für die Jahre 1930–1950 im Rahmen eines vom Austrian Science Fund / FWF geförderten Projektes bearbeitet ( P21442 ). Der vorliegende Beitrag ist Teilergebnis dieser Forschungen. Mit der Geschichte des Wiener Vereins für Volkskunde hat sich Herbert Nikitsch ausführlich befasst. Entstehung und Programmatik des Vereins werden in seiner Arbeit als Spiegel der österreichischen Volkskunde und deren staatspolitischen Voraussetzungen analysiert. Nikitsch ( 2006 ): Auf der Bühne früher Wissenschaft.

›volkskundlich-pflegerischer‹ Art in der Ära des »Ständestaates« zu nähern : über Volkstanz und Tracht , die sich gerade in der Großstadt Wien einer besonderen Aufmerksamkeit erfreuten. Beide sind in der Umbruchs- und Aufbruchsphase des neuen politischen Systems zu verorten. Wir fokussieren die Jahre 1934 und 1935 , um die volkskundlichen Zirkel in Wien , die im Museum in der Laudongasse ihren zentralen Treffpunkt fanden , zu befragen und zu kontextualisieren. Die von uns herangezogenen Archivquellen des Österreichischen Museums für Volkskunde zeigen in den zu behandelnden Jahren eine bemerkenswerte hohe Dichte an Materialien. Diese weisen bestimmte Akteure und Akteurinnen , Gruppierungen , aber auch Themen und Praxisfelder aus , die sich in diesen Jahren häufen. Im Folgenden werden wir anhand zweier solche Kumulationen beziehungsweise deren Niederschlag in den Archivbeständen versuchen , neue Schlaglichter auf den Umgang mit und auf die Gestaltung und Umsetzung von volkskulturellen Bestrebungen und Phänomenen in der Großstadt Wien zu werfen. Zur Darstellung wählen wir zwei Herangehensweisen : Anhand des Volkstanztreffens 1934 in Wien gehen wir den Weg von außen nach innen. Dies bedeutet , dass zunächst die äußeren ( politischen , sozialen ) Umstände beleuchtet werden , um dann die am und um das Museum entwickelten Strategien zur Positionierung von Volkskultur – in diesem Fall Volkstanz – im Austrofaschismus zu untersuchen. Anhand der 1935 in den Räumlichkeiten des Museums eingerichteten Trachtenberatungsstelle nehmen wir sodann den umgekehrten Weg. Von der konkreten Implementierung der Beratungsstelle am Haus öffnen wir den Blick auf die ideologische Einpassung von Volkskultur  – in diesem Fall von Tracht – in die Ziele von Regime und Eliten. Die ausgewählten Beispiele sollen zeigen , wie das Museum respektive dessen Akteure und Akteurinnen , die Netzwerke , Ideen und Ideologien zusammenspielen , um nationale und internationale , wirtschaftliche und kulturelle Interessen zu vereinen und in Stellung zu bringen. Mit der Darstellung dieser beiden volkskulturellen Angebote mit jeweils auffällig großem Wirkungskreis wollen wir auch nach den unmittelbaren Auswirkungen und Veränderungen für das Museum selbst beziehungsweise nach der Rezeption in der Öffentlichkeit fragen , die diese Unternehmungen mit sich brachten. Die Akteurinnen und Akteure dieser beiden hier skizzierten Popularisierungs- und auch Profilierungsprojekte repräsentieren gleichzeitig zu einem beachtlichen Teil das Fach Volkskunde jener Jahre. Sie verstehen sich zum einen elitär als akademischwissenschaftliche Instanz , die über Kitsch und Original entscheidet  – ein volkskundliches Universitätsinstitut gab es in Wien ab 1939 mit dem damaligen Leiter Richard Wolfram – , und sie sind gleichzeitig bemüht , ›Heimat und Volkstum‹ in breitere , auch urbane Bevölkerungsschichten zu tragen. Als wichtigen Impuls sowohl für das Volkstanztreffen als auch für die Trachtenberatungsstelle sehen wir ein für Verein und Museum für Volkskunde entschei-

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dendes Ereignis im Jahr 1934 : Aufgrund des politischen Umbaus durch das neue Regime standen auch die zahlreichen Arbeitertrachtenvereine vor ihrer Auflösung. Der damalige Museumsdirektor Arthur Haberlandt , der bekannte Wiener Volksliedforscher Raimund Zoder sowie der Volkskundler und Direktor des Grazer Volkskundemuseums Viktor Geramb waren sofort zur Stelle und ermöglichten durch eine rasche Eingabe an den Wiener Bürgermeister und mit Unterstützung des mächtigen Wiener Volksbildungsreferenten Karl Lugmayer die Angliederung der »obdachlosen Arbeitertrachtler«3 im Frühjahr 1934 an die Österreichische Heimatgesellschaft.4 Dieser am Wiener Volkskundemuseum beheimatete Verein unter der Leitung von Robert Mucnjak , dem Restaurator des Museums , wurde im Zuge dieser Verhandlungen zur Dachorganisation aller Arbeitertrachten- und Arbeitervolkstanzvereine. Dadurch fungierte die Österreichische Heimatgesellschaft als Zentrale sowie Sprachrohr der nun zusammengeführten Vereine und Verbände und wurde dem neu gegründeten Wiener Bildungswerk , das im austrofaschistischen Ständestaat nun allein für die Volksbildung zuständig war , angegliedert. Dies stärkte die Ö. H. G. zusätzlich in ihrer offiziösen Bedeutung. Für das Volkskundemuseum in der Großstadt Wien bedeutete der beträchtliche Zuwachs an Mitgliedern durch die trachtentragenden Gruppen einen regelrechten Glücksfall und bescherte dem Haus spürbaren Auftrieb. Michael Haberlandt , Museumsgründer und zu jener Zeit Vereinspräsident , kommentierte diese Eingliederung mit Genugtuung als »unmittelbare bedeutsame Folge der Ereignisse des Jahres 1934«5 , die »dem Museum einen Interessentenkreis von nahezu 3000 für unsere Volkssache warmherzig eingenommene[ n ] Personen zugebracht«6 habe. Die Stärkung des Museums in der Laudongasse durch die neuen Interessentenkreise und das Wechselspiel zwischen formellen und informellen Organisationen und Vereinigungen rund um das Museum , um Heimatpflege und Volksbildung , sind Bedingungen für am Haus angesiedelte Volkstanztreffen.

Das Volkstanztreffen in Wien (Magdalena Puchberger) Vom 8. bis 11. Juni 1934 fand in Wien ein Internationales Volkstanztreffen im Rahmen der zum achten Mal veranstalteten Wiener Festwochen statt. Feder3

Lugmayr ( 1934 ): Umbau und Aufbau der Arbeitertrachtler , S. 1. Im Folgenden wird die Österreichische Heimatgesellschaft auch als Ö. H. G. angegeben ( Selbstbezeichnung ). 4 Vgl. Puchberger ( 2012 ): Urbane Heimatkultur. 5 Haberlandt ( 1935 ): Jahresbericht des Vereines und Museums für Volkskunde 1934. In : Wiener Zeitschrift für Volkskunde , 41 , S. 25. 6 Ebd.

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führend an der Planung und Durchführung des Treffens , das als Wettbewerb nationaler Volkstanzgruppen konzipiert war und von Trachtenumzügen und großen Volkstanzfesten für die breite Wiener Bevölkerung begleitet wurde , waren Personen , Verbände und Institutionen , die in engem Zusammenhang mit der Volkskunde am Museum in der Laudongasse standen. Im Folgenden soll anhand dieses Treffens eine zeitgenössische Einbettung der Geschehnisse , der ideologischen Konzeption und ihrer Ausführung vorgenommen werden , um das Wirken und die Bedeutung des Faches in jener Zeit nachvollziehen zu können. Dabei sollen Aspekte beleuchtet werden , die jene Personen , Bewegungen und Ideenwelten miteinander verbanden , die Volkstanz zu einem gesellschaftlich , politisch und kulturell so weit anerkannten Phänomen machten , dass es 1934 – zu Beginn der austrofaschistischen Diktatur – zu einem Internationalen Volkstanztreffen kam. Das Volkstanztreffen stand einerseits im Rahmen eines größeren Tanzwettbewerbes bei den Festwochen , der Preise für »Modernen Tanz« und Ausdruckstanz vergab , andererseits war das Treffen durch spezielle Ankündigung und eigene Veranstaltungsorte abgehoben. Der Volkstanz war somit Teil und Besonderheit der Wiener Tanzkultur.

Terror und Tanz: Wien 1934 Im Juni 1934 hielt der Terror die Wiener Bevölkerung in Atem. Die Tagespresse berichtete von zahlreichen Sprengstoff- und Böllerattentaten der seit der Errichtung des austrofaschistischen Regimes verbotenen österreichischen Nationalsozialisten. Christiane Rothländer weist darauf hin , dass bereits seit Sommer 1933 die »terroristische Bedrohung zur täglichen Erfahrung«7 geworden war. Die dahinter stehende Strategie beschreibt die Historikerin folgendermaßen : Auch Hitler erhoffte sich davon ›ein rasches Zusammenbrechen der Abwehrfront der österreichischen Regierung‹. Gleichzeitig stellten die permanenten Anschläge ein effektives Propagandamittel dar , womit die von der Regierung in ihrer Bewegungsfreiheit inzwischen völlig eingeschränkte Partei sich den öffentlichen Raum wieder aneignete. Indem die TerroristInnen das gesamte Bundesgebiet in den Ausnahmezustand versetzten , verschafften sie sich mit dieser »extremsten Form der Propaganda« eine ständige Präsenz in der Öffentlichkeit , die enorme mediale Aufmerksamkeit auf sich zog und die Hilflosigkeit der Regierung zeigt.8

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Rothländer ( 2012 ): Die Anfänge der Wiener SS , S. 378. Ebd. , S. 377.

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Unter diesem massiven Druck versuchte sich das österreichische Regime zu wehren und Zeichen der Stärke zu setzen , etwa wenn in den großen Tageszeitungen verkündet wurde , dass jetzt »Schluß« sei , und die Errichtung von Standgerichten und Ortswehren sowie Ergreiferprämien bis zu 10. 000 Schilling in Aussicht gestellt wurden.9 Der Terror beeinträchtigte auch den in dieser Zeit in Österreich besonders hoch geschätzten weil wirtschaftsträchtigen Fremdenverkehr , der beispielsweise durch Sprengungen von Bahnstrecken betroffen war. In diesem Zusammenhang berichtete das Tagblatt vom 8. Juni 1934 von der Reichsverbandsversammlung der Gastwirte in Graz , die nach ihrer Eingliederung in die Vaterländische Front von dieser ein entschlossenes Vorgehen forderte. Besonders dramatisch waren die Einbußen aufgrund der sogenannten 1. 000-Mark-Sperre , die vom nationalsozialistischen Deutschland verhängt worden war und die den Tourismus in den Alpenländern beträchtlich schwächte. Gäste aus anderen Ländern , bei denen sich »die österreichische Fremdenverkehrspropaganda als erfolgreich erwiesen hat«10 , sollten diesen Ausfall decken. Hauptbestandteil der österreichisch-vaterländischen Fremdenverkehrspropaganda für Wien war die Positionierung der Stadt als Kunst- , Kultur- und Tanzstadt , wie sie auch durch die Wiener Festwochen repräsentiert werden sollte. Die Festwochen standen von Anbeginn unter wirtschaftlichen Prämissen , wurden sie doch von der Fremdenverkehrskommission für Wien und Niederösterreich ( Messe AG ) organisiert und aus Mitteln der Fremdenzimmerabgabe finanziert. Mit Vertretern von Banken und Kammern bildete die Kommission ab 1931 den Verein »Wiener Festausschuß«11. Die Neue Freie Presse vom 9. Juni 1934 folgte der Diktion des Festausschusses , der seit 1934 die Organisation alleine übernahm , indem sie mitteilte , dass sich in diesen Tagen »alle Stände zusammengetan« hätten , um »die alte und sich doch immer wieder erneuernde Kultur dieser Stadt , ihre unerschöpfliche Fülle an Schönem und Interessantem«12 in einem variantenreichen Programm zu zeigen. Die Bedeutung der Musik und des Tanzes für Wien wurde dabei besonders herausgestrichen : Wien , das stets im Rhythmus des Tanzes an der Spitze der Welt marschierte , beginnt die großen Veranstaltungen im Freien also mit Tanz. Weltliche und religiöse Tänze , in Trachten und in Phantasiekostümen werden im Konzerthaussaal , im Musikvereinssaal , in Scala , Ronacher , Urania und vielen anderen Sälen geboten werden.13 9 Wiener Zeitung , 11. Juni 1934 , S. 1. 10 Tagblatt , 8. Juni 1934 , S. 6. 11 Vgl. Mattl ( 1996 ): Der kulturpolitische Kontext der Ersten Republik , S. 18 f. 12 Neue Freie Presse , 9. Juni 1934 , S. 7. 13 Ebd.

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Die Veranstalter zeigten sich ebenso wie die heimische Presse davon überzeugt , dass »Wiens Festwochen 1934 erneut den Beweis erbringen , daß Wien mit seiner jahrhundertealten Festkultur Gästen aus allen Ländern der Welt Wertvolles zu bieten vermag«14 und dass »Bereicherungen« wie der Tanzwettbewerb oder das Volkstanztreffen zum Erfolg beitragen würden. Die zeitgenössische , vom Regime geförderte »Tanzlust« der Wiener Bevölkerung wurde auch von den Vertreterinnen und Vertretern von Volkskunde , Volksbildung oder Heimatpflege aufgegriffen. Sie stellten bereits seit den 1920er-Jahren der Wiener Bevölkerung neue beziehungsweise alte , aber neu aufbereitete Volkstänze durch Sammlung und Edierung zur Verfügung , gestalteten sie um und hinterlegten sie mit wissenschaftlich oder populär ausgerichteten Erkenntnissen. Walzer und Volkstanz wurden ideologisch in die Kulturpolitik des »Ständestaates« eingepasst , die auf ästhetisierende , harmonisierende und affektive Elemente setzte. Als Beispiel sei hier Leopold Schmidts Wiener Volkskunde genannt , die er in den Jahren 1934 und 1935 schrieb und die die Tänze der Großstadt mit den ländlichen Tänzen in Verbindung setzte. Der spätere Direktor des Volkskundemuseums und womöglich maßgeblichste Volkskundler der österreichischen Nachkriegszeit sah in seiner Habilitation15 im Walzer den »Geist der Stadt« und den »Charakter der Bevölkerung« symbolisiert. Wichtig war ihm dabei die postulierte Verschränkung zu den »Deutschen Tänzen« und zum Landler.16

Volkstanz: Forschung – Politik – Vergnügen Wie der spätere Museumsdirektor Leopold Schmidt wurden viele der jungen Volkskundeinteressierten in den städtischen Bünden der Jugendbewegung sozialisiert. Diese forderten eine Neuausrichtung von Gesellschaft und kulturpolitischen Organisationen und stellten auffallend viele Vordenker einer spezifisch urbanen volkskulturellen Erneuerungsbewegung der Zwischenkriegszeit. Deren Erfahrungen und Bestrebungen zielten auf Gemeinschaftserlebnisse , die für sie in besonders stimmiger Weise in den Volkstänzen möglich waren. Die diesen Tänzen zugeschriebene »ursprüngliche Lebendigkeit und Natürlichkeit« hätten sie zu wahrhaften »Tänzen der Jugend« gemacht : »Ihr springlebendiges Wesen , ihr gefälliger Formenreichtum , ihre liebliche , sinnige Anmut sind gesunder Jugend förmlich auf den Leib geschrieben.«17 14 15 16 17

Reichspost 8. Juni 1934 , S. 8. Bockhorn u. a. ( 2012 ): Habilitationen von Leopold Schmidt. Vgl. Schmidt ( 1940 ): Wiener Volkskunde , S. 82. Vogl ( 1936 ): Unser Volkstanz , S. 26.

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Diese junge akademische , völkisch orientierte Elite trug zur Popularisierung von Volkstänzen und Volkskultur über die eigenen Kreise hinaus bei und wirkte nachhaltig in das allgemeine städtische Wiener Tanzverhalten ein. In vielen traditionsbewussten bis völkisch ausgerichteten Vereinigungen wurden Volkstanzkurse abgehalten und »Volkstanzkränzchen« veranstaltet , etwa in den Ortsgruppen des Deutschen Schulvereins Südmark oder der Deutschen Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur. Stil- und geschmacksbildend war der legendäre »Urania-Volkstanzkreis«, dessen Mentor Raimund Zoder eine ganze Generation an Volkslied- und Volkstanzforscherinnen und -forschern prägte sowie Volkskundlerinnen und Volkskundler in Heimat- und Volkstumsbelange einführte. Franz Vogl , der Volkskundebeauftragte der Wiener Ortsgruppe »Fichtegemeinschaft« des Deutschen Schulvereins , fasste 1936 die Intentionen der Volkstanzbewegung zusammen , die durch die »volksbildende Kraft des Volkstanzes« die Weiterentwicklung und Stärkung des österreichischen ( und auch deutschen ) Volkes vorantreiben sollte : Im Volkstanz nimmt die besondere Art eines Volkes bestimmte Form und Gestalt an und verbindet so die zu einem Volk gehörigen Menschen. [ … ] Im echten Volkstanz aber lebt echtes Volksempfinden , in ihm prägt sich die Eigenart eines Volkes aus , in ihm schwingt unser Wesen mit , wir erleben es in ihm und bringen es mit ihm zum Ausdruck. So verbindet er zur Gemeinschaft.18

Die Vertreter der Jugendbünde setzten sich für systematische Sammlung , Erforschung und Anwendung von Volkslied , Volkstanz oder Volksschauspiel ein und begaben sich vielfach auf Forschungs- und Sammlungsfahrten ins In- und Ausland. Viele von ihnen fanden so zur wissenschaftlichen Volkskunde , wie sie im Umfeld des Museums für Volkskunde betrieben wurde. Für sie stand die Gestaltung der eigenen Gegenwart im Vordergrund – über die Deutungs- und Handlungsanweisungen , die sie den Forschungsergebnissen entnahmen und zu konkret anwendbaren Brauchtums- , Volksspiel- oder Volkstanzanweisungen umgestalteten , kreierten sie großstädtische Unterhaltungsformate für ein breites Publikum. Die Ziele und Intentionen beschrieb Leopold Schmidt 1936 in seinem programmatischen Beitrag Heimatkunde und Heimatpflege in der von ihm zu diesem Zeitpunkt redigierten Zeitschrift Heimatland : Beim Volkstanz [ … ] stand die Aufzeichnung und die Pflege stets in engstem Zusammenhang , sodaß neu aufgezeichnete Tänze oft schon nach wenigen Monaten von vielen Tanzgruppen getanzt werden konnten. Das Wissen um Volkstum und Heimat bildet so die unentbehrliche Brücke zu jener praktischen Verwertung. Dies 18 Ebd. , S. 26.

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ist um so notwendiger , als gerade hier ein Feingefühl und eine Eingelebtheit in das volksmäßige Denken notwendig ist , welches zur unaufdringlichen Kulturpflege von Anbeginn dazu gehört.19

Die von Schmidt so bezeichnete »unaufdringliche Kulturpflege« fand in der austrofaschistischen ( Kultur- )Politik eine andere Ausrichtung. Diese stützte sich maßgeblich auf die Netzwerke und bisherigen Errungenschaften der gut organisierten und geschulten Bünde und sah in ihr Möglichkeiten zur ideologischen Einflussnahme , die eine engere Bindung von Volk und Funktionären an das Regime intendierte. Der Leiter des V. F.-Werks »Neues Leben«, der Freizeitorganisation der Einheitspartei Vaterländische Front , Rudolf Henz , erklärte die Bedeutung der Kulturpolitik zur »Grundlage jeder großen Politik , die mehr sein will als ›Politik‹ im Parteiensinn«, nämlich »wirkliche Gestaltung und Lenkung des Volkes und des Staates«20. Er sah die Aufgabe der Freizeit­organisation darin , »die reiche in Österreich bisher geleistete Volksbildungs- und Volkstumsarbeit zusammenzufassen , zu erweitern und zu vertiefen , allen zugänglich zu machen und so dem Aufbau einer neuen Volkskultur zu dienen«21. Somit erkannte auch die austrofaschistische Kulturpolitik , die auf eine Lenkung des Freizeitverhaltens zielte , die Bedeutung der physischen und emo­ tionalen Teilhabe. Gefühle und Erlebnisse im Namen von Volkstum und Heimat sollten dabei gerade in der Großstadt Wien Aufmerksamkeit unter den mannigfaltigen Kulturangeboten erregen und dabei helfen , eine neue urbane Heimatkultur zu etablieren.22 Die von Raimund Zoder in den 1920er- und 1930er-Jahren initiierte und von seinen Schülern fortgeführte Wiener Schule der Volkstanzforschung beinhaltete nicht nur die Aufzeichnung der Tänze , sondern setzte auch eine stete Tanzpraxis in Volkstanzkursen voraus , die »die Richtigkeit und Tauglichkeit«23 der Forschungen überprüfen sollte. Die Einbeziehung des Körpers in die Forschung und die ›Verifizierung‹ der Ergebnisse über Körpererfahrungen war in diesen Jahren elementarer Bestandteil der Volkskunde. Wie sehr sich Praxis und Theorie , Handlung und Forschung , wissenschaft­ liches und persönliches Interesse in den 1930er-Jahren vermischten und ineinander übergingen , zeigt auch das Beispiel des damals am Anfang seiner Karriere 19 Schmidt ( 1936 ): Heimatkunde und Heimatpflege , S. 25. Die Zeitschrift Heimatland war die Monatsschrift der Österreichischen Heimatgesellschaft und erreichte ab 1934 durch ihren Aufstieg zur Dachverbandszeitschrift eine ungleich höhere Reichweite als vor der Errichtung des Ständestaates. 20 Henz ( 1936 ): Neues Leben , S. 481. 21 Ebd. , S. 486. 22 Vgl. Puchberger ( 2012 ): Urbane Heimatkultur. 23 Schmidt ( 2002 ): Die Zoder-Schule , S. 176.

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stehenden Richard Wolfram. Wolfram , der 1938 in den relevanten Kreisen als »verlässlicher Nationalsozialist«24 eingestuft wurde und ab dem Wintersemester 1938 /  39 außerordentlicher Professor für germanisch-deutsche Volkskunde an der Universität Wien war , schrieb 1937 in der Germanisch-romanischen Monatsschrift : »Nur wer selbst tanzt , wird in die tieferen Fragen eindringen können.«25 Die persönliche Teilhabe als entscheidender Aspekt der volkskundlichen Erkenntniswege fand auch in den volkskundlichen Zirkeln rund um das Museum Beachtung und Anerkennung und begleitete Wolfram erfolgreich durch alle politischen Zäsuren bis in die Zweite Republik. In den 1930er-Jahren verbanden diese Zirkel die Bereiche wissenschaftliche Volkskunde , Heimatpflege und Volksbildung miteinander und sprachen unterschiedliche Teile der Wiener Bevölkerung mit entsprechenden Tanzangeboten an. Während sich die Vertreterinnen und Vertreter der Jugendbewegung an die akademische und bündische Jugend wandten , Kurse und Vorträge veranstalteten oder Vorbild geben wollende Veranstaltungen organisierten , wandte sich die am Museum für Volkskunde beheimatete Österreichische Heimatgesellschaft an Kleinbürgertum und Arbeiterschaft , die in besonderem Maße die Trägerschaft der zahllosen Wiener Traditions- , Volkstanz- und Trachtenvereine bildeten. Die Heimatgesellschaft organisierte in den 1930er-Jahren zweimal in der Woche öffentliche Volkstanzkurse : einen im populären Hernalser Gasthaus Stalehner , das auch für Veranstaltungen der NSDAP häufig genutzt wurde , und einen im Museum für Volkskunde , wo die Ö. H. G. ab 1933 ihren offiziellen Sitz hatte. Daneben widmete sich die Heimatgesellschaft auch zahllosen weiteren Trachten- und Volkstanzveranstaltungen in Wien , die sie mit ihrer Spielgruppe ebenso unterstützte wie diverse Aktivitäten ( Ausstellungen , Eröffnungen , Krippenspiele etc. ) des Museums beziehungsweise dessen Direktors Arthur Haberlandt. Die Heimatgesellschaft wurde nach dem Ende der Ersten Republik und mit der Umorganisierung des Systems zu einem besonderen Schauplatz der austrofaschistischen Volkskulturbestrebungen. Das ist daran abzulesen , dass sich die namhaften Größen der Volkskunde- und Volksbildungsszene Wiens in der neuen Leitung der Heimatgesellschaft wiederfanden. Diese teilte sich 1934 in einen administrativen und einen wissenschaftlichen Ausschuss. Ersterem stand Robert Mucjnak vor , der zweite war prominent besetzt durch Arthur Haberlandt , Viktor Geramb , den Vorstand des Österreichischen Verbandes für Heimatpflege Karl Giannoni und den Wiener Volksbildungsreferenten Karl Lugmayer.26 Damit ist der Blick auf den spezifischen Personenkreis gerichtet , der in der Laudongasse aktiv war. 24 Bockhorn ( 2010 ): »Die Angelegenheit Dr. Wolfram , Wien«, S. 219. 25 Schmidt ( 2002 ): Die Zoder-Schule , S. 181. 26 Mucnjak ( 1937 ): Rückschau und Ausblick , S. 50.

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Personen und Intentionen Alle genannten Personen waren an der Organisation und der Umsetzung des Internationalen Volkstanztreffens in Wien beteiligt. Sie waren dafür verantwortlich , diese Veranstaltung im Spannungsfeld zwischen internationalem und nationalem Anspruch , zwischen den Zielen und Vorgaben des Völkerbundes und der Darstellung des ›Wesens‹ des eigenen , deutschen Volkes zu positionieren. Ziel war es , Volkstanz und Volkskunst als Bindeglied zwischen diesen Interessen darzustellen und über die Inszenierung des ›Volkseigenen‹ vor großstädtischen Kulissen zu popularisieren. Den Ort für die Planung , Organisation und Durchführung des Volkstanztreffens bildete das Museum für Volkskunde in der Laudongasse , das Ausgangs- und Treffpunkt der Wiener und bundesweiter volkskundlicher Zirkel war. Sowohl in der wissenschaftlichinstitutionellen Ausrichtung als auch in der populären Vermittlung waren Personen federführend , die im Museum , aber auch in anderen institutionellen , organisatorischen und ideologischen Zusammenhängen aufeinandertrafen – allen voran der volkskundliche Multifunktionär und Direktor des Hauses sowie Generalsekretär des Vereins für Volkskunde Arthur Haberlandt , der auch Leiter der Österreichischen Volkskunst-Kommission sowie Jury-Präsident des Volkstanzwettbewerbs war. In dieser Jury saßen neben den Ausschussräten und Mitgliedern des Vereins für Volkskunde Karl Lugmayer , Georg Kotek und Raimund Zoder auch die Volksbildungsreferenten der Bundesländer und die Direktoren der kulturwissenschaftlichen Museen und Sammlungen. So gestalteten also wichtige Vertreter der Museen , der Wissenschaft , Heimatpflege , Volksbildung und Verwaltung des austrofaschistischen Ständestaates in diesen Gremien jenes publikumswirksame Bild Österreichs und Wiens mit , das Schönheit , Echtheit und Volkskultur in den Mittelpunkt rückte. Dieses konnte nach außen gewendet im Sinne des Völkerbundes und des Fremdenverkehrs interpretiert werden und nach innen gerichtet traditionell oder völkisch-kämpferisch. Auch ausgewiesene ›Praktiker‹ gehörten der Jury an , neben die genannten Vertreter der Volksliedforschung Zoder und Georg Kotek gesellten sich auch Richard Wolfram oder der Ausseer Volkskundler und Volksbildner Hans Gielge hinzu.

Das Volkstanztreffen in Wien: Kameradschaftlichkeit und Volkwerdung Im Archiv und in der Bibliothek des Österreichischen Museums für Volkskunde finden sich unterschiedliche Quellen , die Rückschlüsse auf Ideen und Zielsetzungen wie auf konkrete Ausgestaltung und Abläufe des Volkstanztreffens in Wien zulassen.

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Mit der deutschen Volkskunstkommission – so macht ein vorhandener Briefwechsel deutlich – war ursprünglich eine enge Kooperation in verschiedenen internationalen Volkstumsbereichen angestrebt worden , vor allem auch anlässlich der Volkskunstausstellung 1934 in Bern. Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund machte eine Zusammenarbeit jedoch unmöglich. Deutsche Volkstänze wurden deshalb beim Volkstanztreffen nur von österreichischen Gruppen präsentiert , was einerseits den Völkerbund als entscheidenden Geldgeber nicht vor den Kopf stieß und andererseits der Intention des austrofaschistischen Ständestaates entsprach. Wollte sich doch das Regime als mitteleuropäischer Kulturbringer beweisen , als das »bessere deutsche Volk«, das noch nicht durch Industrialisierung und Urbanisierung seiner volkstümlichen Wurzeln beraubt sei. Stephan Löscher , Mitglied der Deutschen Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur , vermeinte 1936 in der Zeitschrift Heimatland Vorteile Österreichs in dieser Hinsicht erkennen zu können : »In reichsdeutschen Zeitungen liest man heute vielfach , wie namentlich Volkslied und Volkstanz die Aufgabe haben , an der ›Volkwerdung‹ mitzuarbeiten. Wir haben es leichter : wir brauchen an vielen Orten nur dafür zu sorgen , daß wir Volk bleiben.«27 Die Mitteilungen für den Presseempfang zum Volkstanztreffen vom April 1934 zeugen vom Bemühen , die Seriosität des Wettbewerbs und das Expertentum der Jury zu betonen. Zum Wettbewerb zugelassen waren nur jene Gruppen , »die echte , dem Charakter ihres Landes wirklich entsprechende Tänze bringen wollen , nicht aber stilisierte oder ins Groteske verzerrte Volkstänze«28. Hervorgehoben wurde , dass bereits das »Vorbereitende Komitee , dem eine Reihe der hervorragendsten Fachleute auf dem Gebiete der Volkskunde angehörten , [ … ] durch Heranziehung der bedeutendsten Kenner des Volkstanzes aus aller Welt ergänzt«29 wurde. Ferner wurde festgestellt , dass das Volkstanztreffen ein »auf Kameradschaftlichkeit aufgebautes Treffen der Nationen« sei und bei der Auswahl der Gruppen »ein sehr rigoroser Maßstab angelegt«30 worden sei. Der Volkstanz wurde hier als Nationaltanz vorgestellt , der zu »den besten Gütern jedes Volkes als eine Verkörperung seiner Tradition und seines Wesens«31 gehört. Der Tanzwettbewerb stand unter dem Ehrenschutz des Bundespräsidenten , »wodurch die Ernsthaftigkeit und die künstlerische Bedeutung ge27 Löscher ( 1936 ): Volkslied und Rundfunk , S. 83. 28 ÖMV, Archiv , Karton ( Ktn. ) 20 / 1934 , Mappe Korrespondenz Institutionen /  Internationales Volks-Tanz-Treffen ( IVTT ). Presseempfang 19. 4. 1934. 29 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. Broschüre zu »Internationaler Tanz-Wettbewerb und Volks-Tanz-Treffen Wien 1934«, 27. 5.– 16. 6. 1934 , S. 9. 30 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe VTT. Presseempfang 19. 4. 1934. 31 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. N. N. Broschüre zu »Internationaler Tanz-Wettbewerb und Volks-Tanz-Treffen Wien 1934«, 27. 5.– 16. 6. 1934 , S. 4.

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währleistet erscheint«32. Neben der Internationalität der Jury wurde auch das Protektorat eines Komitees von hohen Diplomaten erwähnt und bekannt gegeben , dass – womöglich den legitimistischen Tendenzen des »Ständestaates« folgend – »Erzherzogin Ileana von Habsburg-Lothringen [ … ] sich an die Spitze eines Damenkomitees gestellt [ hatte ] , dessen Aufgabe der Empfang der Volkstänzer ist«33. Dieser Empfang fand am ersten Abend , also am 9. Juni , statt und bildete den Abschluss des Trachtenzuges , der von der Ö. H. G. organisiert worden war. Arthur Haberlandt skizzierte in deren Namen den Ablauf dieses Festzuges , auf dessen prominenter Route in der Innenstadt »der gesamte Fahrzeug- und Straßenbahnverkehr von dieser Strecke abgelenkt«34 wurde , wie folgt : Nach dem hiefür bisher festgesetzten Plan versammeln sich alle Verbände , die ausschliesslich nur in echten Volkstrachten zugelassen werden , mit Fahnen und Abzeichen ( keine Tafeln ) als Zuseher bei der Eröffnung der Wiener Festwochen , Samstag , den 9. Juni voraussichtlich 16 Uhr vor dem Wiener Rathaus , wo wie alljährlich eine Ballettaufführung gezeigt werden wird. Hierauf vereinigen sich die Verbände mit den ausländischen Volkstanzgruppen zu einem festlichen Zug vom Rathaus zum Schwarzenbergplatz , wo in den Räumen des Militär-Kasinos bis 21 Uhr 30 ein Begrüssungsabend – auch in ländlicher Kleidung mit zwanglosen [ sic ] Tanz  – stattfindet. Die Tanzfolge , die unter anderem Strohschneider , Ländler , Steirischen , Neubayrischen vorsieht , werden die einzelnen Gruppen in zwanglosen [ sic ] Nebeneinander zu tanzen in der Lage sein.35

An der Spitze des Festzuges marschierten die Funktionäre der österreichischen Gruppen in Trachten aus allen Bundesländern sowie die Begrüßungsgruppe der Ö. H. G. Ihnen folgten in Zweier- und Dreiergruppen abwechselnd in- und ausländische Teilnehmerinnen und Teilnehmer , den Abschluss bildete die »Jugendgruppe Dir. Zoder«.36 Bei dieser ist übrigens nicht auszu32 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. Broschüre zu »Internationaler Tanz-Wettbewerb und Volks-Tanz-Treffen Wien 1934«, 27. 5.– 16. 6. 1934 , S. 9. 33 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe IVTT. Presseempfang 19. 4. 1934. 34 Wiener Zeitung 9. Juni 1934 , S. 7. 35 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. Arthur Haberlandt /  Österreichische Heimatgesellschaft : Einladung zur Teilnahme am Internationalen Volkstanztreffen 1934 , 27. 4. 1934. 36 Vgl. ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe IVTT. Veranstaltungszettel : Interna­ tionales Volkstanztreffen Wien 1934. Der Ablauf gestaltete sich wie folgt : Indien , Bulgarien , Litauen , Burgenland , Steiermark , Dänemark , Schweden , Holland , Salzburg , Kärnten , Tirol und Vorarlberg , Polen , Rumänien , Österreichisch-Bayrische Trachtengruppe , Ukraine , Jugendgruppe Dir. Zoder.

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schließen , dass sich auch später führende volkskundliche Fachvertreterinnen und Fachvertreter darunter fanden. Anders als im Presseempfang angekündigt , wurden die Veranstaltungen des eigentlichen Volkstanztreffens nicht vor »einem möglichst grossen Publikum [ … ] auf dem Rathausplatz , Trabrennplatz , Schönbrunn usw.« dargeboten , sondern am 11. , 12. und 13. Juni an einem der größten und populärsten Wiener Veranstaltungsorte in Hietzing , in »Weigls Dreherpark«. Über den genauen Ablauf gibt es wenig Informationen , einer davon findet sich am 12. Juni in der Neuen Freien Presse in Form eines Veranstaltungshinweises : Heute Dienstag werden die Vorführungen der internationalen Volkstanzgruppen vor der Jury in Weigls Dreherpark fortgesetzt. Es werden die rumänschen [ sic ] Bojaren und die ungarische Tanzgruppe ›Der Perlenstrauß‹, die mit hundert Personen nach Wien kommt , sowie die schwedischen und dänischen Tanzgruppen ihr Volkstänze vorführen. Beginn 17 Uhr.37

Ein weiterer bedeutender Termin im Rahmen des Treffens war das große , offenbar sehr gut besuchte , im Begleitprogramm laufende »Volkstanzfest im Freien«, das von der Ortsgruppe »Germania« ( Perchtoldsdorf  ) des Deutschen Schulvereins Südmark veranstaltet wurde und sich als völkisch-heimatliche Großveranstaltung speziell an die Jugend wandte. Der bereits erwähnte Franz Vogl war für die Mobilisierung aller Ortsgruppen des Deutschen Schulvereins und anderer volkstumsorientierter (  Jugend-)Gruppen zuständig : Wir führen zur Zeit dieses grossen Tanztreffens heuer Sonntag , den 10. Juni l. J. von 3 Uhr nachmittags bis zum Einbruch der Dunkelheit in Perchtoldsdorf unser grosses Volkstanzfest im Freien durch , bei dem wir viele der auswärtigen Gruppen begrüssen werden können. Wir werden in der allernächsten Zeit die vorberatenden Besprechungen für dieses Fest abhalten. Für die gesamten Veranstaltungen des internationalen Tanzfestes sind wir an der Durchführung und Vorarbeit beteiligt und ersuchen alle , die sich für diese Veranstaltungen besonders interessieren und Begünstigungen hiefür in Anspruch nehmen wollen , sich ehestens bei uns zu melden.38

Bei diesem »Volkstanz im Freien« – ein übrigens in diesen Jahren in ganz Wien sehr beliebtes Tanzformat , so etwa auch im Türkenschanzpark 39 – geht es auch 37 Neue Freie Presse 12. Juni 1934 , S. 7. 38 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Museum , Ausstellungen , Besucher , Aktivitäten. Franz Vogl : Einladung Volkstanzfest im Freien. Ende April 1934. 39 Vgl. ÖMV, Archiv , Ktn. 17 / 1931 , Mappe Heimatschutz. »Fichtegemeinschaft« und »Jung-Wien«: Einladung zu Volkstanzabenden im Freien.

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um die Demonstration der Wiener und österreichischen Stärke in Volkstanzund Volkskunstbelangen. So ruft Vogl zu breiter Beteiligung auf , um bei »dieser grossen Heerschau« zu zeigen , »dass der Volkstanz in unseren Kreisen wirklich heimisch geworden ist«40. Das Zitat führt das kämpferische , für jugend- und volkstumsbewegte Kreise nicht seltene Vokabular in den Reihen der Volkstanzbegeisterten vor Augen. Auch wenn man dies als rhetorische Figur zur Mobilisierung werten könnte , muss es doch zugleich und vor allem als Hinweis gelten , dass Volkstanz in Wien 1934 von den völkischen Kreisen massiv als Mittel im ›Volkstumskampf‹ betrachtet wurde. Zwar waren das Programm des Volkstanztreffens , die offizielle Ausrichtung und das ›völkerverbindende‹ Vokabular ganz im Sinne des austrofaschistischen Ständestaates und zu dessen Stärkung gedacht , doch kann nicht übersehen werden , dass bereits viele Beteiligte mehr oder minder offen völkisch bis nationalsozialistisch orientiert waren. Wie sehr ständestaatliche und nationalsozialistische Volkstanz- und Jugendbewegungskultur ineinander übergehen , wie schwer sie teilweise zu unterscheiden sind , soll folgendes Zitat zeigen , das nach dem Volkstanztreffen anonym an Arthur Haberlandt geschickt wurde und letztlich wieder den Kreis zu den illegal agierenden Nationalsozialisten schließt : Es dürfte auch Ihnen aus der Tagespresse bekannt geworden sein , dass am 18. und 19. ds. in Wien eine sehr grosse Anzahl Verhaftungen auf den Strassen vorgenommen wurden und zwar durchwegs von Personen , die weisse Strümpfe trugen. So ist mir ein Fall bekannt , dass ein Mann mit Touristenhemd , Lederhose , weissen Original-Salzburgerstrümpfen ( Zopfmuster ) und Haferlschuhen bekleidet ebenfalls verhaftet und nach ergebnisloser Person- und Hausdurchsuchung wegen Tragens der vorbeschriebenen Strümpfe – was gleichbedeutend mit einer verbotenen politischen Tätigkeit ist – zu einer Arreststrafe verurteilt wurde ! Als Kuriosum erwähne ich , dass dieser unbescholtene Mensch – ein Intelligenzler – genau in derselben österreichischen Volkstracht am Volkstanzfest in Perchtoldsdorf anlässlich des Volkstanztreffens in Wien ( Festwochen 1934 ) teilnahm und in einer Bildzeitschrift als Mitwirkender ersichtlich ist , ohne dass diese Zeitschrift deswegen der Beschlagnahme verfiel. Es sind auf derselben Seite auch Aufnahmen Sr. Eminenz des Kardinal Innitzer und der Frau Bundesminister Fey ersichtlich. Also eine Polizeistrafe unter erschwerenden Umständen für Propagierung österreichischer Volkstracht !41

40 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. Franz Vogl : Bericht »Volkstumsarbeit«, Ende Mai 1934. 41 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. N. N. an Arthur Haberlandt wegen Verhaftungen Salzburgerstrümpfe-Tragender in Wien , 21. 7. 1934.

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Volkstanz und Tracht waren in den 1930er-Jahren zwei besonders stark aufgeladene und auch eng miteinander verbundene Elemente der propagierten Volkskultur und Volkskunst. Dass das obige Zitat an das Museum für Volkskunde gerichtet war , mag wohl an dessen offiziell bestätigter Kompetenz für nationalideologische Kleidungsfragen liegen. Für wie wichtig Kleidung als pädagogisches Medium zur Präsentation nationaler Gesinnung gehalten wurde , zeigt die Einrichtung einer eigenen Beratungsstelle in der Laudongasse.

Die Trachtenberatungsstelle im Wiener Museum für Volkskunde (Birgit Johler) Das Jahr 1934 war für das Museum für Volkskunde in mehrerlei Hinsicht ein positives , ja ein dynamisches Jahr : Nicht nur erweiterte die politisch motivierte Angliederung von Trachten- und Volkstanzvereinen an die Ö. H. G. den Kreis der volkskulturell Interessierten und Aktiven , nach Jahren des Rückgangs stiegen in der Zeit des »Ständestaates« auch erstmals wieder die Subventionen aus öffentlicher Hand. Dank dieser finanziellen Zuwendungen konnten längst fällige Reparaturen vorgenommen und auch der zuvor unterbrochene Museumsbetrieb wieder eingerichtet werden. Im selben Jahr sind auch erste Bemühungen für die Schaffung einer Beratungsstelle für alle Belange der Trachtenträgerinnen und -träger in der Laudongasse feststellbar. Sowohl Arthur Haberlandt als auch die Ö. H. G. mit Robert Mucnjak an ihrer Spitze waren Kräfte , die entschieden die Professionalisierung dieser neuen Einrichtung vorangetrieben haben. Dabei trafen zwei Interessen aufeinander , die sich durchaus ergänzten : So beabsichtigte die Heimatgesellschaft bereits im Oktober 1934 die Einrichtung eines »Werkhauses« respektive einer Verkaufsstelle »heimatlicher Volkskunst« in den Erdgeschossräumen der Laudongasse , um »bodenständige Erzeugnisse des heimischen Kleingewerbes in Stadt und Land , [ sic ] anzubieten und zu verkaufen«42. Auch reklamierte die Ö. H. G. eigene Räumlichkeiten für sich und ihre Mitglieder für Besprechungen oder das Abhalten von Volkstanzkursen ,43 da es , wie sie es formulierte , »nicht allein die Trachten [ zu ] pflegen« galt , »sondern zugleich alle übrigen echten Volksgüter : Lied , Tanz , Hausrat und andere [ … ]«.44 Dieser Wunsch nach mehr Platz und Raum verdeutlicht die Position , die die Ö. H. G. zu jener Zeit im Museum einnahm : Durch aktive Mitarbeit 42 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. Österreichische Heimatgesellschaft an Arthur Haberlandt , 8. 10. 1934. 43 Haberlandt ( 1935 ): Jahresbericht 1934 , S. 2. 44 Baumgartner ( 1934 ): Tracht und Leben , S. 3.

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an Sonderausstellungen und durch ihr pflegerisches Engagement im und für das Haus gestaltete sie wesentlich Inhalt und Richtung musealer Projekte mit und verfügte bereits auch in der interessierten Öffentlichkeit über viel beachtete Präsenz. Arthur Haberlandt unterstützte diese Bestrebungen der Ö. H. G. und beteiligte sich als Mitglied in dem eigens für diese Aktivitäten eingerichteten Beratungsausschuss.45 Als Leiter der wissenschaftlichen Institution konzentrierte er seine Energie darauf , das Museum als Beratungs- und Vermittlungsstelle für das Anfertigen von Trachten in einer – wie es im Jahresbericht des Volkskundevereins von 1934 heißt – dem »Zeitstil angemessenen Form« einzuführen.46 So traf sich Ende Jänner 1935 der Gesamtausschuss des Vereins für Volkskunde und diskutierte die Implementierung einer Geschäftsstelle aufgrund der steigenden Zahl an einschlägigen Beratungstätigkeiten. Diese Stelle könnte , so die Idee der Entscheidungsträger , auch die Ausgabe von »Prüfungsmarken unter Musterschutz« und »Begutachtung und Empfehlung«47 übernehmen. Auch wenn die Meinung der Anwesenden über die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung auseinandergingen und die Entscheidung vertagt wurde ,48 dürfte Arthur Haberlandt das Projekt mit Eifer weiterverfolgt haben. Bereits wenige Tage später , am 11. Februar , schrieb der Direktor an die Wiener Kaufmannschaft : Das Museum für Volkskunde hat in Zusammenarbeit mit dem Volksbildungs­ referenten für Niederösterreich und der Österr.[ eichischen ] Heimatgesellschaft als dem Hauptverband der Trachten und Volkskunde pflegenden Vereine im genannten Umkreis die Beobachtung gemacht , dass es an einer Vermittlung- und Begutachtungsstelle fehlt , die besonders in den Kreisen des ›kleinen Mannes‹ die von Monat zu Monat anschwellende Trachtenbewegung volkswirtschaftlich nutzbringend zu lenken vermöchte [ sic ] um den Abnehmern mit den Herstellern der alten Trachten im wirtschaftlichen Sinne richtig zusammenzuführen. Dem Museum selbst als einem wissenschaftlichen Institute steht es fern [ sic ] die geschäftlichen Voraussetzungen für den Vertrieb von Waren etwa sich selbst zu schaffen. Die Direktion des Museums für Volkskunde würde es aber sehr begrüßen [ sic ] wenn den vielen Nachfragen [ sic ] die just an das Museum und die im Haus befindlichen Ar45 Haberlandt ( 1935 ): Jahresbericht 1934 , S. 2. 46 Ebd. 47 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Sitzungsprotokolle. Verhandlungsschrift der Sitzung des Gesamtausschusses , 29. 1. 1935. 48 »Nicht gangbar scheint in Uebereinstimmung mit dem Präsidenten die Errichtung einer Geschäftsstelle. Im übrigen wird die Entwicklung der Dinge noch einigermaßen abzuwarten sein , bevor eine Entscheidung fällt.« ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Sitzungsprotokolle. Verhandlungsschrift der Sitzung des Gesamtausschusses , 29. 1. 1935.

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beitsstelle der Österr. Heimatgesellschaft einlaufen [ sic ] dadurch volkswirtschaftlich ausgewertet werden könnten , dass Nachfragenden in nächster Nähe eine Verkaufsstelle aufgetan wird.49

Das Vorhaben wurde tatsächlich umgesetzt , der Zeitpunkt , an welchem die »Trachtenberatungsstelle« konkret ihre Arbeit aufgenommen hat , lässt sich auf Grundlage der Quellen jedoch nur ungefähr rekonstruieren. Bereits im November 1934 waren der Firma August Miller Aichholz Druckmodel »zum Bedrucken von gut verkäuflichen Stoffen und Tischdecken«50 übergeben worden. Die ›Originalität‹ dieser Muster sollte – dies lag auch im Interesse des Geschäftsmannes Aichholz – mit »einer eigenen Marke des Museums«51 gekennzeichnet werden. Die Produktion von solchen Gütesiegeln dürfte sich allerdings verzögert haben , erst Anfang August 1935 konnte Robert Mucnjak seinem Direktor berichten , dass »die Marken«52 fertig und im Museum abgegeben worden seien. Höchste Zeit , denn mit dem Textilwarengeschäft L. J.  &  M. Handl im ersten Wiener Gemeindebezirk war bereits eine Vereinbarung getroffen worden , wonach der Verkauf mit vom Museum plombierten Seidentüchern per 1. August beginnen sollte.53 Vermehrte Anfragen von Personen , die Auskunft in Trachtenfragen erbaten , erreichten das Museum schon im Frühjahr beziehungsweise Sommer 1935. Im Herbst desselben Jahres langten erste Reaktionen auf eine Annonce in der österreichischen Illustrierten Die Deutsche Frau , in welcher die »Trachtenberatungsstelle« beworben wurde , an die Adresse des Museums ein.54 Auch das im Archiv des Museums erhalten gebliebene Geschäftsbuch der Trachtenberatungsstelle vermerkt die ersten vom Museum ausgegebenen plombierten Stücke ( vor allem Stoffe , Trachtentücher ) im Oktober 1935.55 Die Etablierung der »Trachtenberatungsstelle« als nach außen wahrnehmbare Einrichtung in der Laudongasse dürfte sich also im Verlauf des Sommers beziehungsweise Herbstes 1935 vollzogen haben. Ihre Tätigkeitsfelder erstreck49 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1934 , Mappe Heimatschutz. Arthur Haberlandt an das Gremium der Wiener Kaufmannschaft , 2. 2. 1935. 50 ÖMV, Archiv , Ktn. 20 / 1934 , Mappe Heimatschutz. August von Miller zu Aichholz an Arthur Haberlandt , 19. 2. 1934. 51 Ebd. 52 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Heimatschutz. Robert Mucnjak an Arthur Haberlandt , 1. 8. 1935. 53 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Sammlungen. L. J.  &  M. Handl an Museum für Volkskunde , 15. 7. 1935. 54 Siehe etwa das Schreiben von Julius Griessler an das Museum für Volkskunde vom 30. 10. 1935. ÖMV Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Heimatschutz. 55 Die Eintragungen im Geschäftsbuch der »Trachtenberatungsstelle« reichen übrigens bis in die frühen 1960er-Jahre.

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Abb. 1 : Echtheitszertifikat des Museums für Volkskunde Wien, 1930er-Jahre (Vorder-, Rückseite) ÖMV 86.470/002

ten sich dabei auf mehrere Ebenen : Zum einen wurden vom Museum Stoffe und Seidentücher plombiert und mit einer Zertifizierungsmarke , die mit der Aufschrift »Museum für Volkskunde in Wien , als volkstümlich beglaubigt« versehen war ( in den Unterlagen des Museums ist diese Marke oft auch als »Beglaubigungsmarke«56 bezeichnet ), an einschlägige Textilwarengeschäfte gegen eine drei- beziehungsweise fünfprozentige Umsatzbeteiligung abgegeben.57 Zum anderen betreute die Ö. H. G. die Trachtenberatungsstelle während der Öffnungszeiten in den Räumlichkeiten des Museums , wo neben »sachgemäßer Beratung auch Schnitte , Stoffe , Zutaten« zu bekommen waren.58 Auch fanden für ihre Mitgliedervereine eigene Treffen statt , die im Heimatland als »Trachtenberatung für die Vereine der Ö. H. G.«59 angekündigt wurden. Diese Veranstaltungen bewarb der Verein als »zwanglose Aussprache über Fragen der Vereinstrachten«, wobei die Mitglieder gebeten wurden , in ihrer Vereinstracht zu erscheinen.60 Als institutionalisierte Einrichtung war die »Trachtenberatungsstelle im Museum für Volkskunde in Wien« im Heimatland durch kämpferische Beiträge von Robert Mucnjak präsent.61 Schließlich erreichten zahlreiche schriftliche Anfragen das Museum , adressiert an die »Trachtenberatungsstelle« oder ad personam an Robert Mucnjak oder auch Arthur Haberlandt. Aus einer anfänglichen unstrukturierten Beratung scheint also in kurzer Zeit ein intensiver werdendes , neues Betätigungsfeld geworden zu sein , das , sobald die Idee einer Professionalisierung existierte , vonseiten des Museums auch 56 Siehe etwa ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Sammlungen. L. J.  &  M. Handl an Museum für Volkskunde , 15. 7. 1935 , oder auch ÖMV, Archiv Ktn. 21 , Mappe Heimatschutz. Gabor Weiss an Museum für Volkskunde , 29. 2. 1935. 57 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Sammlungen. Schreiben L. J.  &  M. Handl an Museum für Volkskunde , 15. 7. 1935. 58 Haberlandt ( 1936 ): Volkspflege und Volkswirtschaft , S. 9. 59 N. N. ( 1935 ): Nachrichten , S. 99. 60 Ebd. 61 Vgl. Mucnjak ( 1935 ): Wintertracht und Dirndl aus Kitzbühel und Umgebung , S.  93 f.

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als gewinnorientiertes Projekt organisiert wurde. Mit der aktiven Trachten­ beratung hatte sich das Museum einen neuen publikumswirksamen Bereich erschlossen ; für ihr Projekt erhielten Haberlandt und die Ö. H. G. wesentliche Unterstützung seitens der Politik.

Volkskundliche Trachtenforschung und Trachtenpflege als kulturpolitische Praxis Zum Zeitpunkt der Etablierung der Trachtenberatungsstelle im Wiener Volkskundemuseum war das Volksbildungswesen bereits nach den Leitlinien des neuen Regimes ›reformiert‹ worden. Das Erzeugen eines Zugehörigkeitsgefühls zur Schicksalsgemeinschaft war Ziel der Protagonisten und Protagonistinnen des »Ständestaates« – am Erreichen dieses Zieles waren die Volksbildung beziehungsweise die Volksbildnerinnen und Volksbildner vehement beteiligt.62 Die Erhaltung und Förderung jener Kleidung , die aus dem ›Eigenen‹ komme und deswegen von vielen getragen werden sollte , die aber auch gleichzeitig vor schädlichen Einflüssen von außen zu schützen war , war daher ein logischer Baustein im Kampf um die postulierte Vorherrschaft deutscher Kultur. Im Oktober 1935 war vom Bundesministerium für Kultur sowie vom Niederösterreichischen Volksbildungsreferenten bundesweit eine »Rundfrage über die Trachtenforschung und Trachtenpflege« ausgegeben worden , in welcher unter anderem nach bestehenden Trachtensammlungen , nach trachtenpflegenden Vereinen oder auch nach einer offiziellen Landestracht gefragt wurde.63 Mit dieser Ak­tion sollte offensichtlich der Status quo der Trachtenforschung und der aktuellen Trachtenpflege in Österreich erfasst werden. Neben Haberlandt erging auch an Robert Mucnjak eine solche Einladung mit der expliziten Aufforderung , über den Aufbau und den Arbeitsplan der Trachtenberatungsstelle zu berichten. Dass Arthur Haberlandt ein Jahr später , im Dezember 1936 , ein großes – eingeladen waren über 60 Fachleute – zweitägiges Treffen »zur Trachtenfrage in Österreich«64 mit Vertretern des Ministeriums , der Volksbildungsreferate aus den Bundesländern , des Vaterländischen Front-Werkes »Neues Leben«, aus Gewerbe und Industrie , einschlägigen Vereinen sowie mit Personen , die sich als Private in der Trachtenfrage engagierten , in seinem Museum beherbergen 62 Vgl. Stifter ( 2005 ): Geistige Stadterweiterung. 63 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Mappe Heimatschutz. Hans Mairinger , Bundesstaat­ licher Volksbildungsreferent für Niederösterreich an Arthur Haberlandt , 29. 10. 1935. 64 ÖMV, Archiv , Ktn. 22 / 1936 , Mappe Heimatschutz. »Bericht über die Fachberatung zur Trachtenfrage in Oesterreich , einberufen vom Oesterreichischen Verband für Heimatpflege für 6. und 7. Dezember 1936 , Wien , Museum für Volkskunde« ( 8 S. ).

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konnte , verdeutlicht seine erfolgreichen Bemühungen um Teilhabe an diesem nationalen kulturpolitischen Projekt. Die Richtlinien , die bei dieser ›Fachberatung‹ im Kampf gegen modische Verirrungen und Missbrauch im Kontext von Tourismus oder auch gegen die Unwissenheit der Trachtenträger65 erstellt wurden , sind letztlich als Resultat des »Ständestaates« und seiner der Tradition verpflichteten vaterländisch-christlichen Haltung anzusehen. Den Volkskunde­ museen kam dabei eine wichtige Rolle zu , ihnen wurde als »Betreuer« der »wissenschaftlichen Volkskunde«66 auch die Leitung der Trachtenpflege übertragen. Die konkrete Beratungstätigkeit übernahmen mitunter zwar auch andere , aber der Direktor des Wiener Volkskundemuseums und seine Kollegen in den Museen der Länder waren jene , die als Wissenschaftler Regeln formulierten und somit Gestaltungsmacht erhielten beziehungsweise sich selbst zuwiesen. Die volkskundlichen Wissenschaftler wurden zu Autoritäten und zu jenen , die ( in der eigenen Darstellung ) das Überleben der Tradition durch zielbewusste Volkstumspflege sicherten. Die Menschen im »Ständestaat«, so die ( staatliche ) Ideologie , dürften nicht entwurzelt oder heimatlos sein und müssten gegebenenfalls hingeführt werden zu Heimat und Verbundenheit. Trachtenpflege als ein Aspekt der Volkstumsarbeit bedeutete jedoch nicht nur Pflege der bestehenden ›lebendigen‹ Tracht , sondern auch und insbesondere konkrete Neuschaffung. Arthur Haberlandt ( wie auch seine akademischen Kollegen ) verstand sich zu jener Zeit gleichfalls als »Volksforscher«67 , also als volkskundlicher Wissenschaftler , der »nicht nur berichtet , was sich ereignet , nicht bloß kritisch betrachtet , sondern vor allem Impulse zu neuem Schaffen«68 zu geben gewillt war. In diesem Sinne sind auch die Bemühungen des einflussreichen niederösterreichischen Volksbildungsreferenten Hans Mairinger , der in Trachtenfragen eng mit dem Wiener Museum kooperierte , zu verstehen. »Wir wollen«, so schrieb er 1935 an einen Oberlehrer und engagierten Trachtenpfleger in Wien , »im Anschluß an die Ueberlieferung gauweise Trachten und damit auch Dirndlkleider einführen.«69 Tatsächlich erreichten das Wiener Museum für Volkskunde beziehungsweise die dortige Trachtenberatungsstelle schon im ersten Jahr ­ihres Bestehens etliche Anfragen von Personen , die sich um die Einführung einer neuen Tracht in ihrer Heimatgemeinde oder -stadt bemühten. Die Aktivitäten der politisch autorisierten ( vornehmlich männlichen ) Trachtenpfleger führten je65 Ebd. 66 Ebd. 67 Haberlandt ( 1934 ): Volkstum im Gebirg , S. 20. 68 Schuschnigg ( 1934 ): Zum Geleit. 69 In diesem Schreiben wird die Tochter des Lehrers an die »niederösterreichische Trachtenberatungsstelle , Laudongasse 17 ( Volkskundemuseum )« verwiesen. ÖMV, Archiv , Ktn. 21 / 1935 , Heimatschutz. Hans Mairinger , Bundesstaatlicher Volksbildungsreferent für Niederösterreich an Josef Ehn , Oberlehrer , Wien , 26. 9. 1935.

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doch über lokale Neuschöpfungen hinaus. Auf Ebene der Bundesländer sollten Landestrachten zur Einführung kommen , in Niederösterreich arbeitete der Fachverband der Kleidergenossenschaften im Auftrag des Landes an der Aus­arbeitung einer solchen für alle gültigen Tracht , die also für Landwirte und Beamte ( auch in Wien , in den Räumen der niederösterreichischen Landesregierung ) gleichermaßen tragbar und »praktisch«70 sein sollte. »Geschmackvolle« und »echte« Ware war dabei das Gebot der Stunde , die Einbeziehung heimischer Gewerbetreibender und somit die Unterstützung der regionalen beziehungsweise nationalen Wirtschaft waren konsequenterweise Teil dieses volkskulturellen Projekts.

Wissenschaftlich zertifiziert Mit seiner aktiven Trachtenberatung reihte sich das Wiener Museum für Volkskunde mit Arthur Haberlandt an der Spitze in die zeitgeistige Strömung innerhalb der an Museen praktizierten volkskundlichen Wissenschaft ein. Haberlandt versuchte dabei durchaus , für sich und sein Haus eine österreichweite Vorrangstellung in Fragen der Trachtenpflege und -erneuerung zu erzielen. Dass er nicht der Erfinder der zertifizierten Ware war , mag den ehrgeizigen Haberlandt geschmerzt haben : Andernorts waren schon früher Bemühungen um eine Verkaufsstelle mit Zertifizierungen erfolgreich gewesen , so etwa das vom anerkannten Trachtenforscher Viktor Geramb ins Leben gerufene und am 7. Juli 1934 im Volkskundemuseum Graz eröffnete Heimatwerk , als dessen Vorläufer die 1917 ebenfalls von Geramb initiierte »volkskundliche Verkaufsstelle«71 gelten kann. Zuvor ( 1912 ) war etwa in Schweden der Reichsverbund der schwedischen Heimgewerbevereinigungen eingerichtet worden , zur Rettung des schwedischen Hausgewerbes ; 1930 gründete sich das »Schweizer Heimatwerk« zur Festigung des eidgenössischen Bauerntums.72 Die Belebung heimischen Gewerbes galt demnach bereits für frühere , ähnlich gelagerte Projekte. Die Trachtenberatungsstelle im Volkskundemuseum im Wien der 1930er-Jahre arbeitete zusammen mit »geprüften Schneiderinnen und Schneidern« 73 , aber auch mit größeren Unternehmen mit eigener Produk70 ÖMV, Archiv , Ktn. 21/1935 , Mappe Heimatschutz. Landes-Fachverband der Kleidermacher-Genossenschaften Niederösterreich an die niederösterreichische Landeshauptmannschaft , zhd. Landeshauptmann Reiter , 12. 2. 1935. 71 Greger u. a. ( 2007 ): Viktor Geramb 1884–1958 , S. 27. Zu Viktor Geramb und sein volkskundliches Umfeld s. auch Puchberger ( 2005 ): Volkskunde als Lebensstil. 72 Weissengruber ( 2001 ): Zwischen Pflege und Kommerz , S. 181. 73 Trachtenberatung durch die »Oesterreichische Heimatgesellschaft«. In : Heimatland , 3 /9 , Sept. 1934 , S. 4.

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tion.74 Die Trachtenmode unterlag also längst auch einer seriellen Herstellung. Dass diese Produkte den ›Echtheitsansprüchen‹ der volkskundlichen Trachtenpfleger und -pflegerinnen genügten , dafür bürgte die »Beglaubigungsmarke« des Museums. Die Bemühungen einer volkskundlich-wissenschaftlichen Trachtenpflege gingen allerdings noch einen Schritt weiter : Zur Erhaltung und Verbreitung der ›ursprünglichen Volkstracht‹ wurden vom Wiener Museum für Volkskunde ( wie auch von den Museen in den Bundesländern ) traditionelle beziehungsweise »erneuerte« Schnitte bereitgestellt und Dirndl-Nähkurse in Wien , aber auch auf volkskundlichen Schulungswochen organisiert. Auf diese Weise sollte Traditionspflege auch jenen schmackhaft gemacht werden , die sich gekaufte ›Qualitätsmodelle‹ nicht leisten konnten.75 Das Volksbildungshaus Wiener Urania war eine jener Institutionen der Erwachsenenbildung , die in diesen Jahren eng mit dem Museum für Volkskunde , insbesondere mit Adelgard Perkmann , der Bibliothekarin und wissenschaft­ lichen Mitarbeiterin des Museums , zusammenarbeitete. Im Sommer 1935 organisierte die Urania gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für Volkskunde an der Universität Wien , zu der neben der promovierten Perkmann auch der damals 23-jährige Leopold Schmidt gehörte , eine Ausstellung mit dem Titel Tracht und Leben im Messepalast Wien. »Wie mache ich mein Dirndlkleid« war ein Angebot , das im Rahmen dieser »Gegenwartsschau«76 , die von Adelgard Perkmann geleitet wurde , in Anspruch genommen werden konnte. Dass diese Aktion nicht immer Zustimmung fand , davon konnte sich die Wiener Urania bald überzeugen. Die Genossenschaft der Kleidermacher in Wien reklamierte schriftlich die Dirndl-Produktion für sich und ersuchte das Volksbildungshaus in Anbetracht der prekären wirtschaftlichen Lage für ihre Mitglieder , »die Propaganda , wie man Kleider erzeugt , künftighin zu unterlassen«.77 Das Museum in der Laudongasse hielt unbeirrt von solchen Einwänden an der Proklamation selbst gefertigter Kleidung fest. »Selbst gesponnen , selbst ge-

74 Auch das Heimatwerk in Graz bezog Produkte von Textilunternehmen wie auch des Haus- und Kleingewerbes. Der Gewinn kam überwiegend den Kleinproduzenten zugute. Greger u. a. ( 2007 ), a. a. O. , S. 30. Für die Wiener Trachtenberatungsstelle ist ein solches Gewinnbeteiligungsmodell nicht nachzuweisen. 75 Vgl. etwa das Vorwort des Direktors des Tiroler Volkskunstmuseums , Josef Ringler , für das vom Tiroler Gewerbeförderungsinstitut herausgegebene Buch : Ringler u. a. ( o. J. ): Neue Tiroler Trachten. 76 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 /1935 , Mappe Sammlung. Volksbildungshaus Wiener Urania an Arthur Haberlandt , 24. 5. 1935. 77 ÖMV, Archiv , Ktn. 21 /1935 , Mappe Perkmann. Genossenschaft der Kleidermacher in Wien an die Wiener Urania , 17. 6. 1935.

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macht , ist die beste Bauerntracht«, wurde Arthur Haberlandt zitiert.78 »Das Dirndl«, wie dieser an anderer Stelle schreibt , »setzt mehr Hände , aber auch künstlerischen Geist in Bewegung , [ sic ] als das ausdrucklose Schlupfkleid.«79 Bauerntum und moderne Kleidung vertrugen sich schlecht , das selbst gemachte Dirndl kam deswegen nicht nur der Belebung des volkskünstlerischen Textilgewerbes entgegen , sondern unterstrich gleichzeitig die ideologische Stoßrichtung des »Ständestaates« zur Förderung ( und Wiederbelebung ) des Bauerntums als vermeintlicher Grundlage österreichischer Kultur.80

Volkskultur als Stadtkultur Kulturpolitik und Bereiche der Heimatpflege beziehungsweise der angewandten Volkskunde , dies sollen die beiden skizzierten Unternehmungen gezeigt haben , förderten und forderten sich gegenseitig. Vertreter und Vertreterinnen der Volkskunde stellten dem Regime volkskulturelle Angebote zur Verfügung , für deren Erforschung und Gestaltung sie die Deutungs- und Vermittlungs­hoheit beanspruchten. Sie übernahmen die Zertifizierung des volkstümlicn ›Echten‹, entschieden über Kitsch oder Authentizität und sprachen sich damit die alleinige Kompetenz zur Bewertung von Volkskultur zu. Dieses Selbstverständnis und auch diese Selbstsicherheit bescherten den volkskundlichen Akteurinnen und Akteuren zunehmende Aufmerksamkeit vonseiten der politisch ausgerichteten Volkstumspflege. Leopold Schmidt brachte diese Vormachtstellung 1936 treffend zum Ausdruck : Die gute Meinung allein tut es meist nicht , sondern die sichere Hand und die gute Vorbereitung bringt den guten Willen erst vollgültig zum Ausdruck. Dafür jedoch kann die Erforschung von Volkstum und Heimat , vor allem die Volkskunde , zum richtigen Hilfsmittel werden. Dafür werden Trachtenberatungen von Fachleuten erteilt , werden Tanzkurse von erprobten Volkstanzfreunden geleitet , dafür stehen die Führer der Volksliedforschung auch in der ersten Reihe der Volksliedpflege.81

Das Museum in der Laudongasse öffnete sich in den 1930er-Jahren vermehrt verschiedenen ideologischen Lagern – die Spannweite reichte von nationalen 78 N. N. ( o. J. ): Selbst gesponnen , selbst gemacht , ist die beste Bauerntracht , S. 30. 79 Haberlandt ( 1936 ): Volkspflege und Volkswirtschaft , S. 9. 80 Das Museum für Volkskunde war übrigens wesentlich mitbeteiligt an einer großen , international konzipierten Schau mit dem Titel »Europäisches Bauerntum« im Rahmen der Wiener internationalen Messe vom 6.– 13. 9. 1936. ÖMV, Archiv Ktn. 22 /1936 , Mappe Ausstellung »Bauerntum«. 81 Schmidt ( 1936 ): Heimatkunde und Heimatpflege , S. 25.

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Heimatschutzverbänden , klar definierten deutschnationalen Gruppen , politischen Organisationen bis hin zu völkisch orientierten Vereinen – und versuchte gleichzeitig , deren Anliegen zu bündeln. Die Österreichische Heimatgesellschaft als Dachorganisation volkstumspflegerischer Vereine bildete eine inhaltliche und strategische Symbiose mit dem größten volkskundlichen Museum in Österreich unter dem Direktor Arthur Haberlandt. Diese enge Zusammen­ arbeit im Haus und mit ähnlich ausgerichteten Vereinigungen und Verbänden etablierte und verfestigte Netzwerke , die später in anderen politischen Systemen relevant werden sollten. Das Haus in der Laudongasse beherbergte volkskundliche Laien wie akademische Profis , die in dieser Dichte und Vielfalt wohl nur in der einzigen österreichischen Großstadt zu finden waren. Gemeinsam arbeiteten sie an der Umsetzung der eigenen Ideen zur Etablierung einer ›großstadtgerechten Volkskultur‹ und verbanden sie später mit den Forderungen des »Ständestaates« an Kulturpolitik und Freizeitgestaltung. Sie verstanden volkskundliche Forschung und Vermittlung als Arbeit am Volkstum und somit an der Gemeinschaft beziehungsweise der ›Bewegung‹ und postulierten die Abwehr großstädtischer Gefahren durch traditions- und gemeinschaftsfördernde Sinnstiftung. Wien war für die volkskundlichen Akteurinnen und Akteure ein besonderer Ort. Hier wurden volkskulturelle Impulse aus den Bundesländern , aber auch aus den Wiener Vorstädten und unterschiedlichen sozialen Schichtungen und Gruppen aufgenommen , um- und neu gestaltet. Die volkskundlichen Kreise , die diese Erneuerung und Anwendung vorantrieben , kreierten so eine neue , originär urbane Volkskultur , die nicht nur in der Stadt präsent war , sondern von dort aus auch auf das niederösterreichische Umland ausstrahlte. Sie beanspruchte darüber hinaus die theoretische und praktische Hoheit in Volkstumsbelangen für ganz Österreich. Die Volkskultur der Zwischenkriegszeit , so wurde bislang argumentiert , war niemals tatsächliche Nationalkultur.82 Für eine diesbezügliche Rezeptionsforschung sind die in dieser Arbeit vorgestellten Quellen gewiss nicht ausreichend. Sie belegen aber deutlich breite Reaktionen auf volkskulturelle Strömungen , die zu einem Gutteil politisch-ideologisch motiviert und volkskundlich-wissenschaftlich ausgeformt wurden und dabei umfangreicher waren als bisher angenommen. Und sie dokumentieren die Bedeutung der gestalteten ›Volkskultur‹ der 1930er-Jahre , die sowohl den jugendbewegten Nachwuchskräften in Volkskunde und Volksbildung als auch den vielen Funktionsträgerinnen und Funktionsträgern in den Traditions- und Trachtenvereinen ein geradezu ausschließlich urbanes Betätigungsfeld eröffnete und mithin eine urbane Kultur , eine spezifische Stadtkultur darstellte. 82 Vgl. Johler ( 1995 ): Das Österreichische , S. 34 f.

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Die Bereiche Volkstanz und Tracht schienen prädestiniert , das ›Eigene‹ nach außen zu kehren , das Innere und ›Eigentliche‹, also quasi die Volksseele , zum Ausdruck zu bringen. Durch die Wirkmächtigkeit und hohe Emotionalität der materiellen und immateriellen Produkte und Formate der urbanen Heimatkultur waren diesbezügliche Stellungnahmen vielstimmig und multipel einsetzbar. Unsere Darstellungen sollten zeigen , wie intensiv die Bemühungen der Aktivisten und Aktivistinnen waren , das offenbar große Angebot , aber auch Potenzial und Interesse an volkskulturellen Phänomenen und Formaten in gewünschte Bahnen zu lenken. Allein diese Bemühungen deuten darauf hin , dass in Wien auch weitere populäre und populare Aneignungen und Ausformungen präsent waren , die auf eine empirische Erschließung und Auswertung warten.

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ARCHIVMATERIAL , ÖSTERREICHISCHES MUSEUM FÜR VOLKSKUNDE Direktionsakten Bibliothek

Volkskunde in der Laudongasse

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»DÄMON DER MODERNEN ZEIT« DER KONFLIKT UM DIE WIENER GROSSSCHLÄCHTEREI IM 19. JAHRHUNDERT

Die Ausgangslage: Das Fleischergewerbe, die Großschlächterei und die Zeichen der Zeit »Perhorresciren wir das Großcapital , welches kommt , um uns unsere Adern auszusaugen !«1 , appellierte Graf Heinrich Attems als Vertreter der Landwirte auf dem »Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleischselcher-Tag« an das versammelte Publikum und konnte sich der Beifallsstürme der Anwesenden sicher sein.2 Auf dieser Konferenz diskutierten vom 23. zum 25. Mai 1895 Fleischhauer- und Fleischselchermeister aus Wien und anderen österreichischen Städten , prominente Vertreter der Wiener Politik und Delegierte der österreichischen Landwirtschaft die Lage des Fleischergewerbes in Österreich und insbesondere in Wien. Die Modernisierungen gaben den Referenten Anlass , die Existenz des kleinbetrieblich organisierten Fleischergewerbes gefährdet zu sehen. Sowohl Vertreter des genossenschaftlichen Fleischerhandwerks als auch der Landwirtschaft wie Graf Heinrich Attems , Wiener Gemeinderäte und selbst der Vizebürgermeister der Reichshaupt- und Residenzstadt Karl Lueger suchten in flammenden Reden und polemischen Anfeindungen den gemeinsamen Schulterschluss gegen einen Gegner aus Großkapital , privatunternehmerischen Interessen und einer kommunalen Verwaltung , die Tradition und handwerkliches Berufsethos rücksichtslos den Belangen der Großstadt untergeordnet hätte. Sie bildeten den »Dämon der modernen Zeit«3 , wie es der Obmann der Wiener Fleischhauergenossenschaft Franz Schindler zum Ausdruck brachte. Für die Tagungsteilnehmer schien dieser Dämon in den Plänen kommunaler Reformpolitiker zur Einführung der sogenannten Großschlächterei konkrete Gestalt anzunehmen. Die Großschlächterei implizierte eine spezifische Arbeitsorganisation , bei der Tierschlachtung und Fleischverarbeitung auf verschiedene Gewerbetreibende verteilt waren. Angestrebt wurde diese Umorganisation von der kommunalen Verwaltung , die seit der Jahrhundertmitte die Fleischversorgung zunehmend kontrollierte und bestehende Probleme mangelnder Hygiene , sinnlich wahrnehmbarer Geruchsbelästigungen und gesundheitsgefährdender Zustände 1 2 3

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N. N. ( 1895 ): Verhandlungen , S.  44. Vgl. ebd. Ebd. , S. 38.

beheben wollte.4 Hatten Fleischer bis 1850 in privaten Schlächtereien Tiere geschlachtet , verpflichtete sie die Stadt , seit diesem Jahr Tiere ausschließlich in den neu errichteten und damals an der städtischen Peripherie gelegenen Schlachthäusern in St. Marx ( 3. Gemeindebezirk ) und Gumpendorf ( 6.  Gemeindebezirk ) zu töten.5 Wie in vielen anderen Städten Europas wurde das Schlachten damit aus dem öffentlichen Raum ausgelagert und an der städtischen Peripherie konzentriert. Diese Bündelung und Verlagerung des Schlachtens »hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens«6 verstärkte jene Aufgabenteilung in der Arbeitsorganisation , die in der zweiten Jahrhunderthälfte zur Trennung von sogenannten Großschlächtern und Ladenfleischern führte. Während Erstere den Vieheinkauf , die Schlachtung und den Verkauf des Fleisches in großen Stücken an den Ladenfleischer übernahmen , spezialisierten sich Letztere auf die weitere Fleischverarbeitung und Wurstherstellung.7 Seit den 1890er-Jahren versuchten Gemeinderat sowie die Handels- und Gewerbekammer , diesen Prozess beruflicher Ausdifferenzierung zu institutionalisieren. Auch Wiener Fleischer , die einer solchen Großschlächterei zunächst mit großer Skepsis begegneten , hätten letztendlich eine dahin gehende Umstrukturierung des Gewerbes begrüßt – vorausgesetzt , die Großschlächterei wäre von der Wiener Fleischhauergenossenschaft geführt worden.8 Zwei Jahre nach dem Ersten österreichischen Fleischhauer- und FleischselcherTag beschloss der Wiener Gemeinderat die Errichtung einer Großschlächterei , die 1905 in Gestalt der »Ersten Wiener Großschlächterei-Aktiengesellschaft«9 gegründet wurde , wiewohl nicht nur Fleischer eine derartige privatkapitalistische Unternehmung vehement abgelehnt hatten. Auch die städtischen Behörden hatten gegenüber der »Errichtung einer Großschlächterei durch ein großcapitalistisches Unternehmen , nämlich durch eine Actiengesellschaft«10 ihre Bedenken geäußert. Sie befürchteten , dass diese nach finanziellem Eigengewinn strebe , die 4 5

Vgl. Rella ( 1899 ): Die Assanierung , S.  273–282 ; Weyl ( 1900 / 1902 ). Dies betraf zunächst das sogenannte Großhornvieh. Der Schlachthauszwang für Schweine trat realiter erst mit der Inbetriebnahme eines Schweineschlachthauses im 3. Gemeindebezirk im Jahr 1910 in Kraft. 6 Vgl. Elias ( 1999 ): Über den Prozeß der Zivilisation , S. 324. 7 Vgl. WStLA : Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 1–3 , 5 , 11–12 ; Kardosi ( 1913 ): Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen , S. 20–27. 8 Vgl. WStLA ( 1897 ): Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa , S. 2. 9 Vgl. WStLA ( 1905 ): Statuten der Ersten Wiener Großschlächterei-Aktiengesellschaft. 10 WStLA ( 1902 ): Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 12.

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Fleischversorgung der Stadt hingegen vernachlässige.11 Warum aber beschloss die Gemeinde dann die Gründung einer privatunternehmerischen Großschlächterei , die die meisten Politiker und Gewerbetreibenden wenige Jahre zuvor noch abgelehnt hatten ? Und welche Konflikte gingen mit diesem neuen »System«12 der Arbeit , wie es der stellvertretende Sekretär in der Handels- und Gewerbekammer Eugen Schwiedland im Januar 1896 nannte , einher ?

Die Akteure: Handwerker und Politiker Kommunalpolitiker und Fleischhandwerker teilten die Einsicht , dass eine Reorganisation der Fleischversorgung notwendig sei , um den neuen Bedarfslagen der wachsenden Großstadt13 Genüge zu tun. Den steigenden Fleischbedarf  14 zu befriedigen , dem Anstieg der Fleischpreise15 entgegenzuwirken , den stadthygienischen Anforderungen gerecht zu werden und die Zahl der Fleischer zu reduzieren , die über zu hohe Betriebskosten klagten oder sich verschuldeten , stellten zentrale Herausforderungen der Wiener Versorgungspolitik in der zweiten Hälf11 Vgl. WStLA ( 1897 ): Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa , S. 2. 12 Schwiedland ( 1896 ): Vorbericht , S.  1. 13 Im 19. Jahrhundert verzehnfachte sich beinahe die Bevölkerungszahl Wiens von zirka 230. 000 Einwohnern ( Innere Stadt und Vorstädte ) im Jahr 1815 auf über zwei Millionen zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Dieser enorme Anstieg war vor allem auf die Zuwanderung in die Wiener Vororte , die in den Jahren 1890 /  92 und 1904 eingemeindet wurden , zurückzuführen. Vgl. Steidl ( 2003 ): Auf nach Wien , S. 76 , Tabelle 4 ( 2.  Teil ). 14 Mit dem Bevölkerungsanstieg verfünffachte sich auch der jährliche Gesamtfleischverbrauch von etwa 33,3 Millionen Kilogramm Mitte der 1850er-Jahre auf über 155 Millionen Kilogramm im Jahr 1910. Eigene Berechnungen auf Grundlage von : Österreichisches Statistisches Zentralamt ( 1979 ): Geschichte und Ergebnisse , S. 130 , Tabelle A 9.4 ; Sandgruber ( 1980 ) Konsumgüterverbrauch und Alltagskultur , S. 210 ; Steidl ( 2003 ): Auf nach Wien , S. 76 , Tabelle 4 ( 2. Teil ). Der Fleischverbrauch pro Kopf lag in Wien zwischen 1845 und 1910 mit Schwankungen von 1–2 Kilogramm jährlich bei zirka 77,9 Kilogramm. Lediglich 1855 erreichte er mit 70 Kilogramm pro Kopf einen vorübergehenden Tiefpunkt. Vgl. Sandgruber ( 1980 ): Konsumgüterverbrauch und Alltagskultur , S. 210. 15 Zwischen 1845 und 1914 stieg der Preis für 1 Kilogramm Rindfleisch von 0,6 auf 2,14 Kronen , der des Schweinefleisches von 0,84 auf 1,97 Kronen und der des Kalbfleisches von 0,66 auf 2,1 Kronen. Aus Vergleichsgründen sind hier die in die 1892 reichsweit eingeführte Kronen-Währung umgerechneten Preise angegeben. Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt ( 1979 ): Geschichte und Ergebnisse , S. 134– 137 , Tabelle A 9. 10. 

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te des 19. Jahrhunderts dar. Es gab jahrelange Auseinandersetzungen zwischen Kommunalpolitik und Fleischerhandwerk zur Frage der Reichweite der Reformen und der damit einhergehenden Umverteilung von Kompetenzen , die trotz oder gerade wegen der personellen Verwobenheiten zwischen beiden Gruppen Konfliktlösungen hemmten. Einige Gemeinderäte wie der Vorsteher der Wiener Fleischhauergenossenschaft Georg Hütter waren selbst Fleischhauer ,16 die einerseits Solidaritätsbekundungen und Sympathieerklärungen mit den Gewerbetreibenden zur Verfolgung ihrer politischen Ziele vorbrachten. Andererseits fühlten sie sich aufgrund ihrer beruflichen Laufbahn als Fleischhauer nach wie vor dem Handwerk verbunden. Sie proklamierten , das Gewerbe zu reformieren und zugleich den Forderungen ihrer ehemaligen Kollegen nachzukommen. Deren Interessen repräsentierte offiziell die Wiener Fleischhauergenossenschaft. Dass dieser nach außen getragene Anspruch umgesetzt wurde , ist allerdings zu bezweifeln. Die Genossenschaft rekrutierte sich aus Meistern , die am Status quo ihrer Privilegien und an der Exklusivität des Handwerks interessiert waren. Die Größe und der Geschäftsumfang der einzelnen Fleischerbetriebe waren zudem sehr unterschiedlich.17 Das wiederholte Beschwören der Einheit des Handwerks und der Interessenvertretung des kleinen Mannes erscheinen so gesehen als eine strategische Rhetorik der Genossenschaft , ein homogenes Bild des Gewerbes zu konstruieren und auf einem Status quo zu beharren , von dem letztlich nur die wohlhabenderen Fleischhauer profitierten. Daher versuchten die Befürworter einer Großschlächterei im Gemeinderat und in der Handels- und Gewerbekammer , jene kleineren Fleischer für ihre Reformpläne zu gewinnen , da insbesondere ihnen eine solche Institution »viele geschäftliche Vortheile«18 brächte.

Die Argumente: Effizienz und Tradition Der Konflikt zwischen Fleischern und Reformern aus den Reihen der kommunalen Verwaltung verlief auf verschiedenen Ebenen. Er umfasste finanziel16 Vgl. N. N. ( 8. 3. 1901 ): Eine Interpellation , S. 3. 17 Während zum Beispiel kleinere Fleischhauer drei bis vier Ochsen in der Woche schlachteten und mit einem bis zwei Gesellen arbeiteten , betrug das Schlachtpensum anderer Berufskollegen in derselben Zeitspanne 30 bis 40 Tiere. Vgl. Kardosi ( 1913 ): Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen , S.  26 ; WStLA ( 16. 6. 1904 ): Bericht und Antrag des Stadtrats Vinzenz Wessely , Errichtung eines städtischen Übernahmsamtes und einer städtischen Großschlächterei , S. 5. 18 WStLA ( 1900 ): Marktkommissär Karl Philipp , Programm für die Errichtung einer Großschlächterei , S. 7. Vgl. ebd. , S. 14–15 ; ebd. ( 1904 ): Bericht und Antrag des Stadtrats Vinzenz Wessely , Errichtung eines städtischen Übernahmsamtes und einer städtischen Großschlächterei , S. 5 ; Schwiedland ( 1896 ), Vorbericht , S. 39.

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le Fragen , die sowohl Befürworter als auch Gegner einer Großschlächterei als zentrales Argument anführten , und normative Vorstellungen vom Fleischergewerbe. Diese äußerten sich in unterschiedlichen Wertehorizonten und Zeit­ orientierungen , die auf eine »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«19 verweisen , was zum einen Konflikte verstärkte und Kompromissen im Wege stand. Zum anderen führten die Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Reformbefürwortern und Fleischhandwerkern zur Stabilisierung der sozialen Gruppe städtischer Fleischer. Befürworter der Großschlächterei argumentierten , dass die Einführung des Schlachthauszwanges die berufliche Ausdifferenzierung und Spezialisierung im Fleischergewerbe beschleunigen und dadurch die Fleischproduktion und Verwertung der tierischen Nebenprodukte ( unter anderem Häute , Knochen , Blut , Talg ) effizienter gestalten werde. Dadurch könne mehr Fleisch produziert und die städtische Bedarfslage besser befriedigt werden. Je mehr Fleisch auf den Markt gelange , desto schneller würden zudem die Fleischpreise sinken und infolgedessen der städtische Fleischkonsum steigen.20 Reformbefürworter auf dem Gebiet der städtischen Fleischversorgung verbanden mit der Einführung der Großschlächterei zudem die Hoffnung , regulierend in das Fleischergewerbe eingreifen und das Zusammenspiel einzelner Arbeitsprozesse in der Fleischproduktion unmittelbarer koordinieren zu können. Effizienz und Kostenersparnis lauteten die erklärten Argumente , die ein Eingreifen in die bestehende kleinbetriebliche Arbeitsorganisation des Handwerks legitimierten. Exemplarisch war die Stellungnahme des Wiener Marktkommissärs Karl Phillip , der die Arbeitsorganisation im städtischen Fleischergewerbe als unrentabel und kostenintensiv kritisierte : Wie compliciert und mit welchen Schwierigkeiten oft die Ausübung des Fleischergewerbes verbunden ist , beweist folgender Fall : – Auf dem Markte am Volkertplatze befand sich ein sehr kleiner Fleischhauer , der in der Woche nur einen Ochsen minderster Qualität schlachtete. – Dieser Fleischhauer hatte seine Wohnung im V. Bezirke Siebenbrunngasse , sein … stall war in der Schallergasse im V. Bezirke u. die Eisgrube befand sich im X. Bezirke Columbusgasse. – Man muß sich nun vor Augen halten , wie oft dieser kleine Fleischhauer des Tages über an Weg durch so viele Bezirke Wien’s zurück legen mußte , um nur zu seinem Verkaufsstande zu gelangen und mit welchen Betriebs und Regiespesen ein derartiger Geschäftsbetrieb ver19 Vgl. Bloch ( 1962 ): Erbschaft dieser Zeit , S. 111–116. 20 Vgl. WStLA ( 1897 ): Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa ; Schwiedland ( 1896 ), Vorbericht , S.  1 ; N. N. ( 1895 ): Verhandlungen , S.  99–100.

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bunden ist. – Derartige Fälle stehen nicht vereinzelt da und wären mehrere solche Beispiele anzuführen.21

Tadelnde Beschreibungen wie diese verweisen zugleich auf ein neues Selbstverständnis städtischer Verwaltungsbeamter und auf eine Regierungspraxis , die tradierte Kompetenzen und Legitimitäten von Fleischhandwerkern infrage stellte. Der Anspruch auf Koordination und Kontrolle ging mit einer Dequalifizierung des Gegenübers einher. In ihren Berichten und Protokollen stellten Regierungsbeamte und Marktamtsmitarbeiter die Fleischer als unfähig dar , den Erfordernissen der neuen Zeit entsprechend zu handeln , so dass diese nicht nur der städtischen Bevölkerung , sondern auch sich selbst schadeten. Der Markt­ direktor Karl Kainz bemerkte zum Beispiel , dass die Wiener Fleischhauer nicht so versiert [ sind ] , daß sie bei der Besichtigung des lebenden Thieres ein vollkommen sicheres Urtheil über das Fleischgewicht desselben und den Unschlitt bilden können , und wer hört sie sehr oft darüber klagen , daß sie sich in ihrem Ur­ theile über den Fleischertrag getäuscht hätten , und daß sich der Ochse nicht so geschlachtet habe , wie sie es erhofften.22

Die Existenzängste vieler Wiener Fleischer versuchten die Befürworter der Großschlächterei aufzugreifen und zugleich dem traditionsbewussten Handwerk einen gewissen Entscheidungsspielraum zu gewähren , indem sie der Genossenschaft der Fleischhauer bei diesem Projekt ein Mitspracherecht einräumten. Daher propagierten die städtischen Behörden zunächst die Errichtung einer Großschlächterei auf genossenschaftlicher Basis und erklärten , dieser Institution »mit Rat und Tat zur Seite [ zu ] stehen«.23 Dass dieses Unternehmen scheiterte , führten sie auf ein fehlendes Engagement der Wiener Fleischer zurück , die zwar Interesse an einer solchen Institution bekundeten ,24 ihren Worten jedoch keine Taten folgen ließen.

21 WStLA ( 1900 ): Marktkommissär Karl Philipp , Programm für die Errichtung einer Großschlächterei , S. 4–5. 22 Ebd. ( 1902 ): Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 3. 23 Ebd. ( 1897 ): handschriftliches Schreiben des Marktdirektors Karl Kainz , S. 1. Der Gemeinderat sicherte zudem zu , die Verwaltungskosten im ersten Geschäftsjahr zu übernehmen und die Kosten für die Benutzung des Schlachthauses zu ermäßigen. Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd. ( 1897 ): Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa , S. 3.

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Die Wiener Fleischer stellten zwar eine Reform des Gewerbes nicht grundsätzlich infrage. Sie kritisierten jedoch die vermeintliche Rücksichtslosigkeit , mit der die politischen Instanzen eine Großschlächterei realisieren wollten. Zudem bezweifelten sie , dass das von der Gemeinde immer wieder angeführte Argument einer erhöhten Rentabilität dieser Institution und der damit verbundenen verbesserten Arbeitsorganisation überhaupt gewiss sei.25 Die Annahme zum Beispiel , die Inbetriebnahme einer Großschlächterei senke die Betriebskosten , sei keineswegs berechtigt. Der Stadtrat Vinzenz Wessely befürchtete sogar eine Erhöhung der Personalkosten , »weil zu den unverminderten Kosten für das Personale des einzelnen Fleischers noch die Kosten der Bediensteten der Großschlächterei hinzukommen und gleichfalls auf dem Fleische lasten«.26 Auch würden Pferde und Wagen nach wie vor gebraucht , um weiter entfernt wohnende Kunden beliefern zu können.27 Dass somit auch Kommunalpolitiker an der viel beschworenen Kostenreduzierung durch eine Großschlächterei ihre Zweifel äußerten , verdeutlichte für die Wiener Fleischer den Wahnwitz des ganzen Projektes und verstärkte ihre Bedenken gegenüber Reformen. Jenseits der finanziellen Fragen resultierten die Spannungen zwischen den Befürwortern der Großschlächterei auf kommunalpolitischer Ebene und deren Kritikern und Gegnern aufseiten des Handwerks aus einem von Misstrauen geprägten Verhältnis. Der Marktdirektor Karl Kainz warf der Wiener Fleisch­ hauergenossenschaft Taktiererei vor , beschuldigte die Fleischer , die Fleischpreise künstlich oben zu halten28 und zweifelte an deren Glaubwürdigkeit.29 Die 25 Vgl. N. N. ( 1895 ): Verhandlungen , S. 46–47. 26 WStLA ( 1897 ): Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa , S. 3. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd. : Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 13 und 16. 29 Als vermeintlichen Beweis dafür , dass die Wiener Fleischer an der Errichtung einer Großschlächterei überhaupt nicht interessiert seien , verwies Kainz auf einen Artikel aus der Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung. Demzufolge habe der Vorsteher der Wiener Fleischhauergenossenschaft Georg Hütter angebliche »Gerüchte« bestritten , wonach die Wiener Fleischer eine Großschlächterei befürworteten : »Ein Gerücht , offenbar von böswilliger Seite verbreitet , macht gegenwärtig in Fleischhauerkreisen die Runde. Nach demselben soll sich der Vorsteher der Wiener Fleischhauer-Genossenschaft Herr Hütter mit dem Gedanken tragen , eine Großschlächterei zu gründen. Diesem Gerüchte wird sogar durch die Circulation von gedruckten Zetteln Nachdruck verliehen , auf welchen die Namen der ›Gründer‹ dieser Großschlächterei verzeichnet sind. Wir sind demgegenüber ermächtigt auf das Bestimmte zu erklären , dass an diesem Gerüchte selbstverständlich kein wahres Wort ist und jeder Grundlage entbehrt.« N. N. ( 14. 3. 1900 ): Ein Gerücht , S. 4.

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Wiener Fleischer hingegen wähnten die Einführung der Großschlächterei als einen Angriff auf das bestehende , überwiegend kleinbetrieblich organisierte Fleischergewerbe , das die Reformer radikal und rücksichtslos auf Kosten der handwerklichen Selbständigkeit der Fleischer umstrukturierten. Dieser kommunalpolitische Anspruch kollidierte mit ihrer Vorstellung vom Fleischergewerbe , das »dem Geiste der berufsständischen Wirthschaftsordnung«30 verpflichtet war. Aussagen wie die des stellvertretenden Sekretärs in der Handels- und Gewerbekammer Eugen Schwiedland , der in einem »Vorbericht über die Frage der Einführung der Großschlächtereien in Oesterreich« das Wohl des einzelnen Fleischers dem städtischen Interesse unterordnete und bemerkte , dass »allein die Sicherung der Existenz fachlich unfähiger Elemente [ … ] nicht den Gegenstand dieser Erörterung bilden [ kann ]«31 , vergrößerten das Misstrauen der Fleischer gegenüber der kommunalen Verwaltung und Politik und verstärkten zugleich das Bedürfnis nach Abgrenzung. Wiener Fleischer forderten daher , »daß der Gewerbestand das verfassungsmäßige Recht erhält , seine beruflichen Geschäfte unter Fernhaltung jedes fremden Eingriffes selbständig zu erledigen«.32 Als fremd klassifiziert wurden Versuche , die die Ganzheitlichkeit des Handwerks infrage stellten. Fleischer argumentierten , dass die kleinbetriebliche Arbeitsorganisation traditionell sei. Der Status quo wurde für sie zum einen zu einer unverrückbaren Selbstverständlichkeit , indem Fleischer das Gewerbe als Organismus imaginierten und gegenüber der als moderne Maschine kritisierten Großschlächterei abgrenzten. Sie beschrieben das Gewerbe als einen »Wirthschaftskörper«33 , sprachen von dessen »Lebensfähigkeit«34 und »Kraft«35 und bezeichneten die Reformambitionen der städtischen Behörden und den Einfluss finanzkapitalistischer Interessen als Entwicklungen , die sie in den »Massen-Selbstmord treiben«36 und »unser ganzes Gewerbe zum Tode verurtheilen«.37 Zum anderen gelang es dem genossenschaftlich organisierten Handwerk mit dem »Gesetz vom 15. März 1883 betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung«38 und der damit verbundenen Einführung des sogenannten Befähigungsnachweises , Kompetenzen zurückzuerobern , die es im Zuge der 30 N. N. ( 1895 ): Verhandlungen , S.  2. 31 Schwiedland ( 1896 ): Vorbericht , S.  40. 32 N. N. ( 1895 ): Verhandlungen , S.  2. 33 Ebd. , S. 13. 34 Ebd. , S. 34. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. Gesetz ( 15. 3. 1883 ), betreffend die Abänderung , S. 113–142.

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Gewerbeordnung von 1859 an kommunale Instanzen hatte abtreten müssen. Fleischhauerei und Fleischselcherei wurden zu »handwerksmäßigen Gewerben« erklärt , »bei denen es sich um Fertigkeiten handelt , welche die Ausbildung im Gewerbe durch Erlernung und längere Verwendung in demselben erfordern und für welche diese Ausbildung in der Regel ausreicht«39. Inhalt und Dauer der Ausbildung bestimmte fortan die Genossenschaft , deren Mitgliedschaft verpflichtend war.

Der Deutungshorizont: »Fortschritt« und »Moderne« Neben finanziellen Argumenten und gegenseitigem Misstrauen war es vor allem die Unvereinbarkeit unterschiedlicher Vorstellungen von »Fortschritt« und »Moderne«, die Kompromissen zwischen Fleischern und reformorientierten Politikern im Wege stand. Für Letztere standen beide Begriffe stellvertretend für das politische Konzept einer sich herausbildenden »Leistungsverwaltung«40 , die auf ein koordiniertes Zusammenspiel einzelner kommunaler Strukturelemente durch eine intervenierende und regulierende Politik abzielte und die Fleischer als ausschließend und desintegrativ erfuhren. Kommunalpolitische Reformer bezogen den Begriff Moderne im Bereich des Fleischergewerbes auf das Arbeiten , die Arbeitsorganisation und die Arbeitenden. Arbeit sollte »übersichtlich«41 , »rationell«42 und »effizient«43 gestaltet und partikulare Interessen sollten dem übergeordneten Ziel städtischer Bedürfnisse untergeordnet werden. Mit der Zentralisierung , Rationalisierung und Disziplinierung der 39 Ebd. , Artikel II , I. Hauptstück , A. Allgemeine Bestimmungen , 1. Eintheilung der Gewerbe , § 1 , S. 113–114. 40 Wehler ( 2006 ): Deutsche Gesellschaftsgeschichte , S. 511. 41 WStLA ( 16. 6. 1904 ): Bericht und Antrag des Stadtrats Vinzenz Wessely , Errichtung eines städtischen Übernahmsamtes und einer städtischen Großschlächterei , S. 4 ; ebd. ( 28. 10. 1902 ): Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 12 ; ebd. ( 1900 ): Marktkommissär Karl Philipp , Programm für die Errichtung einer Großschlächterei , S. 8. 42 Ebd. : Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 6 und 11 ; ebd. ( 1900 ): Marktkommissär Karl Philipp , Programm für die Errichtung einer Großschlächterei , S. 8 und 33–34 ] ; ebd. ( 1897 ): Referat des Stadtrats Vinzenz Wessely betreffend die Errichtung einer städtischen Großschlächterei in Verbindung mit einem städtischen Übernahmsamte und einer städtischen Vieh- und Fleischmarktcassa , 1897 , S. 2 ; Schwiedland ( 1896 ): Vorbericht , S. 2. 43 WStLA : Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 2 ; ebd. ( 1900 ): Marktkommissär Karl Philipp , Programm für die Errichtung einer Großschlächterei , S. 2.

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Arbeit als Folge des Schlachthauszwanges und im Zuge der fortschreitenden Trennung von Tierschlachtung und Fleischverarbeitung gelang es der kommunalen Verwaltung auch tatsächlich , die Fleischversorgung und das Fleischer­ gewerbe dahin gehend neu zu organisieren.44 Modernisierung erforderte zudem eine verstärkte Qualifizierung und die Bereitschaft der Fleischer , unternehmerisch zu denken und zu handeln. Neben fachlichen Kompetenzen sollten die unternehmerischen Subjekte auch »jene moralischen und geistigen Eigenschaften besitzen , welche die Bildung blühender Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften stets erfordert«45 , wie Eugen Schwiedland bemerkte. Während die städtischen Behörden Moderne und Fortschritt häufig synonym verwendeten , kontrastierten die Wiener Fleischer die Begriffe. Sie knüpften Fortschritt an das Ideal einer berufsständischen Organisation der Arbeit , die sie von der Moderne bedroht sahen und zugleich als wirkungsmächtiges Mittel gegen den Dämon der modernen Zeit propagierten. Der Obmann der Wiener Fleischhauergenossenschaft Franz Schindler imaginierte eine zünftige Ge­ werbeverfassung als Ideal der Zukunft und erachtete Österreich für die Einführung einer solchen als prädestiniert , »da nur in diesem Staatswesen noch brauchbare Reste der alten ständischen Ordnung erhalten geblieben sind«46. Denn , so Schindler weiter , in anderen Staaten habe die Moderne ihre »Zersetzungs- und Auflösungsarbeit etwas gründlicher durchgeführt als bei uns , weshalb wir es leichter hatten , die Grundmauern für den Wiederaufbau des ständischen Wesens wieder aufzufinden«47. Moderne erfuhren Fleischer folglich als ein von außen der gegenwärtigen Organisation ihres Gewerbes oktroyiertes , bedrohliches politisches Konzept. Demgegenüber koppelten sie Fortschritt an eine in die Zunftzeit zurückreichende Gewerbeverfassung , die sie als natürlich gewachsen und als ein Spezifikum Österreichs bezeichneten.48 Diese Verortung ihrer Vorstellung vom Handwerk innerhalb eines nationalen Rahmens widersprach der Auffassung der städtischen Behörden , die die Entwicklungen im Wiener Fleischergewerbe als Folge von Urbanisierungsprozessen , mit denen alle europäischen Großstädte konfrontiert seien , interpretierten.49 Das Spannungsverhältnis zwischen Nationalisierung und Internationalisierung von Problemlagen bildete einen zentralen 44 Vgl. Nieradzik , Lukasz : Der Wiener Schlachthof St. Marx 1851–1914 : Transforma­tion einer Arbeitswelt [ laufendes Dissertationsprojekt , Institut für Europäische Ethnologie , Universität Wien ]. 45 Schwiedland ( 1896 ): Vorbericht , S.  40. 46 N. N. ( 1895 ): Verhandlungen , S.  38. 47 Ebd. 48 Ebd. , S. 37–38. 49 Vgl. WStLA ( 1900 ): Marktkommissär Karl Philipp , Programm für die Errichtung einer Großschlächterei , S. 16.

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Widerspruch in den Auseinandersetzungen zwischen Fleischhandwerkern und kommunalpolitischen Handlungsträgern Ende des 19. Jahrhunderts. Wie die Kommunalisierung städtischer Lebens- und Arbeitswelten beschrieben die Befürworter der Großschlächterei deren Einführung nicht als Gegenstand einer bewussten Entscheidung , sondern als eine historische Zwangsläufigkeit. Aus dieser teleologischen Perspektive , der zufolge »die Großschlächterei nach westeuropäischem Typus sich in Wien von selbst entwickeln wird«50 , zögerten deren Gegner eine unvermeidbare Entwicklung lediglich hinaus. Während Gegner der Großschlächterei aus den Reihen des Fleischerhandwerks folglich Fortschritt darin sahen , Reformen nach einem imaginierten Ideal vergangener Zeiten auszurichten , war für die städtischen Behörden Fortschritt untrennbar an den Begriff der Moderne gebunden. Diese Unvereinbarkeit unterschiedlicher Sichtweisen stellte eine Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen dar , die Kompromisse erheblich erschwerte.

Die Auswirkung: Klassenbildung Reformbefürworter warfen den städtischen Fleischhauern und Fleischselchern ein unreflektiertes Beharren auf dem Gestrigen in Zeiten strukturellen Wandels vor , was zum Niedergang des Fleischerhandwerks führen werde. Doch im Gegensatz hierzu erlangte das Handwerk mit der Gewerbenovelle von 1883 sogar verlorene Kompetenzen wieder und bildete eine eigene Identität als gesellschaftliche Klasse51 heraus. Wie der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Ernst Bruckmüller bemerkt , wurden Traditionsbewusstsein und Stolz auf die eigene handwerkliche Arbeit durch Festumzüge , die Gründung eigener Archive , die Einführung neuer Genossenschaftsfahnen und die Herausgabe von Festschriften verstetigt und öffentlich kommuniziert.52 So gab die Wiener Fleischhauergenossenschaft 1912 eine »Festschrift [ … ] zur Dreihundertjahrfeier der kaiserlichen Wiederbestätigung der alten Wiener Fleischhauer-Privilegien«53 heraus , die »auf die hervorragende Stellung , welche das Fleischergewerbe in der Approvisionierung unserer Stadt seit dem Mittelalter einnahm«54 , verwies und betonte , »daß die Wiener Fleischhauerschaft seit jeher einen bedeutsamen 50 Schwiedland ( 1896 ): Vorbericht , S.  38. 51 Der Klassenbegriff ( im Sinne Pierre Bourdieus ) wird hier anderen Termini wie soziale Gruppe oder soziales Milieu vorgezogen , da er treffender als jene auf die ( objektiven ) Lebensbedingungen sowie den spezifischen ( Klassen-)Habitus und Lebensstil des genossenschaftlichen Fleischerhandwerks verweist. 52 Vgl. Bruckmüller ( 1985 ): Sozialgeschichte Österreichs , S. 388–389. 53 Wiener Fleischhauergenossenschaft ( 1912 ): Festschrift. 54 Fajkmajer ( 1912 ): Vorwort , S.  11.

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und mächtigen Faktor innerhalb der Wiener Bürgerschaft gebildet hat«55. Die Autoren stellten Vaterlandsliebe und Kaisertreue als einen historisch konstanten Charakterzug der Wiener Fleischer dar. Sie verwiesen auf finanzielle »patriotisch[ e ] Spende[ n ]«56 der Genossenschaft beziehungsweise der Innung in Kriegszeiten , erinnerten an den Fleischhauer Josef Ettenreich , der im Februar 1853 ein Attentat auf Kaiser Franz Joseph I. vereitelte ,57 und huldigten der Mo­ narchie mit ihren Teilnahmen an Festumzügen bei bestimmten Jubiläen.58 Derartige Inszenierungen von Geschlossenheit des Handwerks und Loyalität gegenüber der Monarchie stärkten das Bewusstsein , einer bestimmten sozialen Gruppe und Berufsklasse anzugehören , und präsentierten das Fleischerhandwerk nach außen als Einheit. Innerhalb eines von den politischen Handlungsträgern gewährten Rahmens erlangte die Genossenschaft über das handwerkliche Fleischergewerbe eine gewisse Handlungsautonomie , die ­eine soziale Hierarchisierung nach innen begleitete. Wie in der Zeit vor Einführung der Gewerbefreiheit ( 1859 ) wurden Meistersöhne gegenüber anderen Lehrlingen und Gesellen wieder vielfach privilegiert. Tendenziell war es für sie leichter , selbständig zu werden , in den Meisterstand aufzusteigen oder die Ausbildungszeit zu verkürzen. Mit Gründung des »Klubs der Wiener Fleischhauersöhne« 1890 sollte zudem die Reproduktion der Genossenschaft institutionalisiert werden.59

Die Erkenntnis: Urbanisierung als Motor Obwohl es dem genossenschaftlich organisierten Fleischerhandwerk gelungen war , sich die gewerbepolitischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen anzueignen und sich als soziale Klasse zu konstituieren , zeigt letztlich die Gründung einer privatkapitalistischen Großschlächterei den Vorrang versorgungspolitischer Prämissen gegenüber berufsständischen Bedürfnissen. Bereits im April 1896 bemerkte die Handels- und Gewerbekammer : Sollte dies [ eine genossenschaftlich organisierte Großschlächterei , L. N. ] nicht erreichbar sein , das nöthige Capital aber von anderer Seite dargeboten werden , so wäre auch die Bildung einer Großschlächterei auf dieser Basis zu fördern.60 55 Ebd. 56 Saborsky ( 1912 ): Der silberne Ochse , S. 76. 57 Vgl. Wiener Fleischhauergenossenschaft ( 1912 ): Festschrift , o.S. 58 Vgl. Dadletz u. a. ( 1912 ): Das Fleischhauergewerbe , S. 97. 59 Vgl. ebd. , S. 104. 60 WStLA ( 9. 4. 1896 ): Bericht der IV. Section über die Frage von Großschlächtereien in Oesterreich. Vgl. ebd. ( 1902 ): Bericht des Marktdirektors Karl Kainz betreffend die Frage der Errichtung einer Großschlächterei , S. 11.

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Die Gründung der »Ersten Wiener Großschlächterei-Actiengesellschaft« 1905 erwies sich für die Stadt Wien schließlich als eine attraktive Lösung , da zum einen das Grundkapital in Höhe von fünf Millionen Kronen zu 4 /  5 aus privater Hand61 kam und die Gemeinde sich an dieser Unternehmung »nur« mit einer Millionen Kronen beteiligen musste. Zum anderen waren ihr weitreichende Befugnisse im Geschäftsbetrieb eingeräumt worden.62 Die AktienGroßschlächterei errichtete zudem in jedem Wiener Gemeindebezirk Verkaufsstellen für den Kleinverkauf von Fleisch , wo es zu einem niedrigeren Preis als an den Ständen der Fleischhauer angeboten werden sollte.63 Mit Übernahme des Detailverkaufs hatte sich die Befürchtung der Fleischer bewahrheitet , durch eine unausgewogene Konkurrenz beruflich degradiert zu werden. Aber auch die Durchsetzungskraft und der Handlungsspielraum der Kommunalpolitik und -verwaltung hatten ihre Grenzen. Die Auseinandersetzungen um die Großschlächterei zeigen , wie sehr die Kommunalpolitik unter einem Handlungszwang großstädtischer Versorgungsherausforderungen stand und dass das Bestreben , Arbeit zu rationalisieren und berufliche Ausdifferenzierungs- und Auslagerungsprozesse zu verstärken , keinem Masterplan folgte. Vielmehr reagierten Gemeinderat und die Handels- und Gewerbekammer auf europaweite Probleme und Herausforderungen , die Urbanisierungsprozesse begleiteten und die sich konkret vor Ort in Gestalt von steigenden Fleischpreisen und einem stagnierenden Fleischkonsum pro Kopf zeigten. Der Versuch , die Arbeitsverhältnisse im städtischen Fleischergewerbe durch die Einführung der Großschlächterei zu verbessern , brachte dabei letztlich nicht den erhofften Erfolg. Weder gelang es , die Fleischpreise zu senken noch den durchschnittlichen Fleischkonsum pro Kopf zu steigern. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte die Aktien-Großschlächterei  – das Jahr 1908 ausgenommen  – finanzielle Verluste. Friedrich Kardosi , ein Kenner des Wiener Fleischergewerbes , stellte 1913 ernüchtert fest , dass es »ihr bisher weder gelungen 61 Erzherzog Josef beteiligte sich mit drei Millionen , die k. k. private österreichische Länderbank und die Aktiengesellschaft für chemische Industrie mit jeweils einer halben Million Kronen. Vgl. Felling ( 1909 ): Die Fleischversorgung , S. 53 ; WStLA ( 17. 12. 1904 ): Protokoll über die im Bureau der Magistrats-Direktion stattgefundene Besprechung , betreffend die Errichtung einer Aktien-Großschlächterei. Das Kapital von fünf Millionen Kronen wurde in 25. 000 Aktien à 200 Kronen zerlegt und sollte »sukzessive durch Ausgabe von weiteren bar und voll eingezahlten Aktien à K 200.- auf K 10,000. 000 [ … ] erhöht werden«. Ebd. ( 1905 ): Statuten der Ersten Wiener Großschlächterei-Aktiengesellschaft , S. 6 , II. Abschnitt , § 7. 62 Vgl. ebd. , S. 9 , 11 , 18 und 29 ; ebd. ( 17. 12. 1904 ): Protokoll vom 17. Dezember 1904 über die im Bureau der Magistrats-Direktion stattgefundene Besprechung , betreffend die Errichtung einer Aktien-Großschlächterei , 5. Leistung der Gemeinde ; Lindemann ( 1909 ): Städtische Einrichtungen , S. 499. 63 Vgl. ebd. , S. 4. Preisbestimmung.

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[ war ] , das Fleisch billiger zu machen , noch auch nur eine weitere Steigerung der Fleischpreise hintanzuhalten«64. Nicht nur die Fleischer fürchteten folglich den Dämon der Zeit. Auch die städtischen Behörden hatten infolge der Urbanisierung das Problem zu meistern , die Versorgung der wachsenden Großstadt zu gewährleisten. Sowohl Fleischer als auch kommunalpolitische Reformer waren mit den Verhältnissen im Wiener Fleischergewerbe unzufrieden , auch wenn sie diese Umstände ganz unterschiedlich interpretierten , bewerteten und jeweils andere Strategien der Problembewältigung favorisierten. Entscheidend für den Konfliktausgang , also die Gründung der Aktien-Großschlächterei , waren aber nicht soziale Kräfteverhältnisse , Handlungsspielräume oder Kapitalien. Ausschlaggebend dafür waren ein drastisches Bevölkerungswachstum durch wachsende Urbanisierung und die damit zusammenhängenden neuen Bedarfslagen sowie Herausforderungen an eine massenhafte und hygienische Tierschlachtung und Fleischproduktion.

QUELLEN Dadletz , Leopold /  Schedl , Heinrich ( 1912 ): Das Fleischhauergewerbe und die Genossenschaft nach Einführung der Gewerbeordnung. In : Wiener Fleischhauergenossenschaft : Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a. a. O. , S. 87–124. Fajkmajer , Karl ( 1912 ): Vorwort. In : Wiener Fleischhauergenossenschaft : Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a. a. O. , S. 11. Gesetz ( 15. 3. 1883 ), betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung. Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder XII /  39 , S.  113–142. N. N. ( 1895 ): Verhandlungen des Ersten österreichischen Fleischhauer- und Fleisch­ selcher-Tages , abgehalten am 23. , 24. und 25. Mai 1895 in Wien. Wien. N. N. ( 14. 3. 1900 ): Ein Gerücht. In : Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung 11 , S. 4. N. N. ( 8. 3. 1901 ): Eine Interpellation im Wiener Gemeinderathe. In : Wiener Fleischhauer- und Fleischselcher-Zeitung 20 , S. 3–4. Österreichisches Statistisches Zentralamt ( 1979 ): Geschichte und Ergebnisse der ­zen­tralen amtlichen Statistik in Österreich 1829–1979. Tabellenanhang. Wien. Saborsky , Albert ( 1912 ): Der silberne Ochse im k. u. k. Heeresmuseum. In : Wiener Fleischhauergenossenschaft : Festschrift der Wiener Fleischhauergenossenschaft a. a. O. , S.  75–78. Schwiedland , Eugen ( 1896 ): Vorbericht über die Frage der Einführung der Großschlächtereien in Oesterreich. Im Auftrage des Kammer-Präsidiums. Handels- und Gewerbekammer in Wien. Wien. Wiener Fleischhauergenossenschaft ( 1912 ): Festschrift der Wiener Fleischhauer­ genossenschaft zur Dreihundertjahrfeier der kaiserlichen Wiederbestätigung der alten Wiener Fleischhauer-Privilegien. Wien. 64 Kardosi ( 1913 ): Wirtschaftspolitische Kritik , S. 71.

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WStLA ( W iener Stadt- und Landesarchiv ), 1. 1. 12.A2 / 1 , 18 , G ( 4. Teil ), Großschlächterei.

LITERATUR Bloch , Ernst ( 1962 ): Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt am Main [ Original : 1935 ]. Bruckmüller , Ernst ( 1985 ): Sozialgeschichte Österreichs. Wien /  München. Elias , Norbert ( 1999 ): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen , 2 : Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. 22. , neu durchgesehene und erweiterte Auflage , Frankfurt am Main [ Original : Basel 1939 ]. Felling , Wilhelm ( 1909 ): Die Fleischversorgung der Stadt Wien unter besonderer Berücksichtigung der ersten Wiener Grossschlächterei-Aktien-Gesellschaft und des städtischen Übernahmsamtes. Aschaffenburg. Kardosi , Friedrich ( 1913 ): Verkehrswirtschaftliche Wechselwirkungen im Wiener Fleischergewerbe. Wien. Kardosi , Friedrich ( 1913 ): Wirtschaftspolitische Kritik der Wiener Fleisch-Versorgung. Zürich. Lindemann , Hugo ( 1909 ): Städtische Einrichtungen für Lebensmittelversorgung. In : Sozialistische Monatshefte 13 /  8 , S. 495–501. Rella , Attilio ( 1899 ): Die Assanierung der Städte in Oesterreich-Ungarn 1848–1898. In : Zeitschrift des Oesterreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines 51 / 17 , S. 273–282. Sandgruber , Roman ( 1980 ): Konsumgüterverbrauch und Alltagskultur im Österreich des 18. und 19. Jahrhunderts. Wien. Steidl , Annemarie ( 2003 ): Auf nach Wien ! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt. München. Wehler , Hans-Ulrich ( 2006 ): Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914. 3 , 2. Auflage. München. Weyl , Theodor ( Hg. ) ( 1900 /  02 ): Die Assanierung der Städte in Einzeldarstellungen 1 / 1. Paris /  L eipzig und 1 /  2. Wien /  L eipzig.

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INFORMATIONSVERMITTLUNG IM 18. JAHRHUNDERT DAS WIENER FRAG- UND KUNDSCHAFTSAMT1 Die großen europäischen Metropolen Paris und London erlebten im 17. Jahrhundert die Gründung sogenannter Adressbüros , die als Stätten der institu­ tionalisierten Informationsvermittlung dienten und den Austausch von Gütern , Immobilien und Arbeitsgelegenheiten befördern sollten.2 Als erste bekannte Einrichtung dieser Art wurde 1630 in Paris nahe Notre-Dame das »Bureau d’adresse« installiert ; es entstand auf Betreiben des aus Montpellier stammenden Arztes Théophraste Renaudot ( 1586–1653 ) und übernahm eine Reihe von unterschiedlichen Aufgaben : Es fungierte nicht nur als Verkaufsagentur , Immobilien- und Arbeitsvermittlung , sondern diente darüber hinaus als Pfandhaus , als Stätte der medizinischen Betreuung für Arme sowie als Veranstaltungsort für gelehrte Vorträge , den »conférences du Bureau d’adresse«. Wer auch immer ein Anliegen vorbrachte , konnte dieses gegen Bezahlung einer Gebühr von drei Sous in ein Register eintragen lassen ; gegen Bezahlung einer ebenso hohen Summe wurde wiederum aus dem Register Auskunft gegeben. Von Zeit zu Zeit wurden die Registerauszüge in Form von Annoncen in einem eigenen Anzeigenblatt , dem »Feuille du Bureau d’Adresse« publiziert ; Artikel über politische Begebenheiten veröffentlichte der Informationsexperte Renaudot ab 1631 in der Zeitung »Gazette«.3 In London wiederum wurden ab Mitte des 17. Jahrhunderts vergleichbare Einrichtungen gegründet , die als »intelligence« oder »registry offices« bezeichnet wurden und vorwiegend der Vermittlung von Waren sowie Dienstboten und Dienstbotinnen gewidmet waren. Sie gaben Anzeigenblätter heraus und siedelten sich oft in der Nähe der Warenbörse , der »Royal Exchange«, an.4 Es ist eine Reihe von Fragen , die diese Adressbüros aufwerfen , die sich aber auf Basis der bislang ermittelten , spärlichen Quellen noch nicht hinreichend beantworten lassen. So stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Adressbüros zu den traditionellen InformationsvermittlerInnen , wozu gerade bei der 1 2 3 4

Eine modifizierte Fassung dieses Beitrags erschien in : Wiener Geschichtsblätter  66 /  4 ( 2011 ), S.  313–342. Allgemein zu den Adressbüros vgl. Blome ( 2006 ): Adressbüro ; Tantner ( 2011b ): Adressbüros. Solomon ( 1972 ): Welfare ; Feyel ( 2 000 ): L’Annonce , S.  11–308 ; Stagl ( 2 002 ): Neugier , S. 175–190 ; Jubert ( 2005 ): Père. Beveridge ( 1914 ): Exchange ; George ( 1926–1929 ): History ; Harris ( 1997 ): Information ; ders. ( 1999 ): Notices ; Winkler ( 2008 ): Zeitung.

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DienstbotInnenvermittlung die sogenannten Zubringerinnen und Zubringer zählten. Dabei handelte es sich oft um ältere Frauen , die ein Spezialwissen über in den einzelnen Haushalten zu vergebende Dienststellen besaßen und denen oft vorgeworfen wurde , einmal vermittelte DienstbotInnen allzuschnell wieder abzuwerben , um nochmals Vermittlungsgebühr zu kassieren. Wie waren die Büros organisiert , handelte es sich um staatliche , städtische oder – dies war zumeist der Fall – um privat geführte , wenn auch mit einem Privileg versehene Einrichtungen ? Wer frequentierte die Adressbüros ? So waren nicht in jedem Fall Frauen als Kundinnen zugelassen , wie es überhaupt scheint , dass die Einrichtung der Adressbüros einherging mit einer »Vermännlichung« der Informationsvermittlung , das heißt einem bereits im 17. Jahrhundert feststellbaren Hinausdrängen der Frauen aus diesem Bereich. Wie funktionierte das Zusammenspiel der Adressbüros und der an ihren Ort bewerkstelligten Vermittlungstätigkeit mit anderen Medien im städtischen Kontext , namentlich den von Adress­büros zuweilen herausgegebenen Anzeigenblättern und den Einrichtungen der sogenannten »Kleinen«, also städtischen Post ? All diese Fragen bleiben für die künftige Forschung von Relevanz ; an dieser Stelle soll am Beispiel Wiens der Versuch geleistet werden , die Tätigkeit eines dieser Adressbüros anhand archivalischer und gedruckter Quellen zu beschreiben. Es handelt sich dabei um das nach verschiedenen erfolglosen Versuchen in der habsburgischen Metropole 1707 gegründete »Frag-Amt«, das spätestens ab 1721 auch als »Kayserliche[ s ] Frag- und Kundschaftsamt« bezeichnet wurde.5 Ursprünglich stand diese Einrichtung in engem Zusammenhang mit dem gleichzeitig eingerichteten Versatzamt – dem heutigen Dorotheum – und sollte der Finanzierung des seit 1693 in der »Alstergassen« ( heute Alser Straße ) erbauten großen Armenhauses dienen.6 Bereits 1701 hatte die u. a. für die Erschließung von Einnahmequellen für diese Einrichtung eingesetzte Groß-Armenhaus-Kommission den Wiener Bürgermeister und Stadtrat aufgefordert , eine Stellungnahme zum Plan der Schaffung eines Versatzamts abzugeben ; der daraufhin erstellte Bericht verwies auf bereits bestehende Leihhäuser in Amsterdam und Reichs- und Seestädten und schlug vor , das Armenhaus mit einem 5 6

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Wienerisches Diarium ( WD ), Nr. 1862 , 4. 6. –6. 6. 1721 ; Literatur zum Wiener Fragamt u. a. : N. N. ( 1893 ): Geschichte ; Duchkowitsch ( 1978 ): Absolutismus , S.  311–357 ; Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen. Darstellungen zur Gründung des Versatz- und Fragamts vgl. insbesondere : Weiss ( 1867 ): Geschichte , S.  123 ; Starzer ( 1901 ): Versatzamt , S.  9 f. ; Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen , S. 29 f. ; zum Großen Armenhaus vgl. auch die im niederösterreichischen Landesarchiv befindliche Chronik : Niederösterreichisches Landesarchiv , St. Pölten ( NÖLA ), NÖ Regierung , Diverse Protokollbücher – Protokolle in Großen Armenhaus-Sachen , Versatzamts-Sachen 1626–1808 , Nr. 64 /  8 : Gedenkprotokoll über Merkwürdigkeiten im Großen Armenhaus , undatiert.

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Privileg auf die Pfandleihe auszustatten , wobei der Prozentsatz auf das zur Verfügung gestellte Geld nicht mehr als sechs Prozent betragen sollte. Das Projekt war explizit gegen die traditionell von Juden und »aller orthen herumblauffende tändler weiber« betriebene Pfandleihe gerichtet , denen Wucher vorgeworfen wurde.7 Die Realisierung des Versatzamts sollte sich allerdings verzögern und wurde erst wieder unter der 1705 einsetzenden Regentschaft Josephs I. betrieben : Diesmal war die Rede von einem »allgemeine[ n ] Versaz- und Frag-Amt«, das nicht nur Pfandleihe betreiben , sondern das auch für interessierte Verkäufer »die zu verkaufen im Willen habende sowol liegende als fahrende Sachen ordentlich protocolliren« sollte.8 Im mit 14. März 1707 datierten Gründungs­ patent des Versatz- und Fragamts wurde der Tätigkeitsbereich des Fragamts ausführlicher beschrieben und als der einer Verkaufsagentur definiert : Wer auch immer Immobilien , »ein Gut , Hof , Hauß , Garten , Acker , Wiesen , Weingarten« oder aber andere Güter wie »Körner , Wein , Fässer , Holtz , Heu , Pferde , Wagen , Galanterie-Waaren , Musicalische Instrumenta , wie auch Spallier , Bilder , Bibliothecken« anzubieten hätte , müsste zu deren Verkauf nicht die teuren Dienste von Zubringern und Zubringerinnen in Anspruch nehmen , sondern könnte die Güter gegen Bezahlung von 17 Kreuzer »Schreib-Gelds« in »ein eigenes darzu absonderlich haltendes Protocoll« eintragen lassen. Wer nach diesen Angeboten suchen würde , könnte gegen eine ebenso hohe Gebühr – das »Aufschlag-Geld«  – in den entsprechenden Büchern nachschauen »und alle Umstände zu seiner Nachricht daraus [ … ] ersehen«. Sollte ein Kaufakt erfolgreich zustande kommen , erhob das Fragamt keine weiteren Gebühren ; die Parteien wurden nur gebeten , diesen zu melden , »damit das verkauffte Stück aus dem Protocoll wiederum abgethan werden möge«. Untergebracht war das Versatz- und Fragamt im Haus des niederösterreichischen Statthalters Ferdinand Karl Graf und Herr von Welz in der Annagasse ( heute : Haus der Musik ), geöffnet war es an Werktagen von 9 bis 11 und 14 bis 16 Uhr ; seine Tätigkeit aufnehmen sollte es mit 1. April 1707.9 An diesem Gründungspatent sind zweierlei Umstände auffällig : Zum einen , dass das Fragamt keine über die Tätigkeiten einer Verkaufsagentur hinausgehenden Dienstleistungen anzubieten gedachte , zum anderen , dass kein Anzeigenblatt erwähnt wurde. Das zu gründende Adressbüro blieb somit ohne gedrucktes Medium , einzig das im Amt aufbewahrte Protokollbuch sollte die 7 8 9

Wiener Stadt- und Landesarchiv ( WStLA ), Alte Registratur , A1 , Nr. 14 / 1701 : Bürgermeister und Rat der Stadt Wien an die niederösterreichische Regierung , 7. 6. 1701. NÖLA , NÖ Regierung , Normalien Kt.486 /  4730 Versatzamtnormalien 1707–1805 : Niederösterreichische Regierung an Kaiser Joseph I. , 7. 12. 1706 , f. 17 , r. Codex Austriacus III : Supplementum Codicis Austriaci ( … ), Leipzig 1748 , S. 531– 535 , Zitate S. 534 f. ; vgl. auch : WStLA , Patente , 1. Reihe , Nr. 1011 , 14. 3. 1707.

Das Wiener Frag- und Kundschaftsamt

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Transaktionen anbahnen. Vielleicht geschah dieser Verzicht aus Rücksicht auf das seit 1703 bestehende »Wien( n )erische Diarium«, vielleicht war auch von Anfang an eine Zusammenarbeit mit dieser Zeitung geplant , belegen lässt sich dies jedoch nicht. Sicher ist nur , dass die Eröffnung des Versatz- und Fragamts zwei Wochen nach Publikation des Patents im »Wien( n )erischen Diarium« angekündigt wurde , wobei auch das Dienstleistungsangebot des Fragamts Erwähnung fand : Wann sonsten auch einer sein Gut /  Hof /  Haus /  oder Grundstück /  item Körner /  Wein /  V iehe /  oder andere Sachen /  wie sie Nahmen haben /  verkauffen /  oder kauffen wolte /  der solle solches in dem Ambt anmelden / Alda selbiges in ein darzuhabendes Prothocolo /  gegen Bezahlung 17. Kreutzer Einschreib- oder AufsuchGeld /  eingetragen und männiglich zur Nachricht vorgewiesen werden solle.10

Erst ab 1715 kam es zu einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Versatzamt und »Diarium«: Letzteres veröffentlichte ab nun Listen von verfallenen , nicht ausgelösten Pfändern , die zur Versteigerung angeboten wurden.11

Die ersten Jahre Was nun das Fragamt in diesen ersten Jahren seines Bestehens anbelangt , so ist nicht bekannt , ob seine Dienste überhaupt in Anspruch genommen wurden. Als in den Jahren 1717 / 1718 ein gewisser Matthias Leeb , »Spörreinnehmer zum Stubenthor«, sein Projekt eines »allgemeine[ n ] Fragambt«, auch als »Universal Insinuations- oder VormerckhungsAmbt« bezeichnet , einreichte , betonte er , dass in den letzten elf Jahren »die Versatz , ohne dem Frag-Ambt frequentiret und prosequiret« worden wäre.12 An Leebs Projekt – das die üblichen Invektiven gegen den »höchst schädliche[ n ] Wucher , und Juden Handl« sowie die »lasterthaten deren Zuebring- und Kupler Leiten« nicht ausließ –13 ist bemerkenswert , dass es nicht nur wie das seit 1707 bestehende Fragamt Verkaufsvermittlung betreiben , sondern darüber hinaus weitere Dienstleistungen anbieten wollte : So sollten für »Condition und dienstsuchende Persohnen , sonderlich 10 WD Nr 382 , 30. 3. –1. 4. 1707. 11 Die erste erschien im WD Nr. 1216 , 27.–29. 3. 1715 ; vgl. Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen , S. 32 f. 12 Österreichisches Staatsarchiv , Wien ( ÖStA ), Finanz- und Hofkammerarchiv ( FHKA ), Verschiedene Vorschläge 102 : Ansuchen Matthias Leeb , undatiert , f. 39–76 , hier f. 54v. 13 ÖStA , FHKA , Verschiedene Vorschläge 102 : Ansuchen Matthias Leeb , undatiert , f. 76r.

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Sprach , Tanz und Fechtmeister , Schreiber , Handelsbediente und Jungen« Arbeit vermittelt werden und Reisenden sollte Auskunft über mögliche Begleiter und Abreisegelegenheiten gegeben werden ; Fremde , die ihre Anwesenheit bekannt machen sowie sich nach dem Aufenthaltsort anderer Personen oder überhaupt nach Neuigkeiten erkundigen wollten , konnten von Leebs Fragamt Hilfe erwarten.14 Leebs Vorhaben blieb unverwirklicht , war jedoch vielleicht der Anlass , dass 1718 im »Wienerischen Diarium« eigens an die Existenz des Fragamts erinnert und darauf verwiesen wurde , dass dieses künftig in den Veröffentlichungen des Versatzamtes »ohne Benennung des Namens« der einbringenden Person Verkaufsinserate abdrucken würde. Gleich im Anschluss an diese Erinnerung wurden einige der zum Verkauf anstehenden Güter mitsamt ihrem Preis angeführt , wobei es sich um Luxusgegenstände wie Uhren , Juwelen und Spiegel handelte.15 In der Folge wurde dieses Vorhaben allerdings nicht umgesetzt , und bis 1721 sind keine weiteren Aktivitäten des Fragamts dokumentiert.

Der »Relaunch« von 1721 In diesem Jahr wurde das Fragamt räumlich vom Versatzamt getrennt. Während Letzteres in der Annagasse blieb  – Versteigerungen nicht ausgelöster Pfänder fanden u. a. im Regensburger Hof am Lugeck statt –,16 übersiedelte das Fragamt in das Haus des niederösterreichischen Regimentsrats Prokop Gervasius Graf von Gollen ( † 1729 ) in der Weihburggasse. Dieser Ortswechsel wurde in einem eigenen , mit 21. April 1721 datierten Patent publik gemacht , in dem auch erwähnt wurde , dass sich seit der Gründung des Fragamts »gar wenige , auch in denen letztern Jahren gar keine Partheyen , hierum sich angemeldet« hätten und dass es wohl »in einige Vergessenheit verfallen« wäre.17 Wichtig war , dass das Fra14 ÖStA , FHKA , Verschiedene Vorschläge 102 : Ansuchen Matthias Leeb , undatiert , f. 51r-v. 15 WD , Nr. 1565 , 30. 7. –2. 8. 1718 ; Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen , S. 34 f. 16 Dies wird u. a. belegt durch eine Ankündigung in : WD , Nr. 68 , 26. 8. 1722. 17 Codex Austriacus IV : Supplementum Codicis Austriaci , Pars II , Wien 1752 , S. 7 f. Der weiteren Bekanntmachung dienten auch folgende , im WStLA ( Hauptarchiv Akten , Serie B , Nr. 1117 / 1710 ) aufbewahrte Drucke : Richt-Schnur /  So bey Ihro Römisch-Kayserlich- und Königlich-Catholischen Majestät Frag-Ambt /  Die Universal-Kundschafft /  ja fast eines jedwedern Negotii einzuführen und zu remonstriren zu jedermanns Nutzen und Beförderung entspringet , o. J. ( 1721 ); Auß dem Der Röm. Kays. Und Königl. Cath. Majestät Neu-auffgerichten Frag- und Kundschaffts-Ambt Wird hiemit Jedermänniglichen zu wissen /  und kund gethan , o. J. ( 1721 ); Kurtzer Innhalt und Unterrichtung Auß dem neu aufgerichteten UniversalKundschafft- und schrifftl. Niederlags-Ambt /  worinnen auß folgenden absonder-

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gamt ab nun mit dem »Wien( n )erischen Diarium« kooperierte und darin die sogenannten »Negotienlisten« veröffentlichte , wobei es sich um Registerauszüge der im Protokoll des Fragamts verzeichneten Einträge handelte. Die erste dieser Listen erschien am 4. Juni 1721 ;18 ab der zweiten Liste wurde zur leichteren Auffindung der Einträge im Protokollbuch diesen die Seitenzahl des Protokolls sowie eine Registernummer vorangestellt.19 Wer an einem der angebotenen Güter oder an Dienstleistungen interessiert war , konnte mit der Liste – dem »Blätl«20 bzw. den »Kundschafts-Blätteln«21 – zum Amt gehen und dort »sich nach denen ausgesetzten Nummern sein Begehren alsobald [ … ] aufschlagen lassen«.22 Die meisten der Einträge betrafen den Verkauf von beweglichen und unbeweglichen Gütern sowie den Verleih von Geld ; manchmal diente dabei das Fragamt auch als Ausstellungsstätte für die zu verkaufenden Waren : Einmal wurde eine Probe von Spalier und Leinsessel aus niederländischer Produk­tion gezeigt ,23 ein anderes Mal Tafelbilder.24 Zum Problem wurde , dass bald auch die vom Zwischenhandel lebenden Zubringer das Fragamt für ihre Zwecke zu benutzen versuchten : Diese boten nämlich jenen Parteien , die etwas zu verkaufen gedachten , an , die Eintragung in das Fragamtprotokoll zu übernehmen , worin nicht Name und Adresse des Besitzers vermerkt wurden , sondern die entsprechenden Angaben des Zwischenhändlers. Wollte nun jemand die betreffende Ware erwerben , wurde diese Person an den Zwischenhändler verwiesen ; der ursprüngliche Zweck des Fragamts , eben den alles verteuernden Zwischenhandel auszuschalten , wurde damit konterkariert , weswegen in einer Einschaltung des »Wienerischen Diariums« vor dieser Praxis gewarnt wurde.25 Eine weitere ungern gesehene Vorgangsweise der Unterhändler war , dass diese unter dem Vorwand , am Kauf einer Ware interessiert zu sein , die Angaben zu Person und Adresse des Verkäufers »arglistig erforsch[ t ]en« und sich daraufhin in den Abschluss der Geschäfte einzumischen versuchten ; eine eigene kaiserliche Resolution vom 18. September 1721 stellte diese Praxis unter Strafe.26 lich allhier inserirten Puncten /  zuersehen /  was Massen zu Nutzen und Frommen des gemeinen Wesen /  die sonsten zu machen habende schwere Unkosten /  grosse Speesen und langwierige Zeit-Trainirung aufgehoben ; hingegen die erspießliche Leichtigkeit des Handel- und Wandels allen Hoch- und Niedern Stands-Persohnen zu schleunigerer Beförderung hergestellet werden könne , o. J. ( 1725 ). 18 WD , Nr. 1862 , 4. 6. –6. 6. 1721 ; vgl. Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen , S. 38 f. 19 WD , Nr. 1866 , 18.–20. 6. 1721. 20 WD , Nr. XVIII , 4. 3. 1722. 21 WD , Nr. 24 , 22. 3. 1724. 22 WD , Nr. 85 , 23. 10. 1723. 23 WD , Nr. 52 , 29. 6. 1726 24 WD , Nr. 94 , 24. 11. 1723. 25 WD , Nr. 1868 , 25.–27. 6. 1721. 26 WD , Nr. 1898 , 8.– 10. 10. 1721.

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Neu war , dass das Fragamt Arbeitsvermittlung anbot : Bereits in der zweiten , am 18. Juni 1721 veröffentlichten Negotienliste suchte eine Person darum an , als Hofmeister dienen zu können , während auch darauf verwiesen wurde , dass sich »3. getreue /  und aufrichtige Bediente [ … ] angemeldt« hätten , »worunter einer mit schönen Recommendation versehen« wäre. Überhaupt hätten »sich etwelche Personen /  welche bey Herrschaften / Als Secretarien /  und Hofmaistern zu dienen verlangen / Alhier angemeldt«.27 In Bezug auf die Dienstbotenvermittlung versuchte das Fragamt auch , polizeiliche Funktionen zu übernehmen : Schon 1722 wurden dienstsuchende Personen aufgefordert , Angaben über Alter , Geburtsort , Eltern , Vermögens­verhält­nisse und Fähigkeiten zu machen und weiters Führungszeugnisse und Empfehlungsschreiben einzubringen ; vom Fragamt würden sie im Gegenzug dafür eine schriftliche Bestätigung erhalten ;28 drei Jahre später wurde eine umfangreichere »Information- und Legitimations-Ordnung deren Condition-suchenden Partheyen« veröffentlicht , die nicht nur die genannten Bestimmungen enthielt , sondern auch potenzielle Dienstgeber dazu aufforderte , mündlich oder schriftlich bekanntzugeben , welchen Anforderungen die einzustellenden Dienstboten zu genügen hatten , wozu auch Angaben über die Körpergröße zählten. Weiters geht aus dieser Ordnung hervor , dass »Bemittelte« bei Anmeldung eine »Amts-Gebühr« in der Höhe von 100 Gulden 30 Kreuzer zahlen mussten , während »Unbemittelte« diesen Betrag erst später – nach erfolgter Vermittlung – zu bezahlen hatten.29 Zumindest in einem Fall ist dokumentiert , dass im Fragamt auch Briefe hinterlegt werden konnten : So wurde im März 1726 ein gewisser aus Basel gebürtiger Johann Nicola Stupanus zweimal mittels Veröffentlichung im Kundschaftsblatt dazu aufgerufen , sich im Amt anzumelden , um einen Brief abzuholen.30 Das im Fragamt aufliegende Protokoll und die teils dem »Wienerischen Diarium« beigelegten , teils auch extra zum Preis von einem Kreuzer separat erhältlichen31 Kundschaftsblätter waren nicht die einzigen Medien , die das Fragamt zur Verzeichnung und Bekanntmachung der eingebrachten Anliegen verwendete : So gab es auch noch eine Anschlagtafel – die »Kundschafts-Taffel«32 – , die vor dem Amt aushing und auf der »alle eingehende Begehren und Anfragen mit verschwiegenen Namen [ … ] täglich angeheftet« wurden.33 Zusätzlich zum Kundschaftsblatt wurden weiters je nach Bedarf im Amt erhältliche Listen mit 27 28 29 30 31 32 33

WD , Nr. 1866 , 18.–20. 6. 1721. WD , Nr. II , 7. 1. 1722. WD , Nr. 40 , 19. 5. 1725. WD , Nr. 22 , 16. 3. 1726 ; WD , Nr. 26 , 30. 3. 1726. WD , Nr. XXIII , 21. 3. 1722. WD , Nr. 31 , 15. 4. 1724. WD , Nr. 85 , 23. 10. 1723

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zu vermietenden Zimmern sowie mit arbeitswilligen Dienstboten gedruckt ,34 die sich allerdings nicht erhalten haben. In den Jahren von 1721 bis 1728 wechselte das Fragamt relativ häufig seinen Ort ; erst als es spätestens Anfang April 1728 in die Räumlichkeiten des »Wienerischen Diariums« zog – diese befanden sich im Fleckhammer’schen Haus am Michaelerplatz gegenüber dem Hofballhaus35 – verstetigte sich sein Aufenthalt. Ob diese oftmaligen Übersiedlungen dem Geschäftsgang des Fragamts schädlich waren , ist schwer abzuschätzen ; das Kundschaftsblatt nahm im Laufe der 1720er-Jahre jedenfalls stetig an Umfang zu , und allein die Geschäftsvorgänge des Jahres 1721 füllten ein  – heute nicht mehr erhaltenes  – Verzeichnis im Umfang von fünf Druckbögen , dessen Erscheinen für den ­April 1722 angekündigt wurde. Es wurde als »Repertorium oder Haupt-Schlissel der Handl- und Wandls Anleitung« bezeichnet und sollte wohl die Leistungen des Fragamts dokumentieren und ihm neue Interessenten zuführen.36 Im »Wienerischen Diarium« wiederum wurden – nicht verwunderlich – Erfolgsmeldungen veröffentlicht : Ein »grosses Vergnügen« würden die Parteien an dem Amt zeigen , das »nichts anders / Als ein offentliche Universal-Handels- und Wandels-Gewölb ist /  wo alles durch schriftliche Specification mit Nutz und Vergnügen kann vernegotiiret werden«.37 Täglich , »ja fast stündlich« würden sich Interessenten anmelden , die Zeit gewinnen würden , da sie nicht mehr lange und gefahrvoll mit ihren Gütern hausieren gehen müssten und »alle[ n ] umschweiffige[ n ] Irr-Wege[ n ] aus[ … ]weichen« könnten.38 1725 , vier Jahre nach dem »Relaunch« des Fragamts , teilte das Fragamt mit , dass durch das Kundschaftsblatt »so viel hundert tausend und mehr Personen« gedient werden konnte.39 Generell lässt sich feststellen , dass sich seit 1721 das Fragamt vom Versatzamt zunehmend emanzipierte , dafür aber eine immer engere Verbindung mit dem »Wienerischen Diarium« einging , ein Prozess , der letztlich Anfang des 19. Jahrhunderts im gänzlichen Aufgehen des Fragamts in der Zeitung der Haupt- und Residenzstadt münden sollte. Das »Diarium« ( ab 1781 : »Wiener Zeitung«) war auf obrigkeitliche Initiative hin entstanden und per Privileg vom 10. Jänner 1702 dem Drucker Johann Baptist Schönwetter überlassen worden.40 1721 fiel dieses 34 35 36 37 38 39 40

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WD , Nr. 31 , 15. 4. 1724. WD , Nr. 27 , 3. 4. 1728. WD , Nr. II , 7. 1. 1722 ; WD , Nr. XXVII , 4. 4. 1722 WD , Nr. 1881 , 9.– 12. 8. 1721. WD , Nr. 85 , 23. 10. 1723. WD , Nr. 33 , 25. 4. 1725. Mayer ( 1887 ): Buchdrucker-Geschichte , Bd. 2 , S. 14 ; Duchkowitsch ( 1978 ): Absolutismus , S. 147–150 , 166 f.

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Privileg an den Drucker Johann Peter van Ghelen ( 1673–1754 ),41 der damit auch den Druck der Negotienlisten des Fragamts übernahm ; deren Umfang nahm in den Jahren bis 1728 stetig zu , wobei sie teils in unregelmäßigen Intervallen erschienen und für die Jahre 1721 bis 1727 nur unvollständig erhalten sind.42 Inwieweit Ghelen in diesen Jahren aktiv an der Gestaltung des Kundschaftsblatts beteiligt war , ist nicht bekannt.43 Sicher ist , dass das »Diarium« Anfang 1728 eine regelrechte Werbekampagne lancierte , um das Publikum  – wieder einmal – an die Existenz des »Kaiserl. Universal-Kundschaft- und Schriftlichen Niederlags-Amt[ es ]« zu erinnern ; zu diesem Zweck veröffentlichte es einen vier Seiten langen Anhang , in dem die Dienstleistungen des Amts aufgezählt wurden , wobei diesmal neben der Vermittlung des Verkaufs beweglicher und unbeweglicher Güter explizit auch Arbeitsvermittlung sowie Hilfestellung beim Geldwechsel und beim Ausfindigmachen verlorener und gestohlener Güter angeboten wurden. Bei der Verkaufsvermittlung wurde eigens erwähnt , dass diese auch anonym abgewickelt werden könnte , ohne dass sich die beiden kontrahierenden Parteien kennen müssten.44 In der Folge erschienen zumindest zwei , vielleicht auch drei Ausgaben des »Kundschafts-Blätl«, die dem »Diarium« beigelegt wurden und die Auszüge aus den Protokollen des Kundschaftsamts enthielten : Das Protokoll »Lit. A.« verzeichnete Immobilien , ein weiteres – »Lit. B.« – führte Buch über Personen , die Darlehen verlangten , und Protokoll »Lit.  C.« registrierte bewegliche Güter ; die einzelnen Einträge erhielten innerhalb des entsprechenden Protokolls fortlaufende Nummern. Ohne Erwähnung eines Protokolls wurden die Stellenanzeigen abgedruckt.45 Spätestens nach Erscheinen dieser Ausgaben wurde Ghelen »von einer hohen Obrigkeit« mit der »Administration« des Kundschaftsblatts betraut :46 Das nunmehr wieder unter seinem alten Namen firmierende »Frag- und Kundschaftsamt« übersiedelte endgültig in die Räumlichkeiten des »Wienerischen Diariums« am Michaelerplatz , und Anfang April 1728 veröffentlichte Letzteres

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Mayer ( 1 887 ): Buchdrucker-Geschichte , Bd. 2 , S.  14 f. , Anm. 58 ; Zenker ( 1903 ): Geschichte , S.  2 f. ; Duchkowitsch ( 1978 ): Absolutismus , S.  265–288 ; ÖStA , Haus- , Hof- und Staatsarchiv ( HHStA ), Reichshofrat ( RHR ), Impressorien , Kt. 63 , bei Konvolut I , Nr. 18 : Resolution Karls VI. an Johann Baptist Schönwetter , 22. 10. 1721. Zu Ghelen vgl. u. a. Frank u. a. ( 2008 ): Buchwesen , S. 77 f. Eine Aufstellung der erhaltenen Ausgaben 1721–1727 bei : Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen , S. 41–47. Duchkowitsch ( 1978 ): Absolutismus , S. 331. WD , Nr. 8 , 28. 1. 1728 , Anhang. WD , Nr. 9 , 31. 1. 1728 , Beilage ; WD , Nr. 10 , 4. 2. 1728 , Beilage ; Bobrowsky ( 1982 ): Intelligenzwesen , S. 49. WD , Nr. 52 , 30. 6. 1728.

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eine Ankündigung des Fragamts ,47 die diesmal das Erscheinen eines Intelligenzblatts unter dem Titel »Post-tägliche Frag- und Anzeigungs-Nachrichten /  des Kaiserl. Frag- und Kundschafts-Amt in Wien« ( PFAN ) avisierte. Der Titel dieses Blatts sollte sich in den folgenden Jahrzehnten seiner Existenz immer wieder leicht ändern , die bereits eingeführte Bezeichnung »Kundschaftsblatt« oder »Kundschaftsblättle« wurde allerdings weiter verwendet.48 Die »Frag- und Anzeigungsnachrichten« enthielten neben den Verkaufsanzeigen von beweglichen und unbeweglichen Gütern , Stellenanzeigen und Mitfahrgelegenheiten auch Steckbriefe , Vermisstenanzeigen sowie Verweise auf neu erschienene Bücher , zuweilen erfolgten auch Berichte über naturwissenschaftliche Phänomene oder aufsehenerregende Kriminalfälle ; veröffentlicht wurden bis in die 1770er-Jahre hinein auch Termine von religiösen Andachten. Nicht immer waren die Inhalte zwischen Kundschaftsblatt und »Diarium« trennscharf aufgeteilt : Das »Diarium« veröffentlichte weiter Anzeigen und es kam vor , dass manche Anzeigen sowohl im Kundschaftsblatt als auch im »Wienerischen Diarium« erschienen. So wurde z. B. ein Tafelbild von Paul Veronese – Die Erweckung Lazarus – in beiden Medien annonciert.49 Auch wurde zwischen dem »Diarium« und dem Fragamt nicht klar unterschieden ; als einmal eine Bibliothek zum Verkauf anstand , verkündete das Kundschafts47 WD , Nr. 27 , 3. 4. 1728. 48 Ab dem 3. 11. 1733 lautete der Titel : Wienerische Post-tägliche Anzeigung und Nachricht von allerhand Licitationen : Citationen : Besitzungen deren Grund-büchern : Convocationen und Tag-satzungen wegen Verlassenschaften und Anforderungen : verschiedene Notificationen : item von gestohlenen /  verlornen /  und gefundenen Sachen : Andachten in und vor der Stadt : von gelehrten Leuten und Sachen /  neu auskommenden Büchern /  Naturalien /  Maschinen /  und dergleichen Erfindungen : wie auch besonderen Begebenheiten und seltsamen Zufällen. Und letztlichen die Nachrichtliche Anzeigungen des Kaiserl. Frag- und Kundschaft-Amts in Wien /  von allerhand inner und ausserhalb der Stadt täglich zu kauffen /  und verkauffen oder zu vertauschen /  zu verleihen und lehnen vorkommenden /  Sachen /  sodann Personen /  welche lehnen und ausleihen wollen /  Bedienungen oder Arbeit suchen oder zu vergeben haben / Auch von Fuhrleuten /  Schif-leuten /  Reisenden /  etc. ( WPAN ); danach folgten noch mehrere kleinere Titeländerungen : 1747 bis zumindest 1765 hieß das Blatt Post-tägliche Anzeigung /  und Nachricht aus dem Kaiserl. Frag- und Kundschaft-Amt in Wien ( PAN ), ab spätestens 1773 Posttägliche Anzeige aus dem k. k. Frag- und Kundschaftsamte in Wien ( PA ). Jahrgangsweise zusammengebundene Ausgaben dieser Publikation befinden sich für 1728 und 1730–1754 sowie 1763–1765 , 1779 , 1794–1805 , 1807 , und 1809–1813 in der Wienbibliothek im Rathaus ( Signatur F 19. 111 , jeweils Beiband ); in der Österreichischen Nationalbibliothek ( ÖNB ) vorhanden sind darüber hinaus noch die Jahre 1772–1775 , 1780–1783 und 1785–1788 ( Signatur 1,005. 524-D , beigebunden ) sowie 1794–1799 ( Signatur 393.052-D.Alt , beigebunden ); vgl. Lang ( 2006 ): ORBI , Reihe 3 : Österreichische Zeitschriften 1704–1945 , Bd. 1 , S. 414–416 , 437 f. (= Nr. 3, 1 :686–689,731 ). 49 WD , Nr. 38 , 12. 5. 1728 , PFAN , Nr. 11 , 19. 5. 1728.

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blatt dies folgendermaßen : »Es ist eine Bibl[ i ]othec mehreren Theils guter Juristischer /  dann Historisch- und Politischen Büchern zu verkauffen /  wer darzu Lust hat /  k an sich bey dem Verleger des Diarii , oder bey dem Frag- und Kundschaft-Amt anmelden / Alwo der Catalogus zu lesen.«50 Die Einrichtungen Verlag des »Diariums« und Fragamt gingen demnach ineinander über ; die Begriffe scheinen synonym verwendet worden zu sein : Einmal mussten sich Interessenten für den Kauf eines Billards »um die weitere Nachricht davon in dem Kaiserl. Frag- und Kundschaft-Amt an[ … ]melden«51 , ein ander Mal , als knapp danach wieder ein Billard zum Verkauf anstand , mussten sich potenzielle Käufer »bey dem Verleger des Wienerischen Diarii [ … ] erkundigen«.52 Nur vereinzelt lassen sich Hinweise darauf finden , dass die Tätigkeit des Wiener Fragamts über die Redaktion des Kundschaftsblatts hinausging und dass manche Vermittlungstätigkeiten auch in den Räumlichkeiten des Fragamts stattfanden : So diente das Fragamt zumindest in den Anfangsjahren auch als Verkaufsstätte für manche der annoncierten Güter sowie als Abholort verlorener Gegenstände : 1731 konnten dort Lauten , neapolitanische Seife und eine Warzentinktur erstanden werden ;53 ein gefundener silberner Siegelstempel wiederum lag im Fragamt zur Abholung bereit.54

Pachtgebühren für das Fragamt In den ersten Jahrzehnten hatte Ghelen vermutlich keine Pacht für die Übernahme des Fragamts und den Druck des Kundschaftsblatts zu zahlen ; die einzige Leistung , die er dafür zu erbringen hatte , war die Besorgung unentgeltlicher Druckarbeiten für das Armenhaus und das Versatzamt.55 Erst nach seinem Tod am 19. September 175456  – Nachfolger wurde sein Sohn Johann Leopold Edler von Ghelen ( 1708–1760 ) – sollte sich dies ändern : Im darauffolgenden Jahr leitete Maria Theresia eine Untersuchung des Versatzamts ein , in deren Zuge der Versatzamtsbuchhalter Joseph Balthasar Dechau damit beauftragt wurde , mit Johann Leopold Edlen von Ghelen einen Pachtvertrag über das Fragamt zu schließen. Letzterer wurde vor die Alternative gestellt , zusätzlich zu den unentgeltlichen Druckarbeiten 100 Gulden jährlich an das Versatzamt zu zahlen oder aber anstel50 51 52 53 54 55

PFAN , Nr. 52 , 9. 10. 1728. PAN , Nr. 41 , 23. 5. 1750. PAN , Nr. 46 , 10. 6. 1750. PFAN , Nr. 36 , 5. 5. 1731. PFAN , Nr. 47 , 13. 6. 1731. NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): Vortrag der Hofkommis­sion in Stiftungssachen , 7. 11. 1758. 56 Mayer ( 1867 ): Buchdrucker-Geschichte , Bd. 2 , S. 21.

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le der Druckarbeiten eine jährliche Pachtsumme von 400 Gulden zu begleichen ; sollte er nicht einwilligen , würde das Kundschaftsblatt versteigert werden. Ghelen reagierte darauf , indem er die schlechte finanzielle Situation des Kundschaftsblatts beklagte : Er legte eine Übersicht der für das Kundschaftsblatt anfallenden Einnahmen und Ausgaben vor , gemäß der die Produktion des Blatts ein Verlustgeschäft war : Den aus Abonnement- ( 72 Exemplare ) und Handverkauf ( 6 bis 8 Exemplare ) erwirtschafteten Erlösen in der Höhe von jährlich 310 Gulden stünden Ausgaben in der Höhe von 326 Gulden jährlich gegenüber. Allein für den Setzer wären 150 Gulden zu veranschlagen , während für den Buchhalter – er hieß Joseph Schäringer – 100 Gulden anfielen. Ghelen beschäftigte auch einen eigenen »Übergeher«, der »die Edicten und andere Publicationen von denen Anschlags-Orten überall ab[ zu ]schreib[ en ] , und ein[ zu ]liefer[ n ]« hatte und jährlich 26 Gulden erhielt ; die restlichen 50 Gulden entfielen auf Papier und sonstige Materialkosten. Die Herausgabe des Kundschaftsblatts – das ohnehin »ausser einigen Tandlern und Juden fast Niemand sonst sich anzuschaffen pfleg[ en ]« würde – wäre eine Last , weswegen bereits der verstorbene Johann Peter van Ghelen mehrmals erwogen hätte , dieses einzustellen.57 Es gab allerdings einen Beweggrund finanzieller Natur , der bei der Aufstellung der Einnahmen fehlte , nämlich die aus den Einschreibgebühren für die Protokollierung der Einträge in den Registern des Fragamts erzielten Erlöse sowie allfällige Gebühren , die Ghelen für die Einrückung von Annoncen in das Kundschaftsblatt verlangte. Die Höhe dieser Einnahmen ist unbekannt ; Versatzamtbuchhalter Dechau war jedenfalls der Ansicht , dass das »Kundschafts-Amt einen namhaften Gewinn jährlich ertragen müste«.58 Schließlich einigten sich die Kontrahenten in einem am 16. Jänner 1759 geschlossenen , für zehn Jahre gültigen Vertrag darauf , dass Ghelen 50 Gulden Pacht im Jahr an das Versatzamt zu zahlen und weiter gratis Druckarbeiten für Versatzamt , Armenhaus und Holzaufschlagamt zu leisten hatte.59 57 NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): Johann Leopold Edler von Ghelen an NÖ Repräsentation und Kammer , pr. 6. 11. 1758 ; vgl. auch die Darstellung bei Duchkowitsch ( 1978 ): Absolutismus , S. 348–357. 58 NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): Vortrag der Hofkommis­sion in Stiftungssachen , 7. 11. 1758 ; es ist nicht bekannt , ob das Kundschaftsblatt zusätzlich zu den Einschreibgebühren noch Insertionsgebühren verlangte ; in der ersten Ausgabe der »Posttäglichen Frag- und Anzeigungsnachrichten« war nur die Rede von den bereits 1707 festgelegten 17 Kreuzern für die Eintragung in das Protokoll : »ohne einem eintzigen ferneren Unkosten« würde dann das Anliegen im Druck bekannt gemacht werden. PFAN , Nr. 1 , 14. 4. 1728. 59 ÖStA , FHKA , Österreichischer Kommerz , Kt. 85 , Fasz. 35 Intelligenz- und Kundschaftsblätter 1763–1812 , f. 42–43 : Vertrag mit Ghelen , 16. 1. 1759 ; Abschrift in : NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ).

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Im Jahr nach dem Vertragsabschluss starb Johann Leopold Edler von Ghelen , und eine aus Angehörigen der Famile Ghelen bestehende Erbengemeinschaft übernahm die Geschäfte des »Diariums«.60 Bald danach drohte dem Fragamt Gefahr vom Medientycoon Johann Thomas Trattner : Dieser hatte 1762 der Hofkammer einen Plan zur Errichtung eines über die gesamte Habsburgermonarchie gespannten Netzes von »Intelligenzämtern« unterbreitet , deren Aufgaben denen des Fragamts sehr nahe kamen ; überdies wollte er ein zweimal wöchentlich erscheinendes sogenanntes »Intelligenzblatt« publizieren , das vorwiegend kommerzielle Nachrichten veröffentlichen sollte. Trattner scheiterte schließlich mit seinem Ansinnen , da die Rechte des Fragamts nicht beschnitten werden sollten.61 Das Privileg für das Fragamt blieb somit in den folgenden Jahrzehnten im Besitz der Ghelen’schen Erben , wobei der jährlich dafür zu zahlende Pachtbetrag beträchtlich anstieg : Ab der Verlängerung 1768 betrug die Pachtsumme 400 Gulden ,62 ab 1775 450 Gulden.63

Fusion mit der kleinen Post? Die josephinischen Reformen brachten für das Fragamt kaum Neuerungen , das Versatzamtspatent vom 1. Februar 1785 bestätigte die Zugehörigkeit des Fragamts zum Versatzamt – es wurde in dem Patent als »Pfandamt« bezeichnet – und betonte , dass es mit seinen »Kundschaftsbögen und Einschreibbüchern [ … ] unverändert« belassen werden sollte ; seine Einkünfte sollten an das Versatzamt fließen , wobei unklar ist , ob dazu nur die von den Ghelen’schen Erben beglichene Pachtsumme oder auch die Einschreibegebühren in die Protokolle zu zählen sind.64 Knapp danach wurde von den Behörden erwogen , das Fragamt mit der Wiener Stadtpost , der 1772 gegründeten sogenannten »Kleinen Post«, zusammen60 Frank u. a. ( 2008 ): Buchwesen , S. 78. 61 Die Akten zu diesem Vorgang in : ÖStA , FHKA , ÖS Kommerz , Kt. 85 ( vormals rote Nummer 86 ), Fasz. 35 ; vgl. auch WStLA , Alte Registratur , A2 , 107 / 1763 IV 11 sowie Moravský zemský archiv , Brünn ( M ZA ), B1 Gubernium , Kt. 51 , B6 /  55 , f. 908. 62 NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): Vertrag mit Ghelen’schen Erben , 14. 12. 1768. 63 NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): NÖ Regierung an Hofkanzlei , 17. 8. 1775. 64 Nachricht vom 1. Feber 1785 für das k. k. Versatzamt. o. O. , o. J. Wienbibliothek im Rathaus , Signatur E 186. 766 ; auch in : Joseph des Zweyten Gesetze und Verfassungen im Justiz-Fache. Jahrgang von 1785 bis 1786 , Wien 1817 , S. 11.

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zulegen. Dieses ursprünglich privat geführte Unternehmen wurde seit 1783 von Franz Anton Gilowsky von Urazowa geleitet und sollte verstaatlicht werden ;65 im Zuge der Verhandlungen ventilierte Joseph II. den Vorschlag einer Fusion der beiden Einrichtungen.66 Motivation dafür dürfte der Umstand gewesen sein , dass die »Kleine Post« neben der Versendung und Zustellung von Briefen innerhalb der Residenzstadt Wien eine Reihe von Zusatzdiensten anbot , die denen des Fragamts ähnelten : Wer zum Beispiel etwas verkaufen wollte , konnte dies auf »einige[ n ] hundert oder einige[ n ] tausend kleine[ n ] gedruckte[ n ] Zetteln« ankündigen und Letztere per »Kleiner Post« an die Wiener Haushalte verteilen lassen ; das Angebot würde dadurch »so schreyend bekannt« gemacht werden , »daß binnen wenigen Stunden die ganze Stadt von dem verlangten Gegenstand sprechen soll[ te ]«. Fremde wiederum , die eine bestimmte Person oder eine Wohnung suchten , konnten sich von einem Postillion an den gewünschten Ort begleiten lassen.67 Außerdem kooperierte die »Kleine Post« mit dem 1783 bis 1786 erscheinenden »Wiener Blättchen« des Franz von Zahlheim , indem ihre Postboten für das »Blättchen« Anzeigen entgegennahmen.68 Die »Kleine Post« wurde 1785 erfolgreich verstaatlicht ; was die Zusammenlegung mit dem Fragamt betraf , so rieten die in dieser Angelegenheit befassten Behörden – Hofkanzlei , Hofkammer und Bankodeputation – dazu , noch zuzuwarten ,69 und schließlich kam es dann doch nicht dazu.

Das Ende des Fragamts In der Folge wurde die Verbindung des Fragamts mit der »Wiener Zeitung« gestärkt , indem am 1. Oktober 1787 ihr Privileg gemeinsam mit dem für das Kundschaftsblatt zur Versteigerung angeboten wurde ;70 den Zuschlag erhielten die Ghelen’schen Erben , die ab nun 850 Gulden für das Kundschaftsblatt an das 65 Zur »Kleinen Post« vgl. u. a. : Lechner ( 1965 ): Post ; Wurth ( 1985 ): Brief. 66 ÖStA , FHKA , NHK , Österreichisches Kamerale , Akten , rote Nummer 412 , Faszikel 9 / 11 , 421 ex Februar 1785 : Ah. Resolution Josephs II. über Vortrag der Hofkanzlei , Hofkammer und Bankodeputation vom 14. 2. 1785. 67 ÖStA , FHKA , NHK , Österreichisches Kamerale , Akten , rote Nummer 412 , Faszikel 9 / 11 , 32 ex März 1785 , f. 199–200 : Ankündigung der neuen Einrichtung der k. k. privilegierten Kleinen Post in Wien , 1. 1. 1784 ; abgedruckt in : Effenberger ( 1918 ): Postakten , S. 252–255. 68 Strasser ( 1962 ): Presse , S. 42–47. 69 ÖStA , FHKA , NHK , Österreichisches Kamerale , Akten , rote Nummer 412 , Faszikel 9 / 11 , 32 ex März 1785 , f. 168–179 , hier f. 170v , 179r : Vortrag von Hofkanzlei , Hofkammer und Bankodeputation , 20. 2. 1785 ; vgl. Effenberger ( 1918 ): Postakten , S. 257. 70 PA , Nr. 70 , 1. 9. 1787.

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Versatzamt zu zahlen hatten.71 Diese enge Verbindung zur »Wiener Zeitung« zeigte sich auch darin , dass seit dem 1728 erfolgten Einzug des Fragamts in das Gebäude des »Wiener Diariums« beide Einrichtungen jeweils gemeinsam in neue Räumlichkeiten übersiedelten , so 1774 in das Mannerische Haus in der Singerstraße Nr. 93172 sowie 1795 in die Rauhensteingasse 97673 ( noch im selben Jahr umnummeriert zu 983 )74. Anfang des 19. Jahrhunderts , in den Jahren 1801 bis 1814 , hörte das Fragamt allmählich zu existieren auf ; spätestens 1814 verschwand es gänzlich in der »Wiener Zeitung«. Eine Erinnerung an die Verbindung des einstigen Fragamts zum Versatzamt blieb allerdings bis zur Verstaatlichung der »Wiener Zeitung« 1857 bestehen : Bis zu diesem Jahr mussten die Ghelen’schen Erben jährlich 850 Gulden an das Versatzamt zahlen.75

Zur Bedeutung des Fragamts Wie wichtig war das Fragamt ? Es überwiegen die Stimmen , die ihm wenig Bedeutung zumessen. So sprach ihm Ignaz de Luca , durchaus ein Kenner der Institutionen Wiens , beinahe seine Existenz ab , indem er in seiner 1787 erschienenen Beschreibung Wiens behauptete : »Fragamt , oder Intelligenzamt ist eigentlich keines in Wien wer aber in Intelligenzsachen öffentlich etwas bekannt zu machen hat , wendet sich an das in der Singerstrasse Nro 931 befindliche van Ghelensche Zeitungscomtoir.«76 »Wiener Zeitung« und Fragamt erscheinen in dieser Stellungnahme als ident , Letzteres fungiert nur mehr als Annahmestelle für Annoncen. Eine 1788 veröffentlichte satirische Schrift wiederum attestierte dem Personal des Zeitungscomptoirs , ganz »unerfahren« zu sein ; »bey einer Anfrage , Auskunftgebung u. dgl. wie es bey einem Frag- und Kundschaftsamt erforderlich« wäre , würde es »einander ansehen , und erst in der Druckerey die Antwort einhohlen«.77 Das vom Fragamt herausgegebene Kundschaftsblatt wiederum wurde von den Behörden eher gering geschätzt : So war es gemäß Ansicht des Rats der Stadt Wien notwendig , obrigkeitliche Verlautbarungen nicht nur in das Kundschaftsblatt , sondern auch in das »Wiener Diarium« zu setzen , da dieses mehr Leser als das Kundschaftsblatt hätte und außerdem überall hin ver71 NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): Vertrag mit den Ghelen’schen Erben , 7. 1. 1788. 72 WD , Nr. 37 , 7. 5. 1774 ; das Kundschaftsblatt für dieses Jahr ist in der ÖNB ( Signatur : 1,005.524-D.Per 1774 ) erst ab dem 2. Halbjahr vorhanden. 73 PA , Nr. 39 , 16. 5. 1795. 74 PA , Nr. 79 , 3. 10. 1795. 75 Zenker ( 1903 ): Geschichte , S. 8 ; Starzer ( 1901 ): Versatzamt , S. 13. 76 Luca ( 1787 ): Beschreibung , Bd. 2 , S. 80. 77 Stimme der Livreydiener ( 1788 ), S. 8.

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schickt würde , während für das Kundschaftsblatt gelte , dass »sich um selbes gar wenige Leut bekümmer[ t ]en«.78 Auch die Beamten in der Hofkammer waren vom Kundschaftsblatt nicht überzeugt und bedauerten , dass es »keine bessere Gestalt in sich habe , und folgbahr auch dem publico wenig nuzen bringe«.79 Ähnliches gilt für die Arbeitsvermittlung : 1764 erwähnte die Hofkanzlei in einem Vortrag , dass das Frag- und Kundschaftsamt bezüglich dieser seinen »Endzweck nicht erreicht« habe.80 Zwar sah das Kundschaftsblatt bis zuletzt zwei eigene Rubriken mit der Bezeichnung »Dienstsuchende Personen« bzw. »Dienst oder Arbeit zu vergeben« vor , gefüllt wurden diese jedoch nur selten81 und es verwundert nicht , dass es immer wieder Pläne gab , die Dienstbotenvermittlung unabhängig vom bestehenden Fragamt zu institutionalisieren. So schlug der aus Luxemburg gebürtige Johann Peter La Haye im Oktober 1787 vor , ein eng mit der Polizei kooperierendes , auf ihn privilegiertes »Dienstboten-Amt« in Wien zu errichten , das »der Mäklerey und dem schädlichen Unterhandel« Einhalt gebieten sollte ; sein Ansuchen wurde im März 1788 abgelehnt , da der Wiener Magistrat ein eigenes Dienstbotenamt zu errichten gedachte.82 Dieses wurde noch im Oktober 1788 gegründet , wegen mäßiger Benutzung  – die obendrein freiwillig war – aber bereits 1791 wieder aufgehoben ;83 das den Ghelen’schen Erben verpachtete Frag- und Kundschaftsamt wurde in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Auch mit den Anfang des 19. Jahrhunderts eingeführten , als Kundschaftsämter bezeichneten Arbeitsvermittlungsstellen , die der Obhut der Polizei übertragen waren , scheint keine Verbindung bestanden zu haben.84 Eine gewisse Rolle scheint das Fragamt für die Immobilienvermittlung gespielt zu haben. Das Angebot an zu vermittelnden Wohnungen war so groß , dass dafür der im Kundschaftsblatt zur Verfügung stehende Raum nicht ausreichte : 1780 vermeldete das »Wienerische Diarium« seinem Publikum , dass anlässlich des üblichen Wohnungswechsels zum nächsten Lichtmeßfest im Fragund Kundschaftsamt ein »eigenes Protokoll« über zu vermietende Wohnungen 78 ÖStA , FHKA , ÖS Kommerz , Kt. 85 ( vormals rote Nummer 86 ), Fasz. 35 : Wiener Rat an niederösterreichische Regierung , pr. 12. 4. 1763 , f. 55 , 78–82 , Konzept in WStLA , Alte Registratur , A2 , 107 / 1763 IV 11 , exp. 11. 4. 1763. 79 ÖStA , FHKA , ÖS Kommerz , Kt. 85 ( vormals rote Nummer 86 ), Fasz. 35 : Aktennotiz , undatiert ( ca. 1763 ), f. 4. 80 Arbeitsvermittlung ( 1898 ), S. 30 , Anm. 1. Dieser mit 15. 12. 1764 datierte Vortrag scheint heute nicht mehr vorhanden zu sein. 81 Beispiele für die raren Stellenanzeigen : PA , Nr.  55 , 11. 7. 1795 ; Nr.  34 , 27. 4. 1796 ; Nr. 19 , 8. 3. 1797 ; Nr. 96 , 6. 12. 1809 ; Nr. 80 , 6. 10. 1810. 82 ÖStA , AVA , Polizeihofstelle , Pergenakten , Kt.  12 , Konv.  10 , f. 79–89 : Bitte des Johann Peter La Haye , [ … ] in Wien ein Dienstboten-Amt zu errichten , rec. 12. 10. 1787 ; Dekret an La Haye , 10. 4. 1788. 83 Arbeitsvermittlung ( 1898 ), S. 35 f. , 53 f. 84 Mayr ( 1940 ): Wien , S.  94–97.

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bereit liegen würde , in das von 9 Uhr früh bis 7 Uhr Einsicht genommen werden könnte , nicht allerdings am Mittwoch und am Samstag , da an diesen Tagen die Zeitung ausgegeben würde. Die Gebühr für das Einschreiben einer leeren Wohnung betrug 14 Kreuzer , Wohnungssuchende zahlten für eine Auskunft sieben Kreuzer.85 Dieses Service scheint länger bestanden zu haben , es gibt einen Hinweis darauf , dass noch Anfang des 19. Jahrhunderts bei der »Wiener Zeitung« zu vermietende Wohnungen erfragt werden konnten , nunmehr ohne dafür Gebühr zahlen zu müssen : Als der Advokat Franz Carl Großhaupt 1803 um ein auf zehn Jahre anberaumtes Privileg für ein öffentliches Auskunftsamt zur Wohnungsvermittlung ansuchte , protestierten die Ghelen’schen Erben erfolgreich dagegen , indem sie auf das Fragamts-Privileg verwiesen und betonten , dass die entsprechenden Informationen dort unentgeltlich zu bekommen wären.86 Warum konnten das Wiener Fragamt und das Kundschaftsblatt , wenn sie denn doch von so geringer Bedeutung waren , über Jahrzehnte hindurch existieren ? Eine mögliche , recht offenherzige Erklärung dafür lieferte 1758 Johann Peter van Ghelens Nachfolger , Johann Leopold von Ghelen : Würde demnach ein anderer das Kundschaftsblatt übernehmen , so würde dieser es eventuell mit redaktionellen Inhalten anreichern und damit das Privileg des »Diariums« beeinträchtigen , was zu »vielfältige[ n ] Verdrüßlichkeiten« führen würde. Rechtsstreitigkeiten , die sich daraus ergeben würden , wollte Ghelen möglichst vermeiden und seine »Ruhe« sich auch um den Preis eines mit dem Kundschaftsblatt erwirtschafteten Verlusts »erkaufen«.87 Ghelen wollte also die Monopolstellung des »Wiener Diariums« als einziger deutschsprachigen Zeitung in Wien sicherstellen und potenzielle Konkurrenten von vornherein ausschalten , ein Ansinnen , das mit der um 1810 erfolgten Neuorganisation des Wiener Pressewesens hinfällig wurde :88 Wie in anderen Städten verschwand das ­Adressbüro in der Anzeigenexpedition der damit verbundenen Zeitung. 85 WD , Nr. 4 , 12. 1. 1780. 86 Wolf ( 1892 ): Schriften , S. 125 , ohne Quellenangabe. Die heute noch vorhandenen Registereinträge zu diesem Vorgang geben keinen Hinweis auf den Protest der Ghelen’schen Erben : ÖStA , FHKA , NHK , Österreichisches Kamerale , Bücher , Bd. 141 ( Protokoll 1803 , Bd. 1 ), f. 643r ; AVA , Hofkanzlei , Bücher Bd. 332 ( 1803 , 2. Teil ), f.  351v ; NÖLA , G-Indices in Polizeisachen 1782–1850 , 20 /  24 : 1803 , Lit Q , S.  13 ; NÖLA , NÖ Regierung , Einreichungsprotokoll 1 /  80 , ( 1803 , Nr.  6649–13051 ), Nr. 13043 ; ÖStA , HHSTA , Kabinettsarchiv , Handbilletenprotokolle Bd. 171 , Staatsrätl. Protokoll I / 1804 , Nr. 872 ; Staatsratsprotokolle , Bd. 185 , Protokoll I / 1804 , Nr. 872. 87 NÖLA , NÖ Regierung , Maria Theresianische Verwaltung , Hofresolutionen in publicis , Kt. 155 ( Juni 1774 ): Johann Leopold Edler von Ghelen an NÖ Repräsentation und Kammer , pr. 6. 11. 1758 ; vgl. auch die Darstellung bei Duchkowitsch ( 1978 ): Absolutismus , S. 348–357. 88 Vgl. u. a. : Guglia , ( 1903 ): Geschichte ; Winkler ( 1928 ): Gentz , S.  62–127 ; Schembor ( 2010 ): Meinungsbeeinflussung ; Eichler ( 1926 ): Vorgeschichte ; Leopold ( 1956 ): Gentz.

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Bemerkenswert ist allerdings , dass weitere Einrichtungen gegründet wurden , die Adressbüros vergleichbar sind. Eine davon war die »Schreib- und Kopeystube« des Wenzel Augustin Wersak , die Nicolai in seinem Reisebericht über Wien erwähnte und die im Februar 1783 am Hohen Markt Nro 489 errichtet wurde ; diese besorgte diverse Schreibgeschäfte und Übersetzungen. Etwas später weitete Wersak seine Tätigkeit auf ein Dienstanzeigungskomtoir aus , das Dienstboten und Dienstbotinnen vermittelte.89 1819 wiederum gründeten in Wien Baron Karl von Steinau und Joseph Jüttner ein »Anfrage- und Auskunftscomptoir«,90 und in den 1830er- und 1840er-Jahren folgten ähnliche Einrichtungen , die allerdings nach Grillparzers , erstmals 1848 veröffentlichter Novelle »Der arme Spielmann« nicht gerade den besten Ruf gehabt zu haben scheinen. In diesem Text berichtet der vom Erzähler aufgesuchte Spielmann , wie er vom Sekretär seines verstorbenen Vaters betrogen wurde : Der Sekretär hatte ihm »den Plan zur Errichtung eines Auskunfts- , Kopier- und Übersetzungs-Comptoirs«91 vorgeschlagen und für dessen Verwirklichung dreitausend Gulden bekommen ; auch Kopierarbeiten von Musikalien sollten dort vorgenommen werden. Die vom Spielmann angebetete Barbara hält jedoch nichts von dem Plan : »Auskunft einziehen kann ein Jeder selbst und schreiben hat auch ein Jeder gelernt in der Schule.«92 Es kommt , wie es kommen muss , aus Zeitungen erfahren die Protagonisten , dass der Sekretär geflüchtet ist und eine Menge Schulden hinterlassen hat. Aus den einstmals mit so hehren Absichten gegründeten Adressbüros waren somit im 19. Jahrhundert scheel beäugte , schlecht beleumundete Anstalten geworden , denen betrügerische Geschäftemacherei vorgeworfen werden konnte , wie einst jenen menschlichen Medien ,93 zu denen die Adressbüros in Konkurrenz getreten waren , das heißt traditionellen Mittelspersonen wie MaklerInnen , »UnterkäuferInnen«, ZubringerInnen oder PfandleiherInnen. Vielleicht können Adressbüros als ein Übergangsphänomen zwischen feudalistischen und kapitalistischen Verhältnissen betrachtet werden : Die von ihnen vermittelten Verkaufsakte beruhten schon nicht mehr auf einem vorwiegend auf Vertrauen basierenden , personalen Verhältnis zwischen KäuferInnen und VerkäuferInnen94 und waren zugleich noch nicht Handlungen auf einem »überörtlichen , 89 Nicolai ( 1783 ): Beschreibung , S. LXVIII , 275 f. Zu Wersak vgl. : Ammerer ( 2010 ): Gräfin. 90 »Über das allgemeine Anfrage- und Auskunfts-Comptoir in Wien«, in : Erneuerte vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat , 15. 1. 1820 , Nr. 5 , S. 17–20. 91 Grillparzer ( 1930 ): Werke , 1. Abt. , 13 , S. 35–81 , hier S : 67. 92 Ebd. , S. 72. 93 Faulstich ( 2004 ): Medium , S. 13 , 23–25. 94 Dargestellt z. B. bei : Fontaine ( 2006 ): Bemerkungen.

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zeitlich ungebundenen , überpersonalen permanenten Markt«.95 Mit dem Entstehen der Massenpresse wurden viele ihrer Funktionen , die einst vor Ort , in den Räumlichkeiten des Büros , ausgeübt wurden , von den Anzeigenteilen der Tageszeitungen übernommen ; der universale Anspruch , Informationsvermittlung für möglichst alle Bereiche des menschlichen Lebens anzubieten , sollte dann spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts , als spezialisierte Einrichtungen der Informationsvermittlung wie eigene DienstbotInnen- und Tourismusbüros entstanden , schwinden und Adressbüros gerieten in Vergessenheit. Erst in der jüngsten Gegenwart erscheinen diese Einrichtungen wieder als Teil einer Geschichte des Suchens und Findens und können als Vorgeschichte einer Suchmaschine wie Google verstanden werden.96

LITERATUR Ammerer , Gerhard ( 2010 ): Gräfin Henkel aus Kramschütz auf Reisen , oder : Wie eine attraktive Aventurière 1790 die Männerwelt betörte. In : Frühneuzeit-Info 21 , S. 90– 106. Die Arbeitsvermittlung in Österreich ( 1898 ). Herausgegeben vom Statistischen Departement im k. k. Handelsministerium , Wien. Beveridge , W. H. ( 1914 ): A Seventeenth-Century Labour Exchange. In : Economic Journal 24 , S. 371–376. Blome , Astrid ( 2006 ): Vom Adressbüro zum Intelligenzblatt – Ein Beitrag zur Genese der Wissensgesellschaft. In : Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 8 , S. 3–29. Bobrowsky , Manfred ( 1982 ): Das Wiener Intelligenzwesen und die Lesegewohnheiten im 18. Jahrhundert ( Diss. ). Wien. Brandstetter , Thomas /  Hübel , Thomas /  Tantner , Anton ( Hg. ) ( 2012 ): Vor Google. Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter. Bielefeld. Duchkowitsch , Wolfgang ( 1978 ): Absolutismus und Zeitung. Die Strategie der ­absolutistischen Kommunikationspolitik und ihre Wirkung auf die Wiener Zeitung 1621–1757 ( Diss. ). Wien. Effenberger , Eduard ( 1918 ): Aus alten Postakten. Quellen zur Geschichte der öster­ reichischen Post , ihrer Einrichtungen und Entwicklung. Wien. Eichler , Herbert ( 1926 ): Zur Vorgeschichte des »Österreichischen Beobachters«. In : Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 28 , S. 170–181. 95 Homburg ( 1997 ): Werbung , S.  41. 96 Einen Beitrag dazu lieferte auch das gemeinsam von Thomas Brandstetter , Thomas Hübel ( Institut für Wissenschaft und Kunst ) und mir im Oktober 2008 in Kooperation mit der Wienbibliothek im Rathaus organisierte Symposion »Vor Google. Suchmaschinen im analogen Zeitalter«; Tagungshomepage mit Programm : http:// www.univie.ac.at/iwk/vor-Google /  Tagungsbericht : http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id = 2446 ( Jeweils 14. 3. 2012 ); eine Publikation erschien 2012 im Transcript-Verlag : Brandstetter u. a. ( 2012 ). Als erste Annäherung an eine solche Vorgeschichte vgl. Tantner ( 2011a ): Suchen , S. 42–69.

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Publikationsreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts , 1 ). Wien , ( 24. 1. 2013 ). Solomon , Howard M. ( 1972 ): Public Welfare , Science and Propaganda in seventeenth Century France : The Innovations of Théophraste Renaudot. Princeton. Stagl , Justin ( 2002 ): Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800. Wien /  Köln /  Weimar. Starzer , Albert ( 1901 ): Das k. k. Versatzamt in Wien von 1707 bis 1900. Wien. Stimme der Livreydiener ( 1788 ): Stimme der Livreydiener , Domestiken , und andern Dienstbothen in Hinsicht auf die Zeitungsausgabe und der sogenannten Extrablätter. Den hohen Herrschaften und Gebiethern ans Herz und Behörde zur Beherzigung vorgelegt von einem herrschaftl. Domestiken. Wien. Strasser , Kurt ( 1962 ): Die Wiener Presse in der josephinischen Zeit. Wien. Tantner , Anton ( 2011a ): Suchen und Finden vor Google. Eine Skizze. In : VÖB-Mitteilungen 64 / 1 , S. 42–69. Tantner , Anton ( 2011 ): Adressbüros im Europa der Frühen Neuzeit. Habilitationsschrift eingereicht an der historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Wien. ( 29. 1. 2013 ). Weiss , Karl ( 1867 ): Geschichte der öffentlichen Anstalten , Fonde und Stiftungen für die Armenversorgung in Wien. Wien. Winkler , Arnold : Gentz und die »Wiener Zeitung«. In : Wiener Zeitung 1703–1928. Wien 1928 , S. 62–127. Winkler , Karl Tilman ( 2008 ): Die Zeitung und die Anfänge der Informationsgesellschaft. Wirtschaft , Technologie und publizistischer Markt in London 1665–1740. In : Welke , Martin /  W ilke , Jürgen ( Hg. ): 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext. Bremen , S. 139–175. Wolf , Gerson ( 1892 ): Kleine historische Schriften. Wien. Wurth , Rüdiger ( 1985 ): Der Brief in Vergangenheit und Gegenwart Österreichs als zeitgeschichtliches Dokument – Historische Vorgänge postalisch belegt ( VIII ). In : Österreichisches Jahrbuch für Postgeschichte und Philatelie 8 , S. 7–107. Zenker , Ernst Victor ( 1903 ): Die Geschichte der Wiener Zeitung in ihrem Verhältnisse zur Staatsverwaltung auf Grund archivalischer Forschungen dargestellt. In : Wiener Zeitung , Beilage (= Jubiläums-Festnummer der kaiserlichen Wiener Zeitung 8. August 1703–1903 ), 8. 8. 1903 , S. 1–12  , ( 24. 1. 2013 ).

Das Wiener Frag- und Kundschaftsamt

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DER SÜDBAHNHOF ETHNOGRAPHIE EINES ABSCHIEDS »Wiener nehmen Abschied vom Südbahnhof : [ … ] ›Gemma noch ein l­ etztes Mal Bahnhof schauen !‹ [ … ] Unter den mit Fotoapparaten bewaff­ neten Besuchern war die Stimmung gedrückt : ›Schad ist das‹, meinte der 56 ­Jahre ­alte Herr Karl , der gleich ums Eck in Favoriten wohnt. Er w ­ ollte noch einmal herkommen und ›auf Wiedersehen‹ sagen , erzählte er. Die F ­ otos von diesem Besuch werde er einmal seinen Enkelkindern zeigen.«1

So berichtete das online-Magazin des ORF in der Rubrik »Verkehr« am 11. Dezember 2009 über das Ende des Wiener Südbahnhofs. Zwei Tage später wurde der Bahnhof offiziell geschlossen und im Laufe der folgenden Wochen Schritt für Schritt demontiert und abgetragen , um dem zukünftigen »Wiener Hauptbahnhof« Platz zu machen. Seit dem Abriss des alten Bahnhofs ist das weitläufige Areal eine Baustellenlandschaft , deren Aussehen sich laufend ändert. Neben der Umwandlung des alten Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof sieht das Wiener Stadtentwicklungsprojekt die Errichtung eines neu geplanten Stadtviertels mit Finanz- , Gewerbe- und Wohngebieten vor. Die Prozesse des Abschiednehmens rund um den Südbahnhof bilden das Thema des vorliegenden Textes , wobei hier Abschied als Neupositionierung in Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft – auf kollektiver wie auf individueller Ebene – gedacht ist. Ich werde im Folgenden nachzeichnen , wie sich das Image des Bahnhofs in dieser liminalen Phase durch die Prozesse des Abschiednehmens veränderte und wie der Südbahnhof durch neue Deutungsangebote zu einem Bestandteil des »Doing City« nach Silke Roesler wurde. »Doing City« wird hier als medialer Herstellungsprozess von urbanen Aktionsfeldern verstanden , die prozesshaft entstehen und sich in den Stadttext einschreiben.2 Wie sich eine Stadt von einem ihrer Bahnhöfe verabschiedet und wie der Bahnhof kurz vor seinem Abriss von unterschiedlichen AkteurInnen als Handlungsraum genutzt wird , waren die Fragen , die mich dazu veranlassten , den Südbahnhof als ethnographischen Erkundungsraum3 für mich neu zu entdecken. Rund drei Monate vor der Schließung begann ich das Bahnhofsgebäude regelmäßig zu besuchen. Mit einem multimethodischen Ansatz näherte ich mich dem Forschungsfeld an : Ich verfolgte die Medienberich1 2 3

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http://wiev1.orf.at/stories/409153 ( 29. 12. 2012 ). Vgl. Roesler ( 2010 ): Doing City , S. 10 f. Vgl. Eisch ( 2001 ): Erkundungen und Zugänge I.

te rund um das Ende des Südbahnhofs , besuchte offizielle Veranstaltungen , die über das Stadtentwicklungsprojekt und den Hauptbahnhof informierten , führte vor Ort teilnehmende Beobachtungen durch und dokumentierte über fotografische Wahrnehmungsspaziergänge die materiellen Veränderungen am Bahnhof. Im Zuge der Schließung wurde der Bahnhof zu einem Handlungsraum mehrerer Akteursgruppen. Nicht nur von privater , sondern auch von musealer , medialer und stadtplanerischer Seite konnte ich Praktiken des Abschiednehmens beobachten , die den Bahnhof als städtisches Aktionsfeld neu generierten. Innerhalb kürzester Zeit wandelte sich der Bahnhof von einem Transitraum zu einem vielschichtigen Geschichtsort. Dieser Transformationsprozess , der zugleich auch ein Spannungsverhältnis zwischen offiziellen Deutungsangeboten und individuellen sowie kollektiven Deutungspraktiken von Stadt widerspiegelt , soll im Folgenden beleuchtet werden.

Der Südbahnhof und seine Geschichte Bahnhöfe transportieren mit ihrer Gestalt ein bestimmtes Image des Städ­ tischen , welches , wie das Beispiel Südbahnhof zeigt , stetigen Neuverhandlungen unterworfen ist. Denn der Südbahnhof war nicht der erste Bahnhof an diesem Standort. Insgesamt wurden in den letzten 170 Jahren drei Generationen von Bahnhofsbauten hier errichtet und für den Bau neuer Bahnhofsanlagen wieder abgetragen. Der Blick auf diese »bahnhöfische Welt«4 spiegelt eine Geschichte von Abschieden wider , die immer auch von stadtpolitischen Neupositionierungen und symbolischen Umdeutungen begleitet wurde. Die erste Bahnhofsgeneration bildeten der Raaber und der Gloggnitzer Bahnhof5 , die um 1840 gegenüber dem Schloss Belvedere und parallel zum damaligen Linienwall , dem heutigen Wiener Gürtel , errichtet wurden. Die beiden Bahnhofsanlagen waren Kopf bahnhöfe und ihre Namensbezeichnung verwies auf das damals regionale Streckennetz. Gemeinsam mit dem Nordbahnhof , der kurze Zeit zuvor fertiggestellt wurde , stehen sie für den Beginn der Wiener Eisenbahninfrastruktur , die in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut wurde. Die Bahnhöfe wurden in unmittelbarer Nähe der Stadtgrenze in unverbauten Gebieten errichtet. Doch ihre Positionierung beeinflusste maßgeblich die Wiener Stadtentwicklung , sodass die zuvor brachlie4 5

Vgl. Hengartner ( 2010 ): Bahnhöfische Welten. Beide Bahnhöfe entstanden im Auftrag des Bankiers Baron Georg Simon Sina von Hodos , der Matthias Schönerer als Architekten für die Bahnhofsbauten beauftrage. Vgl. Kos u. a. ( 2006 ): Großer Bahnhof , S. 220.

Der Südbahnhof

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genden Areale rund um die Bahnhöfe innerhalb von zwei Jahrzehnten als neue Stadtentwicklungsgebiete ausgebaut wurden.6 Mit dem Anwachsen der Stadt , dem Ausbau des Streckennetzes und dem beständigen Anstieg des Frachten- und Personentransportes wurde es Mitte des 19. Jahrhunderts notwendig , die bestehenden Bahnhöfe zu erneuern. Wien erlebte einen enormen Ausbau der Eisenbahninfrastruktur – die kaiserliche Residenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie sollte mit Orten in allen Himmelsrichtungen verbunden sein.7 Dies begründet die Vielzahl an zwischen 1859 und 1873 neu gebauten Kopfbahnhöfen8 , die das damalige Stadtbild prägten und heute im Rückblick auf die damalige Zeit auch als »Großbahnhöfe«9 bezeichnet werden. So wurden nach dem Abriss von Raaber und Gloggnitzer Bahnhof zwei neue Bahnhöfe an gleicher Stelle errichtet : der Südbahnhof und der Ostbahnhof  10. Die Großbahnhöfe verkörperten im Kontext der Stadt Öffentlichkeit und Anonymität , zudem waren sie Inbegriff für das ( wachsende ) öffentliche Transportwesen und symbolische Stadttore.11 Mit ihrer architektonischen Gestaltung im Stil des Historismus , der für die Bauten der Gründerzeit kennzeichnend ist ,12 sollten sie als Gebäude mit öffentlichem Charakter den ankommenden Reisenden ein spezifisches Bild von Wien vermitteln. »Repräsentative Monumentalität war die Forderung der Zeit«13 , die bei der Gestaltung des Süd- und des Ostbahnhofs auch erfüllt wurde. Die Bauten zitierten mit ihrem imposanten Erscheinungsbild den mondänen Stil der Ringstraße.14 Für die WienerInnen waren die Großbahnhöfe wiederum ein Synonym für Weite und Ferne : »Durch die Eisenbahn ordneten sich die Raumbilder neu , die mentale Topografie wurde weiträumiger«15 und insbesondere der Südbahnhof , dessen Stre6 7 8

Vgl. Magistratsdirektion der Stadt Wien ( 2010 ): Visual Impact Study. Vgl. ebd. , S. 24. Nordbahnhof , Nordwestbahnhof , Westbahnhof , Kaiser Franz Josefs-Bahnhof , Südbahnhof und Ostbahnhof. 9 Vgl. Kos u. a. ( 2006 ): Großer Bahnhof. 10 Die k. k. private Südbahn-Gesellschaft beauftragte den Architekten Wilhelm von Flattich mit dem Bau eines repräsentativeren Kopfbahnhofs anstelle des Gloggnitzer Bahnhofs : Der daraus entstandene Südbahnhof wurde 1874 fertiggestellt. Der Ostbahnhof wurde hingegen durch private französische Investoren finanziert und von Carl Schuhmann entworfen. Seine Fertigstellung ist mit dem Jahre 1870 datiert. Vgl. ebd. , S. 274–276. 11 Vgl. Hengartner ( 2010 ): Bahnhöfische Welten , S. 66 f. 12 Vgl. Kassel-Mikula u. a. ( 2 006 ): Vom »Arsenalstil« zur »Wiener Renaissance«, S. 86. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd. , S. 87. 15 Kos ( 2006 ): Eisenbahn , Stadt , Emotion , S. 24.

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ckennetz bis nach Triest führte , wurde mit dem Aufkommen des bildungsbürgerlichen Reisens mit dem »Traum vom Süden«16 assoziiert. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Süd- und Ostbahnhof durch Bombenangriffe beschädigt und in der Nachkriegszeit für die Errichtung einer neuen Bahnhofsgeneration abgetragen. Der neu gebaute Südbahnhof  17 , der 1961 fertiggestellt wurde und bis 2009 existierte , war somit der dritte Bahnhof an diesem Standort. Seine Bezeichnung verwies nicht auf die Reiseziele , sondern auf die topografische Situierung im Stadtgebiet.18 Seit dem Ausbau der Wiener Eisenbahninfrastruktur gab es immer wieder Überlegungen , einen Zentralbahnhof für die Stadt zu errichten. Aus finanziellen Gründen wurde das Projekt nie realisiert : »[ … ] daher wurde der Gedanke eines Zentralbahnhofs endgültig aufgegeben und beschlossen , zwei Fernreise­gruppen­bahnhöfe zu bauen , und zwar den Westbahnhof und einen neuen Bahnhof als Ersatz für den alten schwerbeschädigten Südbahnhof und den zerstörten Ostbahnhof. Dieser neue Bahnhof wird Südbahnhof heißen.«19 So informierte der Bau­ direktor Hugo Rainer 1951 über den geplanten Neubau , der fast ein ganzes Jahrzehnt beanspruchte und die zuvor getrennte Süd- und Ostbahn in einem Gebäude vereinte.20 In der Weise , wie die ehemaligen Großbahnhöfe als ein Zusammenspiel zwischen Funktionalität und Repräsentation verstanden werden müssen , vermittelten auch die Wiener Fernbahnhöfe ( Westbahnhof und Südbahnhof  ), die in den Jahren des »Wiederaufbaus« entstanden , ein spezifisches Image des Städtischen. Sie spiegelten als Orte der Moderne und als Ausdruck von Metropole Industrialisierung und Dynamik wider. Die zum Großteil schwer beschädigten Bahnhöfe aus der Gründerzeit verschwanden aus dem Wiener Stadtbild , sie »schienen nicht mehr in die Zeit zu passen und wurden kulturell nicht ernst genommen«21. Jahrzehnte nach der Eröffnung des Südbahnhofs rückte die Frage nach seiner Funktion und Gestalt ins Zentrum einer städteplanerischen und stadt­poli­ 16 Ebd. 17 Der Bau des Südbahnhofs wurde in Zusammenarbeit von Heinrich Hrdlička , Zentralinspektor der Bauabteilung der Österreichischen Bundes-Bahnen ( ÖBB ), mit den Architekten Rudolf Maculan und Kurt Walder realisiert. Vgl. Hirner u. a. ( 2006 ): Die modernen Bahnhöfe der Wiederaufbaujahre. 18 Vgl. Rainer ( 1951 ): Der neue Südbahnhof in Wien , S. 356. 19 Ebd. 20 Das Stationsgebäude war in mehreren Ebenen organisiert : oben die Südbahn , eine Etage darunter die Ostbahn , auf Straßenniveau die weitläufig verglaste Kassenhalle und im Tiefgeschoss die Station der damals neu errichteten Wiener Schnellbahn. 21 Kos ( 2006 ): Eisenbahn , Stadt , Emotion , S. 25.

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tischen Diskussion. Mitunter ausschlaggebend dafür war ein kontinuierlicher Imageverlust der Wiener Bahnhöfe , bedingt durch die sinkende Bedeutung der Bahn für den Fernverkehr , durch die ansteigende Massenmotorisierung und den beginnenden Flugtourismus22. Der Südbahnhof im Speziellen erfuhr im Laufe seines Bestehens einen deutlichen Imagewandel. Nach seiner Fertigstellung wurde er wie sein Vorgänger aus der Gründerzeit mit »dem Süden« assoziiert. Einerseits erklärt sich dies aus den angefahrenen südlichen Reisezielen und andererseits bestand die Innenausstattung der Kassenhalle aus verschiedenen materiellen Texturen , die das in den 1950er-Jahren herrschende »Faible für ›Italian Style‹«23 wiedergeben sollten. Allmählich fand jedoch eine Verschiebung der Assoziationen von »Süd« nach »( Süd-)Ost« statt , die exemplarisch an dem Sprichwort »Am Südbahnhof beginnt der Balkan« nachvollzogen werden kann. Darüber hinaus veränderte sich das äußere Erscheinungsbild des Südbahnhofs. Bis zuletzt erhielt der Bahnhof bei Fahrgastbefragungen 24 die schlechtesten Bewertungen betreffend Zufriedenheit , Attraktivität und Sauberkeit. Grund dafür waren fehlende Investitionen in die Sanierung des Gebäudes , und obwohl der Südbahnhof als gebautes »Zeugnis der Nachkriegsmoderne«25 symbolische und historische Bedeutung für den Bahnverkehr hatte , kam es zu keiner Aufwertung oder Modernisierung. Vermutlich trugen dazu die Diskussionen um einen Wiener Hauptbahnhof bei , in welchen der Südbahnhof immer wieder als möglicher Standort genannt wurde. Anfang der 1990er-Jahre stand der Entschluss fest , anstelle des Kopfbahnhofs erstmals in Wien einen Durchgangsbahnhof , den Hauptbahnhof , zu errichten , um eine bessere regionale und internationale Vernetzung für Wien zu gewährleisten.26 Zuletzt wirkte der Südbahnhof in der Betrachtung nüchtern und kalt. Er war ein Orientierungspunkt im Stadtbild und zugleich ein Schnittpunkt des öffentlichen Linienverkehrs , eine Zwischenstation , von der aus Wege fortgesetzt wurden. Orte des Verweilens gab es wenige und die , die vorhanden waren , luden nicht dazu ein. Der Südbahnhof war ein Gebäude , in dem immer Bewegung herrschte , in dem sich Verkehrsströme konzentrierten – oder nach Marc Augé ein non-lieux , ein Transitraum.27

22 23 24 25 26 27

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Vgl. Kos ( 2009 ): Verspätete Durchlüftung , S. 72. Hirner u. a. ( 2006 ): Die modernen Bahnhöfe , S. 163. Vgl. http://www.vcoe.at/start.asp?list=yes&suchstr=s%FCdbahnhof ( 22. 09. 2009 ). Steets ( 2010 ): Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt , S. 172. Vgl. Seiß ( 2008 ): Wer baut Wien ?, S. 179. Vgl. Augé ( 1994 ): Orte und Nicht-Orte.

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Hauptbahnhof Wien. Mehr als nur ein Bahnhof In den letzten Wochen des Jahres 2009 erschienen täglich Inserate in allen Tageszeitungen , die auf die baldige Schließung des Südbahnhofs am 13. Dezember 2009 und die darauf folgenden Baumaßnahmen für den neuen Hauptbahnhof und das umliegende Stadtgebiet hinwiesen. Informationen erhielten Fahr­gäste und andere Interessierte über Broschüren , die Sonderinfoteams der ÖBB an den Wiener Bahnhöfen austeilten , sowie über die eigens für den neuen Hauptbahnhof eingerichtete Internetseite. Die gemeinsamen Informations- und Werbekampagnen der ÖBB und der Stadt Wien priesen das neue Urbanisierungsprojekt mit dem Slogan »Hauptbahnhof Wien. Mehr als nur ein Bahnhof«28 an. Durch Computersimulationen konnte der geplante Bau bereits in bildlicher

Abb. 1 : Planungsprojekt

Form als konkretisierter Raum betrachtet werden. Die Architekturvisualisierungen , die in den Medienberichten über das Planungsprojekt als zentrale Bildelemente herangezogen wurden , zeigen aus erhöhter Perspektive ein modernes Bahnhofsgebäude mit prägnantem Rautendach , umgeben von Hochhäusern. In den Bildern sieht man nicht nur den fertiggestellten Hauptbahnhof , der 2015 vollständig in Betrieb genommen werden soll , sondern auch die umliegenden Stadträume , die bis 2009 größtenteils nicht zugänglich waren. Mit der Neugestaltung des Hauptbahnhofs wird sich ihr zukünftiges Erscheinungsbild grundlegend transformieren – ein neues , für die Bevölkerung bewohn- und nutzbares Stadtgebiet entstehen. Die geplanten Stadtviertel , das Quartier Belvedere und das Sonnwendviertel , sollen bis 2019 fertiggestellt sein. Während die Schließung des Bahnhofs vorbereitet wurde , präsentierte eine Ausstellung in einem ehemaligen Bahnhofsrestaurant alle eingereichten Archi28

www.hauptbahnhof-wien.at ( 04. 01. 2013 ).

Der Südbahnhof

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tekturvorschläge für die Gestaltung des Areals. Den Schwerpunkt der Präsentation bildete ein dreidimensionales Architekturmodell , das die zukünftige ÖBB-Konzernzentrale gegenüber dem neuen Hauptbahnhof mit umliegenden Wohn- , Dienstleistungs- und Freizeitbereichen veranschaulichte. Die Darstellung des zukünftigen Gebietes im Miniaturformat visualisierte nicht nur die baulichen Dimensionen des Planungsprojektes , sondern zudem ein Bild von vorgestellter Stadt. In den hier sichtbaren Baustilen zeichnete sich eine neue Vorstellung städtischer Repräsentativität ab , ein neues Image der Stadt , zumal der Hauptbahnhof nicht nur als »Mobilitätszentrum«29 , sondern insgesamt auch als »Visitenkarte für Wien«30 präsentiert wurde. Die Praktiken des Planens und des Repräsentierens orientieren sich also stark an einem gewünschten Image des Ortes und der Stadt. Dieses ist mitunter einer der wichtigsten Faktoren , wenn über wirtschaftliche und touristische Standorte nachgedacht wird , und ein ökonomisch entwicklungsrelevantes Steuerungsinstrument , das bei der Gestaltung urbaner Räume als inszeniertes Vorstellungsbild oder auch als bewusst gestaltete Kommunikationsstrategie vorangestellt wird.31

Abb. 2  : Architekturmodell 2009

Das Architekturmodell repräsentierte in diesem Zusammenhang einen Zukunftsraum im Sinne von Aleida Assmann , den es »zu konstruieren , gestalten , nutzen , besetzen gilt. Raum ist vorwiegend ein Gegenstand des Machens und Planens , eine Dispositionsmasse für intentionale Akteure , ob es sich dabei um [ … ] Architekten , Stadtplaner oder Politiker handelt.«32 Demgegenüber ver29 ÖBB-Infrastruktur AG u. a. ( 2009 ): Mehr als ein Bahnhof , unpaginiert. 30 MA 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung ( 2010 ): Zielgebiet Hauptbahnhof Wien – Erdberger Mais , unpaginiert. 31 Vgl. Lindner ( 2008 ): Textur , imaginaire , Habitus , S. 86. 32 Assmann ( 2009 ): Geschichte findet Stadt , S. 15–16.

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wandelte sich der ( bis dahin noch existierende ) Südbahnhof mit dem Näherrücken seiner Schließung zunehmend von einem Transitraum in einen von Geschichte( n ) durchzogenen Ort. Neben dem städteplanerischen Zukunftsbild trat mehr und mehr die Vergangenheitsdimension des Gebäudes ins Bewusstsein der WienerInnen.

Musealisierung des Bahnhofs Am Südbahnhof beobachtete ich nach und nach Prozesse der Absiedelung : Inaktive Leuchtreklametafeln , handschriftliche Ankündigungen und die mit Packpapier überklebten Schaufenster , die den Blick in die Innenräume versperrten , kennzeichneten die Schließung der ebenerdigen Ladenzone des Bahnhofs. Der Bahnhof schien sich schrittweise aufzulösen. Woche für Woche entdeckte ich neu entstandene Leerstellen : Telefonzellen , Anzeigetafeln , Selbstbedienungsautomaten oder etwa der Infobereich der ÖBB in der Mitte der Kassenhalle waren einen Monat vor der Bahnhofsschließung verschwunden. Die materiellen Veränderungen am Bahnhof dokumentierte ich mit meiner Fotokamera. Ich nutzte die Fotografie hierbei als eine Strategie zur Quellen­ erstellung und als ethnographische Wahrnehmungstechnik , mithilfe derer ich mir den Ort in einer spezifischen Weise aneignete.33 Darüber hinaus versuchte ich die räumlichen Strukturen des Verkehrsgebäudes über die Fotografie aufzuzeigen. Ähnlich wie bei der Methode des Mappings , die in der ethnographischen Fotografie vorwiegend zur Kartierung eines Gebietes angewendet wird ,34 erstellte ich Serienbilder , die in der Zusammensetzung Panoramen der Bahnhofsarchitektur darstellen , und Aufnahmen des umliegenden Stadtraumes , die den Bahnhof in den städtischen Strukturen verorten. Des Weiteren versuchte ich , mit langen Belichtungszeiten Formen der Raumnutzung in Bilder zu übersetzen. Während meiner Beobachtungen veränderte sich die Raumaneignung der AkteurInnen am Bahnhof. Je näher die Schließung des Stationsgebäudes heranrückte , desto mehr Personen verweilten und begannen , mit unterschiedlichen Techniken den Bahnhof visuell festzuhalten. Viele Personen suchten den Ort nicht mehr als Fahrgäste auf , sondern als BesucherInnen. Es etablierte sich eine Kultur des Abschiednehmens , auf die sich zunehmend mein Interesse richtete. Der Bahnhof war für diese neuen BesucherInnen nicht mehr primär Transit- , Zwischen- und Durchgangsraum , sondern zunehmend ein Ort der individuellen wie der kollektiven Erinnerung.

33 Vgl. Schadauer ( 2009 ): Die Fotomontage. 34 Vgl. Lederbogen ( 2003 ): Fotografie , S. 232.

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Abb. 3–5 : Bahnhofsbilder 2009 : Südbahnhof  /   Fotografische ­A neignung  /   Bewegungsströme

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Der Südbahnhof wurde nun mit anderer Aufmerksamkeit begangen und wahrgenommen. Die Gehgeschwindigkeit einzelner Personen war tendenziell langsamer und konzentrierter im Vergleich zu jener von Reisenden , die zumeist gezielt zu den Bahnsteigen eilten. Es war zu beobachten , dass viele Menschen durch die Räumlichkeiten flanierten , auch innehielten und das Gebäude wie ein Museum durchschritten. Eine »Atmosphäre ästhetischer Anregung«35 war spürbar : Die Blicke der BahnhofsbesucherInnen durchstreiften den Raum und wanderten nach oben , über das Straßenniveau hinaus. Die Glasdachkonstruktion der Kassenhalle und auch andere Einzelheiten der Raumausstattung wie die Oberflächenverkleidung der Innenfassade aus rotem und weißem Marmor , die gläsernen Schwingtüren mit den metallenen Türgriffen und die Bodenplatten aus

Abb. 6 : »Verschwundene Orte« Wien Museum 2011

Stein würdigten die BesucherInnen wie Ausstellungsstücke. Auch den Prozess des Verschwindens der Dingkultur des Betriebsalltags verfolgte das Bahnhofs­ publikum mit sichtbarem Interesse. Die Innen- und Außenräume wurden mit Handys , Kompaktkameras und professionellen Foto- und Videoausrüstungen besichtigt und dokumentiert. Als eine Fotografin von vielen , die mit »systematisierenden und informierten Blicken«36 die physisch-baulichen Veränderungen vor Ort dokumentierte , suchte ich aktiv Kontakt zu den anderen Fotografierenden. In Gesprächen wurde deutlich , dass die meisten vorwiegend für den privaten Gebrauch fotografierten , nur eine Person , ein freier Journalist , produzierte die Bilder für seine Fotoreportage37 über die Schließung des Südbahnhofs. 35 Kazig ( 2008 ): Typische Atmosphären , S. 157. 36 Frers ( 2007 ): Einhüllende Materialitäten , S. 141. 37 Vgl. http://www.demotix.com/news/224379/closing-southern-railway-station-vienna ( 05. 01. 2013 ).

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Der Südbahnhof wandelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem vielschichtigen Geschichtsort. Hierzu trug nicht nur die sichtbare Kultur des Abschiednehmens bei , sondern auch die Sammlungstätigkeit von Museen , die die materielle Ausstattung der Verkehrsanlage Schritt für Schritt dem betrieblichen Kreislauf entzogen und so an der Musealisierung des Südbahnhofs mitwirkten. Ich beobachtete Mitarbeiter des Technischen Museums Wien einige Tage vor der Bahnhofsschließung bei der Entfernung von Ankündigungstafeln. Die metallene Aufschrift »Südbahnhof«, die über dem Haupteingang des Bahnhofs montiert war , tauchte zwei Jahre nach der Schließung im Rahmen der Ausstellung »Absolut Wien. Ankäufe und Schenkungen seit 2000« an der Fassade des Wien Museums wieder auf und befindet sich dort bis heute. In der Ausstellung heißt es dazu : »Verschwundene Orte : Im Dezember 2009 begann der Abriss des Südbahnhofs , am letzten Betriebstag kamen viele WienerInnen zu einem Abschiedsfest. Schon am Nachmittag davor war das Wien Museum mit einem Hebekran angerückt , um mit Erlaubnis der ÖBB die Aufschrift ›Südbahnhof‹ zu demontieren. Es war ratsam , schneller zu sein als die privaten Souvenir­jäger. [ … ] Kann man mit Zitaten an ein demoliertes Gebäude erinnern ? Doch Museen sind für Abschiede zuständig : Erst wenn etwas verschwindet , erkennt man , was für die Zukunft bewahrt werden sollte.«38 Mit der aktiven Sammlungstätigkeit der Museen war eine elementare Statusveränderung der Objekte verbunden : Die Gebrauchsobjekte des Bahnhofs wurden zu Ausstellungsstücken – die Dinge des Betriebsalltags wurden unter spezifischen Sammlungs­aspekten der jeweiligen Häuser inventarisiert , archiviert und musealisiert.

Der Bahnhof als Bühne des Abschieds Als Zone , in der »die heiße Phase der Geschichte abgeschlossen [ ist ] , und ihre Kulturwerdung , ihre Musealisierung [ … ] begonnen [ hat ]«39 , wandelte sich der Bahnhof von einem Ort des Transits zugleich zu einem Ort der verdichteten medialen Inszenierung. In den Medienberichten zeichnete sich dabei eine Transformation der Sprachbilder über den Bahnhof ab. Neben der Darstellung der Bahnhofsgeschichte und des weiteren Verlaufs des Planungsprojektes wurde der Südbahnhof mit einer Mischung aus Verlust und Nostalgie medial verabschiedet. Der Fokus richtete sich dabei vermehrt auf individuelle Szenen des 38 Texttafel »Verschwundene Orte , z. B. Südbahnhof« in der Ausstellung »Absolut Wien. Ankäufe und Schenkungen seit 2000« von 10. 11. 2011 bis 18. 03. 2012 , Wien Museum , gesehen am 04. 12. 2011. 39 Schlögel ( 2003 ): Im Raume lesen wir die Zeit , S. 299.

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Abschieds , die den Bahnhof als Ort der Abschiede und der Erinnerung emotional aufluden : »Ein Pensionistenpaar reiste extra aus Mödling an , um noch ein letztes Mal in der ›schönen Bahnhofshalle‹ zu stehen. Die beiden sind enttäuscht , dass es mit dem Bahnhof so enden musste. [ … ] Viel lieber wäre es ihnen gewesen , man hätte das Gebäude ›hergerichtet‹ und nicht abgerissen«40 , so berichtete etwa der ORF auf seiner Homepage über den Abschied der WienerInnen vom Südbahnhof. Ein weiteres Thema bildete das Bahnhofsdesign , das in den Berichten durchaus schwärmerisch beschrieben wurde. Beispielsweise wurde der Bahnhof in einem Abschiedsbericht des »Falters« als »elegant , großzügig , sonnig , mondän , verspielt , fröhlich und volkstümlich. Byzantinisch und barock zugleich. Und ein wenig balkanisch. Das heißt durch und durch international« charakterisiert und als »architektonisches Wunder der Auf bauzeit« 41 rezipiert. Besonderes Augenmerk lag auf den architektonischen Qualitäten der Stationsanlage : »Ein Baudenkmal ? Der jetzige Zustand , nach vielen Ein- und Umbauten , machte es leicht , dieses Epochenfossil vom Denkmalschutz auszunehmen. Doch sind erst die letzten Werbetafeln , Bäckerläden und Bankenfoyers abmontiert , wird der Südbahnhof sein nüchternes altes Gesicht zeigen. Während der Räumung , die schon angefangen hat , sind verblüffende Raumwirkungen sowie Qualitäten der Ausstattung in Stein , Beton , Glas und Stahl zu entdecken. [ … ] Wo der Reisende verkehrt , ist das Material edler : Glasmosaik , Glasziegel , verchromter Stahl. Erstklassig designt und gefertigt sind die Schwingtüren. Ihre Handgriffe : museumswürdig.« 42 Es war zu beobachten , dass die Medien neue Lesarten des Südbahnhofs präsentierten. Zum einen kam es zu einer rekonstruierenden Erinnerung an das Image des Südbahnhofs der 1960er-Jahre , die exemplarisch an einem Abschiedsartikel der Tageszeitung »Der Standard« nachvollzogen werden kann , in dem es eingangs heißt : »Als der elegante Südbahnhof nagelneu war , spürte man den Geist Venedigs im Bahnhof.«43 Zum anderen wurde der Bahnhof als zentraler Bestandteil der städtischen Gedächtnislandschaft – auf kollektiver und individueller Ebene – über die Medien neu verhandelt. Offiziell verabschiedet wurde der Bahnhof von seinen Eigentümern am Abend vor der Bahnhofsschließung durch ein Fest , das PR-Inserate seit Wochen in den unterschiedlichsten Medienformaten als »Abtragefest für Anrai40 http://wiev1.orf.at/stories/409153 ( 29. 12. 2012 ). 41 http://www.falter.at/falter/2009/12/07/in-den-letzten-zuegen /  ( 29. 01. 2013 ). 42 http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/Archiv/70823_Variationen-in-Stein.html ( 29. 01. 2013 ). 43 http://derstandard.at/1259281722293/Suedbahnhof-Sag-zum-Abschied-leise-Zugfaehrt-ab ( 12. 01. 2013 ).

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ner« angekündigt hatten. Die gut besuchte Veranstaltung begann schon am frühen Nachmittag und endete mit der Abfahrt des vorläufig letzten Zuges Richtung Süden kurz nach Mitternacht. Seit Beginn meiner Forschung waren noch nie so viele BesucherInnen am Bahnhof gewesen. »Ich kenne jeden Winkel , jede Ecke dieses meines Südbahnhofs , laufe herum und versuche möglichst viele Eindrücke in meinem Bildgedächtnis zu verstauen , seine Geheimnisse zu bewahren , aufzuheben. Wie viele andere BesucherInnen auch , die mit Fotoapparaten sich Bilder retten , sich nicht vorstellen können , dass hier an diesem Ort [ … ] eine riesige Baulücke klaffen wird.«44 Kerstin Kellermann , freie Journalistin und Bloggerin , reflektiert in einem ihrer Blogbeiträge die Atmosphäre des Abschiedsfestes. Die Stimmung , die sie beschreibt , deckt sich mit meinen Beobachtungen. Ein Großteil der anwesenden Gäste begleitete das Fest , so wie auch ich , medial. Mithilfe von Fotos und Filmen nahm man Abschied , durchwanderte noch ein letztes Mal die Verkehrsanlage und nahm die Programmangebote wahr , welche die Vergangenheit und die Zukunft des Südbahnhofs thematisierten. Abseits der Veranstaltungsbühne konnten die BesucherInnen in einem privaten Besprechungssaal Filmausschnitte von Wochenschau-Sendungen über die zweite Bahnhofsgeneration bewundern. Zudem wurden auch Filmsequenzen aus dem Wien der 1960er- bis 80er-Jahre vorgeführt , die die Veränderung des Südbahnhofs und seiner Architektur konkret werden ließen. In einer anderen Räumlichkeit wurden die stadtplanerischen Strategien präsentiert. Nicht Filme , sondern Informationsgrafiken und das schon erwähnte Architekturmodell sollten die zukünftige Gestalt des städtischen Raumes veranschaulichen.

44 http://www.kerstinkellermann.com/2011/12/der-kopfbahnhof-abgesang-auf-densuedbahnhof /  ( 10. 01. 2013 ).

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Abb. 7–8 : Abschiedsfest am Südbahnhof / Blick in die Vergangenheit

Nach dem offiziellen Abschiedsfest kam es auch zu neuen Raumnutzungen wie zu Rauminterventionen im leer stehenden Bahnhof , die das ehemalige Verkehrsgebäude in einen neuen Kontext stellten : »Urban Destruction«, eine private , kurzfristig geplante Abschiedsparty , die via Facebook angekündigt wurde und enormen Zuspruch erhielt – allein in Facebook hatten über 6. 000 Personen ihre Teilnahme angemeldet –, verwandelte den stillgelegten Südbahnhof für eine Nacht in eine Partylocation.45 Eine weitere Form der ungeplanten und unerwarteten Zwischennutzung fand in den letzten Tagen vor dem Abriss statt. Zwei Wiener Streetart-Künstler transformierten den Boden der Kassenhalle in eine Leinwand. Durch diese »Urban Illustration« 46 entstand ein temporäres Kunstwerk in einem Gebäude , das im Verschwinden begriffen war : »Dabei waren wir einerseits extrem glücklich ein Bild in der Eingangshalle eines Bahnhofs zu malen aber auf der anderen Seite auch traurig , denn es war ja kein Bahnhof mehr , sondern nur ein Abrissgebäude und außer ein paar Bauarbeitern würde niemand unser Werk sehen. [ … ] In den Entwurf haben wir versucht all diese Gefühle zu verarbeiten , die Figur weiß nicht was sie tun soll und steht in der Klemme , einerseits mit einem Presslufthammer das Gebäude abreißen oder sich ein Zugticket nehmen und wegfahren und symbolisch den Bahnhof nicht abreißen.« 47 Die fotografische Dokumentation dazu zeigt die Bahnhofshalle , die schon sichtbar von den Demontagearbeiten gekennzeichnet ist. Auf dem Boden der Halle ist eine große , abstrakte Figur mit überkreuzten 45 Vgl. Rottenberg ( 2009 ): Die Legende der letzten Bahnhofsnacht , S. 11. 46 Kretschmer ( 2010 ): Einzel Bomber , S. 30. 47 Korrespondenz mit SMURF 3D.

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Armen aufgemalt. In einer Hand hält die Figur eine stilisierte Fahrkarte , in der anderen einen Presslufthammer und zielt damit in Richtung einer bereits aufgestemmten Fläche im Boden. Eine Träne läuft ihr die Wange hinab.

Abb. 9 : Urban Illustration

Baustelle – überbaute Geschichte – neue Stadt Im Jänner 2010 begannen die Abrissarbeiten. Plakatflächen beeinträchtigten die Blicke der PassantInnen auf die Baumaßnahmen – der Abschied war vollzogen , sollte vollzogen sein. Zugleich wurde mit dem schrittweisen Abtragen der Fassaden , der Deckenkonstruktionen und der Fensterfronten das Grundgerüst einer ohnehin reduzierten Architektur sichtbar. Auch aus dem Stadtdiskurs ver-

Abb. 10 : Baustelle Bahnhof Februar 2010

schwand die bis dahin erhebliche Präsenz des Bahnhofs schlagartig : Mit der offiziellen Schließung des Bahnhofgebäudes endete die tägliche Berichterstattung in den Medien. Doch Mitte 2010 erhielt das Bahnhofgelände erneut mediale Aufmerksamkeit. Im Zuge der Bauarbeiten wurden Grundmauern , Bunkersysteme

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Abb. 11 : Blick aus dem Bahnorama Sommer 2010

und Teile der Kassenhalle des gründerzeitlichen Südbahnhofs freigelegt , die auf die »geschichtete Geschichte«48 des Ortes verwiesen. Diese Situation – das Auffinden von verschütteten architektonischen Relikten – ist ein »sichtbares Zeichen dafür , [ … ] dass Stadt , zumal in Europa , aus über- und nebeneinanderliegenden Zeitschichten besteht , in die unterschiedliche Vorstellungen von städtischem Leben , von Repräsentativität und Urbanität eingeflossen sind«49. Auf dem Stadtentwicklungsgebiet überlagern sich somit mehrere Zeitschichten und einhergehend damit unterschiedliche Deutungsangebote von Stadt. Die Stadtbilder der Zukunft sind in den Architekturvisualisierungen sichtbar. Parallel zu den Bildern des zukünftigen Raumes existieren die mentalen Bilder50 der nahen und der fernen Vergangenheit : Während vielen WienerInnen der kürzlich abgerissene Bahnhof noch unmittelbar als Vorstellungsbild , zurückgehend auf eigene Erfahrungen , präsent ist , wurde über die Medienberichterstattung zu den Ausgrabungsfunden eine andere Bild- und Zeitebene eröffnet – die des medial vermittelten Geschichtsbildes.

Abb. 12 : Blick aus dem Bahnorama Sommer 2012 48 Assmann ( 2009 ): Geschichte findet Stadt , S. 18. 49 Binder ( 2009 ): Streitfall Stadtmitte , S. 27. 50 Vgl. Gerndt ( 2005 ): Bildüberlieferung und Bildpraxis , S. 15 f.

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Wo früher der Südbahnhof war , ist heute eine Baustelle , auf der sich Prozesse der urbanen Transformation abzeichnen : Dort wird gebaut , Schuttberge werden angehäuft , Brückenkonstruktionen errichtet , Schienengleise verlegt und vieles mehr. Es ist ein Ort im Wandel , im Umbau , im Prozess der Neu­ definition seines Images  – an das zugleich auch große Erwartungshaltungen vonseiten der Bauträger und der Stadt geknüpft sind. Seit August 2010 ermöglicht das sogenannte »Bahnorama«, eine Turmkonstruktion , die von den ÖBB und der Stadt Wien errichtet wurde , den Blick auf die Baustelle. Inzwischen hat sich der Aussichtsturm als Sehenswürdigkeit für TouristInnen und als Ausflugsziel für die BewohnerInnen der Stadt etablieren können. Der Turm lässt einen weitschweifenden Blick auf eine große freie Fläche inmitten der dicht bebauten Stadt zu. Aus dieser Perspektive wird die Baustelle als integrierter Teil des sich verändernden Stadtraumes wahrnehmbar : Der Hauptbahnhof ist in Wien angekommen.

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ABBILDUNGEN : Abb.  1 : © ÖBB /  Stadt Wien Abb. 9 : © SMURF 3D Alle anderen Fotografien stammen von der Autorin.

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ETHNOGRAPHIE DER SPONSION AN DER UNIVERSITÄT WIEN DEUTUNGSANGEBOTE ZU EINEM AK ADEMISCHEN RITUAL DER MACHT Der »Geschmack von Wien«1 ist mittlerweile in aller Munde , und Touristen wie Neuzugezogene üben sich weidlich , ihn beim Streifzug durch die Gassen der Innenstadt , im Kaffeehaus um die Ecke , auf dem Schnitzel-Teller oder im Musikverein zu entdecken. Er manifestiert sich anscheinend in einem spezifischen Habitus und Gestus , in einer besonderen Ästhetik und Materialität , die sich in den Gebäuden der Stadt , aber auch in der Kleidungs- , Haar- und Schmuckmode der Damen- und Herrenwelt ausdrücken und die gesellschaft­lichen Umgangsformen bestimmen. Hochtoupierte und gerne kolorierte Haarpracht der Damen sowie auffälliger Goldbehang an Ohren und Hals für den Gang in die Oper , die Anrede »Grüß Gott« und die Verabschiedung »Auf Wiedersehen« selbst aus dem Munde pubertierender Jugendlicher , nahezu ungeachtet ihrer sozialen Herkunft oder politischen Orientierung , zählen demnach zum Stil einer Stadt , in deren Innenstadt Pelze spätestens mit der Eröffnung der Weihnachtsmärkte Mitte November für nicht wenige zur Garderobe gehören und ausgeführt werden , auch wenn die Temperaturen noch längst kein zweites Fell erfordern. Ober ( sprich Kellner ) etablierter Kaffeehäuser werden in der höfisch anmutenden Etikette geschult , den Gast in der sogenannten »Kellnersprache«2 ( »Wünschen der Herr …«) anzusprechen , und auch die eindrucksvollen Prunkbauten im »historisch überdeterminierten« Wien3 vermitteln ein »historisches Gefühl« von ( vor )gestern.4 Mittlerweile wird eine solche typisierende und typisierte Alltagserfahrung der medial und literarisch vielfältig inszenierten Spezifik Wiens wissenschaftlich legitimiert , seit die Stadtforschung sich auf Eigenarten konkreter Städte konzentriert und das Konzept der »Eigenlogik der Städte«5 und Begriffe wie »Habitus«6 und »Stil«7 einer Stadt diskutiert. Die Tragfähigkeit dieser Blicke auf die Verschiedenheit von Städten und die Singularität einer Stadt ist

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Vgl. Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien. Vgl. Girtler. Ebd. , S. 253 f. Ebd. , S. 95. Vgl. Berking /  L öw ( 2008 ): Eigenlogik. Vgl. Lindner u. a. ( 2006 ): Dresden ; Lindner ( 2008 ): Schlüsselbegriffe. Vgl. Lee ( 1997 ): Relocating Location.

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nicht unumstritten ,8 und auch der »Geschmack von Wien«9 überzeugt nicht alle. An einem Beispiel aus meinem eigenen Erfahrungsfeld an der Universität Wien möchte ich versuchen , exemplarisch ein akademisches Ritual als Ausdruck einer urbanen Spezifik Wiens zu lesen , um von hier aus weitere Deutungsmöglichkeiten des Ereignisses aufzuzeigen und auf die Perspektive der empirischen Kulturwissenschaft Europäische Ethnologie zu sprechen zu kommen. Damit schreibe ich an einer Konjunktur mit , die die Reflexion des akademischen Lebens auch im deutschsprachigen Raum inzwischen genießt. Durch die Institutionengeschichte erfuhr die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Universitätsleben eine unübersehbare Konjunktur ,10 aber auch andere Disziplinen reflektieren die Universitätskultur nicht zuletzt angesichts des aktuellen Trends zu akademischen Feiern.11 Dabei stehen verschiedene Formate der reflexiven Auseinandersetzung mit dem akademischen Umfeld zur Verfügung. Zwar hat die deutschsprachige Literatur weitaus weniger Campus-Romane und kriminalistische Parodien aufzuweisen als die anglophone Textlandschaft – offensichtlich verträgt sich das Arbeitsleben an deutschen Hochschulen nicht mit dem Humor angloamerikanischer Vorbilder12 – , doch es blühen andere Genres , konkret Abhandlungen zu Einzelthemen wie zu speziellen Lebensumständen der Akademiker.13 Als Satire ist der vorliegende Text zwar nicht gemeint – es handelt sich um die kulturwissenschaftliche Analyse eines akademischen Alltagsphänomens14  – , aber eine parodistische Lesart erscheint gar nicht einmal so abwegig. 8 9 10

11

12 13 14

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Kemper u. a. ( 2011 ): Lokalistische Stadtforschung ; darin speziell Häussermann ( 2011 ): Rezension. Vgl. Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien. Füssel ( 2006 ): Universitätsgeschichte , S. 21. Innerhalb dieses Trends erfährt die akademische Fest- und Ritualkultur besondere Aufmerksamkeit. Vgl. neben Füssel auch Stollberg-Rilinger ( 2003 ): Promotion und Ditzhuyzen ( 2008 ): Selbstdarstellung. Zur akademischen Festkultur insbesondere Schweiger-Wilhelm ( 2011 ): Willkommen. Andere ethnologisch-kulturwissenschaftliche Arbeiten behandeln einzelne Bereiche oder zeitliche Ausschnitte der Universitätskultur : etwa Krug-Richter / Mohrmann ( 2 009 ): Universitätskulturen. Weitere Beiträge zu bestimmten Feldern des akademischen Lebens wie der Gelehrtenkleidung lassen sich schon in den 1970er-Jahren finden , als diese zu einem hochumstrittenen Symbol avanciert war : Bringemeier ( 1974 ): Gelehrtenkleidung. Mit der akademischen Kleidung hat sich auch die Kunsthistorikerin Andrea von Hülsen-Esch in ihrer Habilitation eingehend beschäftigt : Hülsen-Esch ( 2006 ): Gelehrte. Vgl. Braun ( 2012 ): Universitätssatire. Vgl. Bendix ( 2010 ): Akademischer Krimi. Huber ( 2012 ): Campusromane. Hier folge ich dem kulturwissenschaftlichen Alltagsbegriff gesellschaftlicher Routinen , der nicht auf der Unterscheidung zwischen Alltag und Festtag basiert.

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Wie verschieden Universitäten selbst im deutschsprachigen Raum sind , wie unterschiedlich die Umgangsformen und Verwaltungsstrukturen , die adminis­ trativen Abläufe oder Antragsformulare , sprich allgemein die Arbeitsbedingungen und Institutsatmosphären sein können , zeigt erst der Vergleich verschiedener Standorte. Und so lassen sich Arbeitsplatzwechsel von Ethno­­lo­­ginnen und Ethnologen in den ersten ein bis zwei Jahren der Anwesenheit am neuen Ort berufsbedingt auch als intensive »stationäre Feldforschung« im Mali­nowski’schen Sinn begreifen : als durch teilnehmende Beobachtung geleitete Verstehens- und Sozialisationsprozesse neuer , bislang unbe­kannter Abläufe und Normen , während derer quellentaugliche Erfahrungen gesammelt werden. Auf eine solche Phase des teilnehmend beobachtenden Einsteigens blicke ich zurück , nachdem ich zum Wintersemester 2009 als Nachfolgerin von Konrad Köstlin nach Wien berufen wurde und den Wechsel von Göttingen an die Donau antrat. Der Modus des Vergleichens liegt bei Ortswechseln besonders nahe , und so kontextualisierte auch ich das akademische Leben im Rahmen der mir bis dato bekannten Almae Matres und sah alsbald : In Wien gibt es spezifische und teils sehr andere akademische Gepflogenheiten , als sie mir von Universitäten wie Hamburg oder Göttingen bekannt waren. Berichten möchte ich hier von einem besonderen Ereignis des akademischen Lebens in Wien , das sich verlässlich alle paar Wochen im großen Festsaal des Hauptgebäudes der Universität Wien wiederholt und auch an den anderen Universitäten der Stadt abgehalten wird : die Sponsion.

Abb. 1 : Hauptgebäude der Universität Wien Foto: Universität Wien

Ethnographie der Sponsion an der Universität Wien

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Sponsion – das Ereignis Es gehörte zu meinen ersten Amtspflichten als neue Professorin an der Universität Wien , im Oktober 2009 als Promotorin an einer Sponsion mitzuwirken.15 Manchen Leserinnen und Lesern sind diese Begrifflichkeiten vermutlich ähnlich fremd wie sie es mir als akademisch in Hamburg sozialisierte Kulturwissenschaftlerin zunächst waren. Sponsion verweist in diesem Fall nicht auf finanzielle Förderung und Promotor weder auf eine aus betriebswirtschaftlicher Sicht innovative Person noch auf eine Nukleotid-Sequenz auf der DNA. Sponsion meint in Österreich vielmehr die Verleihung des Magister- /  Magistra- beziehungsweise Master- oder Diplom- und zunehmend auch des Bachelor-Titels im Rahmen einer feierlich gestalteten Abschlussfeier für die Absolventinnen und Absolventen der Universität , für die ich in der Rolle der Promotorin als ausführende Instanz fungieren , ein Gelöbnis abnehmen und die Urkunde überreichen sollte. Im Vorfeld des Ereignisses wurden mir klare Anweisungen zur Dramaturgie dieses akademischen rite de passage übermittelt. Gerne kam ich der Bitte nach , zeitig vor Veranstaltungsbeginn im Hauptgebäude der Universität am Ring zu erscheinen , um unter den verschiedenen Größen einen passenden Talar und ein Barett für mich zu finden ( siehe Abbildung 2 ) und gemeinsam mit dem Dekan eine beträchtliche Menge an gut DIN A2 großen Urkunden zu unterzeichnen , die anschließend in einer roten Kartonage eingerollt wurden ( siehe Abbildung 3 ).

Abb. 2 : Akademische Festgewänder der Universität Wien Foto: Universität Wien 15

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Seither verfolge ich regelmäßig akademische Rituale und immer wieder auch speziell Sponsionen an der Universität Wien , habe Interviews mit Verantwortlichen , mit in unterschiedlichen Rollen Beteiligten sowie mit Absolventinnen und Absolventen geführt und mehrere teilnehmende Beobachtungen von Sponsionsfeiern durchgeführt. Das dabei entstandene Quellenmaterial bietet die Grundlage dieses Textes , für den ich auf Tagebucheinträge , Interviewtranskripte und Gesprächsprotokolle rekurriere.

Brigitta Schmidt-Lauber

Abb. 3 : Urkunden in Kartonrollen Foto: Universität Wien

Das imposante Hauptgebäude , das 1873 bis 1884 nach den Plänen des Architekten Heinrich von Ferstel errichtet wurde und die Formensprache der Renaissance mit der Monumentalität des Barock verbindet , zählt zu den Ende des 19. Jahrhunderts am Ring errichteten hauptstädtischen Monumental- und Repräsentationsgebäuden neben Prunkbauten wie Parlament , Rathaus und ( neuem ) Burgtheater und schmückt bis heute zahlreiche Ansichtskarten der Stadt. Es ist Zentrum der multilokalen Universität Wien , die sich rüstet , im Jahre 2015 als nach Prag älteste Universität im deutschsprachigen Raum ihr 650-jähriges Bestehen zu feiern. Nicht weniger eindrucksvoll als das Gebäude von außen ist der große Festsaal mit seinen prunkvollen Säulen , Wänden und Gemälden , mit herrschaftlichen Türen , Kronleuchtern , glänzendem Parkettboden und Standbildern

Abb. 4 : Großer Festsaal der Universität Wien Foto: Universität Wien

Ethnographie der Sponsion an der Universität Wien

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des Universitätsgründers Rudolph IV. sowie der Kaiserin Maria Theresia ( siehe Abbildung 4 ). Die Decke zieren reproduzierte Fakultätsbilder von Gustav Klimt und Franz Matsch. Ausgerichtet ist der Raum auf die markante Kanzel am Kopf des Saales , davor befinden sich Stuhlreihen für die Festgemeinde mit einem Mittelgang dazwischen. Durch die Raumordnung und das Interieur , die Materialien , Form- und Farbgebung , die Lichtverhältnisse und Akustik sowie die Bildersprache vermittelt der Raum Ortsheiligkeit , die ausstrahlt und habituell von den Anwesenden durch bedächtiges Sprechen , festliche Kleidung und Disziplinieren tobender Kinder gewürdigt wird. Der große Festsaal garantiert feierliche Atmosphäre und ist als solcher Rahmen für die Sponsion wie auch für Ehrungen , Antrittsvorlesungen oder Kongresseröffnungen. Seite an Seite mit dem Dekan , der die Amtskette der ( heute so nicht mehr existierenden ) Philosophischen Fakultät und einen Talar mit dem »Fakultäts-

Abb. 5 : Einzug des Dekans und Promotors zur Sponsion, angeführt vom Pedell Foto: Universität Wien

kragen« in der »Fakultätsfarbe« Blau trug und mich vor den Tücken unseres Kleidungsstückes warnte ( speziell Männer würden als ungeübte Rock- und Kleiderträger beim Stufensteigen allzu leicht über den Talar stolpern ), und angeführt vom Pedell – der organisatorischen Hilfskraft bei der Zeremonie , die das Szepter der Fakultät trug und das Tempo angab – schritten wir in den Fest­ saal ( siehe Abbildung 5 ). Die 350-köpfige Festgemeinde und allen voran die Absolventinnen und Absolventen harrten schon erwartungsvoll der Dinge , die da kommen sollten. Nach der Rede des Dekans ( siehe Abbildung 6 )16 , der 16 Die Abbildungen aus dem Fotoarchiv der Universität Wien beziehen sich nicht auf die Sponsionsfeier im Oktober 2009. Der Ablauf der Feierlichkeiten findet

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Abb. 6 : Rede des Dekans Foto: Universität Wien

vor Ort als Spectabilis angesprochen wird , und gerahmt von Musikeinlagen von drei Streichern hatten die jungen Akademikerinnen und Akademiker einen Eid auf die Universität und die Wissenschaft abzulegen , bevor sie persönlich die Urkunde ausgehändigt bekamen.17 Wörtlich hatte ich ihnen folgendes Gelöbnis abzunehmen  – ich zitiere die Sponsionsformel , deren Anliegen als durchaus zeitgemäß gelten kann , vergegenwärtigt man sich die spektakulären Enthüllungen von Plagiaten in den letzten Jahren oder zumindest Verdächtigungen hochr­a ngiger Politiker wie Karl Theodor zu Guttenberg , Annette Schavan oder Johannes Hahn :

»Im Namen aller Kandidatinnen und Kandidaten danke ich der Universität für den verliehenen Grad und ich verspreche , dass wir das abgelegte Gelöbnis ernst nehmen und uns des akademischen Grades würdig erweisen werden. Ich verspreche , der Universität , die mir den akademischen Grad verliehen hat , dauernd verbunden zu bleiben , und sie in der Erfüllung ihrer Aufgaben nach meinen Kräften zu unterstützen. Ich verspreche insbesondere , den Fortschritt der Wissenschaften auf dem Gebiete , auf dem mich der akademische Grad zur Berufsausübung berechtigt , aufmerksam zu verfolgen und mir insoweit anzueignen , als er für meine Berufsausübung von Bedeutung ist. Ich verspreche ferner , mein Urteil in wissenschaftlichen Fragen stets nach bestem Wissen und Gewissen ohne Rücksicht auf persönlichen Ehrgeiz oder Vorteil oder andere außerwissenschaftliche Motive zu bilden. indes routiniert nach gleichem Muster statt , so sich auch die Fotos ähneln. Ich danke an dieser Stelle Helga Schandl aus dem Veranstaltungsmanagement der Universität Wien sehr herzlich für Auskünfte und die Zurverfügungstellung der Fotografien. 17 Dem Eid kommt als Höhepunkt des Zeremoniells besondere Bedeutung zu , wie ja auch schon der Begriff Sponsion auf das lateinische Wort sponsio zurückgeht , das Gelöbnis bedeutet.

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Ich verspreche endlich , in meiner Lebensführung alles zu unterlassen , was das Ansehen des mir verliehenen akademischen Grades schädigen könnte.« Dies mögen Sie geloben !18

Nacheinander traten die Kandidatinnen und Kandidaten vor die Kanzel und schworen in feierlicher Tonlage durch Auflegen der Schwurfinger auf den Szepterkopf mit den Worten »ich gelobe !« ( siehe Abbildung 7 ), bevor sie die Urkun-

Abb. 7 : Ablegen des Gelöbnisses Foto: Universität Wien

de im Blitzlicht der Kameras ihrer Zugehörigen , begleitet von einem Händedruck meinerseits und einem weiteren des Dekans , in Empfang nahmen ( siehe Abbildung 8 ) und sich schließlich wieder in die Reihe der Kommilitoninnen und Kommilitonen begaben. Omas und Opas , Partner und Freundinnen , Väter und Kinder applaudierten ( siehe Abbildung 9 ). Live gespielte Musikstücke wie »gaudeamus igitur« und sogar die Bundes- sprich Nationalhymne und selbst die Europahymne unterstrichen die Außeralltäglichkeit der Veranstaltung , gaben ihr geradezu politische Weihe und formten die feierliche Atmosphäre mit ( siehe Abbildung 10 ). Dazu flankierten auch zwei Flaggen – der österreichische Bundesadler und die Wien-Fahne – die Kanzel links und rechts ( siehe Abbildung 11 ). All dies erklärt , warum die Sponsion mehr eine Feier denn ein Fest ist , ist doch »die Feier an Würde , Zielgenauigkeit und Seriosität dem Fest überlegen«, sie wiegt »schwerer«, »ist würdiger , ja sakral wie die Abendmahlsfeier

18 So der Wortlaut der Sponsionsformel , die mir im Vorfeld per E-Mail gemeinsam mit den Namen der Kandidatinnen und Kandidaten und dem Ablaufplan zugesandt wurde.

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Abb. 8 : Überreichung der Urkunde durch den Promotor Foto: Universität Wien

Abb. 9 : Applaus der Festgemeinde für die Kandidatinnen und ­Kandidaten Foto: Universität Wien

Abb. 10 : Musiker unterstreichen die feierliche Atmosphäre Foto: Universität Wien

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Abb. 11 : Flaggen umrahmen die Kanzel Foto: Universität Wien

oder die Feier des Hochamts«.19 Bei Promotionen und erst recht bei der »promotio sub auspiciis praesidentis rei publicae«, einer besonderen Auszeichnung in Österreich von bestmöglichen Studienleistungen binnen der Durchschnittsdauer , die in Anwesenheit des Bundespräsidenten verliehen wird , findet der Akt übrigens unter der Federführung des Rektors , Magnifizenz tituliert , statt und wird die Promotionsformel in lateinischer Sprache verlesen , was nochmals den außeralltäglichen Charakter und – gerade im katholischen Wien – den sakralen Gestus unterstreicht.

Wiener Lesarten und die Macht der Geschichte Die Sponsion ist ein spannendes Ritual , das für manche im 21. Jahrhundert auf den ersten Blick anachronistisch anmuten mag ob seines höfisch-klerikalen Gepräges und seiner vermeintlichen Ungleichzeitigkeiten. Die Zeremonie scheint zur Historizität und Behäbigkeit der Stadt Wien zu passen , in der schon Gymnasiallehrer als Professoren gelten , die Ehefrau des Arztes durchaus »Frau Doktor« genannt wird und andererseits Alkoholika als »Stamperl« oder »Achterl« verniedlicht oder existenzielle Schreiben als »Brieferl« bezeichnet werden. Die besondere Mischung aus Überhöhung und Bagatellisierung ergibt ein ganz eigenes Gepräge. In jedem Fall ist Wien sicherlich keine Stadt , die mit Modernität und Schlichtheit assoziiert würde , deren Bewohnerinnen und Bewohner als direkt gelten und deren ästhetische Textur als Beleg schnörkellos klarer Avantgarde bezeichnet würde. Was ist also dran an der These der Eigenlogik einer Stadt und eines spezifischen Habitus Wiens ? 19 Köstlin ( 2011 ): Jubiläen , S. 467 f. ; vgl. Bollnow ( 1955 ): Geborgenheit.

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Es stimmt , die Bausteine des Rituals fügen sich wie ein Mosaik zusammen , in dem sich ein spezifischer Geschmack und Stil des kaiserlich-königlichen Wien zu manifestieren scheint : staubig anmutende Talare , ein Kragen aus Hermelin für den Rektor und ein Fakultätskragen mit Kunst- oder Hasenpelz für den jeweiligen Dekan sowie gebrauchte , quasi patinierte Hüte für die würdevoll schreitenden Amtsträger ; ein striktes Zeremoniell mit einstudierten Formeln und Schrittfolgen ; der vorausgehende , Tempo angebende Pedell , der das Gewicht der akademischen Honoratioren nochmals unterstreicht ; sorgfältig reproduzierte und restaurierte Szepter und Amtsketten als historische Symbole der großen alten Fakultäten ; überdimensionierte Urkunden mit Siegel und handschriftlichen Signaturen in roter Kartonage überreicht ; die von Musikern live gespielte klassische Musik und die festlich gekleideten Gäste ; die Kronleuchter , Gemälde und Skulpturen und vieles andere mehr passen in diese Stadt und an diesen Ort. Dem Zeremoniell , so könnte man zuspitzen , ist der Stil der Stadt eingeschrieben. Wie die Architektur der Innenstadt oder die Etikette mancher Kaffeehäuser imaginiert es ( um mit Stefan Zweig zu sprechen ) eine »Welt von Gestern«20. Tatsächlich besitzen solche Deutungen im Alltag große Plausibilität , so meinte auch ein Kollege in einem beiläufigen Gespräch mit mir über die Sponsion , ein solches Ritual sei in Hamburg oder Berlin undenkbar. Aber auch in der wissenschaftlichen Betrachtung wird die Sponsion mitunter eng mit Wien beziehungsweise in weiterer Folge mit Österreich21 assoziiert. Konrad Köstlin schrieb diesbezüglich sogar , dass akademische Feiern »österreichische Dominanz«22 aufweisen würden , wiewohl der Bedarf an repräsentativen Anlässen gerade von ihm gesellschaftsübergreifend als steigend und als Teil der Selbstdarstellung in der Moderne gedeutet wird. Man muss die These von der Eigenlogik städtischer Wissenslandschaften nicht bemühen , mit der Ulf Matthiesen23 einen engeren Konnex zwischen Stadt- und Wissensforschung einforderte , um anzuerkennen , dass die Ausgestaltung der akademischen Feier auch vor dem Hintergrund der katholisch und höfisch geprägten Stadt Wien zu sehen ist , die Wert darauf legt und an die gleichsam Erwartungen geknüpft sind , eine gewichtige , in jedem Fall lange Geschichte zu besitzen und den alten Glanz ( der Monarchie ) in prunkvollem , neuem Gewand hochleben zu lassen. Und tatsächlich stammen viele Insignien wie etwa der Talar nicht aus universitären Korporationen , sondern sind an Adel und Klerus ori20 Vgl. Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien , S. 95. 21 Leicht werden Kennzeichen Wiens wie eine mit der Stadt assoziierte betulichumständliche Etikette und Ausdrucksform national verallgemeinert und besonders von außen auf ganz Österreich übertragen – dem Primatstadt-Status Wiens entsprechend – , wie in der Provinz immer wieder leidvoll erfahren wird. 22 Köstlin ( 2011 ): Jubiläen , S. 468. 23 Matthiesen ( 2008 ): Eigenlogiken.

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entiert.24 Von ihrer institutionellen Kultur her hat Marian Füssel – einer der in der universitären Ritualgeschichte in Europa versiertesten deutschen Historiker – die europäischen Universitäten der Frühen Neuzeit deshalb einmal treffend als »hybride Gebilde« bezeichnet : »Sie vereinen klerikale und monastische mit bürgerlich-genossenschaftlichen Elementen ebenso wie mit fürstenstaatlichen Strukturen.«25 Die Zeremonie und konkret die Standeskleidung schon der Frühen Neuzeit können mit Recht als Bricolage bezeichnet werden. Es ist vielfältig zu beobachten , dass sich die Universität Wien mit ihrer ›langen Geschichte‹ präsentiert und ( re )produziert. Dies geschieht in institutionalisierten Inszenierungen wie den beschriebenen Feierlichkeiten einer Sponsion oder anhand von ›historischen‹ Führungen durch die Universität , aber auch schon alltäglich , etwa habituell durch die auch im täglichen Schriftverkehr üblichen förmlichen Anredemodalitäten Spectabilis und Magnifizenz , die vom Allerweltsnachschlageorgan Wikipedia für »traditionell« und an »Traditionsuniversitäten bei offiziellen Anlässen noch gebraucht«26 erklärt werden ; auch beim Neuberufenenempfang 2009 im holzvertäfelten Senatssitzungssaal rekurrierte der damals amtierende einladende Rektor wie selbstverständlich gleich zu Beginn auf die lange Tradition der Universität Wien. Und schon gar nicht wundert , dass umfängliche Vorbereitungen und Pläne zur Begehung des 650-jährigen Universitätsjubiläums laufen.27 Dass diese besondere Geschichtszuschreibung gerade in Wien selbst Geschichte hat und vielfältig diskursiv ( medial , durch Literatur , Fremdenführer und Wissenschaft ) und materiell vorgeformt ist , ist evident.28 Die Macht der Geschichte scheint auch bei der Sponsion , die in Interviews ob ihrer strengen Choreografie und altertümlich wirkenden Symbole und Insignien gerne als »uraltes« akademisches Ritual und als »zweifelsohne echte Tradition« Wiener Universitätskultur bezeichnet wird , das auffälligste Charakteristikum. Und tatsächlich gibt es verschiedene Anzeichen einer longue durée der Universitätskultur , die sich auch in der Ausgestaltung der Feier und ihren Materialisierungen zu dokumentieren scheint. Marian Füssel hat facettenreich die Abläufe und Veränderungen der zentralen Investiturrituale der Universität in und seit der Frühen Neuzeit und damit die historischen Vorläufer dieses rite de passage beschrieben , die in mittelalterlichen Formen der Promotionsfeiern zu suchen sind. In seinen Ausführungen finden sich mehrere Elemente , die auch die heu24 25 26 27

Vgl. Füssel ( 2010 ): Solennitäten ; ders. ( 2010 ): Die Macht der Talare. Füssel ( 2010 ): Solennitäten , S. 44. http://de.wikipedia.org/wiki/Rektor ( 24. 1. 2012 ), Hervorhebung durch Verf. Auch das Institut für Europäische Ethnologie arbeitet verschiedentlich an den reflexiven ( Re )Präsentationen der Universität mit. Auch dieser Text zählt als Ausdruck der disziplinären Spezifik im Umgang mit universitärem Alltag und damit der leidenschaftlichen Deutung von Nahwelten dazu. 28 Vgl. Musner ( 2009 ): Der Geschmack von Wien.

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tige Sponsion an der Universität Wien kennzeichnen – wie die Akteursgruppen und ihre jeweiligen Bezeichnungen als Pedell oder Promotor , die Insignien wie Amtskette und Talar bis hin zu konkreten Handlungen wie das Berühren des Szepters beim Ablegen des Eides.29 Die Gegenwart der Vergangenheit manifestiert sich nicht zuletzt ganz konkret materiell – so etwa im zentralen Insignium universitärer beziehungsweise fakultärer Macht : dem Szepter. Entgegen der heutigen Anzahl von Fakultäten folgt das Zeremoniell dabei der seit dem Mittelalter üblichen Einteilung in vier Fakultäten , nämlich drei »höhere«, berufsorientierte Fakultäten von Theologie , Jurisprudenz und Medizin sowie eine allgemeinbildende , später Philosophische Fakultät. So verfügt das Veranstaltungsmanagement der Universität neben dem Szepter des Rektors ( nach Ausgliederung der medizinischen Fakultät ) nur über vier Fakultäts-Szepter und zwar für die katholisch-theologische und die evangelisch-theologische Fakultät , für die philosophische und die juristische Fakultät , wobei die Szepter aus dem 17. Jahrhundert beziehungsweise im Falle der evangelisch-theologischen Fakultät aus dem Jahre 1859 stammen. Auch damit wird die Geschichte beziehungsweise genauer die wechselhafte Geschichte des Protestantismus in Österreich implizit gespiegelt. Über den damaligen Ablauf der akademischen Abschlussfeiern schreibt der Historiker mit folgenden Worten , die auch für das Zeremoniell der Gegenwart zutreffen : »Eine differenzierte Choreographie regelte das räumliche Arrangement einer strikt gehandhabten Rangordnung , auf deren korrekte Einhaltung rigide geachtet wurde.«30 Und auch der Eid auf die Universität und die Wissenschaft taucht in Texten der Frühen Neuzeit auf : So berichtet Füssel von dem von Promovierenden zu leistenden Eid , mit welchem sie geloben , den ihnen zugewiesenen Rang zu akzeptieren.31 Die anschließende Ringverleihung wird übrigens als symbolische Verheiratung mit den Musen interpretiert  32  – eine Auslegung , die die zitierte Sponsionsformel zu bekräftigen scheint , schließlich wird ein Treuespruch mit holistischem Anspruch geäußert ( »Ich verspreche , der Universität , die mir den akademischen Grad verliehen hat , dauernd verbunden zu bleiben , und sie in der Erfüllung ihrer Aufgaben nach meinen Kräften zu unterstützen. [ … ] Ich verspreche endlich , in meiner Lebensführung alles zu unterlassen , was das Ansehen des mir verliehenen akademischen Grades schädigen könnte«, Hervorhebungen durch Verf. ). Mitunter finden sich historische oder historisierende Verweise wie die genannten auch in kulturwissenschaftlichen Interpretationen universitärer Rituale und Praktiken : Von »mittelalterlich anmutender« Bekleidung der akade29 30 31 32

Füssel ( 2007 ): Ritus Promotionis , S. 421. Ebd. , S. 430. Ebd. , S. 434. Ebd. , S. 440.

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mischen Würdenträger beziehungsweise »Wiederentdeckung mittelalterlicher Ästhetik«33 oder einer »rückgewendeten Denkweise elitärer Absonderung und Verfremdung«34 ist da die Rede , wobei die jeweilige Historizität sowohl monarchie- und nationalpolitisch als auch klerikal ausgedeutet wird. So wird die Bekleidung auf das klerikale Gewand der akademischen Welt des 12. und 13. Jahrhunderts zurückgeführt , als Lehrende und Studierende »kleine religiöse Dienste« zu verrichten hatten. Mitunter wird sie auch funktionalistisch erklärt : Die langen Roben oder Barette boten in den ungeheizten Räumen des Mittelalters wärmenden Schutz.35 Zum überwiegenden Teil jedoch sind kulturwissenschaftliche Ansätze eher dekonstruktivistisch und praxeologisch angelegt und stellen gerade auch die üblichen Vorstellungen von ›Kontinuität‹ und ›Konstanz‹ in solchen Handlungen infrage.

Dekonstruktivistische kulturwissenschaftliche Lesarten – Erfindung und Performanz – Aus der Fachgeschichte der Volkskunde sind wir sensibilisiert für vermeintliche Überbleibsel aus uralten Zeiten. Wir verstehen es , sie genauer unter die Lupe zu nehmen und vielfach als neue Erfindung zu erkennen. Tatsächlich ist es auch in diesem Fall möglich , das regelmäßig alle paar Wochen von den verschiedenen Fakultäten zelebrierte Ritual als Konstruktion von Tradition und von Eigenlogik zu erkennen , die mehr über die Gegenwart und ihren Bedarf an Geschichte und Identität als über die Vergangenheit und in jedem Fall über das gewünschte Selbstbild Auskunft gibt. So finden sich Einträge zu den Sponsionsformeln der unterschiedlichen Fakultäten36 im Archiv der Universität Wien überhaupt erst ab den 1960er-Jahren und Sponsionsprotokolle ab Anfang der 1970er-Jahre : Das Magister- und Diplomstudium wurde im Hochschul-Studiengesetz von 1966 verankert und ( wieder ) eingeführt , bis dahin war die Promotion der übliche Universitätsabschluss.37 Und ausgerechnet Alfred Ebenbau33 Bendix ( 2004 ): Akademischer Krimi , S. 10. 34 Weber-Kellermann ( 1977 ): Universitätskleidung , S. 7. 35 Schweiger-Wilhelm ( 2011 ): Willkommen , S.  73 ; Bendix ( 2004 ): Akademischer Krimi , S. 9 f. 36 Diese unterscheiden sich geringfügig voneinander. 37 In den 1780er-Jahren waren alle Grade unter dem Doktorat aufgehoben worden ; nur für die Pharmazie wurde im 19. Jahrhundert wieder ein Magisterium eingeführt. Zur Geschichte des Doktorats an der Universität Wien siehe Meister ( 1958 ): Geschichte des Doktorats. Schwinges ( 2007 ): Examen , Titel , Promotion. Ich danke Thomas Maisel und Ursula Denk vom Archiv der Universität Wien für hilfreiche Hinweise.

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er , 1945 geboren , selbst ein Angehöriger der 1968er-Generation und Ende des 20. Jahrhunderts langjähriger Rektor der Universität Wien ( 1990–1998 ), führte die kostenintensive ›echte‹ Live-Musik statt des Abspielens eines schnöden Tonbandes während der akademischen Abschlussfeier wieder ein , wie überhaupt das historische Interesse ›nach hinten‹ auch an der Universität Wien nicht immer dergestalt ausgeprägt war wie heute. Heute ist interdisziplinär common sense , dass derartige Inszenierungen von Tradition mehr mit der Gegenwart und ihren Akteuren als mit der Vergangenheit , auf die man sich beruft , zu tun haben. Und auch die Tatsache , dass die jeweilige Vergangenheit dabei gerne zurechtgebogen und regelrecht erfunden wird und dass vermeintliche Traditionen nicht selten Erfindungen neueren Datums sind , überrascht heute niemanden mehr – ich denke da an das bereits erwähnte , seinerzeit bahnbrechende Konzept der »invention of tradition« von Eric Hobsbawm und Terence Ranger38 , die breite Diskussion um gesellschaftliche und individuelle Gedächtnisformen und Erinnerungskulturen39 oder an die neueren Debatten um das kulturelle Erbe.40 Gerade in Umbruchzeiten und Krisen  – das hat die Forschung vielfach betont  – werden Rückgriffe auf eine passende Vergangenheit als Stabilisierungseffekte und Identitätsstützen gesucht. Sie haben mithin Kompensationsfunktion.41 Daneben werden Referenzen auf die eigene Geschichte auch als gezielte Hinweise auf eine erfüllte Gegenwart und Zukunft gedeutet.42 Die Deutung kultureller Zeichen und Handlungen ist unser Geschäft. Gelten im Alltagswissen »Authentizität«, »echte Tradition« und »Wiener Art« Interviews zufolge als gestaltende Wirkmächte von Ritualen wie der Sponsion , so sind sie in heutiger kulturwissenschaftlicher Lesart 43 das Ergebnis gezielter Inszenierungen , Performanzen zur Erfüllung von Erwartungen. Aus vielen Forschungsfeldern sind hierzu zahlreiche Beispiele bekannt. Europäische Ethnologinnen und Ethnologen entdecken auf der Suche nach regional 38 Hobsbawm u. a. ( 1984 ): Invention. 39 Assmann ( 1991 ): Mnemosyne ; Welzer ( 2002 ): Gedächtnis ; Bertaux /  Bertaux ( 1980 ): Erinnerungen. 40 Bendix ( 2010 ): Cultural Property ; Tauschek ( 2010 ): Wertschöpfung. 41 Vgl. Lübbe ( 1994 ): Zug der Zeit ; ders. ( 2000 ): Gegenwartsschrumpfung. 42 Köstlin ( 2011 ): Jubiläen. 43 Vor 50 Jahren gab es in der Volkskunde unter dem anhaltenden Eindruck der lange dominanten Ursprungssuche im Fach noch lebhafte Diskussionen um den Begriff »Folklorismus« als »Volkskultur aus zweiter Hand« und besonders über die kategorische Abkehr von der wertbeladenen Echtheitsfrage. Wolfgang Brückner forderte dann Ende der 1960er-Jahre mit Erfolg , dem Kontinuitätsbegriff eine Absage zu erteilen und stattdessen den Begriff »Tradition« einzuführen , in dem das prozessuale und aktive Moment der Vermittlung , gewissermaßen des Vollzugs mitschwingt. Brückner ( 1969 ): Kontinuitätsproblem.

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oder lokal Typischem nicht selten Stereotype , die besonders nach außen aufgeführt und geglaubt werden , aber nicht notwendigerweise gelebte Alltagskultur spiegeln. Utz Jeggle zeigte etwa an vermeintlich typisch schwäbischen Speisen , dass diese vergleichsweise selten in der schwäbischen Alltagsküche und konkret auf den Tellern zu finden seien ; aber sie sind in Reiseführern und Gaststätten für Touristen präsent und werden bei Preisausschreiben nach typischen Gerichten genannt.44 Weniger wichtig und bedeutsam sind sie damit nicht , aber nicht repräsentativ für den fraglichen Alltag der Gesellschaft ; sie geben nicht gelebte Praxis wieder , sondern bedienen Bilder und Vorstellungswelten und führen sie vor. Dass es sich im Falle der Sponsion an der Universität Wien um eine sehr erfolgreiche Inszenierung von Tradition , ein geglücktes Beispiel der inven­tion of tradition handelt , verdeutlichen die Reaktionen der Besucherinnen und Besucher. Angesichts der Macht der Bilder und der Dramaturgie äußerte sich eine Studentin aus Russland beeindruckt von dem Zeremoniell , das sie für ein Dokument altehrwürdiger Geschichte aus den Entstehungszeiten der Universität vor fast 650 Jahren hielt und als Ausdruck der »Kontinuität der Traditionspflege« an der Universität Wien wahrnahm. Bezugspunkt bildete dabei ihre Herkunftsuniversität in Moskau , die eine junge Einrichtung ist und keine derartigen Zeremonien in altmodischen Gewändern und mit bedeutungsschweren Insignien kennt. Auch wenn der Authentizitätsanspruch kulturwissenschaftlich längst entmachtet ist ,45 funktioniert er in der Alltagswelt oftmals nach wie vor , und es häufen sich mittlerweile übrigens auch die kulturwissenschaftlichen Stimmen wieder bezüglich einer »Renaissance der Authentizität« oder einer »neue[ n ] Sehnsucht nach dem Ursprünglichen« 46. Eine solche Sehnsucht leitet meine Lesart nicht an ; vielmehr begreife ich die Handlungen als performative Akte und nähere mich mit dem Verständnis der empirischen Alltagskulturwissenschaft praxeologisch dem Kulturellen. Somit möchte ich nun weitere Sichtweisen der Europäischen Ethnologie auf die Sponsion als akademische Feier an der Universität Wien und damit auch als urbanes Ereignis anschließen. – Das Wienerische der Sponsion : Zum Stil der Feierlichkeiten – Nicht jedes städtische Ereignis sollte als Ereignis der Stadt ( in der Lesart des Eigenlogik-Konzepts ) gedeutet werden , nur weil es in der Stadt stattfindet. Gerade für die Auslegung der Sponsion hilft weniger die Perspektive der An44 Jeggle ( 1986 ): Südwestdeutschland ; ders. ( 1988 ): Essgewohnheit , S. 200. 45 Vgl. Bendix ( 1997 ): Authenticity. 46 Rössner u. a. ( 2012 ): Renaissance.

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thropology of the City als vielmehr der Zugang einer ( ebenso legitimen ) Anthropology in the City47 , derzufolge das Ereignis als in der Stadt stattfindend betrachtet , aber nicht als aussagekräftig für die Stadt und vice versa gedeutet wird. Aus dieser Sicht , die sich nicht im Vorfeld auf erwartbare , vorgeblich ›typische‹ Universitätsrituale beschränkt , kommen nämlich auch viele andere akademische Kulturen und Feierlichkeiten in Wien in den Blick , die weitere Deutungsspuren legen , die nicht in gleichem Maße als für die Stadt typisch angesehen werden. Schließlich gibt es in Wien viele Universitäten und längst nicht an allen ist die Sponsion im beschriebenen Modus mit akademischer Kluft Usus. An der Universität für angewandte Kunst etwa ist bereits das Tragen einer Krawatte eine Besonderheit , Talare sind schon gar nicht üblich , man gibt sich hier eher avantgardistisch ;48 an der Technischen Universität Wien werden ebenfalls keine Talare getragen , und die Universität für Bodenkultur pflegt wiederum andere Abschlussrituale : Hier werden neben Talaren auch Trachten angezogen  – man geriert sich bodenständig. So verrät die Ausgestaltung der akademischen Zeremonien an den Wiener Universitäten bei genauem Blick mehr über Habitus , Stil und Ideologie der konkreten Universität denn über die Eigenlogik der Stadt. Wenn der beschriebene Stil der Sponsion an der Universität Wien dennoch in auffälliger Weise mit dem geläufigen Bild der Stadt korrespondiert und den so verstandenen städtischen wie universitären Ort laufend aufs Neue produziert , so ist diese Kongruenz auch ein Ergebnis der Bedeutungszuschreibung der Universität. Immerhin handelt es sich um die etablierte , Namen gebende , das architektonische Gesicht und die Stadtgeschichte prägende HauptstadtUniversität zwischen »Universitätsstraße« und neuerdings »Universitätsring« im unangefochtenen Zentrum Wien , der ehemaligen Kaiserstadt , neben der es indes auch andere Universitäten in der Stadt gibt. Eine solche Verkürzung realer Pluralität auf ein verdichtetes Bild findet vielfältig im Alltag statt. Die »atmosphärische Präsenz« einer Stadt , so schrieb kürzlich Jürgen Hasse , ist »in der Wahrnehmung nie an allen Orten der Stadt zugleich und in gleicher Intensität lebendig«.49 Wiewohl es in jeder Stadt eine Vielfalt von urbanen Stilen , Formen und Ensembles gibt , reduzieren sich die unterschiedlichen Atmosphären an räumlich begrenzten Orten in der Rezeption und Erfahrung auf eine ( wiewohl diffuse ) Ausdrucksform und Atmosphäre der Stadt. Bezüge zur jeweiligen Stadt , das heißt in diesem Fall zur wahrgenommenen städtischen Eigenlogik und einer zu ihr passenden Universitätskultur , werden insbesondere in Kontrast zu anderen Städten konstruiert : Sogenann47 Hannerz ( 1980 ): Urban Anthropology , S. 304. 48 Ich danke Herbert Nikitsch für diesen Hinweis. 49 Hasse ( 2012 ): Atmosphären , S. 10.

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ten Traditionsuniversitäten stehen Reform­universitäten gegenüber , die angesichts intensiver Diskussionen um die Modernisierung des Hochschulwesens in den 1960er- und 1970er-Jahren mit den Strukturen der alten Ordinarienuniversität brachen und die akademische Selbstverwaltung von den Ordinarien auf alle Gruppen der Universität übertrugen. Dabei wurde auch die Reform selbst materialisiert und fand ihren eigenen Ausdruck. Hamburg hat so eine Reformuniversität. Und so schreibt die Universität Hamburg , an der zwei Studierende am 9. November 1967 ein Transparent mit der Aufschrift »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren« enthüllten und damit eine zentrale Parole der Studentenbewegung kreierten , auf ihrer Homepage : »Zum 50. Jahrestag der Universität Hamburg am 10. Mai 1969 , nur wenige Tage nach Inkrafttreten des Universitätsgesetzes , blieb eine ›akademische Feier im traditionellen Rahmen‹ aus , weil eine solche , wie Rektor Werner Ehrlicher erklärte , in der ›gegenwärtig in Gruppen zerfallende[ n ] Universität‹ ›weder möglich noch angebracht‹ sei.«50 Die Abkehr vom akademischen Zeremoniell wurde als Demokratisierung und anti-autoritärer Gestus der Reformuniversitäten gefeiert , sie ist eine Materialisierung universitären Selbstbildes und universitärer Ideologie , derzufolge auch »das Zusenden maschinell erstellter , nüchterner Abschlusszeugnisse an Stelle der Absolventenfeiern nicht nur als normal , sondern als ›Sieg über das Establishment‹ angesehen wurde«51. Dabei gäbe es durchaus symbolisch beladene Praktiken des Studienabschlusses in Hamburg zu vermelden , die sich jedoch kaum ins geläufige Bild der Stadt fügen und daher auch nicht in die offiziellen und informellen Berichte über den Studienabschluss Eingang finden. Auch in der Reformuniversität Hamburg wurden mir die Magister- , Doktor- und die Habilitationsurkunde auf Büttenpapier mit Siegel und in einer roten gepolsterten Hardcover-Mappe zugesandt und fanden im Garten des Fachbereichs immerhin bei Sekt und Saft Abschlussfeiern für die Absolventinnen und Absolventen mit Ansprache des Fachbereichssprechers statt , wiewohl gerade dieser Universität explizit unrituelle Gepflogenheiten nachgesagt werden. Kommunizierbar und nach außen vermarktbar scheint nur ein Bild der hanseatischen Universitätstradition : Mit der zugeschriebenen Eigenlogik der Stadt und ihrem lokalen Habitus korrespondiert die Charakterisierung des Universitätsgebarens als schnörkellos direkt , unprätentiös und sachlich. Somit erklärt nicht die Eigenlogik einer Stadt den Stil universitärer Feierlichkeiten , vielmehr wird das Bild der Eigenlogik einer Stadt über die Betonung und Auslegung spezifischer Ereignisse geschaffen.

50 http://www.uni-hamburg.de/wandlungsprozesse/wandlungsprozesse_7.html ( 19. 2. 2012 ). 51 Schweiger-Wilhelm ( 2011 ): Willkommen , S.  131.

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– Tradition versus Moderne – In Wissenschaft und Alltagswelt wird das Zeremoniell akademischer Abschlussfeiern , wie am Beispiel Wiens beschrieben , oftmals der Tradition zugeordnet und als solches pauschal den Abläufen an ( Reform-)Universitäten wie Hamburg beziehungsweise einer »karge[ n ] rituelle[ n ] Landschaft an dt. Hochschulen« gegenübergestellt , wo eine »arg verspätete intellektuelle Revolution« zur Abkehr von jedwedem Festcharakter geführt habe.52 So berichtete ein Absolvent über den akademischen Abschluss an deutschen Universitäten in einer Internet-Jobbörse für Studierende : »Der Lebensabschnitt endete nüchtern. Ein Zettel oder ein Brief aus dem Sekretariat , manchmal sogar nur mit elektronischer Unterschrift. Das war an deutschen Universitäten lange Zeit oft alles , was die Studierenden zum Abschluss bekamen.«53 Die eindeutige zeit­l iche Verortung akademischer Abschlussrituale entweder als zukunftsorientierte Gegenwart ( ›modern‹) oder als historische Überlieferung ( ›Tradition‹, ›von früher‹) fällt wie kaum etwas anderes als verbindendes Element wissenschaft­ licher wie alltagsweltlicher Zuschreibungen auf. Beide Verortungen lohnen eine Auseinandersetzung. Die geläufige Interpretation eines formlos endenden Universitätsabschlusses als modern und eines nach strenger Choreografie und in außeralltäglicher Standeskleidung abgehaltenen Zeremoniells als alt beziehungsweise authentisch erweist sich schon mit Blick auf die Transformationen ritueller Gepflogenheiten als ahistorisch : Für das 18. Jahrhundert macht Marian Füssel einen eklatanten Bruch mit den Investiturritualen aus , im 19. Jahrhundert folgten Retraditionalisierungstendenzen , denen sich weitere Wenden im 20. Jahrhundert anschlossen. Derartige Wechsel werden von der Forschung weithin beachtet.54 Demzufolge formt sich die jeweilige Ritusfreudigkeit einer Gesellschaft in aufeinander bezogenen Schüben aus und folgen auf antirituelle Bewegungen oft Perioden stärkerer Ritualisierung. Das ist auch in Wien zu beobachten : Das Tragen des Talars wurde bei öffentlichen Anlässen im österreichischen Josephinismus , der rigoros gegen »Überbleibsel der Pfaffenherrschaft«55 vorging , und ausgerechnet in Wien , wo er heute etwa an der Universität Wien wieder als scheinbar historische Kontinuität garantierendes Zeugnis gefeiert wird , abgeschafft :56 Josef 52 Bendix ( 2004 ): Promotionsansprache , S. 11. 53 http://www.jobber.de/studenten/iptc-zin-20020206-2-dpa_1575828.nitf.htm ( 24. 1. 2012 ). 54 Vgl. Douglas ( 1974 ): Körpersymbolik ; Soeffner ( 1995 ): Ordnung der Rituale , S. 102 ff. 55 Soeffner ( 1995 ): Ordnung der Rituale , S. 131. 56 Wien hat auch in anderer Hinsicht auf sich aufmerksam gemacht , insofern hier – bedingt durch die unmittelbare Nähe zum Kaiserhof  – der erstplatzierte Doktorand in den Adelsstand aufgenommen werden konnte. Erst Ende des 18. Jahrhun-

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II. verbot Talare als alltäglich getragene Universitätstracht und schließlich am 11. November 1784 auch bei festlichen Akten , da sie an das päpstliche Recht , Universitäten zu gründen , erinnerten.57 Schon der Blick auf die Geschichte akademischer ( Abschluss-)Rituale lehrt also , dass sie auch historisch keineswegs als Ausdruck ungebrochener Kontinuität zu sehen sind und schon früher dem Verdacht der Inszenierung unterlagen. Marian Füssel beschreibt in seinen zahlreichen Arbeiten zu Universitätskulturen im Wandel , dass das akademische Zeremoniell Konjunkturen und Krisen unterlag und immer wieder Gegenstand unterschiedlicher – teils moraltheologischer wie im protestantischen Antiritualismus , teils ökonomischer oder erkenntnistheoretischer  – Kritik war.58 Der Göttinger Historiker zeigt , dass akademische Rituale und speziell die Kleidung der Gelehrten schon im 14. / 15. Jahrhundert umkämpft waren und kontrovers ausgelegt wurden , was kritische , teils ironische Distanz zum Geschehen erkennen lässt. Der satirische Blick , der sich oftmals in Karikaturen auf Gelehrte in Talar zeigt , findet sich bereits in Petrarcas eindrücklichen Ausführungen über die Transformationsleistung des Promotionsrituals , wenn er beschreibt , wie ein törichter Jüngling in den Tempel stolziert , um die Insignien der Doctorwürde zu empfangen. Seine Lehrer priesen ihn aus blinder Liebe. Er bläst sich auf. Der große Haufen staunt. Seine Verwandten und Freunde klatschen ihm Beifall zu. Indem er den höheren Lehrstuhl besteigt , glaubt er alles zu übersehen und murmelt etwas her , was man nicht verstehen kann. Nun erhebt ihn alles als einen gött­lichen Redner zum Himmel. Die Glocken und Trompeten ertönen : die Ringe fliegen , man umarmt ihn , und setzt ihm den runden Doctorhut auf. Wenn dies alles geschehen ist , so steigt der als weise vom Katheder , der als ein Tor hinaufgestiegen war. Eine Größere Verwandlung , als Ovid kannte.59

Schon Petrarca reflektierte also die Performativität des Ereignisses als gezielte Aufführung , Inszenierung und eitles Spiel , das ganz offensichtlich per se verschiedene Auslegungen ermöglicht( e ). Ebenfalls greift es zu kurz , heutige akademische Feiern in Talar und mit strenger Choreografie als Ausdruck einer retrospektiven Geistigkeit , einer erinnerten Welt von gestern zu sehen , wie neuere Entwicklungen zeigen. derts wurde die »Wiener Praxis« – insgesamt ein »Ausnahmefall« – beendet. Füssel ( 2007 ): Ritus , Zitate S. 433. 57 Bringemeier ( 1974 ): Gelehrtenkleidung , S. 83 ; vgl. Füssel ( 2010 ): Die Macht der Talare , S. 131. 58 Vgl. Füssel ( 2007 ): Ritus Promotionis ; ders. ( 2009 ): Ritualkultur. 59 Petrarca 1581 , zitiert nach Füssel ( 2007 ): Ritus Promotionis , S. 443.

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– Neue Ritualfreudigkeit in der kompetitiven Hochschullandschaft : Image , ­Distinktion und Kommerz – Aktuell ist im deutschsprachigen Raum wieder und auch an vielen jüngeren Universitäten ein beachtlicher Trend zu einer regelrechten Ritualfreudigkeit zu beobachten , der Hinweise auf weitere Bedeutungsdimensionen gibt. Regina Bendix berichtet in diesem Zusammenhang in einem unveröffentlichten Vortrag , dass die neue internationale Universität in Bremen ( IUB ) ihre Bachelor-Kandidatinnen und -Kandidaten auf Wunsch der Studierenden und Lehrenden in dünnen schwarzen Roben und mit Barett verabschiedet. Eine Modeschöpferin hat passend zum unifarbenen Talar einen IUB-Schal entworfen , der als eine »erfrischende Mischung von alt und neu« vorgestellt wurde.60 In Bochum , so referiert Bendix weitere Belege , tragen die »Baccalaureaten eines Reformstudienganges Umhänge samt Barett und baumelnden Quasten – 25–30 Euro würden hierfür durchaus ausgegeben«61. Und die Berliner Morgenpost schrieb einmal : » ›ausgerechnet an der Wirkungsstätte von Rudi Dutschke werden Examensfeiern schon seit zehn Jahren wieder praktiziert‹, und das Diplomzeugnis an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt Universität wird heute in einer dunkelblauen Stoffmappe mit silbernem Siegel und ziselierter Kordel überreicht.«62 Mitnichten beschränken sich akademische Rituale in Talar und mit Szepter wie die Sponsion in Wien also auf historisierte , als geschichtsträchtig oder konservativ beschriebene Orte und Institutionen. Ausgerechnet junge Universitäten wie in Bremen oder Bochum und gerade auch Universitäten in ostdeutschen Bundesländern mit längerer DDR-Vergangenheit wie Chemnitz oder Halle haben dem vorgeblichen Muff alter Talare oder anderen akademischen Ritualen – seien es Abschlussfeiern oder Bälle – nicht abgeschworen ; ganz im Gegenteil haben mehrere von ihnen akademische Feiern und Insignien seit den 1990er-Jahren ( wieder ) neu eingeführt und umgedeutet.63 Jüngst war in einer neu gegründeten Hochschulzeitung des Deutschen Hochschulverbandes zu lesen , dass die Universität Bonn  – als 1818 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. gegründete Einrichtung an einem für die deutsche Nachkriegs­ geschichte wichtigen Ort – seit 2005 »einen besonderen – im deutschen Sprachraum bisher beispiellosen – Weg [ geht ] , ihre Absolventen zu verabschieden : Die rund 1 000 Absolventen eines Jahrgangs ziehen in Talar und Barett [ … ] 60 Bendix ( 2004 ): Promotionsansprache , S. 7. 61 Ebd. , S. 7 f. 62 Berliner Morgenpost 18. 6. 2002 , zitiert nach Bendix ( 2004 ): Promotionsansprache , S. 8. 63 Schweiger-Wilhelm ( 2011 ): Willkommen , S.  2.

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durch die Bonner Innenstadt«, und auch von Dekanen in den bekannten Fakultätsfarben sowie dem Rektorat in historischen Talaren ist die Rede.64 Derartige Erfindungen werden auch von den Initiatoren und von Journalisten als »medienwirksam[ e ] Selbstinszenierung«65 verstanden und bilden damit eine gezielte Praxis der Distinktion und Bedeutungsstiftung , die bewusste Inszenierung eines Images – auch angesichts steigender Konkurrenz der akademischen Standorte in einem Land sowie international. Kontext all dieser Bemühungen sind zunehmend kompetitive Verhältnisse zwischen und an den Universitäten in Zeiten internationaler Rankings , die mit aktiver Imagearbeit und Identitätsproduktion einhergehen. Dabei legen die jeweilige gesellschaftliche Situation und Zeit sowie der konkrete Ort gewisse Inszenierungen näher als andere. Nicht zufällig waren die 1968er Studierendenproteste in Deutschland besonders virulent und wurden akademische Zeremonien und Insignien wie die Talare hier vielfach als »Zumutung« empfunden und abgeschafft ,66 während die Statussymbole andernorts wie in Wien weniger Argwohn erregten. Und in der in vieler Hinsicht gesättigten Wohlstandsgesellschaft mit ihren pluralen Optionen werden sie neuerdings wieder »als willkommenes Angebot zur Wiederbelebung und Neuerfindung korporativer Identitäten« gewertet.67 Es ist offensichtlich , dass Universitäten sich und ihren Abschlüssen – heutzutage wieder verstärkt – ästhetisch und habituell in einer Weise Gewicht und eine besondere Bedeutung verleihen ( wollen ), die von gesellschaftlichen Konjunkturen und lokalen Befindlichkeiten geprägt ist. Bezieht man die zuvor diskutierte historisierende Deutung der Rituale mit ein , so fällt Folgendes auf : Die neu eingeführten akademischen Rituale werden nicht immer und allein als eine  – sei es legitime oder fälschlich proklamierte – Inszenierung und Reaktivierung von langer Geschichte und Traditionsbeständen vorgestellt , wie auch die von Regina Bendix zitierten Beispiele zeigen. Ganz im Gegenteil werden akademische Abschlusszeremonien immer öfter auch als Symbole der Innovation und der Internationalisierung gefeiert und gerade nicht länger mit der akademischen Tradition im alten Europa – der Gelehrtenwiege – assoziiert , sondern der sogenannten Neuen Welt zugeschrieben. Konkret wird ein aufwendiges Zeremoniell , das mit Doktorhut und Talar für die Absolventinnen und Absolventen vonstatten geht , mit den Gepflogenheiten an amerikanischen und erst von da aus britischen Colleges assoziiert.

64 Heeg ( 2012 ): Maßstäbe , S. 17. 65 Ebd. 66 Füssel ( 2010 ): Die Macht der Talare , S. 121. 67 Ebd.

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So wird aus Bochum von einer »amerikanisch wirkende[ n ] Abschlussfeier«68 – und eben nicht von mittelalterlich-klerikalen oder höfischen Ungleichzeitigkeiten – berichtet. Und auch der beschriebene Festakt in Bonn , bei dem auch die Absolventinnen und Absolventen in Talar und mit viereckigem Doktorhut erscheinen , wird als »Einkleidung nach amerikanischem Vorbild , die in Europa keinerlei Anknüpfungspunkte hat«, vorgestellt.69 Stolz heißt es auf der Startseite der Homepage der Universität Bonn : »Tradition und Modernität – das sind in Bonn keine Gegensätze.«70 In Zusammenhang mit akademischen Abschlussfeiern ist somit immer wieder auch direkt von Amerikanisierung 71 die Rede. Abschlussfeiern werden dann statt als Beleg historischer Tiefe zum Signet der ( Spät-)Moderne erklärt , und so kommt es zu vor vierzig Jahren undenkbaren Äußerungen wie diesen : »Wer modern sein will  – im Zeitalter von Alumni-Netzwerken und Corporate Identity – scheut auch Rituale nicht , die die Zugehörigkeit zur Alma Mater zeigen.«72 Offensichtlich findet – nahezu ungeachtet der konkreten Performanz – eine beachtenswerte Umdeutung akademischer Rituale und Symbole von Traditionalismus zu Modernität , von lokaler oder nationalkultureller Spezifik zu Internationalität statt , was einmal mehr den sich wandelnden Stil einer Zeit unterstreicht. Und so heißt es in der bereits genannten Online-Studentenjobbörse , die gleichsam Etiketten und Normen verschiedener Berufsfelder vermittelt , über akademische Talare , die sich lange Zeit bestens für AkademikerKarikaturen eigneten : »Heute sind sie weniger düstere Gelehrtengewänder , sondern dienen als Zeichen der Weltgewandtheit für Absolventen.«73 Bei all dem war und ist die Ökonomisierung derartiger Praktiken offensichtlich , gerade wenn es um mittlerweile von universitären Stabsstellen organisierte und zunehmend gepflegte Zugehörigkeiten zu ehemaligen Ausbildungsorten geht. Inzwischen zählen Alumni-Aktivitäten sowie Bemühungen um Fundraising in wachsendem Ausmaß zum universitären Geschäft. Das ( gesellschaftlich vielfältig zu beobachtende ) Moment der Eventisierung 74 , performativen Inszenierung und damit zugleich Vermarktung hat längst selbst akademische Titel erreicht , deren gesellschaftlicher Wert noch nicht einmal ausgehandelt ist. So finden die Sponsionsfeiern an der Universität Wien sogar schon für Ba68 http://www.jobber.de/studenten/iptc-zin-20020206-2-dpa_1575828.nitf.htm ( 24. 1. 2012 ), Hervorhebung durch Verf. 69 Heeg ( 2012 ): Maßstäbe , S. 17. 70 http://www3.uni-bonn.de/die-universitaet ( 16. 7. 2012 ). 71 Vgl. Bendix ( 2004 ): Promotionsansprache , S. 8 , 11. 72 http://www.jobber.de/studenten/iptc-zin-20020206-2-dpa_1575828.nitf.htm ( 24. 1. 2012 ). 73 Ebd. 74 Vgl. Hitzler u. a. ( 2000 ): Events.

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chelorabschlüsse statt. Es bleibt abzuwarten , ob die Zeremonie den subjektiven Wert des Bachelortitels als Bestätigung des neu erworbenen akademischen Status aufwertet und ob sie den symbolischen Wert des Mastertitels mindert. Schließlich fänden im Falle des Masterabschlusses die Feierlichkeiten ein zweites Mal nach gleichem Ablauf statt , was mit dem Nimbus des Einzigartigen dieses Erlebnisses kollidiert.

Über Ideologiekritik hinaus und aus der Akteursperspektive: Status, Familie und das Ritual der Macht Es ist Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung und Analyse , nicht bei ideologie- und historisch kritischen Dekonstruktionen stehen zu bleiben. Vielmehr gilt es gerade in der Arbeitsweise der Europäischen Ethnologie , den verschiedenen Bedeutungsdimensionen nachzuspüren und speziell die Perspektive und Erfahrung der unterschiedlichen Akteure zu fokussieren. So fragt die Europäische Ethnologie wie beschrieben nicht nach der vermeintlichen Authentizität und weniger nach dem Ursprung eines Rituals , sondern nach der Bedeutung , die das Ritual und die Inanspruchnahme von Geschichte heute für Einzelne , für die Gruppe und für die Institution hat. Hier nun kommt eine »soziologische Binsenweisheit«75 ins Spiel , die zugleich ein altbewährtes »volkskundliches« Interpretament darstellt : Über Rituale und Erinnerungskulturen werden kollektive Identitäten und Wir-Gefühle geschaffen. Marian Füssel spricht hierbei mit Alois Hahn treffend von »partizipativer Identität«76. Dabei bildet die akademische Abschlussfeier eine bestehende Gemeinschaft ( die akademische community ) nicht ab , sondern stellt sie her. Ihre Wirkmacht kann mit Bourdieu treffend als »performative Magie« bezeichnet werden.77 Demnach schafft rituelles Handeln das , was es bezeichnet , und zeigt sich auch in dieser Hinsicht wieder die performative , praxeologische Dimension des Geschehens. Gedenkfeste und akademische Feiern dienen der Kontinuität und Konsistenz der Gruppe , die sich feiert beziehungsweise feiernd bestätigt.78 Dieser Lesart folgt Regina Bendix für Colleges in Großbritannien , deren akademische Abschlussrituale und Symbole sie als »Statusmarkierung und rituelle Ausschmückung innerhalb des Elfenbeinturms« beschreibt.79 Zu­gehörigkeiten zur 75 76 77 78 79

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Füssel ( 2006 ): Universitätsgeschichte , S. 19. Füssel ( 2009 ): Kleiderordnung , S. 256. Vgl. Wulf u. a. ( 2001 ): Grundlagen. Köstlin ( 2011 ): Jubiläen. Bendix ( 2004 ): Promotionsansprache , S. 11.

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akademischen Elite und Institution respektive Zusammengehörigkeit werden markiert und geschaffen. So gesehen erfüllen universitäre Zeremonien eine »spezifische institutionelle Stabilisierungsleistung«80, und zwar gerade »in der Verkörperung und symbolischen Darstellung der jeweiligen Ordnungsprinzipien« für sich und andere.81 Auf die Vormoderne etwa bezogen , konstituierten Abschlussfeiern ständische Zugehörigkeit und symbolisierten zugleich gelehrte Autorität.82 In dieser Hinsicht trifft Marian Füssels Kennzeichnung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Abschlussfeiern auch für die Sponsion der Gegenwart zu , wenn er ausführt : »Mit der öffentlich inszenierten Aufnahme in den Kreis der Privilegierten vollzog sich dabei sowohl eine rituelle Bestätigung der akademischen Gemeinschaft nach innen als auch eine Repräsentation ihrer Standeskultur , Werte und Ergebnisse nach außen.«83 Aus Sicht der Absolventinnen und Absolventen handelt es sich um ein Übergangsritual , einen feierlichen Statuswechsel zum Akademiker beziehungsweise zur Akademikerin , der das Geleistete symbolisiert und gerade in Österreich gesellschaftliche Anerkennung verspricht : Der akademische Titel verschafft Prestige und ist Ausdruck persönlichen Erfolgs. Die Sponsion ist ein Ritual des Statuswechsels und der Aufnahme von Absolventinnen und Absolventen als Gleiche in den akademischen Zirkel. Dabei hatte schon Pierre Bourdieu die Bedeutung der Abschlussfeier weniger in biografischer Hinsicht als rite de passage gesehen , sondern vielmehr in der sozialen Bedeutung der Grenze und der Abgrenzung gegenüber NichtAkademikern.84 Mit Blick auf die Universität Wien wiederum ist die Sponsion ein lokales akademisches Ritual , das der Institution Universität Bedeutung und Gewicht verleiht und konkret die Universität Wien mittels Sichtbarkeit einer Wir-Gruppe und des symbolischen Ereignisses für innen und außen erfahrbar macht. So evident und überzeugend solche Auslegungen noch immer sind , bleiben doch auch sie an der Oberfläche , solange das konkrete ›Wir‹ nicht spezifiziert und kontextualisiert wird. Denn das jeweilige Wir-Gefühl wirkt allenfalls situativ und gilt oftmals nur für ein erstaunlich exklusives ›Wir‹. Bei genauem Blick schafft die Sponsion gerade nicht ( nur ) Gleichheit und Gleiche , wiewohl Absolventinnen und Absolventen ( wie schon die überreichenden Amtsträger vor ihnen ) einen akademischen Grad verliehen bekommen. Im Gegenteil markiert die Feier zugleich spürbar Differenzen , generiert auch innerhalb der akademischen Welt Sub- und Statusgruppen und ist somit 80 Rehberg ( 2001 ): Weltrepräsentanz , S.  9. 81 Ebd. 82 Füssel ( 2007 ): Ritus Promotionis. 83 Füssel ( 2007 ): Ritus Promotionis , S. 450. 84 Bourdieu ( 1982 ): Les rites.

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Abb. 12 : Insignien der Macht Foto: Universität Wien

zugleich ein hegemonialer Gestus. Für den Dekan , den Promotor und den Pedell signalisieren die jeweiligen Umhänge und Insignien wie Szepter und Amtskette ( siehe Abbildung 12 ) ihr jeweiliges Amt , ihren Status und ihre universitäre Rolle.85 Symbolisches und kulturelles Kapital wirken dabei zusammen.86 Schon die Kleidung beziehungsweise die Kleiderordnung87 , ihre Materialität und Farbigkeit sind Medien zur Etablierung von Statusdifferenzen und Autoritätsverhältnissen zwischen ›Professor‹ und ›Student‹ und mithin ein »Mittel , Status zu schaffen«88. Es handelt sich somit auch bei der Sponsion um eines der im politischen und ebenso akademischen Leben so reichhaltig zu beobachtenden Rituale der Macht.89 Der Blick des Pedells auf das Geschehen und seine Bedeutung darin sind ganz andere als der des Dekans , der sich geschmeichelt und in seinem Amt bestätigt sehen mag. Dem Pedell wird performativ und körperlich 85 Vgl. Bendix ( 2004 ): Promotionsansprache , S. 13. 86 Vgl. Bourdieu ( 1988 ): Homo academicus. 87 Die Schnitte , Zeichen und Stoffe , die dazu genutzt werden und zur Verfügung stehen , sind spezifische und begrenzt ( Talar , Tierfelle , Gold , Schwarz , Rot etc. ), unterliegen sie doch einer etablierten und ausgedeuteten Semantik des Materials und der Farbgebung , die sie als ›edel‹ und ›ehrwürdig‹ erscheinen und so zu Symbolen eines errungenen , verdienten Status werden lassen. Zur Semantik von Materialien vgl. Wagner ( 2001 ): Material. 88 Hülsen-Esch ( 2006 ): Gelehrte , S. 239 ff. ; vgl. Bringemeier ( 1974 ): Gelehrtenkleidung. 89 Aus diesem Grund führe ich die Funktionsträger hier – der gerade an Universitäten noch immer spürbaren Geschlechterhegemonie entsprechend  – allein in männlicher Form auf , wiewohl die Bilder dokumentieren , dass selbstredend auch Frauen diese Ämter ausüben.

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sein untergeordneter Rang verdeutlicht. Und auch die Absolventinnen und Absolventen werden durch die Raumordnung und Abläufe mindestens ebenso als ›andere‹ wie als ›Aufgenommene‹ verortet. Durch Kleidung , Standort und Rolle im Festakt werden also nicht nur und weniger Zusammengehörigkeiten innerhalb der scientific community als vielmehr innerhalb dieser wiederum distinkte Positionen geschaffen , vergegenwärtigt und bekräftigt. Fragt man die Teilnehmenden selbst nach der Bedeutung der Feier , so kommen vor allem außeruniversitäre , persönliche Bedeutungsebenen zur Sprache. Für viele Absolventinnen und Absolventen ist die Sponsion Interviews zufolge nicht so sehr als Akt der Aufnahme in eine ( gewünschte , bekräftigte oder zu stärkende ) Corporate Identity – konkret der Universität Wien – oder in den Kreis der Akademiker eines bestimmten Grades von Belang ; bekräftigt werden vielmehr vor allem die Zugehörigkeit zu Familie und Freundeskreis. Schließ-

Abb. 13 : Zelebrierung des Universitätsabschlusses im Kreise der F­a milie Foto: Universität Wien

lich ist die Sponsion in der Regel ein als Familienereignis gerahmter Statuswechsel , bei dem sich die Studierten ihrem sozialen Umfeld in ihrem neuen Status als Akademikerin oder Akademiker präsentieren und zelebrieren ( siehe Abbildung 13 ). Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst äußerten so durchaus Distanz zur Zeremonie , wie eine Doktorandin , die sich in einem Interview mit folgenden Worten an ihre Sponsion erinnert : »Das Prozedere selbst fand ich merkwürdig. [ … ] Schön und wichtig war für mich aber , dass sehr viele sehr enge Freunde und andere wichtige Menschen aus allen Lebensbereichen da waren : Meine Großmutter war dabei , mein Vater ist von weit her angereist«. Und eine heute 49-jährige Medizinerin erinnert sich : »Ja , da habe ich auch teilgenommen. Nicht für mich. Mir selbst war das nicht wichtig , aber für

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meine Oma war das ein ganz , ganz wichtiges Ereignis.« Nicht ›die Tradition‹, nicht die Bedeutung der Institution und nicht einmal der neue Status wurden von der Mehrheit meiner Gesprächspartnerinnen und -partner als Motive der persönlichen Teilnahme oder als bedeutsam erwähnt , aber sehr wohl artikuliert sich ein Bedürfnis nach feierlicher Eventisierung des Studienabschlusses. Zweifelsohne kommen in dieser Hinsicht lokale und soziale Spezifika zum Tragen – wie neben dem ( gewünschten ) Image der Universität auch die unterschiedliche Präsenz von Studentenkorporationen90 oder die soziale und disziplinäre Zusammensetzung der feiernden Studierenden. Für die Universität Augsburg konstatierte Margaretha Schweiger-Wilhelm jedenfalls , dass die ( W ieder-)Einführung der akademischen Fest- und Feierkultur in den letzten zwanzig Jahren besonders auf Interessen der Studierenden zurückgegangen sei.91 Im Ergebnis bestätigt die Kulturwissenschaftlerin in ihrer Studie , in der sie dem denkwürdigen »Sinneswandel« der Studierenden seit 1968 nachgeht ,92 dass »die Augsburger Studierenden zwar in ihren Erwartungen und Vorstellungen durchaus konservativ [ sind … ] , [ … ] ihnen aber gänzlich die Bindung an die Institution [ fehlt ]«93. Sie lehnen eine rituelle Bedeutungsaufladung ab und wünschen sich »eine Art Hybrid , der Elemente einer Feier , eines Festes und eines Events enthält«.94 Die Tendenz zur Eventisierung zeigt sich weithin. Zeitgleich zur Wiedereinführung oder Intensivierung akademischer Rituale an zahlreichen deutschen Universitäten schuf die Universität Wien interessanterweise die verbindliche , universitätsrechtlich fixierte Teilnahme an der Sponsion ab , was einer Bedeutungsverschiebung von der institutionalisierten Norm zu einem freiwilligen Event gleichkommt. Heutzutage nehmen nicht ( mehr ) alle Studienabgängerinnen und -abgänger in Wien an der Sponsion teil , die ein mögliches und kostenträchtiges Ereignis und nicht mehr wie bis 1997 der rechtskräftige und üb­liche Weg zur Erlangung des akademischen Titels und zum Erhalt der Urkunde des Studienabschlusses darstellt. Für die Sponsion und die dort überreichte Urkunde zahlen die Kandidatinnen und Kandidaten heute 85 Euro95 ; trotz der Optionalität melden sich nach Auskunft der Organisatorin akademischer Abschlussfeiern immerhin mehr als die Hälfte der Studienabsolventinnen und -absolventen zur Sponsion an. Die rechtskräftige Urkunde zur bescheid90 Vertreter von Studentenverbindungen , für die die Institution Universität und die Sponsion noch andere Bedeutungen als die zitierten hat , wohnen dem Ritual uniformiert bei. 91 Schweiger-Wilhelm ( 2011 ): Willkommen , S.  3. 92 Ebd. , S. 4. 93 Ebd. , S. 287. 94 Ebd. , S. 288. 95 Stand Februar 2013.

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mäßigen Verleihung des akademischen Grades in DIN-A4-Format bekommen Studienabgängerinnen und -abgänger auch in Wien inzwischen auf anderem Weg als über die Feier ausgehändigt , nämlich über das Prüfungsreferat. Die durch Sponsion verliehene Urkunde ist damit eine opulent mit Siegel gestaltete , als Dokument indes juristisch unbrauchbare Zugabe , die schon beim Empfang ein Erinnerungsstück an ein besonderes Ereignis ist , das der Oma oder den Freunden gezeigt wird und manch einen mit Stolz erfüllt.

Zum Ende: Der Bedeutungsplural der Sponsion Rituelles Handeln ist »Handeln in Zeichen«, wobei Zeichen potenziell mehrdeutig und Rituale deutungsoffen sind96 – Marian Füssel spricht am Beispiel der Kleidung auch treffend vom »semiotischen Überschuss«97. Die kulturwissenschaftliche Auslegung des akademischen Rituals der Sponsion brachte so auch unterschiedliche Deutungslinien zum Vorschein. Seine Bedeutung erschöpft sich nicht im Augenfälligen und Naheliegenden ; zur Interpreta­tion des Ereignisses darf in jedem Fall nicht vorschnell auf die Wirkmacht der Symbolsprache rekurriert werden , zugleich und besonders muss die Situation und Perspektive der unterschiedlichen Akteure erkundet werden. Die multiperspektivische , akteurszentrierte und performativ angelegte Beschreibung des Ereignisses vermag durch den Fokus auf die Handlungen , Lebenswelten und Bedeutungsregime unterschiedlicher Mitwirkender die verschiedenen Bedeutungen des Rituals zum Vorschein zu bringen. Akademische Rituale sind »durch symbolische Markierung dem [ Universitäts ]Alltag enthobene[  ] kommunikative[  ] Handlungssequenzen [ … ] , von denen eine spezifische soziale Transformationsleistung ausgeht«.98 Sie stellen die gewünschte oder imaginierte , in jedem Fall kontrovers ausgehandelte Rolle von Akademikerinnen und Akademikern in einer Gesellschaft und Zeit zur Schau beziehungsweise her , wobei der Geltungsbereich ebendieser Rolle offen ist. Sie setzen die Orientierungsparameter und Werte einer Universität , konkret die hierarchische Struktur ihrer Mitglieder , in Szene und wirken darin bedeutungsstiftend. Ein wichtiger Wert und Parameter ist diesbezüglich zweifelsohne die ›Gemeinschaft‹ – lange Zeit ein Schlüsselbegriff der früheren Volkskunde. Doch das Ritual der Sponsion schafft nicht nur und sogar weniger eine Gemeinschaft mit kollektiver Identität. Eine Zeremonie wie die Sponsion schafft Zugehörigkeiten , dabei aber mindestens ebenso Unterschiede und 96 Füssel ( 2006 ): Universitätsgeschichte , S. 26. 97 Füssel ( 2010 ): Die Macht der Talare , S. 130. 98 Füssel ( 2007 ): Ritus Promotionis , S. 419.

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Ausgrenzungen innerhalb der akademischen Welt wie eine egalitäre Integration von Neophyten. Als rite de passage und biografisches Ereignis mit familiär-freundschaftlicher Streukraft markiert die Sponsion für die Absolventinnen und Absolventen einen Statuswechsel für sich und nach außen und ist für andere Akteure schlicht Arbeit oder Ausdruck der eigenen Herausgehobenheit. Das Ritual schafft hierarchisch definierte Positionen und nutzt dafür wirkungsvolle , in Wien funktionierende Symbole. Bei genauem Blick dienen derartige Rituale somit zur Aufführung und Herstellung ganz unterschiedlicher Identitäten und Zugehörigkeiten. Als weiterer zentraler Bedeutungsstrang erwies sich die historisierende Dimension des Rituals , das vordergründig als Beleg ›langer Tradition‹, bei genauem Blick als Aufführung von Geschichte erschien. So banal es klingen mag , kann doch nicht oft genug betont werden : Die Sponsion ist aus kulturwissenschaftlich-ethnologischer Sicht als Ritual der Gegenwart zu verstehen , das weniger über die alte Geschichte einer Universität und einer Stadt als vielmehr über das Dasein und Sosein ihrer Akteure sowie über das gewünschte Bild der Stadt und Universität Wien vor einer dazu passenden und damit korrespondierenden urbanen Bühne Auskunft gibt. Und damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück und zur Frage , inwieweit die Sponsion als Ausdruck einer Wiener Eigenlogik und eines Wiener Geschmacks zu verstehen ist. So produktiv und weiterführend der EigenlogikGedanke für manche Fragen auch sein mag , so verleitet er in anderen Fällen zu Engführungen. Nicht die Eigenlogik der Stadt bedingt den Gestus der Feier , sondern spezifische Akteure der Universität richten die Sponsion nach plausibel scheinenden Mustern aus und geben ihr Gestalt und Bedeutung als Ereignis in Wien. So hat die Sponsion das Potenzial , als urbanes Angebot zur Repräsentation der Stadt zu fungieren und verstanden zu werden , neben dem noch ganz andere Bausteine bereitstehen. * * * Fragen des eigenen Lebensumfeldes einer wissenschaftlichen Reflexion zu unterziehen , ist ein mitunter heikles und in jedem Fall kontroverses Vorhaben.99 Der Innsbrucker Historiker Gerhard Oberkofler befindet , dass das universitäre Zeremoniell als »Biotop des Zeitgeistes« keinerlei ernsthafte Würdigung verdiene.100 Andere gewichten akademische Festakte ganz im Gegenteil zum »Herzstück im Lebensrhythmus akademischer Institutionen« mit zentraler Be-

99 Vgl. Bourdieu ( 1988 ): Homo academicus. 100 Oberkofler ( 1999 ): Universitätszeremoniell.

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deutung als akademischer »actus publicus«101. Die Leserin und der Leser mögen für sich entscheiden , welcher Einschätzung sie zuneigen. Ich selbst tendiere aus europäisch-ethnologischer Perspektive zu einer dritten Auslegung , derzufolge die Kulturanalyse akademischer Rituale weder Selbstzweck oder Narzissmus noch manifeste Kernaufgabe der Institution ist , sondern als Auseinandersetzung mit dem vorgeblich ›Eigenen‹ in einer Pendelbewegung aus Außen- und Innensicht Zugang zu gesellschaftlichem Leben einer Zeit und an einem Ort bietet. Als solche trägt auch sie bei , den Gegenstand herzustellen und mit Bedeutung zu versehen.

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STRASSENTAUBEN ALS TEILHABENDE AKTEURE DES WIENER STADTRAUMS »Die Tauben , die mit uns die Städte teilen , in südlichen Felsen sind sie daheim. Unsere Häuser sind ihnen ragende Felsen , unsere Straßen und Plätze : Schluchten aus Stein.« ( Josef Guggenmos , Die Tauben )

Wer sich mit den historischen Anfängen von Urbanität beschäftigt , stößt mög­ licherweise auch auf einen sogenannten Kulturfolger , die Taube. Die Felsentaube , Vorfahrin der Haus- und Straßentaube , habe die Felsküsten des Mittelmeeres , ihren ›natürlichen‹ Lebensraum , gegen die »ersten steinernen Städte«1 eingetauscht , gegen babylonische und sumerische Tempelanlagen , so berichtet Andrea Dee. Die Wiener Schriftstellerin und Kolumnistin geht in einem Bildband samt ausführlichen Textbeschreibungen mit Anspruch auf Faktizität der Idee einer kulturellen Verbindung zwischen Tauben und Menschen seit dem 6. Jahrtausend vor Christus nach. Während Dee hauptsächlich die ›Colombophilie‹, also die Liebe der Menschen zu Tauben , ins Bild setzt , ist als weitere Tendenz seit dem 19. Jahrhundert zunehmend auch der Taubenhass zu beobachten. Kulturwissenschaftliche Reflexionen stellen allgemein ambivalente Beziehungen der Menschen zu Tieren fest und erklären diese damit , dass ›moderne‹ Menschen zunehmend Gefühle und moralische Vorstellungen auf bestimmte Spezies übertragen ; besonders gegenüber Vögeln zeigen sie Tendenzen zur Schwärmerei oder aber zur Feindseligkeit.2 So schreibt etwa Friedemann Schmoll über die Vögel : »Wie kaum eine andere Tiergruppe liefern sie ein Projektionsfeld menschlicher Sehnsüchte und Utopien , zuweilen auch , aber doch weitaus seltener , der Abneigungen und Antipathien. Sie aktivieren das gesamte Reservoir menschlicher Gefühlsregungen.«3 Die Herausbildung ambivalenter Mensch-Vogel-Beziehungen ist also allgemein erwähnenswert. Andrea Dee macht im Besonderen auf die Tauben im Wien von einst aufmerksam und spricht mit Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts von der »Wiener Colombophilie«4 . Im 1 2 3 4

Dee ( 1994 ): Leidenschaft , S. 15. Vgl. Johler ( 1997 ): Vogelmord ; Löfgren ( 1986 ): Natur ; Schmoll ( 2006 ): Menschen. Schmoll ( 2006 ): Menschen , S. 13. Dee ( 1994 ): Leidenschaft , S. 60.

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Jahr 1850 sollen »über 250 Schwärme [ … ] sich an klaren Sommertagen in den Himmel über Wien geschwungen haben«5. Die Vernarrtheit in die »Wiener Lokalrassen« beziehungsweise »Burzeln« namens Wiener Gansel , Hellstörche , Hochflieger ( »Jauker« ), Kiebitz , Kurzschnäbler , Röserlscheck , Weißschild , Ziertümmler und so fort hatte Konjunktur. Die angebliche Monogamie und Sesshaftigkeit der Tauben sowie die Möglichkeit zu formender , ordnender Zucht kamen dem Ideal und dem wachsenden Selbstbewusstsein des Bürgertums entgegen , dem die Aristokratie einerseits als Orientierungspunkt und andererseits als Abgrenzungsfolie diente. Die Rassezucht von Tieren kann , so Dee , »mit ihrem Kult um Ahnentafeln und Reinblütigkeit [ als ] eine Parodie der Aristokratie«6 verstanden werden. Die Begeisterung für die Taubenzucht ging schließlich auch auf die Arbeiterschaft über. Noch bis in die 1920er- und 30er-Jahre hinein gab es in den Arbeiterbezirken »nahezu in jedem Haus einen Taubenschlag , entweder einen ›Taubenboden‹ unter dem Dach oder einen ›Taubenkobel‹ im Hinterhof«7. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine Wende im Verhältnis der Wiener8 zu ihren Tauben. Wegen der Nahrungsknappheit konnten die Menschen die Tauben nicht mehr ernähren , zum Teil verzehrten sie sie sogar.9 Die Taubenschläge wurden meist mit ausgebombt , und falls die Vögel nicht umkamen , flatterten sie in den Trümmern umher.10 Die Trümmer erwiesen sich immerhin als geeignetes Habitat. Erst seit dieser Zeit leben verwilderte Haustauben so massenhaft verbreitet ›auf der Straße‹. Wo auch immer sie herkommen mag : Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Stadt- oder Straßentaube ( Columba livia livia ) als Teil des gegenwärtigen Wiener Stadtraumes. Wien steht im Mittelpunkt , obgleich klar ist , dass es sich um keine regional einmalige Erscheinung handelt : »Tauben sind unglaublich erfolgreiche Lebewesen. Zu Hunderten von Millionen bereichern und beleben sie als Strassentauben die meisten grösseren Städte vom hohen Norden bis in die Tropen.«11 Zwei Beobachtungen bilden den Ausgangspunkt 5 Ebd. 6 Ebd. , S. 57. 7 Ebd. , S. 59. Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Arbeiterschaft zur Taubenzucht am Beispiel der Bergmänner im Ruhrgebiet vgl. Soeffner ( 1992 ): Maulwurf. 8 Andrea Dee weist darauf hin , dass in Bild- und Schriftquellen zur Wiener Taubenbegeisterung fast ausschließlich Männer eine Rolle spielen , vgl. Dee ( 1994 ): Leidenschaft , S. 65. 9 Diese Darstellung spart die aktive militärische Rolle von Brieftauben aus , die bis Mitte der 1980er die Bestände des Österreichischen Bundesheeres ergänzten und vor allem im Ersten Weltkrieg Einsatz bewiesen , vgl. ebd. , S. 85–91. 10 Vgl. ebd. : S. 68–70. 11 Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , S.  9.

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meines Interesses : Tauben sind erstens im Freien nahezu allgegenwärtig , damit ein Faktor der Raumbildung. Ihre Anwesenheit wird zweitens gegenwärtig auf den ersten Blick vor allem als Problem wahrgenommen : »In manchen Städten werden heute eigentliche Kriege geführt. Konflikte , in denen sich Taubenfreunde und Taubenfeinde mit erbitterter und leidenschaftlicher Entschlossenheit gegenüberstehen.«12 Ich schlage nun vor , die Straßentauben leibhaftig zu berücksichtigen , unter all den Akteuren in Wien auch die Tauben als solche zu betrachten , die über spezifische Einflussmöglichkeiten verfügen , in Konflikten und Bündnissen leben und darüber den Stadtraum mitbestimmen. Diese Frage- und Betrachtungsweise ist , wie im Folgenden auch näher nachgewiesen wird , beträchtlich durch die Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour inspiriert , jedoch nicht in einem strengen Sinne geprägt worden. Stärker als ( wie bisher ) soziale Konfliktlinien , die nur Menschen in ihren Beziehungen als Gesellschaftsmitglieder zueinander bedenken ,13 stehen demnach Verflechtungen und Wechselbeziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren im Vordergrund. Wie lässt sich in dieser Perspektive das ›Zusammenleben‹ von Menschen und Tauben in Wien genauer qualifizieren ?

Aus der Vogelperspektive? Annäherungen an das Feld Die traditionelle Trennung zwischen den reflektierenden Subjekten einerseits und ›natürlich‹ determinierten Objekten andererseits soll im Folgenden unter-

Abb. 1 : Versuchstauben, mit den Fotoapparaten Dr. Julius Neubronners (1852–1932) ausgestattet, um die ›echte‹ Taubenperspektive einzufangen. 12 Ebd. 13 Vgl. Latour ( 2007 ): Soziologie.

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laufen werden.14 Doch ist diese Möglichkeit begrenzt : Ich kann schreiben , aber nicht fliegen. Weder bin ich in der Lage , mich in eine Taube tatsächlich hineinzuversetzen , noch dazu , die Taubenperspektive mit fotografischen Mitteln einzufangen , was wiederholt versucht wurde.15 Den Tauben als Akteuren zu folgen heißt , sie neben und zusammen mit den Menschen und verschiedenartigen Gegenständen zu bemerken , indem neben gewohnten Blicklinien nicht vertraute räumliche Ebenen und bewegliche Zusammenhänge Beachtung finden. Es heißt aber auch , sich der begrenzten Möglichkeiten der subjektiven Wahrnehmung und des menschlichen Standorts bewusst zu bleiben.

Abb. 2  : Zeichnerischer Versuch, die Wege abzubilden, denen wir im Untersuchungsverlauf durch die Aufmerksamkeit für das ›Taubenthema‹ folgten.

Die ersten Annäherungen an das Thema fanden im Wintersemester 2008 /2009 statt , das ich in Wien verbrachte , gefolgt von weiteren Phasen der ›Taubenforschung‹ im Sommer und Herbst 2009 sowie im Frühjahr und Spätsommer 2010. Wiederkehrende Blickwinkel der Untersuchung ergaben sich nicht zuletzt über die Fortbewegungsarten , die ich in Wien nutzte : Die Strecken erschienen mir als Gaststudentin aus Hamburg kurz genug , um viel zu Fuß zu gehen. Auf diese 14 Zur Theorie und bzgl. Ansätzen zur Auflösung der herkömmlichen Kategorien vgl. Latour ( 2001 ): Parlament , S. 97–108 ; Brenner ( 2008 ): Tier , S. 19–21. 15 Der Hofapotheker in Kronberg im Taunus , Dr. Julius Neubronner , ließ sich 1909 die »Brieftaubenfotografie« patentieren , vgl. Abb. 1 , Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , S. 177. Etwa 100 Jahre später schnallte Annie Dunning einer Taube für künstlerische und ethnographische Zwecke eine federleichte Digitalkamera um , vgl. Dunning ( 2008 ): Air Time.

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Weise reichte die Muße , um beispielsweise Grünanlagen , Häuserfassaden und Bahnhofsgebäude vorbeischlendernd oder wartend zu mustern. Mein Blick fand sich in den vergleichsweise steilen Straßenschluchten ein , ebenso in dem kargen Baum- und besonders üppigen Schilderbewuchs entlang des durch die Grünanlagenverordnung regulierten Straßenbegleitgrüns. Mein Studienkollege und Partner Malte Borsdorf , der ebenfalls mit einer Forschung für diesen Band befasst war , und ich bildeten ein ethnographisches Tandem , das heißt wir wichen einander während der Erkundungen kaum von der Seite. Wir gingen und saßen nebeneinander , sprachen darüber , was wir beobachteten , fotografierten und dazu dachten , notierten und lasen. Aufeinander bezogen , hatten wir dennoch Gelegenheit , jeder für sich zu ethnographieren. Von Anfang an galt es , sich Wien neu zu erschließen. Nachrangig war die Frage , wie ortskundig mein Partner , der schon länger hier lebte , oder ich zuerst gewesen sein mögen. Unsere Forschungsinteressen erforderten es , eine veränderte Aufmerksamkeit für den Gegenstand zu entwickeln , langsam herumzusuchen , auch herumzuirren , Wege ausfindig zu machen , bis sich Ahnungen , wohin sie führen , kognitiv wie räumlich verdichteten. Eingangs war die Untersuchung umherschweifend , schließlich verweilend. Zuerst bildeten beiläufige Wege und Stationen den Hintergrund der Betrachtung , dann erwies sich der Hermann-Leopoldi-Park im 12. Bezirk , Meidling , als günstige Anlaufstelle. Jetzt , im Schreiben , verfahre ich weiter im Versuch , diese Bewegungen in Text zu übersetzen. Ich greife dazu auf mein Forschungstagebuch zurück , das Daten , Uhrzeiten , Ortsangaben und einige Skizzen enthält , sowie auch auf die schriftlichen Notizen meines Partners. Letztere nutzte ich , obwohl ich mich für die übrige Auswertung maßgeblich auf die eigenen Aufzeichnungen stütze , beispielsweise um den zeitlichen Verlauf der Forschung , ihre Wege und ihre Tendenz zur örtlichen Konzentration nachzuzeichnen.16

Umherschweifend I: Abseits der Aufmerksamkeit Es ist also von einer ›bodenständigen‹ Untersuchung mithilfe eines Notizbuches , eines Stifts und eines gewöhnlichen digitalen Fotoapparates , begleitet von beiläufigen Internetrecherchen – all das im intensiven Austausch mit meinem Partner – auszugehen. Die ›ersten Schritte‹ stellten meine Thesen infrage , 16 Im Ergebnis existieren auch einige Notizen meines Partners , die unmittelbar meinem Thema gewidmet sind , ebenso wie ich meinerseits gelegentlich Beobachtungen zu seinem Thema , Gehörlosigkeit im Stadtraum , notierte , worauf er in seinem Text »Der gedehnte Blick auf ethnographisches Material zu Gehörlosigkeit in Wien« ( in diesem Band ) näher eingeht.

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Tauben seien im Freien nahezu allgegenwärtig. Ich musste sie anfangs suchen. Im eigenen Innenhof waren doch immer einige gewesen , bei den Mülltonnen ? Nicht , als ich erstmals systematisch nach ihnen Ausschau hielt. Eine Häuserzeile weiter saßen eines frühen Abends zehn müde Exemplare auf den Gesimsen eines Gemeindebaus , die Köpfe unter den Flügeln. »Als wir unter ihnen stehen blieben , ließen sie nach und nach die Köpfe sehen , wurden zuletzt alle munter , putzten das Gefieder , guckten schief herunter [ … ]. Eine aus der Mittelreihe kackte über die Kante auf die Artgenossen hernieder.«17 Erste Einträge ins Notizbuch gerieten zur drolligen Vogelbeobachtung. Auf das besondere Interesse hin bemerkte ich die Tauben beständig , auf dem Boden vor allem , an Fassaden , auf Bäumen und Dächern , in der Luft , also doch wieder vielerorts. Ihr Flügelschlagen und Gurren klang mir dauernd in den Ohren. Dafür , dass andere Personen die Tauben registrierten , bot sich zunächst kein Anhaltspunkt. Sie schienen ihnen nicht oder allenfalls latent gewärtig zu sein. Manchmal folgte wohl der zwischen den Dächern nach oben gerichtete Blick den Taubenschwärmen. Wenn ich Richtung Himmel schaute beziehungsweise wir zu zweit die Köpfe in den Nacken legten , blickten Leute in unserer Umgebung gelegentlich ebenfalls kurz auf – wunderten sich wohl , was da oben so interessant sei. Szenen wie die folgende ergaben sich häufig : Ein paar Tauben liefen umher , wichen herannahenden Füßen , Reifen oder Rädern aus. Schließlich zogen sie sich flatternd auf einen hoch gelegenen Sitz , ein Ladenschild , zurück , ohne dass jemand erkennbar reagierte.18 Hatte der Tourist , der den Flüssebrunnen vor der Albertina fotografierte , dabei die trinkende Straßentaube auf einer der im Wasser thronenden Allegorien im Sinn ? Wenn überhaupt , störte sie sein Motiv vermutlich , ebenso die Federn im Brunnenbecken , die Taubenkotschichten an Gesimsen und Kapitellen und die Netze , mit denen Wandnischen weiterer Skulpturen überspannt waren.19 Man könnte sich an Bruno Latours Aussage erinnert fühlen : »Menschliche und nicht-menschliche Akteure erscheinen zunächst als Störenfriede.«20

Umherschweifend II: Schädlinge im Fokus Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Tauben treten nicht bloß in direkten Konfrontationen zutage , sondern auch in mehrfach vermittelter Art und Weise. Ein Beispiel dafür wäre eine Straßentaube , die im Eingang eines Ge17 18 19 20

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Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 06. 03. 2009 , Fendigasse. Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 10. 07. 2009 , Reinprechtsdorfer Straße. Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 06. 10. 2009. Latour ( 2001 ): Parlament , S. 115.

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schäfts hockte. Ein Kind , das mitbekommen hatte , wie ich Malte mit dem Ausruf »Da !« darauf hinwies , machte eine abrupte Bewegung ; es bewegte sich mit ausgebreiteten Armen auf den Eingang zu. Da flatterte die Taube in der Enge ungestüm auf und alle Personen in der Nähe wichen zurück. Eine Frau zog das Kind schimpfend fort : »Die bazillenverseuchten …«21 Am Ende der Situation steht die Assoziation von Straßentauben und Bazillen. Das Problem ergibt sich auch aus dem , was von dem ›Störenfried‹ Straßentaube abfällt , Kleinst­ lebewesen etwa , wie Biologen , die Taubennester und -gefieder unter die Lupe nahmen , akribisch verzeichnen : »Massenhaft Ektoparasiten , wie die rote , blutsaugende Vogelmilbe ( Dermanysus gallinae ), die ›weiche‹ Taubenzecke ( Argas reflexus ), der Taubenfloh ( Ceratophyllus columbae ) und die Bettwanze ( Cimex lectularis ), [ … ] 4 Federlingsarten ( Columbi-cola columbae u. a. ), 3 Stechfliegenarten ( Pseudolynchia cariensis , Lyncia maura u. a. ) und 6 weitere Milbenarten fanden sich an der Taube.«22 Die Aufzählung wird noch um weitere ( Endo-) Parasiten ergänzt , die auch beim Menschen Juckreiz , Quaddeln und ernstere Symptome hervorrufen können. Tendenziell unsichtbare »Mittler«23 spielen in den Konflikt herein. So ist es auch mit den Insekten , die sich von organischen Taubenabfällen ernähren und zum Teil auch ins private Interieur eindringen : »Die diese Stoffe abbauenden Reduzenten wie Motten , Mehlkäfer und Messingkäfer können in mensch­liche Wohnungen einwandern und statt Taubenfedern Lederpolstermöbel und Teppiche abbauen.«24 Ob an Denkmälern oder unter Mauervorsprüngen , eine weitere Begleiterscheinung ist kaum zu übersehen : der Taubenkot25 , »der mit seiner Harnsäure , dem Harnstoff , dem Ammoniak und der Ornithinsäure sehr aggressiv ist und in einem Synergismus von anthropogenen und sonstigen Einflüssen ( Schwefeldioxidemissionen des Hausbrandes und der Autoabgase ) große Schäden anrichten kann«.26 Zahlreiche Vorkehrungen dienen zur Abwehr der Straßentauben und treten dem Eindruck zweier getrennter Welten von Mensch und Taube entgegen. Straßentauben besiedelten den städtischen Hochbau , gleichsam als ihre ›Felsenküste‹27 – so wird die Geschichte der Tauben in der Stadt erzählt. Zu21 22 23 24 25

Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 10. 07. 2009 , Reinprechtsdorfer Straße. Schneditz ( 1997 ): Problematik , S. 110 f. Latour ( 2007 ): Soziologie , S. 70. Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , S.  220. Für Wien mit seinen geschätzt 130. 000 bis 150. 000 Straßentauben ist , laut N. N. ( 2010a ): Taubenschlag , von bis zu 1. 800 Tonnen Kot jährlich auszugehen : »Eine Taube erzeugt pro Jahr etwa 12 kg Nasskot , der Hausfassaden , Denkmäler und Dachböden verschmutzt.« Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , S. 220. 26 Schneditz ( 1997 ): Problematik , S. 109. 27 Dee ( 1994 ): Leidenschaft , S. 15.

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nehmend dicht besetzten sie Zierfassaden und Dachstühle von Bürgerhäusern oder auch Bahnhöfe , Unterführungen und U-Bahn-Schächte , die genügend halbdunkle Ecken und Schlupfwinkel zum Brüten bieten. Heute finden sich allenthalben daran Taubenabwehrnetze und -spitzen als sichtbares Zeichen , dass die Menschen den Straßentauben ihr Geschäft verwehren. Untrügliche Rückstände an Kunststoffnetzen und Metallstacheln zeugen von deren Widerspenstigkeit : »Bei der U-Bahnstation Margaretengürtel sind Netze vor der Deckenkonstruktion gespannt. Sie halten die Tauben nicht ab , sondern fangen im Gegenteil Federn und Dreck auf. Zwei Tauben sah ich zwischen der Decke und der Vorrichtung ; eine flatterte , die andere lugte schräg von ihrem Sitzplatz auf einem Balken herunter.«28 Die Tauben wissen sich die Abwehrsysteme unter Umständen zunutze zu machen : »Wer zum Beispiel bei einer 40 Zentimeter tiefen Fensterbank nur eine Reihe Spitzen setzt , kann verärgert verfolgen , wie die Tauben sich genau dahinter einnisten – die Spikes verhindern praktischerweise , dass ihre Eier hinunterrollen.«29

Abb. 3  : Kontrollversuch am Westbahnhof: Selbst Überwachungs­ kameras sind mit Taubenabwehrspitzen ausgerüstet.

Wenn Straßentauben menschlichen Behausungen zu nahe kommen , bröckelt die Fassade – auch im übertragenen Sinn , was nämlich die Toleranz der Bewohner und Bewohnerinnen anbelangt. Der Ausbruch einer Freundin im Café Westend , als ich Tauben nur erwähnte , war exemplarisch : Sie hasse die Tauben. Immer habe sie auf ihrem Balkon Probleme mit ihnen. Die Wäsche könne man kaum raushängen , weil sich Tauben darauf niederließen und sie beschmutzten. 28 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 17. 07. 2009. 29 Manner ( 2010 ): Stadtplage.

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Sie seien laut und dreckig.30 Meine Freundin hatte sogar ein Internetforum aufgesucht , wo zur Anschaffung von Netzen , zu einer Balkonverglasung , abschreckenden Lichtzeichen oder Katzen geraten worden sei. Ins Internet führt also zum Beispiel die Spur der Auseinandersetzung mit den Tauben , die sich in diversen Abwehrmaßnahmen materialisiert und von der lückenhaften Grenze zwischen privatem menschlichen Wohnen drinnen und dem feindlich aus dem Freien anrückenden Tauben-Leben zeugt. Schon kurze Recherchen offenbaren eine starke Polarisierung des ›inneren Konfliktes‹ in der medialen Repräsentation , den eine Außenbetrachtung ansatzweise erahnen lässt. Die erste Szene einer online archivierten Fernsehsendung von Wien.at TV31 über eine umfangreiche Mieterbefragung des Wiener Wohnbaus spielt – am Beispiel der Tauben – auf mögliche Störfaktoren der persönlichen Wohnsituation an , die die Befragten unter anderen genannt hätten : Schmutz ( 39,2 Prozent ) und Konflikte mit den Nachbarn ( 11,2 Prozent ). Die Personen im Bild zeigen und sehen während der folgenden Erörterung häufig nach oben , wo Tauben von Mauervorsprüngen auf sie herabblicken : Mieter 1 : Des is bei mir oman. Do hob i normal Blumen drin , des is ois von de Tauben. Von oberhalb sitzen s’ und furzen s’ obi. [ Hält undeutliche Fotos verdreckter Balkonkästen ins Bild ] Mieterin 2 : Die tut s’ füttern. Do san fuchzehn , zwanzig Tauben in der Früh. Ich mach die Fenster auf und die fliegen in die Wohnung eini. So schaut’s aus. Mieter 1 : Da sitzt eh schon wieder eine. Mieterin 3 : Die warten hier , bis sie was kriegen.32

Offenbar sieht sich die Nachbarschaft nicht nur außerhalb des Hauses , sondern insgesamt in ihrem Wohnen gestört. Die Störung geht von einer Fütternden und den Tauben aus. Dass sie ›wie gewöhnlich‹ Futter erwarten , setzt Orientierungssinn und Zeitgefühl voraus. Was das betrifft , gelten Tauben als besonders kompetent. Zudem lässt sich nachlesen , sie seien »ausserordentlich lernfähig und setzen die unterschiedlichsten Bettelstrategien gegenüber den Menschen ein. Sie verstehen es dank ihrer hohen Intelligenz meisterhaft , den Menschen als Nahrungs30 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 30. 08. 2009. 31 Bei Wien.at TV handelt es sich um eine Produktion des Kabelsenders W24 , der der Stadt Wien gehört und rund um die Uhr Informationen zur Region ausstrahlt , vgl. http://www.wh-m.at/W24.at/1001 ( 24. 01. 13 ). Die Sendung »Wiener Wohnen unterwegs« dokumentiert , wie ein Bus-Filmteam durch Wiener Gemeindebauten tourt , um die Kritik der Bewohner aufzunehmen und nach dem Motto »Durchs Reden kommen d’Leut zam‹« Problemlösungsvorschläge aufzutun , vgl. http://www.wien.gv.at/tv/detail.aspx?mid=126244&title=Wiener-Wohnen-unterwegs-2010 ( 24. 01. 13 ). 32 http://www.wien.gv.at/tv/detail.aspx?mid=101966 ( 10. 09. 10 ). Transkription SR.

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quelle zu ›bewirtschaften‹.«33 Das Ganze lässt sich als gemeinsames Handeln begreifen , da sich menschliches und nicht menschliches Tun in bestimmten Situationen verbinden. Wo sich Menschen und Straßentauben samt ihren Routinen unmittelbar verbünden , wo zum Beispiel die Bettelei der Tauben an gleichbleibenden Futterplätzen Erfolg hat , finden häufiger augenfällige Interaktionen statt.

Verweilend I: Tauben im Park Wir sitzen zusamm’ in der Laube Und jeder vergiftet a Taube Der Frühling , er dringt bis ins innerste Mark Beim Taubenvergiften im Park ( Georg Kreisler , Frühlingslied  )34

Im »Frühlingslied« des Wiener Kabarettisten Georg Kreisler , besser bekannt unter dem Titel »Tauben vergiften«, taucht der Park speziell als Ort des Taubenfütterns auf. Damit ist allerdings kein Freundschaftsangebot gemeint ; im Gegenteil wird die taubenfeindliche Einstellung der Nachbarschaft offensichtlich : Kann’s geben im Leben ein größ’res Plaisir Als das Taubenvergiften im Park ?35

Der Hermann-Leopoldi-Park , unser Beobachtungsfeld , ist nach einem »Komponisten zahlreicher Wienerlieder« benannt – das ist einer Tafel im Eingangsbereich zu entnehmen. Daneben ordnet ein Schild an : »Park sauber halten«, »Hunde an die Leine«. Und es informiert : »Wer Tauben füttert , füttert Ratten !« ( vgl. Abb. 4 ) Tauben werden mit dem Inbegriff städtischer Plagen gleichgesetzt. Österreichisch werden sie deshalb auch als ›Flugratzen‹ beschimpft. In besagtem Park war während des gesamten Untersuchungszeitraums ein beachtlicher Schwarm anzutreffen. Die Vögel genau zu zählen , schien angesichts der ständigen Flugbewegungen aussichtslos.36 Dennoch machte es den Eindruck , 33 Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , 216 f. 34 Zit. n. Baltzer ( 2000 ): Chansons , S. 126. Das Lied stammt aus dem Jahr 1956. 35 Ebd. 36 Eine exakte Taubenzählung kann als Hauptziel zum Beispiel der Arbeit Thomas Schneditz’ gelten , der zu diesem Zweck 61 Tage allein durch Klagenfurt radelte. An der Flugaktivität bemisst er seine Erfolgschancen : »Bei der extrem kalten Witterung der Monate Jänner bis März fiel das Zählen leicht , da die Freßschwärme auf den Dächern und Gesimsen saßen und unnötige Aktivitäten zu vermeiden suchten.« Schneditz ( 1997 ): Problematik , S. 106.

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dass sie sich zuletzt noch vermehrt hatten , obwohl inzwischen weitere Schilder das Füttern untersagten. Tafeln der Magistratsabteilung 13 ( Jugend ) an den Pforten zum angrenzenden Spielplatz zeigten unter anderem ein Comic-Mädchen , das in die Höhe hüpft und erschreckt Beutel und Brot fallen lässt , weil aus der Luft Tauben und vom Boden Ratten es bedrängen. Dazu heißt es : »Füttere keine Tauben – das ist wie Ratten füttern !«37

Abb. 4 und 4a : Hinweistafel der Stadt Wien zum Hermann-LeopoldiPark am Eingang Mandlgasse. 37 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 02. 09. 2010.

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Der Hermann-Leopoldi-Park ist ein halb gepflastertes , halb sandiges , ungefähr 100 Meter langes Areal. Nördlich trennen ein Metallzaun und Büsche die Parkzone mit Bänken und Tischen von einem Spiel- und Sportplatz. Der Park ist südlich durch Bäume und Gebüsch gegen die Niederhofstraße abgegrenzt , nach Westen schließt direkt die ruhige Mandlgasse an , im Osten die stark befahrene Grieshofgasse. Aufgrund seiner Positionierung dient der Park Passanten und Passantinnen auch als Durchgang. Die Tauben , die wir hier beobachteten , flogen gelegentlich zum gegenüber gelegenen Meidlinger Markt , pickten oder segelten zwischen den Markthütten umher. Waren deren Dachkanten nicht mit Abwehrspitzen versehen , ließen sie sich kurzzeitig darauf nieder und schielten wohl nach Lebensmittelresten auf dem Boden.38 Fraglos fiel an den Obst- und Gemüseständen , Fleisch- und Imbissbuden immer etwas für sie ab. Straßentauben , so erwies sich in einem Versuch in Basel , fressen nahezu alles : »Pflanzlicher Herkunft waren alle Salatarten , alle Kohlarten , Tomaten , gekochte und rohe Erdäpfel , rote Rüben , Karotten , weiße Bohnen , gekochter Spargel , saure Gurken , alle Brotarten und Kuchen , rohe und gekochte Eierteigwaren , Reis , Maroni , Rosinen und selbst Schokolade , Kaugummi sowie Pfefferminzbonbons. Tierischer Herkunft waren rohes Schweinefleisch , roher Fisch , gekochte und rohe Hühnereier , Wurstwaren , Schinken sowie Käse.«39 Gegenüber dem durch die Kreuzung und Bushaltestelle unruhigen Markt dienten die Bäume des Hermann-Leopoldi-Parks den Tauben als Ruheplätze. Dabei galten Stadttauben vormals als reine Getreidefresser , ebenso soll bis Ende des 19. Jahrhunderts für sie der Aufenthalt in Bäumen ungewöhnlich gewesen sein.40 Vor dem Hintergrund dieser biologischen Behauptung lässt sich annehmen , dass sich in Meidling , unserem Beobachtungsraum , – so wie andernorts – die Wandelbarkeit des »Kulturfolgers« abzeichnet. Oft segelten Tauben von ihrem Baum an eine Stelle auf dem Boden , um dort herumzuwuseln , zu picken und zu balzen. Dann wieder stoben sie im Schwarm alarmiert hoch , landeten an einer entfernten Stelle auf dem Boden oder wiederum im Geäst. Nachdem ich gelesen hatte , dass Taubenschwärme anscheinend ununterbrochen ihren Umkreis beäugen und sich etwa gegenseitig Gefahrlosigkeit signalisieren , indem Einzeltiere Zeichen geben ,41 begann ich mir entsprechende Interaktionen hinter den Schwarmbewegungen vorzustellen. Und auch sonst prägte die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema meine Beobachtungen : Situationen , in denen eine große Zahl an Tauben erschrocken kollektiv aufflog , erzeugten in meinem Kopf die Vorstellung einer ­Druckwelle , 38 39 40 41

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Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 05. 10. 2009. Schneditz ( 1997 ): Problematik , S. 113. Vgl. Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , S. 213. Vgl. McFarland ( 1987 ): Oxford Companion , S. 13.

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mit der eine Wolke von ›Bazillen‹ anbrandet. Das geschah allerdings selten. Meist wich der Schwarm routiniert am Boden aus , entfernte sich schnell trippelnd , wenn Leute ihn passierten. Menschliche und nicht menschliche Bewegungen wirkten koordiniert ( vgl. Abb. 5–7 ).

Abb. 5–7 : Ausweichen des Taubenschwarms vor einer Passantin am Boden und durch Abflug.

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Von unterschiedlichen Bänken aus beobachteten wir dieses Treiben , besonders skurril erschien uns das Balzgehabe der Täuberiche. Vielleicht infolge der eigenen Paarsituation achteten wir besonders stark darauf , wiesen uns oft gegenseitig darauf hin und versetzten uns in die Vögel hinein , sodass ich beispielsweise notierte , Malte habe einen Täuberich bedauert , den eine »Möchtegern-Zuchttaube« ›abblitzen‹ ließ.42 Wie ist , abgesehen von dieser Art Anthropomorphisierungen , der klassischen Form einer reinen Tierbeobachtung zu entgehen , so dass die Bahnen des Taubenschwarms nicht bloß für sich , sondern in Verbindung zum sonstigen Geschehen im Park erscheinen ?

Verweilend II: Menschen und Tauben im Park Da waren zum einen die Kleinkinder auf dem Spielplatz beziehungsweise auf dem Hin- oder Rückweg. Sie jagten die Tauben bei jeder Gelegenheit vom Boden auf und wurden schon mal von erwachsenen Aufsichtspersonen zurechtgewiesen , wenn es zu arg wurde.43 Ebenso fiel ein kleiner Hund auf , der an der Leine Tauben nachstellte ; die Halterin hielt unbeeindruckt ein Mobiltelefon ans Ohr.44 Jugendliche , die sich häufig bei den Bänken trafen , Paare mitunter , gaben sich sichtlich nicht mit den Straßentauben ab , interagierten aber auch sonst nicht mit ihrer Umgebung. Eine ähnliche Rolle nahmen vermutlich wir ein , von außen betrachtet. Weitere regelmäßige Besucher des Parks , alte Leute und jüngere Erwachsene , wandten sich dagegen deutlich den Tauben zu. Daraus ergaben sich auch Begegnungen der Menschen untereinander. Schließlich wurden direkte Interaktionen augenfällig. Vorwiegend drehten sie sich ums Füttern. Es ließen sich plötzliche Sammelbewegungen der Tauben beobachten , die aus dem Takt ihres Hin und Her fielen. Einmal sammelte sich der Schwarm vor zwei alten Damen auf einer Bank , die wir schon öfters beobachtet hatten : Die eine streute Brotstücke aus einem Beutel vor sich auf den Boden. Da kam von schräg gegenüber , wo er bis eben mit einem anderen Mann bei mehreren Dosen Ottakringer-Bier beisammengesessen hatte , ein Mann herbei und rief : »Entschuldigen Sie !« Die Tauben würden krank vom Weißbrot. »Körndln« müsse man ihnen füttern , »a Müsli«. Die Damen bedankten sich für die Belehrung und schlossen lachend den Stoffbeutel. Daraufhin ging der Mann weg und auch die Tauben verschwanden nach und

42 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 8. 3. 2009. 43 Siehe beispielsweise Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 12. 07. 2009. 44 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 10. 07. 2010.

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nach.45 Diese Szene verdeutlicht , wie wenig eindeutig sich die Haltung gegenüber Tauben darstellt , dass die Straßentauben Verbündete ebenso wie Feinde haben. Ein »Waste-Watcher« hätte vermutlich auf das Fütterungsverbot hingewiesen. Diesen neuen , offiziellen Posten erwähnte ein Mitarbeiter der Gebietsbetreuung46 Wilhelmshof : Taubenfüttern gelte als Wegwerfakt , verstoße somit gegen die Reinhalteverordnung und könne mit Strafen belegt werden.47

Abb. 8 : Alte Dame und »Körndlfresser«.

Die offizielle Sicht schien auch andere Fütternde wenig zu kümmern. Eine gewisse Konkurrenz beim Füttern zeigte sich zum Beispiel , als drei Männer auf einer Bank , von Tauben umgeben , Brot vor sich hinwarfen : Unversehens flatterten die Vögel auf die andere Seite des Platzes. Dort hatte ein anderer Mann , während er sich mit einem zweiten unterhielt , begonnen , ebenfalls Futter zu streuen.48 An einem anderen Tag saßen eine Frau mittleren Alters und zwei Männer einträchtig auf einer Bank , bis sie aufstand und , Brotkrümel austeilend , die Tauben um sich versammelte : Einer der Männer schlug ein Bein über das andere , so dass die Tauben in seiner Nähe erschrocken aufflogen. Jagte er sie absichtlich fort ? Die einträchtige Szene wirkte aufgelöst , seit die Frau die Tauben fütterte , während die Männer nicht sichtbar teilnahmen , außer dass 45 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 10. 07. 2009. 46 Die »Gebietsbetreuungen Stadterneuerung« sind örtliche , mit Planungsexperten und -expertinnen besetzte Service-Stellen der Stadt Wien , die gratis über Fragen z. B. zum Wohnumfeld informieren , vgl. http://www.gbstern.at/service/gb-allgemein /  ( 2 4. 01. 13 ). 47 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 02. 09. 2010. 48 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 12. 07. 2010.

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eben einer effektiv , aber nicht nachweislich gezielt , einige der sich nähernden Tauben aufscheuchte.49 Eine Konstellation , in der Zuwendung und Ablehnung zusammenfielen , ergab sich , als eine einzelne Person die Handlung bestimmte : Ein offenbar Betrunkener biss wiederholt von einem Stück Brot aus einer Plastiktüte ab. Er kaute , nahm dann und wann etwas aus dem Mund und warf es den Tauben zu – nur um sie gleich wieder stampfend und klatschend fortzuscheuchen. 50 Diese Beispiele veranschaulichen , dass , wenn Menschen und Straßentauben zusammentreffen , nicht unbedingt von steten , eindeutigen Verbindungen auszugehen ist , gerade auch die fortgesetzte Beobachtung kann das zeigen : Sobald die beiden taubenfütternden , alten Damen sich entfernt hatten , tauchten vorübergehend noch mehr Tauben auf , sahen unter und sogar auf der Bank nach und pickten Krümel auf. Als ich mich daraufhin der Bank näherte , bemerkte ich Vogelkot darauf. Ich vermute , so ging es auch einer dritten Dame , die etwas später , bevor sie sich kurz setzte , die Sitzfläche mit einer Werbeprospektseite bedeckte , die sie eigens aus der Handtasche zog. Wahrscheinlich wollte sie ihre Kleidung gegen den Dreck schützen. Nachdem sie gegangen war , blieb das Blatt zurück und wehte bald in das Gebüsch hinter der Bank. Dinge und materielle Spuren der räumlichen Präsenz vermitteln die Interaktion zwischen Menschen und Tauben und lassen sich als Hinweise auf durchaus ambivalente Beziehungen interpretieren.

Die Lösung des Problems Gerade die dinglichen Verknüpfungen zeigen : Wo Tauben in der Stadt anwesend sind , ob sie menschlichen Einrichtungen nahe kommen oder sich ›im Grünen‹ aufhalten , stellt sich unter anderem die Assoziation mit Schmutz und Abfall ein. Indes lassen sich die Tauben kaum fernhalten , sondern beweisen bereits eine erstaunliche Anpassungsbereitschaft. Sie sind nicht zu ignorieren. Durch Konflikte und Bündnisse mit den Menschen treten die Straßentauben als Problem des gemeinsamen Stadtraumes in Erscheinung. Im September 2010 begann die Stadt Wien im Namen des Tierschutzes nach jahrelangen , kontroversen Diskussionen eine Maßnahme nach dem Vorbild Augsburgs. Verschiedene amtliche Publikationen berichteten darüber :51 Versuchsweise wurde ein Taubenschlag im Dachgeschoss des Meidlinger Amts49 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 16. 07. 2010. 50 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 12. 07. 2010. 51 Vgl. Gsandter ( 2010 ): Tierombudsmann ; Landgraf ( 2010 ): Amt ; N. N. ( 2010a ): Taubenschlag ; N. N. ( 2010b ): Projekt.

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hauses eingerichtet. Das Modellprojekt soll ein Jahr lang wissenschaftlich beobachtet und bei Erfolg für andere Wiener Bezirke übernommen werden. Straßentauben werden sozusagen ›verhäuslicht‹, sie erhalten ›artgerechtes‹ Futter und regelmäßige professionelle Quartierssäuberung und ‑desinfektion. Um die Population allmählich zu verkleinern , besteht der Plan , ihnen anstelle der Gelege heimlich Gipseier unterzuschieben.

Abb. 9 : Sitzende und fliegende Tauben an der Baustelle Westbahnhof (Oktober 2010). Eine andere ›Baustelle‹, wo sich Tauben niederlassen dürften, ist der offizielle Taubenschlag im Amtshaus Meidling.

Binnen sechs Monaten soll sich , so die Vorstellung , der Taubenschlag wie von selbst füllen. Ein leitender Mitarbeiter im Amtshaus Meidling wies in einem informellen Gespräch darauf hin , dass durch den derzeitigen Abriss eines verlassenen , ausgebrannten Hauses in der Fabriksgasse viele Straßentauben heimatlos würden und sich hoffentlich in naher Zukunft hier niederließen. Die jetzigen Tauben hätten , auch wenn sie  – so der Mitarbeiter  – während des Kriegs verwildert seien , »noch dieses Gen in sich«, an einen Ort gebunden zu sein. Er betonte aber auch , dass sich der Erfolg des Projekts erst mit der Zeit herausstellen würde.52 Aktuell gibt es also Versuche , eine neuerliche Wende im Verhältnis der Wiener und Wienerinnen und ihrer Tauben herbeizuführen. Es gilt , »die Tiere ›von der Straße zu holen‹«53. In einigen Jahren bietet sich vielleicht ein ganz anderes Bild der Tauben in Wien. Insgesamt zeigte sich gleichwohl , versteckt und offenkundig , wie Menschen und Tauben aufeinander- oder 52 Notiz Forschungstagebuch Svenja Reinke am 06. 09. 2010. 53 N. N. ( 2010a ): Taubenschlag.

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zusammentreffen. Offizielle Regelungen geraten dabei leicht in den Hintergrund. Eine Stadt wie Wien setzt sich letztlich aus der menschlichen und nicht menschlichen Bevölkerung zusammen , die trotz krisenhafter Momente fortlaufend zu einem Modus vivendi finden.

LITERATUR Brenner , Andreas ( 2008 ): Das Tier und Wir. Plessners Begründung und Verabschiedung der Anthropologie. In : Ullrich , Jessica /  Weltzien , Friedrich /  Fuhlbrügge , Heike ( Hg. ): Ich , das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte. Berlin , S. 17–26. Dee , Andrea ( 1994 ): Eine vergessene Leidenschaft. Von Tauben und Menschen. Wien. Dee , Andrea ( 2006 ): »Desperate Housewives« vor dem Fenster. Straßentauben. Beitrag zu einer von der Tierschutzombudsstelle veranstalteten Fachtagung »Wildvögel im urbanen Bereich« in Wien am 20. 10. 2006 , http://www.tieranwalt.at/upload/files/dee. pdf ( 29. 01. 13 ). Dunning , Annie ( 2008 ): Air Time. In : Ullrich , Jessica /  Weltzien , Friedrich /  Fuhlbrügge , Heike ( Hg. ): Ich , das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte. Berlin , S. 187–192. Haag-Wackernagel , Volker ( 1998 ): Die Taube. Vom heiligen Vogel der Liebesgöttin zur Strassentaube. Basel. Johler , Reinhard ( 1997 ): Vogelmord und Vogelliebe. Zur Ethnographie konträrer Leidenschaften. In : Historische Anthropologie 5 , S. 1–35. Latour , Bruno ( 2001 ): Das Parlament der Dinge. Frankfurt am Main. Latour , Bruno ( 2007 ): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main. Löfgren , Orvar ( 1986 ): Natur , Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In : Jeggle , Utz ( Hg. ): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Reinbek , S. 122–144. McFarland , David ( Hg. ) ( 1987 ): The Oxford Companion to Animal Behaviour. Oxford /  New York. Schmoll , Friedemann ( 2006 ): Von Menschen und Vögeln. Eine merkwürdige Beziehungsgeschichte. In : Grieshofer , Franz /  Schindler , Margot ( Hg. ): Papageno Backstage. Perspektiven auf Vögel und Menschen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde , 20. Mai bis 29. Oktober 2006 (= Kataloge des Österreichischen Museums für Volkskunde , 88 ). Wien , S. 11–20. Schneditz , Thomas ( 1997 ): Die Problematik der Straßentaube ( Columba livia livia ) in Klagenfurt. In : Carinthia II 187 / 107 , S. 103–117. http://www.landesmuseum.at/pdf_frei_remote/CAR_187_107_0103-0117.pdf ( 24. 01. 13 ). Soeffner , Hans-Georg ( 1992 ): Der fliegende Maulwurf ( Der taubenzüchtende Bergmann im Ruhrgebiet ). In : ders. ( Hg. ): Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags , Bd. 2. Frankfurt am Main , S. 131–156.

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QUELLEN Baltzer , Stefan ( 2000 ): Die Chansons Georg Kreislers und ihre Stellung in der Entwicklung des deutschsprachigen musikalischen Kabaretts. Norderstedt. Gsandter , Hermann ( 2010 ): Der Tierombudsmann. Taubenschlag gegen Taubenplage. In : VOR magazin 8 , S. 78. Guggenmos , Josef ( 2006 ): Die Tauben. In : Groß ist die Welt. Die schönsten Gedichte. Weinheim , S. 163. Landgraf , Thomas ( 2010 ): Das Amt , ein Taubenschlag. In : Wiener Bezirksblatt Meidling 14 , S. 6. Manner , Melanie ( 2010 ): Gerüstet gegen die gurrende Stadtplage. In : WirtschaftsBlatt online vom 05. 03. 2010 , http://www.wirtschaftsblatt.at/home/schwerpunkt/immobi­ lien/geruestet-gegen-die-gurrende-stadtplage-411060/index.do ( 10. 09. 10 ). N. N. ( 2010a ): Taubenschlag soll die Tiere »von der Straße holen«. Tauben ziehen um. In : wien.at : Hund , Katz & Co – Alles rund um unsere liebsten Gefährten 3 , S. 12. N. N. ( 2010b ): Projekt gegen Taubenplage. In : Wiener Bezirkszeitung 12. Meidling 35 vom 01. 09. 2010 , S. 2 f. , http://archiv.print-gruppe.com/Ausgabe.php?id=7622 ( 24. 01. 13 ). http://www.gbstern.at/service/gb-allgemein /  ( 24. 01. 13 ). http://www.wh-m.at/W24.at/1001 ( 24. 01. 13 ) http://www.wien.gv.at/tv/detail.aspx?mid=126244&title=Wiener-Wohnen-unterwegs-2010 ( 24. 01. 13 ) http://www.wien.gv.at/tv/detail.aspx?mid=101966 ( 24. 01. 13 ). [ TV-Clip , Erstausstrahlung bei Wien.at TV am 27. 03. 09 , Dauer : 3 Min. 1 Sek. ]

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1 : Julius Neubronner 1909 ( Titelseite ). Aus : Haag-Wackernagel ( 1998 ): Taube , S. 177. Abb. 2 : Zeichnung Reinke. Abb. 3 : Foto Reinke , Westbahnhof , am 17. 02. 10. Abb. 4 und 4a : Foto Reinke , Hermann-Leopoldi-Park , am 02. 09. 10. Abb. 5–7 : Foto Reinke , Hermann-Leopoldi-Park , am 02. 09. 10. Abb. 8 : Foto Reinke , Hermann-Leopoldi-Park , am 02. 09. 10. Abb. 9 : Foto Reinke , Westbahnhof , am 17. 02. 10.

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Anna Stoffregen

ALS VOLUNTEER BEI DER FUSSBALLEUROPAMEISTERSCHAFT IN WIEN Kick-off Auftakt , Beginn , Dynamik , Eröffnung – ein Ereignis , das als Kick-off-Event angekündigt wird , verspricht viel. Der Kick-off war der erste Pflichttermin der Fußball-Volunteers der Fußball-Europameisterschaft in Wien , zu denen auch ich im Sommer 2008 gehörte. In der Mitte des Radrennstadions war eine Bühne aufgebaut , davor Stuhlreihen , Kamerateams waren unterwegs , um Interviews zu machen , und dazwischen , etwas orientierungslos , die Volunteers. Während der Veranstaltung , bei der verschiedene österreichische Fußballprominente auftraten , wurde die zentrale Bedeutung des Gemeinschaftsgeistes für die Meisterschaft bekräftigt ; die Redner richteten das Wort an uns Volunteers als eine Einheit , als ein Wir. Begleitet wurde die Veranstaltung von stimmungsvoll gedachten Videos , die die Austragungsorte des Turniers und sportliche Performances zeigten , von Live-Musik , einem Auftritt der Maskottchen und der Präsentation der Uniformen. Wichtige Informationen über die bevorstehende Arbeit als Volunteer wurden in dieser Bühnenshow nicht vermittelt. Wir waren zirka 1. 000 Personen zwischen 18 und 70 Jahren und aus 20 verschiedenen Nationen. Wir hatten uns darum beworben , während der FußballEuropameisterschaft in Wien als Volunteer tätig zu sein. Und waren angenommen worden. Das Kick-off-Event sollte zweifelsohne dazu dienen , ein erstes Kennenlernen zu ermöglichen. Die 14 Departements , in die sich die Arbeitsorganisation aufteilte , hatten Stationen gebildet , an denen jeweils Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner erste Fragen beantworteten und die als Anlaufpunkte gedacht waren , um künftige Mitstreiterinnen und Mitstreiter kennenzulernen. Die Intensität , in der wir als ein gemeinsames , großes Ganzes ins Zentrum gestellt wurden , sollte den Eindruck vermitteln , dass es bereits ­einen Zusammenhalt gäbe. Dieses Bemühen um die Einstimmung auf das Wir machte mich neugierig. Ich war gespannt auf das , was die anderen und mich in wenigen Wochen erwarten würde. Und das Interesse , den ohnehin immer halb aktivierten kulturwissenschaftlichen Blick auf das Volunteer-Sein zu fokussieren , verstärkte sich mit jedem Tag , den ich bei der Fußball-Europameisterschaft verbrachte. Ich begann , Notizen zu machen über Auffälliges , aber auch Selbstverständliches. Die folgenden Überlegungen sind als ethnographische Skizze zu verstehen , deren Ausgangspunkt zunächst nicht ein Forschungssetting , sondern meine

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Arbeit als Volunteer ist. Im Blick auf die Erfahrungen dieser Tätigkeit fokussiere ich auf Prozesse der Formierung eines Wir , wie sie sich im spezifischen Zusammenhang einer auf ein lokales und translokales Massenpublikum ausgerichteten Veranstaltung im städtischen Rahmen abzeichneten , Prozesse , in denen sich Inklusion und Exklusion permanent verschränkten. Um die Austragung von Sportereignissen wie Olympische Spiele , Europaund Weltmeisterschaften besonders des Fußballs bemühen sich viele Städte. Die großen Events sind nicht mehr nur reine Sportveranstaltungen , die Sportverbände und -vereine ausrichten , sondern öffentlich geförderte , breitenwirksame Spektakel , die von Anfang bis Ende von einem Rahmenprogramm begleitet werden. Die Eventisierung und »Kulturalisierung des Sports«1 erreicht neben Fans auch Personen , die nicht unbedingt ein besonderes Interesse an einer Sportart haben , sondern die das zusätzliche Angebot einer Großveranstaltung neugierig macht. Austragungsort von Sportereignissen zu sein bringt neben internationaler und nationaler Aufmerksamkeit auch infrastrukturelle Veränderungen mit sich , die sich in monumentalen Neubauten von Sportstätten zeigen. Bestimmte Stadträume werden zu Bühnen , auf denen Sport als Ereignis inszeniert wird. Es entstehen Räume , zu denen nur bestimmte , dem Ereignis zugeordnete Personen Zutritt haben , in Abgrenzung zu Räumen , die von Zuschauerinnen und Zuschauern genutzt werden können und dürfen , wie zum Beispiel die bei Fußballevents typischen Fanmeilen2. Als Volunteer der FußballEuropameisterschaft öffneten sich mir Räume , die den Fans beispielsweise verschlossen waren. Gleichzeitig sind Volunteers von vielen Räumen innerhalb des Eventrahmens ausgeschlossen , zu denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Zutritt haben. Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Mechanismen des Ein- und Ausschließens , wie sie sich in der Rolle als Volunteer abbilden , stellen nach meiner Beobachtung Dinge sowie deren Bedeutung und Gebrauch dar.

Die Bewerbung Meine Motivation , mich für das Volunteer-Programm zu bewerben , war vielfältig. Da war zum einen die Hoffnung , etwas näher am Geschehen zu sein und eventuell sogar Zutritt zu einem der ausverkauften Spiele zu erhalten  – denn mich interessiert der Fußballsport und ich kann mich auch für die großen , kommerziellen Events begeistern. Zum anderen gab es auch durchaus prag1 2

Klein ( 2008 ): Urbane Bewegungskulturen , S. 14. Die Fanmeilen , meistens zentral gelegen , sind zwar kostenlos zugänglich , werden aber aufgrund von Absperrungen , Kontrollen an den Eingängen und Regelwerken nur durch bestimmte Bevölkerungsgruppen genutzt.

Als Volunteer bei der Fußball-Europameisterschaft in Wien

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matische Gründe – als Volunteer bei der Fußball-Europameisterschaft erhielt ich für den Zeitraum des Turniers eine Akkreditierung , die österreichweit als Ticket für die Bahn gültig war , und da ich häufig nach Linz reiste , um meiner Dissertationsforschung nachzugehen , war das von Vorteil. Und schließlich spielte auch die Tatsache eine Rolle , dass eine gute Freundin von mir am Programm teilnahm und wir uns gut vorstellen konnten , gemeinsam als Volunteers zu arbeiten. Im Grunde lässt sich meine Motivation als ein Zusammentreffen von Teilmotivationen erklären ; jede für sich allein hätte mich nicht dazu bewogen , mich zu bewerben.

Die Akkreditierung Jeder Person , die eine Funktion während des Events übernommen hatte , wurde eine sogenannte Akkreditierung ausgehändigt , durch die man offiziell Teil des Events wurde. Schon die offizielle Anmutung dieses Begriffs transportierte die Bedeutung dieser Übergabe. Wir wurden damit zugelassen zum Kreis derer , die die Veranstaltung dirigierten und inszenierten. Wir wurden zu Insidern des Events. Der mit Foto versehene Ausweis diente aber nicht nur als Legitimation vor Ort und dazu , den Zutritt zu – wie wir zunehmend feststellen mussten – bestimmten und keineswegs allen Räumen des Events zu eröffnen. Ein derartiger Ausweis stellt bei genauerer Betrachtung ein auf kleinstem Format konzentriertes Informationssystem über die jeweilige Person , deren Anstellungsverhältnis , deren Aufgabenbereich und Befugnisse dar. Dieses Informationssystem vor allem war es , das die gegenseitige Wahrnehmung als Volunteers zunehmend bestimmte. Stand zunächst beim Blick auf andere der Name des Gegenübers im Vordergrund , so richtete sich die Aufmerksamkeit nach kurzer Zeit bereits auf das große Feld , das die Zonen zeigte , für die die Akkreditierung gültig war. Die Zahlen ließen sich aufgrund ihrer Größe im Vergleich zu den anderen Informationen auf der Karte sofort erfassen , was hauptsächlich für eine schnelle Abwicklung an den Kontrollpunkten notwendig war ; die jeweilige Person wurde somit über den Raum , in dem sie sich bewegen durfte , definiert. Gleichzeitig erwies sich die Akkreditierung zunehmend als Gegenstand sozialer Beobachtung und als Medium von Distinktion. Allein die Tatsache , ganz offensichtlich weniger Befugnisse zu besitzen als andere , löste Neid aus. Auch die sonstigen Informationen , die anfangs kaum Beachtung fanden , spielten mit Fortschreiten des Turniers eine Rolle. Diese waren zum einen nicht sofort erkennbar ( durch Größe oder Abkürzung verloren sie sich in der Dichte der Informationen ), zum anderen aber setzten sie ein spezifisches Wissen voraus , das sich erst nach und nach zusammensetzte. Es war also ein routinierter Blick gefordert , der rasch erfasste und das Erfasste auch entschlüsseln konnte.

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Im Vergleich zu den Hintergrundfarben der Akkreditierungen , die signalisierten , welchen Bereichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zugeordnet waren , setzte sich das hellrosa unterlegte »VL« ( für »Volunteer«) am deutlichsten von der insgesamt in Dunkelblau gehaltenen Akkreditierung ab. Man konnte dadurch sehr schnell anhand des Ausweises als Volunteer erkannt werden. Das wurde besonders im Stadion deutlich , wo – sofern man keinen speziellen , auf der Akkreditierung verzeichneten Arbeitsauftrag hatte – der Zutritt zu den Spielen für Volunteers grundsätzlich nicht gestattet war. Die Informationen , die auf der Akkreditierung vermerkt waren , machten uns alle als Volunteers gleich , gleich in einem spezifischen Wir und in einer untergeordneten Position. Fühlte es sich zu Beginn noch extrem ungewöhnlich an , einen  – im Vergleich zum längst gewohnten Format der Kreditkarte  – großen Ausweis am Körper zu tragen , so wurde im Verlauf der Tätigkeit auch dieses sehr eventspezifische Ding zu einem festen und selbstverständlichen Bestandteil des Volunteer-Seins. Auch die Informationen , die alle Mitwirkenden des Events anhand kleiner Kästchen , die unterschiedlich farbig unterlegt waren , Buchstaben und Zahlen zuordneten , konnten zunehmend schnell entziffert werden. Wir gewöhnten uns daran , den Blick zunächst auf die Akkreditierung zu fokussieren anstatt auf die eigentliche Person – so fand eine erste Zuordnung und in gewisser Weise eine Habitualisierung der Abstraktion von der einzelnen , konkreten Person statt. Gleichzeitig wurde gerade die Akkreditierung auch als Mittel der Individualisierung verwendet und ließen sich Aneignungsprozesse beobachten. Wurde das Band mit der Akkreditierung zunächst von allen um den Hals getragen , veränderte sich dies vor allem bei den Volunteers recht schnell. Entweder wurde es , ähnlich wie eine Handtasche , seitlich am Körper hängend getragen oder aber es wurde das Band durch die Gürtelschnallen der Hose gezogen , sodass die Akkreditierung seitlich am Bein hing. Die zusätzlichen Plastikfächer der Hülle wurden als Stauraum , aber auch als individueller Gestaltungsraum genutzt , wiederum ähnlich wie eine Handtasche. Persönliche Gegenstände in Form von Fotos , Zetteln , Stiften , aber auch Pins wurden hinzugefügt. Durch das offensichtliche , ständige Am-Körper-Tragen hatte die Akkreditierung nicht mehr nur die Bedeutung eines Ausweises , sondern wurde als Accessoire zum persönlichen Aushängeschild und einem ästhetischen Element im täglichen Auftreten , das selbst gestaltet und verändert werden konnte.3

3

Vgl. Korff ( 2005 ): Sieben Fragen zu den Alltagsdingen.

Als Volunteer bei der Fußball-Europameisterschaft in Wien

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Unsere Uniform Im Gegensatz dazu ließen die Verantwortlichen in Sachen Bekleidung nicht den geringsten Spielraum. Alle Volunteers erhielten eine umfangreiche Ausstattung , bestehend aus Hosen , Shirts , Schuhen , Regenjacke und sogar Socken. Diese Uniform musste während der Arbeitszeit getragen werden ; bis auf die Unterwäsche wurden wir komplett ausgestattet , die Sachen durften wir behalten Als besonders auffälliges Zeichen war auf jedem Kleidungsstück ein »V« für Volunteer aufgestickt. Die Farbe Türkis war jedoch das markanteste Merkmal der Uniform. Diese Farbe hat im Gegensatz zu anderen keine sportlichen , politischen oder anders gearteten Konnotationen ;4 ein Marktforschungsinstitut hatte sie zur Trendfarbe des Jahres erklärt.5 Der ausgewählte , grelle Farbton stach schon von Weitem ins Auge , man fiel auf , wenn man diese Uniform trug. Sie fühlte sich an wie eine Verkleidung , musste sie doch von Außenstehenden aufgrund des sportlichen Zuschnitts als Freizeitkleidung eingeordnet werden , während sie für uns Arbeitskleidung war. Innerhalb des Personenkreises , der mit der Organisation des Events zu tun hatte , war die Zuschreibung eindeutig : nur Volunteers trugen diese türkisfarbenen Uniformen. Von Eingeweihten wurde man sofort als der Gruppe zugehörig identifiziert. Festangestellte trugen zumeist graue Anzüge ( Jene für den Business-Bereich so typische Farbe ), aber auch deren sportlichere Kleidung unterschied sich in Schnitt und Farbe von der Volunteer-Uniform. Nicht nur die unterschiedlichen Aufgabenbereiche , sondern auch die grundsätzliche Position des Volunteers spiegelte sich in der Uniformierung wieder – der Volunteer als letztes Glied der Kette , dem zwar über verschiedene Formate wieder und wieder vermittelt wurde , unabdingbar für das große Ganze und das gesamte Event zu sein , wurde durch die farbliche Auffälligkeit der Uniform ausgegrenzt. Schon mit Beginn der Tätigkeiten kam es zu einer Differenzierung innerhalb der Gruppe. Die Departements , in die sich die Gruppe der Volunteers unterteilte , waren anhand ihrer spezifischen Tätigkeiten wiederum in Teams aufgeteilt. Weder die Uniformierung noch die Akkreditierung ließ darauf schließen , wer zu welchem Departement und Team gehörte. Das Wir , das über den Einstieg ( den Kick-off  ), die Akkreditierung und die Kleidung formiert worden war , begann sich auszudifferenzieren : durch die Einteilung und Zuordnung in Aufgabengebiete mit unterschiedlich großer Entscheidungs- und Verantwortungskompetenz wurde eine erste Differenzierung eingezogen , die die einzelnen Teams voneinander abgrenzte. So ließ sich beispielsweise beobachten , dass sich Gruppen , die sich in ihrer Aufgabe als unentbehrlich empfanden und de4 5

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Vgl. Macho ( 2006 ): Politik der Farben , S. 50. Vgl. http://colormarketing.org ( 31. 07. 2008 ).

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nen mehr Verantwortung zugebilligt wurde , über Arbeitsbereiche anderer lustig machten. Auch die Dauer und Frequenz der Arbeitszeiten spielten bald eine Rolle : Gruppenmitglieder jener Departements , die von vornherein längere Arbeitszeiten hatten , fingen an , andere zu belächeln , da sie »schon um halb neun« Dienstschluss hatten. Diese sich in Scherzen und Seitenhieben äußernde Konkurrenz zwischen den Teams und Departements fand zunächst auf der Ebene der Angestellten statt , wurde aber schnell von den jeweils zugeteilten Volunteers übernommen. Sie erzeugte ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Teams und vergrößerte die Distanz zwischen den Teams. Die Länge der Arbeitszeiten wurde zum Indikator für die Qualität und die Bedeutung der eigenen Arbeit – ein früher Feierabend stand somit für das Gegenteil. Die zeitgenössischen Standards vom engagierten Arbeiten auch jenseits vertraglich geregelter Arbeitszeiten waren also auch hier wirksam. Die Frequenz und Dauer der Arbeitszeiten spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung einer Hierarchie innerhalb der Teams. Über eine überdurchschnittliche Präsenz ließ sich ein Wiedererkennungswert schaffen , der es möglich machte , innerhalb des Teams eine besondere Stellung einzunehmen. So konnte man zu einer Ansprechperson für andere Volunteers werden , aber auch für Angestellte und Besucherinnen und Besucher , die mit dem jeweiligen Departement in Kontakt kamen. Einige Volunteers blieben so aus Eigeninitiative wesentlich länger als vorgesehen an ihren Arbeitsplätzen. Die während des Events kontinuierlich fortschreitende Differenzierung zwischen den Teams wurde von Prozessen der Ausdifferenzierung innerhalb der Teams begleitet. Bereits während des Trainings , das eine Woche vor dem Event stattfand , hatten Volunteers mitgearbeitet , die sich als Insider herauskristallisierten. Mit ihrem Wissensvorsprung nahmen diese Akteurinnen und Akteure eine Sonderstellung innerhalb der Teams ein , da sie bestimmte Abläufe und Aufgaben längst kannten , sie erklären konnten und damit zur Ansprechpartnerin oder zum Ansprechpartner für das restliche Team wurden. Über den rein dienstlichen Zweck hinaus erzählten diese Insider etwa Geschichten über Erlebnisse während der Vorbereitung , eröffneten so spezifische Einblicke und trugen über diese Narrative zur Teamidentität , gleichzeitig aber zur Differenzierung in der Gruppe bei. Die Ausbildung von Hierarchien erfolgte rasch , da die äußerliche Uniformität eine stärkere Eigeninitiative und ein stärkeres Positionieren anderen Volunteers gegenüber verlangte.6 Die Unterschiede zwischen den einzelnen Teams sowie innerhalb der Teams spalteten das Wir aller Volunteers schnell in Kleingruppen auf. Die Unterschiede in den Entscheidungskompetenzen , verschiedene Grade des Engagements und der Identifikation mit dem Event , vor allem aber die sich abzeichnenden 6

Vgl. Henkel ( 2007 ): Corporate Fashion.

Als Volunteer bei der Fußball-Europameisterschaft in Wien

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Konkurrenzen hatten zur Folge , dass die Gruppe sich zunehmend selbst regulierte. Verstöße wurden verraten , geahndet , unterbunden. Die von außen formulierten Regeln und Reglements wurden in der Gruppe umgesetzt  – es bildeten sich Hierarchien , die die Gruppe nicht nur ordneten , sondern auch kontrollierten.

Mein Klemmbrett Die Uniformität , die äußerliche Gleichheit durch die Uniformen und die Akkreditierung , wurde von Kleinigkeiten , von Dingen , durchbrochen , die mir während meiner Tätigkeit zunächst nicht aufgefallen waren  – zu selbstverständlich waren diese Dinge fester Bestandteil des Kontextes , in dem die jeweilige Person auftrat : der Autoschlüssel in der Hand eines Fahrers , das Funkgerät am Ohr eines Ordners und das Klemmbrett in meiner Hand. Erst nach und nach fiel mir auf , dass Personen , die ein Klemmbrett in der Hand hielten , anders wahrgenommen wurden , offensichtlich »wichtiger« erschienen oder mehr Informationen besaßen als andere. Ich entdeckte bisher unbeachtete Aspekte dieses Dings , erst mit der Zeit war mir ein »Ausklammern der Gewöhnung an das angesehene Ding«7 , wie es Vilem Flusser fordert , möglich. Das Klemmbrett bestand aus einem laminierten Stück Karton , etwas größer als ein DIN-A4-Blatt und mit einer Metallklemme an einer der beiden schmalen Seiten versehen. Auch im deutschen Sprachraum hat sich die englische Bezeichnung »Clipboard« für ein Klemmbrett eingebürgert. Das Clipboard ist zunächst etwas Nützliches – es bietet eine relativ stabile Schreibunterlage , die es ermöglicht , auch beim Gehen oder Stehen , also in Situationen , in welchen kein Tisch oder Ähnliches als Unterlage zur Verfügung steht , zu schreiben. Zwei Clipboards standen für unser Team , das für die Koordination der Transportabläufe8 zuständig war , zur Verfügung. Zu Beginn gab es nur die Listen , auf denen die Fahrten verzeichnet waren , die es für den jeweiligen Tag zu erledigen gab. Jeder Tag war in zwei Schichten unterteilt. Zu den Spitzenzeiten waren bis zu fünf Volunteers unseres Teams anwesend. Nicht alle konnten also ein Clipboard in der Hand halten. Die Fahrerinnen und Fahrer orientierten sich – sofern sie eine Person nicht bereits kannten – zunehmend daran , wer ein 7 8

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Vgl. Flusser ( 1993 ): Dinge und Undinge , S. 53. Das Transport-Departement regelte die Fahrten vom Flughafen zum Headquarter , von dort zum Stadion und zur Medienzentrale hauptsächlich für Fußballfunktionäre , Gäste der Verbände und sonstige VIPs. Das Team , dem auch ich angehörte , bestand aus 18 Volunteers , die den Angestellten bei der Einteilung der Fahrerinnen und Fahrer für die anstehenden Fahrten halfen.

Anna Stoffregen

Clipboard in der Hand hatte , und meldeten sich dort. Das Clipboard kennzeichnete in diesem spezifischen Kontext also diejenige Person , die den Überblick – in Form der Liste – über die noch anstehenden Aufgaben – in Form von Fahrten – hatte und demzufolge auch die Aufgaben verteilte. Auch innerhalb des Teams kristallisierten sich Muster heraus , wie mit dem Clipboard umzugehen war , aber auch wer das Recht hatte , eines der beiden Clipboards an sich zu nehmen. Es sammelten sich über den Tag hinweg unterschiedlichste Informationen auf dem Clipboard an. So wurden kurzfristige Anfragen dort notiert , die Fahrtenliste mit einer Dienstliste der Fahrerinnen und Fahrer ergänzt , Parktickets , Informationsschreiben , die ausgegeben wurden , gesammelt. Die Person , die ein Clipboard bei sich hatte , übernahm den größten Teil der Verantwortung über den Ablauf und das Erledigen der Fahrten der jeweiligen Schicht. Über die Verteilung von Fahrten wurden auch die besonders für die Spieltage relevanten Zugangsberechtigungen zum Stadion sowie Parkplatzgenehmigungen vergeben , die teilweise heiß begehrt waren. Mit dem Clipboard in der Hand nahm man eine spezifische Form von Verantwortung und Machtposition ein ; man entschied darüber , wer ein Ticket bekam , wer nicht ; und die Fahrerinnen und Fahrer wussten , dass hier alle relevanten Informationen zusammenliefen. Auch der konkrete Dinggebrauch ist in diesem Kontext aufschlussreich. Die Art und Weise , wie das Clipboard , beispielsweise auch von mir , am Körper gehalten wurde , wenn jemand um eine Zufahrtsberechtigung bat , signalisierte , die Entscheidung läge bei der Person mit dem Klemmbrett , auch wenn diese nur temporär im Besitz der Berechtigungen war. Indem das Clipboard mit beiden Händen eng am Oberkörper gehalten wurde und dadurch der Blick auf die Liste verwehrt war , wurde vermittelt , dass die Informationen , die sich auf dem Clipboard befanden , nur für Eingeweihte und Zugelassene bestimmt waren. Mir gab das Clipboard in der Hand jederzeit das Gefühl , etwas zu tun , auch wenn nichts unmittelbar zu erledigen war. Auch nach außen wirkte dies so , da die Einzelnen das Clipboard durchgehend in der Hand hielten : Ständig wurde etwas nachgeschaut , durchgestrichen , hinzugefügt – ob notwendig oder nicht. Die Praxis dieses Umgangs mit dem Clipboard führte zu einer zusätzlichen symbolischen Aufladung des Klemmbretts , machte es zu einem Zeichen für eine übergeordnete soziale Position.9 Die Rolle also , aber auch die ganz eigene Wirkmächtigkeit , die unscheinbare Dinge wie dieses Stück Karton entfalten können , lässt sich erst im Zusammenhang der jeweiligen Praktiken erschließen : »Gerade deshalb ist der Kontext unglaublich wichtig , wenn man Bedeutungen von Dingen analysiert.«10 9 Vgl. Heidrich ( 2007 ): Dinge verstehen. 10 Ebd. , S. 234.

Als Volunteer bei der Fußball-Europameisterschaft in Wien

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Rück- und Ausblick War mein Blick auf die Kleidung und die ersten Diskrepanzen zwischen den Volunteers durch das exponierte Verhalten einzelner Akteurinnen und Akteure anfangs noch sehr aufmerksam , skeptisch wie auch kritisch , wurde ich im Laufe der Zeit von den anstehenden Aufgaben völlig absorbiert. Ich war wie andere Teil der sich herausbildenden Hierarchie , verstärkte diese durch die Intensität und hohe Frequenz , die ich beim Event verbrachte , wie auch durch meinen Gebrauch von Dingen wie dem Clipboard. Dabei verlor ich die Mechanismen der Hierarchisierung durch eine ausgesprochen emotionale Nähe zum Geschehen vollkommen aus den Augen. Erst durch die zeitliche und räumliche Distanz zu Event und Geschehen , zu den Personen , mit denen ich zusammengearbeitet hatte , und zu meiner eigenen Position in der Gruppe rückten diese Aspekte wieder in mein Blickfeld. Die Tätigkeit als Volunteer bei der Fußball-Europameisterschaft erforderte , anders , als von mir anfangs erwartet , ein hohes Maß an Engagement und vor allem an Zeit , für die ich und andere nicht bezahlt wurden. Im Nachhinein verwunderte mich , wie viele Menschen auf eigene Kosten nach Wien reisten , sich eine Unterkunft suchten und teilweise ihren gesamten Jahresurlaub dafür aufbrauchten , um Teil dieses Events sein zu dürfen. Unbezahlte Arbeit als Freizeitprogramm spielt auch zunehmend in anderen Bereichen als Sport eine Rolle. Die Frage , inwiefern Tätigkeiten als Volunteer anlässlich von Massenveranstaltungen als zusätzliche Qualifizierung , also als Ergänzung zur beruflichen Arbeit , gedacht werden oder inwiefern sie als Freizeitprogramm und als Gegenentwurf zur Berufsarbeit geschätzt werden , muss hier zwar unbeantwortet bleiben , sollte aber uns als empirische Kulturwissenschaft beschäftigen. Als eine spezielle Form von Arbeit , bei der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fließend sind , sind ehrenamtliche Tätigkeiten11 symptomatisch für die Verfasstheit gegenwärtiger Arbeitswelten und damit ein wichtiges , jedoch bislang eher vernachlässigtes Themenfeld der Arbeitskulturenforschung und Arbeitsethnographie. Anders als bei den meisten ehrenamtlichen Engagements waren wir als Volunteers der EM in unserer Rolle im städtischen Raum sichtbar. Bewegte ich mich während der Zeit des Turniers in meiner Uniform durch die Stadt und besuchte beispielswiese im Anschluss an einen Einsatz eine öffentliche Übertragung eines Fußballspieles , wurde ich von den anderen Besucherinnen und Besuchern als eine dem Ereignis zugehörige Person wahrgenommen. In dieser auffälligen Präsenz kann auch eine – aus der Perspektive der Veranstalter betrachtet – strategische Funktion liegen : Durch unsere freiwillige Arbeit re11

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Vgl. Metz-Becker ( 2010 ): Das Ehrenamt.

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präsentierten wir bürgerschaftliche Akzeptanz einer Großveranstaltung , wie sie gleichzeitig aufgrund der immer wieder damit verbundenen Störungen im städtischen Alltag , vor allem aber der hohen Investitionen durch eine Kommune in Teilen der Bevölkerung durchaus umstritten ist. Auch das Zusammenspiel von freiwilliger Arbeit und Stadt , von deren Rolle in den Images , aber auch im Funktionieren einer Stadt stellt ein lohnenswertes Forschungsfeld , das allerdings erst zu erschließen ist.

LITERATUR Flusser , Vilém ( 1993 ): Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. München. Heidrich , Hermann ( 2007 ): Dinge verstehen. Materielle Kultur aus Sicht der Europäischen Ethnologie. In : Zeitschrift für Volkskunde 103 , S. 223–236. Henkel , Regina ( 2007 ): Corporate Fashion. Verordnete Uniformität im organisationalen Kontext. In : Mentges , Gabriele /  Neuland-Kitzerow , Dagmar /  Richard , Brigit ( Hg. ): Uniformierungen in Bewegung. Vestimentäre Praktiken zwischen Vereinheitlichung , Kostümierung und Maskerade (= Schriftenreihe Museum Europäischer Kulturen , 4 ). Münster /  New York /  München , S.  89–100. Klein , Gabriele ( 2008 ): Urbane Bewegungskulturen. Zum Verhältnis von Sport , Stadt und Kultur. In : Funke-Wieneke , Jürgen /  Klein , Gabriele ( Hg. ): Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld , S. 13–30. Korff , Gottfried ( 2005 ): Sieben Fragen zu den Alltagsdingen. In : König , Gudrun ( Hg. ): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur. Tübingen , S. 29–43. Macho , Thomas ( 2006 ): Politik der Farben. In : Bildwelten des Wissens 4 / 1 , S. 43–52. Metz-Becker , Marita ( 2010 ): Das Ehrenamt. In : Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 46 , S. 113–118.

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DIE EPHEMERE STADT URBANE SEQUENZEN IN WIENER AMATEUR- UND GEBRAUCHSFILMEN Ein Ende des 20. Jahrhunderts neu erwachtes kulturwissenschaftliches Interesse an der Stadt war begleitet vom Zweifel daran , noch einmal am Konzept der Repräsentation anknüpfen zu können. Vielmehr wurden die kulturellen Formen der Repräsentation selbst problematisch bzw. an ein bestimmtes sozioästhetisches »Regime«1 gebunden , das strikte Beziehungen von Gegenstand , Ausdrucksform und gesellschaftlichem Ort eines Werkes vorgab. In Hinblick auf die Literatur verwies Karl-Heinz Stierle in »Der Mythos von Paris« auf die notwendige Synthese unterschiedlicher Stadt-Texte im Forschungsprozess , einschließlich der Sprache der materiellen Überreste : »In der Stadt wird die geschichtete Zeit erfahrbar als materielle Ko-präsenz des Ungleichzeitigen. Bruchstücke , Reste , Abtragungen , Überlagerungen , Spuren aller Art sprechen die Sprache des Vergangenen , führen zeichenhaft in die vergangenen Gegenwarten der Stadt , die das noch Anwesende , in die neueste Gegenwart vielfältig Hineinragende wachruft. Die städtische Zeit , der Zeit-Raum der die Jahrhunderte überdauernden Stadt in seinen Schichtungen und Verwerfungen ist gleichsam ein mehrdimensionaler Stadttext , dessen stumme Sprache in den überdauernden Zeugnissen und Spuren lesbar ist.«2 Ähnliches wie von der Stadtliteratur ließe sich vom Film sagen , der lange Zeit in der Tradition der »Stadtsymphonien« eines Walter Ruttmann und Dziga Vertov als ultimative Darstellungsform der Stadt gegolten hat. Im jüngst erschienenen Buch über »Film , Mobility and Urban Space«, das zugleich zentrale Ergebnisse eines Großprojekts an der Universität von Liverpool ( »City in Film«) vorstellt , spricht Les Roberts von der »unmöglichen Totalität« des »Stadt-Films«, wie eine ältere Genrebezeichnung dafür lautet , und von dem zu vollziehenden Wechsel hin zu einem Gewebe unterschiedlicher filmischer Praktiken und Formen : Die »Stadt-im-Film« erweist sich als ein dynamisches Ensemble , in dessen Archiv eine urbane Anthropologie ein singuläres Betätigungsfeld auf 1

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Rancière ( 2006 ): Die Aufteilung des Sinnlichen , S. 37–39. Mit dem Begriff des »repräsentativen Regimes der Künste« ist keine bestimmte Form ( wie etwa Realismus ) gemeint , sondern die wechselseitige Bekräftigung dominanter gesellschaftlicher Machtverhältnisse und ästhetischer Hierarchien ( Genres , Topiken , Orte usw. ). Das »ästhetische Regime der Künste« zeichnet sich demgegenüber dadurch aus , dass jeder beliebige Gegenstand zum Kunstobjekt ( oder zum Thema der Kunst ) werden kann. Der Begriff »Repräsentation« ändert damit seinen Inhalt insofern , als er zum Ausdruck komplexer Herrschafts- und Widerstandspraktiken wird. Stierle ( 1998 ): Der Mythos von Paris , S. 45.

der Spur kontinuierlichen urbanen Wandels vorfindet.3 Im Folgenden will ich diese Konzeption von Film als genuines Archiv für die Stadt- und Urbanitätsforschung aufgreifen , allerdings beschränkt auf einen bestimmten Typus von Filmen. Dabei handelt es sich um sogenannte »ephemere« Filme – Filme wie Aktualitäten oder Wochenschauen , die von ihrem temporären Einsatz her eine spezifische Form ausbildeten , oder Filme wie jene von AmateurInnen , die nie für öffentliche Vorführungen gedacht waren und die – wie sich heute zeigt – keinen verbindlichen Gestaltungsregeln folgten.4 »Ephemer« heißen diese Filme deshalb , weil sie weder in den Archiven noch in den Wissenschaften und der Kritik besondere Beachtung gefunden haben und Randphänomene geblieben sind , sofern sie nicht überhaupt entsorgt worden sind.5 »Ephemer« sind sie aber auch deshalb , weil sie in ihrer oft rohen bzw. nicht künstlerischen Form auf scheinbar paradoxe Art und Weise einen Überschuss an Informationen in sich speichern , der aus der Geschichte Ausgeschiedenes zum Gegenstand einer kritischen Gegenlektüre – in unserem Falle zur fortgeschriebenen Wiener Stadtgeschichte – machen kann , sofern man bereit ist , einen kleinen Umweg über die surrealistische Intervention – Aragons Hymne auf die verschwundene Welt der Passagen und den Kult des Ephemeren – einzuschlagen. Um 1960 drehte ein Wiener Amateurfilmer , dessen Identität hinter der selbstbewussten Abbreviatur »hs Produktion« verborgen bleibt , den wenige Minuten langen Farbfilm »Wien Stadt meiner Träume«.6 Zwei ( fingierte ) italienische Touristinnen7 flanieren , wie der Untertitel verrät , durch die »Walzerstadt«. Das Terrain ist verhältnismäßig eng umzirkelt : Gloriette und Schloss Schönbrunn , Opernkreuzung , Michaelerplatz und Kohlmarkt , Herrengassen3

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»Unlike the classic city symphonies [ … ] the orchestration of a city’s diverse and heterotopic geographies of film sets into motion the relational structures of form and practice ( habitus , genre , mode of production , camera movement , editing , spatio-temporal register ) by which , as an impossible totality , the city-in-film is apprehended as a dynamic assemble , its individual filmic components [ … ] brought into critical spatial dialogue or spatial play.« Roberts ( 2012 ): Film , Mobility and Urban Space , S. 4 ; zur »Archive City« ebd. , S. 23. Dieser Aufsatz beruht auf Recherchen und Studien im Rahmen des FWF-Projekts P 23093-G 21 »amateur film archeology« am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft ( 2011–2013 ). Zur wissenschaftlichen Entdeckung der ephemeren Filme bzw. Orphan Films in den 1990er-Jahren vgl. Streible ( 2007 ): The Role of Orphan Films. »Wien Stadt meiner Träume« ( A. [ ca. ] 1960 ; R. : unbekannt ; Österreichisches Filmmuseum ). Dieser und weitere in der Folge behandelten Filme sind online zugänglich auf www.stadtfilm-wien.at ; vgl. ebendort die Nachweise der einzelnen Filme. Zwei weitere Privatfilme desselben Autors aus einem längeren Zeitraum belegen das Rollenspiel zumindest einer der beiden Frauen , die offensichtlich zum engsten Familienkreis des Filmamateurs zählte.

Urbane Sequenzen in Wiener Amateur- und Gebrauchsfilmen

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Hochhaus , Stephansdom , Graben , Neuer Markt , Mölkerbastei ( »Dreimäderlhaus«), Lugeck , Stadtpark , Donaukanal mit Urania. Technisch besticht der ambitionierte Privatfilm im Format 9,5 mm sowohl durch seine Kameraführung wie durch den Schnitt. Basierend auf dem Vorbild professioneller Tourismusfilme kommt das breite Inventar der Einstellungsmöglichkeiten von Panoramaschwenks , Totalen und Halbtotalen , Nahaufnahmen , Zooms , Schuss und Gegenschuss zum Einsatz , bis hin zu einem Phantom Ride auf der Rolltreppe der Opernpassage. Komplexe Schnittfolgen in Sequenzen wie jener vor einem Juwelierladen am Kohlmarkt8 verweisen auf ein Drehbuch oder zumindest auf ein Quasidrehbuch , und die verschmitzte Indizierung9 von Andre Kostelanez , Pionier »leichter« Arrangements klassischer Musik für das Radio , als für die Musik verantwortlich deutet bereits die gesteigerte rhythmische Sensibilität des Amateurs bei der Editierung des Filmes an.10 »Wien Stadt meiner Träume« verknüpft entlang eines Sightseeing-Pfades imperiale Wiener Landmarks , Denkmäler , Parklandschaften und symbolische Räume mit dem Alltagstreiben in der Innenstadt. Die Hommage an die Heimatstadt und das offensichtliche Vergnügen am Schauspielern wie am Filmen selbst erhebt keinen weiteren erkenntlichen Anspruch auf Originalität in Schauplätzen und Handlungen , wie dies der Titel nahelegt. Als Imitation des von Redundanzen geprägten Tourismusfilmes ist das Ergebnis zunächst trivial. Die Stadt wird zum Panorama , fundiert in einer konzeptionellen Ordnung , die im handlichen Stadtplan ihr abstraktes Double findet , der den beiden jugendlich-schicken Frauen den richtigen Weg weist. Sie ist ( vordergründig ) vollständig Raum Bedeutung tragender historischer Architekturen. Als Spiel mit und von Oberflächen , wird sie wiederum visuell konsumierbar : ein Geschick , das sich auch auf den imaginären Reichtum der Stadt erstreckt , der im windowshopping vor dem Juwelierladen und dem Reisebüro erlebbar wird. Dennoch geht von einem Film wie »Wien Stadt meiner Träume« eine Anziehungskraft aus , die jenseits der meisten Auftrags- und Spielfilme angesiedelt und in der Kultur des Amateurismus verankert ist. Der bei AmateurInnen häufig zu beobachtende Wille zur Selbsteinschreibung zieht Abweichungen von

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Hier wie beim Gang zum »Dreimäderlhaus« gelingt eine für Amateurfilme nicht leicht zu bewerkstelligende organische Raum- und Bewegungsmontage aus verschiedenen Einstellungsgrößen und Kamerapositionen. 9 Der Vorspann nennt Kostelanez als für die Musik zuständig , suggeriert also eine professionelle Produktion. ( Der Film ist nur stumm überliefert. ) 10 Die Musik , die separat zugespielt worden sein dürfte , ist nicht mit überliefert. Es ist naheliegend , an die Zuspielung einer der vielen Walzereinspielungen von Kostelanez zu denken , wenngleich bisherige Recherchen keine völlig mit der Länge des Films synchrone Walzerversion zutage gefördert haben.

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Siegfried Mattl

den Genre-Regeln nach sich.11 So schiebt sich schon eingangs in den Reigen der Bilder von Schönbrunn bis zum Stadtpark eine Aufnahme , die inmitten dieser Wiener Stereotypen fremd wirkt. Diese Aufnahme zeigt ein dreistöckiges , von frei stehenden Laubbäumen umgebenes Wohnhaus , dessen rhetorische Schlichtheit und pure Funktionalität es der kommunalen Stadtrand-Siedlungspolitik des »Neuen Wien« zuordnen lassen. Wie anders denn als Spur der im Bild abwesenden Filmemacher , als In-Szene-Setzen der eigenen Wohn­stätte , sollte diese Aufnahme verständlich werden ? Und wenn es sich so verhält : Welche Art von Wieder-Aneignung welcher Stadt erfolgt ausgehend von diesem Störbild – im Ganzen gesehen – mithilfe der Kamera ? Wie zwingend wird unter den Bedingungen der sogenannten »Stadterweiterung« in den 1950er-Jahren , das heißt der Dekomposition des Stadtgewebes und der Abwanderung in homogene monofunktionale Räume des Wohnens , die Rolle des fiktiven »Besuchers« der historischen Stadt und ihrer Gedächtnisorte ? Zum zweiten und von umfangreicherer Bedeutung sind die Schwierigkeiten , welche sich den AmateurInnen bei der mise-en-scéne stellen. Am Neuen Markt etwa verwenden die FilmemacherInnen erhebliche Energie darauf , die Geschäftigkeit an einem Obst- und Gemüsestand durch eigenes Eingreifen als Käuferinnen zu forcieren und mit mediterranem Flair auszustatten. Die für Touristen kennzeichnende Freude an der versprochenen Folklore , die dem Bildungs- und Kulturgebot etwas von seiner Anstrengung nehmen soll , erfüllt sich im Vernaschen von Bananen , die 1960 durchaus noch als »exotische« Früchte durchgehen mochten. Nun stellten indes nicht die Bananen das Risiko dieser Sequenz dar , wenngleich sie vor dem Hintergrund einer gewandelten kulturellen Bedeutung dieser Frucht heute zum Lachen einlädt , sondern der zum Platz hin offene Raum hinter dem Marktstand. In ebendiese Lücke drängt sich ein offenkundig von den Dreharbeiten neugierig gemachter Straßenkehrer , der seine sonst sinnvolle Tätigkeit simuliert und mit seinem Besen die Straße hinter dem Stand fegt , im entscheidenden Moment aber , in dem er in den Fokus der Kamera kommt , unsicher wird , innehält und direkt in die Kamera blickt. Dieses Aufblitzen der Wirklichkeit , dieser im regelgerechten Film unmögliche , starrende Blick zerstört das kunstvoll entwickelte Arrangement und bereichert es zugleich.12 Es ist einer jener ambivalenten Augenblicke , in denen das Bild der Stadt von dem der Urbanität überlagert wird , von der Kontingenz sich überlagernder räumlicher 11 Vgl. Roepke ( 2006 ): Privat-Vorstellung , insbes. S. 178 ff. ; Nicholson ( 2009 ): Framing The View , insbesondere S. 95 ; zur Generierung lokaler »Geschichten« durch Amateure , die in der Logik der Postmoderne die lineare , nach ( nationalen ) Metanarrationen strukturierte Geschichte revidieren , vgl. Zimmermann ( 2008 ): Mapping History. 12 Vgl. zum Problem der Irritation durch den Blick der »Gaffer« Belloi ( 1995 ): Lumière und der Augen-Blick.

Urbane Sequenzen in Wiener Amateur- und Gebrauchsfilmen

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Praktiken , so wie dies auch an anderen Stellen in »Wien Stadt meiner Träume« erfolgt : eine Baustelle auf dem Wege zur Mölkerbastei , die das Motiv der zeitlos-schönen Barockbauten in Mitleidenschaft zieht ; ein leichter Zusammenstoß der Flaneusen mit entgegenkommenden Passanten , die sich etwas irritiert nach ihnen umdrehen ; der ständig kreisende , auf wundersame Weise sich selbst regulierende Autoverkehr am Michaelerplatz , dessen Spiel der Kamera einen unmotivierten zweiten Schwenk abringt ; die ungeordneten Ströme der Menge , die der Gerichtetheit der filmischen Wanderung widersprechen  – solche asignifikanten Bilder brechen die konventionelle Raumlogik des Films auf und lassen die Kopräsenz mannigfaltiger Handlungen , Funktionen und Beziehungen als ein Charakteristikum des Urbanen sinnfällig werden. Henri Lefèbvre hat in »Die Revolution der Städte« eine Unterscheidung getroffen , die es zu berücksichtigen gilt , um über die Grenze der Analyse von Stadtrepräsentationen hinaus zu gelangen und jene Bilder produktiv zu machen , die keinem etablierten Narrativ unterstellt werden können. Lefèbvre unterscheidet zwischen der Stadt als zugleich sinnlich und kognitiv wahrnehmbarer Ordnung des politischen Gemeinwesens einerseits und dem Urbanen als offener Form für die Konvergenz von städtischen Systemen unterschiedlicher Komplexität und emergenter Praktiken unterschiedlicher Akteure andererseits. Das Urbane , dem ein kontinuierlicher Metabolismus , ein beständiger Wechsel seines Materials und seiner Formen eingeschrieben ist , setzt sich den von Ästhetiken und Wissen produzierten Figurationen der Stadt entgegen. In diesem Sinne wird das Urbane zum Gegensatz nicht bloß der agrarischen Tradition und ihres auf die Natur rückbezogenen Bedeutungssystems , wie dies im Begriffspaar Stadt – Land angelegt war , sondern es greift auch auf die erfundenen Traditionen der Stadt selbst über. Es ist eine gesellschaftliche Produktivkraft. Gleichzeitig ist das Urbane jedoch selbst unterschiedlichen Weisen und Formen der Regulation ausgesetzt , die seine mannigfaltigen , komplexen und unbestimmten Situationen aufspalten und die solcherart gewonnenen Fragmente in isolierte , verhandelbare Objekte und Begriffe transformieren. Die Stadt präsentiert sich demgemäß als Ensemble von Epistemen , die jeweils eigensinnige , manchmal sich ergänzende , manchmal sich widersprechende Narrative und Stadtbiografien stiften , wie die Stadtgeschichten der Demografie , der Migration , der Architektur und andere mehr – Episteme , die Lefèbvre bezogen auf die von ihnen metasprachlich nicht erfasste urbane Form als »Ideologien« bezeichnet hat. »Die Revolution der Städte« widmet sich deshalb gerade den Begrenztheiten , die den einzelnen Diskursen zur Stadt und selbst den transdisziplinären Wissensformationen wie dem »Urbanismus« vorgegeben sind.13 13

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Vgl. Lefèbvre ( 1990 ): Die Revolution der Städte , insbesondere S. 53–55. Eine »Übersetzung« dieser Theorie auf das Feld der Geschichte lieferte Richard Rogers mit

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Das Medium Film schien sich in seinen Anfängen auf die Seite des Urbanen zu schlagen. Dies schon deshalb , weil das disparate Treiben an globalen , modernen Orten wie Verkehrsstraßen , Hafenmolen , Industrieanlagen und Bahnhöfen zu seinen bevorzugten Szenerien zählten. »The cities at the origins of European cinema are strange Edens , already contaminated in the first illumination of their urban matter : the soot-blackened bridge over the River Aire in Louis Le Prince’s experimental images taken in the industrial city of Leeds in 1888 ; the rooftops of the Pankow district of Berlin in images captured by the Skladanowsky Brothers with the aim of infusing cinema for the first time with the spectacular magic of popular public performance ; and the imposing tenements , advertising screens and factory buildings of Lyons , shot from trains , in the Lumière Brothers’ vast project of collecting their city’s visual components on film.«14 Der Film- und Medienwissenschafter Stephen Barber , von dem diese Beschreibung stammt , führt jedoch noch ein weiteres Argument ins Treffen : in seinen Anfängen verbindet sich der Film mit der Aura von Originalität und Einzigartigkeit , nimmt die Obsessionen mit den reinen visuellen Sensationen und Experimenten ( Fantasmagorien , Stroboskope , Panoramen …15 ) des 19. Jahrhunderts auf und überlässt sich der rohen Irregularität des urbanen Lebens. der Unterscheidung von »deskriptiver« und »interaktionistischer« Stadtgeschichte : Die deskriptive Stadtgeschichte setzt ihre Untersuchungseinheit zumeist schon als Struktur juristischer , topografischer oder anderer Art voraus. Sie untersucht in der Regel spezifische Topiken wie Grundbesitz , Zuwanderung , politische Repräsentationsweisen , ohne sich den Wechselbeziehungen zwischen den universalen Faktoren und der Stadt als produktive formsetzende Kraft zuzuwenden : »Die deskriptive Stadtgeschichte beschäftigte sich vor allem mit den Besonderheiten eines einzelnen Ortes. Sie erarbeitete Fallstudien oder städtische Biografien , nicht jedoch die gemeinsamen Erscheinungen und Merkmale von Städten. Solche Studien erarbeiteten voluminöse Informationsbestände zu bestimmten Orten [ … ] , doch sie waren , möchte man sagen , nur zufällig auch urban. Meistens interessierten sie sich für einen isolierten Erkenntnisgegenstand , etwa für Wohnverhältnisse , Grundbesitzstrukturen , Migration , oder soziale Klasse. Diese Arbeit der Zerlegung der Stadt – ein anderer Begriff dafür wäre in Analogie zur Medizin die Urbane Pathologie – ging in ihren Elementen auf. Sie kümmerte sich wenig um deren Interak­tionen mit dem Stadtkörper als Ganzem. Die Stadt ist sozusagen nur ein Anhängsel dieser Studien. Untersuchungsgegenstände wie Nähe , Dichte , oder Verwaltungsverantwortung wurden ihrer spezifisch urbanen Dimension entkleidet.« Die »interaktionistische« Stadtgeschichte stellt das Beziehungsgeflecht zwischen den Regeln , auf denen das materielle Gewebe der Stadt beruht , und den Lebensformen der Stadtbewohner in den Mittelpunkt ihrer Forschungen. Vgl. Rogers ( 1993 ): Theory , Practice and European Urban History , S. 1–2 ( Ü bersetzung d. Verf. ). 14 Stephen Barber ( 2002 ): Projected cities , S. 15. 15 Vgl. Storch ( 2009 ): Zauber der Ferne , zu den Apparaturen insbes. S. 64–67.

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Der frühe Film wertete die urbane Realität zum sich selbst genügenden Spektakel auf : Er machte die im zeitgleich anhebenden Diskurs über die »Massengesellschaft« zentrale und als prekär erachtete Parallelität von sozialer Anomie und Selbstregulation in ihrer Verwobenheit mit der Materialität der Dingwelt auf euphorische Weise sichtbar. Das Publikum konnte sich selbst dabei beobachten , wie es durch seine Interaktionen im städtischen Raum die Enge von Zwecksetzungen abstreifte und gerade deshalb den Raum mit Leben füllte. »A trip down Market Street« ist das vielleicht bekannteste Beispiel dafür.16 Der Miles Brothers Motion Picture Company reichte es im April 1906 für einen mehr als 10 Minuten langen Promotionfilm über San Francisco hin , die Kamera auf die Plattform eines Cable Car zu stellen , das von der 8. Straße zur Fährenstation fuhr. Dieser in einer einzigen starren Einstellung verlaufende , der Linearität der Straße folgende Phantom Ride lieferte Bilder , die gegenüber den etablierten Signifikaten der Stadt San Francisco vollständig gleichgültig blieben. Der reine Zufall entschied darüber , welche Personen , Situationen , Handlungen und Gegenstände zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort zu sehen waren : Jugendliche , die ihr eigenes Spiel erfinden , indem sie auf fahrende Autos aufspringen oder mit dem Cable Car um die Wette laufen ; Spaziergänger ; vollgepackte Pferdekarren , die riskante Überholmanöver versuchen ; ein gemächlich schreitender polizeilicher Ordnungswächter , der um seinen imposanten uniformierten Körper eine Zone des Respekts und der Distanz hervorzubringen scheint ; Trolleybusse mit Werbeaufschriften , die inmitten des ungeregelten Verkehrs die Straße queren ; Eckensteher , Fußgänger , die wie Toreros heranpreschenden Wagen ausweichen , gestikulierende Gassenjungen als Zeitungsverkäufer ; Frauen mit ihren Einkäufen , Lastenträger , Männer mit Arbeitsschürzen , in Anzug und weißem Hemd , in Uniformen ; Frauen mit eleganten   hellen Hüten oder von schweren , schwarzen Kleidern umhüllt … Die Tiefenschärfe der frühen Kameratechnik zeichnete mit dafür verantwortlich , dass keines der erfassten Objekte den Fokus auf sich ziehen kann , sondern sich den Raum mit der Präsenz vieler anderer teilen muss , zu denen es in verschiedenen Momenten unterschiedliche Beziehungen – oder gar keine – unterhält.17 Durch die Zerstörung von San Francisco infolge des großen Erdbebens vom 18. April 1906 verwandelte sich dieser Film augenblicklich in ein erschreckendes und einzigartiges Monument. Die Architekturen und Topografien , denen 16 http://www.youtube.com/watch?v=KJsAdXb4MQc&feature=related ( 25. 1. 2013 ) 17 Vgl. zu den Schichtungen des tiefenscharfen kinematografischen Bildes Büttner /  Dewald ( 2002 ): Das tägliche Brennen , S. 88–97 ; zur Produktion eines neuen Raumgefühls durch die Suggestion eines Bildes »off screen« ( imaginärer Raum ), entgegengesetzt dem »off frame« des physischen Bildrandes , vgl. Elsaesser ( 2002 ): Filmgeschichte und frühes Kino , S. 59.

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im Film selbst nur sekundäre Bedeutung zukam , traten auf den Fotografien als Landmarks und Ankerplätze einer panoramatischen Stadtansicht wieder hervor  – wenngleich einer verheerten und verschwundenen Stadt. »A trip down Market Street« steht trotz seiner Einzigartigkeit als Gedächtnisort eines Jahrhundertdesasters nicht allein , sondern ist , eingebettet in Stephen Barbers Beobachtungen , Teil eines Quasigenres von Stadtfilmen. Drei Filmdokumente zu Wien eröffnen uns ein ähnliches Verständnis der globalen Eigenschaften des Urbanen bzw. der engen Verknüpfung von frühem Film und verstädterter Moderne : »Le Ring« ( Société Lumière , 1896 ), »Vienne en Tramway« ( Pathé Frères , 1906 ) und »Wien 1908« ( Pathé Frères 1908 ). Es scheint sinnvoll , die Beziehungen zwischen diesen Filmen sowie zwischen ihnen und »A trip down Market Street« näher zu beleuchten. »Le Ring« mit seinen 43 Sekunden Länge stellt gemeinsam mit »Entrée du Cinématographe , à Vienne«18 das älteste bekannte Filmdokument zur Stadt dar. Mit der Opernkreuzung wählt es jenen Wiener filmischen Topos , dem auch eine der Sequenzen von »Wien 1908« gewidmet ist und eine der vier Einstellungen von »Vienne en Tramway«. Während »Vienne en Tramway« durch die angewandte Phantom-Ride-Technik in unmittelbarem Bezug zu »A trip down Market Street« steht , verbinden sich ihm die beiden anderen Filme durch die Wahl eines einzigen Schauplatzes , der ursprünglich kraft der Fülle kultureller Bearbeitungen für einen lokalen Stadtmythos einsteht. Allen Filmen ( bzw. Sequenzen ) ist jedoch gemeinsam , dass sie auf die Präsentation der semantischen Elemente des Ortes verzichten und sich sogar entschieden gegen die konventionellen visuellen Darstellungen in der Tradition der Vedute stellen. »Le Ring« hält in einer einzigen Einstellung die Kreuzung Opernring  – Kärntner Straße zur Zeit der Jahrhundertwende fest , ohne das in Stadtführern , Architekturbänden , auf Ansichtskarten für Wien repräsentative Opernhaus ( oder das benachbarte Hotel Bristol ) selbst ›angemessen‹ ( im Sinne der Kunst- und Architekturkritik und deren touristischer Ausläufer ) zu zeigen ; die Oper wird nur im Anschnitt ihres linken Seitentraktes gezeigt. Das filmische Dokument lenkt die Aufmerksamkeit auf das dichte Verkehrgeschehen , auf die unentwegte Kette der Pferdetramways , die Kreuzungslinien der Bewegungen von Fahrzeugen und Passanten , auf die Selbstverständlichkeit , mit der alle Beteiligten den zu erwartenden Kollisionen ausweichen. Menschen , die der Kamera nahe genug kommen , erhalten plötzlich eine Physiognomie und werden zu Subjekten , ehe sie wieder in die Anonymität und die Zufälligkeit ihrer Existenz zurückgleiten. Bildkompositorisch strukturieren ein mit dem Rücken zur Kamera stehender Polizist und – in den wenigen Momenten seiner Sichtbar18 »Entrée du Cinématograph , à Vienne« ( F. 1896 ; Société Lumière ; Österreichisches Filmmuseum ) zeigt 43 Sekunden lang die Kärntner Straße bei Einmündung der Krugerstraße mit dem Schild des dortigen Kinos.

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keit – ein Mann in weißem Hemd , der die Tram-Geleise kehrt , einen Raum der geometrischen Perspektive. Die Tiefe des Bildes unterbindet jedoch die potenzielle Stabilisierung des beobachtenden Blicks entlang einer imaginären Achse : Die Gleichzeitigkeit so vieler Begebnisse führt vielmehr zur Anerkennung der Überforderung des Sehens durch die Informationsdichte der urbanen Situation , wie sie von der Filmkamera indes gebannt , rekursiv zugänglich und damit in ihrer Vielschichtigkeit interpretiert werden kann. »Wien 1908« ist ein Stadtporträt und überschreitet mit seiner Komposition aus einzelnen Kapiteln ( Trabrennplatz Krieau ; Burgwache ; Straßenkreuzung Opernring ; Blumenkorso im Prater ; Naschmarkt ) die Grenzen des zuvor behaupteten Quasigenres des rohen Stadtfilms. Auch die Sequenz der Opernkreuzung ist komplexer gebaut als im Beispiel zuvor : Von sechs wechselnden Kamerastandorten aus wird ein Multiperspektivismus entwickelt. Dennoch bleibt auch hier der Oper selbst eine vedutenhafte Aufnahme verweigert. Mit unterschiedlicher Einstellungsnähe und mit langsamen Schwenks versucht der Film hingegen eine rudimentäre Taxonomie des urbanen Lebens abzubilden : Individuen , Gruppen , Mengen und Massen und deren Interaktionen mit bewegten und unbewegten Dingen wie ( elektrischen ) Tramways , Plakatsäulen , Schaufenstern. Die größere Nähe durch den Einsatz von Totalen und Halbtotalen bringt die soziale Differenzierung stärker nach vorne , die an den vestimentären Zeichen und den Gesten ablesbar wird. Militärische und Berufsuniformen , Austräger mit Korbtaschen , zahlreiche Varianten von Kopfbedeckungen – Homburgs , Zylinder , Militärkappen , Polizeihelme , Schieberkappen , aufgedrehte Hutkrempen der vorstädtischen Halbwelt – zeigen ebenso wie hastige Eile , gelangweiltes Stehen , Einreden auf andere , elegantes , bedächtiges Schreiten oder demonstrativ in den Hosentaschen steckende Fäuste eine Vielfalt , die heute zusammen mit dem Flaneur als »Botaniker« der Großstadt zu Ende gegangen zu sein scheint. Auch »Vienne en Tramway« führt uns die Gleichsetzung von urbanem Leben und filmischer Sensation durch die nüchterne mechanische Registratur und die Distanz zu den literarischen Modellen der Stadterfahrung vor Augen. Wie in »A Trip down Market Street« genügt die fixe Verbindung von selbst­ tätiger Kamera und Fahrzeug , um einen Stadtfilm hervorzubringen. Konstante Einstellungsgröße , fixierter Kamerastandort und gleichbleibende Geschwindigkeit schaffen eine genuine Art von Beobachter einer städtischen Positivität , der die Bilder weniger konsumieren denn interpretieren muss. Keinem Objekt wird seitens der Kamera ein Privileg zugestanden. Auf der Fahrt über den Ring bleibt die Oper ein Gebäude wie jedes andere , nämlich ein den Straßenraum strukturierendes Volumen , wie überhaupt der Ring in diesem Film konträr zu seiner diskursiven Beschreibung als symbolischer Raum des bürgerlich-liberalen Machtanspruchs vielmehr als heterogenes Phänomen behandelt wird. ( Die interne Logik der Transversale lädt eher dazu ein , das Tegetthoff-Denkmal am

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Praterstern und den dahinter sichtbar werdenden Circus Busch als bedeutende Objekte wahrzunehmen ). Wie schon in den anderen Fällen tritt die Multifunktionalität des Raumes hervor , die Überlagerungen von Arbeiten , Dienstleistungen , Geschwindigkeiten , wobei in diesem Beispiel die proletarische Präsenz durch Straßenbauarbeiter noch nachhaltiger zum Vorschein kommt – allerdings gemeinsam mit deren sinnfälliger Bindung an ihren Arbeitsort.19 Zwischen den frühen Stadtfilmen und einem Film wie »Wien Stadt meiner Träume« geht diese Positivität des Urbanen verloren. Ein Register filmästhetischer Mittel spaltet die Einheit von Ort , Zeit und Raum , die Ersteren noch zugrunde liegt , auf. Mit der generellen Wende vom Attraktions- zum Spielfilm konstituiert sich der Raum der Stadt durch die Erzählung , auf deren Kohärenzgebot hin die einzelnen Orte zu Sinn tragenden und Sinn strukturierenden Elementen werden.20 Mit Laura Frahm können wir von einem Hang des Erzählkinos zur topografischen Raumordnung sprechen , die der Stadt als Ensemble räumlich distinkter Eigenschaften Konstanz und Prägnanz verleiht. Die Stadt wird damit zum Raum der Repräsentation – der Darstellung konventionalisierter Handlungen , Gesten , Motive – wie zum repräsentierten , d. h. eine kohärente gedankliche Ordnung abbildenden Raum. Eine Fluchtmöglichkeit daraus bildet sich im Genre der »Stadtsinfonien« und der Querschnittsfilme aus , die die Fabrikation des Städtischen zu ihrem Mittelpunkt machen , d. h. die Verknüpfung materieller Transformationsprozesse der Stadt mit den Prozessen ihrer medialen Umformung und Dynamisierung , so wie diese demiurgische Kraft des Urbanen exemplarisch in Dziga Vertovs »Mann mit der Kamera« präsent wird.21 Eine andere Möglichkeit eröffnet sich dort , wo die Kontrolle über den Bildraum fehlt – was »Wien Stadt meiner Träume« wiederum mit den frühen Filmen verbindet – und die städtische Wirklichkeit sich als Störbild in die Erzählung schiebt. Eine dritte Möglichkeit zeichnet sich in einem Korpus filmischer Hybride ab , die im Feld sogenannter »ephemerer Filme« zu finden sind – Filme , die keinem Genre eindeutig zurechenbar sind und die den Attraktionswert des realen städtischen Raums auf spontane Art und Weise zur Kompensation dramaturgischer Aporien heranziehen. Tatsächlich findet man an den Rändern auch der Wiener Filmgeschichte Hybride wie den Preisrätselfilm22 »Wo sind die Millionen ?« von 1925 ,23 die einen 19 Die Straßenarbeiter erhalten ihren Platz durch ihre funktionale Tätigkeit zugeordnet. Nichts im Film legt nahe , sie als Nutzer dieses Raumes aufzufassen. 20 Vgl. zum erzählten filmischen Raum generell Heath ( 1981 ): Narrative Space. 21 Vgl. Frahm ( 2010 ): Jenseits des Raums , insbes. S. 254–256 ; Der Mann mit der Kamera ( UdSSR 1929 ; R. : Dziga Vertov ). 22 Zur Popularität städtischer Preisrätsel-Touren ( auch als polizeilich angeleitetes Mapping der Stadt ) im Deutschland der Weimarer Ära vgl. Hall ( 2001 ): Caught in the Act. 23 Wo sind die Millionen ? ( A. 1925 ; R. : Hugo Eywo ; Österreichisches Filmmuseum ).

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konzeptuellen ( oder produktionstechnischen ) Mangel in eine filmisch vermittelte Erfahrung des Urbanen übergehen lassen. Der Film schließt mit der Totale eines Fahrradhändlers aus dem 7. Bezirk , der über das ganze Gesicht strahlend den Gewinngegenstand  – ein Rad der Marke »Rational«  – ins Bild hält. Davor sind wir rund zehn Minuten lang Zeugen einer Verfolgungsjagd durch die Stadt und die Peripherie , die einen sportlichen Filmregisseur , zwei clowneske Fahrradboten und einen Detektiv aus Tarnopol in Aktion setzt : Der Regisseur soll jene Schauplätze filmen , die zum Versteck der Gewinnanweisung führen ; der Meisterdetektiv will , da die Dreharbeiten ohnehin schon in den Zeitungen angekündigt waren , auf direktem Weg durch Observierung der Dreharbeiten zu diesem Ziel kommen. Um dem Filmteam folgen zu können , braucht er ein Fahrzeug und nimmt wegen der exorbitanten Auto-Taxi-Preise – wir befinden uns am Höhepunkt der Nachkriegsinflation – ein billigeres Fahrrad-Taxi der in Stadlau postierten Außenstelle der New Yorker »Yellow Taxi Ges. m. b. H.«. Die Regeln des Preisrätselfilms fallen natürlich dem Plot zum Opfer , da der Regisseur völlig von der Aufgabe okkupiert ist , den lästigen Verfolgern zu entkommen und die Sammlung der visuellen Indizien zur Lösung des Rätsels vernachlässigt. Gänzlich unmotiviert stellt der Film am Ende dennoch einen Hinweis auf den Fundort ins Bild. Diese konzeptuelle Verwirrung stellt aber um so deutlicher die Komplexität des Urbanen aus , die im Kern dieses Filmes liegt : das arbi­ träre Zusammentreffen von Menschen , die Strukturierung eines gemeinsamen Raumes und einer kollektiven Zeit durch Medien ( Radio , Zeitungen , Film ), die Vermittlungsfunktion des Geldes und des Marktes , die Assimilierung ( auch der noch ländlichen ) Orte durch den Verkehr und die Freizeitgewohnheiten , die Zwischenlager der abstrakten Orientierungszeichen ( P läne , Diagramme , Tramway-Nummern ), die Plätze des kognitiven Mappings , die Vergemeinschaftung ( des Publikums ) durch kulturindustrielle Ereignisse. Erstaunlich an »Wo sind die Millionen ?« ist auch die Behändigkeit , mit der Regisseur und Hauptdarsteller Hugo Eywo sich alle möglichen Fortbewegungsmittel dienstbar macht und mit Stunt-Acts und äquilibristischen Einlagen nochmals die Dingwelt zum Akteur macht. Den Akzent hingegen setzen jene Bilder , in denen sich der Raum , die Zeit und das Geschehen selbst geltend machen : Da sind einerseits die Zuseher , die die Dreharbeiten beobachten und sich in die Kamera wenden , da sind aber auch Szenen im Hintergrund wie jene , in der während der Ankunft des Detektivs am Nordbahnhof von Pferden ein Tieflader vorbeigezogen wird , auf dem ein riesiger Starkstromgenerator aufliegt , und die an physiognomische Obsessionen gemahnende Nahaufnahme eines Polizisten inmitten des Verkehrstrubels am Ring. Solche Sequenzen übernehmen auf eine paradoxe Weise die im Erzählfilm unterdrückte Selbstreferenz des Films als urbanes Medium. Wenn das Urbane in »Wo sind die Millionen ?« nur durch ein gewisses Delirium und durch den Bruch mit filmischen Konventionen hervortritt , so

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deutet dies auch eine Veränderung vielleicht nicht so sehr der Stadt selbst als vielmehr der Empfindungen an , die der urbanen Dimension Wiens seit den 1920er-Jahren entgegengebracht werden.24 Der Amateurfilm »Der grüne Kakadu« ( 1932 /  33 )25 besticht in dieser Hinsicht unter zwei Aspekten , nämlich in dem Begehren nach der verlorenen Urbanität und mit einer – abgesehen vom Schauplatz Prater – bemerkenswert konsequenten Strategie , signifikante Orte und die etablierte filmische Topografie Wiens zu umgehen. »Der grüne Kakadu« erzählt von zwei »Vagabunden«, Jonny und Tommy , die ein Mädchen aus der Gewalt eines Verbrechers , des Eigentümers der gleichnamigen Spelunke , befreien. Die Bricolage aus Abenteuer- und Detektivfilm , Kiosk- und Hochliteratur26 , Charlie Chaplin und Harry Piehl überrascht durch ihren Stil. Vor allem ist es der brillante Einsatz der Handkamera , gemeinhin als Ressource des neusachlichen Films geschätzt , der namentlich bei den Aufnahmen der Schlägereien und des Tanzvergnügens in der Spelunke besticht. Neben diesem Zeichen für Authentizität sind es aber wiederum die Risiken des unkontrollierbaren Bildraums , die auf den offenen Raum verweisen : die Kinder am Rummelplatz , die den Dreharbeiten zusehen und dann fasziniert in die Kamera blicken ; Menschen , die sich nach den Motorrädern umdrehen , mit denen sich der Held »Jonny« und der Gangster »roter Jim« eine Verfolgungsjagd durch die Straßen des Wiener Westends liefern ; die aus der Distanz , also quasi verdeckt gefilmten Ausrufer vor den Freak-Shows des Wiener Praters. Großteils spielt der Film in Ottakring , im verhältnismäßig kleinen Bereich von Liebhartstal , Musilplatz und Wilhelminenstraße. Die Filmemacher vermeiden , obwohl  – oder gerade weil – der Film für die engere Nachbarschaft eines Hauses in der 24 Bei Tietze ( 1931 ): Wien , S. 391 , hieß es schon resignativ : »[ I ]m ganzen wird man Wien als eine fertige Stadt anzusehen haben.« Tietze setzt fort : »Ein verhängnisvoller Doppelsinn liegt über dieser Feststellung.« Zum einen meinte er damit , dass der Wachstumsprozess an Bevölkerung und Fläche zu einem definitiven Ende gekommen war. Zum zweiten war dies die nüchterne Registrierung des kulturellen Bedeutungsverlustes , der der Degradierung der zentraleuropäischen Metropole zur Hauptstadt eines Kleinstaates eingeschrieben war. Wien , so Tietze , hatte seine Lebenskraft erschöpft , es konnte sich nur noch unter Bewahrung seiner Geschichte an die Zeittendenzen adaptieren , ohne diese selbst zu gestalten. Vgl. zuletzt über die Empfindung der »Provinzialisierung« Wiens nach 1918 Schübler ( 2012 ): Von G’schaftlhubern. 25 Der grüne Kakadu ( A. 1932 /  33 ; R. : Franz Hohenberger ; Österreichisches Filmmuseum ). 26 Die Filmemacher »borgten« sich den Titel von Arthur Schnitzlers Einakter aus dem Jahre 1899. Das Skandalstück vor dem Hintergrund der Französischen Revolution war 1930 vom Burgtheater wieder aufgenommen worden. Eventuell lag dem Filmprojekt eine von der Gruppe aktualisierte Amateurtheater-Version zugrunde. Siehe Mattl /  Öhner ( 2013 ): The Aesthetic of the Possible.

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Odoakergasse gedreht wurde , auf bemerkenswerte Weise alle Register der topografischen Identifizierungsmacht des Spielfilms. Dieser Ottakringer Stadtteil wird , zweifellos etwas begünstigt durch das massive Ziegelmauerwerk der Fabriken in der Wilhelminenstraße , zu einem glatten Raum. Garten-Cafés in der Montleartstraße , Zinshäuser , Lebensmittelgeschäfte , Fabriksmauern gehen mit dem Rotlichtlokal des »Grünen Kakadu« eine Konfiguration ein , in der das Lokale , seine Zeichen und seine Milieus , getilgt sind. Deutlich tritt hier hervor , was als ›urban‹ Geltung hat : In diesem Raum kann Jonny sich allen verordneten Identitäten und Kontrollinstanzen entziehen. Er kann sich aus dem Vagabunden am Rande der Gesellschaft zum Souverän über wechselnde Situationen , solche der Verführung wie solche der Bedrohung , erheben , ohne dass wir ihm eine Entwicklung personaler Eigenschaften unterstellen müssen. Im »Grünen Kakadu« garantiert der urbane Raum , dass es ausschließlich Konstellationen gibt , und keine Geschichte. Oder wenn es Geschichte gibt , dann ist diese zusammengesetzt aus Ungleichzeitigem , wie im Fall des Praters : Auf der einen Seite die Freak-Shows einer modernen Gothic wie »Gora der Mann mit dem Vogelkopf«, auf der anderen Seite die »Opel-Bahn«, auf der Vagabund »Jonny« seine Künste als Chauffeur demonstriert. Die in den letzten Jahren rasch anwachsende Forschung zur »Cinematic City« geht von einer Doppelung aus : Einerseits ist das Medium Film ein Wahrnehmungslabor zur Einübung in die Moderne und in deren Effekte von Beschleunigung und Fragmentierung – Effekte , die sich unmittelbar mit der Großstadt verbinden. Andrerseits repräsentiert der je einzelne Film das Urbane in einer konkreten Stadtgestalt und hintergeht damit die Komplexität des urbanen Lebens bzw. führt sie , wie Michel de Certeau bemerkt hat , auf ältere ( visuelle und literarische ) Verfahren zur Produktion eines geordneten und überblickbaren Raumes zurück :27 eine Ordnung und ein Blick , den de Certeau mit dem Wunsch nach Sicherheit und Beherrschung in Verbindung bringt. »Wien Stadt meiner Träume« demonstriert , wie weit dieser Hang zur filmischen Ordnungsutopie im Vergleich zum urbanen Film-Spektakel der Frühzeit gediehen ist – und wie bestimmte Aspekte der städtischen Wirklichkeit sich dagegen behaupten. »Wien Stadt meiner Träume« ist allerdings auch deshalb interessant , weil die offenkundige Beziehung , die er zu Willi Forsts Film »Wien , Du Stadt meiner Träume« ( 1958 ) unterhält ,28 auf ein medieninternes Unbehagen mit der Repräsentation hinführt , und zwar in diesem Fall auf den Zweifel an der Ikonisierung und der Metaphernfunktion historischer Architekturen als Set der 27 De Certeau ( 1988 ): Die Kunst des Handelns , insbesondere S. 181 ; vgl. auch Donald ( 1999 ): Imagining the Modern City , insbes. S. 65–92 ; Penz /  Lu ( 2001 ): Introduction. 28 Wien , Du Stadt meiner Träume ( A. 1958 , R. : Willi Forst ; D. : Adrian Hoven , Hertha Feiler , Erika Remberg , Hans Holt ).

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Wien-Filme. Auf äußerst plakative , wenn auch amüsante Art lässt Forst einen obligatorischen Stadtspaziergang für Staatsgäste in eine burleske Bildfolge notorischer Gebäude ausarten , wobei die Einstellungen und Schnitte immer kürzer und rasanter werden und der hofrätliche Stadtführer , der den Gästen Michaelerplatz , Burgtheater , Oper und abschließend die Gloriette erläutern muss , mit dem Tempo kaum noch Schritt halten kann. In unserem Amateurfilm sind es die schon genannten Risse des Realen im Bild , die den Zuseher ungewollt auf die Konventionen und die damit verbundenen Verluste aufmerksam machen : Bild-Risse , die kein exklusives Vorrecht »ephemerer Filme« sind , sich aber dennoch vorwiegend in Filmen finden , die Siegfried Kracauers Forderung einlösen , wonach die hier festgehaltene realistische Tendenz größer ( maximal gleich ) ist der formgebenden Tendenz.29 Das urbane Wien findet sich nicht in einzelnen Filmen , sondern in der imaginären Verknüpfung einzelner Sequenzen aus unterschiedlichen Filmen. Spontan sich bildende Personengruppen bei Haltestellen , die offenkundig über Neuigkeiten in engagierte Diskussion geraten ( »Wien 1963«30 ); der von modisch-trendigen Begleiterinnen und Personen in alten Trachten geteilte Raum bei einem Umzug der Wiener Slowaken 1929 ( »1. Mai 1929«); ein respektloser Königspudel vor dem Hitler-Altar im Loos-Haus am Michaelerplatz , März 1938 ( »Amateuraufnahmen Wien , Frühjahr 1938«); Wiener Schaufenster-­Mode und ein altes Paar mit Drehorgel ( »Österreich begrüßt den Botschafter des Friedens«, 196031 ); Polizeiübergriffe ( »Burggarten«, 1979 ); ein stromlinienförmiger »Chiribiri« aus Turin bei der Wettfahrt auf der Prater-Hauptallee ( »Das Rennen der Damen«, 1923 ); ein Imker vor seinen Bienenstöcken in der Siedlung Rosental ( »Die grüne Stadt Rosental bei Wien«, 1924 ); Sonntagsausfahrt mit dem Firmenwagen »Dandy Express« ( »Familie Flack 1«, 1933–38 ); eine Probefahrt über den Rieder Berg ( »Familie Herzstark I«, 1934–36 ); die von der Fronleichnamsprozession weitereilenden Wiener vor dem Wiedner GrandKinematograph-Theater , wo abends die Filmaufnahmen des Umzugs gespielt werden ( »Matzleinsdorfer Umgang«, 1905 /  09 ); die »kuriosen« Trachtenaufzüge der österreichischen Provinzen ( »Wien 1920«, 1920 ); der Massenansturm bei der Landung des Zeppelin am 12. Juli 1931 in Aspern ( »Zeppelin in Wien«, 1931 ); die Fahrt zur Firmung im Miettaxi ( »Familie Rauchfuß V«, 1932 ); eine Hollywood-würdige Slapstick-Jagd durch die Stadt bis an ihre Ränder ( »Wo sind die Millionen ?«, 1925 ). 29 Kracauer ( 1973 ): Theorie des Films , S. 61–65. 30 Wien 1963 ( A. 1963 ; R. : Edwin Zbonek , M. : Carl de Groof ; WStLA – Filmarchiv der mediawien ). 31 Avstrija vstretschaet poslanca mira ( UdSSR 1960 , R. : Roman Karmen ; Österreichisches Filmmuseum ).

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Ein Beispiel ist wegen seines paradigmatischen Potenzials , auch in Hinblick auf die Ordnungsutopie im Film wie in der Großstadt , nochmals eingehender vorzustellen. 1952 drehte Albert Quendler im Auftrag der Stadt Wien den Film »Stadt am Morgen«.32 Die Melange aus Bildungsfilm und Dokumentation propagierte den geplanten Umbau Wiens zu einer Stadt des Fordismus , wo das urbane Leben in sauber getrennte Viertel der Arbeit , des Wohnens , der Verwaltung und der Freizeit aufgeteilt , autogerecht organisiert und eingehegt werden sollte. Die wiederholt gestellte pädagogische Frage lautete : »Ordnung – oder Chaos ?«, wobei das Chaos in der zeittypischen Umdeutung des Zufalls in den Unfall präsentiert wird , hervorgerufen durch das scheinbare Unvermögen der Menschen , ohne starres Regelwerk die großstädtische Hektik und die Ano­ nymität  – man könnte auch sagen : die strukturelle Fremdheit der anderen  – zu überleben. Das ästhetische Mittel für dieses Argument ist einfach gebaut , nämlich in Form von Oppositionsmontagen. In der für uns wichtigen Sequenz wird ein verfemter Teil des Urbanen sichtbar : In der Verknüpfung dreier Plansequenzen zeigt der Film die längst verschwundene wilde Siedlung bei den Ziegelwerken am Wienerberg. Das Wrack eines Busses inmitten einer staubigen , pfützenübersäten Strauchlandschaft stimmt ein auf die Bilder schlecht gekleideter und von zahlreichen Kindern umringter Frauen , die Wassereimer zu den behelfsmäßigen Wohnbaracken tragen ; ein älterer Mann sitzt einsam am Rand eines Pfades , der von den Baracken zu den Fabriksgebäuden führt ; Frauen schlendern , halb nackte Kinder am Arm , an ihm vorbei. Ein Hund läuft durch das dahinter sichtbar werdende leere Fabriksgelände. Das folgende wirre Durcheinander einer lang gezogenen Häuserwand , entstanden aus unregelmäßigen Aus- , Zu- und Aufbauten , endet in der Einstellung auf einen Kamin , der schmutzige Rauchschwaden ausstößt. Der Kommentar aus dem Off konnotiert diese Bilder mit der abstrakten Idee einer geordneten Stadt : Diese Landschaft , durch den Kommentar zeitlos-objektiv gemacht , bedroht das organische Wachstum der Stadt und erstickt sie. Planung heißt Gesundung durch Eliminierung dieser Hindernisse. Dieser Kommentar wird allerdings durch die visuelle Attraktion der Bilder selbst unterlaufen , insbesondere durch die Gravität in den Bewegungen der Frauen , durch ihr Lachen , durch das Getümmel und die Bewegungsfreiheit der Kinder. Das nachfolgende Bild , das ein kleines Mädchen weggesperrt hinter den Gitterstäben des Balkons einer StadtrandNeubausiedlung zeigt , eröffnet einen Kontrast zu dieser Lebendigkeit , der das Neue Wien als Dystopie erscheinen lässt.

32 Stadt am Morgen ( A. 1952 , R. : Albert Quendler , K. : Elio Carniel ; WStLA – Filmarchiv der mediawien ).

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Solche Bildkonstellationen »ephemerer Filme« führen kein Eigenleben.33 Sie gewinnen ihren Mehrwert erst , wenn der Begriff des »Ephemeren« um seine kulturkritische und urbane Dimension erweitert wird , die bei Louis Aragon und ( mit anderen Vorzeichen ) Walter Benjamin vorgedacht worden ist : als Korrektur des Eigen-Mythos der Moderne als unentwegte Produktion von Neuheiten , die augenblicklich zur einzig möglichen Form des Daseins gemacht werden.34 In diesen Filmen haben sich die Utopien aus der Frühzeit des Mediums festgesetzt , als dem spezifischen Realitätsaspekt des Films genuine kognitive und politische Potenziale zugesprochen wurden , unter anderem die radikale Demokratisierung der gemeinsamen Geschichte durch das Festhalten und die Aufwertung der alltäglichen Vorfälle sowie der daran beteiligten Menschen und Dinge. In einer bestimmten Weise beansprucht auch der fiktionale Spielfilm diese Emphase für das Alltägliche , doch nur insoweit , als es sich in den nobilitierenden Sinnhorizont der Erzählmuster integrieren lässt. Entscheidend für die Auszeichnung des »Ephemeren« bei Aragon35 und zur Abgrenzung seines »Kultes« von Nostalgie oder Melancholie als Geschichtsmodus ist allerdings nicht ein objektiver ästhetischer Wert , der an die verschwindenden Gegenstände und Sachverhalte des Alltäglichen geheftet wäre , sondern ihr Potenzial als Widerlager gegen den fortschreitenden Prozess der Normierung und Disziplinierung in der Moderne – ein Prozess , der das Urbane immer wieder einholt , es damit allerdings erst rückwirkend in seiner ( wirtschaftlichen , politischen , sozialen ) Unfundiertheit erkennen lässt. So erfolgt die »Wiederentdeckung« der von Verfall und Untergang erfassten Pariser Passagen als Orte des »Kultes des Ephemeren« bei Aragon kraft deren antagonistischen Verhältnisses zur Planungsrationalität der Haussmann’schen großen Boulevards. Um dies noch weiter einzuschränken : Die Aragon’schen Ephemeralia , deren groteske und bizarre Erscheinungen von ihm aus den Be33 Die eben beschriebene Szene korrespondiert , um das Nächstliegende zu benennen , mit einer der Episoden in Kurt Steinwendners »Wienerinnen. Schrei nach Liebe« ( A. 1951 , R. : Kurt Steinwendner ). Dort wird dieser Raum allerdings zum symbolischen Ort eines verhängnisvollen Schicksals , und die Erzählung über ein subproletarisches Milieu stützt sich auf den antiken Mythos des unerkannten Inzests. Gleichzeitig kann für »Wienerinnen« aufgrund stilistischer Eigenheiten jedoch auch eine Familienähnlichkeit mit dem Neorealismus reklamiert werden , was den Verzicht »auf offizielle Wien-Klischees , auf fremdenverkehrstaugliche Themen zugunsten der Darstellung eines urbanen Österreich« einschließt. Vgl. Jutz ( 1995 ): Ein Spielfilm , S. 136. 34 »Die zeitliche Dialektik des Neuen als des Immergleichen  – dieses Kennzeichen der Mode – ist das Geheimnis der modernen Geschichtserfahrung. Unter kapitalistischen Bedingungen werden die jüngsten Mythen ständig durch neue verdrängt , und das bedeutet , dass sich die Neuheit selbst mythisch wiederholt.« Buck-Morss ( 2000 ): Dialektik des Sehens , S. 353. 35 Aragon ( 1996 ): Der Pariser Bauer.

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schreibungen nicht ausgespart werden , konstituieren sich überhaupt erst durch das nachforschende Interesse daran , welche heterodoxen Kommentare ihnen zur modernen , an eigenen Möglichkeiten ebenso wie an Wissen um ihre möglichen Vergangenheiten scheinbar armen Gegenwart entrissen werden können. Unter diesem Aspekt wird die zuvor beschriebene Szene aus »Stadt am Morgen«, die Plansequenz in einer »wilden Siedlung«, für die Frage nach dem Schicksal des Urbanen relevant , so wie auch die anderen angeführten Beispiele : nämlich als Frage nach jenem sozialen Raum der Diversität , die nicht anders als durch das Gefühl eines Verlustes evoziert wird.

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SITZEN/LIEGEN MÖBEL UND KÖRPER IM MUSEUMSQUARTIER WIEN Das Museumsquartier Wien ( MQ ) wurde im Sommer 2001 nach mehr als zwei Jahrzehnten Planungsphase eröffnet.1 Über dreieinhalb Millionen BesucherInnen frequentieren das MQ laut Eigendarstellung mittlerweile jährlich , mit seinen zahlreichen Einrichtungen – viele davon sind zeitgenössischer Kunst und Kultur gewidmet – wird es inzwischen zu den größten Kulturarealen weltweit gezählt.2 Diese von TouristInnen und Wiener Bevölkerung gleichermaßen genutzte Zone am Rande des Ersten Wiener Gemeindebezirks steht im Mittelpunkt nachfolgender Überlegungen zu einer speziellen urbanen Praxis : dem Sitzen beziehungsweise Liegen in der Stadt. Beide Aktivitäten , die ich mit dem Architekten Gehl als freiwillige Aktivitäten in der urbanen Öffentlichkeit bezeichnen möchte ,3 lassen sich in Wien selbstverständlich nicht nur für das MQ feststellen. Was aber gerade das Sitzen beziehungsweise Liegen im MQ so besonders macht , ist die ursprünglich speziell für dieses Areal entworfene Möblierung , die mittlerweile einen internationalen Siegeszug angetreten hat. Mein Beitrag widmet sich der Frage , ob und wie sich in diesem Wiener Kunstund Kulturareal im Zusammenwirken von Möblierung und BesucherInnen ein spezifischer Raum herausbildet. Besonderes Interesse gilt dem Verhältnis zwischen gestalterischer Intention und situativen Praktiken der Raumaneignung , wobei die Materialität der Sitzmöbel und die Körperlichkeit der BesucherInnen als zentrale , Raum konstituierende Elemente in diesem Spannungsfeld von Gestaltung und Aneignung betrachtet werden. Meine Annäherungen an das Thema erfolgen über mediale Repräsentationen des MQ  , insbesondere aber über persönliche Sitz- und Liegeerfahrungen , Beobachtungen und kurze Gespräche vor Ort. Im Folgenden stehen stark an meine Forschungsnotizen angelehnte Textpassagen  – als zweite Textebene eingerückt  – quasi als narrative beziehungsweise reflexive Ethnographie4 neben distanzierteren kontexualisierenden und analysierenden Abschnitten.5 1 2

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Schurian ( 2009 ): Ja , nein , vielleicht. http://www.mqw.at/de/das+mq /  ueber+das+mq /  ( 17. 2. 2013 ); MuseumsQuartier Wien (  2001  ): Zehn Jahre Museumsquartier  , http://www.mqw.at/mediafiles/8/110414_ PA_Programm_10_Jahre_MuseumsQuartier_Wien.pdf (  22. 2. 2013  ). 2013 wurden bereits vier Millionen BesucherInnen in den MQ-Höfen gezählt ; Trenkler ( 2013 ): Neuer Besucherrekord im MQ. Vgl. Gehl ( 2012 ): Leben zwischen Häusern , S. 9 ff. Autoethnographie als Forschungsansatz zum Verständnis kultureller Phänomene diskutieren etwa Ellis u. a. ( 2010 ): Autoethnografie , S. 345–357. Meine Forschungen im Museumsquartier Wien habe ich zwischen 2009 und 2010 durchgeführt. Die im Text eingerückten Passagen speisen sich aus Beobach-

Annäherungen an das MQ und seine Möblierung Freitag , 12. 3. 2010 , www.mqw.at Die Einstiegsseite der Museumsquartier-Homepage zeigt einen in die Jahre gekommenen Künstler , entspannt an eine Mauer gelehnt , daneben seine Kunst – Ölbilder mit touristischen Sujets. Im Hintergrund ein paar kahle Bäume , es ist noch nicht Frühling. Ein orangefarbenes Logo mit Text – WienerInnen assoziieren es sofort mit jenem des Museumsquartiers  – zeigt die Buchstaben KQ ( für »Kreativquartier«). Aber »Vorsicht«, so der Hinweis für die Internet-UserInnen , »Nur wo MQ draufsteht , sind Kunst , Design , Mode , Architektur , Tanz , Kinderkultur , Theater , Literatur , Musik , digitale Kultur und Gastronomie drinnen.«6 Ich klicke also auf das Bild und betrete den virtuellen Raum des Wiener Museumsquartiers.

Das Wiener Museumsquartier ist ein auf vielfältige Nutzungen ausgerichteter , halböffentlicher Raum.7 BesucherInnen können hier Kunstmuseen , Bars und Restaurants frequentieren , durch das quartier 21 , einen Kultur-Cluster , der autonomen Einrichtungen Platz und Unterstützung bietet , schlendern , in Designershops oder im Buchgeschäft schmökern , Boule spielen , auf den Sitzbänken Platz nehmen , die an den Rändern der einzelnen MQ-Höfe aufgestellt sind , oder die in den Höfen platzierten Möbel aufsuchen. Wer ins Museumsquartier geht , besucht also nicht unbedingt ein Museum. Vielmehr , dies belegen Studien , gehen über 80 % ins MQ ohne bestimmten Grund.8 Ein Großteil der MQBesucherInnen kommt also offenbar hierher , um an diesem Ort zu sein. Freitag , 12. 3. 2010 , www.mqw.at Eine Online-Umfrage interessiert mich : »Strawberry Fields Red liegt vorn ! In den letzten Tagen hat Strawberry Fields Red stark aufgeholt und liegt nun vor Candy Shop Pink und vor dem bisher an erster Stelle gelegenen Lush Meadow Green !«9 Ich vote mit und stimme für Candy Shop Pink. In zwei Tagen wird die Farbe des

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tungsnotizen , die ich vor Ort in mein Forschungstagebuch eingetragen habe , oder wörtlich mitprotokollierten Aussagen von GesprächspartnerInnen ( im Text mit Anführungszeichen als Zitate gekennzeichnet ) sowie aus Notizen zu meiner Online-Forschung zu Teilen der Website. Ausformuliert habe ich diese Textteile allerdings erst im Nachhinein , sie entsprechen also – mit Ausnahme der Zitate – nicht wörtlich den Aufzeichnungen des Forschungstagebuchs. http://www.mqw.at ( 12. 3. 2010 ). Das Museumsquartier wird von einer privaten Betreibergesellschaft betrieben , die auch die »Hausordnung« für das auf Privatgrund befindliche MQ festlegt : http:// betriebsfuehrung.mqw.at/index.htm ( 19. 2. 2013 ). Schurian ( 2009 ): Ja , nein , vielleicht. http://www.mqw.at/index.php?page_id=4 ( 12. 3. 2010 ).

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diesjährigen Sitzmöbels feststehen. Eine kluge PR-Idee : UserInnen können bei der Gestaltung öffentlichen Raumes ein Stück weit mitbestimmen , dadurch steigt ihr Interesse am beziehungsweise ihre Verbundenheit mit dem Museumsquartier. »Nach der Auswertung«, so heißt es auf www.mqw.at , »wird die Entscheidung der Farbwahl bekannt gegeben und ab Ende April laden die MQ-Hofmöbel dann wieder zum Verweilen ein.«10

Das war aber nicht immer so. Schon bald nach Eröffnung des Museumsquartiers wurde Kritik laut an den verhältnismäßig leeren und unbelebten Höfen. 2002 wurde deswegen eine Möblierung fixer Bestandteil der MQ-Areale. Dieses Arrangement war beziehungsweise ist Teil einer MQ-Outside-SurfacesProgrammierung , für die bis 2012 Daniela Enzi , Mediaplanerin des MQ  , verantwortlich zeichnete. Diese gab den markanten Sitz- und Liegemöbeln auch ihren Namen , der im lokalen Kontext geläufig ist : Die »Enzis« haben im Wiener Museumsquartier seit ihrer ersten Saison Konjunktur. Seit dem Brand im November 2009 , bei welchem ein Großteil der Enzi-Möbel zerstört wurde11 – die Möbel wurden bis zu diesem Zeitpunkt auch für die winterliche Punschsaison verwendet und konnten etwa in Form von Iglus zusammengebaut werden – werden die Möbel allerdings nur mehr in der warmen Jahreszeit aufgestellt. Bereits im darauffolgenden Sommer , also im Jahr 2010 , gesellten sich zu den verbliebenen herkömmlichen Enzis fünfzig weitere , in Design , Material und Farbe jedoch veränderte Modelle – die sogenannten Enzos. Donnerstag , 18. 3. 2010 , www.mqw.at MQ-Hofmöbel werden Candy Shop Pink. Die Entscheidung ist gefallen – die beliebten Sitzmöbel werden dieses Jahr in einem leuchtenden Pink erstrahlen. Das Ergebnis ist denkbar knapp ausgefallen , lag bis Freitag Abend Strawberry Fields Red noch in Führung , so holten Lush Meadow Green und Candy Shop Pink am Wochenende kräftig auf. Candy Shop Pink ging schließlich knapp als Sieger hervor. Die Plätze zwei und drei belegen Lush Meadow Green und Strawberry Fields Red. Abgeschlagen an letzter Stelle liegt Down Town Grey.12

Mit dem legitimierten und gewollten Liegen im öffentlichen Raum hat sich Wien in den letzten Jahren ein neues Gesicht oder vielmehr einen neuen Charakter zu geben versucht. Während auf der einen Seite öffentliche Parkbänke 10 Ebd. 11 Heigl /  Stemmer ( 2010 ): Eispalast ging in Flammen auf , 19. 11. 2009 , http://derStandard.at/1256745158680/Brand-MQ-Eispalast-ging-in-Flammen-auf ( 12. 3. 2010 ). 12 Rund 25. 000 Stimmen wurden beim Voting 2010 abgegeben , im Vergleich zum Vorjahr um 66,6 % mehr , http://www.mqw.at/index.php?page_id=4 ( 18. 3. 2010 ).

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oder U-Bahn-Sitzmöbel zusehends Kennzeichen reglementierender Architektur aufweisen , die ein Liegen oder gar Nächtigen verhindert  – so sind etwa Sitzbänke in U-Bahnen , die früher als durchgehende Sitzbank konstruiert waren , nun auch in Wien unterteilt – , werden an immer neuen Orten Liegestühle , Stabhängematten oder extra designte Liegemöbel wie die Enzis im Museumsquartier oder ihre Klone am Wiener Donaukanal im Freien angeordnet. »Wien liegt gut« nannte sich eine Aktion im Sommer 2009 , die Hunderte Liegestühle in der Stadt bewarb ( unter anderem im Sigmund-Freud-Park zwischen der stark befahrenen Währinger Straße und der Universitätsstraße ) und die auch für die Folgejahre angekündigt wurde.13 Das Liegen im öffentlichen Raum ist nicht ausschließlich eine Wiener Angelegenheit. Vielmehr waren zuvor schon Berlin , Paris oder auch London Städte , die an bestimmten Orten Liegestühle im öffentlichen Raum aufgestellt hatten.14 Enzis allerdings wurden für Wien entwickelt , ihr internationales Auftreten ist Teil der kommunizierten Erfolgsgeschichte : So machten etwa acht gelbe Enzis im Sommer 2010 »Urlaub in Madrid« und zierten das dortige Museumsviertel ,15 im Rahmen der Olympischen Sommerspiele in London 2012 verwandelten 22 »kantige Wiener«16 den öffentlichen Raum in ein »urbanes Wohnzimmer«17. Enzis und ihre NutzerInnen waren auch zentrales Motiv der Österreich-Werbung im Jahr 2009 , die mit »Wo das Kulturzentrum zum Wohnzimmer wird« und »Das muss Österreich sein« das Land als modernes , respektive hippes und entspanntes Urlaubsziel anpries.18 Diese Praxis des Liegens könnte , wenn man denn wollte , als eine neue Note der oft zitierten »Wiener Gemütlichkeit« interpretiert werden. Sie ist jedoch wohl insbesondere in Zusammenhang mit dem internationalen Trend der Entwicklung der innerstädtischen Bereiche zu Freizeitzonen zu sehen. Der Europäische Ethnologe Wolfgang Kaschuba bezeichnet dieses neue Phänomen als »Mediterranisierung der Innenstädte«, die , so Kaschuba , vor dem Hintergrund postfordistischer Gesellschaftsverhältnisse entstünden. Überlokale Trends wären etwa die »Stadt-Strände« von Berlin bis Graz als Erscheinungsform der 2000er-Jahre. Dabei ginge es , so Kaschuba , neben der Ökonomisierung von 13 Wien.at ( 2009 ): So liegen Sie richtig , S. 6. 14 Wien.at ( 2009 ): Bitte den Rasen betreten , S. 8. In Paris wurde im Jahr 2002 das Seine-Ufer in zentraler Lage mit vielen Tonnen Sand aufgeschüttet und mit Freizeitmöblierung wie Palmen , Kiosken , Liegestühlen und Schirmen ausgestattet. Holert u. a. ( 2006 ): Fliehkraft , S. 201. 15 Der Standard , Red. ( 2010 ): Auf Urlaub , 25. 5. 2010 , http://derstandard.at/1271377391850/ Ahora-o-nunca-Auf-Urlaub-Enzis-in-Spanien ( 4. 10. 2010 ). 16 PPAG architects ztgmbh ( o. J. ): Enzis in London ( 22. 2. 2013 ). 17 Ebd. 18 Imlinger ( 2009 ): Tourismus.

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Kultur auch um eine neue Pose der öffentlichen Geselligkeit und in weiterer Folge um die Frage nach der ( eigenen ) gesellschaftlichen Positionierung im Kontext neuer Formen von Zusammenkunft im öffentlichen Raum.19 Ob man diesen Überlegungen nun folgen mag oder nicht , viele dieser Maßnahmen zur Belebung der Städte sind jedenfalls von politischer Seite gesteuert. Mitunter geht es dabei auch um die Belebung jener Zonen , die zumeist aufgrund von Verkehr und Lärm oder wegen ihrer Abgeschiedenheit als unattraktiv empfunden werden. In Wien ist hierfür die Magistratsabteilung 19 ( Architektur und Stadtgestaltung ) zuständig , die seit 2005 neue Zielgebiete für den Stadtentwicklungsplan für Wien formuliert hat.20

Das Möbel: Sitz-/Liegeerfahrungen Als ich zum ersten Mal in forschender Absicht das MQ mit seinen Enzis besuchte , interessierten mich vor allem Fragen des Komforts und der Möglichkeiten , die das Objekt , das ich als Sitz- und Liegemöbel bezeichnen möchte , dem Körper bietet. Welche Varianten des Sitzens oder Liegens erlaubt es ? Wo beeinflussen Konventionen oder auch geschlechtliche Codierungen eine bestimmte Aneignung ? Was nehme ich aus der Position des Sitzens oder Liegens heraus wahr ? Freitag , 21. 8. 2009 , 19 Uhr , Haupthof MQ Spätsommerliches Wetter , ich verabrede mich mit Eva im MQ. Meine Freundin hat glücklicherweise zugesagt , mich bei meiner Feldforschung zu begleiten. Allein wollte ich dort nicht hin , das MQ habe ich in meiner mentalen urbanen Landkarte mit dem Label »das interessiert mich nicht« versehen. Ich frequentiere es lediglich , wenn ich eine Ausstellung besuche oder um es zu durchqueren und dabei ein Stück Umweg abzuschneiden. Noch nie habe ich eine Enzi21 ausprobiert – ich stehe der 19 Vortrag von Wolfgang Kaschuba : Urbane Räume : Labore der Populärkultur – und der Ethnografie ? Wien , im Rahmen des Institutskolloquiums des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien , 7. 10. 2010. 20 Siehe etwa die Gestaltungs- und Entwicklungsleitlinien für die Neugestaltung des Donaukanals , http://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/zielgebiete/ donaukanal/projekte/leitlinien.html ( 19. 2. 2013 ). Am Donaukanal hat sich in den letzten Jahren eine lange , wenig genutzte Zone zum urbanen Hotspot entwickelt. Aus temporären Gastro- und Strandbar-Projekten mit Palmen , Liegestühlen , Sitzlogen und DJ-Lines sind unter Aufsicht der Stadt fixe Party-Locations für WienerInnen und TouristInnen entstanden. 21 Das Genus der Enzis ist nicht eindeutig. Rudolf Taschner charakterisiert das Liegemöbel in »Hofmöblierung Museumsquartier Wien« mit dem weiblichen Artikel ; Taschner ( o. J. ): Das Möbelstück ENZI , S. 58. Ich habe mich aufgrund der Namensgeberin ( Daniela Enzi ) ebenfalls für das Femininum entschieden.

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Szenerie im MQ insgesamt skeptisch gegenüber. Deswegen erschien es mir angenehmer , diesen bislang gemiedenen Ort in vertrauter Begleitung zu erkunden. Für meine erste MQ-Feldforschung habe ich mich in T-Shirt , Jeans und Sandalen gekleidet. Nicht auffallen , Teil des Ganzen sein – meine Annäherungsstrategie an diesen Ort. An Accessoires habe ich dabei : eine Umhängetasche , eine Wasserflasche , eine Packung Chips ; an ethnographischem Werkzeug ein pinkfarbenes DIN-A5Notizbuch , einen Bleistift und eine Digitalkamera. Eva und ich betreten den Haupthof und finden ohne Mühe ein freies Möbelstück. Wir richten uns ein und beginnen sofort , uns über das Möbelstück zu unterhalten. Wir beschreiben es als abgewohnt , beschädigt , aber sauber. Wir legen uns exakt so hin , wie es das Möbelstück dem Körper zunächst vorzugeben scheint : den Rücken auf der Rückenlehne , den Kopf abgelegt , die Füße ausgestreckt. Diese Haltung gibt eine Blickrichtung vor , wir schauen in Richtung Himmel. Wir stellen fest , dass die Flächen der Enzis überraschend warm sind. »Das ist gut für Frauen und ihre Blase.« Eva ist begeistert. Bald stellt sich heraus , dass es einer gewissen Anstrengung bedarf , um den Körper in dieser Position zu halten. Folgen wir der Vorgabe des Möbelstücks und stemmen uns nicht mit den Füßen gegen die gegenüberliegende Rückenlehne , so rutschen wir unweigerlich hinunter und liegen schließlich auf der horizontalen Fläche des Möbels. Wollen wir das nicht , müssen wir die Liegehaltung , die meine Freundin und ich nun eher als Liege- /  Sitzhaltung bezeichnen , unter Zuhilfenahme des Steißbeins als Stütze oder der Füße als »Bremse« immer wieder korrigieren. Nach nur wenigen Minuten in dieser kontrollierten Haltung klagt Eva über Rückenbeschwerden und über Schmerzen im Steißbein. »Um in der vorgegebenen Liegehaltung zu entspannen , ist die Unterlage zu hart.« Sie probiert weitere Haltungen aus , eine davon gefällt mir besonders : mit dem Rücken auf der Sitzfläche des Möbelstücks liegend , die Beine hochgelagert und auf der Möbelkante abgelegt. Ich gratuliere meiner Freundin zur originellen Haltung , darauf wäre ich nicht gekommen. Tatsächlich ist sie die Einzige , die das Möbelstück auf diese Weise nutzt. Ich mache diese Haltung nach und finde sie bequem , fühle mich dabei aber auch unwohl. Wir befinden uns im zentralen Hof des MQ  , diese Haltung erscheint mir angesichts der vielen fremden Menschen als unpassend , eigentlich als »zu privat«. Vielleicht auch , weil wir die Einzigen sind , die mit hochgelagerten Beinen liegen. So nehmen wir die Ausgangshaltung wieder ein. Da wir einander gegenüberliegen , versuchen wir nun , uns mit Blickkontakt zu unterhalten. Dafür müssen wir den Kopf von der Rückenfläche heben , was wir bald als anstrengend empfinden und weswegen wir schließlich unser Gespräch in einer Sitzhaltung mit aufgestellten Beinen weiterführen. Die generelle Vorstellung , dass die Enzis , nur weil sie zum Liegen einladen , auch bequem sind , relativieren wir innerhalb kürzester Zeit. Nun schauen wir uns um und wollen beobachten : Was machen die anderen Leute auf ihren Enzis , wie benutzen sie sie ? Neben uns strickt eine junge Frau , tendenziell

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in Liegehaltung , den Kopf jedoch aufrecht haltend ; der junge Mann neben ihr liest im Schneidersitz. Auf einem anderen Möbel sitzt sich ein offensichtlich flirtendes Pärchen gegenüber , ein Supermarkt-Picknick und eine Flasche Wein in ihrer Mitte. Eine weitere Enzi ist bevölkert mit vier jüngeren Männern in Liegehaltung und angehobenem Kopf , ein fünfter sitzt obenauf. Zwei von ihnen trinken Dosenbier , eine Frau steht daneben und raucht. Woanders liegt ein Pärchen nebeneinander , die Köpfe stecken zusammen , beide sind aus unserer Sitzposition jedoch gut zu beobachten. Wieder woanders hat eine Frau ihre Schuhe auf dem Boden abgestellt , ihre Tasche unter die Knie , ein Kleidungsstück hinter den Kopf geschoben und die Füße auf der gegenüberliegenden Sitzfläche aufgestellt , damit sie nicht abrutscht. Sie liest und telefoniert zwischendurch. Auf dem benachbarten Möbel sitzen aufrecht ( den Oberkörper nicht angelehnt ) zwei Männer und eine Frau ( sie rauchend ), unweit davon hat ein junger Mann mit großem Kopfhörer eine Liegeposition eingenommen , den Kopf auf der Rückenfläche , die Augen geschlossen , auf dem Objekt daneben liegen zwei Frauen nebeneinander , davon eine mit Baby auf dem Bauch , und tratschen. Wir resümieren : Im zentralen MQ-Areal , wo wir sitzen und liegen , bleiben freie Enzis nicht lange unbelegt. Menschen kommen und gehen , schlendern oder spazieren eher , als dass sie es eilig haben. Sie kommen zu zweit oder in kleineren Gruppen , etliche auch allein , haben mitunter keine Scheu , sich auf eine Enzi neben fremde Menschen zu setzen oder zu legen. Die Atmosphäre empfinden wir als angenehm , entspannt , die vielen liegenden , sitzenden , stehenden , plaudernden , rauchenden , trinkenden BesucherInnen mit offenbar jeder Menge Zeit passen , wie wir finden , gut zum Wochenendbeginn. Die Kleidung der Leute ist leger und bequem , Kostüm oder Anzug trägt hier niemand. Das Publikum ist durchwegs jung , urban , auch studentisch. TouristInnen sind von Einheimischen nicht zu unterscheiden. Nach dieser ersten »Wahrnehmungsrunde« wollen wir etwas essen. Gestärkt nach einem MQ-Takeaway und einem Bier , wage ich meine erste Kurzbefragung und zwar im Schneidersitz von meinem Möbel aus. Die Frau mit der Strickerei und ihr isländischer Freund , beide Anfang 20 , leben hier in Wien. »I like the seats«, sagt er , »it’s a nice place«, »lot’s of people«, »a nice place to hang out«, »sometimes there is music«. Auf die Frage , ob ihm die Möbel gefallen oder ob er sie bequem findet , denkt er kurz nach und resümiert : »For outside seats they are comfortable«; »I change positions.« Und auf die Frage , wonach die Möbel seiner Meinung nach aussehen : »Actually I thought about it because I wanted to tell my sister about this place. It looks like a boat.« Beide suchen öfters die Enzis im MQ auf und bleiben dabei bis zu vier Stunden.

Ein 2002 von der Geschäftsführung ausgeschriebener Wettbewerb zur Gestaltung der MQ-Innenhöfe suchte nach »robusten« und »vielseitig verwendbaren Sitzmöbeln«, die – so die Vorstellung – »zum Verweilen« einladen sollten.22 22 Kleine Zeitung ( 2010 ): Geschichte der Hofmöbel.

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Abb. 1–2 : Haupthof MQ, 21.8.2009

Die Entwürfe der Architekten Anna Popelka und Georg Poduschka ( PPAG ) machten schließlich das Rennen. Die Enzis , aus Hartschaum ( Polystyrol ) hergestellt , ermöglichen geselliges Sitzen und legitimiertes Liegen im urbanen Raum mit der Möglichkeit , die Position vielseitig zu verändern. Dass die Möbel das Einnehmen unterschiedlicher Körperhaltungen erlauben , konnten meine Freundin und ich beim ersten Besuch rasch feststellen. Den mäßigen Komfort der Sitz- /  Liegemöbel bestätigten auch die meisten der von mir im Laufe meiner MQ-Forschungsaufenthalte befragten Enzi-NutzerInnen , ohne sich jedoch darüber zu beklagen. Eine nicht allzu große Bequemlichkeit wird offenbar in Kauf genommen , ja entschuldigt , da es sich bei den Enzis , wie der junge Mann aus Island betonte , um »Outdoor-Möbel« handle. Schmerzt ein Körperteil nach einer gewissen Zeit in einer bestimmten Haltung , wird die Position des Körpers einfach wieder gewechselt.

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Samstag , 18. 9. 2010 , 16 Uhr , Haupthof MQ Ich teste die neuen Modelle , die seit diesem Sommer aufgestellt sind. Sie sind hohl , Verstrebungen sind allerdings sichtbar , wodurch sie weniger massiv wirken. Auch Material und Farbe sind nun anders – die neuen Möbel sind nicht gestrichen , sie sind schon im Material Lush Meadow Green , Ivory Tusk White , Strawberry Field Red oder Candy Shop Pink. Sie erinnern mich an Playmobil oder auch an das Kinderzimmer von Ikea. Die Sitzfläche ist deutlich länger und die Rückenfläche kürzer respektive weniger hoch. Kinder können auf diesen neuen Enzis offenbar leichter herumklettern und außerdem unter der Sitzfläche durchkrabbeln , was ihnen sichtlich Spaß macht. Ein Vater hüpft mit seinen Kindern von einem Möbel zum anderen , solche Turnübungen konnte ich vergangenes Jahr bei meinen MQAufenthalten nicht beobachten. Ich selbst finde das Material der neuen Möbel unangenehm , es ist in meinen Augen »richtiges« Plastik , die Oberfläche feinkörnig und rutschiger als jene der ersten Enzi-Generation und deswegen macht auch das Liegen deutlich weniger Spaß. Auch um mich herum sitzen die Leute durchgehend auf den Möbeln , eine Liegeposition hat kaum jemand eingenommen.

Abb. 3 : Haupthof MQ, 18. 9. 2010

Enzis Bruder Enzo ist , wie es in einer Aussendung zu den neuen Hofmöbeln heißt , wegen der speziellen Produktionsmethode »noch feuer­­ fester sowie resistenter gegen Beschä­ digungen«23 , womit auf den legendären Brand der Möbelstücke 2009 reagiert wurde ( siehe oben ). Das neue Möbel besteht aus recycle­ barem Polyethylen und muss nicht jedes Jahr neu eingefärbt werden. Die Enzos können übrigens – wie schon das Vorgängermodell – auch für den Garten oder die Terrasse zu Hause oder für den Gemeindevorplatz über die Homepage der Entwickler bestellt werden.

Freitag , 21. 8. 2009 , 20 Uhr , Haupthof MQ »Die Enzis haben etwas Gemütliches«, findet Eva , »nicht so wie eine Bank«, und »sie schaffen eine intime Atmosphäre«. Allerdings , so fügt sie hinzu , habe diese 23 MuseumsQuartier Wien ( 2010 ): Neue Hofmöbel »Enzos«.

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wegen der Umgebung »etwas Zivilisiertes«, zur »richtigen Entspannung« würde sie in einen Park gehen oder an die Donau. »Der Vorteil ist , man kann schauen«, ist ihr vorläufiges Resümee , »die Leute sind hübsch angezogen«, »das Schaubedürfnis wird befriedigt«.

Die Möbel im Wiener Museumsquartier sind hinsichtlich der auf ihnen einnehmbaren Haltung Möbel für ›Zwischenzustände‹ oder ›Zwischenlagen‹  – vielleicht ähnlich dem Sofa im bürgerlichen Wohnumfeld , das »zum Sitzen wie zum Liegen dienen«24 soll. Sie bieten dem Körper Sitzgelegenheit , animieren ihn aber – trotz der harten Unterlage und der geraden Linien – auch zu einer Liegehaltung , ziehen ihn buchstäblich in die Horizontale. Der Schrägstrich , den ich im Titel zwischen dem Liegen und dem Sitzen gesetzt habe , deutet die Unentschiedenheit an : Die Haltungen , die auf diesem speziellen Möbel eingenommen werden können , lassen sich mit den herkömmlichen Begriffen nicht gänzlich zufriedenstellend beschreiben. Mal ist es mehr ein Sitzen , mal mehr ein Liegen. Rasch lassen sich Positionen verändern – aus einer tenden­ ziellen Liegehaltung wird ohne Anstrengung eine Sitzhaltung. Und wer ins MQ kommt , um sich in den Höfen und bei den Enzis aufzuhalten , bringt nicht nur einen lockeren Kleidungsstil , sondern tendenziell auch eine ungezwungene Körperhaltung mit und zeigt diese auch vor Ort. Wer hier sitzt oder liegt und damit seinem Körper ein Stück weit Ruhe gönnt oder unter Umständen gar Signale von Privatheit an die Umwelt aussendet , ist trotzdem Teil einer spezifischen Öffentlichkeit. Distanz und /  oder Nähe zu anderen können von den BenutzerInnen der Möbel je nach Art der Nutzung ( aufrecht sitzen , liegen , daneben stehen , schlafen , Musik hören , lesen , reden , schauen etc. ) gewählt werden. Die Sitzflächen sind weit genug voneinander entfernt , so dass bei normaler Unterhaltung dank des Umgebungslärmes die Nachbarn weder gehört noch gestört werden. Andererseits steht eine Enzi beziehungsweise ein Enzo selten allein. Zumeist sind die Möbel durch eine Halterung miteinander verbunden , entweder stehen sie in gerader Linie hintereinander oder sie werden in unterschiedlichen Winkeln zueinander angeordnet und bilden so mit anderen Objekten eine Art Insel. Das MQ ist also auch ein Ort , wo – ähnlich einem Schwimmbad – Privatheit und Öffentlichkeit , Zurückgezogenheit und Kommunikation ( immer wieder ) neu verhandelt werden. Die Raumelemente , also die beschriebenen Möbel , lösen dieses Dilemma nicht , sondern verstärken den Eindruck der uneindeutigen Zuordnung des Ortes.

24 Vogel ( 2006 ): Die Couch im Raum , S. 143.

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Der »gestimmte« Raum Nach dem Selbstverständnis der MQ-Betreibergesellschaft ist das rund 60. 000 m2 große Areal ein urbaner »Kunstraum«, »Schaffensraum« und »Lebensraum«25. Die Fassade der ehemaligen Stallungen , nach Plänen von Fischer von Erlach um 1720 gebaut , trennt das Areal von einer stark befahrenen Straße und einer Grünfläche und beherbergt das , was urbane , konsumierende Schichten , aber auch TouristInnen heute in Innenstädten gerne suchen : zeitgenössische Architektur , Museen , Events , Shopping- und Einkehrmöglichkeiten. Freitag , 21. 8. 2009 , 21.00 Uhr , Haupthof MQ Mittlerweile ist es Abend geworden , die Lichter der Gebäude und Lokale gehen an. Eva glaubt zu bemerken , dass mit Einbruch der Nacht die Stimmung eine andere geworden ist , es herrsche »ein Feeling von Ausgehbetriebsamkeit«. »Vorher«, so meine Freundin , »kamen die Leute und gingen wieder. Jetzt , am Abend , haben sie sich entschieden zu bleiben.« Neuerlich unterhalten wir uns über die Szenerie , die sich uns bietet : Die Köpfe des jungen Paares sind nicht mehr zu sehen. Wir verrenken uns und schauen nach : Die beiden sind ›hinuntergerutscht‹, die Dunkelheit bietet der Intimität des verliebten Paares Schutz. Eine größere Freundesgruppe sitzt aufrecht auf den oberen Kanten zweier Möbel , Einzelne stehen daneben , trinken Alkohol und tratschen.

Mit den Enzis bietet das Wiener MQ  , wie es scheint , etwas ganz Besonderes : In der Selbstdarstellung der Betreibergesellschaft funktioniert es als »dritter Ort« – nach dem privaten Umfeld und dem Arbeitsplatz soll nun auch das MQ Kommunikation und Interaktion ermöglichen.26 Tatsächlich ist im MQ durch die Abgetrenntheit des Areals und die platzähnliche Gestaltung der Höfe ein Ort entstanden , der für BesucherInnen als öffentlicher Treffpunkt Attraktivität besitzt. »Vor allem aber«, so schrieb ein Stadtzeitungs-Redakteur euphorisch 2004 , »haben die PPAGs [ Popelka und Poduschka , Anm. Verf. ] mit ihrer Erfindung [ den Enzis , Anm. Verf. ] etwas geschaffen , das hat es im Hof des Museumsquartiers vorher noch nicht gegeben : Atmosphäre.«27 Samstag , 26. 9. 2009 , 15.30 Uhr , Haupthof MQ »Ich bin heute nicht in der Stimmung , jemanden kennenzulernen«, sagt mir ein Endzwanziger , »aber das ist sicher möglich , am Abend , an einem Freitag.« Und eine ca. 35-Jährige , die sich eine Enzi mit einer Unbekannten teilt , meint : »Es ist 25 http://www.mqw.at/de/das+mq /  ueber+das+mq /  ( 17. 2. 2013 ). 26 http://www.mqw.at/de/das+mq /  lebensraum /  ( 17. 2. 2013 ). 27 Wurmdobler ( 2004 ): Stadtpolbenutzermöbel.

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eigentlich pervers , man kommt freiwillig in diese Betonwüste.« Aber , so fügt sie hinzu , »ich komme wegen der Atmosphäre , die Museen , wenn ich Abwechslung suche.« Die »Leute tun flanieren«, »allgemein sind die Leute vermutlich relaxter«. Die »Atmosphäre ist inspirierend«, »man hat nicht das Gefühl , man ist in Wien«.

Gernot Böhme hat die Erzeugung von »Atmosphären« als eines der zentralen Anliegen moderner Architektur beschrieben28 : Architektur respektive das dahinter stehende planerische Konzept , will die Sinne ansprechen , anrühren und damit aktiv betroffen machen. Akustik , Licht , Farben und Materialien mit ihren sinnlichen Qualitäten erzeugen in ihrem Zusammenspiel eine spezifische Atmosphäre , die auch das Agieren der betroffenen Subjekte beeinflusst. Atmosphären können stimulieren , entspannen , mitreißen oder lähmen.29 Für die Betreibergesellschaft des Museumsquartiers , dies erscheint als offensichtlich , ist die Erzeugung von Atmosphäre zentrales Anliegen. Die BesucherInnen sollen eintauchen in ein Areal , das als Lebensraum , als ›dritter Ort‹ genutzt wird , in »eine Oase der Kultur und Erholung inmitten der Stadt«30. Die Aussage der Mittdreißigerin , das MQ biete eine Atmosphäre jenseits des »normalen«, offenbar also nicht so relaxten Wien ( siehe oben ), mag diese Selbstzuschreibung unterstreichen. Die Enzis beziehungsweise Enzos sind wesentlicher Teil dieses ›atmosphärischen Lebensraums‹. Mit ihren poppigen Farben und ihrer speziellen Form fordern sie dazu auf , sie zu benutzen , als Sitzmöbel oder als Liegemöbel , und dies ohne Konsumzwang. Ihre Einladung richtet sich an ein tendenziell jüngeres Publikum , das mit dem Körper anders umzugehen bereit beziehungsweise körperlich beweglicher ist , als ältere Generationen es zumeist sind : Sie suggerieren einen jungen urbanen Lebensstil. Subjekte müssen sich auf die Atmosphäre einlassen , damit diese ›funktioniert‹. Wenn sie dies tun , werden sie mit ihren Körpern und ihrem Agieren im Raum selbst zu gestaltenden Elementen dieser Atmosphäre. Um nochmals Böhme zu zitieren : Gefühlsatmosphären sind nicht vollends vorherbestimmbar ; sie erhalten ihre »letzte Bestimmung« erst aus der Reaktion des involvierten Subjekts.31 Wie notwendig die Beteiligung der Subjekte an der Herstellung von Atmosphären ist , wird besonders deutlich , wenn dieses Zusammenspiel , aus welchen Gründen auch immer , durchbrochen oder gestört wird. Im Sommer 2009 sorgte ein strenges Reglement der Betreibergesellschaft kurzfristig für Verstimmung bei den FreundInnen des MQ-Areals. Der Unmut über einen

28 29 30 31

Böhme ( 2006 ): Architektur und Atmosphäre. Thibaud ( 2003 ): Die sinnliche Umwelt von Städten , S. 289. http://www.mqw.at/de/das+mq /  ueber+das+mq /  ( 17. 2. 2013 ). Böhme ( 2006 ): Architektur und Atmosphäre , S. 25.

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auferlegten Konsumzwang32 und in diesem Kontext über eine drohende »Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes«33 wurde zuerst massiv über das Internet , dann lautstark von rund 2. 000 Personen , die sich zu einer Demonstration vor Ort organisiert hatten , kommuniziert. Die entspannte Atmosphäre im MQ war somit durch die neuen Bestimmungen gestört. Nur kurz blieb die neue Hausordnung aufrecht , die temporäre und kampfbereite »MQ-Gemeinschaft« hatte die konsumfreie Zone alsbald zurückgewonnen.34 Das Areal des Wiener Museumsquartiers ist , wie resümierend festgestellt werden kann , eine sorgsam konstruierte Zone des Wohlfühlens. Mit Holert und Terkessidis kann argumentiert werden , dass eine solche Inszenierung des Ortes und auch der Personen , die sich an ihm aufhalten , letztlich Teil einer ökonomischen Strategie ist , die Qualität des Aufenthaltes und damit den Wert des Ortes  – der von den Rändern her durch Schranken , Hausordnung und Konsumzwang gerahmt , in den Raum hinein jedoch mit dem freien Liegen offen gestaltet wird – zu steigern. BesucherInnen , KonsumentInnen , DienstleisterInnen sind durch ihr Verhalten und ihre Handlungen an dieser Wertschöpfung beteiligt.35 Der Raum im MQ ist auch ein sozialer Raum im Sinne eines Lebensstiles – der Konsum von kulturellen Angeboten , von zeitgenössischer Kunst und Architektur , das Sitzen /  Liegen auf den ›Designer-Möbeln‹, Lesen , Musikhören oder auch demonstratives Nichtstun in der Öffentlichkeit verweisen auf einen milieuspezifischen Habitus. Mit Bourdieu kann der Konsum von Kunst und Kultur als eine Distinktionspraktik angesehen werden :36 Die meisten BesucherInnen , die ins MQ kommen , halten sich hier freiwillig auf , sie haben freie Zeit für den ( Kultur-)Genuss , sie verbringen hier ihre Freizeit. An diesem Punkt ist auf die Bedeutung des Körpers im Museumsquartier zurückzukommen : Der Raum nimmt dermaßen Gestalt an , wie die Menschen ihren Körper einsetzen beziehungsweise den Raum erfahren. Sobald ich das Museumsquartier betrete , bin ich Teil der Atmosphäre. Sobald ich ein Angebot des Areals nutze , gestalte ich sie aktiv mit. Die Möblierung in den Höfen als Teil der inszenierten MQ-Architektur ist demnach nicht nur Illustration oder Installation , sie ist konstruktiv und will Nutzung. Die Architektur der Möbel in der Mitte der MQ-Höfe ist Architektur mit Absicht. Ohne die Körper sind die Enzis jedoch nichts. Ohne Körper repräsentieren die Enzis lediglich jene , die hier verwalten , beziehungsweise jene , die sie entworfen haben. 32 Rottenberg ( 2009 ): Enziprohibition II. 33 Rottenberg u. a. ( 2009 ): Ein emotional besetzter Freiraum. 34 Bernold u. a. ( 2009 ): Rebellion in Enziland , S. 36 ; Der Standard ( 2009 ): Neue Hausordnung. 35 Holert u. a. ( 2006 ): Fliehkraft , S. 204 f. 36 Bourdieu ( 1982 ): Die feinen Unterschiede , S. 277 ff. , 416 ff.

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Samstag , 22. 8. 2009 , zu Hause Ich studiere meine Aufzeichnungen vom Vortag. Die Erkundungen zum Möbel und die Wahrnehmungsübungen gemeinsam mit meiner Freundin waren sehr unterhaltsam und für den ersten Besuch ertragreich. Auch den spätabendlichen Spaziergang allein durch das MQ empfand ich als angenehm  – Wasser , Licht und Menschen in fröhlicher Ausgehlaune. In einem der Nebenhöfe hatte ich außerdem zwei Obdachlose beobachtet , wie sie zusammengerollt und unbeteiligt vom Geschehen rundherum auf der Sitzfläche eines Möbels schliefen.

Angesichts meiner anfänglichen Skepsis gegenüber dem MQ als freiwilligem Aufenthaltsort war ich von dem Gesehenen überrascht. Das Ergebnis meiner kurzen Gespräche vor Ort erscheint mir jedoch unzureichend. Dies auch , weil ich in eine Privatsphäre im Öffentlichen eindringen musste und entsprechend kurze /  wenig Zugänge suchte. Beim Herantreten an ein belegtes Enzi-Möbel hatte ich großen Unwillen verspürt , die NutzerInnen in ihrem Nichtstun oder in ihren privaten Gesprächen zu stören. Die Intimität , die die Enzi-Möbel auch bieten ( Je nach Nutzungsverhalten ), interpretiere ich als Schutzwall vor ›Zutritten‹ von außen. Liegende beziehungsweise sitzende Menschen zu befragen , während ich selber stehe , evozierte bei mir ein zusätzliches Unwohlsein , das sich auf den Forschungsverlauf auswirkte. Ich wollte nicht länger als notwendig ›stören‹, nur rasch Antworten auf meine Fragen bekommen. Letztendlich dauerten die kurzen Gespräche selten länger als einige wenige Minuten. Ich war dort , im MQ  , so stelle ich resümierend fest , sehr rasch Teil des gestimmten Raumes geworden beziehungsweise Teil eines gewollten Ganzen : Kommen , sitzen , liegen , relaxen und dadurch im Sinne der Programmierer raumgreifend beleben.

LITERATUR Bourdieu , Pierre ( 1982 ): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Böhme , Gernot ( 2006 ): Architektur und Atmosphäre. München. Ellis , Carolyn / Adams , Tony E. /  Bochner , Arthur P. ( 2010 ): Autoethnographie. In : Mey , Günther /  Mruck , Katja ( Hg. ): Handbuch Qualitative Sozialforschung in der Psychologie. Wiesbaden , S. 345–357. Gehl , Jan ( 2012 ): Leben zwischen Häusern. Konzepte für den öffentlichen Raum. Berlin. Holert , Tom /  Terkessidis , Mark ( 2006 ): Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Köln. Thibaud , Jean-Paul ( 2003 ): Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären. In : Hauskeller , Michael ( Hg. ): Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Kusterdingen , S. 280–297. Vogel , Juliane ( 2006 ): Die Couch im Raum : Positionen. In : Marinelli , Lydia ( Hg. ): Die Couch. Vom Denken im Liegen. München u. a. , S. 143–159.

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QUELLEN Bernold , Matthias G. /  Weber , Claudia ( 2009 ): Rebellion in Enziland. In : Falter 25 , 19. 6. –25. 6. 2009 , S.  36–38. Der Standard , Redaktion ( 2009 ): Neue Hausordnung. MQ lockert Verbot von Fremdgetränken wieder. In : derStandard.at , 10. 6. 2009 , http://derStandard. at/1244460341860/Neue-Hausordnung-MQ-lockert-Verbot-von-Fremdgetraenkenwieder ( 7. 10. 2010 ). Der Standard , Redaktion ( 2010 ): Auf Urlaub : »Enzis« in Spanien. In : derStandard.at , 25. 5. 2010 , http://derstandard.at/1271377391850/Ahora-o-nunca-Auf-Urlaub-Enzisin-Spanien ( 4. 10. 2010 ). Heigl , Andrea /  Stemmer , Martina ( 2010 ): Eispalast ging in Flammen auf. In : derStandard.at , 19. 11. 2009 , http://derStandard.at/1256745158680/Brand-MQ-Eispalast-gingin-Flammen-auf ( 12. 3. 2010 ). http://betriebsfuehrung.mqw.at/index.htm ( 19. 2. 2013 ). http://www.mqw.at ( 12. 3. 2010 ). http://www.mqw.at/de/das+mq /  ueber+das+mq /  ( 17. 2. 2013 ). http://www.mqw.at/de/das+mq /  lebensraum /  ( 17. 2. 2013 ). http://www.mqw.at/index.php?page_id=4 ( 12. 3. 2010 ). http://www.mqw.at/index.php?page_id=4 ( 18. 3. 2010 ). http://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/zielgebiete/donaukanal/projekte/leitlinien.html ( 19. 2. 2013 ) Imlinger Christine ( 2009 ): Tourismus. Wettlauf um den »rettenden« Urlaub. In : DiePresse.com , 11. 3. 2009 , http://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/460070/ Tourismus_Wettlauf-um-den-rettenden-Urlaub ( 27. 2. 2013 ). Kleine Zeitung ( Redaktion ): Geschichte der Hofmöbel im Museumsquartier , 10. 8. 2010 , http://www.kleinezeitung.at/Allgemein/bauenwohnen/2440036/vom-enzi-zum-enzo-neue-hofmoebel-museumsquartier-wien.story?seite=2 ( 12. 2. 2013 ). MuseumsQuartier Wien ( 2010 ): Neue Hofmöbel »Enzos« im MuseumsQuartier Wien , http://www.mqw.at/mediafiles/59/100713_PA_Moebel_NEU_EV_final.pdf ( 24. 9. 2010 ). MuseumsQuartier , Presse ( 2011 ): Zehn Jahre Museumsquartier – die Kulturoase feiert ( 2011 ), http://www.mqw.at/mediafiles/8/110414_PA_Programm_10_Jahre_MuseumsQuartier_Wien.pdf ( 22. 2. 2013 ). PPAG architects ztgmbh ( o. J. ): Enzis in London , http://www.enzis.at/index.php?idcat =10&sid=e11464fe1ad182bbd6659bd54f71dde7 ( 22. 2. 2013 ). Rottenberg , Thomas ( 2009 ): Enziprohibition II. In : derStandard.at , 11. 6. 2009 , http:// derstandard.at/1244460429563/Enziprohibition-II ( 19. 2. 2013 ). Rottenberg , Thomas /  Stemmer , Martina ( 2009 ): Ein emotional besetzter Freiraum. In : derStandard.at , 12. 6. 2009 , http://derstandard.at/1244460525715/Ein-emotionalbesetzter-Freiraum ( 19. 2. 2013 ). Schurian , Andrea ( 2009 ): Ja , nein , vielleicht. 20 Jahre entschlossener Zickzackkurs. In : Der Standard vom 13. / 14. 6. 2009 , S. 2. Taschner , Rudolf ( o. J. ): Das »Möbelstück« ENZI aus mathematischer Sicht. In : PPAG ( Hg. ): Hofmöblierung Museumsquartier Wien. Wien. Trenkler Thomas ( 2013 ): Neuer Besucherrekord im MQ. In : derStandard.at , 25. 2. 2013 , http://derstandard.at/1361241061568/Neuer-Besucherrekord-imMQ ( 27. 2. 2013 ).

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Birgit Johler

Wien.at , Redaktion ( 2009 ): Bitte den Rasen betreten. Gratis-Liegen im SigmundFreud-Park. In : Wien.at 6 , S. 8. Wien.at , Redaktion ( 2009 ): So liegen Sie richtig. In : Wien.at 7 , S. 6. Wurmdobler , Christoph ( 2010 ): Stadtpolbenutzermöbel. Enzi mag man eben : Wieso das tolle Massenmöbel von PPAG für das Wiener MuseumsQuartier so wichtig war und ist , http://www.enzis.at/media/pdf/Stadtpolbenutzerm%C3%B6bel.pdf ( 19. 9. 2010 ).

ABBILDUNGSVERZEICHNIS : Abbildungen : Foto Johler.

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Charlotte Räuchle

LEBENDE STATUEN AUF DEM STEPHANSPLATZ EINE ETHNOGRAPHISCHE SKIZZE Sonntagmittag auf dem sommerlichen Stephansplatz in Wien. Ein Mann in einem langen , schwarzen Mantel , mit schwarzer Sonnenbrille , schwarzem Zylinder und weiß geschminktem Gesicht besteigt mitten auf dem Platz ein kleines Podest gegenüber dem »Café Weinwurm«. Er trägt eine Geige und vor sich auf den gepflasterten Boden stellt er eine Plastikschüssel. In kurzer Zeit bildet sich ein größerer Kreis von Menschen um ihn herum. Ein kleiner Junge nähert sich dem Mann auf dem Podest , wirft Geld in die Plastikschüssel und legt seine Hand hinter sein Ohr , als Aufforderung Abb. 1  : Fotos, die TouristInnen von »Lebenzum Geigenspiel. Der Mann reden Statuen« in Wien machen, sind in Motiv, agiert nicht. Ein junger Mann mit Ausschnitt und Standpunkt immer ähnlich blonden Haaren folgt dem Beispiel und doch einmalig. Im Rückblick können die des kleinen Jungen und legt auch selbst gemachten Fotografien das Bild der BesucherInnen von Wien mitbestimmen einige Münzen in die Schale. DaFoto: Charlotte Räuchle raufhin entlockt der kostümierte Mann seiner Geige einige schräge Töne und nimmt dann wieder seine ursprüngliche Haltung ein. Das geht so lange , bis sich genug Geld in seinem Schüsselchen angesammelt hat und er wieder beginnt , eine kleine Melodie zu spielen. Er ist nicht der Einzige , der auf dem Stephansplatz im Zentrum Wiens und inmitten des Menschengewimmels verkleidet posiert. Es lassen sich auch kleine Personengruppen finden , die als »Lebende Statuen« ihr Geld damit verdienen , dass sie sich kostümieren und ihren Körper so lange fast unbeweglich zur Schau stellen , bis PassantInnen auf sie aufmerksam werden , vor ihnen stehen bleiben und Geld geben. Darauf reagieren die kostümierten Personen ganz unterschiedlich – mit einem kurzen Geigenspiel oder auch mit besonderen Posen für Fotos. Der Geigenspieler war nur einer von vielen , die mir bei meinen Spaziergängen durch das Stadtzentrum Wiens immer wieder auffielen. Die »Lebenden

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Statuen« wirken in besonderer Weise präsent , da sie sich stumm und reduziert in den Bewegungen im Stadtraum inszenieren. Diesen ersten Eindruck nehme ich zum Ausgangspunkt , um zum einen näher zu erkunden , wie sich die als »Lebende Statuen« arbeitenden Personen im Einzelnen präsentieren , um Aufmerksamkeit zu finden , und wie sie als Irritation im städtischen Raum wirksam sind. Dabei erweist sich diese spezifische Form der Darstellung in der Öffentlichkeit nicht nur als statisches , sondern auch als dynamisches Phänomen , an dem sich Interaktionen zwischen DarstellerInnen und PassantInnen abzeichnen. Zum anderen möchte ich diese Variante der Straßenkunst als eine spe­zielle Erwerbsform in der Innenstadt thematisieren , die durch gesetzliche Regularien und politische Diskurse begleitet und begrenzt wird. Meine Erkundungen führten in ganz unterschiedliche Richtungen ; vor allem ist mir wichtig , mit meinen Beobachtungen die Möglichkeiten aufzuzeigen , die eine systematische Befragung des Phänomens für eine ethnographische Stadtforschung eröffnet. Die folgenden Überlegungen basieren hauptsächlich auf ethnographischen Beobachtungen , Erkundungstouren und offenen Gesprächen , die ich im Sommer 2009 in Wien auf dem Stephansplatz und in angrenzenden Straßen durchführte und in meinem Forschungstagebuch festhielt. Besonders intensiv kam ich mit zwei Personen , mit Gregor und Maria , beide aus der Slowakei , ins Gespräch ; Maria und Gregor verstehen sich beide als Personen , die den PassantInnen Unterhaltung , etwas zum Schauen und zum Mitmachen bieten wollen. Tatsächlich waren sie die Einzigen , die nach mehreren Versuchen der Kontaktaufnahme bereit waren , sich länger mit mir zu unterhalten. Wie mit ihnen abgesprochen , wahre ich ihre Anonymität und nenne nicht ihre richtigen Namen. Auch sind sie auf keinem der beigefügten Fotos abgebildet. Zumeist fanden die Gespräche parallel zu ihrer Inszenierung als »Lebende Statue« auf dem Stephansplatz und in der unmittelbaren Umgebung statt. Gregor und ich unterhielten uns zudem einmal ausführlich in einem Café.

Historische Linien Historisch lässt sich das Motiv der »Lebenden Statue« in unterschiedlichen künstlerischen Entwicklungen verankern , zunächst einmal in den »Lebenden Bildern« und »Attitüden«, die vor allem aus dem 18. und 19. Jahrhundert bekannt sind. »Lebende Bilder« bezeichneten allgemein »ein dreidimensionales Bild , das von einer Personengruppe für eine kurze Zeit bewegungs- und wortlos gestellt und von anderen durch Betrachtung rezipiert werden [ konnte ]«1. Sie dienten in unterschiedlichen Kontexten dem Adel und dem Bürgertum 1

Jooss ( 1999 ): Lebende Bilder , S. 19.

Lebende Statuen auf dem Stephansplatz

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zur Unterhaltung wie auch zur künstlerischen Ausbildung und Geschmacksbildung.2 Teilweise wurden die Szenarien frei erfunden , meist jedoch wurden Vorlagen nachgestellt. Aus Wien sind aus der Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwei berühmte Beispiele bekannt : Anlässlich des 25-jährigen Hochzeitstages von Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph 1879 inszenierte man in sechs »Lebenden Bildern« die Geschichte des Kaiserhauses.3 Einige Jahre später führten Mitglieder des Wiener Großbürgertums im Ringstraßenpalais des Freiherrn von Todesco »Lebende Bilder« nach Malereien früherer Jahrhunderte vor. Den Epilog der Inszenierung dichtete Hugo von Hoffmannsthal : »Der Rahmen fällt , es lösen sich die Gruppen , / Aus bunten Gliedern wird’s ein einz’ger Kranz. /  Sind’s stumme Menschen , sind’s bewegte Puppen ?«4 Im Fall der »Attitüden« waren es zumeist Frauen , die sich in ihrer Darstellung an antiken Skulpturen orientierten , allerdings nicht starr verharrten , sondern von einer Pose zur nächsten wechselten. Auf diese Weise sollten Gemütsbewegungen vermittelt werden. Der Körper als Material und Medium erfuhr im 20. Jahrhundert in der bildenden und darstellenden Kunst zunehmende Bedeutung.5 Die Geschichte der »Lebenden Statuen« im 20. Jahrhundert wird heute als Teil der PerformanceKunst jedoch eher am Rande thematisiert. Diese Schauspieltechnik wird damit einer Kunstform zugeordnet , die die Trennung von KünstlerInnen und Kunstwerk aufheben will und situations- und damit ausdrücklich Raum-Zeit-bezogen Darbietungen inszeniert , die handlungsbetont und vergänglich angelegt sind. Als Ausschnitt populärer Kultur und Unterhaltung und unter kulturwissenschaftlichem Blickwinkel allerdings ist diese Straßenkunst bislang kaum Gegenstand von systematischen Untersuchungen. Dabei könnten sich durchaus interessante historische Linien ergeben , würde man diese Form des Körpertheaters und der Pantomime zum Beispiel in Hinblick auf Traditionen , wie sie im ( W iener ) Volkstheater eine Rolle gespielt haben , in den Blick nehmen. Aber auch international wirksame Strömungen wären auf ihren Einfluss hin zu untersuchen.6 Lohnenswert wäre eine solche historisch ausgerichtete Untersuchung ( die hier nicht geleistet werden kann ) auch deshalb , weil sich mittlerweile diese temporäre Kunst in öffentlichen Räumen und in Städten zum festen Bestandteil der diversen Straßenkünste entwickeln konnte. Als solche wurde sie nicht nur erfolgreich professionalisiert , sondern gleichzeitig auch als Feld 2 3 4 5 6

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Vgl. ebd. , S. 23 , und Stonus ( 2010 ): Die Galerie lebender Bilder. Vgl. Reissberger ( 1989 ): Lebende Bilder ; vgl. auch Reissberger ( 2002 ): Die »Sprache«. Hoffmannsthal , zitiert nach Reissberger ( 1994 ): Das Lebende Bild , S. 16. Vgl. Laubenheimer ( 1993 ): Lebende Skulpturen , S. 8–16. Vgl. Heiss ( 1969 ): Die Pantomime.

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der Freizeitkunst entdeckt.7 Nicht von ungefähr findet sich auf der sich als satirisch und humoristisch verstehenden Internetseite »Stupidedia« ein Eintrag , der »Lebende Statuen« als das sozusagen geringere Übel neben den allgegenwärtigen peruanischen Musikanten – und vielen anderen – aufführt.8

Inszenierungen des Statuarischen »Lebende Statuen« ziehen unter anderem dadurch im städtischen Raum Aufmerksamkeit auf sich , dass sie sich in unterschiedlicher Weise als Skulpturen inszenieren. Neben verschiedenen Bewegungen und Gesten sowie dem erhöhten Stehen auf einem Podest haben Kostüm und Schminke einen entscheidenden Anteil an der Verkörperung verschiedener Typen und gleichzeitig an der Entkörperlichung der DarstellerInnen durch den möglichst stilechten Versuch  , Statuen zu imitieren. Der Aufwand , den die ProtagonistInnen mit ihren Kostümierungen betreiben , ist durchaus unterschiedlich. Gleichzeitig zu sehen waren da : ein Weihnachtsmann mit langem weißen Bart  ; eine Figur ganz in Silber , mit einer Schiebermütze , Schal , Maske , Schuhen ; ein Mann mit weißem Bart in eiAbb. 2 : Wie hier auf dem Graben in Wien pränem langen schwarzen Mantel , mit gen Denkmäler den städtischen Raum und großem  , schwarzem Hut  , grünen gehören zum Repertoire des (touristischen) Handschuhen  , aufgestützt auf eiFotografierens nen Stock ; ein Engel mit einer weiFoto: Charlotte Räuchle 7 8

Vgl. etwa der Wettbewerb unter www.lebendige-statuen.de (0 1. 02. 13 ), der sich an interessierte Laien richtet. »Sie sind aus keinem Stadtbild mehr weg zu denken : die lebenden Statuen. Mehr oder weniger kunstvoll gekleidet stehen diese Hartz IV Empfänger in den Innenstädten und belästigen die Passanten durch ihre pure Existenz. Im Vergleich zu russischen oder peruanischen Musikanten , die neben einer optischen Belästigung auch immer eine akustische sind , heben sich die auch Living Dolls genannten Stillsteher vergleichsweise angenehm ab« ( http://www.stupidedia.org/stupi/Lebende_Statue , 31. 01. 13 ).

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ßen Lockenhaar-Perücke , kleinen Flügeln , in einem wallenden Gewand , das über das Podest , auf dem der Darsteller stand , hinabreichte. Als Pärchen unter einem gemeinsamen Motto auftretende Personen stimmten ihre Kostümierung genau aufeinander ab. Häufig waren auch historische Anleihen zu beobachten : zum Beispiel Männer mit weißen Langhaarperücken und in roten Fräcken mit Goldbesatz , einige Frauen in langen Kleidern über Reifröcken und mit großen Hüten. Besonders diese Kostüme lassen sich als Beitrag zur Inszenierung eines nostalgischen Wien-Bildes  – zum Beispiel als »Mozart-« oder »Kaiserstadt« – deuten. Solche Verkleidungen ähneln denen jener Personen , die in der Wiener Innenstadt TouristInnen Karten für Konzerte , Opern- oder Theateraufführungen anbieten. Gemeinsam war allen Figuren die Verwandlung des Gesichts , entweder mit Schminke , die jeden Zentimeter Haut bedeckte , oder mit Masken. Besonders die Masken irritieren bis zu einem gewissen Grad die direkte Kommunika­tion , weil sie den Ausdruck des Gesichts überlagern und das Figurenhafte betonen. Ich versuchte zu unterscheiden , ob ältere oder jüngere Leute für bestimmte Motivgruppen posierten , doch ließ sich das Alter einiger DarstellerInnen durch die perfekten Kostümierungen kaum einschätzen. Immer wieder gab die Verkleidung Anlass zu Gesprächen unter PassantInnen. So konnte ich mithören , wie ein Mann und eine Frau über die Darstellung zweier »Lebender Statuen« sprachen und erörterten , ob diese nun das »Altertum« oder die »Zukunft« symbolisieren sollten. Auch ich konnte anhand besagter Kostümierung keine bestimmte Figur erkennen , sie schien eher eigenwillig und fantastisch. Manche Kostümierungen sind also in ihrer Zeichenhaftigkeit nicht eindeutig , sondern können unterschiedlich verstanden werden. Es gibt sowohl ein festes Repertoire als auch individuell entwickelte Variationen. Der Akt des Sich-Verkleidens und die Verwandlung von der Person in die Rolle der »Lebenden Statue« scheint besonders dann Interesse zu erregen , wenn dieser Akt sichtbar , in der Nähe zur oder sogar auf der Vorderbühne des Stadtraumes vollzogen wird. So schilderte Gregor , dass ihn viele Leute bei seiner Verwandlung beobachteten. Er schminke sich und ziehe sich immer an der Ecke des Stephansplatzes beim »Café Aida« um und sei dabei schon mehrmals fotografiert und gefilmt worden , sogar von einem Fernsehteam. In der warmen Jahreszeit steht die aufwendige und zum Teil winterlich anmutende Kostümierung in besonders starkem Kontrast zu den sommerlich leicht bekleideten PassantInnen und ist damit auch Teil der Inszenierung. Das Verharren in der Pose , in Kostüm und Schminke wurde von meinen GesprächspartnerInnen Gregor und Maria als besonders anstrengend beschrieben. Diese Anstrengung wurde in den heißen Augusttagen , in denen ich mit ihnen sprach , körperlich-sinnlich spürbar. Die Hitze staute sich zwischen den steinernen Häuserzeilen und Maria spendete sich mit ihrem Fächer immer wieder Luft.

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Sie erzählte , dass sie fast immer müde sei und Rückenschmerzen habe , gleichzeitig müsse sie aber lächeln und fröhlich erscheinen , um die Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Gregor sprach davon , dass er am Anfang gänzlich still gestanden habe , jetzt aber bewege er sich immer ein wenig , so sei die starre Haltung leichter zu ertragen. Er könne inzwischen immerhin dreieinhalb Stunden ohne Pause stehen. Gregor und Maria beschrieben ihre Inszenierungen als harte körperliche Arbeit , die Ausdauer und Disziplin erfordere.

Statik und Dynamik Bei einem großen Teil der Inszenierungen »Lebender Statuen« konnte ich dynamische Elemente in den kurzen Phasen der Bewegung der Einzelnen beobachten , aber auch in der Wahl von Motiven. So inszenierte ein Pärchen in goldfarbener Kostümierung eine Autoreise um 1900 : Sie saßen auf zwei Koffern , ein dritter mit der Aufschrift »Vienna« stand vor ihnen. Auf dem Kopf trug er eine altmodische Motorradkappe , darunter einen Schal , der im Wind stand , in der Hand ein Auto-Lenkrad mit einer Hupe. Die Frau hielt in der rechten Hand einen aufgespannten Schirm , in der linken einen Fächer. Beide trugen Handschuhe und hatten ihre Augen in den goldglänzend geschminkten Gesichtern geschlossen. Rings um die Inszenierung der beiden herrschte Hektik und Bewegung , einige PassantInnen blieben dennoch stehen. Eine Frau wandte sich an ihren männlichen Begleiter : »Aber wie kann man nur so lange stehen ? Das ist mir ein Rätsel.« Das Stillstehen war es , das zu kleineren Diskussionen führte : »Die sehen ja echt aus wie Statuen. Die bewegen sich ja keinen Millimeter. Ich glaube , das funktioniert aber auch nur , weil sie die Augen geschlossen haben.« Bewegungslose Inszenierungen fordern besonders Kinder und Jugendliche heraus. Einige versuchten zum Beispiel , einen Darsteller in einem historischen Kostüm – mit Anleihen an das Wien Ende des 18. Jahrhunderts – zu ärgern und aus der Reserve zu locken , indem sie immer wieder an den Darsteller herantraten und mit den Händen ganz nah vor seinem Gesicht winkten. Gerade das NichtHandeln und die Bewegungslosigkeit in starrer Pose , die im Gegensatz zu der sich in permanentem Fluss befindlichen Umwelt steht , ließ Menschen mit Verwunderung , Neugierde , aber auch Provokationen reagieren. Eine Inszenierung wie die der frühen Automobilisten veranschaulicht das Spannungsfeld zwischen Statik und Dynamik , das die Darstellung von »Lebenden Statuen« insgesamt kennzeichnet. Diese Spannung wird durch die Motivwahl gezielt aufgegriffen und verstärkt : Das Paar bedient sich des Motivs des Autofahrens als Sinnbild für die dynamische Gesellschaft und übersetzt dieses in eine Inszenierung in der Wiener Fußgängerzone. Dieses Spannungsfeld

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zeigt sich nicht nur an den dargestellten Sujets. Auch auf anderer , etwa der begrifflichen Ebene wird mit dieser Gleichzeitigkeit gespielt. Versteht man unter einer Statue eine Figur oder ein Standbild aus einem dauerhaften Material , so steht dazu die ephemere Form der Darstellung durch den lebendigen Körper in Widerspruch.9 Gleichzeitig wird gerade über die Dimension der körperlichen Oberfläche Statuenähnliches erfolgreich in Szene gesetzt : Viele DarstellerInnen tragen silbrige oder goldfarbene Kostüme und schminken ihre Gesichter entsprechend.10 Die Körper werden zur glänzenden Oberfläche. Nur vor dem Hintergrund bestimmter Sehgewohnheiten können »Lebende Statuen« als nahezu unbewegt erscheinen , im Kontext der Großstadt , des bewegten Geschehens auf dem Stephansplatz und in dessen unmittel­ barer Umgebung kommt ihnen eine besondere Qualität zu : Sie bilden in ihrer scheinbaren Statik einen irritierenden Gegenpol zu Hektik , zu Ruhe- und Rastlosigkeit , die geradezu »als Imperativ – [ a ls ] die Ideologie der Stadt , die Aufenthaltsberechtigung der Menschen in der Stadt«11 angesehen werden können. Damit stellen sie sich gegen die vielfach beschworenen »Bilder der Bewegung , der Dynamik«, die zu »Signaturen des städtischen Daseins«12 geworden sind. Besonders fallen die Momente der bewusst langsamen Bewegungen auf , die die DarstellerInnen in ihre Inszenierungen aufnehmen. So beobachtete ich eine weitere Paar-Szene : Eine Frau saß , sie hatte die Hände in den Schoß gelegt , der Partner stand neben ihr und hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt. Beide trugen ein silbriges Kostüm mit ausladenden , mittelalterlich anmutenden Kappen und Halskrausen. Ihre Gesichter waren silbrig geschminkt. Vor beiden Personen stand auf dem Boden jeweils ein silberfarbenes Schälchen. Es dauerte eine Weile , bis ich die Logik ihrer Bewegungsabläufe verstand : Wenn eine Münze in das Schüsselchen fiel , verbeugte sie sich und kreuzte dabei die Arme vor der Brust , wenn etwas in seines fiel , verbeugte er sich und legte dann wieder seine rechte Hand auf ihre linke Schulter – in abgezirkelten langsamen Bewegungen , »that are quiet and hard to discover , motions that are so slow that they hardly appear at all as motions , and instead seem to be solid or even invisible«.13 9

Vgl. Laubenheimer ( 1993 ): Lebende Skulpturen , S. 7. Jooss weist jedoch mit Bezug auf »Lebende Bilder« hin , dass mit ›lebend‹ »vielmehr die Umkehrung von ›tot‹ gemeint ist. ›Leben‹ ist in diesem Zusammenhang weniger als Aktivität oder Alltag im gesellschaftlichen Sinne zu verstehen , sondern vielmehr  – geradezu im biologischen Sinne – als Belebtheit , als Lebendigsein im Gegensatz zum Unbelebten.« Jooss ( 1999 ): Lebende Bilder , S. 19. 10 Vgl. Janecke ( 2006 ): Gesichter auftragen , S. 9–44. 11 Rolshoven ( 2000 ): Übergänge , S. 118. 12 Fleischhack ( 2005 ): Urbane Bewegungsgeographien , S. 17. 13 Jönsson ( 2006 ): Slow Motion , S. 78.

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Inszenierungen der Begegnung Die sparsamen Bewegungen der DarstellerInnen dienen , wie oben bereits angedeutet , zwar auch der körper­ lichen Entlastung , vor allem aber der Wirkung auf und Interaktion mit PassantInnen. Die einen lockten mit einem Blinzeln der Augen im geschminkten Gesicht , die anderen deu­teten die Geste des Fotografierens an , indem sie vor den Augen mit Daumen und Zeigefingern ein Rechteck bildeten. Die ZuschauerInnen reagierten , indem sie Fotos machten , Geld gaben , aber auch untereinander ein Gespräch begannen. Diejenigen PassantInnen , die Geld in die Schüsselchen warfen , mussten den sich um die »Lebenden Statuen« bildenden Kreis der ZuschauerInAbb. 3 : In der Fotografie wird die komplexe nen verlassen und sich auf die DarDarstellung der »Lebenden Statue« eindimensional stellerInnen zubewegen und für alFoto: Charlotte Räuchle le offensichtlich in eine Interaktion mit den DarstellerInnen treten. Auf die Geldspende reagierten diese mit unterschiedlichen Aktionen. Jenes Pärchen , das die Autofahrt inszenierte , hielt zum Beispiel die meiste Zeit die Augen geschlossen. Wenn der Mann und die Frau jedoch Geld in das Schälchen vor ihnen fallen hörten , hupte der Mann , die Frau winkte und die beiden rutschten auf den Koffern , auf denen sie saßen , auseinander , damit der oder die GeldgeberIn sich für ein Foto zwischen sie setzen konnte. Performance-Kunst  – und dazu würde ich die Darstellungsform »Lebende Statuen« zählen  – , die von Künstlerinnen wie Colette etwa 1978 eingesetzt wurde , um gängige Repräsentationen von Weiblichkeit zu kritisieren , verhandelt unter anderem das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt neu :14 KünstlerInnen schaffen keine von ihnen ablösbaren Werke , sondern sind Teil der Performanz als »ritualisierte öffentliche Aufführung«15. Diese Performanz ist »Resultat

14 Vgl. Laubenheimer ( 1993 ): Lebende Skulpturen , S. 44. 15 Fischer-Lichte ( 2004 ): Ästhetik , S. 41.

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der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern«16 , die sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden. Egal wie man »Lebende Statuen« im Einzelnen interpretiert , ob als Aufführung oder als Komposition , charakteristisch scheint zunächst die Nicht-Beziehung zwischen DarstellerInnen und PassantInnen. Bei genauerer Beobachtung wird deutlich , dass diese Inszenierungen mit minimalen Bewegungsabläufen dadurch Aufmerksamkeit erregen , dass sie gerade nicht den erwarteten Routinen in der Innenstadt entsprechen , sondern diese eher stören. Denn die DarstellerInnen positionieren sich zen­tral , in einem von FußgängerInnen oder PassantInnen zum Transit genutzten Raum – sie stehen geradezu »im Weg«. Die ZuschauerInnen werden ihrerseits zu AkteurInnen , indem sie sich für eine kurze Zeit auf die »Lebenden Statuen« einlassen , sie beobachten , auf sie reagieren. Auf diese Weise kommen immer wieder situationsbezogen unterschiedliche Interaktionen zwischen PassantInnen und DarstellerInnen zustande.

Fotografieren als Interaktion Das ( touristische ) Fotografieren ist ein zentrales Moment in der Interaktion zwischen PassantInnen und »Lebenden Statuen« und erweist sich einmal mehr als zentrale Kulturtechnik. So schilderte Gregor zum Beispiel folgende Begegnung : Ein Mann aus Pakistan sei zu ihm gekommen und habe erzählt , dass er schon einmal vor zwei Jahren in Wien gewesen sei. Jetzt stehe ein Foto von Gregor als »Lebende Statue« in seiner Küche in Pakistan und erinnere ihn immer an den Besuch in Wien. Ein anderer Mann sei zu ihm gekommen und habe ihm , Gregor , Geld gebracht , weil er vor einigen Tagen ein Foto gemacht und nicht gezahlt habe. Maria erzählte von anderen Erfahrungen. So fragte sie sich in unseren Gesprächen , warum PassantInnen nicht zahlten , wenn sie ein Foto machten : Sie würden doch auch für schöne Kleider oder Ähnliches bezahlen. Sie berichtete von einer Begegnung mit dem Journalisten einer Wiener Zeitung , die für eine Ausgabe ein Foto von ihr abdrucken wollte. Der Fotograf habe nach der Bezahlung für das Foto gefragt. Sie habe es ihm überlassen und dann prompt gar kein Geld bekommen. Das Posieren für Fotos ist ein zentrales Moment der Inszenierung als »Lebende Statue«. Entsprechend zielen viele der Gesten , mit denen »Lebende Statuen« zur Interaktion auffordern , darauf ab , PassantInnen für ein Foto zu interessieren. Diese Bilder gleichen jenen , wie sie von Einzelnen oder auch von Gruppen etwa vor oder neben dem goldfarbenen Johann-Strauß-Denkmal im Wiener Stadtpark oder dem Mozart-Denkmal im Burggarten gemacht werden. Sie stehen im Kontext jener touristischen Praktiken des Fotografierens , in 16 Ebd. , S. 47.

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der vor allem das Statische und weniger das Temporäre der Stadt festgehalten wird : Architekturen , Denkmäler und eben auch »Lebende Statuen«. Gerade auch dieses Fotografieren zeugt wieder von den Ambivalenzen dieser Inszenierungen der »Lebenden Statuen« durch die Synthese von »leblosem und lebendem Material«17. Ein Foto mit einer »Lebenden Statue« kann für beides stehen : für das Konkrete einer Begegnung und einer ganz persönlichen Erinnerung wie auch für das Typische , das man dem Bestand an Wienklischees hinzufügt.

Abb. 4 : Die Künstlerin Colette bot sich 1978 in einer Performance als »Lebende Statue« in einem Schaufenster zum Verkauf an. Damit hinterfragte sie die Idealisierung von Weiblichkeit in gesellschaft­ lichen Formen der Repräsentation Foto: Charlotte Räuchle

Regularien und Verhandlungen Die oben beschriebenen Interaktionen zwischen PassantInnen und Darsteller­ Innen finden nicht in einem konfliktfreien Kontext statt. Vielmehr sind deren Inszenierungen und diese spezifische Form der Erwerbstätigkeit in der Stadt Gegenstand permanenter Aushandlung , in deren Zentrum die Auseinandersetzung darum steht , wer über den innerstädtischen Raum bestimmt.18 Dies wurde in konkreten Begegnungen auf dem Stephansplatz deutlich. So konnte ich einmal beobachten , wie hinter der Stelle , an der Gregor seine kleine Bühne aufbauen wollte , schon ein Zelt errichtet worden war , vor dem Personen 17 Laubenheimer ( 1993 ): Lebende Skulpturen , S. 7. 18 Vgl. Krebs ( 2001 ): Platzverweis , S. 11–24.

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Flyer an PassantInnen verteilten. Als wir beide – er schon verkleidet und geschminkt – davor standen und uns unterhielten , traten zwei Polizisten auf uns zu und wiesen ihn darauf hin , dass dies heute ein schlechter Platz sei : »Das ( der eine von beiden zeigte auf das Zelt ) ist eine angemeldete Veranstaltung. 25 Meter Abstand in alle Richtungen.« Ein Blick in die 2009 gültige Version der »Straßenkunstverordnung« zeigt , dass die Ausübung urbaner Straßenkunst in Wien bis ins Detail bürokratisch geregelt ist.19 Danach müssen StraßenkünstlerInnen ihren Standort so wählen , dass sie Abstand zu anderen Gruppen und deren Versammlungen einhalten. Daneben gelten für alle StraßenkünstlerInnen  – mit Ausnahme der MusikerInnen  – festgelegte ( Betriebs-)Zeiten : Sie dürfen auf definierten Plätzen und Straßen nur zwischen 13 und 22 Uhr auftreten und müssen ihren Platz spätestens nach einer Stunde wechseln. Über das Thema Straßenkunst führen verschiedene Akteursgruppen seit einigen Jahren heftige Diskussionen. 2007 etwa titelte »Die Presse«: »Als Straßenkünstler in der Innenstadt hat man in etwa das Standing einer Punschhütte : Die einen sind begeistert ( Besucher ), die anderen genervt ( Bewohner ). Und zwar jeweils sehr.«20 In der Bezirkszeitung des 1. Bezirks wurde davon berichtet , AnwohnerInnen und Geschäftsleute , aber auch die Bezirkschefin Ursula Stenzel ( ÖVP ) forderten eine strikte Beschränkung der Straßenkunst mit kulturpolitisch aufschlussreichen Argumenten : »Bei den Straßenkünstlern , die sich im Frühjahr wieder auf dem Stephansplatz , dem Graben und in der Kärntner Straße einfinden , ist die künstlerische Qualität mehr als fraglich. Hier handelt es sich zumeist um versteckte Bettelei.«21 Der Stephansplatz sei »schon zum Jahrmarkt verkommen«22 . Demgegenüber wurde Marco Schreuder vom Gemeinderat der Grünen zitiert : » ›Bezirksvorsteherin Stenzel will ein Museum ohne Bewegung aus der Innenstadt machen‹ [ … ] Straßenkünstler seien seit jeher Teil der Stadtkultur , so Schreuder. ›Wir verweigern uns aber auch nicht einem Gespräch , wenn es erwünscht ist‹, gibt sich der Gemeinderat kompromissbereit.«23 Die Ablehnung der KünstlerInnen durch AnwohnerInnen und Geschäftsleute scheint nicht eindeutig zu sein ; ein konsequentes Verbot , so die Berichterstatter , wolle offensichtlich niemand : Es sei sogar gut »für das Geschäft , wenn die Leu-

19 Vgl. Magistrat der Stadt Wien ( 1998 ): Verordnung. Seit 2012 regelt eine aktualisierte Fassung die Ausübung der Straßenkunst in Wien ( http://www.wien.gv.at/recht/ landesrecht-wien/rechtsvorschriften/pdf/i5800700.pdf  , 29.  01.  13  ). Da ich meine Forschungen jedoch im Sommer 2009 durchgeführt habe , halte ich mich an die damals gültige Fassung. 20 Marits ( 2007 ): Die City. 21 Bezirkszeitung für den 1. Bezirk. 22 wienweb.at ( 05. 10. 2010 ). 23 Bezirkszeitung für den 1. Bezirk.

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te stehen bleiben und mehr Zeit am Stephansplatz verbringen«24 , so die Besitzerin eines Souvenir-Geschäfts. Im Übrigen geraten die DarstellerInnen der »Lebenden Statuen« nicht so stark in die Kritik wie etwa MusikerInnen , Break­ dancer­Innen und JongleurInnen. Ihre vermeintliche ›Unauffälligkeit‹ mag dazu bei­tragen , dass sie von AnwohnerInnen und Geschäftsleuten eher toleriert werden. Schlag­zeilen machte dagegen der Diabolokünstler Abraham Till , Künstler­ name »El Diabolero«, der wegen »Gefährdung von Passanten und An­rainern«25 angezeigt worden war : Seine Hochwürfe von Gummidiabolos sollen ein Risiko für ZuschauerInnen dargestellt haben. Auf seiner Facebook-Seite »El Dia­bo­lero Solidarity Point« sind die Strafanzeige gegen ihn , die polizeilichen Beweis­fotos und seine Rechtfertigung dokumentiert.26

Arbeitsplatz und Kunstraum

Abb. 5 : Die Bewegung der PassantInnen wird zur Kulisse, vor der die Darstellung der ­»Lebenden Statuen« erst funktionieren kann Foto: Charlotte Räuchle 24 25 26 27

In den Diskussionen um die Einordnung , Bewertung und damit auch Beschränkung von Straßenkunst schwingt die Exklusion bestimmter sozialer Gruppen aus dem öffent­ lichen Raum der Stadt mit , etwa wenn die Bezirkschefin auf »versteckte Bettelei« verweist.27 Für Gregor und Maria dagegen ist die Inszenierung von »Lebenden Statuen« in der Innenstadt eine legitime , wenn auch prekäre Form des Gelderwerbs. Sie begründeten diese Erwerbsarbeit unterschiedlich. Maria berichtete , dass sie aus der Slowakei komme und dort auch wohne. Sie habe zwei Kinder  – das eine schon erwachsen und das andere fünf Jahre alt – und verdiene das Geld in Wien , um den

Zitiert nach Kahla ( 2008 ): Kunstkonflikt. Sommer ( 2010 ): Für eine City. Till ( 2010 ): El Diabolero. Mit der Ausübung von Straßenkunst in Wien als spezifische städtische Erwerbsweise beschäftigt sich Kveta Schubertova in ihrem Film »Straßenkunst. Kunst zum Überleben«. Sie dokumentiert Roma , die in Wien arbeiten. Sie geht auch der Frage nach , inwiefern die KünstlerInnen noch heute in Europa der Diskriminierung ausgesetzt sind. Vgl. Schubertova ( 2007 ): Straßenkunst ; vgl. auch Neuhaus ( 2008 ): Das Ende.

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Lebensunterhalt zu Hause bestreiten zu können. Dort habe sie auch ein richtiges Zimmer ; in Wien schlafe sie momentan nachts auf der Straße und tue sich dabei mit anderen zusammen : »Allein ist es zu gefährlich.« Sie esse häufig auf dem Karlsplatz , wo die Caritas Suppe ausschenkt. Ihre Arbeit als »Lebende Statue« habe sie schon durch viele verschiedene Städte und Länder geführt , zum Beispiel nach Venedig. Maria erzählte , sie arbeite normalerweise das ganze Jahr über und fertige die Kleider für ihre Kostümierung selbst. Gregor stammt auch aus der Slowakei , aus Bratislava , und hat dort sein ganzes Leben verbracht. Er hat drei Geschwister. Diese und seine Mutter seien , wie er meinte , nicht ganz »glücklich« darüber , dass er als Künstler in Wien stehe. Er habe Sonderpädagogik studiert , viele Jahre in einem Heim mit benachteiligten Kindern gearbeitet und dann in einem Programmkino ein kleines Buffet betreut , das aber wegen eines neuen Multiplex-Kinos habe schließen müssen. Seit 2003 arbeite er in Wien als »Lebende Statue«, jeden Tag zwischen Wien und Bratislava pendelnd. Maria und Gregor positionierten sich gegenüber ihrer Tätigkeit als StraßenkünstlerIn unterschiedlich. Maria verstand sich als »Künstlerin«, die mit den Auftritten auf der Straße ihr Geld verdiente und den PassantInnen »etwas Schönes« bieten wolle , damit aber nicht die entsprechende Anerkennung finde : Sie fühle sich nicht als Bettlerin , manchmal aber trotzdem so klein und unbedeutend wie ein »Staubkorn«, wenn sie in der Wiener Innenstadt sitze. Gregor dagegen stellte für sich infrage , ob seine Inszenierungen überhaupt mit dem Begriff »Lebende Statue« bezeichnet werden könnten. Am Anfang seiner Tätigkeit habe er wirklich nur still gestanden , aber jetzt bewege er sich und sei eher ein »Clown«. So mache die Arbeit viel mehr Spaß und sei auch körperlich leichter zu ertragen. Er komme zirka drei- bis viermal in der Woche nach Wien , eigentlich immer am Wochenende und das ganze Jahr über. Mit der Arbeit im Sommer könne man nicht genug verdienen , um davon den Rest des Jahres zu leben. Angesichts der Vielzahl von DarstellerInnen beschäftigten sich beide auch mit der zunehmenden Konkurrenz. So hatte zum Beispiel Maria eine sehr klare Meinung über andere DarstellerInnen in der Wiener Innenstadt und die Qualität von deren Inszenierungen. Gregor warf ein , dass mit der Öffnung der EUGrenzen immer mehr Personen aus dem Südosten Europas nach Wien kämen , und da sie hier viel stehlen würden , hätte sich auch die Polizeipräsenz in der Innenstadt erhöht : Die prekäre Lebenssituation beider verband sich mit Ressentiments und Typisierungen gegenüber anderen in einer ähnlichen Situation. Für beide spielten auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Städten im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen für einen gelungenen Auftritt eine Rolle. In manchen Städten würde ihre Arbeit deutlich strenger durch das Ordnungsamt geregelt. In Gregors Einschätzung ist die österreichische Hauptstadt ein guter Standort. Aus Prag habe er gehört , dass es dort eine Art Mafia gebe und dass »Lebende Statuen« für ihre Plätze bezahlen müssten.

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»Lebende Statuen« als Teil des Stadtbildes Gregors Vergleich verweist auf ein zentrales Moment dieser Form von Straßenkunst und Gelderwerb. »Lebende Statuen« sind heute aus den Städten und deren durch den Tourismus deutlich geprägten Räumen nicht mehr wegzudenken. Auch PassantInnen , die ich ansprach , wussten von »Lebenden Statuen« zum Beispiel in Bratislava oder München zu berichten. Gregor hatte sich längst auf die vielfältige Klientel eingestellt. Er könne , so erzählte er , in 25 Sprachen sagen : »Hallo , woher kommst du , wie ist dein Name , was gibt’s Neues , wohin gehst du ?« Die Leute würden sich dann immer freuen. So lerne er auch neue Vokabeln und Ausdrücke. Er sei schon mehrmals von ausländischen Medien für Dokumentationen über Wien gefilmt worden. Über die Kulturtechniken des Fotografierens und Filmens gehen diese Inszenierungen in die jeweiligen Bildbestände der Reisenden ebenso wie der Städte selbst ein. »Lebende Statuen« sind damit auch selbstverständlicher Teil des Bildprogrammes des Stadtmarketings , ihnen wird Werbewirksamkeit zugesprochen. So wird etwa auf den offiziellen Seiten der Stadt Wien Marco Schreuder von den Wiener Grünen zitiert : Danach gehören StraßenkünstlerInnen zum städtischen Leben. Sie seien Attraktionen , »touristisch wertvoll« und in Städten wie Barcelona oder Amsterdam nicht mehr wegzudenken.28 Ob allerdings den in Wien beobachteten , stark an historische Muster angelehnten Inszenierungen tatsächlich ein spezifischer Wiederkennungswert im Sinne des Wiener Stadtmarketings zukommt , muss hier aufgrund fehlender Vergleichsbeispiele aus anderen Städten dahingestellt bleiben , darf aber immerhin infrage gestellt werden. Nicht nur in Wien gehört die Darstellungsform der »Lebenden Statuen« zum Stadtbild. Die Perspektive der kommunalen Politik und der Geschäftswelt , der StadtbewohnerInnen , aber auch der TouristInnen auf diese Variante der Straßenkunst zwischen Kunst und Arbeit , zwischen Störung und Bereicherung variiert. Die Ausgangslage derer , die als StraßenkünstlerIn in einer städtischen Kernzone wie der Kärntner Straße und dem Graben in Wien tätig sind , ist somit keineswegs eindeutig und unterscheidet sich je nach Konstellationen und Koalitionen. Gerade das macht das Phänomen für die kulturwissenschaftliche Stadtforschung so interessant. Ich konnte hier nur einige wenige Aspekte und Fragen anreißen , sie mögen als Anregung für weiter gehende Forschungen dienen.

28 Schreuder , zitiert nach http://www.wien.gv.at/rk/msg/2010/0423/012.html ( 29. 01. 13 ).

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Lebende Statuen auf dem Stephansplatz

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Monika Hönig

IM LIFT BEWEGUNGEN IN EINER STÄDTISCHEN VERTIK ALEN »Man muß behutsamer vorgehen , fast naiv. Sich zwingen , das zu schreiben , was ohne Bedeutung ist , was das Selbstverständlichste , das Allgemeinste , das Glanzloseste ist. [ … ] [ ohne es zu wollen , fällt einem nur das Ungewöhnliche , das Besondere , das hundsgemein Außerordentliche auf : genau das Gegenteil müßte man tun ]. Weitermachen. Bis der Ort unwahrscheinlich wird [ … ].«1

Der Fahrstuhl als Ort , als mobiler Gegenstand , bringt Personen von unten nach oben und von oben nach unten. Das ist allgemein bekannt und nichts Besonderes. Indem ich als Ethnographin den Fahrstuhl zum Thema mache , zum Gegenstand von Denken und Schreiben , wird er zu etwas Besonderem. Das hier ist ein Versuch. In meinem Annäherungsprozess an die Bedeutung des Fahrstuhls wird mir dieses scheinbar unauffällige und simple Artefakt fremd. Gewohnheiten werden ungewohnt , Wahrscheinlichkeiten unwahrscheinlich. Es stellen sich mir Fragen. Unter der manchmal glänzenden und manchmal auch glanzlosen Oberfläche des Fahrstuhls verbirgt sich mehr. Was ist dieses Mehr ? Den Fahrstuhl auf seine Funktion zu reduzieren , genügt für eine ethnographische Betrachtung nicht. Es gibt mehr als nur technische und mechanische Vorgänge unter der Fahrstuhloberfläche zu finden , mehr als ein Kabelgewirr , mehr als das Prinzip , nach dem ein Flaschenzug funktioniert. All das wurde installiert , um Personen vertikal zu befördern  – die Mobilität als Funktion einer Technologie , des Fahrstuhls. Doch wenn wir im alltäglichen Gebrauch über den Fahrstuhl sprechen , spielt nicht nur seine Technik eine Rolle. Bemerkenswert sind Gedanken und Kommentare , in welchen der Fahrstuhl wie eine Person angesprochen wird : ›Wenn ich weggehe , kommt er bestimmt !‹ Die Annahme , dass der Fahrstuhl verlässlich in dem Moment nahen würde , in dem wir uns für das Treppensteigen entschieden haben , unterstellt einem technischen Beförderungsmittel , dass es unser Näherkommen und Weggehen spürt und je nach Stimmungslage auf uns reagiert. Der Fahrstuhl wird mit Sinnen ausgestattet – und mit einem Eigensinn. Die Zuschreibung einer Verweigerungshaltung eines Artefakts sagt weniger über das Artefakt aus als über uns Nutzer. Dieses Zusammenspiel interessiert mich : Was macht den Raum , in dem scheinbar nichts Besonderes geschieht , zu einem besonderen Raum ? Wie wirkt er auf Personen und wie verändern Personen wiederum den Fahrstuhl ? Welche subjektiven Reaktionen  , Empfindungen und Imaginationen entstehen 1

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Perec ( 1994 ): Träume von Räumen , S. 64–68.

im Fahrstuhl und werden durch ihn hervorgerufen ? Welche sozialen Verhaltensmuster und technischen Abläufe lassen sich beobachten ? Mein Untersuchungsobjekt ist ein bestimmter Fahrstuhl. Er steht und fährt im Institut für Europäische Ethnologie in Wien. Diesen Lift habe ich selbst drei Jahre lang fast täglich zwischen Erdgeschoss , zweitem und viertem Stockwerk als funk­ tionales Beförderungsmittel verwendet. Es sind also Routinen , die mich den Lift haben benutzen lassen. Ich erinnere mich aber auch an die eine oder andere Situation , die aus diesen Routinen herausgefallen ist , beim gemeinsamen Warten etwa. Proportional zur Wartezeit stieg die Nervosität : ›Kommt er ?‹ Zuerst werde ich noch auf dem Boden und bei den Dingen bleiben. Dann geht es langsam nach oben. Mein Text bleibt im Gegensatz zur Fahrstuhlfahrt nach oben hin offen. Die Fahrstuhlfahrt endet mit dem vierten Stock. Dieser Text fährt nicht wie der Fahrstuhl zwischen Etagen , sondern bewegt sich zwischen zwei Ebenen : derjenigen der Ethnographie von Räumen , Vorgängen , Bewegungen und Begegnungen und derjenigen der konkreten oder auch nur gedanklichen Eingriffe in die Routinen des Fahrstuhlfahrens.

Eine Box in einem Raum Hinter der Eingangstür zum Gebäudetrakt in der Hanuschgasse , in dem das ­Institut untergebracht ist , erstreckt sich vor mir zuerst ein langer , schmaler Gang. An seinem linken Ende betrete ich durch eine Zwischentür einen weiteren , diesmal vertikalen Durchgangsraum. Er besteht aus zwei einander ergänzenden Räumen : dem Fahrstuhlschacht in der Mitte und dem Treppenhaus , welches um den Fahrstuhlschacht nach oben führt. ›Nehme ich die Treppe oder den Lift ?‹ Hier ist er also. Die Treppe kann ich sofort hochsteigen , auf den Lift muss ich länger warten. Doch sobald ich mich in ihm befinde , kann ich Strecken , vor allem große Höhenunterschiede schneller als über die Treppe zurücklegen. Während horizontale Wege in Großstädten zum Beispiel im Liniennetz der UBahn zurückgelegt werden , können vertikale Strecken im Transitkanal Aufzug bewältigt werden. Aufzugsanlagen gibt es besonders dort , wo sich Gebäude in die Vertikale ausdehnen. Je höher gebaut wird , umso schnellere Fahrstühle braucht es. Damit die Gebäudehöhe von Hochhäusern effizient genutzt wird und rentabel ist , muss sie in einer zumutbaren Zeitspanne erschließbar sein. Das gilt auch umgekehrt : Je schnellere Fahrstühle es gibt , umso höher kann gebaut werden. In New York und Chicago zum Beispiel sind Gebäudehöhe und Liftgeschwindigkeit zwischen 1850 und 1975 simultan gewachsen.2 Liftgeschwindigkeit und Gebäudehöhe stehen in einer engen Wechselbeziehung. Ab 2

Vgl. Simmen /  Drepper ( 1984 ): Der Fahrstuhl , S. 64.

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einer bestimmten Höhe ist der Fahrstuhl sogar Grundvoraussetzung für das weitere Wachstum der Stadt in die Vertikale.3

Abb. 1  : Lift und Treppenhaus Foto: Monika Hönig

Aber auch bei niedrigeren Gebäudehöhen werden in einem Fahrstuhl vertikale Strecken ohne Kraftaufwand überwunden. Die vier Stockwerke des Instituts fahre ich bequem im Lift. Der Lift erschließt die Höhe nicht unbedingt in einem kontinuierlichen Prinzip , die Abfolge der Stockwerke , in denen der Lift hält , kann sehr unterschiedlich sein. Die Gebäudehöhe kann in geschlossenen Fahrstühlen nicht so deutlich wahrgenommen werden wie in Treppenhäusern. Auf der Treppe gehe ich , im Fahrstuhl fahre ich. Das Beförderungsmittel macht immobile Personen und auch Dinge , Rollstühle , Kinderwagen mobil. Will ich körperliche Nähe zu anderen Personen vermeiden , bevorzuge ich die Treppe. In der Kabine des Fahrstuhls sind laut Angaben sechs Personen zugelassen , jedoch fast nie vorzufinden. Es ist außerdem nicht vorgesehen , Platz zu nehmen – es gibt keine Sitzgelegenheit , wie sie bisweilen noch in alten und luxuriöseren Fahrstuhlanlagen vorhanden ist. Auf der Treppe gäbe es eher noch die Möglichkeit , kurz zu verweilen. Die Geschwindigkeit wird hier nicht von der Technik vorgegeben , sondern vom eigenen Körper. Eine weitere Eigenschaft der Treppe : Ich könnte spontan meine Richtung ändern. Der Lift bestimmt meine Bewegung im Raum. Ich nehme den Lift. Um in diesen beweglichen Kasten zu gelangen , drücke ich den Knopf am äußeren Schachtzugang. Das ist für mich , obwohl das Einfachste , das Merkwürdigste beim Fahrstuhlfahren. Eine kleine Taste , die sich bewegen lässt , setzt Mechanismen in Gang : Eine Box , zuvor über oder unter dem Stockwerk , in welchem die Taste gedrückt wurde , setzt sich in Bewegung , fährt genau in das gewünschte Stockwerk. Die Interaktion zwischen Mensch und Maschi3

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Vgl. Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 8.

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ne lässt sich am Druckknopf am deutlichsten beobachten. Mit der Fingerkuppe betätigen wir den Druckknopf auf einer Schaltoberfläche , die Automatismen in Gang setzt. Beendet ist der Vorgang , wenn alle diese Automatismen durchlaufen sind. Die äußere brandsichere Schwenktür , die in jeder Etage den Schacht sichert , lässt sich erst aufziehen , wenn der Liftboden mit dem Etagenboden eine Ebene bildet und die innere Kabinentür des Lifts bereits offen steht. Sobald sich der Lift in Bewegung setzt , gibt es kein Zurück mehr. Er beengt und bringt seine Insassen für einen kurzen Moment in eine Isolation , die sie räumlich und zeitlich heraushebt aus ihrer Eile , Hektik , ihrem Alltag. Falls der Lift stecken bleibt , werden beförderungswillige Menschen eingesperrt und zu einer Zwangsgemeinschaft verbunden. Die Kabine zwingt durch ihre Enge und Geschlossenheit Fahrstuhlfahrende in eine intime Situation. Mein Körper wird ein klein wenig erschüttert , denn die Fahrt nach oben verläuft entgegen der Anziehungskraft der Erde und bringt den Gleichgewichtssinn durcheinander. Dieses mulmige Bauchgefühl , gepaart mit dem Misstrauen gegenüber dem Seil , der Angst vor dem Steckenbleiben , vor dem Fallen oder vor einem Brand wird verstärkt durch Hinweisschilder. An Schacht- und Kabinentüren sind rot gerahmte Warnungen »Aufzug im Brandfall nicht benutzen« angebracht. Die Box , knapp über zwei Meter hoch , ein Meter breit und ein Meter tief , bietet Raum für maximal sechs Personen und ist damit kleiner als viele andere ihrer Art. Die aus einer Silbe bestehende Bezeichnung Lift passt für dieses kompakte Vehikel besonders gut. Im Vergleich zu U-Bahn-Aufzügen ist dieser Lift nicht nur kleiner , er hat auch weniger Kapazität. Maximal 450 Kilogramm können laut Angaben des Herstellers gehoben werden. Ebenso wie das Wort ist die Zeit im Lift zwischen den vier Stockwerken kurz und knapp. Im Vergleich zu Aufzügen mit neuerem Herstellungsdatum fährt dieser Lift , Baujahr 1979 , in einem langsamen Tempo mit ruckartigen Bewegungen. Es gibt kein natürliches Licht im Aufzug. Gegenüber der Tür am oberen Ende eines Spiegels ist eine Neonröhre angebracht. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Schiebetüren der Kabine schimmert Licht von außen ins Innere. Das Wechselspiel von Licht und Schatten , die ruckartigen Bewegungen des Lifts und das Blinken des Druckknopfes machen die Fortbewegung wahrnehmbar. Türe , Druckknopftableau und Handlauf aus Edelstahl schimmern silbergrau. Die Wände aus Laminat sind matt graublau , der Boden aus Kunststoff ist gesprenkelt , farblich gedämpft. Zahlreiche Kratzspuren ziehen sich entlang der Schachttür. Die Innenverkleidung der Kabine wirkt nüchtern. Im Jahr 2013 firmieren Aufzüge verschiedener Designs des Herstellers Haushahn unter Begriffen wie »City«, »Forum«, »Foyer« und »Salon«4. Das Produkt 4 http://haushahn.at/fileadmin/templates/Downloads/SPKplusvario_Okt2011_ screen.pdf ( 6. 1. 2013 ).

Im Lift

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»Forum« wird beworben , indem die Ästhetik des Technischen betont wird : Dessen »kühle Eleganz moderner Technik« wird angepriesen , an anderer Stelle noch ausführlicher als »sachlich , edel und einen Hauch futuristisch«5 beschrieben. Der um Jahrzehnte ältere Lift in der Hanuschgasse mag einstmals ähnlich beschrieben worden sein , doch verweist heute Materialverschleiß vor allem auf die häufige , tägliche Nutzung. Routinen werden sichtbar an der Abnutzung der Knöpfe : Erdgeschoss , Stockwerk 3 und 4 wurden schon sehr oft gedrückt. Bei 1 und 2 dagegen ist das Schwarz der eingravierten Zeichen auf den Tasten noch deutlicher vorhanden.

In der Box: auf Knopfdruck Routinen Der Lift ist nicht zu trennen von seinem zentralen Element , den Druckknöpfen , mit denen sich das Liftsystem bedienen lässt. In jedem Stockwerk befinden sich Rufknöpfe , und in der Kabine gibt es ein Druckknopftableau. Hat sich die innere Teleskoptür der Kabine geöffnet , kann die äußere Schwenktür aufgezogen werden. Erst dann können die Knöpfe auf dem Tableau , welches an der linken Kabinenwand in Griffhöhe angebracht ist , bedient werden. Die Ordnung der Knöpfe auf dem Tableau lässt sich in einen unteren und in einen oberen Bereich einteilen : Im unteren Bereich ist der Alarmknopf ( erkennbar am Piktogramm einer Glocke ) und die Türöffnungstaste ( erkennbar an zwei auseinanderstrebenden Pfeilen ). Im oberen Bereich repräsentiert die Anordnung der Knöpfe die Ordnung der Gebäudearchitektur : K für Keller unten , E für Erdgeschoss aufbauend und in Folge die Ebenen 1 bis 4. Nur ganze Zahlen stehen für die Stockwerke , denn Zwischenstöcke gibt es nicht. Neben dem Institut sind noch andere Einrichtungen im Gebäude untergebracht. An der Armatur ist nicht ersichtlich , dass sich in diesem Gebäude neben öffentlichen Einrichtungen auch private Wohnungen befinden. Im Innenhof gibt es einen separat installierten Fahrstuhl. Mit diesem gelangen Mieter und Mieterinnen in ihre Privatwohnungen ins Dachgeschoss – eine der teuersten Wohnlagen Wiens. Dieser Fahrstuhl hat Glaswände , er ist mit Teppichboden ausgelegt , moderner , größer , luxuriöser. Er wurde als gesonderter Zugang für Privatpersonen errichtet. Damit manifestiert er deren Sonderstatus und Hie­ rarchien , die sich in der Vertikalen ausdrücken. Ein seltsamer Reiz geht von den Knöpfen aus. Sobald einer gedrückt ist , leuchtet die Umrandung rot und bietet durch die Farbe einen starken visuellen Reiz. Während der Fahrt blinkt dieses Quadrat , das Auge nimmt Bewegung 5 http://www.haushahn-gruppe.de/Assets/files/products/lifeLine/lifeLine_inet.pdf ( 6. 1. 2013 ).

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wahr. Kinder werden oft hochgehoben , weil sie die Knöpfe unbedingt drücken wollen. Faktoren , die die Druckknöpfe anziehend machen , sind zum Beispiel die Wahlmöglichkeit , die mehrere Knöpfe bieten ( früh wird jedoch antrainiert , dass es nur ein Ziel gibt ), die Neugierde und das Staunen über den Effekt des Drückens und die Souveränität , Autonomie und Fingerfertigkeit. ›Was passiert , wenn ich diesen Knopf drücke ? Wie lange muss ich welche Knöpfe wie fest drücken ?‹ Vor Ort , im Lift , wird eine zielgerichtete Handhabung gezeigt , gelernt und geübt. Die quadratischen Tasten sind ungefähr drei auf drei Zentimeter groß , im Grunde also überdimensioniert und können dadurch auch mit zittrigen Händen oder ohne genaues Hinsehen bedient werden. Es verlangt nur grobe motorische Fähigkeiten und wenig Überlegung , sie zu drücken. Im Zentrum der Tasten sind Zeichen schwarz und tief eingraviert. Die jeweilige Information auf der Taste ist visuell und materiell von der Umgebung abgehoben , so dass sie auch für Personen mit schwachen Augen , für Sehbehinderte , Blinde oder bei schwacher Beleuchtung identifizierbar ist. Der Sonderstatus des Alarmknopfes ( Glocke ) ist mit der Farbe Gelb deutlich hervorgehoben. Die glatte Oberfläche der Knöpfe schließt mit der Oberfläche des Tableaus nahezu bündig ab. Diese Druckknöpfe können also kaum versehentlich betätigt werden , etwa wenn sich jemand an die Kabinenwand lehnt. Egal ob mehrere Male gedrückt wird , lang oder kurz , schnell oder langsam , es passiert immer dasselbe : Tempo und Funk­t ion lassen sich dadurch nicht beeinflussen. Die Türen schließen , der Lift hebt ab. Der geheimnisvolle Ablauf unter der Oberfläche bleibt trotzdem und immer noch ungeklärt.6 »Nur der Druckknopf bleibt wie ein nach außen gestülpter Rest an der Oberfläche , und es scheint , als wäre er allein für das Spektakel der Bewegung verantwortlich.«7 Die einfachen Seil- , Handrad- oder Kurbelsteuerungen , die früher von Fahrstuhlführern bedient wurden , sind um 1900 von der Druckknopfsteuerung abgelöst worden. Die sichtbare Handbewegung des Erzeugens von Kraft wurde zu einer unsichtbaren Bewegung des Auslösens. Die Abläufe , die durch die Druckknopfsteuerung im Abstrakten liegen , befördern in dieser Zeit Phantasien vom Fahrstuhl als Wesen mit »eigenem Denkvermögen«8 und »unfehlbarem Raumsinn«9 , das aufgrund einer undurchschaubaren Logik weiß , in welche Richtung es fahren muss. Der 6

Vgl. zu den folgenden zwei Absätzen Bernards Exkurs : Kleine Psychologie des Druckknopfs , Bernard ( 2006 : ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 175–188. 7 Ebd. , S. 176. 8 Fürst ( 1927 ): Aufzüge , S. 82 , zitiert nach Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 175 f. 9 Ebd.

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Druckknopf verbirgt komplizierte Vorgänge und suggeriert Mühelosigkeit. »You press the button , we do the rest«, lautet ein mittlerweile berühmter Werbeslogan der Firma Kodak von 1888. Nicht nur beim Druckknopf im Fahrstuhl , sondern auch bei Auslösern von Foto­apparaten , Schusswaffen , Türklingeln usw. wurden technische Vorgänge um 1900 automatisiert. Dadurch tritt die Verantwortung des Nutzers und der Nutzerin zurück – das Knöpfedrücken ist universal und unspezifisch. Die positive Anziehungskraft der Knöpfe kann auch in Unbehagen umschlagen. Die Angst vor Missbrauch findet sich in Literatur und Film wieder. Der Mythos vom »Roten Knopf«10 als ein ultimativer Druckknopf , mit dem die Erde in einem Augenblick , durch bloßes Antippen atomar vernichtet werden kann , kursierte zur Zeit des Kalten Krieges. Dieser Mythos ist zum Beispiel im Video der Popgruppe Genesis aus den 1980er-Jahren Thema , in welchem ein Präsident aus Versehen den falschen Knopf drückt und damit einen Weltkrieg auslöst. Einmal in Gang gebracht , ist die übermächtige Wirkung der Maschinerie nicht mehr zu stoppen. Diese Bedrohungsszenarien lassen sich als Narrative verstehen , die auf die Entsinnlichung reagieren , die mit dem Wegfallen deutlich sichtbarer Formen der Steuerung und Mechanik – beim Lift der Handsteuerung , bei der ein Zusammenhang zwischen Energie und Wirkung noch anschaulich wurde – verbunden ist.

In der Box: Routinen des Blicks Einmal gedrückt , könnte der Druckknopf nun aus meinem Gesichtsfeld und aus diesem Text verschwinden. Doch er bleibt. Mit dem immer wieder zur Stockwerkanzeige zurückkehrenden Blick signalisieren Nutzer und Nutzerinnen sich selbst und Mitfahrenden , dass sie einen Bestimmungsort haben. Wir müssen zeigen , dass wir Orientierung , ein Ziel vor Augen haben.11 »Nichts braucht soviel Platz im Aufzug wie Blicke. Wo soll man sie nur abstellen : auf Boden , Decke , Fußspitzen , Fingernägeln , Taschen ?«12 Um beim zufälligen , selten erwünschten Zusammensein möglichst nicht wahrnehmbar zu sein , bietet sich der Blick auf die Stockwerkanzeige oder das Druckknopftableau an.13 So werden Nutzer zu rationalen Akteuren. Im Grunde ist es nicht möglich und doch wird das schwierige Unterfangen in Angriff genommen , sich gegenseitig nicht anzublicken , also möglichst nicht zu kommunizieren. Sich 10 11 12 13

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Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 185 f. Vgl. Goffman ( 1974 ): Das Individuum , S. 184 f. Hirschauer ( 1999 ): Die Praxis der Fremdheit , S. 232. Vgl. ebd. , S. 232 ff.

Monika Hönig

gleichzeitig zu taxieren wird vermieden. Wird der Blick neu ausgerichtet , soll das möglichst kollisionsfrei geschehen. Guckt jemand zu lange , wenden Mitfahrende manchmal demonstrativ den Blick ab. Im Lift gibt es zwar in der äußeren Schachttür ein rechteckiges , längliches Glasfenster , doch sobald die Kabinentür während der Fahrt geschlossen ist , stößt der umherschweifende Blick an der Kabinenwand auf eine Grenze. Der Blick wird nicht nur von der Wand , sondern auch von anderen Augenpaaren , die mit den eigenen aufeinandertreffen könnten , gebändigt und gebündelt. Es existiert ein »kulturelles Lotsensystem für die Navigation von Blicken«14. Der »Kabinenblick«15 ist eine urbane Wahrnehmungsform , ein kurzsichtiger , ins Nichts ( beziehungsweise auf die Stockwerkanzeige ) gerichteter und nicht kommunizierender Blick , und er wird , so der Soziologe Stefan Hirschauer , im Fahrstuhl eingeübt. Um Blickkontakt zu vermeiden , gibt es eine unbewusst erlernte visuelle Ordnung der Reisenden. Der Raum wird organisiert nach vertikalen und horizontalen Blickkorridoren. Diese werden flexibel je nach Zusteigenden und Aussteigenden , der eigenen Position und der Raumgröße immer wieder neu ausgerichtet. Würde also jemand zusteigen und sich direkt in meinem Blickkorridor positionieren , würde ich meinen Blick in eine andere Richtung lenken , um nicht aufdringlich zu wirken. Dennoch würde ich diese Person und deren Blickverhalten ganz unaufdringlich weiterhin beobachten und dabei so tun , als würde ich dies nicht tun. Im Lift des Instituts werden die Muster des Blickverhaltens durch einen Spiegel erweitert. Sind unbekannte Mitfahrende anwesend , wird der Blick in den Spiegel meist vermieden. Er geht dann eher in die entgegengesetzte Richtung , zum Ausgang hin. Sind Bekannte in der Kabine anwesend , wird schon auch in den Spiegel geschaut. Der Blick auf die Stockwerkanzeige ist im Vergleich zu neueren Aufzügen nicht ganz so attraktiv , weil die aktuellen Stockwerke während der Fahrt und die Fahrtrichtung nicht angezeigt werden. Nur der jeweils gedrückte Knopf leuchtet rot und blinkt , sobald der Lift im gewählten Stockwerk angekommen ist. Zusätzlich ist an der äußeren Schachttür am inneren Türgriff die Zahl des Stockwerkes angebracht. Dies ist nicht optimal , da man diese Zahl erst sieht , wenn der Lift schon zum Stehen gekommen ist und sich die innere Kabinentür geöffnet hat. So kann man in diesem geschlossenen Lift leichter als in anderen die Orientierung verlieren. Das kommt mir mit meinem Vorhaben der Intervention sehr entgegen. Zunächst werde ich konkret in die Routinen des Fahrstuhlfahrens eingreifen , danach gedanklich.

14 Ebd. , S. 232. 15 Ebd. , S. 234.

Im Lift

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Irritationen und Routinen Ein Experiment : Im dritten Stock steige ich aus , positioniere mich hier , um den Lift , sobald er wieder von unten kommen wird , abzupassen. Ich provoziere eine Situation jenseits von Routinen : Was passiert , wenn mehrere Personen gleichzeitig Druckknöpfe in verschiedenen Stockwerken betätigen ? Die Seile bewegen sich , es ist jetzt jemand eingestiegen. Ich drücke die Pfeiltaste , die nach oben zeigt. Unsinnig. Im dritten Stock stehe ich sonst nie , um ein Stockwerk nach oben in den vierten Stock hochzufahren. Ich durchkreuze meine eigene Routine. Der Lift kommt an , die Taste blinkt rot. Eine dunkelhaarige Studentin steigt aus , ins Handy sprechend : »[ … ] warte mal – Mist , jetzt bin ich falsch ausgestiegen.« Das sagt sie nicht zu mir. Sie kommt wieder in den Lift , in dem ich schon längst bin , redet weiter und fährt mit mir ins vierte Stockwerk. Der Druckknopf für unser Ziel war bereits von ihr gedrückt , er leuchtet immer noch rot und blinkt , sobald meine Fahrstuhlpartnerin ihr Ziel doch noch erreicht hat.

Abb. 2  : Treppengeländer und Stahlseile Foto: Monika Hönig

Die Studentin orientiert sich schnell um und unterbricht ihr Gespräch am Handy nicht. Mich und meine Handlung nimmt sie kaum wahr , sie verfolgt weiterhin ihr Ziel. Auch weitere Experimente ergeben , dass die Nutzer und Nutzerinnen darauf vertrauen , vom Lift in das von ihnen gewählte Stockwerk zu gelangen. Durch weitere Fahrgäste aus anderen Etagen von der eigenen Route abzukommen und einen ungewollten Stopp in einem anderen Stock-

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werk zu machen , führt zu Emotionen wie Amüsement , Belustigung , Heiterkeit , leichter Verärgerung und Überraschung. Die zielstrebige Entscheidung für ein Stockwerk wird durchkreuzt von anderen Nutzern und Nutzerinnen , denen es dank der Technik möglich ist , gleichzeitig andere Destinationen zu wählen. Der Fahrstuhl unterliegt also selten der Kontrolle nur einer Person , ohnehin ist die Kon­trollierbarkeit des Fahrstuhls auf die Möglichkeit des Knöpfedrückens beschränkt. Durch Wiederholungen verschwinden Handlungen ins Unbewusste , werden zu Routinen. Als die Druckknopfsteuerung aufkam , wurden neue Routinen entwickelt , die kleine , aber doch einschneidende Veränderungen im Alltag bedeuteten. Tief greifende technische Umwälzungen , insbesondere aber Krisen ermöglichen es , Routinen zu reflektieren und zu überdenken.16 Das konkrete Experiment verunsichert auch mich – eine andere , soziale Krise vor der Fahrstuhltür : Es ist unangenehm , im Gang zu warten , während alle anderen mit einem Ziel vor Augen hinauf- , hinunter- , vorbeigehen. Ich überspiele mein Untätigsein und suche nervös nach irgendeinem Ding in meiner Tasche , das ich nicht brauche , nehme mein Notizbuch heraus und stecke es sofort wieder hinein. Woher kommt mein Gefühl , dass es unangebracht ist , sich ohne konkretes Ziel vor dem Lift im Gang aufzuhalten ? Der Fahrstuhl macht seine Nutzer und Nutzerinnen zu zweckrationalen , zielstrebigen Individuen : »[ … ] kein Zögern , kein Verweilen , kein Schwatz im Treppenhaus. Wer einen Fahrstuhl nutzt , muss sein Ziel definitiv im Vorhinein kennen.«17

Temporäre Reservate im Transit Wird der Fahrstuhl als eine technische Einrichtung in Kastenform angesehen , mit der eine Fahrt in andere Räume möglich ist ? Ist er »Teil der Wohnung oder Teil der Straße , selbständiger Raum oder bloßer Durchgang [ … ] ?«18 Sabine Oth geht der Frage nach , ob der Fahrstuhl als Raum oder als Fahrzeug wahrgenommen wird.19 Antrieb , Geschwindigkeit und Fortbewegung machen den Fahrstuhl zum Fahrzeug. Doch ist das Fahren kaum wahrnehmbar. Ein visuelles Reiseerlebnis fehlt , dieses soll durch Simulationen ersetzt werden. In der U-Bahn gibt es immerhin Fenster , auch wenn vorbei­zie­hende Tunnelwände kaum Abwechslung bieten. In diesem Lift gibt es kein Fenster , durch welches Geschwindigkeit wahrgenommen werden könnte. Nach Sabi16 17 18 19

Vgl. Ehn /  L öfgren ( 2009 ): Routines , S.  109. Hirschauer ( 1999 ): Die Praxis der Fremdheit , S. 227. Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 195. Vgl. Oth ( 1998 ): Nach oben , S. 109–113.

Im Lift

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ne Oth wird der Fahrstuhl , obwohl er ein Fahrzeug ist , mehr als Raum wahrgenommen. Das liegt unter anderem an der vertikalen Bewegungsrichtung – ein großer Unterschied zu anderen Verkehrsmitteln in der Stadt. Im Fahrstuhl kann zwar eine vertikale Reise gemacht , jedoch keine Strecke zurückgelegt werden , die auf einer Landkarte markierbar oder messbar wäre. Auch im untersuchten Objekt wird der Lift eher als Raum denn als Fahrzeug wahrgenommen. Dieser Lift ist zentral im Gebäude positioniert und damit stark an eine andere Räumlichkeit gebunden. Da die Stockwerke nahezu identisch sind , registrieren wir die Ortsveränderung kaum. Dennoch ›fahren‹ wir im Lift , und ein dauernder Aufenthalt wie in anderen Räumen dieses Gebäudes ist eher ungewöhnlich. Der Lift ist ein fahrender Transitraum und damit beides : Fahrzeug und Raum. Die Kategorien des öffentlichen und des privaten Raumes sind hilfreich , um der Definition dieses Lifts näher zu kommen. Der Transitraum Lift kann sowohl als öffentlich wie auch als privat verstanden werden. So kann zum Beispiel das Kellergeschoss nur mit einem speziellen Schlüssel erreicht werden.

Abb. 3  : Im Lift, Blick nach unten Foto: Monika Hönig

Die Kabine scheint innerhalb des Gebäudes ein Reservat zu sein , ein isolierter , geschlossener Raum , der die Intimsphäre schützt. Sind wir allein in der Kabine , fühlen wir uns unbeobachtet. Dies ändert sich jedoch , sobald die Türen offen sind. Wenn der Lift räumlich geschlossen ist , erweckt er den Eindruck , auch akustisch keine Geräusche nach außen abzugeben. Dies täuscht jedoch , denn es lassen sich sehr wohl von außen Geräusche wahrnehmen. Auch die mitfahrenden Personen können die Wahrnehmung dieses Ortes als öffentlich oder privat beeinflussen. Je nach offenem oder geschlossenem Zustand , dem Bekanntheits-

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grad und der Anzahl der mitfahrenden Personen und auch je nach subjektiver Definition pendelt der Lift zwischen öffentlichem und privatem Raum. Der Lift ist eher ein dynamischer »Nicht-Ort«20 als ein statischer Ort. Ein NichtOrt ist er , weil er »keine besondere Identität und keine besondere Relation , sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit«21 erzeugt. Der Lift ist ein Reservat im Sinne eines temporären Rückzugsortes. Sind mehrere Personen anwesend , entsteht ein weiteres Reservat innerhalb der Box , da der Anspruch auf persönlichen Raum verteidigt wird. Falls eine ( unsichtbare ) Grenze übertreten wird , wird dies als Übergriff empfunden.22 Auch dieses Reservat ist temporär und situationsgebunden. Je nachdem ob jemand einoder aussteigt , wird nach dem Prinzip »Distanzmaximierung«23 voneinander abgerückt oder enger aneinandergerückt. Um bei unbekannten Mitfahrenden die Fremdheit aufrechtzuerhalten , gibt es bestimmte Verhaltensweisen und soziale Darstellungsleistungen , die einen Rückzug ins Reservat ermöglichen : Kabinenblick , Schweigegebot , Distanzwahrung , inszenierte Beschäftigungs­ losigkeit24. Fremdheit wird praktisch vollzogen und interaktiv aufrechterhalten : »Fremdheit ist im Fahrstuhl , deutlicher als an jedem anderen Ort öffentlicher Begegnung , eine Leistung der Darstellung von Indifferenz.«25 Nicht nur wird der persönliche Raum verteidigt , im Fahrstuhl zieht man sich in ein drittes , ein inneres Reservat zurück. Unsere Körper sind anwesend , während die Gedanken abschweifen können  – wir schauen ins Nichts , aufs Handy , in den Terminkalender. »Anwesenheit im Fahrstuhl ist gewissermaßen das Gegenteil der Bühnenpräsenz. Fahrstuhlinsassen versuchen , weder Hauptdarsteller noch bloße Mitspieler zu sein , auch nicht desengagierte Zuschauer und noch nicht mal Anwesende , bloß ›Vorhandene‹.«26 Ganz im Gegensatz zu diesem möglichst unauffälligen Vorhandensein nehmen Passagiere in Erzählungen über die Praxis des Fahrstuhlfahrens oft sehr herausragende Rollen ein – und der Fahrstuhl selbst wird dabei zu einer mit Bedeutung aufgeladenen Bühne. In Literatur , Film und Werbespots spielt der Fahrstuhl immer wieder eine tragende Rolle.27 Diese Narrationen spielen mit der Spezifik des Raumes. Sie werden produziert , weitergegeben , reproduziert , adaptiert und beeinflussen das Erlebnis des Fahrstuhlfahrens , indem sie als Vorstellungen und Fantasien im Raum präsent sind. 20 Augé ( 1994 ): Orte und Nicht-Orte , S. 124. 21 Ebd. 22 Vgl. Goffman ( 1974 ): Das Individuum , S. 56. 23 Hirschauer ( 1999 ): Die Praxis der Fremdheit , S. 230. 24 Vgl. ebd. , S. 228–242. 25 Ebd. , S. 240 , Hervorhebung im Original. 26 Ebd. , S. 241 , Hervorhebung im Original. 27 Vgl. Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 246–282.

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Der Fahrstuhl bildet als »Ort der Transformation«28 eine Kulisse für Erzählungen. Durch seine Abgeschiedenheit , Uneinsehbarkeit , als dunkelste Stelle des Gebäudes und aufgrund der Enge der Kabine bietet er einen idealen Ort für Erschütterungen und Umwandlungen von Identitäten. Durch die Enge und Nähe wird die Wahrnehmung verdichtet , sind die Sinneseindrücke außergewöhnlich stark. Besonders häufig wird der Fahrstuhl in Werbespots für die Bewerbung von Produkten der Körperpflege wie zum Beispiel Anti-Schuppen-Shampoos29 eingesetzt. Weil er ein Ort der verdichteten Wahrnehmung ist , werden gerade mit dem Medium Fahrstuhl Produkte für die Körperpflege beworben , denn dadurch lassen sich beim Betrachter Erinnerungen und Assoziationen abrufen , die mit starken Gerüchen , Geräuschen oder visuellen Eindrücken von Mitfahrenden verbunden sind. Als »Ort der Wahrheit«30 wird der Fahrstuhl in Texten und Filmen zum profanen Beichtstuhl. Der Moment des Steckenbleibens wird gezielt eingesetzt , um eine Geschichte zum vorläufigen Stillstand zu bringen. Die Insassen treten aus ihren Reservaten heraus und lassen sich zu intimen Geständnissen gegenüber unbekannten Personen hinreißen. Der Fahrstuhl erinnert an den Beichtstuhl , ein abgeschotteter , dunkler Raum , der nicht nur räumlich , sondern auch zeitlich aus dem Alltag herausgelöst ist. Durch Störung kommt ein Ablauf – eine Geschichte – zum Stillstand. Die nicht intendierte Zusammengehörigkeit im Lift wird zu einer Schicksalsgemeinschaft , Schutzmechanismen der Distanzwahrung werden aufgebrochen.

Fahrstuhlfantasien und Gedankengänge Andere Fahrstuhlfantasien sind weniger in Medien sichtbar und weniger materiell. Die folgenden imaginären Eingriffe  – drei Fantasien , innere Reisen31 , Gedankenexperimente  – haben eine heuristische Funktion. Als Gedanken­ experimente und imaginierte Eingriffe in Routinen und Fantasien dienen sie mir dazu , die Perspektiven auf die Phänomene Fahrstuhl und Fahrstuhlfahren zu erweitern. Bei allen drei Fantasien fungiert der Druckknopf , das zentrale Detail der Praxis des Fahrstuhlfahrens , als Ausgangspunkt. Ein Fahrstuhl mit zu vielen Druckknöpfen : Wäre ein zwanzigster Druckknopf für eine nicht existierende Etage installiert , so würde der zunächst irritieren , denn der Aufbau der Druckknopfarmatur würde die Gebäudearchitektur falsch repräsentieren. Eine Intervention mit einem zwanzigsten Druckknopf könnte zum 28 29 30 31

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Vgl. ebd. , S. 258–266. Vgl. ebd. , S. 265. Vgl. ebd. , S. 266–282. In Anlehnung an Stiegler ( 2010 ): Reisender Stillstand.

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Beispiel Neugierde wecken : Gibt es womöglich eine übersehene Dachstube , ein geheimes Stockwerk oder eine Dachterrasse ? Würde der Knopf nicht funktionieren , könnte man immerhin noch die Treppe nehmen , um das unbekannte zwanzigste Stockwerk zu suchen. Würde der Knopf aber zu gut funktionieren , was würde dann passieren ? Würde ich ins Nichts fahren , aus dem Gebäude hinausfliegen , hoch hinaus , wie aus einem Schleudersitz ? Mit weiteren Druckknöpfen lässt sich im Gedankenexperiment die Gebäudehöhe problemlos erweitern und damit die gewohnte Logik umkehren. So weit hergeholt ist dieser Gedanke nicht , ist es doch die Weiterentwicklung der Fahrstühle mit elektrischem Antrieb , die den Anstieg der Gebäudehöhe erst ermöglichte : »It is the elevator that is the initial cause of the skyscraper. Steel skeleton is a consequence of the elevator.«32

Abb. 4 : Im Lift, Blick nach oben Foto: Monika Hönig

Ein Fahrstuhl mit defekten Druckknöpfen würde stark verunsichern. Fahrstuhlfirmen versuchen der Angst vor dem Steckenbleiben entgegenzuwirken , indem sie die Sicherheit der Notrufsysteme betonen : »Als zusätzliche Option fährt der lifeLine bei einer Störung zum nächstgelegenen Halt und öffnet die Tür. Unfreiwillige Aufenthalte im Lift können so nur noch bedingt vorkommen. Und wenn doch : Unsere Notrufzentrale ist rund um die Uhr von der Kabine aus erreichbar.«33 Noch stärker als die Angst vor dem Steckenbleiben ist 32 Mujica ( 1929 ): History of the Skyscraper , S. 21 , zitiert nach Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 13 , Hervorhebung im Original. 33 http://www.haushahn-gruppe.de/Assets/files/products/lifeLine/lifeLine_inet.pdf ( 6. 1. 2013 ).

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die Angst vor dem Abstürzen. Die Geschwindigkeit der Fahrt ist nicht kontrollierbar , und durch die Uneinsehbarkeit des Stockwerkes , in welchem man sich gerade befindet , sind Passagiere desorientiert. Bei Fahrstühlen mit durchsichtigen Wänden aus Glas oder ähnlichem Material ist eine bessere Orientierung möglich. Auch die Technik , die nicht gesehen und selten durchschaut wird , kann Angst vor einem Zwischenfall oder Unfall hervorrufen. Ein Fahrstuhl ohne Druckknöpfe wäre seiner Funktion beraubt und nicht mehr wie gewohnt handhabbar. Die Funktion des Fahrstuhls ist an den Druckknöpfen abzulesen : Ich kann in dieses und jenes Stockwerk fahren , die Tür öffnen und den Alarm auslösen. Fehlten die Druckknöpfe , wäre der Fahrstuhl funktionslos , wir würden seine Funktion zumindest nicht mehr erkennen können. Es gibt bereits Touchscreens anstelle von Druckknöpfen – nur mehr die Andeutung einer Berührung ist notwendig. Otis hat die Zielwahlsteuerung Compass entwickelt , bei der Touchscreens und Chipkarten das Druckknopfsystem ersetzen.34 Nutzer und Nutzerinnen sollen dadurch rascher und direkter an ihr Ziel gelangen können. Die gesamte Aufzugsanlage soll bestmöglich ausgenutzt werden. Außerdem können Zutritte durch die Chipkarte kontrolliert werden. Mit diesen technischen Entwicklungen werden Oberflächen noch mehr geglättet und die Abläufe unter den Oberflächen werden zunehmend abstrakter. Welchem Beförderungsmittel vertraut man den eigenen Körper eher an : einem Aufzug mit ruhigen Bewegungen und neuester , gänzlich verdeckter Steuerungstechnik oder einem ruckelnden Lift mit Druckknopfsteuerung ?

Ausblick – im vierten Stockwerk Oben im Gebäude angekommen , bin ich mit meinen Überlegungen noch lange nicht am Ziel. Ein Rückblick auf die Etappen , die zurückgelegt wurden , bringt Ordnung und Orientierung. Ein Ausblick belohnt für die zurückgelegte Strecke. Der Raum Fahrstuhl bietet auf drei Arten ein temporäres Reservat : Zunächst ist der Fahrstuhl eine geschlossene Box innerhalb eines Raumes , dann beansprucht der Fahrgast seinen persönlichen Raum innerhalb dieser Box , und zuletzt kann er sich in sein inneres Reservat zurückziehen. Im Fahrstuhl kann größtmögliche Anonymität im öffentlichen Raum auf größtmögliche Intimität stoßen. Versteht man Urbanität als ein Ineinander von Anonymität und Intimität , als ein gleichzeitiges Vorhandensein von individuellen Bedürfnissen , eine Vielfalt 34 http://www.otis.com/site/At/pages/GeN2Compass.aspx ( 30. 1. 2013 ). Auch von Schind­ ler werden beim Zugangssystem Schindler ID Chipkarte und Touchscreen eingesetzt : Hughes ( 2009 ): Megamobilität , S. 40.

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von Räumen und Reservaten , die aneinandergrenzen und ineinander übergehen , so kann der Fahrstuhl als Prototyp für urbanen Raum gesehen werden. Modellhaft bilden sich am und im Fahrstuhl stadtspezifische Kulturtechniken ab. Diese werden in anderen Transiträumen und Verkehrskanälen , in der U-Bahn , auf der Straße , auf der Rolltreppe auf dieselbe oder ähnliche Art und Weise praktiziert. Welche stadtspezifischen Kulturtechniken sind es , die im Fahrstuhl zu beobachten sind und dort eingesetzt werden ? Es ist der »Kabinenblick«35 , ein kurzsichtiger , ins Nichts gerichteter und nicht kommunizierender Blick. In Mimik und Gestik drücken wir aus , dass wir Orientierung und ein Ziel vor Augen haben , auch dann , wenn die Fahrt Desorientierung auslöst. Durch höfliches Nicht-Kommunizieren belassen wir Fremde in ihren Reservaten und schützen deren Intimsphäre. Gerade weil große körperliche Nähe gegeben ist , soll ­Anonymität mit Distanzmaximierung , mit dem Schweigegebot und den visuellen Blickkorridoren bestehen bleiben. Die körperlichen Einschränkungen während der Fahrt , die intime Begegnung von Personen auf Zeit auf engem , geschlossenem Raum und die Beliebigkeit des Aufeinandertreffens führen zu einem Rückzug in Reservate. Ungeplante Nähe und zwanghafte Zusammengehörigkeit produzieren Schutzmaßnahmen , die allesamt das Ziel verfolgen , Nähe und Anwesenheit zu minimieren , wie auch Stefan Hirschauer betont.36 Besonders in Stadtarchitekturen , die sich in die Vertikale ausdehnen , spielt die urbane Praxis des Fahrstuhlfahrens eine große Rolle. Signifikant in diesem Zusammenhang ist , dass die ersten Wolkenkratzer in den USA »elevator buildings«37 hießen. Der Literaturwissenschaftler und Journalist Andreas Bernard zeigt , dass in der »Geschichte des Fahrstuhls« Vertikaltransport und Urbanisierung zusammengehören.38 Der Fahrstuhl , aufgekommen in den 1850er-Jahren in New York , konstituiert die Architektur von mehrstöckigen Gebäuden und verändert die bereits existierende Ordnung von Gebäuden und unsere Wahrnehmung dieser Ordnung. Es gab zwar auch schon im Barock Fahrstühle ( noch Anfang des 18. Jahrhunderts war der Fahrstuhl ein fahrender Stuhl , ein »Bequemlichkeitsmöbel des Adels«39 ), doch ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Fahrstuhl dann entscheidend für die Ausweitung der Städte in die Vertikale.40 Auch wenn die Praxis des Fahrstuhlfahrens in Großstädten ihren Ursprung haben mag , ist sie für sich alleine betrachtet nicht nur ein städtisches Phänomen. Ein anderer räumlicher Kontext  – zum Vergleich 35 Hirschauer ( 1999 ): Die Praxis der Fremdheit , S. 234. 36 Vgl. ebd. , 221–246 ( Der Titel des Aufsatzes lautet »Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit«). 37 Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 12. 38 Vgl. ebd. 39 Oth ( 1998 ): Nach oben , S. 106. 40 Vgl. Bernard ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls , S. 7–17.

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könnte man sich einen Aufzug in einem Aussichtsturm oder einen Hotelaufzug in einem dörflichen oder ländlichen Kontext vorstellen – kann bewirken , dass die Kulturtechniken im Fahrstuhl variieren. Gibt es je nach spezifischer Lokalität , so lässt sich fragen , andere Kulturtechniken im Fahrstuhl , die von der oben beschriebenen Praxis abweichen ? Die vertikale Mobilität , die mit Fahrstühlen und Rolltreppen in Wien vorhanden ist , steht vor neuen Herausforderungen. Ein integrierendes Verkehrsmanagement , welches horizontale und vertikale Verkehrslinien so verbindet , dass individuelle Routen durch die Stadt schnell und ohne Unterbrechung möglich sind , gewinnt immer mehr an Bedeutung.41 Seit April 2012 bieten die Wiener Linien auf ihrer Website einen neuen Service für ihre Fahrgäste.42 Online können Reisende abrufen , an welchen U-Bahn-Stationen Aufzüge aktuell defekt sind oder gewartet werden. Diese Informationen können auch unterwegs am Smartphone abgerufen werden. Besonders wichtig ist dieser Service für Personen , die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind , denn so können sie ihre Fahrten im Voraus planen. Der Aufzug lässt sich mit Hirschauer als »Heteromobil«43 beschreiben , in dem unterschiedliche Nutzer und Nutzerinnen mit variierenden Destinationen eine Fahrt unvorhersehbar machen , in dem aber auch Personen räumlich zusammenkommen und so zu einer Gemeinschaft auf Zeit werden. Obwohl der Fahrstuhl ein Artefakt ist , also von Menschen für Menschen geplant , gestaltet , gebaut und installiert , lassen sich die im Fahrstuhl auftretenden Interaktionen nicht nur auf eine Mensch-Maschine-Interaktion reduzieren. Die scheinbar schlichte kulturelle Praxis des Fahrstuhlfahrens ist komplex. Mehrere Ord­nungen verschränken sich : diejenigen des Körpers und der Anwesenheit und diejenigen des Raumes Fahrstuhl und der Technologie. Körper setzen Interaktionen mit der Technik und mit anderen Körpern durch das InteragierenMüssen mit der Automatik in Gang. Der Fahrstuhl ist mehr als eine technische Plattform , die Fahrten nach oben und unten ermöglicht und für Gewohnheiten der vertikalen Bewegung in der Stadt steht. In diesen Routinen ist auch Ungewohntes und Unwahrscheinliches präsent – zumindest in den Köpfen. Ich bin oben angekommen und wiederum nicht. Einige Techniken , Vorgänge und Phänomene , die sich unter der glänzenden und manchmal auch glanzlosen Fahrstuhloberfläche verbergen , bleiben nach wie vor in der Schwebe.

41 Vgl. Hughes ( 2009 ): Megamobilität , S. 39. 42 Vgl. http://www.wienerlinien.at/Aufzugsinfo ( 20. 1. 2013 ). 43 Hirschauer ( 1999 ): Die Praxis der Fremdheit , S. 228.

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LITERATUR Augé , Marc ( 1994 ): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. 2. Auflage , Frankfurt am Main. Bernard , Andreas ( 2006 ): Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne. Frankfurt am Main. Ehn , Billy /  Löfgren , Orvar ( 2009 ): Routines – Made and Unmade. In : Shove , Elizabeth / Trentmann , Frank /  W ilk , Richard ( Hg. ): Time , Consumption and Everyday Life. Practice , Materiality and Culture. Oxford /  New York , S. 99–112. Fürst , Artur ( 1927 ): Aufzüge. In : ders. : Das Weltreich der Technik. Entwicklung und Gegenwart. Band 4 : Lastenförderung , Kraftmaschinen , der elektrische Starkstrom. Berlin , S. 75–87. Goffman , Erving ( 1974 ): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt am Main. Hirschauer , Stefan ( 1999 ): Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung der Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt. In : Soziale Welt , 50 , S. 221–246. Hughes , Jonas ( 2009 ): Megamobilität – Technologie für das Individuum in der urbanisierten Welt. In : Christ , Wolfgang /  Sieverts , Thomas ( Hg. ): Access for all. Zugänge zur gebauten Umwelt. Basel /  Boston /  Berlin , S.  31–43. Mujica , Francisco ( 1929 ): History of the Skyscraper. Paris ( Reprint New York 1977 ). Oth , Sabine ( 1998 ): Nach oben. Der Personenaufzug als Verkehrsmittel. In : Rolshoven , Johanna /  Hengartner , Thomas ( Hg. ): Technik – Kultur. Formen der Veralltäglichung von Technik – Technisches als Alltag. Zürich , S. 105–120. Perec , Georges ( 1994 ): Träume von Räumen. Aus dem Französischen von Eugen ­Helmlé. Frankfurt am Main. Simmen , Jeannot /  Drepper , Uwe ( 1984 ): Der Fahrstuhl. Die Geschichte der vertikalen Eroberung. München. Stiegler , Bernd ( 2010 ): Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum. Frankfurt am Main.

INTERNETQUELLEN http ://haushahn.at /  fileadmin /  templates /  Downloads /  SPKplusvario_Okt2011_screen. pdf ( 6. 1. 2013 ). http ://www.haushahn-gruppe.de / Assets /  files /  products /  lifeLine /  lifeLine_inet.pdf ( 6. 1. 2013 ). http ://www.otis.com /  site / At /  pages /  GeN2Compass.aspx ( 30. 1. 2013 ). http ://www.wienerlinien.at / Aufzugsinfo ( 20. 1. 2013 ).

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STRECKENÄNDERUNG AUS GEGEBENEM ANLASS So funktioniert es leider nicht : »[ … ] man müßte entweder darauf verzichten , von der Stadt zu sprechen , über die Stadt zu sprechen oder sich dazu zu zwingen , so einfach wie nur möglich darüber zu sprechen , ganz selbstverständlich , ganz geläufig darüber zu sprechen. Jede vorgefaßte Meinung verjagen. Aufhören , in Fertigbegriffen zu denken , vergessen , was die Städteplaner und die Soziologen gesagt haben.«1 Was der französische Schriftsteller und Filme­macher Georges Perec als »METHODE«2 stark macht , muss für alle verführerisch einfach klingen , die sich ( kultur )wissenschaftlich mit dem Thema Stadt beschäftigen. Breit und dicht , umfassend und weitreichend , mit diesen Epitheta ( nicht von ungefähr räumlich dimensioniert ) lässt sich die Situation der Stadtforschung beschreiben. Stadtforschung , ob in oder über Wien , ist ein vielfach besetztes Feld ( im Sinne Pierre Bourdieus ), das unter vielen anderen von kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Europäischen Ethnologie intensiv bearbeitet wird. So sehr sich auch Perspektiven und Fragestellungen unterscheiden , so sehr gleichen sich nicht wenige Studien der Stadtforschung im grundsätzlichen Verständnis von Stadt : Stadt wird da als Raumgefüge verstanden , das für ein gesteigertes Maß an Zivilisiertheit und Öffentlichkeit steht , als ein Raumgefüge , in dem die BewohnerInnen mit Gleichzeitigkeiten und Mehrdeutigkeiten , mit Heterogenität und Ambivalenz , Dynamik und Veränderung , vor allem anderen mit Fremdheit in großer Nähe zu leben verstehen , ohne dass diese permanent zu Kollisionen oder Konflikten führen. Besonders häufig werden Metaphern wie Werkstatt oder Laboratorium bemüht , wird die Stadt als »Möglichkeitsort«3 charakterisiert. Städte sind es , denen das Potenzial zugesprochen wird , angesichts immer neuer Herausforderungen wie Mobilität und Globalisierung tragfähige Formen des Zusammenlebens entwickeln zu können , Innovationen und Kreativität zu unterstützen. In einer moralisch aufgeladenen Taxonomie wird die »besondere Qualität der europäischen Stadt«4 im als Adverb gebrauchten Adjektiv »urban« und im Nomen »Urbanität« nochmals 1 Perec ( 1994 ): Träume von Räumen , S. 78. 2 Ebd. 3 Vgl. Gisela Welz in einer zusammenfassenden Würdigung der kulturökologisch orientierten Stadtforschung von Ina-Maria Greverus : Welz ( 2005 ): Möglichkeitsort , S. 91. 4 Siebel ( 2012 ): Ordnung und Chaos , S. 57.

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überhöht. »Urbanität« soll – hier in der Definition des Kunstwissenschaftlers und Aktivisten Bazon Brock – demnach für Vergesellschaftung in »Formen humaner Rationalität in Recht und Sitte , in Verwaltung und Handwerk , in Handel und sozialen Ritualen«5 stehen. Die Übergänge zwischen emphatischem Aufruf und pädagogischem Projekt6 sind dabei fließend. »Geläufig«, wie es Perec fordert , sprechen also die wenigsten über die Stadt. Auch der Philosoph Hans Blumenberg macht da keine Ausnahme. Er lässt seine Gedanken zu »Urbanität« mit einer Gegenüberstellung beginnen : »Urbanität ist eine Form der Gesittung , die gar nicht natürlich sein oder werden kann , weil das Städtische und das Natürliche einander ausschließen.«7 Es ist das Modell der »Gegenbegriffe«8 , das Definitionen von Stadt und Urbanität trägt. Auch bei einem Stadtforscher wie Walter Siebel , der wesentlich dazu beigetragen hat , eine sozialwissenschaftlich fundierte Stadtforschung zu entwickeln , ist diese binäre Semantik zu beobachten : »Stadt läßt sich definieren als ein Ort , an dem Fremde leben. Auf dem Dorf gibt es keine Fremden , in der Stadt aber begegnet jeder , auch der Einheimische , dem anderen als ein Fremder.«9 Besonderung und Abgrenzung gegenüber anderen Raumgefügen und Raumproduktionen kennzeichnen auch Studien , die Eigenlogik und Habitus einer Stadt in den Mittelpunkt stellen. Stadtforschung in dieser Perspektive stützt sich auf die  – hier von der Soziologin Martina Löw formulierte  – »Grundannahme«, »dass jede Stadt eine Konstellation spezifisch zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen entwickelt , mittels derer sich Städte zu Sinnprovinzen ( Berger /  Luckmann ) verdichten , und damit neben nationaler ( Israeli , Deutscher , Brasilianer ) und supranationaler ( Europa , Südamerika ) Vergesellschaftung auch lokale Vergesellschaftung provozieren.«10 Konzepte unter diesen Vorzeichen bergen die Gefahr einer Essenzialisierung der Praktiken und Stile bestimmter Milieus und Gruppen in einer Stadt ,11 die womöglich – dies wäre im Detail zu untersuchen – die oben angedeutete Essenzialisierung des Urbanen unterstützt. Zuschreibungen wie »städtisch«, in der gesteigerten Form : »urban«, und demgegenüber »ländlich«, in unterschiedlichen Fassungen : »provinziell« oder »regional«, sind historisch und sozial bedingte Ordnungsmuster , die kulturell wirksam geworden sind. Diese Mechanik der Dichotomisierung durch Schritte der Relativierung zu unterbrechen , ist das Ziel folgender Überlegungen. Dies sind 5 6 7 8 9 10 11

Brock ( 1999 ): Urbanität als Postulat , S. 127. Vgl. Deinet ( 2010 ): Raumaneignung als urbanes Lernen. Blumenberg ( 1998 ): Urbanität , S. 215. Koselleck ( 2011 ): Begriffsgeschichten , S. 274–284. Siebel ( 2012 ): Ordnung und Chaos , S. 58. Löw ( 2012 ): Jede Stadt , S. 20. Vgl. die Kritik am Konzept der Eigenlogik u. a. bei Möge ( 2011 ): Eigenes.

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Schritte hinein in Querstraßen und Umwege , nicht aber in eine sichere Epistemologie. Wien ist das Pflaster dieses Gedankenspaziergangs zwischen Fragen und Beobachtungen ; ob dies ein spezifisches Pflaster12 ist , dies lasse ich hier dahingestellt. Ins Blickfeld sind damit auch jene Milieus des Kunst- , Kultur- und Wissenschaftsbetriebs in dieser Stadt wie in anderen Städten zu rücken , deren Institutionen und AkteurInnen nicht geringen Anteil haben an der Stilisierung der Stadt als einzigen Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Dynamik. Im Folgenden konzentriere ich mich auf zwei emblematisch gewordene Versatzstücke des Stadtbildes , die beide das Dynamische der Stadt in den konkreten Bewegungen der BewohnerInnen feststellen : auf das routinierte , zielgerichtete Gehen in der Stadt und auf das gedankenvolle , schweifende Flanieren durch die Stadt – zu relativieren sind die Inhalte ebenso wie die Funktionen solcher Bilder im binären Modell von städtisch-urban und ländlich-provinziell.

Das routinierte Gehen So sieht der Klassiker aus , hier in der weiblichen und zeitgenössischen Version : Frau geht schnellen Schritts – schließlich hat sie ja einen Termin und ein klares Ziel vor Augen – mit einer Aktentasche in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Doch – das Bild wurde sicherlich schon an dieser Stelle von den LeserInnen vervollständigt – weit kommt sie nicht. Denn eine schwatzende , bunte ›Truppe‹  – daran , wie sie sich im Raum verteilen , glaubt sie die Gruppe als Tourist­Innen zu erkennen – umringt eine Person , die sich mit mehr oder weniger eindeutigen Zeichen als Reise- oder Stadtführer ausweist , und blockiert damit den Bürgersteig. Je nach Stimmungslage steuert sie mit Ungeduld in Blick und Gestik auf Einzelne in der Gruppe zu und bahnt sich so einen Weg. Oder aber sie tritt vom Bürgersteig auf die Straße und ›überholt‹ die Gruppe , der Blick ist konzentriert , an der Gruppe vorbei nach vorne gerichtet ; jetzt gibt sie die Klügere , diejenige , die aus dem Weg geht , obwohl sie sich im Recht sieht. In beiden Varianten tritt die Frau als PassantIn gegenüber anderen auf , die sich vermeintlich weniger ziel- und zweckgerichtet durch den Stadtraum bewegen. ›Die Städterin‹, diese Städterin , ist in der ökonomischen , rationellen Form der Bewegung durch den Raum und mit einer »Reserviertheit mit dem Oberton versteckter Aversion«13 unterwegs. Indem sie flexibel auf eine neue Situation reagiert und dennoch weiter ihr Ziel verfolgt , entspricht sie dem Bild des Großstädters , wie es in Rückbezug auf Georg Simmel und als Folge eher verkürzter Lektüren des Textes »Die Großstädte und das Geistesleben« heute 12 Dazu Musner ( 2009 ): Der Geschmack. 13 Simmel ( 1995 ): Die Großstädte , S. 123.

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verdichtet und im Selbstbild vieler , die sich in Städten bewegen , auch im Fall der Autorin wirksam geworden ist. Als typisch für die Großstadt und deren BewohnerInnen gilt seither das flexible und routinierte Agieren und Reagieren in unterschiedlichen Situationen und das pragmatisch-zügige Gehen und Beobachten , das einer spezifischen Fortbewegungs- und Informationsökonomie geschuldet ist. Es ist ein sehr kleiner Ausschnitt jener Formen und Muster , in denen sich Menschen in unterschiedlichen Konstellationen zwischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten durch die Räume einer Stadt bewegen , der in diesem Bild verallgemeinert wird. Urbanität beweist , wer öffentliche Verkehrsmittel wie U-Bahn , Straßenbahn , aber auch Bahn und deren Transiträume versiert benutzt , wer die Praktiken der Mobilität in allen Einzelheiten bis hin zum richtigen mimischen und gestischen Ausdruck der Distanz gegenüber dem Geschehen perfekt beherrscht. Die »gelungene Synchronisierung von subjektiver Bewegung und objektivem System , von innerer und äußerer Uhr gilt noch heute als Ausweis der Überlegenheit des Großstädters«14 , so der Kulturwissenschaftler Rolf Lindner in Anspielung auf eine Studie des Ethnologen Marc Augé zur Pariser Metro. Doch relativieren sich solche Aussagen im städtischen Alltag nicht vielleicht gerade in Transiträumen und Verkehrsmitteln und in historischer Perspektive ? Der schwedische Kulturanthropologe Orvar Löfgren erforschte den Kopenhagener Bahnhof als einen in der Geschichte und in der Gegenwart für die Entwicklung urbaner Atmosphären symptomatischen Ort ; seine Recherchen und Beobachtungen zeigen , dass es gerade auch PendlerInnen sind , also jene , die nicht in der Stadt , sondern an deren Rändern oder in der Region um die Stadt wohnen , die sich in Habitus und Bewegung durch den Raum in besonderer Weise als zielgerichtet und »street smart«15 erweisen. Unerschütterlich , wie es die Idealbilder nach Simmel und anderen darstellen , sind allerdings auch die Routinen Großstadt-geübter FußgängerInnen nicht. Schon eine stehende Rolltreppe , aber auch falsch , das heißt nicht in gewohnter Höhe angebrachte Türklinken oder Druckknöpfe können irritieren. Erst recht stören mehrfache Streckenänderungen wie diejenigen , die im Herbst und Winter 2012 /  2013 im Zusammenhang der weitreichenden Umbauten der Wiener Opernpassage unter Opernring und Karlsplatz notwendig geworden waren , Routinen. Über Monate hinweg entstanden hier immer wieder neue Baustellen , andere wurden verlegt , so dass permanent neue und auch komplizierte Umleitungen durch die Passage und zu den U-Bahn-Steigen und Straßenbahnhaltestellen vorgenommen werden mussten. Zunehmend dicht wurde dann auch das Gewirr von Schildern und Strichmarkierungen , die umgestellt , ergänzt , umge14 15

Lindner ( 2004 ): Vorüberlegungen , S.  180. Löfgren ( 2010 ): Urban atmospheres , S. 173 ; vgl. auch Löfgren ( 2012 ): Pendler.

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schrieben wurden. Es war ein sehr bewegliches Provisorium , das bei nicht wenigen PassantInnen , Männern wie Frauen , Jüngeren wie Älteren , bemerkenswert ähnliche Choreografien provozierte : ausgreifende , schnelle Schritte in die – augenscheinlich – gewohnte Richtung , Abbremsen und kurzes Zögern , bisweilen Kopfschütteln , langsamere , kürzere Schritte in eine andere Richtung , Stehenbleiben , Drehen , Wiederaufnehmen des Laufschritts. Begleitet waren solche Bewegungsmuster von Blicken , die nach Schildern suchten , sich aber auch an anderen Personen orientierten. Schließlich kam es auch zu kurzen Nachfragen , mit denen sich die Suchenden an andere PassantInnen wandten – an Sprachfärbung und Wortwahl war zu erkennen , dass es durchaus auch WienerInnen waren , die da nachfragten , aber es nicht immer WienerInnen waren , die antworteten. Die »Informationskette«16 , wie sie idealerweise eine Signaletik der Stadt sichern soll und deren Entwicklung in spezifischen Design-Studiengängen gelehrt wird , funktionierte in diesem Fall mehr schlecht als recht , die jeweiligen Lösungen und Positionen variierten zu oft und zu schnell. Deren Lesbarkeit hat also zuerst mit Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit zu tun , auf die sich Bewohner­ Innen ebenso wie Fremde im Raum einstellen können müssen. Wegzeichen und Schilder verstehen sich nicht von selbst , sie zu lesen muss gelernt werden , wie die Geschichte dieser Zeichen , aber auch deren Positionierung im Raum17 zeigt. Dadurch , dass man die falsche Richtung einschlägt und dass man sich sogar den Weg zeigen lassen muss , wird der Weg als Raum wie als Bewegung aus seinen Selbstverständlichkeiten herausgehoben und die Selbstdarstellung als ›Passant‹ empfindlich gestört. ›Ganz automatisch‹, so erklären und entschuldigen wir dann , dass wir falsch gegangen sind. Tatsächlich ist es unser Körper , genauer : unser Leib in seiner »unhintergehbaren Anwesenheit und umfassenden Wahrnehmbarkeit«18 , der in solchen Situationen das Selbst- und Körperbild vom flexiblen Agieren im Raum durchkreuzt. Während der Körper heute als durchaus »instrumentell und /  oder expressiv einsetzbare Größe«19 verstanden werden kann , ist das »Bewegungs- und Empfindungsgedächtnis«20 des Leibes oft stabiler als wir wahrhaben wollen ; man denke nur daran , wie wir vor Außentüren zumeist die Arme leicht anheben , also bereit sind , diese Türen zu öffnen , während sich diese dank entsprechender Sensoren häufig automatisch öffnen. Der Leib , zentral für die Verstetigung von Abläufen und die Ausbildung von Routinen , stört die schnelle Synchronisation mit neuen Situationen und Bewegungen im Raum. 16 17 18 19 20

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Ballmer ( 2008 ): Das scheinbar Nebensächliche , S. 85. Vgl. Scharfe ( 1998 ): Wegzeiger , S. 41–86. Raab /  Soeffner ( 2005 ): Körperlichkeit , S. 167 ; vgl. dazu auch Scharfe ( 2011 ): Signatur. Alkemeyer ( 2011 ): Bewegen , S. 54. Raab /  Soeffner ( 2005 ): Körperlichkeit , S.  172.

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Das Herausfallen aus der Rolle des routinierten Passanten soll nicht sichtbar , wenigstens nicht allzu deutlich werden. Beim Stolpern lässt sich das nicht vermeiden. Wer stolpert , will dabei nicht beobachtet werden , der Blick auf den Boden – was es denn war , das einen fast zu Fall gebracht hätte – ist nicht selten begleitet vom verstohlenen Blick in die Runde –, ob jemand Zeuge der Ungeschicklichkeit wurde. An der medial so erfolgreichen Figur des Tolpatsches21 lässt sich ermessen , wie stark die Norm der sicheren und routinierten Bewegung in Alltagen ist. Das Stolpern im Slapstick oder in anderen komödian­ tischen Genres ist eine Parodie auf das richtige Gehen. Das Lachen über Freddie Frinton in »Dinner for One« ist immer auch ein befreites Lachen , weil man selbst gerade nicht in dieser Situation ist. Streckenänderungen , die kleinen Störfälle , aber auch Unterbrechungen oder sogar Zusammenbrüche von Systemen und Ordnungen sind heute durch die zunehmende Abhängigkeit von Technologien an der Tagesordnung. In der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln wird dies besonders deutlich. Auch wenn die Elastizität und Kreativität beachtlich ist , mit der Gesellschaften ebenso wie Individuen mit solchen Störungen umgehen , so erwarten doch sehr viele die rasche und effiziente Behebung solcher Situationen. Die Toleranzgrenze gegenüber auch nur kleinen Störungen ist gerade in hoch technisierten Gesellschaften gesunken. Das Murren bei Durchsagen zu auch nur kurzen Verzögerungen im Ablauf etwa von Zugfolgen der U-Bahn ist unüberhörbar und führt nicht selten zu Gesprächen mit anderen Wartenden über Unzuverlässigkeiten dieses , aber auch anderer Verkehrsmittel. »Technological systems , and the expectations of functional order surrounding them , have transformed the sense of what is an ordinary and what an avoidable breakdown.«22 So alltäglich Störungen sind , so groß ist das Bemühen , als Routinier des Alltags zu erscheinen , auch in Situationen und Räumen , die unbekannt und ungewohnt sind. In den unzähligen alltäglichen und außeralltäglichen darstellerischen Leistungen , die sich aus den wachsenden Anforderungen an jeden Einzelnen ergeben , ist es wichtig , das Bild von jemandem zu geben , der sich auskennt , der die notwendigen Gesten und Handlungen sicher beherrscht. Die meisten wollen sich als Routiniers vor anderen zeigen , keinesfalls aber als Gewohnheitsmenschen gelten.23 Das führt zu der paradoxen Situation , dass zwar das Neue und die Innovation in der Gegenwart einen hohen Stellenwert genießen , nicht aber die Situation als neue. Es kann unangenehm , sogar peinlich sein , als unerfahren oder unwissend erkennbar zu sein. Die Unterscheidung und die Abgrenzung ( etwa gegenüber TouristInnen , die sich vermeintlich we21 Engell ( 2011 ): Leoparden. 22 Trentmann ( 2009 ): Disruption , S. 76. 23 Vgl. Ehn /  L öfgren ( 2009 ): Routines , S.  104–107.

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niger gut in der Stadt auskennen ) ist also in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Bestandteil der Performanz als Routinier.

Das Flanieren Auch im Bild des Flaneurs und des Flanierens spielt das Muster des Gegensatzes eine entscheidende Rolle. Hier sind es die Routiniers mit ihrer ökonomisch bestimmten Bewegung durch den Raum , denen der Flaneur mit seinem ästhetischen Programm , die Stadt zu entdecken , wie auch seiner intellektuellen Fähigkeit , einen ganz eigenen Blick auf die Stadt zu entwickeln , gegenübergestellt wird. Als ein Beispiel unter unzähligen sei hier Fréderic Gros zitiert , der in seiner »Philosophie des Gehens« den Flaneur als Idealtyp zeitgemäßer Modernität vorstellt : »Der Flaneur ist subversiv. Er untergräbt und zersetzt die Menge , die Ware und die Stadt sowie deren Werte.«24 – »Außerdem ist er allzeit kreativ und nimmt alle Anstöße , Begegnungen und poetischen Bilder in sich auf.«25 Walter Benjamin , Siegfried Kracauer , Franz Hessel und Co , selbst längst Figuren im Narrativ des Flanierens , sind für Gros wie für viele andere Autoren der Maßstab dieses Idealtyps. ›Flanieren‹, das meint dann die Kunst , im Gehen so lustvoll wie aufmerksam die eigene Stadt und deren Alltage zu erkunden und neu zu entdecken und sich von den Anforderungen einer effizienten , zielgerichteten Bewegung durch den Raum zu emanzipieren. Die Empfehlungen von Gros , denn das ist der Ton des gesamten Werkes , gleichen in nicht wenigen Aspekten Texten im Wissenschaftsbetrieb , in dem im ethnologischen und kulturgeografischen ebenso wie im soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Umfeld dieses Gehen als Medium gesteigerter Stadterfahrung und als Forschungsmethode diskutiert wird. So hat das Kapitel »Flaneur : Bewegungsform , Erkenntnisform« in Karl Schlögels »Im Raume lesen wir die Zeit« eine programmatische Funktion : »Jeder Bewegungsform entspricht eine spezifische Erkenntnisform. Der Flaneur läßt sich treiben. [ … ] Er hat seinen eigenen Rhythmus. [ … ] Er geht herum , er geht einer Sache nach.«26 Der Autor bewegt sich in guter Gesellschaft : von KlassikerInnen der Stadtforschung und Soziologie wie Robert E. Park und Kevin Lynch , KulturanthropologInnen und KulturwissenschaftlerInnen wie Ina-Maria Greverus , Rolf Lindner und Johanna Rolshoven – um nur einige wenige zu nennen. Sie alle lehren das Gehen in der Stadt als eine Form der nicht unmittelbar zielgerichteten und zugleich sorgsamen Bewegung und Beobachtung , des Umherschwei24 Gros ( 2010 ): Unterwegs , S. 197. 25 Ebd. , S. 199. 26 Schlögel ( 2003 ): Im Raume , S. 260.

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fens , Schlenderns , Flanierens. Vorschläge wie die von Schlögel für ein Gehen und Denken , die Frei- und Spielräume eröffnen , sind reizvoll. Wie andere Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen auch stehen StadtforscherInnen unter dem Eindruck der Repräsentationskrise der Wissenschaft , innerhalb derer über die komplexe Vermitteltheit von Forschung diskutiert wird und letztlich auch die Möglichkeiten des Forschens und Darstellens elementar infrage gestellt werden. Zudem sind sie in ihren Alltagen , ob im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit oder in anderen Lebenszusammenhängen , mit einer ( zumindest behaupteten ) Virtualisierung von Lebenswelten konfrontiert. Die Idee der Leibhaftigkeit und der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung im Raum und mit Menschen , wie sie mit diesem Gehen und Flanieren verbunden wird , gewinnt vor diesem Hintergrund an Attraktivität. Doch wäre mit Roland Barthes zu fragen , ob damit eine Entpolitisierung und Naturalisierung27 des Denkens und Forschens – und in der Konsequenz der Stadt – verbunden ist. In wissenschaftlichen Projekten und künstlerischen Aktionen , vor allem aber in Feuilletons und Reportagen von Tageszeitungen und Stadtjournalen steht das peripatetische Prinzip anhaltend hoch im Kurs. Wenn sich ein Themenheft der in Wien erscheinenden Zeitschrift für Stadtforschung »dérive«, also eines Mediums , das sich explizit in die Tradition der Situationisten im Paris der 1960er-Jahre stellt , den Mobilitätsstrategien in der Stadt widmet , dann darf – man ist versucht zu sagen : natürlich – ein Artikel mit dem Titel »Gehen als urbane Strategie und urbanistische Praxis«28 , verfasst von dem Kultursozio­logen und Redakteur der Zeitschrift Erik Meinharter , ebenso wenig fehlen wie eine Geschichte des Flanierens : »Der Flaneur II – Frühe Stadtsüchtige«29 , als Teil einer Serie , verfasst vom Soziologen Manfred Russo. Meinharter stellt die Möglichkeiten des Gehens als »kritisches künstlerisches Moment«30 in das Zentrum seiner Überlegungen. Er konzentriert sich auf die Randzonen der Städte , wo »im Gegensatz zum eher erstarrten Zentrum noch viel an Neuinterpretation und Neubesetzung möglich ist«31. Der Stadtrand wird zum Neuland erklärt , das sich noch formen und verändern lässt. Mit seinem Modell des Gehens in der Stadt zielt der Autor auf die kritische Diskussion gegenwärtiger und künftiger Stadtentwicklung und steht – darin kann der Text als typisch gelten  – für die Verquickung planerischer Interessen mit künstlerischen Intentionen.

27 Barthes ( 1981 ): Mythen , S. 130–133. 28 Meinharter ( 2006 ): Gehen. 29 Russo ( 2006 ): Transformationen. 30 Meinharter ( 2006 ): Gehen , S. 28. 31 Ebd.

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»Die echte Flanerie ist eine Kunst und eine Wissenschaft.«32 Sie wird , da­ rauf besteht hier der Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler Hannes Haas , der die Flanerie als journalistische Methode beschreibt , nicht von jedem beherrscht. Welche Gruppen in dieser Praxis der Unterscheidung als die Anderen – zumeist in der Mehrzahl – aufgerufen werden , gegenüber deren Habitus im Raum sich der Flaneur – zumeist als der Einzelne und männlich – absetzt , ist letztlich in diesem Bild , nicht selten Selbstbild der Autoren dieses Bildes , variabel. Die Anderen , das können die PassantInnen , die geschäftigen Tourist­ Innen und die ahnungslosen ProvinzlerInnen sein. In dieser Vorstellung vom Flanieren spiegeln sich nicht selten Begriff und Ideal von Urbanität der Milieus und Szenen jener »Kultivatoren«33 , die für sich in Anspruch nehmen , die Kunst des Flanierens und des Ausdeutens der Stadt besser als andere zu beherrschen. Doch ist dieses Bild vom Flanieren als Praxis einer Avantgarde zu relativieren. ›Der Flaneur‹ ist heute nicht mehr nur »Denkfigur der Moderne«34 , sondern , so betont der Soziologe Thomas Düllo , vor allem auch »Sozialfigur des zeitgenössischen Alltagslebens«35. Literarisch , filmisch , musikalisch ist der Flaneur in unterschiedlichsten Varianten der Populärkultur präsent.36 Das Flanieren als ein Gehen , in dem sich die Einzelnen Zeit nehmen für das Spurenlesen , Entdecken , Genießen der Stadt , hat sich für nicht wenige Zeitgenossen zu einer Praxis entwickelt , die diese an ihrem Feierabend , am Wochenende , auch in kleinen Pausen zwischen den Arbeitszeiten pflegen. Diese Selbstverständlichkeiten haben eine Geschichte , die individuell variiert , doch für viele eng mit der Geschichte ihres Reisens verknüpft ist. Reisen lässt sich als Kulturtechnik  – mit Bernhard Siegert verstanden als Zusammenspiel von konkreten Praktiken , medialen Codes und symbolischen Operationen37 – von besonderer Reichweite definieren. »Touristen können als bewusste und systematische Sammler von Neuheit , Fremdheit oder Andersartigkeit aufgefasst werden.«38 Das gilt für alle Räume , die auf Reisen aufgesucht werden. Das Erkunden , Beobachten und sogar Beschreiben der Stadt hat sich im Verlauf der Geschichte des Massentourismus zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt. Die Stadt ist Programmpunkt auf Reisen unterschiedlichsten 32 Haas ( 1999 ): Empirischer Journalismus , S. 357. 33 Brock ( 1995 ): Zivilisationsraum , S. 100. 34 Düllo ( 2010 ): Der Flaneur , S. 125. 35 Ebd. 36 Es ist wiederum bezeichnend , dass Düllo vor allem anderen Freiberufler , WissenschaftlerInnen , GrafikerInnnen , ArchitektInnen etc. als »Neo-Flaneure« anspricht , also im Wesentlichen diejenigen , die sich frei nach Richard Florida als kreative Klasse verstehen , ebd. , S. 129 f. 37 Vgl. Siegert ( 2011 ): Kulturtechnik. 38 Bachleitner ( 2010 ): Der Tourist , S. 123 f.

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Zuschnitts. Sie wird als Ereignisraum erzählt. Mit den klassischen , streng getakteten Formen der Stadtführung konkurrieren zunehmend Muster , die Idee und Bewegung des Flanierens aufgreifen. Dieses nicht nur in Wien breite Angebot an Stadtspaziergängen wird keineswegs nur von TouristInnen , sondern auch sehr gern von BewohnerInnen der Stadt genutzt.39 Die mittlerweile lange Geschichte des »Learning to be a Tourist«40 führte zu einem veränderten Verständnis von Räumen und von Zeiten und zu neuen Handlungsmustern auch jenseits des Reisens in den Alltagen. Mit der Weltläufigkeit und Kunstsinnigkeit geübter TouristInnen betrachten und gestalten die Einzelnen auch das Nächstliegende , die Stadt , in der sie leben oder in deren Nähe sie wohnen. Abseits der gewohnten Straßen und Wege sucht man Durchgänge und Hinterhöfe auf und kultiviert den Blick hinter die Kulissen. Solche Formen des Reisens in die – mehr oder weniger eigenen – Alltage dürften auch deshalb an Bedeutung gewinnen , weil das Zuhausebleiben unter dem Einfluss von Diskursen um Nachhaltigkeit an Prestige gewinnt.41 Gehen und Beobachten , Flanieren und Promenieren sind immer auch Stilmittel einer routinierten Performanz.42 Im entspannten , umherschweifenden Gehen setzt man die eigene Zeit in Szene , eine Zeit , die man hat , die man sich – allen Notwendigkeiten des Alltags zum Trotz – nimmt. Zeithaben wird hier als kulturelles Kapital ausgespielt ; der Reiz dieses Gehens liegt darin , in welcher Art und Weise wir uns ›für gewöhnlich‹ in den Alltagen bewegen , er liegt im Wechsel zwischen flott und gemächlich. Von Gleichzeitigkeiten also ist auszugehen , von der Vielfalt von Rollen und Rhythmen , die wir in unserer Bewegung im und durch den Raum einmal mehr aktiv durchspielen , ein anderes Mal aber auch nur passiv geschehen lassen.

Streckenänderung – relativ gesehen Im Bild steckt das Gegenbild : In Helmut Qualtingers Satire »Travnicek im Schuhgeschäft« wird in aller Ausführlichkeit und in hübscher Verschränkung der Diskurse über den Schuh und das Auto , über den Menschen und die Maschine , über die Geschwindigkeit von Zeit und Bewegung in der Stadt räsoniert : »Schuhbandelwechsel im Großstadtverkehr. Glatter Selbstmord.«43 Die 39 Vgl. Löffler ( 2001 ): Wie das Reisen. 40 So die grundlegende Perspektive des Klassikers von Orvar Löfgren ( 1999 ): On Holiday , S. 5. 41 Vgl. Scheppe /  Steinfeld ( 2012 ). 42 Vgl. Liesenfeld /  L öffler /  Rapp ( 2000 ): nichts tun. 43 Qualtinger ( 1975 ): Qualtingers , S. 92.

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beiden Protagonisten , der »Freund« und »Travnicek«, unterhalten sich in aller Gemütsruhe über die Hektik des Alltags , befleißigen sich also der schon in den 1960er-Jahren obsessiven Rede über die Schnelllebigkeit , zu der sich heute jedermann allerorten und jederzeit berufen fühlt. Die , die klagen , beweisen gerade das Gegenteil von dem , was sie beklagen. Das Besondere an diesem Text ist , dass und wie er diese Gleichzeitigkeit abbildet. Die Satire hat dem wissenschaft­ lichen Text einiges voraus – um zu funktionieren , muss sie mehrdeutig sein. An den oben nur angedeuteten Varianten von Streckenänderungen , an denjenigen , denen man begegnet und auf die man reagieren muss , und an denjenigen , die man sucht , zeichnen sich Gleichzeitigkeiten und Mehrdeutigkeiten ab , die quer zu den Zuschreibungen und Typisierungen »des Städters« liegen. Anforderungen wie die der ökonomischen und rationalen Bewegung durch den Raum im routinierten Gehen und Ansprüche wie die an ein anderes , bewusstes Erfassen des Raumes im Flanieren gelten nicht nur für Städter – und nicht erst seit heute. Diskurse ebenso wie Praktiken der Mobilität und Flexibilität , Kreativität und Subversion , wie sie sich im routinierten Gehen und im Flanieren andeuten , sind zentrale Momente im Programm der Selbstoptimierung , aber auch der Fremdführung. Insofern ließe sich vom durchschlagenden Erfolg einer , so der viel zitierte Begriff von Gottfried Korff , »inneren Urbanisierung« sprechen : »[ … ] so wie es die äußere Urbanisierung gibt , die sich im Wachsen und im technischen Ausbau der Stadt darstellt , so lässt sich auch eine innere Urbanisierung nachweisen , deren Produkt der Städter , genauer der Großstädter , mit einer neuen mentalen Ausstattung , mit einem neuen psychischen Sensorium ist.«44 Doch würde es zu kurz greifen , den Einfluss eines spezifischen Raumgefüges – der Stadt – auf Handlungen und Praktiken von Individuen und Kollektiven absolut zu setzen und sowohl die Bedeutung biografischer und sozialer Konstellationen als auch historischer Rahmenbedingungen ( wie die der Demokratisierung des Reisens , der Medialisierung etc. ) zu vernachlässigen. Wenn etwa Bernd Jürgen Warneken »prosoziale Interaktionen«45 beim Busfahren als »Momente gelingender Urbanität«46 einordnet , so stellt sich die Frage , ob nicht mit dem Begriff »Urbanität« auf die räumliche Dimension als dem dominant wirksamen Prinzip im Geschehen fokussiert wird , mag der Begriff auch im Sinne von Öffentlichkeit und Möglichkeitsraum heute sehr weit gefasst sein. Der Begriff ›Urbanität‹ lenkt den Blick auf eine räumliche Ordnung zurück , wie sie etwa für die Zeit um 1900 und in Berlin und Chicago diagnostiziert wurde. Mit diesem Einwand behaupte ich nicht eine Deterritorialisierung zeitgenössischer Lebenswelten , sondern in Anbetracht der »gewachsenen 44 Korff ( 1985 ): Mentalität und Kommunikation , S. 355. 45 Warneken ( 2010 ): Momente , S. 142. 46 So der vollständige Titel des Aufsatzes von Warneken ( 2010 ): Momente.

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Beweglichkeit der Akteure«47 plädiere ich für eine historisch differenzierende Konzeptionalisierung der Stadtforschung und deren Semantik. Stadtforschung zumal im Kontext der Sozialwissenschaften ist zu weiten Teilen eng verbunden mit Stadtplanung und problemorientiert konzipiert. Doch ist mit dem Soziologen Heinz Bude einzuwenden , dass dies die Prozesse der Forschung erheblich verändert : »Phänomene werfen Fragen auf , Probleme rufen Akteure auf den Plan.«48 Rolf Lindners Aufruf zu mehr »Spür-Sinn«49 geht in eine ähnliche Richtung , auch er spricht sich für ein möglichst offenes Zugehen auf Phänomene aus , das sich auf Zufälle und Unwägbarkeiten einlässt. Jedoch stellt sich die Situation von oftmals über Drittmittel finanzierten Projekten der Stadtforschung heute so dar , dass diese auf das Modell des problemorientierten Forschens verpflichtet werden , dem allein in der Logik vieler Fördergeber gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wird. Zumal in solchen Forschungs- und Arbeitskontexten ist Achtsamkeit im Umgang mit einem deutlich idealistisch aufgeladenen Begriff wie ›Urbanität‹ notwendig. Werden hier noch Fragen gestellt oder schon Maßstäbe gesetzt ? Ob in der Stadtforschung oder in der Stadtplanung , zuvorderst stellt sich die Frage , wer Maßstäbe setzt und in Anspruch nimmt , mittels des Begriffs ›Urbanität‹ Bewertungen vorzunehmen und einen positiven und gleichzeitig auch negativen Wertindex zu setzen. Damit rücken jene Milieus und Szenen in den Fokus , die maßgeblich verantwortlich sind für die Selbstkulturalisierung und Ästhetisierung von Städten.50 Als StadtforscherInnen sind wir zumindest über unsere publizistische Arbeit Teil dieser Prozesse , aber auch , was unser Selbstverständnis anlangt , Teil dieser Milieus. Wir alle verfangen uns in unseren Argumentationen immer wieder in Dichotomien : »Die Städterin« und Autorin , die sich von einer Gruppe – diese als Ortsfremde , als Andere identifizierend – gestört fühlt ; der Soziologe , der die Kulturalisierung der Stadt kritisiert und gleichzeitig die klassischen Gegenbegriffe bemüht : »In der Stadt herrschen im Unterschied zum Land Anonymität und Indifferenz [ … ]«51 ; der Stadtforscher , der in seiner Definition von Stadt ins Straucheln kommt : »Trifft man im öffentlichen Raum der Stadt zu viele Bekannte , beschleicht einen bald das Gefühl , in der Provinz zu leben , nicht in einer urbanen Stadt.«52 Ein wichtiger Schritt , diese Sprach- und Denkgewohnheiten zu durchkreuzen , wäre es , »die Stadt« – ähnlich wie dies ein Forschungsverbund in der Eu47 Welz ( 2012 ): Epistemische Orte , S. 16. 48 Bude ( 2008 ): Phänomene und Probleme , S. 693. 49 Lindner ( 2011 ): Spür-Sinn. 50 Reckwitz ( 2009 ): Die Selbstkulturalisierung. 51 Ebd. 52 Siebel ( 2012 ): Ordnung und Chaos , S. 58.

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ropäischen Ethnologie an den Konzepten ›Gemeinde‹ und ›Region‹ erfolgreich vorgeführt hat – als »epistemischen Ort« zu verstehen. »Mit dem Begriff des epis­ temischen Ortes verbindet sich die soziale und interaktive Kontextualität der Wissenserzeugung ( Knorr-Cetina 1999 ), die ihre eigenen ›epistemischen Kulturen‹ hervorbringt.«53 Die Analyse von Verfahren , Semantiken und Formaten der Wissensproduktion um Städte ist damit Bestandteil der konkreten , an Phänomenen ausgerichteten Stadtforschung. Die Geschichte und die Implikationen eines Begriffs wie ›Urbanität‹ lassen sich nicht auslöschen , doch in Relation setzen zu Geschichte , Vorstellungen und Interessen derer , die diesen Begriff gebrauchen.

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Klara Löffler

Ana Rogojanu

AUF DEN SPUREN STÄDTISCHER ATMOSPHÄREN EMPIRISCHE ANNÄHERUNGEN

Stadtforschung und Atmosphäre – theoretische Zugänge Anders als die Stadtplanung , die den Stadtraum vorrangig in seiner funktionalen Dimension betrachtet und erst beginnt , dessen AkteurInnen in die eigenen Überlegungen und Konzepte einzubeziehen , stellt ein kulturwissenschaftlicher Ansatz  – um den es hier geht  – die AkteurInnen ins Zentrum des Interesses.1 Dieser fragt mithilfe qualitativer Methoden nicht nur nach Repräsentationen und kulturellen Kodierungen von Räumen , sondern vor allem auch nach Raumwahrnehmung und Raumerfahrung sowie nach Formen der Aneignung und Gestaltung von Raum.2 Besonderes Interesse gilt den Wechselbeziehungen von Räumlichem und Sozialem , wobei die historische Dimension des Raumes ebenso zu berücksichtigen ist wie die Hintergründe , Wahrnehmungs­ gewohnheiten und Erfahrungen der im Raum agierenden Menschen.3 Atmosphäre ist in diesem Zusammenhang ein zentraler Begriff , der aus dem alltäglichen und literarischen Sprachgebrauch immer stärker in wissenschaft­ liche Debatten unterschiedlicher Disziplinen dringt und dort als Konzept etabliert wird. Im Kontext der Stadtforschung lassen sich dabei zwei grundsätzlich unterschiedliche Verwendungsarten des Begriffs beobachten : Zum einen wird von der je eigenen Atmosphäre spezifischer Städte gesprochen. Grundlegend für eine solche Verwendung des Atmosphären-Begriffs sind die Arbeiten des Philosophen Gernot Böhme4. Dieses Interesse für die Stadt in ihrer Einzigartigkeit steht im größeren Kontext eines Schwenks der Stadtforschung von einer »anthropology in the city« zu einer »anthropology of the city«5 und wird auch unter den Begriffen »Eigenlogik«6 und »Habitus der Stadt«7 verhandelt. 1 2 3 4 5 6 7

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Vgl. Rolshoven ( 2000 ): Übergänge , S. 109 ; Werlen ( 2003 ): Räumlichkeit , S. 5. Vgl. Hengartner ( 1999 ): Wahrnehmung , S.  15 ; Läpple ( 1991 ): Essay , S.  197 f. ; Löw ( 2001 ): Raumsoziologie , S.  130–132 ; Rolshoven ( 2001 ): Gehen , S.  23–25 ; Rolshoven ( 2003 ): Raumkulturforschung , S. 203 ; Schroer ( 2006 ): Räume , S. 250 f. Ein frühes Beispiel hierfür ist Gottfried Korffs Konzept einer »inneren« Urbanisierung. Vgl. Korff ( 1985 ): Mentalität. Beispielsweise Böhme ( 1998 ): Atmosphäre einer Stadt. Hannerz ( 1980 ): City , S. 304. Berking /  L öw ( 2008 ): Eigenlogik. Vgl. Lee ( 1997 ): Location ; Lindner ( 2003 ): Habitus ; Lindner /  Moser ( 2006 ): Dresden.

Zum anderen taucht der Begriff Atmosphäre in Zusammenhang mit den Stimmungsqualitäten konkreter Räume innerhalb einer Stadt auf.8 Im Zentrum dieses Beitrags steht die zweite Konzeptualisierung von Atmosphäre , für die der französische Soziologe Jean-Paul Thibaud einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Er sieht Atmosphären untrennbar verknüpft mit der Wahrnehmung konkreter Situationen , die neben kognitiven auch sinnliche und affektive Aspekte umfasst und die in enger Beziehung zur Art des Handelns steht.9 Atmosphären sind dabei nach Thibaud nicht Gegenstand der Wahrnehmung , sondern setzen »Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung«10. Die persönliche Befindlichkeit und die Umgebung erzeugen in ihrem Zusammenwirken »affektive Tonalitäten« ( »tonalités affectives«)11 , die wiederum die weitere Wahrnehmung der Umgebung beeinflussen. Zentral und besonders anschlussfähig für ethnographisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Raum ist der Umstand , dass dieses Konzept von Atmosphäre den Blick auf die komplexe Wechselwirkung zwischen Subjekt und Umgebung lenkt und so eine Ergänzung zu anderen kulturwissenschaftlichen Ansätzen12 bietet , die den Stadtraum vorrangig als System von Zeichen betrachten.13 Diese Perspektive auf Atmosphären als »Vermittelnde«, die die »Art und Weise [ beeinflussen ] , wie die Welt und das Subjekt sich in wechselseitiger Beziehung aufeinander herausbilden«14 , ist in den letzten Jahren auch in der deutschsprachigen Kulturgeografie – vor allem durch Rainer Kazigs Rezeption der Arbeiten von Thibaud  – verstärkt berücksichtigt worden. Dabei fügt Kazig Thibauds Überlegungen wichtige Präzisierungen hinzu : Er unterstreicht auf der Seite der Subjekte den Einfluss von Vorerfahrungen auf das Erleben von Atmosphären , auf der Seite des Raumes die Bedeutung von Zeichen.15 Damit bereichert er das stark auf die Aktualität von räumlichen Situationen bezogene Konzept Thibauds um eine historische und kulturelle Dimension. Der Fokus auf die Verbindung von Raum und Subjekt( en ) in konkreten , alltäglichen Situationen lässt das Atmosphären-Konzept – gerade auch mit der von Kazig vorgenommenen historischen und kulturellen Erweiterung – als gut vereinbar mit den Zugängen der Europäischen Ethnologie erscheinen , die mit weichen Methoden sowohl subjekt- als auch objektorientiert und historisch kontextualisierend einen mikroanalytischen Blick auf Phänomene des Alltags 8 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Hasse ( 2008 ): Stadt , S. 106 ; Hasse ( 2012 ): Atmosphären , S. 10 f. Vgl. Thibaud ( 2003 ): Sinnliche Umwelt. Ebd. , S. 293. Thibaud ( 2002 ): Ambiances , S. 6. Beispielsweise Musner ( 2001 ): Kulturwissenschaften. Vgl. Kazig ( 2007 ): Konzept , S. 168. Ebd. , S. 170. Ebd. , S. 180.

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richtet. Allerdings bleiben bisher Ansätze zur konkreten empirischen Opera­ tionalisierung des theoretischen Konzepts , das zunächst im Umfeld der Philosophie entwickelt wurde , eher überschaubar.16 Oft bilden literarische Texte oder eigene Beobachtungen die Grundlage für die atmosphärische Beschreibung von Räumen , selten findet sich darin die Perspektive anderer AkteurInnen wieder.17 Eine Ausnahme bildet hier das Modell der »parcours commentés«18 als Methode zur empirischen Erfassung von Atmosphären , das von Jean-Paul Thibaud entwickelt und von Rainer Kazig aufgegriffen und für den deutschsprachigen Wissenschaftsraum zugänglich gemacht wurde.19 Der vorliegende Text verfolgt zwei Ziele : Ausgehend von dem Versuch einer empirischen Anwendung des Atmosphärenkonzeptes im Sinne der »parcours commentés« will ich erstens Überlegungen zu den Potenzialen des theoretischen Modells für die Stadt- und Raumforschung der Europäischen Ethnologie entwickeln. Zweitens soll der mögliche Beitrag der spezifischen methodischen Kompetenzen der Europäischen Ethnologie zur empirischen Umsetzung dieses Konzeptes reflektiert werden.

»Parcours commentés« durch die Josefstadt – das methodische Setting Das methodische Modell Jean-Paul Thibauds , dessen ich mich hier versuchsweise bedient habe , sieht vor , dass die ForscherInnen einen Weg festlegen , den sie mit verschiedenen Personen begehen. Diese werden dazu aufgefordert , ihre Wahrnehmungen und Empfindungen zu äußern. Die Äußerungen werden auf Tonband aufgezeichnet und in der Analyse verglichen , um im Anschluss Abschnitte entlang des Weges herauszuarbeiten , die mit bestimmten Atmosphären identifiziert werden.20 Mit seinem Fokus auf konkrete Wahrnehmungen soll 16 Vgl. Kazig ( 2008 ): Atmosphären , S. 148 und 160. 17 Das gilt beispielsweise für die Arbeiten von Gernot Böhme und Orvar Löfgren : Böhme ( 1998 ): Atmosphäre einer Stadt ; Löfgren ( 2010 ): Urban atmospheres. Jürgen Hasse berücksichtigt in seiner jüngst erschienenen Studie über städtische Atmosphären zusätzlich zwar stellenweise Aussagen von PolitikerInnen und BewohnerInnen über Plätze und Viertel , allerdings eher innerhalb eines öffentlichen Diskurses. Er zielt damit also auch nicht auf situatives Erleben ab. Hasse ( 2012 ): Atmosphären. Ein derartiger Versuch aus dem Umfeld der Europäischen Ethnologie ist die laufende Dissertation von Melanie Keding »Erlebter Stadtraum. Eine ethnografische Untersuchung zum Ulmer Münsterplatz« am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. 18 Thibaud ( 2001 ): La méthode. 19 Kazig ( 2007 ): Konzept , S. 182–184 ; Kazig ( 2008 ): Atmosphären. 20 Vgl. Kazig ( 2007 ): Konzept , S. 182–184 ; Thibaud ( 2001 ): La méthode.

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dieser Zugang Elemente , die zur Entstehung von Atmosphären beitragen , zugänglich machen – auch abseits der Sprachkonventionen21 , die sich zur atmosphärischen Charakterisierung von Räumen und Situationen in der Alltagssprache etabliert haben. Ich habe , um die Möglichkeiten dieser Methode zu reflektieren , ebenfalls einen Weg ausgewählt. Zentral für diese Auswahl war die Überlegung , innerhalb einer relativ kurzen Strecke möglichst unterschiedliche Räume zu durchschreiten – in der Hoffnung , dass Brüche helfen könnten , Atmosphärisches zu verbalisieren.22 Als Ausgangspunkt für die Erkundungsspaziergänge , die der Auswahl des Weges vorausgingen , wählte ich daher die U-Bahn-Station Josefstädter Straße. Diese liegt entlang des Gürtels , einer der Hauptverkehrsadern der Stadt , die die inneren Bezirke Wiens wie ein Ring umschließt und von den äußeren trennt. Die beiden Bezirke , die an dieser Stelle aneinandergrenzen ( es sind der achte und sechzehnte Wiener Gemeindebezirk ), zeichnen sich durch eine recht unterschiedliche Sozialstruktur und vermutlich noch unterschiedlichere Zuschreibungen aus. Während die Josefstadt innerhalb des Gürtels als wohlhabender , traditionell bürgerlicher Stadtteil gilt , im Wien-Vergleich überdurchschnittlich große Wohnungen bietet und überwiegend BewohnerInnen aus den gehobenen sozialen Schichten beherbergt ,23 gilt Ottakring auf der anderen Seite des Gürtels seit der Gründerzeit als migrantisch geprägter Arbeiterbezirk.24 Nach wie vor findet sich in dem Viertel rund um den Brunnenmarkt , das direkt an den Gürtel angrenzt , eine große Zahl an Substandardwohnungen ebenso wie ein erheblicher Anteil an eher einkommensschwacher migrantischer Bevölkerung , was sich allerdings aktuell durch starke Gentrifizierungstendenzen verändert.25

21 Gernot Böhme verweist auf Begriffe wie »heiter«, »bedrückend« oder auch »elegant«, mit denen Atmosphären charakterisiert werden. Böhme ( 1995 ): Atmosphäre , S. 22 ; Böhme ( 1998 ): Atmosphäre einer Stadt , S. 155. Zur Bedeutung von Atmosphären für das Erzählen vgl. auch Lehmann ( 2007 ): Erfahrung , S. 67–98. Auch wenn von einem engen Zusammenhang zwischen Verbalisierung und Erleben auszugehen ist , halte ich es für sinnvoll , angesichts der unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Atmosphären analytisch zu unterscheiden zwischen Atmosphären als Modus der Wahrnehmung und Atmosphären als Modus der Darstellung. Vgl. Ionescu ( 2011 ): Konzeptualisierungen , S. 6 f. 22 Vgl. Thibaud ( 2002 ): Ambiances , S. 13. 23 Vgl. Faber ( 2000 ): Josefstadt ; Withalm ( 2008 ): Josefstadt. 24 Vgl. Maderthaner /  Musner ( 1999 ): Anarchie , S.  66 f. 25 Vgl. Schneider /  Zobl ( 2008 ): SOHO.

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Abb. 1  : Lage des 8. Bezirks (Josefstadt) und des 16. Bezirks (­ Ottakring) in Wien Zeichnung : Ana Rogojanu

Ich entschied mich schließlich im Vorfeld der gemeinsamen Begehungen für einen Weg , der durch beide Bezirke führte und innerhalb dieser möglichst unterschiedliche Räume – in Hinblick auf Nutzung , Verkehrssituation , Architektur , Dichte an Menschen und so weiter  – verband. Meine ursprüng­ liche Idee , den Weg durch beide Bezirke zu legen , gab ich auf , als sich zeigte , dass die gemeinsamen Spaziergänge sehr viel länger dauerten als erwartet und für die zweite Hälfte des Weges kaum noch Zeit beziehungsweise Energie vorhanden war. Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf den Teil des Weges innerhalb der Josefstadt , den ich mit meinen verschiedenen BegleiterInnen in vergleichbarer Weise begehen konnte. Dennoch bleibt zu bedenken , dass meine GesprächspartnerInnen von dem Plan , den Weg auf der anderen Seite des Gürtels fortzusetzen , wussten , und die Assoziationen beider Wegteile in Opposition zueinander – WienerInnen »wissen«, dass die Josefstadt »bürgerlich« und Ottakring »migrantisch« ist – in manchen Äußerungen mitschwingen. Den Ausgangspunkt der Spaziergänge bildete eine historistische Renaissance-Kirche am Uhlplatz , der direkt an den stark befahrenen mehrspurigen

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Gürtel angrenzt und mit einigen Bänken und Bäumen rund um die Kirche Verweilmöglichkeiten anbietet. Der Weg führte weiter über die Blindengasse an der Rückseite der Kirche hinein in die eher ruhige Florianigasse , die in den breiten und mit Grünflächen und Kopfsteinpflaster ausgestatteten Bennoplatz mündet. Weiter ging es geradeaus durch den zweiten Teil der Florianigasse bis zur deutlich stärker von Autos und Straßenbahnen frequentierten Kreuzung mit der Albertgasse. Hier bogen wir rechts ab in die Albertgasse , überquerten am Ende des nächsten Häuserblocks die Albertgasse und die Skodagasse und gingen über den Hamerlingplatz , in dessen Mitte sich ein Park mit Hundezone , Kinderspielplatz und üppiger Baumbepflanzung befindet. Von da aus führte der Weg über die Kupkagasse in die Josefstädter Straße , die von Autos und Straßenbahn befahrene Hauptstraße des Bezirks , in der sich zahlreiche Geschäfte befinden. Dieser folgten wir stadtauswärts , bis wir wieder den Gürtel erreichten.

Abb. 2 : Verlauf des Weges durch den 8. Wiener Gemeindebezirk Zeichnung : Ana Rogojanu

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Im Spätherbst 2009 ging ich diesen Weg mit drei Personen ab :26 Joseph , Mitte 20 , ist gebürtiger Wiener. Seine Bezüge zum gemeinsam durchschrittenen Raum resultieren vor allem aus seiner sommerlichen Arbeit in einem Hotel im selben Bezirk , das ­allerdings nicht direkt auf unserer Wegstrecke liegt. Auf dem Weg in die Arbeit und nach Hause bewegt er sich regelmäßig durch diesen Raum. Trotzdem waren ihm Teile der Strecke noch nicht bekannt.

Nikolina , Ende 20 , lebt seit etwa 15 Jahren in Wien. Ähnlich wie ­Joseph kennt auch sie den Raum vorwiegend als Durchgangsraum – sie wohnte eine Zeit lang im Nachbarbezirk und fuhr regelmäßig mit dem Fahrrad durch die Josefstadt zur Universität. Dabei kreuzte sie Teile unseres Weges.

Eva , Mitte 40 , lebt nun , nachdem sie eine Zeit lang in Oberösterreich gewohnt hat , wieder in Wien. Ihr ist ein Teil unserer Wegstrecke recht gut bekannt , da sie vor nicht allzu langer Zeit in dieser Gegend einen Kurs besucht hat.

Meinen drei GesprächspartnerInnen zeigte ich jeweils vor dem Spaziergang auf einem Stadtplan den Weg und bat sie , vorab ihre Bezüge zum und Erwartungen an den Raum zu artikulieren. Im Verlauf des Spaziergangs , dessen akustische Dimension ich mit einem Aufnahmegerät aufzeichnete , sollten sie dann Wahrnehmungen und Empfindungen , aber auch Assoziationen und Erinnerungen äußern. Den konkreten Weg entlang der vorgegebenen Strecke , also die Straßenseite , sollten Joseph , Nikolina und Eva ebenso selbst bestimmen wie die Gehgeschwindigkeit oder etwaige Pausen. Nach jedem der Spaziergänge gab es eine kurze Nachbesprechung und ich notierte mir anschließend meine persönlichen Erfahrungen des gemeinsamen Gehens. 26 Jean-Paul Thibaud sieht vor , die Wegstrecke mit etwa 20 Personen zu begehen : Thibaud ( 2001 ): La méthode , S. 84. Mir geht es allerdings nicht um eine genaue Umsetzung seines Vorgehens mit dem Ziel , Atmosphären spezifischer Räume abzuleiten , sondern darum , Potenziale seines Vorgehens auszuloten und die Erfahrungen mit dieser Methode zu reflektieren. Daraus erklärt sich auch die geringere Zahl an Befragten. Die Namen der BegleiterInnen sind in diesem Text anonymisiert. Die einzelnen Spaziergänge dauerten 22 Minuten ( Joseph ), 53 Minuten ( Nikolina ) und 45 Minuten ( Eva ). Ich habe die Gespräche auf Tonband aufgezeichnet und anschließend mehrfach durchgehört und teilweise transkribiert. Zitate sind im Folgenden lediglich mit dem Namen der betreffenden Person gekennzeichnet , nicht mit den genauen Minutenangaben.

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Gesprächsanregungen – Ausgangspunkte für Atmosphären? Trotz erheblicher Unterschiede zwischen den einzelnen Spaziergängen , auf die ich noch eingehen werde , gibt es deutliche Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Aufhänger für Äußerungen. Elemente des gebauten Raumes , die vor allem die visuelle Wahrnehmung bestimmen – wie die Gebäudehöhe , der Architekturstil , die Farben der Häuser und vieles mehr – spielten ebenso eine Rolle wie die taktil spürbaren Eigenschaften des Raumes , beispielsweise das Kopfsteinpflaster auf dem Bennoplatz und auf dem Hamerlingplatz , aber auch Stimuli wie Geräusche , vor allem der Verkehrslärm vom Gürtel , der den Uhlplatz dominierte , oder Gerüche , die in der Josefstädter Straße aus Geschäften auf den Gehsteig drangen. Neben direkt wahrnehmbaren beziehungsweise sinnlich erfahrbaren Aspekten war aber auch die Bedeutungsdimension des Raumes häufig Thema. Nach wem ein Platz benannt oder wem die Kirche am Uhlplatz geweiht ist , was eine Zeichnung auf einem Haus bedeutet , waren Fragen , die während des Spa-

Abb. 3 : Blick vom Uhlplatz Richtung Gürtel Foto : Ana Rogojanu

ziergangs auftauchten. Dabei wurde deutlich , dass vieles von der individuellen Möglichkeit und Bereitschaft abhängt , bestimmte Zeichen im Raum zu lesen. So fielen Nikolina am Hamerlingplatz Graffiti beziehungsweise Zeichnungen an einer Wand auf , die sie – im Gegensatz zu mir – aufgrund ihrer Kroatischkenntnisse entschlüsseln konnte. Die Bedeutungsebene erschließt sich den Gehenden dabei nicht nur durch schriftliche Zeichen , sondern auch durch die Materialität des Raumes. So assoziierte beispielsweise Joseph das Kopfsteinpflaster und die gusseisernen Steher auf dem Bennoplatz mit »altem Stadt-

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feeling«. Der Raum beinhaltet also neben seiner direkt fühlbaren Dimension zahlreiche Verweise , die auf historisch-kulturellem Wissen aufbauen und von verschiedenen Personen zum Teil unterschiedlich gelesen werden ( können ). Stellenweise erwies sich auch die Nutzung des Raums durch andere Menschen als konstitutives Element des Raumerlebens. Joseph erwähnte , dass er die Kinderstimmen auf dem Spielplatz angenehm fand , Eva charakterisierte diverse Abschnitte des Weges anhand der Menschen , die uns begegneten , Nikolina beklagte am Bennoplatz das Fehlen von Menschen beziehungsweise von sichtbarer menschlicher Nutzung des Raumes. Auch in Situationen , in denen nicht direkt auf andere Menschen Bezug genommen wurde , ist implizit klar , dass deren Bewegungen als zentrales Charakteristikum des Raumes wahrgenommen wurden , beispielsweise bei der Beschreibung der Josefstädter Straße als »geschäftig« ( Joseph ).

Abb. 4  : Kopfsteinpflaster und gusseiserne Steher auf dem ­Bennoplatz Foto : Ana Rogojanu

Eine zentrale Beobachtung im Rahmen von allen drei Spaziergängen war , dass das Wahrgenommene in der Regel nicht nur benannt , sondern zumeist auch kommentiert und bewertet wurde oder den Ausgangspunkt für Erzählungen bildete , die von der konkreten Situation wegführten. Der Raum wurde oft in Hinblick auf ein eigenes Bild von ›idealer Stadt‹ beurteilt. Vor allem Nikolina und Eva bewerteten die durchschrittenen Räume immer wieder hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit und Wohnqualität. Nikolina merkte an , dass die Balkone am Hamerlingplatz  – so mitten in der Stadt  – aufgrund der schlechten Luft eigentlich nicht wirklich genutzt werden könnten , Eva äußerte sich zwar positiv über die »schönen Häuser«, betonte aber auch , dass das keine Wohngegend für

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Familien mit Kindern sei , weil es so wenig Grünflächen gebe. Die Bewertungen unterschieden sich zum Teil ganz deutlich , beispielsweise die Tankstelle in der Florianigasse betreffend : »Aha , die Tankstelle ist neu , die kenne ich noch nicht , kannte ich noch nicht« ( Joseph , mit angenehm überraschtem Unterton ). »Tankstelle , schirch , stinkt , obwohl es stinkt nicht einmal , aber in meinem Kopf stinkt es sofort , wenn ich so eine Tankstelle nur sehe« ( Nikolina ). »Also , dass das überhaupt gebaut werden darf , eine Tankstelle unter einem Wohnhaus. Also das ist für mich eine grauenhafte Vorstellung , du sitzt auf einer Bombe« ( Eva ).

Sehr großen Raum nahmen in den Erzählungen persönlich-biografische Bezüge zur gewählten Wegstrecke ein. Joseph , Nikolina und Eva erwähnten immer wieder , wo sie schon einmal waren , bei welcher Gelegenheit und aus welcher Richtung sie welchen Teil des Weges normalerweise zurücklegen , was ihnen noch unbekannt war. Neben diesen direkt benannten Bezügen floss auch das Erfahrungswissen über den Raum immer wieder in die Kommentare ein  – in Aussagen wie : »Ja , und da hab ma schon die Autos , den Stau , ganz klassisch für diese Gasse übrigens« ( Joseph ). Oft knüpften sich Abb. 5 : Haus mit Balkonen, an bestimmte Orte Erinnerungen Hamerlingplatz an konkrete Ereignisse. Nikolina erFoto : Ana Rogojanu wähnte , dass sie einmal vor einem Vorstellungsgespräch in einem Geschäft , an dem wir vorbeigingen , Haargummis gekauft hatte. Manchmal war das im Raum Gesehene allerdings auch Ausgangspunkt für Assoziationen , die über den konkreten Raum hinausführten und zum Teil zu längeren Erzählungen wurden – wie in Evas Fall über die Kindheit der eigenen Söhne. An diesen Einblicken in die Spaziergänge wird deutlich , dass für die Äußerungen entlang des Weges eine Vielzahl von sowohl subjekt- als auch raumbezogenen Faktoren ausschlaggebend waren , die sich in den zentralen Überle-

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gungen Thibauds , Kazigs und auch anderer27 zum Konzept der Atmosphäre finden lassen. Allerdings sind damit noch keine Atmosphären beschrieben im Sinne einer »durchgehende[ n ] Qualität [ … ] , [ die ] die verschiedenen Komponenten einer Situation zu einem stimmigen Ganzen zusammen[ bindet ] und [ … ] jeder Situation ihren besonderen Charakter [ verleiht ]«28. Diese Einheitlichkeit und Durchgängigkeit von Atmosphären , die nach Thibaud »durch einen einzelnen Begriff charakterisiert werden [ können ]«29 , war in den von mir angeregten und angeleiteten Spaziergängen nicht unmittelbar zu beobachten , zumindest waren Beschreibungen eines Raumes durch einen Gesamtbegriff äußerst selten.

Abb. 6  : Tankstelle Florianigasse Foto : Ana Rogojanu

Thibauds und Kazigs empirische Umsetzung des Atmosphärenkonzeptes sieht dies auch gar nicht vor. Sie zielt nicht zwingend auf Gesamtcharakterisierungen von Räumen durch die Menschen , die Atmosphären erleben. Diese entstehen erst auf der wissenschaftlich-analytischen Ebene , indem die ForscherInnen Übereinstimmungen zum Teil sehr konkreter ( nicht allgemein klassifizierender ) Äußerungen mehrerer Personen entlang desselben Weges als »Atmosphären« benennen , beispielsweise als »leicht gefährliche Atmosphäre«30. Dennoch tut sich hier ein Spannungsfeld auf : Es bleibt zu fragen , ob den einzelnen Äußerun27 Vgl. beispielsweise Hasse ( 2012 ): Atmosphären , S. 20–26 ; Hauskeller ( 1995 ): Atmosphären. 28 Thibaud ( 2003 ): Sinnliche Umwelt , S. 284. 29 Ebd. 30 Kazig ( 2008 ): Atmosphären , S. 154.

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gen , die dann in der wissenschaftlichen Interpretation zu Atmosphären zusammengeführt werden , tatsächlich so etwas wie atmosphärisches Erleben im Sinne einer durchgehenden affektiven Tonalität zugrunde liegt.

Atmosphären der Josefstadt? Beim Vergleich der von mir angeregten Spaziergänge lassen sich stellenweise in der Tat Gemeinsamkeiten ausmachen. Die Äußerungen von Joseph und Nikolina zeigen , dass der Hamerlingplatz in gewisser Weise als eigener , im Gegensatz zu anderen Teilen des Weges stehender Raum wahrgenommen wurde. Joseph sagte , nachdem er visuelle und akustische Eindrücke wie Bäume und vom Spielplatz hörbare Kinderstimmen benannte : »Bisschen ländlich wirkt das da schon vom Feeling.« Bei Nikolina wird die spezielle Wahrnehmung des Raumes vor allem durch die Betonung der Veränderung deutlich , als wir in die Josefstädter Straße einbiegen : »Hier ist es wieder lauter merke ich , so geballter alles. Viele Geschäfte auf einmal. Da waren früher , also vorhin waren ja kaum Geschäfte da.«

Abb. 7  : Spielplatz Hamerlingpark Foto : Ana Rogojanu

Neben den allgemeineren Charakterisierungen von Räumen und stellenweisen Übereinstimmungen zwischen den Äußerungen entlang des Weges , in denen sich Atmosphärisches andeutet , zeigt sich aber auch eine gewisse Fragilität oder Momenthaftigkeit von Stimmungen , die schnell umkippen , wenn sie von anderen Eindrücken überlagert werden. So kommentierte Joseph beispielsweise in der Josefstädter Straße : »Aber generell kriegt man das schon mit , dass es hier sehr

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geschäftig ist , also diese ständige Bewegung , also nicht jetzt unbedingt ein Ruheort hier im Gegensatz vorher zum Platz und Park , wo wir waren. Was ich überhaupt nicht leiden kann , ist , wenn einer raucht , der geht an dir vorbei , und du danach genau im falschen Moment einatmest und dann so.« Unabhängig davon , ob man diese Äußerung zum Zigarettenrauch in der Analyse als Teil der geschäftigen Atmosphäre oder als Bruch in dieser interpretiert : Angesichts der Tatsache , dass Joseph die Straße etwas später nochmals als »geschäftig«, aber »nicht unangenehm« beschreibt , zeichnet sich hier zumindest ein Stimmungswandel ab , der die Durchgängigkeit der affektiven Tonalität in dieser Situation infrage stellt und das Augenmerk auf die Situativität der Beschreibung legt. Neben Passagen , in denen sich  – entweder direkt benannt oder indirekt durch eine gewisse Einheitlichkeit der Äußerungen  – die Stimmung in einem Abschnitt unseres Weges für meine GesprächspartnerInnen zu verdichten schien , blieben über weite Strecken einzelne Aussagen eher zusammenhangslos , wie etwa Nikolinas Kommentare in der Albertgasse  : »Schau mal ! Weiß nicht , ist nicht üblich , im niedrigen Stock so was [ Blumenkistchen , Anm. AR ] zu ­haben , eigentlich total unüblich. Riecht nicht wirklich. Kunsthandwerk  , Abb. 8  : Josefstädter Straße, Blick Richtung die schließen aber auch , oder ? Das Gürtel Foto : Ana Rogojanu schaut sehr lustig aus , das Geschäft , sehr , sehr lustig. Schau , da ist wieder ein , zwei sogar so niedrige Häuser wie drüben , wo man sich denken kann , dass da schöne Innenhöfe drinnen sind. Jetzt riecht was ! So nach , nach Red Bull. Kurz , jetzt ist es wieder weg.« Abgesehen davon , dass die Äußerungen von Joseph , Nikolina und Eva streckenweise gar nicht auf eine einheitliche Stimmung schließen lassen , waren auch erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Spaziergängen zu beobachten. So kam es beispielsweise aufgrund von persönlich gefärbten Erinnerungen und Einstellungen immer wieder zu widersprüchlichen Bewertungen ein und derselben Beobachtung , wie ich am Beispiel der Tankstelle in der Floriani­gasse gezeigt habe. Und überhaupt gab es große Unterschiede in den Aufmerksamkeiten , die die Spaziergänge dominierten. Diese hängen

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mit individuellen Vorerfahrungen , mit dem Wissen über den Raum oder mit persönlich-biografischen Bezügen zum Raum zusammen. Für Joseph war sein eigenes Wien-Bild immer wieder Thema. Er verwies auf die schönen Häuser , auf das für den Bezirk seiner Meinung nach Typische. Im Vergleich zu Nikolina und Eva legte er einen starken Fokus auf die Verkehrssituation , was wohl auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Praxis der Raumaneignung als passionierter Autofahrer zu sehen ist. Nikolina richtete , wie sie selbst sagte , große Aufmerksamkeit auf »Schrift«, womit sie Ladenschilder ebenso meint wie Zeichnungen an Fassaden. Außerdem war sie diejenige , die am stärksten affektive Reaktionen verbalisierte. Eva achtete besonders auf die Architektur des Raumes und stellte immer wieder Überlegungen in Hinblick auf die erwartete Wohnqualität der Gegend an. Besonders auffällig war im Gespräch mit ihr , dass Elemente des Raumes oft längere , auf die eigene Biografie bezogene Erzählungen hervorriefen , die nichts mehr mit der Wahrnehmung des Raumes an sich zu tun hatten. Die Eindrücke von Joseph , Nikolina und Eva verdichteten sich also im Vergleich miteinander – um auf das anfängliche Anliegen zurückzukommen – nur an einzelnen Punkten so weit , dass es plausibel ist , von bestimmten Atmosphären zu sprechen. Das mag mit der bereits angesprochenen Wechselhaftigkeit beziehungsweise Fragilität von Atmosphären zu tun haben , die auch Rainer Kazig im Blick hat , wenn er feststellt : »Da der Atmosphärenbegriff von der Bedeutsamkeit aller menschlichen Sinne ausgeht , kann grundsätzlich eine Vielzahl sinnlich wahrnehmbarer Elemente für die Entstehung einer Atmosphäre von Bedeutung werden. Dabei ist grundsätzlich von einer radikalen Kontextualität auszugehen. Sie besagt , dass sich eine Atmosphäre in kürzesten räumlichen und zeitlichen Abständen wandeln kann , wenn sich die sinnlich erfahrbare Umweltkonstellation entsprechend verändert.«31 Es bleibt zu fragen , ob im Zuge der Bewegung durch den Stadtraum nicht ein besonders rascher und zum Teil auch von Zufällen bestimmter Wechsel dieser Umweltkonstellationen erfolgt , der es besonders schwierig macht , hier durchgängige Atmosphären festzustellen. Darüber hinaus sind auch in Rainer Kazigs Auffassung Atmosphären nicht deterministisch , sondern »lediglich als das Potenzial eines Raumes für die Ausprägung einer bestimmten Befindlichkeit zu verstehen«32 , wobei einerseits Räume mit »sehr unterschiedlichen Potenzialen ausgestattet [ sind ]«33 , andererseits »die Bereitschaft [  von Personen  ] sich auf eine Atmosphäre 34 einzulassen« variiert. So gesehen gab es entlang des Weges durch die Jo31 Ebd. , S. 151. 32 Kazig ( 2007 ): Konzept , S. 179. 33 Ebd. 34 Ebd , S. 180.

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sefstadt wohl Strecken , in denen sich keine besondere Stimmung aufdrängte. Laut Rainer Kazig gibt es durchaus Atmosphären , die sich durch eine Abwesenheit ablenkender Elemente auszeichnen und keine besondere Befindlichkeit hervorrufen , er spricht in diesem Zusammenhang von »Durchgangsatmosphäre[ n ]«35. Ob es aber sinnvoll ist , das Atmosphärenkonzept , das sich ja gerade durch eine besondere Dichte und Aufmerksamkeit für die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum auszeichnet , so zu nutzen , halte ich für fraglich. Problematisch erscheint mir außerdem die Abstraktion von der situativen Wahrnehmung und der kulturell-biografischen Erfahrung einzelner Menschen , die notwendigerweise passiert , wenn man versucht , mithilfe der Methode der »parcours commentés« allgemein auf die Atmosphären von Räumen zu schließen. Jean-Paul Thibaud filtert in seinem Ansatz bewusst die Unterschiede zwischen den Äußerungen verschiedener Personen aus und konzentriert sich ausschließlich auf die Übereinstimmungen zwischen den Spaziergängen.36 Damit gerät allerdings ein zentraler Faktor des Raumerlebens , nämlich die subjektiven Voraussetzungen , die zu sehr unterschiedlichen Umgangsweisen mit den Eindrücken des Raums führen können , aus dem Blickfeld. Rainer Kazig berücksichtigt in seinen Überlegungen zu typischen Atmosphären städtischer Räume zwar unterschiedliche Reaktionen etwa hinsichtlich der »gemeinschaftlichen Atmosphäre«, von der sich manche Menschen angesprochen , andere irritiert fühlen.37 Es bleibt aber auch hier zu überdenken , ob dann von einer Atmosphäre zu sprechen nicht eine Verflachung eines Konzeptes mit sich bringt , das grundsätzlich zur Spezifizierung und Differenzierung anregt und dabei in besonderer Weise objektive ebenso wie subjektive Elemente berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus plausibel , dass sich das Konzept der Atmosphäre eignet , um die engen Bezüge von gebautem Raum , Geschehen im Raum , menschlicher Wahrnehmung und menschlichem Agieren im Raum für manche Situationen , beispielsweise ein Straßenfest oder die Orgelprobe in der Kirche , zu erklären. Auch für den ruhigen Hamerlingplatz mit seinen vielen Bäumen und dem von Kindern frequentierten Spielplatz , der in den von mir angeregten Spaziergängen in ähnlicher Weise charakterisiert wurde , mag dieses Konzept manche Erklärungskraft besitzen – allerdings mit den Vorbehalten , dass es eine Reihe von Variablen gibt , die den Eindruck des Platzes verändern , und dass verschiedene Personen durchaus unterschiedliche affektive Reaktionen entwickeln können. Ich würde daher dafür plädieren , das Konzept der Atmo35 Kazig ( 2008 ): Atmosphären , S. 155. 36 Vgl. Thibaud ( 2001 ): La méthode , S. 85. 37 Kazig ( 2008 ): Atmosphären , S. 156.

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sphäre nicht auf den Raum , sondern auf die räumliche Situation38 zu beziehen und die Intersubjektivität von Atmosphären vor allem dort zu thematisieren , wo sie sich als raumkonstituierend erweist , also wo sich Atmosphären in besonderer Weise durch räumliche Elemente ( mitsamt ihren kulturellen und symbolischen Implikationen ) und durch das Agieren von Menschen im Raum verdichten.

Der gemeinsame Spaziergang als Methode Abseits der Frage , wie nützlich das Atmosphärenkonzept tatsächlich zur Beschreibung von Räumen ist , bleibt zu klären , inwiefern sich die Methode des kommentierten gemeinsamen Spaziergangs eignet , um zentrale Elemente der Raumwahrnehmung und Raumaneignung sichtbar zu machen. Diesbezüglich ist zu bedenken , dass sich der Spaziergang mit einer anderen Person unter der Aufforderung , Wahrnehmungen und Empfindungen in Worte zu fassen , deutlich von alltäglichen Formen des Raumerlebens unterscheidet. Während Thibaud und Kazig hierauf nicht explizit eingehen , reflektiert Elke Krasny dies mit Bezug auf ihre durchaus ähnlichen Spaziergänge folgendermaßen : »Das Mitgehen schafft die erste Veränderung der Situation des alltäglichen Weges für das Verfahren des Narrativen Urbanismus. Die zweite Veränderung ist die Übersetzung der Schritte in Worte.«39 Ich möchte zunächst den zweiten Aspekt aufgreifen , den Krasny anspricht. Die fortwährende Verbalisierung von sinnlichen Eindrücken ist im alltäglichen Bewegen durch Stadträume unüblich – Michel de Certeau geht von der Unbewusstheit der praktischen Raumaneignung aus40 – und wurde von meinen GesprächspartnerInnen als durchaus anstrengend und ungewöhnlich empfunden. Während der von mir angeregten Spaziergänge zeigte sich das unter anderem daran , dass im Verlauf des Weges die Aussagen und Beschreibungen immer mehr an Dichte verloren und die Sprechpausen immer länger wurden. In den Nachbesprechungen beschrieben Joseph , Nikolina und Eva den Spaziergang als eine Aufgabe , die viel Konzentration erforderte und schwieriger umzusetzen war als erwartet. Die Anstrengung , die eine solche Erfahrung bedeutet , spricht auch Thibaud an ,41 allerdings ohne auf das Verhältnis zwischen seinem methodischen Setting und Formen alltäglicher Raumaneignung einzugehen. 38 Ich knüpfe damit an eine Konzeptualisierung von Situation als »sozial , zeitlich und räumlich begrenzte« und »vom Subjekt bewusst erfahrene Erlebnis- und Handlungseinheit« an. Schmidt-Lauber ( 2003 ): Gemütlichkeit , S. 206–209 , hier S. 207. 39 Krasny ( 2008 ): Urbanismus , S. 31. 40 De Certeau ( 1988 ): Kunst , S. 182. 41 Thibaud ( 2001 ): La méthode , S. 84.

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Meine empirischen Erfahrungen mögen zwar insgesamt den Sinn des Atmosphärenkonzeptes mit seiner Aufmerksamkeit für objektive wie für subjektive Elemente bekräftigen , allerdings stellen sie die Adäquatheit ( und vielleicht nicht zuletzt auch die Möglichkeit ) seiner empirischen Umsetzung mit der Methode der »parcours commentés« infrage. Zum einen stößt man dabei auf die Schwierigkeit , Sinneseindrücke in Worte zu fassen , mit der sich auch die VertreterInnen einer sinnlichen Ethnographie konfrontiert sehen.42 »Wenn Atmosphäre zu tun hat mit dem unmittelbaren , vor-reflexiven Charakter der Erfahrung«43 , um mit Thibaud zu sprechen , dann ist zum anderen zu fragen , ob das beschriebene Forschungssetting nicht gerade Formen atmosphärischer , also alle Sinne , Kontexte und Befindlichkeiten einschließender Wahrnehmung behindert. Der Zwang zur Verbalisierung bewirkte in den von mir angeleiteten Spaziergängen eine Konzentration auf einzelne , in Worte fassbare Eindrücke , Raumbeschreibungen , wie sie etwa in Belletristik oder Stadtführern vorzufinden sind , oder kurze geschlossene Erzählungen , die der Alltagspraxis des gemeinsamen Spaziergangs näher sind. Genau diese Kanalisierung der Aufmerksamkeit ist aber möglicherweise für das Einlassen auf die Stimmung eines Raumes nicht gerade förderlich. Darüber hinaus muss bedacht werden , dass das gemeinsame Gehen , während dessen eine Person der anderen Dinge zeigt und erzählt , an gewisse touristische Routinen des Stadtbeobachtens44 und des Stadtzeigens wie beispielsweise die Stadtführung anknüpft und sich auch damit deutlich von der alltäglichen Bewegung durch die eigene Stadt unterscheidet. Joseph betonte sowohl an verschiedenen Stellen während des Spaziergangs als auch in der Nachbesprechung , dass er für gewöhnlich diesen Raum schnell durchqueren möchte und noch nie so bewusst darauf geachtet hat , was man hier wahrnehmen kann. Eva verwies , als sie sich für den Spaziergang bereit erklärte , unter anderem darauf , dass sie gerne durch fremde Städte , aber inzwischen auch immer wieder durch Wien mit einem touristischen , jedoch nicht nur auf die großen Sehenswürdigkeiten ausgerichteten Blick gehe. Und Nikolina erzählte in der Nachbesprechung , dass die Situation sie an eine Zeit erinnert habe , in der sie mit einer guten Freundin immer wieder lange Spaziergänge gemacht habe. Meine GesprächspartnerInnen brachten also auch diesbezüglich unterschiedliche Vorerfahrungen und eigene Routinen mit , die auch ihren Blick und die Fokussierung ihrer Wahrnehmung sowie ihre Art zu sprechen beeinflussten , wobei gerade Letztere wiederum vom Verhältnis zu mir abhängig war. Dies spricht stark für eine kontextualisierende und nicht abstrahierende Analyse. 42 Vgl. beispielsweise Bendix ( 2005 ): Senses , S. 7 ; Bendix ( 2006 ): Rolle der Sinne , S. 71. 43 Thibaud ( 2003 ): Sinnliche Umwelt , S. 286. 44 Vgl. Löffler ( 2001 ): Reisen.

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Des Weiteren ist die körperliche Dimension der gemeinsamen Bewegung durch den Raum nicht zu vernachlässigen. Ich hatte mir vorgenommen , mich an meinen BegleiterInnen zu orientieren und ihnen innerhalb der gesteckten Wegstrecke die Führung zu überlassen , ganz ähnlich wie das auch Thibaud in seiner Ausführung der Methode der »parcous commentés« skizziert.45 Allerdings erwies sich das als überaus schwierig. Ich erlebte ein ständiges nonverbales Aushandeln der Gehgeschwindigkeit und merkte immer wieder , wie ich mit meinen Blicken die Blicke meiner PartnerInnen beeinflusste und umgekehrt jedes Mal neue Dinge bemerkte , weil Joseph , Nikolina und Eva auch meine Aufmerksamkeit neu kanalisierten. Dies sind Daten , die das Tonband nicht aufzeichnet , die jedoch für mich als starke körperliche Wahrnehmung konstitutiver Bestandteil auch meines eigenen Raumerlebens in diesem Augenblick waren. Das gemeinsame Gehen ist somit wohl als eine eigene , sich deutlich von der individuellen Bewegung unterscheidende Technik zu sehen. Diese Beobachtung verdeutlicht zum einen , wie groß der Beitrag anderer Menschen für das Raumerleben und für die eigene Raumaneignung , aber auch für die Produktion von Raum ist – Jean-Paul Thibaud weist explizit auf die Bedeutung der Bewegung von Menschen als konstitutives Element von Raum hin und beschreibt die routinisierten Praktiken der Abstimmung der eigenen Bewegung auf die anderen im Raum befindlichen Menschen.46 Er bezieht sich dabei beispielsweise auf die Bewegung in einer Menschenmenge , die eine gewisse Aufmerksamkeit für das »richtige« – also den gesellschaftlichen Konventionen entsprechende – Abstandhalten erfordert und einen spezifischen Bewegungsrhythmus vorgibt. Im gemeinsamen , einander begleitenden Gehen , das den »parcours commenté« auszeichnet , verstärkt sich diese Abstimmungsleistung. Daraus ergeben sich auch Erkenntnismöglichkeiten , wie die britischen Sozialanthropologen Jo Lee und Tim Ingold in einer Arbeit zum Gehen als alltäglicher Praxis der Raumaneignung und als Forschungsmethode zeigen : »Through shared walking , we can see and feel what is really a learning process of being together , in adjusting one’s body and one’s speech to the rhythms of others , and of sharing ( or at least coming to see ) a point of view.«47 Dem ist zuzustimmen , auch wenn diese ›Daten‹ schwer zu erfassen sind. Jedenfalls handelt es sich um eine reziproke Anpassungsleistung , bei der die Forscherin zur zentralen Miterzeugenden des Bewegungsstils und der Rahmenbedingungen der Wahrnehmung wird , was wiederum die entkontextualisierte Abstraktion von Atmosphären aus solchen Spaziergängen fragwürdig erscheinen lässt.

45 Thibaud ( 2001 ): La méthode , S. 84. 46 Thibaud ( 2002 ): Ambiances , S. 5. Vgl. dazu auch Hasse ( 2012 ): Atmosphären , S. 21 f. 47 Lee /  Ingold ( 2006 ): Fieldwork , S.  83.

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Die Atmosphäre als heuristisches Instrument Zentraler Befund der drei Spaziergänge ist die Situativität , Fluidität und Fragilität der Wahrnehmung. Es scheinen sich zwar an bestimmten Stellen die Eigenschaften des Raumes so stark zu verdichten , dass dies zu ähnlichen Aussagen und Charakterisierungen durch unterschiedliche Personen führte , allerdings wurde deutlich , dass die individuellen subjektiven Voraussetzungen , Routinen und Hintergründe ebenfalls zentral waren. Somit erscheinen die Festschreibung und Verallgemeinerung von Atmosphären mit der damit einhergehenden Anbindung an den Raum , wie kleinteilig und differenziert auch immer sie erfolgen , als problematisch , zumal damit sowohl die Menschen als auch der situative Charakter von Atmosphären aus dem Blick geraten.48 Neben der Grundsatzfrage , ob es überhaupt zielführend ist , zu versuchen , ( ­alle ) Räume im Sinne von Atmosphären zu charakterisieren , sind auch die Grenzen der angewandten Methode zu sehen. Das Atmosphärenkonzept zielt – in grundsätzlich überzeugender Weise  – auf stark routinisierte und kulturell grundierte Formen der Raumaneignung und -erfahrung ab , die jedoch gerade aufgrund ihres vorreflexiven Charakters schwer zu fassen sind.49 Die Verbalisierung steht eigentlich  – sowohl aufseiten der BegleiterInnen als auch der Forscherin  – im Widerspruch dazu. Damit ist auch ein Problemfeld angeschnitten , mit dem sich Ansätze einer »holistic ethnographic practice«50 , die die sinnliche Dimension einzuschließen versucht , grundsätzlich befassen müssen. Nichtsdestotrotz stellt sich das Atmosphärenkonzept aus Sicht der Europäischen Ethnologie – und damit komme ich auf das eingangs formulierte Ziel dieses Aufsatzes zurück – als sensibles Instrument zu einer Erfassung der komplexen Wechselwirkungen zwischen subjektiver Wahrnehmung  , Erfahrung und Befindlichkeit , Handeln und Raum in konkreten Situationen heraus. Umgekehrt bereichert der Blick der Europäischen Ethnologie auf eine in der Soziologie beziehungsweise der Kulturgeografie entwickelte Methode diese um eine historische , soziale und kulturelle Kontextualisierung im Sinne von routinisierten Raumaneignungspraktiken. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir als ein inspirierendes Unterfangen , Atmosphären als heuristisches Instrument für die ethnographisch-kulturwissenschaftliche Stadt- und Raumforschung zu 48 Für eine Kritik an Umgangsweisen mit dem Atmosphärenkonzept , die die Subjekte und ihre jeweiligen Hintergründe und Erfahrungen aus dem Blick verlieren , vgl. beispielsweise Löw ( 2001 ): Raumsoziologie , S.  204–210 ; Schmidt-Lauber ( 2003 ): Gemütlichkeit , S. 209–214. 49 Mit der Bedeutung , aber auch Schwierigkeit der Analyse von alltäglichen Routinen für die kulturwissenschaftliche Arbeit haben sich unter anderem auch Billy Ehn und Orvar Löfgren auseinandergesetzt. Vgl. Ehn /  L öfgren ( 2009 ): Routines. 50 Bendix ( 2005 ): Senses , S. 5.

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diskutieren und die facettenreichen , multimethodischen Zugänge , die die ethnographische Arbeit bereitstellt ,51 in diesem Sinn zu nutzen.

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Vgl. dazu beispielsweise Ingold /  L ee ( 2008 ): Walking.

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Jochen Bonz

DAS GESPRÄCHSSUMMEN

FREUNDSCHAFTLICHKEIT ALS ERSCHEINUNGSFORM DER FUSSBALLBEGEISTERUNG AUF DER FRIEDHOFSTRIBÜNE DES WIENER SPORTCLUB-PLATZES Für Simon Kürmayr 1

»Zum Heimspiel gegen den Tabellennachbarn FC Aarau nehme ich mein Diktaphon ans Spiel mit und konzentriere mich während des ganzen Spiels für einmal nicht auf das Spielgeschehen und das Verhalten der Fans , sondern ganz auf den akustischen Support ; auf Gesänge , Lieder und Sprechchöre«2 , schreibt Jan Jirat zur Einführung in ein Kapitel seiner Ethnographie der Fankurve des FC Schaffhausen und stellt im Weiteren den Spielverlauf , die Stimmungen in der Kurve sowie Interaktionen zwischen Fans und Mannschaft anhand einer chronologischen Darstellung der aufgezeichneten Gesänge und Sprechchöre dar. »In den Anfangsminuten dieses ungemein wichtigen Spiels im Kampf gegen den drohenden Abstieg bleibt die Stimmung verhalten.«3 Daran ändert auch ein von den Ultras angestimmtes Trinklied nichts. Erfolglose Bemühungen der gegnerischen Mannschaft werden mit Häme quittiert , ein Gegentor wird mit aggressiven Sprechchören beantwortet , auf die Resignation folgt. Kurz vor der Halbzeitpause wird das Spiel der Mannschaft konzentrierter , und die Fans singen nach einem Tor – und sie erhalten es. Es wird gelacht. »[ D ]ie Hoffnung ist zurückgekehrt. [ … ] Die Stimmung ist in der zweiten Halbzeit ungleich besser als in der ersten , die Kurve rückt auch physisch näher zusammen , die Gesänge und Sprechchöre werden nun lauter und von weit mehr Personen mitgesungen.«4 Aber Entscheidendes tut sich nicht mehr im Spiel , und Jirat kann außer der Beschimpfung gegnerischer Spieler , des Schiedsrichters und der auf der an die Kurve angrenzenden Tribüne sitzenden , weniger aktiven Anhänger des FC Schaffhausen nur noch das Beklatschen der eigenen Mannschaft nach Spielende festhalten. Bereits diese kurze Skizze der Untersuchung Jirats unterstreicht die Produktivität zweier Paradigmen zeitgenössischen empirischen kulturwissenschaftlichen Forschens. Das erste Paradigma besteht darin , von konkreten sozialen Situatio-

1

Mein Dank gilt Simon Kürmayr sowie Lilli Bonz und Felix Taschner , die zum Zustandekommen des vorliegenden Textes entscheidend beitrugen. 2 Jirat ( 2007 ): Schaffhauser Bierkurve , S. 114. 3 Ebd. 4 Ebd. , S. 117.

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nen auszugehen , vom »Kleinen«5. Das zweite Paradigma besteht in der Berücksichtigung der »sensory and sensual totality of experience«6 , wie sie etwa Regina Bendix in ihrem Plädoyer für eine »ethnography of listening«7 einfordert. Auch die im Folgenden beschriebenen Beobachtungen der Fußballbegeisterung auf der Friedhofstribüne des Wiener Sportclub-Platzes sind diesen Paradigmen verpflichtet. Sie knüpfen insofern an Jirats Methodologie an , als sie ebenfalls von Klängen als Untersuchungsmaterial ausgehen. Ein wesentlicher Unterschied zu Jirat besteht allerdings auch. Wie die ebenfalls in der Dimension des Klanglichen Annäherungen an die Fußballfankultur unternehmenden Les Back8 und Meri Kytö9 beschränkt Jirat seine Interpretation auf den semantischen Gehalt des lautlich Artikulierten : Die aufgenommenen Gesänge , die Sprechchöre und die Stimmen einzelner Fans werden maßgeblich als Aussagen in ihrem Bedeutungsgehalt interpretiert. Mit dieser Fokussierung wird das Potenzial kulturwissenschaftlicher Klangforschung jedoch nicht ausgenutzt , sind Klänge doch nicht nur verständlich , sondern besitzen ihre mediale Qualität gerade darin , in ihrem »elokutiven«10 Charakter und damit in ihrer materiellen Präsenz erfahrbar zu sein.11 Durch die Berücksichtigung des materiellen Charakters des Klanglichen erfährt das Arbeiten im Kleinen in meinem Forschungsansatz eine Verstärkung. Sie scheint mir auf einer Linie zu liegen mit dem Interesse , das in der AkteurNetzwerk-Theorie dem Detail entgegengebracht wird und das Bruno Latour als eine produktive »Kurzsichtigkeit«12 bezeichnet , welche die ANT Betreibenden auszeichne – die Ameisen , wie er schreibt. Diese Nähe zum Konkreten ist bei Latour eng mit der Wahrnehmung von Differenzen verknüpft , die sich in seinem Verständnis vom wissenschaftlichen Arbeiten als Übersetzungsvorgang , durch den die Referenz zirkuliere , niederschlägt.13 Dieser Aspekt ist insofern in die folgenden Überlegungen eingegangen , als in ihnen Klangphänomene mithilfe mehrerer Konzeptionen der Soundscape Studies zum Sprechen gebracht werden sollen. Klangliche Phänomene werden also reformuliert , übersetzt , um herauszuarbeiten , was sie über Fußballbegeisterung auszusagen vermögen.14 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Leimgruber ( 2001 ): Zwischen Utopie und Empirie , S. 133. Bendix ( 2000 ): Pleasures of the Ear , S. 34. Ebd. , S. 37. Back ( 2003 ): Sounds in the Crowd. Kytö ( 2011 ): Rebellious Voices. Vgl. Vannini et al. ( 2010 ): Sound Acts. Vgl. Schulze ( 2008 ): Bewegung Berührung Übertragung , S. 146 ff. Latour ( 2007 ): Neue Soziologie , S. 305. Vgl. Latour ( 2002 ): Hoffnung der Pandora , S. 36 ff. Latour formuliert ein solches Vorgehen auch in dieser Weise : »Es ist keine Frage , dass die ANT es vorzieht , langsam zu reisen , auf kleinen Wegen , zu Fuß und ­indem sie die

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Am Sportclub-Platz Die Klangaufzeichnung , um deren Beschreibung und Erläuterung es im Weiteren konkret geht , enthält Publikumsgeräusche , die bei einem Fußballspiel der österreichischen Regionalliga Ost zwischen dem Wiener Sportklub und den Amateuren des SK Rapid Wien am 1. Juni 2011 , einem Mittwoch , ab 18 :30 im Stadion an der Alszeile , dem Sportclub-Platz in Hernals , dem 17. Wiener ­Gemeindebezirk , aufgenommen wurden.15 Meine Interpretation der Klänge hat manchen Anspruch nicht , der im Kontext der vorliegenden Publikation eigentlich naheläge. So verfolgt sie zum Beispiel nicht den Zweck , Matthias Marschiks interessante Überlegungen zur Popularität des Wiener Fußballs zu untermauern ;16 auch geht es nicht um eine Ethnographie der Fußballfankultur des Wiener Sportklubs. Nicht einmal eine Ethnographie der Friedhofstribüne , von der die Klangaufnahme stammt und bei der es sich zweifellos um einen Kultort des Fußballgeschehens in Wien handelt , wird angestrebt. Es geht vielmehr um einen Aspekt der Fußballbegeisterung auf der Friedhofstribüne , von dem ich annehme , dass er – neben anderen Aspekten – Fußballbegeisterung grundsätzlich innewohnen kann und der dennoch nur an konkreten Orten als ein »sense of place«17 erfahrbar ist. Dieser place ist im vorliegenden Fall eine Ecke der Friedhofstribüne genannten Stehplatztribüne des Hernalser Stadions an besagtem Abend. Der in dieser Situation vorliegenden »emotional topography«18 versuche ich mich anzunähern. Den Stadionbesuch angeregt hatte ein Student am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien , an welchem ich im Sommersemester 2011 unterrichtete. Er schwärmte von der besonderen Atmosphäre der Friedhofstribüne. Seine Erläuterungen enthielten den Hinweis auf die Bezugnahme vieler Sportklub-Fans auf die Fankultur des FC St. Pauli sowie auf einen Verkaufsstand mit ausgezeichneten , frisch zubereiteten Erdäpfelchips. Auf diesen Stand sind meine im Teenageralter befindliche Tochter und ich dann auch prompt gestoßen , als wir , umgeben von weiteren Grüppchen von Fans , die schon mit uns in der Straßenbahn vom Schottentor her angereist waren , von der Hernalser Hauptstraße an der südöstlich gelegenen Längsseite des Stadions entlang vollen Kosten für jede Fortbewegung aus eigener Tasche zahlt.« Latour ( 2007 ): Neue Soziologie , S. 44. 15 Der irritierende Umstand , dass auf dem Sportclub-Platz ( mit c ) der Sportklub ( mit k ) spielt , erklärt sich aus der einige Jahre zurückliegenden Pleite des Sportclubs , aus welcher der Sportklub als Neugründung hervorging , vgl. Reichinger ( 2011 ): Wien , Sportclub-Platz , S. 236. 16 Vgl. Marschik ( 2002 ): Massen , Mentalitäten , Männlichkeit , S. 19–32. 17 Vgl. Feld /  Basso ( 1996 ): Senses of Place. 18 Hastrup ( 2010 ): Emotional Topographies.

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durch die Kainzgasse kommend links um die Ecke in die Alszeile einbogen auf unserem Weg zum unter der dortigen Friedhofstribüne liegenden Kassenhäuschen , vorbei an weiteren Ständen mit Getränken. Bereits vor dem Eintritt ins Stadioninnere und vor Spielbeginn fanden wir uns somit in einer Situation wieder , die als place aufgefasst werden kann. Dort war die Stimmung auffallend gelassen , um eine Formulierung Kurt Reichingers aus seinem Begleittext zu einer Fotografie des Sportclub-Platzes in Rainaldo Coddou H.’s Fotobildband »Fussballtempel« aufzugreifen. Über den Sportclub-Platz im Allgemeinen führt Reichinger aus : Keine Frage , der Sportclub-Platz hat schon bessere Zeiten gesehen , sowohl das sportliche Niveau als auch den allgemeinen baulichen Zustand des Stadions betreffend. Bekam man hier über viele Jahrzehnte gepflegten Erstligafußball geboten , muss man heute in der Regionalliga Ost mit Gekicke der dritten Leistungsstufe vorlieb nehmen. Und auch an der Infrastruktur nagt gehörig der Zahn der Zeit : Das Dach der Haupttribüne ist stellenweise undicht , die hölzernen Sitzbänke brüchig geworden und im Kabinentrakt kämpft man mit Feuchtigkeit und Schimmel. Der Stimmung auf den Rängen tut dies jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil : Der morbide Charme der gesamten Anlage scheint im positiven Sinne auf Verein und Besucher abzufärben. Das Publikum ist ein anderes als bei den Wiener Großklubs , die Atmosphäre gelassener , und Niederlagen werden hier nicht ganz so verbissen hingenommen. Dafür tritt der Schmäh der Wiener Vorstädte stärker hervor , wenn wieder einmal ein ›Danke , dass wir zum Fußball gehen , … und nicht zu Rapid !‹ von den Rängen hallt.19

Die Stehplatztribüne des Sportclub-Platzes wird Friedhofstribüne genannt , da sie längs zum Dornbacher Friedhof liegt , der sich auf der gegenüberliegenden Seite der Alszeile den Schafberg hinaufzieht. Sie schließt an die kurze , nordöstliche Seite des Spielfeldes an , von dem sie in Stufen nach oben steigt. Auf dem obersten Absatz der Tribüne , auf dem man von der Alszeile her über 19 Reichinger ( 2011 ): Wien , Sportclub-Platz , S. 236. Der konstatierte morbide Charme findet sich auch in weiteren Texten zum Sportclub-Platz , so etwa bei Felix Taschner , der in einer autoethnographischen Studie über den Stadionbau schreibt : »Ich gehe zum Sportklub , weil mir das Stadion sehr gut gefällt , es ist ramponiert und alt«, vgl. Taschner ( 2011 ): Vom Interesse zur Begeisterung , S. 4. Der Wikipedia-Eintrag zum Wiener Sportclub-Platz fasst diesen Zustand nüchtern : »Der Wiener SportclubPlatz zählt zu den sanierungsbedürftigsten Stadien Österreichs , denn die Friedhofs­ tribüne leidet unter starker Feuchtigkeit , die östliche Kainzgassentribüne ist aufgrund baulicher Mängel vorerst gesperrt und auf der westlichen Langen Tribüne sind die Holzbänke und das Dach in schlechtem Zustand«, http://de.wikipedia.org/ wiki/Wiener_Sportclub-Platz ( 24. 02. 2012 ).

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zwei in der linken und rechten Ecke liegende Treppen herauf und ins Stadion hineinkommt , erstreckt sich eine Plattform. Sie ist breit genug , um einigen Getränkeverkaufsständen und den sich vor diesen bildenden Schlangen Wartender genügend Platz zu bieten , und lässt außerdem Raum , um hinter den Zuschauenden die Friedhofstribüne entlangzugehen auf der Suche nach einem passenden Stehplatz – oder auch um am Ende der Tribüne über die zweite Treppe auf die überdachte Haupttribüne , die ›Lange Tribüne‹, die sich an der nordwestlichen Längsseite des Stadions befindet , zu wechseln. Als wir uns wenige Minuten vor Spielbeginn oben auf der Plattform in der – von der Alszeile her gesehen – linken , nordöstlichen Ecke der in diesem Bereich locker gefüllten Friedhofstribüne einen Platz suchen , fallen mir etliche Kinder im Publikum auf , unter ihnen auch einige Kleinkinder. Sie bewegen sich ( und werden gehalten ) zwischen ( und von ) den anwesenden Erwachsenen , die ich in der Mehrzahl auf Anfang , Mitte dreißig schätze und die hier in kleineren Grüppchen zusammensitzen oder stehen. In einer autoethnographischen Studie über seine Begeisterung für den Verein geht Felix Taschner auf diese Klientel ein : Der Wiener Sportklub ist , ähnlich wie der First Vienna FC , kurz Vienna , ein Sammelbecken für Fußballbegeisterte , die sich bewusst von den Fankulturen der beiden großen Wiener Vereine Austria und Rapid abgrenzen wollen. Die Erfolglosigkeit des Vereins – er spielt seit Jahren im Mittelfeld der Regionalliga Ost und könnte es sich finanziell ohnehin nicht leisten aufzusteigen – macht ihn zur Projektionsfläche für Fan-Oppositionelle. Distinktion zu anderen Fankulturen zeigt sich auch in der Unterstützung des Teams während der Spiele. Der aktive Kern in der Stehplatzkurve macht , in bewusster Abgrenzung zur italienischen Ultrákultur , einen englischen , das heißt spielbezogenen Support. Die meisten Lieder haben einen englischen Text ( ›One Wiener Sportklub , there’s only one Wiener Sportklub‹ oder ›Score in a minute , we gonna score in a minute‹) und /  oder sind selbstironisch ( ›Asozial und kein Geld im Portemonnaie , das ist der WSC‹). Anders als in Ultrá-dominierten Fankurven gibt es keinen Vorsänger und auch keine Pyrotechnik. Viele Anhängerinnen und Anhänger des Wiener Sportklubs tragen Merchandising des FC St. Pauli. Und obwohl keine bekannte Fanfreundschaft zwischen den Fans der Vereine besteht , identifizieren sich viele Sportklubfans offen mit dem linken , alternativen Image des Hamburger Vereins und teilen zentrale linke Werte bzw. Ideologien wie Antifaschismus und Antirassismus. Die Fairness gegenüber dem eigenen Team , dem Gegner , aber auch den Schiedsrichtern ist im Vergleich mit anderen Fankurven auffallend. Das Schiedsrichterteam bekommt ebenso wie der Gegner nach ( fast ) jedem Spiel Applaus aus der Kurve.20 20 Taschner ( 2011 ): Vom Interesse zur Begeisterung , S. 2 f.

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Der hier von Taschner formulierte Aspekt der Opposition ist von Schmidt-Lauber als zentrales Moment des »Bedeutungsgefüge[ s ] des FC St. Pauli«21 erkannt worden , das mit der Repräsentation spezifischer »Haltungen und Werte«22 einhergehe. Ich möchte diesen semantischen Aspekt der Fankultur nicht vertiefen , aber darauf hinweisen , wie hier Bezüge zwischen Zeichen , die Werte und Haltungen repräsentieren , vorliegen und produktiv werden. Denn ›Merchandising des FC St. Pauli‹, das heißt maßgeblich : ein weißer Totenkopf mit hinterlegten gekreuzten Beinknochen auf schwarzem oder braunem Grund , den Vereinsfarben – dieses Zeichen steht ikonisch für Piraterie und damit unter anderem für eine fundamentale Opposition zu etablierten Hierarchien und herkömmlichen Werten von Ordnung und Sicherheit. Im Zusammenhang mit dem FC St. Pauli ist das Zeichen speziell mit der Besetzung der nur wenige Meter vom Millerntorstadion im Hamburger Stadtteil St. Pauli liegenden Hafenstraße und den damit einhergehenden gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen der 1980er-Jahre verbunden. Diese Referenzen werden – zumindest potenziell – mit dem Tragen von St. Pauli-Kapuzenpullovern auf der Friedhofstribüne evoziert und verknüpfen sich mit lokalen Referenzen. Die Verknüpfung macht sich besonders an Merchandisingprodukten fest , die auf der Homepage der »FreundInnen der Friedhofstribüne« angeboten werden und in der Mehrzahl Totenköpfe und weitere Zeichen für Tod ( und Piraterie ) präsentieren.23 Ein lokaler Referent dieser Zeichen ist der Dornbacher Friedhof. Mit dem Rücken zum Friedhof haben die Besucherinnen und Besucher der Friedhofstribüne nicht nur einen speziellen Hintergrund , auch ihr Ausblick ist von besonderer Art. Uns stellte er sich an diesem Abend nahezu genau so dar , wie er von Rainaldo Coddou H. im Bildband »Fußballtempel« fotografisch gezeigt ist24 : Vor uns erstreckt sich das Spielfeld , dessen gegenüberliegendes Ende von der mächtigen , bis auf vielleicht fünf Personen leeren und damit in ihrer hellblauen Farbe umso markanter herüberleuchtenden Gegentribüne an der Hernalser Hauptstraße , also dem Terrain der gegnerischen Fans , beschlossen wird. Die linker Hand liegende Kainzgassentribüne ist , bis auf die am Spielfeldrand platzierten Bänke für die Betreuerstäbe und Ersatzspieler , leer , da baufällig. Hinter der Tribüne wirkt die Präsenz der sich dort erhebenden mehrstöckigen Wohnhäuser , die teils wohl aus der Gründerzeit im 19. Jahrhundert stammen , teils auch aus deutlich jüngerer Zeit. Diese Wohngebäude fassen das Stadion innerstädtisch ein. Ein Eindruck , der auch in Bezug auf die 21 Schmidt-Lauber ( 2008 ): FC St. Pauli als kulturelles Ereignis , S. 17. 22 Ebd. , S. 25. 23 Vgl. FreundInnen der Friedhofstribüne. http://friedhofstribuene.at/wordpress/?paged=3 ( 01. 03. 2012 ). 24 Vgl. Coddou H. ( 2011 ): Fußballtempel , S. 234 und 235.

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Gegentribüne zutrifft , »die [ was man von der Friedhofstribüne aus nicht sehen kann , aber als Besucher mit großer Wahrscheinlichkeit weiß , J. B. ] als mehrstöckiges Wohnhaus ausgeführt ist , an dessen Rückseite [ die ] steile überdachte Sitzplatztribüne Platz gefunden hat«.25 Ergänzt wird das sich von der Friedhofstribüne aus eröffnende Panorama durch die mit Anhängern des Sportklubs besetzte und an diesem Abend gut gefüllte Sitzplatztribüne ( Lange Tribüne ) zur Rechten sowie den weiten Himmel , der sich auf Coddou H.’s Fotografie im Helllila eines besonders farbenprächtigen Sonnenuntergangs zeigt.

Die Soundscape der Friedhofstribüne, rund um die 20. Spielminute Die vollständige Klangaufzeichnung umfasst eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten und wurde mit einem digitalen Diktiergerät von meinem Stehplatz aus aufgenommen. Gut drei Minuten davon , die rund um die zwanzigste Spielminute liegen , habe ich transkribiert. Die Wahl fiel aus folgendem Grund auf diesen Zeitraum. Bis auf wenige Unterbrechungen , wie unter anderem den nachfolgend analysierten Ausschnitt , unterhalten sich meine Tochter und ich das gesamte Spiel über. Der Umstand , dass miteinander geredet wurde , besitzt für die weitere Interpretation große Relevanz. Er kommt in den ausgewählten drei Minuten allerdings nicht anhand unserer Stimmen zum Ausdruck , sondern gerade dadurch , dass wir schweigen und andere zu hören sind. Die Transkription fand ein gutes halbes Jahr nach der Aufzeichnung statt und ist darum bemüht , die Geräusche vollständig und im Geertz’schen26 Sinne »dicht« zu beschreiben , sie also sowohl nüchtern deskriptiv als auch in einer der Situation angemessenen Weise deutend zu benennen. Die Darstellung ist unterteilt nach mir im Transkriptionsvorgang sinnfällig erschienenen Einheiten : Sie orientiert sich an signifikanten Veränderungen , die allerdings so geringfügig ausfallen , dass sie für die weitere Interpretation nicht weiter von Belang sein werden. ( 1.– 12. Sekunde ) Das Lachen eines Mannes ist zu hören , das zustimmend klingt. So , wie man zwar nicht sich vor Lachen schüttelnd aber authentisch freundlich über einen Witz lachen kann , den man erzählt bekommt. Beim Lachen sagt die Stimme »Jooa«, und im Anschluss »Da ham ma woss gschooft«. Weit im Hintergrund ein inhaltlich unverständliches , aber als rhythmisches Auf und Ab wahrnehmbares Anfeuern aus vielen Stimmen. Der zuvor lachende Sprecher redet noch ein , zwei Sätze weiter. Vor dem Hintergrund der rhythmischen Anfeuerungen ist ein einzelner , möglicherweise deutlich näher bei uns platzierter Ausruf zu hören , 25 Reichinger ( 2011 ): Wien , Sportclub-Platz , S.  236. 26 Vgl. Geertz ( 1991 ): Dichte Beschreibung.

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der wie eine Aufforderung klingt. Vielleicht die Aufforderung an die Spieler oder an einen der Spieler , etwas Bestimmtes zu tun. Das Anfeuern steigert sich. Pfiff aus der Trillerpfeife. ( 13.–30. Sekunde ) Ein nicht dramatisches , aber vielfältiges Stimmengewirr ist zu hören. Viele Menschen , die miteinander reden , genauer : viele Gespräche , die um uns herum parallel stattfinden. Das Geräusch erinnert mich an das viel thematisierte Schwirren der Vuvuzelas bei der WM in Südafrika. Ein wesentlicher Unterschied , der allerdings zu den Vuvuzelaklängen besteht , wie ich sie von Filmaufnahmen kenne , ist , dass hier nähere von ferneren Geräuschen unterscheidbar sind , ein Raum wahrnehmbar ist.27 Eine Männerstimme lässt sich deutlich identifizieren , allerdings nur als Gemurmel. Dann ist eine Kinderstimme zu hören. Sie scheint etwas zu fragen. Ein Mann antwortet. Wieder ein Pfiff. ( 31.–50. Sekunde ) Das vielfältige Sprechen bildet einen kontinuierlichen Klanghintergrund. Vor mir spricht ein Mann zu jemandem , erläutert ruhig etwas. Im Gleichmaß der Tonlage und Lautstärke klingt es nicht , als hätte es mit dem Spiel zu tun. Rechts vor mir hebt sich die Stimme einer Frau ab , einer älteren Frau. Die Frau spricht davon , dass sie etwas wichtig finde. Die Aussage endet in einem Lachen. Sie fügt etwas an. Eine jüngere Männerstimme antwortet. Sie : »So isses.« Das Gespräch setzt sich fort. Ein weiteres Gespräch ist ebenfalls erkennbar. ( 5 1.–61. Sekunde ) Laute , schlagende Geräusche : es windet. Ich erinnere mich an den kalten , im Verlauf des Abends auffrischenden Wind. ( 62.–84. Sekunde ) Als wieder Stimmen hörbar sind , wirken sie lauter und damit präsenter. Es sind viele Stimmen. Darunter wieder die Stimme der Frau. Im Gespräch sagt sie »Na ja« und später unter anderem »der Vater war scho sehr …«. Entfernte , offensichtlich auf das Spielgeschehen bezogene Support-Klänge sind zu hören : »SPORTKLUB !«. Eine einzelne Männerstimme antwortet : »RAPIIID«. Weil nur so wenige Fans auf der Gegentribüne sind , lässt sich dieser Ausruf in der Situation vor Ort deutlich einem einzelnen , gestikulierenden Fan zuordnen. Während die Frau immer weiterredet , sagt eine andere Frauenstimme in einem anderen Gespräch »Jaja«. Ein glucksendes Kinderlachen. Die Männerstimme meint »Na freilich …«. Das Kind jauchzt. Eine Vielzahl von Gesprächen findet gleichzeitig statt. Es summt weiterhin. 27 Vgl. Vuvuzela sound at Cape Town Stadium , http://www.youtube.com/watch?v=bK CIFXqhLzo&feature=related ( 23. 02. 2012 ).

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( 85.–95. Sekunde ) Ich sage »Super. Kommmm !« und klatsche. Entfernt sind das Klatschen vieler und eine gespannte Unruhe zu hören , die sich , wie eine Welle , schnell aufbaut. ( 96.– 121. Sekunde ) Die Spannungswelle ist in einem rasselnden Schlüsselbundgeklimper aufgegangen , wie es bei Eckbällen und torverdächtigen Freistößen üblich ist , das sich mehr und mehr intensiviert. Ein Großteil der Friedhofstribünenbesucher hält ein Schlüsselbund hoch und schüttelt es , solange der Eckball ausgeführt wird. Fangesänge im Hintergrund. Parallel gehen die Gespräche weiter. Männerstimme : »Hoffentlich bleibt’s dabei.« ( 122.– 142. Sekunde ) Kurz noch vereinzeltes Schlüsselrasseln , dann ist das Geräusch abrupt verschwunden. Dafür sind die Gespräche wieder präsent. Die ältere Frauenstimme ist herauszuhören. In einem anderen Gespräch erläutert eine Männerstimme etwas ( »… , denk ich«). Im Hintergrund ruft der einsame Rapidler wieder »Rapiiid«, eine andere Stimme brüllt so etwas wie »Los , lauf !«. Vereinzelte weitere Ausrufe , die unverständlich bleiben. Aber diese Bezugnahmen auf das Spielgeschehen scheinen weit weg zu sein. Unmittelbar nah ist dagegen ein Gewirr aus Stimmen , die bruchstückhaft in Lauten Gestalt annehmen. Weil so viel gleichzeitig zu hören ist , ist nichts richtig zu verstehen. Es geht lebhaft zu. Pfiff. ( 143.– 198. Sekunde ) Die Atmosphäre wirkt für einen Moment etwas ruhiger. Vereinzelt sind Windgeräusche auf der Aufnahme zu hören. Dann kehrt das Summen gleichzeitig geführter Gespräche zurück. Die Männerstimme , ein kieksendes Kind. Die ältere Frauenstimme spricht und äußert dabei unter anderem »mi tät’s so wie’s iss«, »s’iss oifach …« und »schaut nur so dunkl aus wegen den Wind …«. Die Männerstimme. Ausrufe im Hintergrund. Eine andere Männerstimme. Offenbar handelt es sich um zwei Männer im Gespräch. Ich vermute , sie unterhalten sich bereits die ganze Zeit schon so unaufgeregt. »Im Endeffekt …« Mehrere Kinderstimmen. Ein Mann lacht glucksend. ( 199.–207. Sekunde ) Die Gespräche dauern an , und jemand hustet. Eine Männerstimme ruft eine Parole , jedenfalls besitzt das , was er sagt , eine solche Lautform , ist eher Gedicht als irgend ein Zwischenruf. Jemand oder auch mehrere praktizieren einen Singsang : »Jejejejeee !«. Von fern wieder der einzelne Ausruf : »Rapid !« Ein zugleich satter und dumpfer Schlag ist zu hören. Einen Moment darauf : verbreitetes Beifallklatschen.

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figure/ground An der Soundscape der Friedhofstribüne , wie sie in dieser Transkription erscheint , fällt im Vergleich mit Jirats Beschreibung insbesondere der geringe Bezug zu konkreten Spielereignissen auf. Ausnahmen bilden die vereinzelten Ausrufe ( »SPORTKLUB !«, »RAPIIID !«), das gelegentliche Beifallklatschen , das Rasseln mit den Schlüsselbunden. Stattdessen ist eine Präsenz von Gesprächen erkennbar , deren Gleichzeitigkeit im Ganzen eine Art Summen ergibt. Wie lässt sich diese Abweichung zu Jirats Beobachtungen begreifen ? Was sagt sie über die Fußballbegeisterung auf der Friedhofstribüne ? Dieser Frage gehe ich nach , indem ich im Weiteren Konzeptionen der Soundscape Studies zur Erläuterung meiner Beobachtungen heranziehe. In »The Soundscape – Our Sonic Environment and the Tuning of the World« unterscheidet Raymond Murray Schafer Mitte der 1970er-Jahre an Sound­ scapes in Anlehnung an die Gestaltpsychologie zwischen Figur , Hintergrund und Feld. »According to the gestalt psychologists , who introduced the distinction , figure is the focus of interest and ground is the setting or context. To this was later added a third term , field , meaning the place where the observation takes place.«28 Bezogen auf Soundscapes entspricht der Figur das sound signal. »Signals are foreground sounds and they are listened to consciously. In terms of the psychologist , they are figure rather than ground. Any sound can be listened to consciously , and so any sound can become a figure or signal.«29 Im Fall der Soundscape der Friedhofstribüne liegt es nahe , etwa die Geräusche mit Spielbezug sowie einzelne Stimmen , ein Husten etc. als sound signals zu begreifen. Die Hintergrundgeräusche , vor welchen sich die Figuren abzeichnen , bezeichnet Schafer als keynote sounds : Keynote is a musical term ; it is the note that identifies the key or tonality of a particular composition. It is the anchor or fundamental tone and although the material may modulate around it , often obscuring its importance , it is in reference to this point that everything else takes on its special meaning. Keynote sounds do not have to be listened to consciously ; they are overheard but cannot be overlooked , for keynote sounds become listening habits in spite of themselves.30

Beim Versuch , die keynote sounds der Friedhofstribüne zu bestimmen , taucht das Problem der Relation auf : Was bildet den Hintergrund für welchen Vordergrund ? Schafer verweist diesbezüglich auf die Subjekte des Hörens und 28 Schafer ( 1994 ): The Soundscape , S. 152. 29 Ebd. , S. 10. 30 Ebd. , S. 9.

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i­hre Hörgewohnheiten : »Whether a sound is figure or ground has partly to do with acculturation ( trained habits ), partly with the individual’s state of mind ( mood , interest ) and partly with the individual’s relation to the field ( native , outsider ).«31 Die Geräusche mit Spielbezug und herausragende Einzelstimmen als Figuren zu begreifen , war demnach voreilig. Ich weiß nicht , was die anwesenden Fußballbegeisterten , Gespräche Führenden in welcher Weise wahrnahmen. »[ W ]hat is perceived as figure or ground is mostly determined by the field and the subject’s relationship to the field«, heißt es hierzu bei Schafer. Die Anwendung der Konzeptionen von Schafer hat weniger zur Erläuterung der Soundscape der Friedhofstribüne beigetragen als auf die Schwierigkeit verwiesen , Figur und Hintergrund zu bestimmen. Ist die Wahrnehmung von figure /  ground nach Schafer doch in habituellen Wahrnehmungsgewohnheiten situiert – und liegt damit in einem Bereich der Wirklichkeit , über die meine Daten nichts auszusagen vermögen. Noch deutlicher wird die Feldabhängigkeit des Wahrnehmens – um Schafers Bezeichnung der Situierung zu verwenden – am Beispiel der Vuvuzelas , wie sie die Soundscape der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika bestimmten. Als Ursache des vielfach dokumentierten Ärgers , den Fernsehzuschauer über dieses dynamisch summende Geräusch empfanden32 , lässt sich vermuten , dass die Massivität des Geräusches und seine Ungekanntheit dazu führten , dass es sich als Figur abzeichnete , sich also in den Vordergrund der Wahrnehmung schob und dort die Figur bedrängte und störte , um die es den Fernsehzuschauern eigentlich ging : sei es , in der Dimension des Klanglichen , die Stimme des Reporters ; sei es die Figur , die sich auf dem Spielfeld ständig neu in den Bewegungen der Spieler zueinander und zum Ball sowie aus den Bewegungen des Balles selbst ergibt – eine Figur , die Hans Ulrich Gumbrecht als »Epiphanie der Form«33 beschreibt. Was die Wahrnehmungen der südafrikanischen Vuvuzela spielenden Fans anbelangt , erscheint es jedoch naheliegend davon auszugehen , dass für sie das Vuvuzela-Summen möglicherweise einen Hintergrund bildete , der die im Spiel sich ergebende Figur gerade akzentuierte. 31 Hier und im Folgenden ebd. , S. 152. 32 Vgl. zum Beispiel Hummel ( 2010 ): Unsichtbare Monsterwespen. 33 »Was wir an einem schönen Spielzug im Ballspielen am meisten schätzen , ist seine Verwirklichung als Epiphanie. Wie können wir den Begriff ›Epiphanie‹ erklären ? Ein von mehreren Spielern hervorgebrachter schöner Spielzug ist nicht nur eine komplexe Form , sondern auch eine verkörperte Form. Die Tatsache , dass die komplexe Form des Spielzugs Substanz besitzt und dass die Körper der Spieler diese Substanz sind , ist einer der beiden Aspekte , die wir mit dem Begriff ›Epiphanie‹ hervorheben. Aber ›Epiphanie‹ bezieht sich auch auf Form als Ereignis , genauer gesagt : er bezieht sich auf eine Form , die plötzlich in Erscheinung tritt.« Gumbrecht ( 2005 ): Lob des Sports , S. 126.

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Das Gesprächssummen als lift-up-over sounding Das Geräusch der Vuvuzelas ist mir beim Transkribieren in den Sinn gekommen , als ich nach einer dichten , aussagekräftigen Benennung des scheinbaren Durcheinanderredens , des Gesprächssummens , auf der Friedhofstribüne suchte. Freilich klingen die beiden Sound-Phänomene keinesfalls identisch. Die Klänge sind an sich andere und auch in Bezug auf die klangliche Struktur gibt es deutliche Unterschiede. Die Friedhofstribünen-Soundscape ist weniger dynamisch. Ihr Summen brummt weniger , könnte man vielleicht sagen. Wie das Summen der Vuvuzelas ist aber auch das Gesprächssummen dadurch gekennzeichnet , sonisch eine Dynamik zu artikulieren , die ohne Richtung zu sein scheint , die kein Ziel besitzt , sondern kreist und in der Dimension des Klang­ lichen miteinander verwobene Schlieren bildet. Im Vergleich mit der Vuvuzela-Soundscape der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika sind hier außerdem die einzelnen Stimmen deutlicher hörbar. Diese signifikante Hörbarkeit einzelner Klangfragmente im Kontext sowie als integrale Bestandteile eines dynamischen Klanggewebes erinnert an ein von Steven Feld beschriebenes Klangphänomen. Das von Feld im Rahmen seiner Feldforschungsaufenthalte bei den Kaluli im Regenwald Papua-Neuguineas besonders an der Musik der Kaluli wahrgenommene Phänomen hat den Namen »duluga ganalan«34 , von Feld als »lift-up-over sounding« übersetzt. Feld charakterisiert dieses Phänomen über zwei Momente. Erstens : die Klänge seien »in synchrony while out of phase«35. Synchronizität meint hier »that the overall feeling is of togetherness , of consistently cohesive part coordination in sonic motion and participatory experience«. Die erkennbar verschiedenen Teile befinden sich in einer gemeinsamen , synchronen Bewegung , die zugleich Einheit erzeugt und die Verschiedenheit der Teile auch in sich birgt. Die Teile sind , in Felds Worten : »out of phase [ : ] at distinctly different and shifting points of the same cycle or phrase structure at any moment , with each of the parts continually changing in degree of displacement from a hypothetical unison.« Mit Einschränkungen klingt so auch das Gesprächssummen auf der Friedhofstribüne. Im Vergleich mit Felds Definition ( und seinen Klangaufnahmen ) sind im Hinblick auf die Friedhofstribüne indes Abstriche bezüglich der Form des Gemeinsamen zu machen. Die Synchronizität ist hier schwächer ausgeprägt ( Unisonität liegt nicht vor ) und andersgestaltig ( als Summen ). Das Moment der Abweichung ist entsprechend stark , da es im Summen der Gespräche ja die Phase nicht gibt , weil alles ständig summt.

34 Feld ( 1994 ): Aesthetics , S. 113. 35 Hier und im Folgenden ebd. , S. 119.

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Felds zweites Definitionsmerkmal des lift-up-over soundings ist »textural densification«. Er nennt als Beispiele »attacks and final sounds ; decays and fades ; changes in intensity , depth , and presence ; voice coloration and grain ; interaction of patterned and random sounds ; playful accelerations , lengthenings and shortenings«. Auch die Soundscape der Friedhofstribüne ist gekennzeichnet durch derartige klangliche Materialität : Der fragmentarische Charakter der wahrnehmbaren Gesprächssausschnitte , die Ausrufe , das Anschwellen von Beifall , das Schlüsselgeklimper.36 Der italienische Komponist Claudio Curcotti bringt dies in der Bemerkung zum Ausdruck , die Aufnahme von der Friedhofstribüne artikuliere ein »saturated environment«.37 Aber auch hier ist wieder festzuhalten , dass die Soundscape der Friedhofstribüne im Unterschied zum lift-up-over sounding keinen entsprechenden und in der Dimension des Klanglichen erkennbaren gemeinsamen Bezugspunkt besitzt , auf den sich die texturalen Verdichtungen , die Modifikationen , die klanglichen Schlieren bezögen. Könnte es sich dabei um das Gesprächssummen im Ganzen handeln ? Um einzelne Stimmen aus der unmittelbaren Umgebung ? Um das Fußballspiel ? In einem Sprung von der Ästhetik zum Sozialen , wie er so nur im Paradigma eines holistischen Kulturverständnisses möglich ist , begreift Feld das liftup-over sounding nicht nur als ein ästhetisches , sondern darüber hinaus auch ein soziales Phänomen und erkennt in ihm schließlich sogar ein wesentliches Charakteristikum der Kaluli-Kultur. So seien zum Beispiel die Kommunika­ tionsgewohnheiten wie auch die gemeinschaftliche Arbeitsweise durch dieselbe »participatory equality«38 wie das lift-up-over sounding gekennzeichnet : Der Einzelne greift – als ein solches Eingreifen für andere und sich selbst erfahrbar – in das Gemeinschaftliche ein , indem etwa Äußerungen anderer selbstverständlich unterbrochen werden oder indem zwar gemeinsam , aber individuell gearbeitet wird , etwa bei der Rodung von Gärten. Würde die Bezeichnung »anarchistic synchrony«39 nicht in sich einen Widerspruch bilden , böte sie eine exakte Beschreibung , wie Kaluli arbeiteten , schreibt Feld. Entsprechend erkennt er den Effekt des lift-up-over soundings als den einer Ästhetik , die auch Alltagshandlungen durchzieht , darin , zugleich das individuelle und das gesellschaftli36 Vgl. zum Beispiel 122.– 142. Sekunde und insbesondere folgende Sätze : »Aber diese Bezugnahmen auf das Spielgeschehen scheinen weit weg zu sein. Unmittelbar nah ist dagegen ein Gewirr aus Stimmen , die bruchstückhaft in Lauten Gestalt annehmen. Weil so viel gleichzeitig zu hören ist , ist nichts richtig zu verstehen.« 37 Curcotti arbeitet in seinen Kompositionen ebenfalls mit Geräuschen der Alltagskultur. Seine Bemerkung äußerte er anlässlich eines Kolloquiums am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen im Juli 2011 nach dem Hören der Aufzeichnung. 38 Feld ( 1994 ): Aesthetics , S. 121 , S. 122. 39 Hier und im Folgenden ebd. , S. 122.

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che Moment zu stärken : »[ T ]his particular interactional style simultaneously maximizes social participation and autonomy of self.« Nun ist in bestehenden Versuchen , Fußballbegeisterung zu erläutern , häufig von Gemeinschaft oder von Vergemeinschaftung die Rede. So etwa bei Alkemeyer , den interessiert , wie sich im Fußballstadion »eine Menge von Menschen als Gemeinschaft konstituiert«.40 Die Antwort auf diese Frage findet er in der rund um das Spielgeschehen entstehenden Affektivität , »die Vorgänge sinnlicher Vergemeinschaftung initiiert und damit etablierte soziale Unterschiede und Gegensätze zeitweilig vergessen machen kann«. Gemeinschaft wird von Alkemeyer entsprechend nicht als präexistente und dauerhafte Entität begriffen , sondern als ein »vergängliches Erfahrungsfeld«. Mit dem Gesprächssummen der Friedhofstribüne im Ohr ist man versucht , Alkemeyers Analyse prinzipiell zuzustimmen und präzisierend mit Feld zu argumentieren , dass sich am Ort der Klangaufzeichnung in einer prinzipiell vom lift-up-over sounding gekennzeichneten Soundscape das Vorhandensein einer Gemeinschaft abzeichne , die nicht , wie bei Alkemeyer , die Gemeinschaft der Stadionbesuchenden oder die Fans des Wiener Sportklubs wäre , sondern vielmehr eine Gemeinschaft mit spezifischen Kennzeichen. Es handelte sich nämlich nicht um eine Gemeinschaft im Sinne eines Fußballfans oft zugeschriebenen »Verlust[ es ] der individuellen Strukturiertheit und Verantwortlichkeit des Individuums in der Masse«41 , sondern um eine durch participatory equality gekennzeichnete Gemeinschaft , worauf eben die dem lift-up-over sounding ähnlichen Eigenschaften der Soundscape der Friedhofstribüne hinwiesen. Ein solcher Transfer der von Feld an der Kultur der Kaluli gewonnenen Begrifflichkeit hin zum Sozialen auf einer Wiener Stadiontribüne ist jedoch nicht das Ziel meiner Ausführungen zum lift-up-over sounding. Denn die von Feld beschriebene Homologie zwischen dem Bereich des Ästhetischen und dem des Sozialen liegt eben in einem sehr spezifischen kulturellen Rahmen vor. Das verunmöglicht eine Übertragung auf die Situation der Friedhofstribüne im Verhältnis 1 :1 , ist diese doch zweifelsfrei anders kulturell gerahmt. Hinzu kommt eine weitere Differenz. In Felds Beschreibung sind und erleben sich die Kaluli als Subjekte , als Agenten des lift-up-over soundings : Sie bringen es hervor , indem sie sich einbringen , haben an ihm teil und artikulieren damit sich und ihr Tun. Im Fall des Wiener Gesprächssummens kann ich von einer solchen agency nicht ausgehen. Es sind zunächst das Aufnahmegerät und später meine Beschreibung der von diesem aufgezeichneten Klänge , die ein Gesprächssummen wahrnehmen. Ein Summen , wie es als Eindruck aus der Gleichzeitigkeit etlicher Gespräche auf engem Raum entsteht , die von der 40 Hier und im Folgenden Alkemeyer ( 2008 ): Fußball als Figurationsgeschehen , S. 88. 41 Tschuschke ( 2006 ): Fußball und archaische Lust , S. 120.

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Aufmerksamkeit des Stereomikrofons , das ja nicht ein Gespräch fokussieren kann , sondern ungefiltert wahrnimmt , wahrgenommen wird. Das Fehlen des menschlichen Wahrnehmungsfilters in der Technik artikuliert hier etwas , von dem ich nicht wissen kann , ob es auch von den Subjekten der Situation wahrgenommen wird. Von mir selbst erinnere ich , dass ich vor Ort zwar verwundert das Sprechen der mich Umgebenden registrierte , es aber nicht als ein Ganzes ( das Gesprächssummen ) hörte , sondern im Wesentlichen das Spiel ansah und mich , wie bereits gesagt , im Gespräch mit meiner Tochter befand – über die Mannschaft des Sportklubs und die Ereignisse des Spiels , über Essen , das Stadion und über unseren Verein , den SV Werder Bremen. Meine Skepsis gegenüber einer Übertragung von Verständnismöglichkeiten , die ich zuvor selbst erst ins Spiel brachte , berührt einen diffizilen Punkt kulturwissenschaftlicher Soundscape-Analyse : die Differenz zwischen bewusstem und unbewusstem Hören. Denn möglicherweise würden Friedhofstribünenbesucher in der Befragung das Gesprächssummen zwar nicht nennen , was aber noch längst nicht hieße , dass sie es nicht dennoch erlebt und als bedeutsame Atmosphäre eines Fußballspiels erfahren hätten.42 In der Hinzuziehung von Felds Interpretation des lift-up-over soundings für ein Verständnis des Gesprächssummens auf der Friedhofstribüne artikuliert sich deshalb schließlich nicht eine eindeutige Aussage , aber doch etwas : Ich verstehe es als einen Fingerzeig darauf , dass es den Anwesenden bei der Begeisterung für den Fußball an diesem Tag und an diesem Ort auch um eine Erfahrung von Gemeinschaft gegangen sein könnte. Präziser : um eine Form der Erfahrung von Gemeinschaft , die dadurch gekennzeichnet wäre , dass in ihr das Individuum gerade nicht – wie in der verbreiteten Vorstellung von den Fußballfans als Masse  – in seiner Individualität verschwindet , sondern  – im Gegenteil – in der Beziehung zu anderen für diese und sich selbst besonders erfahrbar wird.

42 In einer Diskussion , die mit dem Stellenwert der Klänge in den Filmen Christian Petzolds einen ganz anderen Gegenstand besitzt , erklärt dieser : »The microphone sound is not realistic : microphones don’t filter. We filter , we have perceptual filters  – when we concentrate on something [ … ] , we hear something.« Petzold ( 2010 ): Narrate Loneliness , S. 223. Diedrich Diederichsen antwortet ihm mit der Gleichsetzung von mikrofonisch-ungefiltertem und unbewusstem klanglichem Wahrnehmen , indem er Lacans Begriff des Realen heranzieht : »[ T ]he merciless recording of [ … ] sounds by an abandoned microphone« korrespondiere nicht mit der Realität des menschlichen Wahrnehmens , sondern verfüge über »a kind of realism that lies beyond human perception. [ … ] That’s Lacan’s real , that which is not symbolized« ( ebd. , S. 224. ). Dies ist sicher eine starke Behauptung , die zu diskutieren wäre.

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Fan-Gemeinschaften Dem Fingerzeig zu folgen führt zu der Frage , welche Bezeichnungen für die in der Soundscape der Friedhofstribüne möglicherweise in Erscheinung tretende Gemeinschaftserfahrung in der Fußballfanforschung vorliegen. In seiner Einleitung beklagt Jirat die verbreitete Gleichsetzung von Fußballbegeisterung und Hooliganismus und hält entgegen : »Dabei wird allzu schnell übersehen , dass Fußballfans keine homogene und formlose Masse bilden. Ganz im Gegenteil. Fußballfans haben im Laufe der Jahrzehnte eine erstaunliche Vielfalt – und was oft übersehen wird – auch eine erstaunliche Kreativität in der Ausübung ihrer Leidenschaft entwickelt.«43 Im Weiteren beschreibt Jirat vier Typen von Personengruppen , deren Zugehörigkeit für die ihnen angehörenden Personen , wie sich mit einigem Recht vermuten lässt , mit spezifischen Gemeinschaftserfahrungen einhergeht. Bei ihnen handelt es sich um einen klassischen Fanklub ; eine Ultra-Gruppe ; als Kiddies bezeichnete Jugendliche , die in den Augen der anderen aufgrund des damaligen Erfolgs des FC Schaffhausen in der Kurve stehen , weshalb sie auch als Modefans gelten ; und schließlich die Peer-Groups.44 Letztere gehören nicht zum »aktivsten Teil der Bierkurve«45 , bilden jedoch die zahlenmäßig größte Gruppe. Jirat beschreibt sie einigermaßen ausführlich als »Zusammenschlüss[ e ] von Menschen [ … ] , die in etwa im gleichen Rang , Status und Alter zueinander stehen« und »die sich zu Dutzenden , meistens seit vielen Jahren schon , in die Bierkurve begeben. Diese Peer-Groups variieren stark in ihrer Altersstruktur und auch in ihrer Größe , sie reichen von Kleingruppen ( drei bis vier Personen ) bis hin zu Gruppen von über zwanzig Personen.« Frauen seien zwar in der Minderheit , aber ebenfalls präsent in den Peer-Groups. Im Gegensatz zu Fanclubs und Ultras seien die Peer-Groups nicht als Subkultur im Sinne einer Gegenkultur beschreibbar : »[ M ]an ist zwar FCS-Fan , assoziiert damit aber keine bestimmten Verhaltensweisen oder Handlungsnormen.« Die Peer-Groups kennzeichne ihr allgemeines »Interesse am Spiel und am Schicksal des Vereins«. Außerdem spiele »der soziale Faktor eine große Rolle«. Jirat führt dieses Spezifikum in folgender Weise näher aus : Das Stadion ist nicht nur Stätte des Spiels und Plattform für das Ausleben des Fanseins , sondern vorrangig ein Treffpunkt , an dem die Möglichkeit besteht , in einem genau festgelegten Zyklus soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Das gemeinsame Gespräch , das Kommentieren des Spielgeschehens , das Ausleben von kollektiv empfundenen Emotionen sowie das Erleben des Spiels in einer vertrauten Runde , in 43 Jirat ( 2007 ): Schaffhauser Bierkurve , S. 106. 44 Vgl. ebd. , S. 109 ff. 45 Hier und im Folgenden ebd. , S. 111.

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der man sich ganz natürlich bewegen und auch mal Emotionen zeigen kann , sind für viele Peer-Group-Mitglieder wichtige Gründe für den Matchbesuch.46

Mit der zentralen Stellung des Gesprächs ; dem gemeinsamen Erlebnis des Spieles in einer Atmosphäre der Vertrautheit unter Personen , die sich gut kennen ; mit dem sich so Verhalten-Können , wie man sich in der Situation fühlt ; mit dem Zeigen und Teilen von Gefühlen charakterisiert Jirat die Peer-Groups über ähnliche Aspekte , wie sie bei der Analyse der Soundscape der Friedhofs­ tribüne erkennbar wurden.47 Die sich in der Übersetzung der Klangdaten in Felds Begrifflichkeit artikulierende Idee , die Fußballbegeisterung auf der Friedhofstribüne könne wesentlich mit einer spezifischen Form der Erfahrung von Selbst und Gemeinschaft zu tun haben , lässt sich demnach mit Jirat auf die Bezeichnung Peer-Group bringen. Ich möchte noch einen alternativen Begriff vorschlagen. Gerade weil in Jirats Ausführung auch Felds Punkt von der Gemeinschaft , in der sich das Individuum in der Beziehung zu anderen für sich selbst wie auch für die anderen zeigt , greifbar wird , lässt sich diese Beziehung auch als Freundschaft verstehen. Offenbar bieten Jirats Peer-Groups ein Erfahrungsfeld für freundschaftliche Beziehungen.

Das Gesprächssummen als klanglicher Ausdruck einer Atmosphäre der Freundschaftlichkeit Indem meine Interpretation die Klänge sehr ernst nimmt und insbesondere mit der Bezugnahme auf Felds Verknüpfung von Klangeigenschaften ( lift-upover sounding ) mit sozialen Eigenschaften ( participatory equality ) einen großen Bogen schlägt , der zunächst weit von der Friedhofstribüne wegführt und mit Überlegungen Alkemeyers und Beobachtungen Jirats erst wieder zur Fußballbegeisterung im Allgemeinen und zu den Peer-Groups im Besonderen zurückgeführt werden muss , geht sie nicht nur ungewöhnliche Wege , sondern betreibt auch einen gehörigen Aufwand. An dessen vorläufigem Endpunkt zeichnet sich nun der place der Klangaufnahme als ein Ort ab , an dem Fußballbegeisterung mit dem Erleben freundschaftlicher Beziehungen einhergeht. Diese Beobachtung hätte sich freilich auch  – und vermutlich mit weniger Interpretationsaufwand – mit etablierten Methoden qualitativer empirischer Forschung

46 Ebd. , S. 111. 47 Die genannten Punkte lassen sich außerdem auch als eine Ausführung dazu lesen , was Feld mit der abstrakten Formulierung vom »particular interactional style« konkret meinen könnte.

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und damit sozusagen auf gerader verlaufenden Wegen erreichen lassen.48 Dass und inwiefern der Klangkulturforschungsansatz demnach zwar nicht zu ganz anderen Ergebnissen als andere Ansätze führt , aber doch zu auffallenden und interessanten Akzentuierungen und argumentativen Verdichtungen , möchte ich mit den anschließenden Überlegungen deutlich machen. Die Konzeptionen , die hierfür zunächst herangezogen werden , um weitere Übersetzungen des Transkriptionsmaterials zu ermöglichen , stammen vom Genfer Centre de recherche sur l’espace sonore et l’environment urbain ( CRESSON ). In Anlehnung an Überlegungen des Komponisten Pierre Schaef­ fer hat Pascal Amphoux dort eine Begrifflichkeit entwickelt , deren Nähe zu Raymond Murray Schafers Unterscheidung von figure und ground anhand einer von insgesamt drei Kategorien , den sonic signals , schon im Namen deutlich wird. Kennzeichen der sonic signals ist es , plötzlich und unerwartet zu erscheinen. Björn Hellström formuliert dies wie folgt : »[ W ]e don’t have to listen but instead the signal will always call for our attention.«49 Zugleich geht mit dem sonic signal das listening , also ein Hinhören , einher , womit Indexikalität im Spiel ist , eine »intermediation of sound and the event that caused the sound«.50 Entsprechend wohnt dem sonic signal ein Verweis auf eine Ursache inne ; auf sie referiert es und sie bedeutet es im Wesentlichen. Diese seine Bedeutung besitzt es für jemanden. Insofern sei die Erfahrungsweise des Klangs , die er als sonic signal bezeichnet , diejenige der Ersten Person Singular , so Amphoux : Ich höre hin auf … In der Soundscape der Friedhofstribüne sind es die einzelnen , im Zusammenhang mit dem Spielgeschehen stehenden Geräusche , die als sonic signals verstanden werden können. Dies gilt für die Pfiffe des Schiedsrichters , die signifikante Ereignisse , ja Einschnitte im Spielverlauf signalisieren. Mit leichten Einschränkungen gilt dies wohl auch für die »SPORTKLUB !«- und »RAPIIID !«-Rufe. Ausgenommen wären hier die Rufer selbst sowie diejenigen , die die Rufe  – aus welchen Gründen auch immer  – nicht wahrnähmen. Auch ist die Bedeutung hier weniger klar. Zeigen sie eine brenzlige Situation an ? Oder verweisen sie gerade auf lethargische Momente im Spiel und dienen dazu , die eigene Mannschaft aufzurütteln ? Oder bedeuten sie einfach den Rufer ? Ähnliches gilt zum Beispiel auch für das Schlüsselrasseln. Zweifellos bedeutet es , dass ein Eckball der eigenen Mannschaft , in diesem Fall ein Eckball des Wiener Sportklubs zustande kam und ausgeführt wird. Offensichtlich geht das Geräusch in diesem Signal aber nicht auf , son48 So etwa mit mehr auf dem Sehen und dem Sichtbaren beruhenden Ansätzen der teilnehmenden Beobachtung , ergänzt um ethnographische Interviews mit FriedhofstribünenbesucherInnen. 49 Hellström ( 2002 ): Sonic Identity , S. 68. 50 Ebd.

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dern besitzt einen Bedeutungsüberschuss. Eindeutig fungieren als sonic signals dagegen noch die Gespräche ; und zwar in der Wahrnehmung durch die jeweils an konkreten Gesprächen beteiligten Gesprächspartner : Man hört hin auf das , was zu einem gesagt wird. Anders als die Kategorie des sonic signal bezeichnet die zweite Kategorie , sonic background , »an order that one actually doesn’t pay any attention to. Yet it’s clearly audible from that moment when starting to listen actively.«51 Für Amphoux ist der sonic background mit der Anwesenheit eines Dritten verbunden : man hört ihn – unabhängig davon , was ein Ich oder ein Du tut. »Moreover [ Amphoux ] states that one can neither attend it , nor listen to it , but it will always be heard if one is not deaf.« Der sonic background entzieht sich der bewussten Wahrnehmung , indem er in unspektakulärer Weise einfach anwesend ist. »[ I ]t’s an ongoing stream – a continuum – of sounds.« Diese Qualität kommt in der Soundscape der Friedhofstribüne dem Gesprächssummen zu , dessen Charakter in den Formulierungen , die Björn Hellström zur Erläuterung von Amphouxs Ansatz findet , treffend beschrieben ist : unbemerkt vom Subjekt , unreflektiert , anwesend zu sein. Das Gesprächssummen , verstanden als sonic background , lässt sich demnach begreifen als das , was das wahrnehmende Subjekt in der gegebenen Situation im Gegensatz zum Spielgeschehen und zu seinen Gesprächspartnern vermutlich zwar nicht bewusst wahrnimmt , das sich aber dennoch auf es auswirkt. Einen Hinweis auf die Art und Weise dieses Sich-Auswirkens enthält Amphouxs dritte Kategorie , sonic ambience. Als sonic ambience bezeichnet er eine »composition of the present sounds within a sonic environment , i. e. , the sound that gives a distinctive character [ … ] to a place.« Amphoux verbindet die sonic ambience mit einer zweiten Person , mit der sich das Subjekt verständigen kann im Sinne von : ›Hast du das auch wahrgenommen ?‹ In großer Nähe zum sonic background geht es auch hier wieder nicht um die Indexikalität und Bedeutung einzelner Klangereignisse. Im Vergleich mit den sonic signals wird vielmehr der unbestimmte ontologische Status der sonic ambience kenntlich. Im Modus der sonic ambience zu hören heißt , dass ein Geräusch einen nicht aufhorchen lässt , sondern in seiner spezifischen sonischen Qualität , seiner Materialität , also in seiner vom Subjekt erfahrbaren Präsenz und damit auch in seiner Vergänglichkeit erlebt wird. In der Soundscape der Friedhofstribüne besitzt diese Qualität freilich insbesondere das Gesprächssummen. In seiner einflussreichen Bestimmung des Begriffs Atmosphäre geht auch Gernot Böhme von einer materiellen Präsenz in Verbindung mit einem unklaren ontologischen Status aus. Über Atmosphären schreibt er : »Man weiß nicht recht , soll man sie den Objekten oder Umgebungen , von denen sie ausge51 Hier und im Folgenden ebd. , S. 67.

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hen , zuschreiben oder den Subjekten , die sie erfahren. Man weiß auch nicht so recht , wo sie sind. Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen.«52 Auf diese Weise bilden Atmosphären »gestimmte Räume«53 aus , die sie als eine »Umgebung«54 »tön[ en ]«55. Übertragen auf die Friedhofstribüne heißt das , auf ihr existiert deshalb ein Erfahrungsfeld für freundschaftliche Beziehungen , weil hier eine Atmosphäre der Freundschaftlichkeit besteht , ein sense of place der Freundschaftlichkeit. Wie vom Gesprächssummen als sonic background und sonic ambience angezeigt wird , ist dieser Raum als ongoing stream anwesend.56 Mit der Konstatierung einer Atmosphäre geht die Frage nach ihrer Wahrnehmung einher. Bei Böhme heißt es hierzu , Atmosphären seien »etwas , das von den Dingen , von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives , nämlich Eigenschaften , die die Dinge haben , und doch sind sie etwas Dinghaftes , zum Ding Gehöriges , insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften [ … ] die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives , etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft , gehören zu Subjekten , insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.«57 Böhme führt diese komplexe Verschlingung von Subjektivem und Objektivem im Raum der Atmosphäre näher aus , indem er Atmosphäre als fundamentale »Wahrnehmungswirklichkeit«58 versteht : »Wahrnehmung ist eine Einheit von Subjekt und Objekt , ein Kopplungszustand. Subjekt und Objekt verschmelzen in der Wahrnehmung. [ … ] Die Atmosphäre ist die Anregung eines gemeinsamen Zustandes von Subjekt und Objekt. Für die Wahrnehmungswirklichkeit sind diese Anregungszustände immer das erste Seiende. So etwas wie Subjekt und Objekt , und ferner Dinge und Substanzen ergeben sich erst aufgrund einer partiellen Entkopplung.«59 Der Raum der Atmosphäre entsteht demnach in einer Kopplung zwischen etwas , das tönt , und einem Subjekt , das von dieser Tönung in einen Anregungszustand versetzt wird. Ein wiederholt auftauchendes Beispiel , das Böhme hier52 53 54 55 56

Böhme ( 2006 ): Atmosphäre , S. 22. Böhme ( 2001 ): Aisthetik , S. 47. Böhme ( 2006 ): Atmosphäre , S. 32. Ebd. , vgl. Böhme ( 2001 ): Aisthetik , S. 47. Auf das Gegebensein dieses Raums deutet etwa auch die Aussage Taschners hin , dass auch gegnerische Teams und die Schiedsrichter von den Friedhofstribünenbesuchern freundlich verabschiedet würden. 57 Böhme ( 2006 ): Atmosphäre , S. 33 f. 58 Böhme ( 2001 ): Aisthetik , S. 56. 59 Ebd.

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für gibt , ist die Atmosphäre der Bedrohlichkeit : Eine »Anwesenheit«60 wird empfunden ( Bedrohlichkeit ) – und das Subjekt geht in ihr auf ( es fühlt sich bedroht ). In Böhmes Verständnis von Atmosphäre ist demnach eine Differenzierung zwischen Raum und Selbst nicht möglich. Und mehr noch : Atmosphären wird hier die Kraft zuerkannt , das Selbst zu affizieren. Ich möchte vorschlagen , dieses Eingenommenwerden des Subjekts durch die Atmosphäre als Subjektivierungsvorgang zu begreifen : Als Subjekt der Erfahrung einer spezifischen Atmosphäre entsteht ein anderes Subjekt.61 Jean-Paul Thibaud fasst die subjektivierende Funktion der Atmosphäre in dieser Weise : »Wenn uns Atmosphären umgeben , wenn wir in sie eingetaucht sind , dann nehmen wir sie notwendig von innen wahr , was zur Folge hat , dass es für das Subjekt kaum mehr möglich scheint , von seiner Umgebung zurückzutreten.«62 Für Thibaud bilden Atmosphären einen sinnlichen Hintergrund , »der die Bedingungen , unter denen Phänomene [ … ] in Erscheinung treten , festsetzt«.63 Ihre Medialität ermög­liche Wahrnehmung überhaupt erst.64 In der Dimension des Klangs ist das Atmosphärische in besonderer Weise enthalten und die zur Bezeichnung klanglicher Phänomene zur Verfügung stehenden Begriffe ermöglichen eine Annäherung an die atmosphärische Qualität , helfen , diese zu artikulieren. Die Attraktivität der Friedhofstribüne als Ort der Fußballbegeisterung erklärt sich vor diesem Hintergrund dadurch , dass am place der Klangaufnahme eine Atmosphäre der Freundschaftlichkeit vorzuliegen scheint. Sie kann von den FriedhofstribünenbesucherInnen wahrgenommen werden. Wobei Wahrnehmung im Medium der Atmosphäre heißt , als ihr Subjekt zu entstehen. Die Atmosphäre der Freundschaftlichkeit zu erleben , wie sie sich im Gesprächssummen anzeigt , ist deshalb gleichbedeutend damit , nicht nur selbst anzufangen , beim Fußballschauen über alles Mögliche mit seinen Nachbarn zu reden , sondern grundlegender : selbst freundschaftlich zu werden.

60 Ebd. , S. 45. 61 Zur Situierung des hier vorgeschlagenen Verständnisses von Atmosphäre als subjektivierendem Medium in einer theoretischen Annäherung an spätmoderne westliche Subjektivität vgl. Bonz ( 2011 ): Das Kulturelle. 62 Thibaud ( 2003 ): Sinnliche Umwelt , S. 282. Den Hinweis auf die Atmosphäre-Theorie Thibauds verdanke ich Ana Rogojanu. 63 Ebd. , S. 295. 64 Thibaud erläutert hiermit , weshalb sich Atmosphären tendenziell der Bestimmung ihrer spezifischen Qualität entziehen : Weil sie eine Grundlage für das Wahrnehmen schaffen , sind sie selbst , sozusagen : an sich , schwer wahrnehmbar. Vgl. Thibaud ( 2003 ): Sinnliche Umwelt , S. 294.

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Fazit: Das Fußballspiel als Voraussetzung der Atmosphäre Wie jede kulturelle Medialität besitzt auch das Zustandekommen einer Atmosphäre Voraussetzungen.65 Worin diese im Fall der Freundschaftlichkeit der Friedhofstribüne bestehen , ist Gegenstand der folgenden abschließenden Überlegungen , die ihren Ausgang bei den ebenfalls am CRESSON von JeanFrançois Augoyard und Henry Torgue erforschten Effekten alltagskultureller Klangsituationen und -ereignisse nehmen.66 Ein bei Augoyard und Torgue besonders ausführlich beschriebener Klangeffekt ist die ubiquity – also die Allgegenwärtigkeit. Das Kennzeichen dieses Klangeffektes besteht darin , scheinbar von überall her gleichzeitig auf das Subjekt zu kommen sowie zugleich von nirgendwo im Besonderen – »from everywhere and nowhere at the same time«.67 In der subjektiven Wahrnehmung werde dies als eine Verunsicherung erlebt , als eine der Paranoia ähnliche Erfahrung von Ohnmacht , mit Einsamkeit gepaart , da das Subjekt von der Frage bedrängt werde , wer , wo oder was Urheber des Klangs sei.68 Ganz anders der Klangeffekt des envelopments. Hier erreichen die Klänge das Subjekt nicht von einem unspezifischen Nirgendwo her , sondern gewissermaßen von überall. Es entsteht ein »feeling of being surrounded by a body of sound that has the capacity to create an autonomous whole , that predominates over other circumstantial features of the moment«.69 Augoyard und Torgue beschreiben die hiermit einhergehende Erfahrung als sehr angenehm : »The accomplishment of this effect is marked by enjoyment , with no need to question the origin of the sound.« Die Nähe des envelopments zum Gesprächssummen ist offensichtlich , bedrohen dessen Klangschlieren das Subjekt doch nicht , sondern regen es angenehm an , indem sie es umgeben. Ein solches Umgebensein lässt sich als Voraussetzung angenehmer Atmosphären im Allgemeinen verstehen. In Bezug auf die Friedhofstribüne liegt es in einer Vielzahl einzelner Umgebungsmomente vor. Zu ihnen zählen der der Friedhofstribüne einen Hintergrund bietende Dornbacher Friedhof ; die das Stadion sicht- und spürbar umgebenden Wohnhäuser , die es innerstädtisch einfassen ; oder auch die Verkaufsstände mit Bier und Erdäpfelchips , die 65 So setzt zum Beispiel die verbreitete , im Poststrukturalismus als symbolische Ordnung bezeichnete sprachähnlich Bedeutungen artikulierende kulturelle Medialität das Vorhandensein von Codes voraus und verlangt dem Rezipienten ab , dass er den betreffenden Code kennt und zu lesen vermag. 66 Vgl. Augoyard /  Torgue ( 2005 ): Sonic Experience. 67 Ebd. , S. 130. 68 In den Worten von Augoyard und Torgue : »The uncertainty produced by a sound about its origin establishes a power relationship between an invisible emitter and the worried receptor« ( Augoyard /  Torgue 2005 : 131 ). 69 Hier und im Folgenden ebd. , S. 47.

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sich hinter der Friedhofstribüne in der Alszeile befinden. Im Klangmaterial lassen sich insbesondere die signalhaft aufscheinenden Klänge in ihrer Funk­tion als Umgebungsmomente begreifen : die einzelnen Rufe ( »SPORTKLUB !«, »RAPIIID !«); die Masse der mit ihren Schlüsselbunden Rasselnden ; die Anfeuerungsdynamiken ; Spielgeräusche wie die Pfiffe des Schiedsrichters und Ballschlaggeräusche ; nicht zu vergessen : Fetzen von Frauen- , Kinder- und Männerstimmen , Stimmen von Alten und Jungen – das Gesprächssummen. In Ethnographien von Peer-Groups in Fankurven findet sich das , was von mir als Umgebungsmoment und Voraussetzung der Atmosphäre der Freundschaftlichkeit begriffen wird , zum Beispiel in der wiederholt beschriebenen , distanzierten Bezugnahme auf Ultras , auf andere Fangruppen und auch auf die Spieler der eigenen Mannschaft.70 Alle diese Momente eint , auf eine bestimmte Weise in der Situation anwesend zu sein , nämlich präsent , ohne von den Subjekten der Situation fokussiert zu werden ; also nicht in Bedeutungen aufzugehen , sondern an sich aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit in der Situation bedeutsam zu sein. Insofern zählt auch das St. Pauli- und das Friedhofstribünen-Merchandising mit zu den Umgebungsmomenten , wenn man es nicht semantisch liest , sondern in seinem schieren Dasein begreift : als ein Aktant neben den anderen in einer Situation artikulierten Aktanten , die in ihrem Zusammenwirken in diesem Fall eine Umgebung schaffen , in der eine Atmosphäre entstehen und sich halten kann. Die Atmosphäre wäre demnach ein Effekt und spezifischer Fall dessen , was in der ANT als »Assoziation«71 bezeichnet wird , das Ergebnis einer Vielzahl zusammenwirkender Anregungen oder Anlässe.

Aber: War da nicht noch etwas? Die Atmosphäre , so Diedrich Diederichsen , sei eine Situation , »in der ein großer Zweck ( Transport , Verkauf , Handel und Wandel etc. ) ein Licht wirft , dessen Schatten groß ist : hier tummeln sich viele und Vielheiten , die der Anlass zusammengeführt hat , die aber eigentlich was anderes wollen und machen.«72 Atmosphäre heiße , so Diederichsen weiter , »eine Konstellation steckt voller Möglichkeiten , denen aber nicht das zentrale , sozusagen offizielle Interesse , die Beleuchtung gilt«.73 Bei dem großen Zweck und offiziellen Interesse handelt es sich um das Fußballspiel , das an diesem Abend vom Wiener Sportklub und den 70 Vgl. Binroth ( 2008 ): Der wahre Fan , S. 95 ; Müller ( 2010 ): Lebenslang grün-weiß , S. 101–103. 71 Vgl. Latour ( 2006 ): Technik. 72 Diederichsen ( 1999 ): Der lange Weg , S. 60. 73 Ebd.

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Amateuren von Rapid ausgetragen wurde. Erst in seinem Schatten kann die Atmosphäre der Freundschaftlichkeit auf der Friedhofstribüne existieren. Claudio Curcotti bemerkte zur Friedhofstribünen-Soundscape : Das Spiel sei ja offenbar langweilig gewesen. Das war es nicht , soweit ich mich erinnere. Es war ein intensives Fußballspiel. Aber die Soundscape bringt eben mehr zum Ausdruck und lenkt die Aufmerksamkeit auf anderes : den Umstand , dass das Spiel auch dazu dient , eine Atmosphäre hervorzubringen.

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Jochen Bonz

Thibaud , Jean Paul ( 2003 ): Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären. In : Hauskeller , Michael ( Hg. ): Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Zug , S. 280–297. Tschuschke , Volker ( 2006 ): Fußball und archaische Lust. Eine Flanke aus der Tiefe des psychoanalytischen Raumes. In : Brandes , Holger u. a. ( Hg. ): Hauptsache Fußball. Sozialwissenschaftliche Entwürfe. Gießen , S. 117–132. Vannini , Phillip /  Waskul , Dennis /  Gottschalk , Simon /  Rambo , Carol ( 2010 ): Sound Acts. Elocution , Somatic Work , and the Performance of Sonic Alignment. In : Journal of Contemporary Ethnography 39 :3 , S. 328–353. Vuvuzela sound at Cape Town Stadium – world cup 2010 , http://www.youtube.com/wat ch?v=bKCIFXqhLzo&feature=related ( 23. 02. 2012 ). Wikipedia-Eintrag zum Wiener Sportclub-Platz , http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Sportclub-Platz ( 24. 02. 2012 ).

Das Gesprächssummen

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Peter Payer

»WIENER LÄRM« AKUSTISCHE GROSSSTADTKRITIK UM 1900 1 Das enorme Wachstum der europäischen Städte führte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entstehung einer populär und massenwirksam formulierten Kritik an den urbanen Verhältnissen. Bedrohliche Bilder von der Unnatur der Stadt kamen auf , von Anonymität und Menschengewühl , Krankheit , Hektik und Lärm. Dabei war es vor allem die Großstadt , die im Zentrum der Kritik stand. Sie war das große Labor , das den Stand der modernen Zivilisation auf den Punkt brachte und die gewaltigen ökologischen und sozialen Folgeerscheinungen verdeutlichte. Auch in Wien des Fin de Siècle erreichte der Diskurs über die neuen Umwelt- und Lebensbedingungen , geführt in Journalistik , Literatur , Politik bis hin zu Architektur , Medizin und Volkskunde , eine bisher ungekannte Intensität. Umfassend und kontrovers wurde die Entwicklung der Donaumetropole , die mit knapp zwei Millionen Einwohnern ( 1910 ) zur viertgrößten Agglomeration Europas aufstieg , in all ihren Facetten kommentiert : von der Veränderung des Stadtbildes über den Verkehr und den Ausbau der technischen Infrastruktur bis hin zu Kultur , Alltagsleben – und vor allem auch dem unüberhörbaren akustischen Wandel. Es war der Wiener Volkskundler Michael Haberlandt ( 1860–1940 ), der als einer der Ersten ausführlich über den Lärm als kulturelles Phänomen der Moderne reflektierte. In seiner Essaysammlung »Cultur im Alltag« beschrieb er die neue Alltagskultur , die sich für ihn in der Reklame , im Fahrrad , beim Baden , im Kartenspiel , in der Feuerbestattung oder auch im Lärm manifestierte – wobei er Letzterem besonders kritisch gegenüberstand und darin einen »untrüg­ lichen Maßstab der von einer Gesellschaft erreichten Cultur« sah : Je mehr Lärm vertragen wird , desto größer die Barbarei. Eine innerlich verfeinerte Welt ist der geschworene Feind jener anderen Unreinlichkeit , jenes lauten Gestankes , der Lärm heißt. Jede feinere Cultur hält sich seufzend Ohren und Nase zu in dem Toben der Geräusche dieser Welt.2 1

2

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Die folgenden Ausführungen entstammen dem langjährigen Forschungsprojekt des Autors »Der Klang der Großstadt. Wien 1850–1914«, das in Bälde als Buch erscheint. Vgl. dazu auch Payer ( 2003 ): Vom Geräusch zum Lärm , S. 173–191 ; ders. ( 2004 ): Der Klang von Wien , S. 105–131 ; ders. ( 2004 ): »Großstadtwirbel«, S. 85–103 ; ders. ( 2004 /  2005 ): Unerwünschte Geräusche , S.  69–94 ; ders. ( 2005 ): Versuch , S.  1–16 ; ders. ( 2007 ): The Age of Noise , S. 773–793. Vgl. Meissl ( 2004 ): Klavier klimpern , S. 198–207. Haberlandt ( 1900 ): Vom Lärm , S. 177.

Beklagenswerte Kulmination dieser Entwicklung war für Haberlandt die »entsetzliche , nie endende Kakophonie des Großstadtlärmes , welcher der moderne Culturmensch hilflos , schutzlos preisgegeben ist«.3 Die Geräuschkulisse der Metropole , deren rapide Veränderung der Musikliebhaber Haberlandt in Wien persönlich miterlebt hatte , empfand dieser als kulturelle Bedrohung , die zu ­einer Verrohung des Kulturmenschen und letztlich zum Niedergang der Zivilisation führe : Wir prahlen von wachsender Cultur , von fortschreitender Verfeinerung des Menschen , und der Lärm und Tumult um uns Unglückliche schwillt fortwährend an – und niemand , der empört die Thür zuschlüge und es dem Gesindel auf den Kopf zusagte , dass es elendes Lärmgesindel sei ! Wahrlich , man bekommt den übelsten Begriff , das allerschlechteste Vorurtheil von unserer vielgepriesenen Cultur [ … ] , wenn man bedenkt , wie in unserer großartigen Civilisation alles seine sanfte Schonung , seinen tapferen Schutz findet , nur nicht unsere Ruhe , der Mutterschoß aller höheren Geistigkeit.4

Die Lärmproblematik war für Haberlandt unzweifelhaft eine soziale Frage. So beklagte er vor allem den »muthwilligen« und »überflüssigen Lärm« des Pöbels , der mit lautstarken Rufen , mit Peitschenknallen , Hundegebell oder Kindergeschrei die Straßen beherrsche. Eine Änderung dieses Verhaltens könnte seiner Meinung nach nur durch eine ehestmöglich einsetzende Bewusstseinsbildung erreicht werden. Erziehung war für Haberlandt , selbst ganz dem bürgerlichen Ideal der Aufklärung verpflichtet – er gründete den »Verein für Österreichische Volkskunde« und das »Österreichische Museum für Volkskunde«, dessen Direktor er ab 1911 war – , der einzig sinnvolle Weg zur akustischen »Entpöbelung unserer Kultur«: Immer mehr Lärm und immer weniger Rücksicht auf die anderen , die Geistigen ! Wie wenig allgemein ist noch das Gefühl , dass alles Laute , Grelle , Tumultuöse Pöbelart , Wildenmanier sei ; alles Vornehme dagegen still , gedämpft , wie auf Teppichen wandelnd. In diesem Punkte fehlt es uns noch ganz an der Erziehung. In jeder Schule sollte als elftes Gebot gelehrt werden : Du sollst nicht lärmen.5

3 Ebd. 4 Ebd. , S. 177–178. 5 Ebd. , S. 182.

»Wiener Lärm«

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Abb. 1  : Der Lärm des Pöbels: Grinzing, Scherzkarte, um 1900 Sammlung Peter Payer

Ähnlich , wenngleich ( noch ) nicht so dramatisch beurteilte auch der renommierte Feuilletonist Eduard Pötzl ( 1851–1914 ) die Lärmverhältnisse in Wien. Wie Haberlandt hatte auch er die akustischen Veränderungen in seiner Heimatstadt in den vergangenen Jahrzehnten aufmerksam verfolgt. Seine Eindrücke publizierte er in einer Skizze mit dem schlichten Titel »Großstadtlärm«. Darin beschrieb er eindringlich den emotionalen Schock und die Irritation , die sich besonders bei der Rückkehr in die Stadt nach längerer Abwesenheit einstellten : Wer nach einem Landaufenthalte von etlichen Wochen nach Wien zurückkehrt , den erfaßt in den ersten Stunden eine Art aufgeregten Taumels. Er fühlt sich inmitten aller Geräusche , die auf ihn einstürmen , unsicher wie ein Betrunkener. Mögen auch seine Nerven durch irgend eine Cur wesentlich gekräftigt sein , er wird zuweilen von einem geradezu herzbeklemmenden Schreck gepackt. [ … ] Das bohrt und hämmert an den Nerven und foltert sie , daß man sich unter die Erde flüchten möchte , um nur eine Minute wieder Schweigen um sich zu haben.6

Immer schwerer könne man , so Pötzl , dem Lärm entkommen , der sich unaufhaltsam in den Straßen , aber auch in den Höfen und Wohnhäusern ausbreite. Mit spitzer Feder schildert er die akustischen Penetrationen , wobei er in seiner Argumentation Bezug nimmt auf den aktuellen Nervendiskurs7 , am Ende aber doch noch versöhnlich ausklingt : »Es gilt zu warten. Bald wandeln sich dem so anpassungsfähigen Ohre die lästigen Einzelheiten der Geräusche wieder um , 6 7

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Pötzl ( 1900 ): Großstadtlärm , S. 64 , 73–74. Vgl. Radkau ( 2000 ): Das Zeitalter der Nervosität.

Peter Payer

zu dem eintönigen Sausen , als welches der Stadtmensch im Laufe der Zeit den Lärm seiner Umgebung empfindet [ … ].«8

Lärm als Feuilleton-Thema Wichtigste Meinungsbildner jener Jahre waren die großen Tageszeitungen , die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Wiens modernes Pressewesen begründeten , darunter so bedeutende Blätter wie die »Neue Freie Presse«, Das »Neue Wiener Tagblatt«, die »Arbeiter-Zeitung«, die »Wiener Abendpost« oder die »Zeit«.9 Wenngleich in ihren politischen Ausrichtungen unterschiedlich – von fortschrittlich über liberal bis konservativ – hatte sich in allen ein neues , bei den Lesern zunehmend beliebtes Format etabliert : das Feuilleton. Und im Feuilleton war es auch , wo der Lärm von nun an verstärkt zum Thema wurde ( auch Pötzls Bericht erschien ursprünglich als solches ). Meist waren es bekannte Schriftsteller und Journalisten , die hier – geistreich und gewandt – die verschiedensten Aspekte bürgerlichen Lebens kommentierten , von den neuesten Trends in Theater , Literatur und Musik bis hin zu aktuellen Fragen der Stadtentwicklung.10 Einer von ihnen war Alfred Freiherr von Berger ( 1853–1912 ), studierter Jurist , anerkannter Schriftsteller , Dramaturg , Professor für Philosophie und Ästhetik an der Universität Wien ( und knapp vor Lebensende für zwei Jahre auch Direktor des Wiener Burgtheaters ). Als regelmäßiger Feuilletonist der »Neuen Freien Presse« wies er 1907 in seinem programmatischen Artikel »Das Recht auf Stille« in aller Deutlichkeit auf die rechtliche Seite der Lärmproblematik hin : »Bin ich verpflichtet , in meinem Bewußtsein beliebige Tonempfindungen , die ich nicht haben will , hervorbringen zu lassen ? Gibt es kein Recht auf Stille ?« Auch Berger hatte den dramatischen Wandel Wiens als Ohrenzeuge miterlebt und sich gerade in den vergangenen Jahren immer intensiver mit seiner akustischen Umgebung beschäftigt. Prophetisch mahnte er : »Die Geräuschfrage , das fühle ich an meinen Nerven , ist wichtiger als sie scheint [ … ].«11 Mit solch eindringlichen Appellen war der Boden aufbereitet für den Kampf gegen den Lärm jenseits literarischer und journalistischer Glossen. Gesellschaftliche Bewegungen entstanden , organisiert in Vereinen und Bündnissen , deren Sympathisanten konkrete Maßnahmen zur Reduzierung des Lärms propagierten. Die Vorbilder dazu kamen aus den USA und Großbritannien. In 8 9 10 11

Pötzl ( 1900 ): Großstadtlärm , S. 74. Vgl. Sagl ( 1997 ): Wiener Tageszeitungen , S. 268–275. Vgl. Lengauer ( 2000 ): Wiener Feuilleton , S. 102–121. Berger ( 1913a ): Das Recht auf Stille ( 1907 ), S. 315–316.

»Wiener Lärm«

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New York hatte 1906 Julia Barnett-Rice , Ärztin und Gattin eines wohlhabenden Verlegers , die »Society for the Suppression of Unnecessary Noise« gegründet und einen weltweit Aufsehen erregenden Feldzug gegen den Lärm in ihrer Heimatstadt gestartet.12 Zwei Jahre später wurde auch in London ein »StreetNoise-Abatement-Committee« ins Leben gerufen. Vor allem die New Yorker Initiative wurde auch in Wien rezipiert – nicht ohne ironische Untertöne allerdings. So mokierte sich der Schriftsteller und Kritiker Oskar Blumenthal im Feuilleton der »Neuen Freien Presse« über die seiner Meinung nach überflüssige und zum Scheitern verurteilte Bewegung : Ich bin wirklich neugierig , welche Mittel die kluge Amerikanerin ersinnen wird , um ihre Liga zur Bekämpfung des Großstadtlärms wirksam ins Leben zu führen. [ … ] Ich fürchte , daß Mistreß Rice Unerreichbarem nachstrebt , wenn sie zur Verzärtelung unserer Nerven die allzu sonoren Atemzüge der Großstadt sänftigen will. Denn wie das Pendel seine Schwingungen nicht absolut tonlos vollziehen kann , so wird auch das Uhrwerk des Großstadtlebens nicht arbeiten , ohne daß uns sein lärmvoller Gang in die Ohren dröhnt. [ … ] Das Konzert der Straße ist uns bei unserer täglichen Arbeit eine aufmunternde Begleitung geworden , wie die Marschmusik für den Soldaten – und gerade aus dem Kreischen und Tosen um uns her erlauscht unser geschärftes Ohr manches von dem Besten und Wertvollsten , was die Zeit uns zu sagen hat. [ … ] Wir ertragen den Großstadtlärm , weil er uns etwas zu sagen hat – und darum , meine gnädigste Mistreß Rice , nehmen Sie Abstand von Ihren Beglückungsplänen ! Denn Lärm ist Leben , und die tonlose Stadt würde uns als die tote Stadt gelten.13

Doch nicht alle Großstädter waren bereits , wie es Blumenthal ausdrückte , »lärmhart« geworden , und der Aufruf zur Bündelung der Kräfte im Kampf gegen den Lärm fand zunehmend auch in Deutschland und Österreich Gehör. In Wien rief der engagierte Sozialreporter Max Winter ( 1870–1937 ), renommierter Feuilletonist der »Arbeiter-Zeitung«, im Mai 1908 als einer der Ersten zum konkreten Aktivismus auf : »Wir müssen dem Lärm begegnen wollen , wir müssen ihn als einen Schädiger der Großstadtmenschen erkennen und dann als solchen bekämpfen. [ … ] Es ist Zeit , dass wir auf Abwehr sinnen !«14

12 Vgl. Smilor ( 1980 ): Toward an Environmental Perspective , S. 141–145 ; Thompson ( 2002 ): The Soundscape of Modernity , S. 120–130. 13 Blumenthal ( 1907 ): Das Konzert der Straße , S. 2. 14 Winter ( 1908 ): Wiener Lärm , S. 3.

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Peter Payer

Theodor Lessings »Antilärmverein« Der entscheidende Schritt zur Formierung einer Lärmschutzbewegung ging von Deutschland aus. Initiator war der Publizist und Kulturphilosoph Theodor Lessing ( 1872–1933 ), seit 1907 Privatdozent für Philosophie an der Technischen Hochschule in Hannover. Nachdem er bereits zwei einschlägige Artikel veröffentlicht hatte ,15 legte er 1908 das Buch »Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens« vor. Darin fasste er die zeitgenössischen Diskussionen in ihren vielfältigen historischen , sozialen , ökonomischen und psychologischen Aspekten zusammen und entwickelte daraus – in enger Anlehnung an Schopenhauer – eine Philosophie des Lärms , interpretiert als kulturelle Degenerationserscheinung. Auf der Ebene des Individuums war der Lärm seiner Meinung nach nichts anderes als ein Narkotikum , mit dem der moderne Mensch sich zu betäuben und die Nichtigkeit seiner eigenen Existenz zu verdrängen suchte. Auf gesellschaftspolitischer Ebene sah Lessing im Lärm – wie schon viele bürgerliche Zeitgenossen vor ihm – in erster Linie eine spezifische Art des Klassenkampfes : Der Lärm nun ist das primitivste und plumpeste , zugleich aber das allgemeinste und verbreitetste Mittel der Bewußtseinssteuerung. [ … ] Er ist ursprünglich nur verfeinertes Faustrecht und die Rache , die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt , dafür , daß der ihm Gesetze gibt. [ … ] Der wohlerzogene , kultivierte Mensch wird sich [ … ] immer und überall durch Schweigen und durch Feindschaft gegen undisziplinierte , laute Lebenshaltung auszeichnen. Kultur ist Entwicklung zum Schweigen.16

Das Buch verstand sich allerdings weniger als theoretisches Werk , denn – wie im Untertitel deutlich gemacht – als »Kampfschrift« und Aufruf zu umfassenden Aktivitäten gegen den Lärm. Als Verfechter einer »Philosophie der Tat«17 hatte Lessing mit besonderem Interesse Barnett-Rice’s Initiative in New York verfolgt , ehe er nun selbst im Oktober 1908 den »Deutschen Lärmschutzverband« gründete , der unter der populäreren Bezeichnung »Antilärmverein« sogleich für mediales Aufsehen sorgte.18 Sitz des Vereins war Lessings Wohnung in Hannover , wo er den »Kampf zur Befreiung von Lärm« zu organisieren gedachte. Noch im November desselben Jahres rief er eine eigene Vereinszeitschrift ins Leben , 15

Lessing ( 1901 ): Ueber den Lärm , S. 71–84 ; ders. ( 1902 ): Noch einiges über den Lärm , S. 330–339. 16 Lessing ( 1908a ): Der Lärm , S. 11 , 20. 17 Vgl. Lentz ( 1998 ): Eine Philosophie der Tat , S. 242–264. 18 Vgl. Baron ( 1982 ): Noise and Degeneration , S. 165–178 ; Lentz ( 1994 ): »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, S. 81–105 ; Saul ( 1996 ): Wider die »Lärmpest«, S. 151–192.

»Wiener Lärm«

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die in ihrem Titel die Programmatik der Initiative auf den Punkt brachte : »Der Antirüpel /  Das Recht auf Stille. Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm , Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts- , Handels- und Verkehrsleben«.19 In der ersten Ausgabe des Heftes gab Lessing sich euphorisch , wenngleich er sich der Schwierigkeit der Aufgabe durchaus bewusst war : Gewiß , heute sind wir noch in der Defensive ! Wir kämpfen , wenn wir die Roheit , die Rüpelhaftigkeit , die uns umgibt , beanstanden [ … ] nur um unsere Existenz. Wir sind die ›leidende Minorität‹ inmitten schreiender , feilschender , roh sich überlärmender Millionen. Aber wir wenigen von heute sind die vielen von morgen ! Wir fühlen am deutlichsten , wohin die Entwicklung der Massen steuert.20

Eine durchaus elitäre und missionarische Haltung also , der es auf pragmatischer Ebene zunächst einmal darum ging – wie schon Freiherr von Berger formuliert hatte –, das »Recht auf Stille« als bürgerliches Menschenrecht zu begreifen und durchzusetzen. Mit der Vereinszeitschrift erhielten Lärmgeplagte erstmals eine mediale Plattform , die ihre Beschwerden veröffentlichte und ausführlich über mögliche rechtliche Schritte informierte. Zudem bot der Verein bei Eingaben an amtliche Stellen seine Unterstützung an , Beschwerdekarten mit der Aufschrift »Ruhe ist vornehm« wurden verbreitet , »Blaue Listen« erstellt , die auf ruhige Unterkünfte hinwiesen , sowie »Schwarze Listen«, die unverbesserliche Lärmsünder anprangerten.

Ortsgruppe Wien In zahlreichen in- und ausländischen Städten konnte Lessing Sympathisanten für seinen Kampf gewinnen , neben Hannover vor allem in Berlin , Hamburg , Frankfurt am Main , München , Bremen , Dresden , Leipzig oder Köln. Auch in Wien entstand im Jahr 1909 eine eigene Ortsgruppe unter der Leitung des Vertrauensmannes Dr. Robert Stiaßny , der in seiner Funktion unterstützt wurde von Dr. Eduard Ritter von Liszt und Alfred Hermann Fried.21 19 Auf der Suche nach der öffentlichkeitswirksamsten Bezeichnung wurde der Titel der Zeitschrift mehrmals geändert : Der Antirüpel / Antirowdy /  Das Recht auf Stille ( Nr. 1 /  November 1908 ), Das Recht auf Stille /  Das Antirüpelchen /  Der Antirowdy ( Nr. 2 /  Dezember 1908 ), Recht auf Stille /  Der Antirüpel / Antirowdy ( Nr. 3–12 /  Jänner–Dezember 1909 ), Der Antirüpel /  Recht auf Stille ( Nr. 1–11 , Jänner– Dezember 1910 ; Nr. 1–6 , Jänner–Juni 1911 ). 20 Der Antirüpel , Nr. 1 / 1908 , S. 4. 21 Der Antirüpel /  Recht auf Stille , Nr. 4 / 1909 , S.  75 ; Nr. 5 / 1909 , S.  98 ; Nr. 6 / 1909 , S. 118 ; Nr. 9 / 1909 , S. 171 ; Nr. 11 / 1910 , S. 56.

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Peter Payer

Wie in anderen Ortsgruppen war das Wiener Führungsteam durchgehend bildungsbürgerlicher Herkunft. Robert Stiaßny ( 1862–1917 ) war Kunsthistoriker an der Universität Wien , wo er sich vor allem mit der Kunst des Mittel­alters beschäftigte. Eduard Ritter von Liszt ( 1867–1961 ), Cousin des berühmten Komponisten und Klaviervirtuosen Franz Liszt , war Jurist , arbeitete als Bezirksrichter und Privatdozent. Er verfasste ein kleines Pamphlet mit dem Titel »Schutz unseren Nerven !«,22 ab 1925 war er als Universitätsprofessor in Graz tätig. Alfred Hermann Fried ( 1864–1921 ) war engagierter Pazifist , Gründer der Zeitschriften »Die Waffen nieder !« ( gemeinsam mit Bertha von Suttner ) und »Die Friedens-Warte«. 1911 erhielt er für sein pazifistisches Wirken den Friedensnobelpreis.23

Abb. 2 : Prominentes Mitglied des »Antilärmvereins«: Hugo von Hofmannsthal, um 1900 (Quelle: wikipedia.de)

Nach einem durchaus hoffnungsvollen Beginn entwickelte sich die Wiener Ortsgruppe jedoch nur äußerst zäh. Lediglich 35 Mitglieder verzeichnete sie im Oktober 1910 , womit Wien deutlich hinter Berlin lag und im deutschsprachigen Raum nur die sechstgrößte Mitgliederzahl aufwies ( die Gesamtanzahl aller Mitglieder des »Antilärmvereins« betrug bescheidene 1. 085 ; immerhin drei Mitglieder gab es auch in Graz ).24 Wie in den anderen Städten waren es vor allem Ärzte , Juristen , Schriftsteller , Künstler , Architekten und Ingenieure , die dem Verein beitraten.25 Prominentestes Mitglied war der bekannt hypersensible Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal ( 1874– 1929 ). In einem Brief schrieb er an Lessing : »Ihren Feldzug halte ich

22 Liszt ( 1913 ): Schutz. 23 Zur Biographie vgl. Göhring ( 2006 ), Schönemann-Behrens ( 2011 ). In beiden Werken finden sich allerdings keine Hinweise auf Frieds Mitgliedschaft beim »Antilärmverein«. An seinem Wohnhaus in 1090 Wien , Widerhofgasse 5 , wurde 2011 eine Gedenktafel angebracht. 24 Der Antirüpel /  Recht auf Stille , Nr. 11 /  Dezember 1910 , S. 57. 25 Vgl. Recht auf Stille /  Der Antirüpel , Nr. 4 / 1909 , S. 61 , 65 ; Nr. 10 / 1909 , S. 177 ; Nr. 12 / 1909 , S.  247.

»Wiener Lärm«

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für notwendig und nützlich im höchsten Grade. Ich leide aufs Peinlichste unter Geräuschen und in einer Weise , die meine Arbeit oft gefährdet , obwohl ich auf dem Lande lebe , um Ruhe zu finden.«26 Lessing schätzte Hofmannsthals »erlesene Stubenkultur der Bücher und Nerven«27. Er war stolz , einen so berühmten Fürsprecher seiner Bewegung gefunden zu haben und veröffentlichte dessen Brief sogleich in der Vereinszeitung. Hofmannsthal hatte die Großstadt verlassen und wohnte seit 1901 im barocken »Fuchsschlössel« samt zugehörigem Garten in Rodaun südlich von Wien. Der »noble Graf von Rodaun« – beim Abendessen herrschte Frackzwang – war derart lärmempfindlich , dass er während seiner Arbeitszeit sogar seiner Familie spezielle »Ruhebestimmungen« verordnete. In der Großstadt , und ganz besonders in Wien , sah er in erster Linie ein Zentrum der Kultur , mit großer Vergangenheit , berühmten Bauwerken und wertvollen Kunstschätzen. Hofmannsthal liebte sie ihrer Schönheit und Geschichtsträchtigkeit willen , nahm jedoch ansonsten eine deutlich ablehnende Haltung den modernen Metropolen gegenüber ein , die er in seinen Werken denn auch immer wieder in Verbindung brachte mit Menschenmassen , Lärm , Schnelllebigkeit , Chaos und Entfremdung : »Die riesenhafte Großstadt reißt an sich , experimentiert , verbraucht und wirft weg.«28

Befürworter und Gegner Die Reaktionen der Wiener Öffentlichkeit auf die »Antilärmbewegung« waren , wie in Deutschland ,29 durchaus ambivalent. Seit dem Beginn von Lessings Initiative hatte sich in den Zeitungen die Diskussion über Lärm nochmals deutlich intensiviert. Dabei gab es zum einen die Gruppe jener , die es überschwänglich begrüßten , dass nun endlich etwas gegen die »Lärmseuche« unternommen werde. So meinte der Schriftsteller und Theaterdirektor Adam Müller-Guttenbrunn ( 1852–1923 ): »Schach dem Lärm ! Es ist nur zu begrüßen , daß sich endlich ein Bund dagegen zu bilden beginnt.«30 Und auch der bereits erwähnte Freiherr von Berger stellte im Juli 1909 zufrieden fest – nicht ohne sich auch als Urheber der Bewegung zu reklamieren :

26 27 28 29

Zit. nach Recht auf Stille /  Der Antirüpel , Nr. 4 / 1909 , S. 53. Stadtarchiv Hannover , Nachlass Theodor Lessing , Nr. 2725c , S. 12. Zit. nach Pleister ( 1982 ): Das Bild der Großstadt , S. 219. Vgl. Stadtarchiv Hannover , Nachlass Theodor Lessing , Nr. 2483–2554 : Anti-LärmVerein ( Zeitungsausschnitte ). 30 Müller-Guttenbrunn ( 1908 ): Lärm , S. 3.

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Meine Klagen über die Unbilden , welche in den großen Städten und ganz besonders in Wien unserem Gehörorgan angetan werden , fanden lauten , vielstimmigen und lang anhaltenden Widerhall , und dem Ausdruck ›Recht auf Stille‹ sind schnell Flügel gewachsen , auf welchen er sich weithin in die Lande , überall hin , wo man unter der Lärmplage leidet , verbreitete. Die mehr und mehr anwachsende , neuestens auch in Vereinsform betriebene Bewegung gegen die tausendfachen lästigen Nebengeräusche unseres städtischen Kulturlebens hat sich , wie ich aus verschiedenen Veröffentlichungen ersehe , seiner ebenfalls bemächtigt. Ich freue mich darüber , denn , wie fast jeder Gehirnarbeiter , empfinde ich tief die Berechtigung dieser Bewegung.31

Die Gründung eines Vereins gegen den Lärm sei mehr als notwendig und eine »gute Sache«, hieß es in Leserbriefen an die Zeitungen. Ein Erfolg der Bewegung wäre überaus wünschenswert , wenngleich man sich doch auch , wie selbst Sympathisanten warnten , vor Übertreibungen hüten müsse.32 Letzteres bekräftigten auch die Gegner der »Antilärmbewegung«, die in Lessing und seinen Anhängern schlicht neurotische , übersensible Fanatiker sahen , die sich dem Fortschritt der Zeit widersetzten. Sie wurden als verweichlichte Zeitgenossen denunziert , denen die Kraft zum Leben und damit zum Ertragen des Lärms fehle. An den Lärm , so argumentierte man , könne man sich bei etwas gutem Willen durchaus gewöhnen. Schon bei der Rezension von Lessings LärmBuch33 fehlte es nicht an Polemik gegenüber dem Verfasser , der als »Lärmprofessor«, als übernervöser , überheblicher Intellektueller mit ausgeprägtem Geltungsbedürfnis , verunglimpft wurde. Auch der österreichische Journalist und Schriftsteller Julius von Ludassy ( 1858–1922 ) bezeichnete ihn als »geistvollen Sonderling [ … ] , voll von vornehmen Schrullen und Eigenheiten«. Für den »armen Theodor« habe er nur einen Rat übrig : »Er fahre nach Neuyork , heirate die wackere Miß Rice und gebe selbst , was er verlangt – Ruhe.« 34 Satirische Blätter wie der »Figaro« nahmen sich dankbar des Themas an , karikierten die Bestrebungen der »Antilärmiten« als übertrieben-fantastische Maßnahmen , an deren Ende das geräuschlose Krachen der Semmeln stehe und der Verzicht auf das Malen mit schreienden Farben , sodass bald Totenstille herrsche , aus der man nur manchmal aufgeschreckt werde , »wenn der Antilärmverein zur Popularisierung seiner Ideen die Lärmtrommel rührt«.35 Po31 Berger ( 1913b ): Das Recht auf Stille ( 1909 ), S. 316–317. 32 Marriot ( 1908 ): Antilärmverein , S. 1–3 ; N. N. ( 1908a ): Der Lärm der Großstadt , S. 6 ; N. N. ( 1908b ): Der Anti-Rüpel , S. 13. 33 Vgl. die Artikelsammlung im Stadtarchiv Hannover , Nachlass Theodor Lessing , Nr. 2555. 34 Ludassy ( 1908 ): Lärm , S. 1–3. 35 N. N. ( 1908c ): Der Antilärmverein , S. 630.

»Wiener Lärm«

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lemische Unterstellungen finden sich auch in so manchen Antwortschreiben prominenter Wiener Persönlichkeiten , die Lessing um Beitritt zu seinem Verein gebeten hatte. So erklärte Otto Eisenschitz ( 1863–1942 ), Schriftsteller und Dramaturg am Wiener Bürgertheater , kategorisch : Ihr Feldzug gegen den Lärm ist nicht notwendig und nützlich. Im Gegenteil , er ist kleinlich , überflüssig , zwecklos und unsinnig ! [ … ] Wer viel in freier Luft ist und viel badet , der ist nicht nervös. Der schläft gut und leidet also unter keinem Lärm. Ich liebe den großstädtischen Lärm. Ich liebe jeden Lärm , der auf ein freies , reges , temperamentvolles , lustiges , heiteres Leben schließen läßt. Der Lärm des großstädtischen Betriebes ist mir Bedürfnis. [ … ] Ihrem Verein trete ich nicht bei. Bedaure , nein , bin , Gottlob !, gesund !36

Trotz der zahlreichen Anfeindungen kämpfte Lessing unermüdlich für seine Sache. Gerade in Wien betrieb er eine besonders intensive Agitation. Er pu­ blizierte drei große Zeitungsartikel37 und kam im März 1911 persönlich für zwei Vorträge in die Stadt. Am 15. des Monats sprach er im Hörsaal des Hygienischen Instituts der Universität Wien über die Ziele der »Antilärmbewegung«.38 Zwei Wochen später referierte er im »Wissenschaftlichen Klub« über die »Psychologie des Lärms«.39

Scheitern der Bewegung Wenngleich Lessings Verein in relativ kurzer Zeit eine hohe mediale Resonanz erlangt hatte , konnte er doch nicht genügend Sympathisanten für sein Anliegen gewinnen und so ausreichend politische Durchschlagskraft erlangen. Zu sehr war der Lärm für viele zu einer unabdingbaren »Begleitmusik« der Großstadt geworden , zu einem durchaus postitiv besetzten Symbol für Modernität und Fortschritt. Und hartnäckig verteidigten manche sogar ihr »Recht auf Lärm«, wie der renommierte Journalist Edmund Wengraf ( 1860–1933 ), Chefredakteur der »Zeit«, der in einem ausführlichen Essay im April 1911 darlegte : Ich weiß , man inszeniert jetzt eine geräuschvolle Bewegung gegen das Geräusch. [ … ] Jeder gebildete Zeitgenosse ist verpflichtet , nervös zu sein , also auch ver36 Zit. nach Recht auf Stille /  Der Antirüpel , Nr. 6 / 1909 , S. 110. 37 Lessing ( 1908b ): Gegen den Lärm , S. 1–2 ; ders. ( 1909 ): Experimentelle Versuche , S. 1–2 ; ders. ( 1911 ): Die Psychologie des Lärms , S. 1–3. 38 Österreichische Vierteljahresschrift für Gesundheitspflege , Heft 1–2 / 1911 , S. 231. 39 Monatsblätter des Wissenschaftlichen Klubs in Wien , Nr. 6 / 1911 , S. 43.

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pflichtet , sich dieser Bewegung anzuschließen. [ … ] Gestehen wir’s doch offen : wir Großstadtmenschen , die wir uns ein philosophisches Air geben und über den angeblich unsere Denkarbeit störenden Straßenlärm seufzen , können tatsächlich ohne diesen Straßenlärm nicht leben. Er ist die geistige Anregung unserer Tage und die einwiegende Musik unserer Nächte. Er gehört zu dem Milieu , das uns durch Gewohnheit unentbehrlich geworden ist. Und er klingt uns im Ohr nach , wenn wir , von illustrierten Reiseführern verlockt , in die Stille der Wälder und Berge hinausflüchten , und er mahnt mit dem wehmütig süßen Schall einer Heimatglocke die Flüchtlinge zu baldiger Rückkehr. Schämen wir uns nicht , es zuzugeben : wir grüßen ihn wie einen alten Freund , wenn wir wiederkehren. Uns ist nicht anders zumute , als dem heimkehrenden Sohn der Berge , wenn er das Alphorn wieder hört [ … ].40

Die notorische Geldnot und die anhaltend geringe Anzahl an aktiven Mitgliedern führte Mitte des Jahres 1911 zu Veränderungen in der Führung und letztlich zum Ende des »Antilärmvereins«. Lessing , der das Zentralbüro drei Jahre lang gleichsam als Einzelkämpfer geführt hatte und nur zeitweilig von zwei Sekretärinnen unterstützt worden war , musste erkennen , dass sich der dafür notwendige Zeitaufwand mittlerweile enorm gesteigert hatte. Hin- und hergerissen zwischen der aufreibenden Arbeit für den Verein und seinen philosophischen Ambitionen , entschied er sich schließlich für Letztere. Bevor er zu einer Vortragsreise nach Amerika aufbrach , legte er im Juni 1911 die Leitung des Vereins zurück. In der letzten Ausgabe des »Antirüpel« resümierte er nicht ohne Wehmut : Indem ich von der mir ans Herz gewachsenen Schöpfung Abschied nehme – ans Herz gewachsen wie ein Sorgenkind , trotz vieler Bitterkeit und Enttäuschung  – mag ich nicht viel Worte machen , sondern nur sagen , daß ich allen , die die neue soziale Idee unserer Liga verstanden und sie unterstützten , herzlich danke und darum bitte , den Männern , die diese Idee künftig aufnehmen und weiterführen werden , Vertrauen und Hilfe entgegenzubringen. Unsere Sache kam noch zu früh , wird sich aber immer wieder melden und wird siegen.41

Neben Vortragsreisen war Lessing in den kommenden Jahren für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte er seine beiden Hauptwerke »Philosophie als Tat« ( 1914 ) und »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« ( 1919 ). Zunehmend war er als Jude radikalen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Nach der 40 Wengraf ( 1911 ): Das Recht auf Lärm , S. 1–2. 41 Der Antirüpel /  Recht auf Stille , Nr. 6 / 1911 , S. 30.

»Wiener Lärm«

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Machtübernahme der Nationalsozialisten flüchtete Lessing in die Tschechoslowakei , wo er Ende August 1933 von einem sudetendeutschen Nationalsozialisten ermordet wurde.42 Mit seiner ausgeprägten journalistischen Passion , seiner anhaltenden Gesellschaftskritik und Integration von aktuellen Zeitproblemen in die Philosophie nahm Lessing zeitlebens eine außergewöhnliche Position ein. Die letztendliche Motivation seines Tuns legte er in seinen – posthum erschienenen – »Lebenserinnerungen« dar : »Immer wollte ich richtigstellen , aufklären , verständlich machen , ethisch auswerten bis zum Letzten.«43 Etwas von diesem Anspruch hatte er 1911 an seinen Nachfolger beim »Antilärmverein« weiterzugeben versucht. Hermann Hasse , Doktor der Staatswissenschaften , übernahm die Geschäftsführung des Vereins , dessen Sitz nach Berlin verlegt wurde. Hasses Versuche , den Verein noch stärker als soziale Bewegung zu positionieren und sich gemeinsam mit anderen Länderorganisa­tionen zu einer internationalen Lärmschutzbewegung zusammenzuschließen , erwiesen sich allerdings als nur mäßig erfolgreich.44 Der Verein und die Ortsgruppen lösten sich noch vor dem Ersten Weltkrieg auf. Ähnliche Probleme hatten auch die Aktivisten in den anderen europäischen Staaten , wenngleich die Diskussionen hier durchaus langlebiger waren. In Großbritannien etwa veröffentlichte der schottische Arzt Dan McKenzie noch 1916 ein Werk mit dem Titel »The City of Din. A Tirade against Noise«, in dem er den Lärm der Großstadt , seine Entstehungsbedingungen und gesundheitlichen Folgen ausführlich analysierte und seine Überzeugung ausdrückte , »that there is no reform in the world of today which is at once so necessary and so easy to accomplish as this one«.45 Was waren letztlich die entscheidenden Gründe für das Scheitern der Lärmschutzbewegung ? In erster Linie wohl eine zu große Fokussierung auf bürgerlich-intellektuelle Bevölkerungskreise , ein zu elitärer Zugang , der das Entstehen einer Massenbewegung verhinderte. Eine Verankerung in der Arbeiterschaft war so gut wie nirgends gelungen , obwohl gerade sie in ihrem Fabriksalltag de facto weitaus größeren Lärmbelästigungen ausgesetzt war. Die einseitige soziale Ausrichtung des Antilärmvereins ging einher mit einer Individualisierung und Personalisierung der Lärmerzeuger. Aus Vereinssicht waren es die unbotmäßigen Geräusche der Mitmenschen , die wichtiger erschienen als jene , die durch Ökonomie und Technik hervorgerufen wurden – ganz im Unterschied zur USamerikanischen Lärmschutzbewegung , die weit ökonomiezentrierter und weni42 43 44 45

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Zur Biographie vgl. Marwedel ( 1987 ): Theodor Lessing. Lessing ( 1971 ): Einmal und nie wieder , S. 406. Hasse ( 1914 ): Die internationale Lärmschutzbewegung. McKenzie ( 1916 ): The City of Din , S. III.

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ger philosophisch und klassenkämpferisch argumentierte und gerade deswegen auch deutlich erfolgreicher war. Diese stellte Lärm als ineffizienten und unproduktiven Faktor dar und konnte somit , wie Raymond Smilor und Lawrence Baron analysierten , deutlich besser mit seiner Gefahr für Entwicklung und Wohlstand argumentieren als Lessings kulturpessimistische Stoßrichtung. Zudem wurden in den USA auch die Gefahren des Lärms für öffentliche Sicherheit und Gesundheit weitaus stärker betont und die Auswirkungen auf Kranke und insbesondere Kinder – Miss Rice hatte selbst sechs Kinder – hervorgehoben.46 Die Persönlichkeit Lessings , der als Einzelgänger , kritischer Querkopf , »Feminist« und Antikapitalist verrufen war , erschien dem politisch-ökonomischen Establishment in Deutschland und Österreich wohl häufig als zu wenig vertrauenswürdig , wenngleich Lessing sich selbst zwar als Skeptiker , aber durchaus als Fortschrittsfreund verstand und er im »Antilärmverein« absolut keinen Bund von Nervenkranken oder simplen Technikfeinden sehen wollte. Gerade die Technik könnte seiner Meinung nach mithelfen , viele der Probleme zu lösen. So bekannte er einmal : »Ich glaube nicht an Gott , aber ich glaube an das Wasserklosett.«47 Ein generelles Handicap war schließlich das Fehlen objektiver Messungen und Vergleichsdaten , sodass subjektive Eindrücke von Einzelnen oder bestimmten sozialen Gruppen ein deutliches Übergewicht erhielten. Trotz all dieser Einschränkungen kommt Lessing und seinen Anhängern in den Ortsgruppen aber zweifellos das Verdienst zu , in umfassender Weise auf die Notwendigkeit des Lärmschutzes aufmerksam gemacht zu haben. Lärm war durch ihre Hilfe erstmals – national wie übernational – zu einem medial breit rezipierten Thema geworden. Auf lange Sicht gesehen waren manche daher durchaus optimistisch , wie der Wiener Historiker Reinhard E. Petermann formulierte : Vorläufig leben wir noch in einer Kulturperiode des Lärms [ … ]. Aber in nicht zu ferner Zeit wird wieder – geistig wie physisch – eine Kulturperiode der Ruhe folgen. Mit dieser Hoffnung erfüllt uns nicht nur die Geschichte , welche die Menschheit in allen ihren Strebungen und Zuständen beständig von Extrem zu Extrem pendelnd zeigt , sondern auch die Mannigfaltigkeit der Ansätze , mit denen die Antilärmbewegung schon heute ihren Gegnern zu Leibe rückt. Heute sind diese noch die Herren , und der Ruheliebende ist ihnen gegenüber fast rechtlos. Das muß denn doch wieder einmal anders werden.48

46 Smilor ( 1980 ): Toward an Environmental Perspective , S. 142–144 ; Baron ( 1982 ): Noise and Degeneration , S. 174–175. 47 Zit. nach Marwedel ( 1987 ): Theodor Lessing , S. 322. 48 Petermann ( 1912 ): Die Lärmplage , S. 3.

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Städtevergleich So manche Zeitgenossen fragten sich : War Wien lauter , geräuschvoller , lärmverseuchter als andere Großstädte ? Schon Theodor Lessing bemerkte , dass man nirgendwo sonst die psychologische Wirkung des Lärms besser studieren könne als in Wien.49 Andere bezeichneten Wien schlicht als »die nervöseste Großstadt des Kontinents«50 und beklagten , dass der Verkehrslärm hier lauter und »weit unerträglicher« sei als beispielsweise in London.51 Folgende Gründe wurden dafür genannt : das in keiner europäischen Hauptstadt mehr so häufig verwendete Steinpflaster , im Unterschied zu Asphalt- und Holzstöckelpflaster ; die relativ geringe Straßenbreite und die große Dichte der Verbauung ; die nach wie vor oberirdisch verlaufende Straßenbahn , wohingegen etwa in London , Paris oder Berlin bereits Untergrundbahnen existierten ; der weitgehend ungeregelte Straßenverkehr , der zum permanenten Signalgeben animiere ; die vergleichsweise heterogene Funktionsnutzung in den einzelnen Stadtteilen ; die ausgeprägte Tendenz der Wiener zum mutwilligen und rücksichtslosen Lärmen.

Abb. 3 : Spezifika des »Wiener Lärms«: Kopfsteinpflaster und ­oberirdische Straßenbahn. Straßenszene, um 1900 Sammlung Peter Payer

Vor allem Letzteres wurde mehrmals als spezifischer Wiener Beitrag zur großstädtischen Geräuschkulisse hervorgehoben. Eduard Pötzl ärgerte sich darüber , dass in »keiner Stadt des Continents« so viel unnützer Lärm erzeugt werde wie in Wien , 49 Lessing ( 1911 ): Die Psychologie des Lärms , S. 1. 50 T. F. G. ( 1911 ): Straßenlärm und Straßenverkehr , S. 8. 51 Petermann ( 1912 ): Die Lärmplage , S. 1.

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wo die Menschen bemüht seien , »ihr Erdenwallen so laut als möglich zu betonen , gleichsam , als fürchteten sie , sonst übersehen zu werden«.52 Auch Max Winter argumentierte in diese Richtung und konstatierte angesichts des auf den Wiener Straßen ständig anzutreffenden Geschreis , »in einer Stadt der Rücksichtslosen zu sein , [ … ] in der alle glauben , ein Recht auf möglichst größten Lärm zu haben , und in der alle diese Lärmfreiheit unverschämt nützen«.53 Winter sprach denn auch von einem eigenständigen »Wiener Lärm«, ebenso wie Adam Müller-Guttenbrunn , für den sich die typische Klangfarbe desselben allerdings nicht direkt auf der Straße , sondern erst aus der Distanz offenbarte. Erst wenn man das Zentrum der Stadt verließ und etwa im Währinger Cottageviertel in die Höhe emporstieg , konnte man , so Guttenbrunn , die Wiener Mischung aus Brausen und Stampfen , Hämmern und Schmieden , Tuten , Pfeifen und Rollen vernehmen.54 Eine ähnliche Wahrnehmung von den Höhen oberhalb der Stadt aus machte Robert Musil , der den metropolitanen Klang in ein berühmt gewordenes literarisches Bild fasste. Gleich zu Beginn seines Romans »Der Mann ohne Eigenschaften« imaginierte er Wiens Geräuschkulisse des Jahres 1913 als Vielzahl von Einzelsignalen , die aufgingen in der großen Soundscape der Moderne mit ihrer abstrakten Dynamik und die in der Summe ein durchaus charakteristisches Lautbild ergaben : Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden , aus dem einzelne Spitzen vorstanden , längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten , von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch , ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe , würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben , daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. [ … ] Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit , Wechsel , Vorgleiten , Nichtschritthalten , Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten , bodenlosen Punkten der Stille dazwischen , aus Bahnen und Ungebahntem , aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegen­ einander , und glich im ganzen einer kochenden Blase , die in einem Gefäß ruht , das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern , Gesetzen , Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.55

Aufgrund der städtebaulichen Spezifika mochten aufmerksame Zeitgenossen durchaus hörbare Unterschiede zu anderen Millionenstädten erkannt haben. 52 53 54 55

Pötzl ( 1900 ): Großstadtlärm , S. 64. Winter ( 1908 ): Wiener Lärm , S. 3. Müller-Guttenbrunn ( 1908 ): Lärm , S. 2. Musil ( 1987 ): Der Mann ohne Eigenschaften , S. 9–10.

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Weit gereiste Journalisten wie Max Winter stellten bei Aufenthalten in anderen europäischen Großstädten gerne auditive Vergleiche an. Als Winter im Jahr 1900 anlässlich der Weltausstellung Paris aufsuchte , interessierte er sich neben der Effizienz der städtischen Infrastruktur , der Gestaltung des öffentlichen Raumes und dem Funktionieren des Handels in besonderem Maße für das akus­tische Erscheinungsbild der französischen Metropole. In mehreren Artikeln in der »Arbeiter-Zeitung« veröffentlichte er seine Vergleichsstudien und stellte bezüglich des Lärms fest , dass dieser sich in den Pariser Straßen ganz anders anhöre als in Wien. So könne man , obwohl das Verkehrsaufkommen in Paris zehnfach höher sei , generell einen »gedämpfteren Grundton« feststellen , aufgrund der vielen Straßen mit Holzstöckel- und Asphaltpflasterung und der beachtlichen Verbreitung unbeschlagener Pferdehufe , aber auch durch tausenderlei mehr Stimmen des Straßenhandels.56 Im harten Wettbewerb der Metropolen , bei dem Wien sich nicht zuletzt über den Stand der eigenen Entwicklung klar zu werden versuchte , blickte man stets auch nach Berlin , der traditionellen Rivalin unter den deutschen Großstädten. Hier fiel der Vergleich aus akustischer Sicht ambivalent aus. Während die einen ironisch feststellten , dass man , aus Berlin kommend , nahezu immun gegen jede Art des Straßenlärms sei ,57 verliehen andere Berlin die »Palme der Geräuschlosigkeit« angesichts der dort existierenden breiten Straßen und konsequenten polizeilichen Maßnahmen.58 Verglichen mit Wien war Berlin in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zweifellos die modernere und – mit Blick nach Übersee – bereits stärker amerikanisierte Metropole. Denn die künftigen Referenzorte lagen nunmehr in den USA , wo Städte wie Chicago und New York emblematisch die Urbanität der Neuen Welt verkörperten. Wie der Historiker Marcus Gräser gezeigt hat , rekurrierte der Großstadtdiskurs im Visuellen vornehmlich auf Chicago , das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit enormer Schnelligkeit zur zweitgrößten Metropole des Landes herangewachsen war und mit seinen Wolkenkratzern , Schlachthöfen und sonstigen kapitalistischen Insignien als Fluchtpunkt und Endstadium einer modernen Metropole galt. In Deutschland galt das dynamische Berlin als europäisches Chicago , Wien hinkte deutlich hinterher.59 Akustisch gesehen war in den Debatten eindeutig New York die führende Referenzstadt , als größte Metropole der USA und Geburtsstätte der Antilärmbewegung. In den diskutierten Rankings über die lautesten Städte der Welt lag New York stets unangefochten an der Spitze , wobei zu bedenken ist , dass 56 Winter ( 1900a ): Pariser Spaziergänge III , S. 7 ; ders. ( 1900b ): Pariser Spaziergänge IV, S. 6. 57 Blumenthal ( 1907 ): Das Konzert der Straße , S. 1. 58 N. N. ( 1910 ): Gegen den Großstadtlärm , S. 5–6. 59 Gräser ( 2003 ): Imagination und Interesse.

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nur die wenigsten die USA aus persönlichem Erleben kannten. Beispielsweise der Wiener Wirtschaftsexperte Alexander Dorn , der sich fünf Wochen lang an der amerikanischen Ostküste aufhielt und dabei u. a. New York und Philadelphia besuchte. Nach seiner Rückkehr berichtete er im Frühjahr 1900 in mehreren Vorträgen über seine Reise. Der erste Eindruck von New York war auch für ihn »eine kolossale Bewegung von Menschen , ein Gedränge , ein Lärm«.60 Auch in Wien begann , wenngleich weit schwächer als in Berlin , ein Amerikanismusdiskurs , der die Stadt als Metropole von amerikanischer Betriebsamkeit imaginierte. So verspürte der Journalist Karl Marilaun bereits 1913 den »ruhelosen Atem eines amerikanisch sich gebärdenden Jahrhunderts. [ … ] Autohupen , Stadtbahnlokomotiven , abertausend Fabrikssirenen , der sausende Tanz der Maschinen zerstören die altväterliche Behaglichkeit , die man dieser Stadt so lange nachsagen durfte.«61 Der Amerikanisierung wurde in Wien deutlich defensiver und bis zu einem gewissen Grad auch melancholischer begegnet als im vitalen Berlin. Das altväterische , stark historisch konnotierte Wien sah sich in seinem Selbstverständnis weit eher als ein »Damm und Bollwerk wider den eindringenden Amerikanismus«.62 Denn Großstädte wie New York oder Chicago waren bei vielen Wiener Autoren aus dem bürgerlichen Milieu angstbesetzt , lösten Zerstörungs- und Untergangsphantasien aus. Auch im Akustischen : Schon 1908 hatte Hermann Bahr festgestellt , Wien sei »eine kleine Stadt , die zu groß wird und Angst davor kriegt«.63 Auch hier wies der Diskurs über Lärm und die sich verändernde Geräuschkulisse somit weit über das eigentliche Thema hinaus , war aufgeladen mit den vielfältigsten Bedenken der Moderne. Ein dankbares Projektionsfeld für Stadtkritik also , das letztlich bis heute funktioniert.

LITERATUR Der Antirüpel / Antirowdy /  Das Recht auf Stille ( 1908–1911 ). Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm , Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts- , Handels- und Verkehrsleben. Bahr , Hermann ( 1908 ): Tagebuch. In : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 2 , S. 151. Baron , Lawrence ( 1982 ): Noise and Degeneration. Theodor Lessing’s Crusade for Quiet. In : Journal of Contemporary History 17 / 1 , S. 165–178. Berger , Alfred Freiherr von ( 1913a ): Das Recht auf Stille ( 1907 ). In : ders. : Autobiographische Schriften 3 ( Reden und Aufsätze ). Wien /  L eipzig , S. 314–316. 60 61 62 63

Dorn ( 1900 ): Ein Amerika-Feuilleton , S. 107. Zit. nach Klaffenböck ( 2005 ), S. 130–131. Servaes ( 1908 ): Wien , S.  133. Bahr ( 1908 ): Tagebuch , S.  151.

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Berger , Alfred Freiherr von ( 1913b ): Das Recht auf Stille ( 1909 ). In : ders. : Autobiographische Schriften 3 ( Reden und Aufsätze ). Wien /  L eipzig , S. 316–331. Blumenthal , Oskar ( 1907 ): Das Konzert der Straße. In : Neue Freie Presse , 7. 2. 1907 , S. 1–3. Dorn , Alexander ( 1900 ): Ein Amerika-Feuilleton. In : ders. : Amerikanisches. Fünf Vorträge. Wien , S. 99–132. Göhring , Walter ( 2006 ): Verdrängt und Vergessen. Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried. Wien. Gräser , Marcus ( 2003 ): Imagination und Interesse. Die Chiffre »Chicago« in den Wiener und Berliner Urbanitätsdebatten 1890–1930. Vortrag am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien , 20. 1. 2003. Unveröffentlichtes Manuskript. Haberlandt , Michael ( 1900 ): Vom Lärm. In : ders. : Cultur im Alltag. Gesammelte Aufsätze. Wien , S. 177–183. Hasse , Hermann ( 1914 ): Die internationale Lärmschutzbewegung. Gautzsch bei Leipzig. Klaffenböck , Arnold ( 2005 ): Sehnsucht nach Alt-Wien. Texte zur Stadt , die niemals war. Wien. Lengauer , Hubert ( 2000 ): Das Wiener Feuilleton nach 1848. In : Kauffmann , Kai /  Schütz , Erhard ( Hg. ): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin , S. 102–121. Lentz , Matthias ( 1994 ): »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«. Lärm , Großstadt und Nervosität im Spiegel von Theodor Lessings »Antilärmverein«. In : Medizin , Gesellschaft und Geschichte 13 , S. 81–105. Lentz , Matthias ( 1998 ): Eine Philosophie der Tat , eine Tat der Philosophie. Theodor Lessings Kampf gegen den Lärm. In : Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 3 , S. 242–264. Lessing , Theodor ( 1901 ): Ueber den Lärm. In : Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 24 /  97 , S.  71–84. Lessing , Theodor ( 1902 ): Noch einiges über den Lärm. In : Nord und Süd , 26 / 103 , S. 330–339. Lessing , Theodor ( 1908a ): Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens. Wiesbaden. Lessing , Theodor ( 1908b ): Gegen den Lärm. In : Die Zeit , 26. 8. 1908 , S. 1–2. Lessing , Theodor ( 1909 ): Experimentelle Versuche über den Lärm. In : Arbeiter-Zeitung , 9. 11. 1909 , S. 1–2. Lessing , Theodor ( 1911 ): Die Psychologie des Lärms. In : Neue Freie Presse , 7. 6. 1911 , S. 1–3. Lessing , Theodor ( 1971 ): Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen. Mit einem Vorwort von Hans Mayer. 3. Auflage , Gütersloh. Liszt , Eduard Ritter von ( 1913 ): Schutz unseren Nerven ! Sonderabdruck , Bielitz. Ludassy , Julius von ( 1908 ): Lärm. In : Neues Wiener Tagblatt , 7. 3. 1908 , S. 1–3. Marriot , Emil ( 1908 ): Antilärmverein. In : Neues Wiener Tagblatt , 11. 10. 1908 , S. 1–3. Marwedel , Rainer ( 1987 ): Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie. Darmstadt /  Neuwied. McKenzie , Dan ( 1916 ): The City of Din. A Tirade against Noise. London. Meissl , Gerhard ( 2004 ): Klavier klimpern oder Fußball spielen. Alt-Wien versus NeuWien im Fin-de-siècle. In : Kos , Wolfgang /  Rapp , Christian ( Hg. ): Alt-Wien. Die

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Stadt , die niemals war (= Katalog zur 316. Sonderausstellung des Wien Museums ). Wien , S. 198–207. Monatsblätter des Wissenschaftlichen Klubs in Wien ( 1911 ). Müller-Guttenbrunn , Adam ( 1908 ): Lärm. In : Wiener Abendpost , 10. 9. 1908 , S. 1–3. Musil , Robert ( 1987 ): Der Mann ohne Eigenschaften 1. Reinbek bei Hamburg. N. N. ( 1908a ): Der Lärm der Großstadt. In : Neues Wiener Abendblatt , 12. 11. 1908 , S. 6. N. N. ( 1908b ): Der Anti-Rüpel. In : Neues Wiener Tagblatt , 29. 11. 1908 , S. 13. N. N. ( 1908c ): Der Antilärmverein. In : Figaro. Humoristisches Wochenblatt , 40 , S. 630. N. N. ( 1910 ): Gegen den Großstadtlärm. In : Neues Wiener Journal , 15. 12. 1910 , S. 5–6. Österreichische Vierteljahresschrift für Gesundheitspflege , Heft 1–2 ( 1911 ). Payer , Peter ( 2003 ): Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20.  Jahrhundert. In : Aichinger , Wolfram /  Eder , Franz X. /  L eitner , Claudia ( Hg. ): Sinne und Erfahrung in der Geschichte. Innsbruck u. a. , S. 173–191. Payer , Peter ( 2004 ): Der Klang von Wien. Zur akustischen Neuordnung des öffentlichen Raumes. In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15 /  4 , S. 105–131. Payer , Peter ( 2004 ): »Großstadtwirbel«. Über den Beginn des Lärmzeitalters , Wien 1850–1914. In : Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 , S. 85–103. Payer , Peter ( 2004 /  2005 ): Unerwünschte Geräusche. Lärm und Großstadt im 20. Jahrhundert. In : Blätter für Technikgeschichte 66 /  67 , S. 69–94. Payer , Peter ( 2005 ): Versuch einer akustischen Topografie : Wien um 1900. In : Wiener Geschichtsblätter 60 / 1 , S. 1–16. Payer , Peter ( 2007 ): The Age of Noise. Early reactions in Vienna , 1870–1914. In : Journal of Urban History 33 /  5 , S. 773–793. Petermann , Reinhard E. ( 1912 ): Die Lärmplage. In : Neues Wiener Tagblatt , 8. 7. 1912 , S. 1–3. Pleister , Michael ( 1982 ): Das Bild der Großstadt in den Dichtungen Robert Walsers , Rainer Maria Rilkes , Stefan Georges und Hugo von Hofmannsthals. Hamburg. Pötzl , Eduard ( 1900 ): Großstadtlärm. In : ders. : Mitbürger. Neueste Skizzensammlung. Wien 1900 , S 64–74. Radkau , Joachim ( 2000 ): Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München. Sagl , Hermann ( 1997 ): Wiener Tageszeitungen 1890–1914. In : Scheichl , Sigurd Paul /  D uchkowitsch , Wolfgang ( Hg. ): Zeitungen im Wiener Fin de Siècle. Wien /  München , S.  268–275. Saul , Klaus ( 1996 ): Wider die »Lärmpest«. Lärmkritik und Lärmbekämpfung im Deutschen Kaiserreich. In : Machule , Dittmar /  Mischer , Olaf /  Sywottek , Arnold ( Hg. ): Macht Stadt krank ? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Hamburg , S. 151–192. Schönemann-Behrens , Petra ( 2011 ): Alfred H. Fried. Friedensaktivist – Nobelpreisträger. Zürich. Servaes , Franz ( 1908 ): Wien. Brief an eine Freundin in Berlin. Leipzig. Smilor , Raymond W. ( 1980 ): Toward an Environmental Perspective. The Anti-Noise Campaign , 1893–1932. In : Melosi , Martin V. ( Hg. ): Pollution and Reform in American Cities , 1870–1930. Austin /  L ondon , S. 135–151. T. F. G. ( 1911 ): Straßenlärm und Straßenverkehr. Zuschrift eines Wieners. In : Neues Wiener Tagblatt , 22. 12. 1911 , S. 8.

»Wiener Lärm«

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Thompson , Emily ( 2002 ): The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America , 1900–1933. Massachusetts. Wengraf , Edmund ( 1911 ): Das Recht auf Lärm. In : Die Zeit , 30. 4. 1911 , S. 1–2. Winter , Max ( 1900a ): Pariser Spaziergänge III. In : Arbeiter-Zeitung , 22. 7. 1900 , S. 6–7. Winter , Max ( 1900b ): Pariser Spaziergänge IV. In : Arbeiter-Zeitung , 29. 7. 1900 , S. 5–6. Winter , Max ( 1908 ): Wiener Lärm. In : Arbeiter-Zeitung , 20. 5. 1908 , S. 1–3.

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Malte Borsdorf

DER GEDEHNTE BLICK AUF ETHNOGRAPHISCHES MATERIAL ZU GEHÖRLOSIGKEIT IN WIEN »Die Gruppe befand sich auf der anderen Straßenseite. Mir war sie nicht aufgefallen , als ich den Ampelknopf drückte und dem müden Blinken der A ­ nzeige zusah : ›bitte warten‹. Es waren die Hände , die in mir den Eindruck e­ rzeugten , dass es sich bei der Gruppe um Gehörlose handelte. Es waren Jugendliche mit modischen Frisuren , und an den ausholenden richtungsweisenden G ­ ebärden glaubte ich ersehen zu können , dass sie sich über den Weg unterhielten. Merkwürdig schien mir , dass ich jemanden trotz des Motorenlärms ansatzweise verstand , der auf der anderen Seite der Alser Straße stand und sich mit s­ einer Sprache nicht mal an mich richtete« ( Forschungstagebuch 18. 09. 20091 ).

Ich bin taub – so nannte ich das immer. ›Auf einem Ohr bin ich taub.‹ Eher würde man es vielleicht als ›Schwerhörigkeit‹ bezeichnen. Es war mir lange Zeit nicht klar , dass Gehörlose2 ihre Situation nicht gern als Taubheit bezeichnen. Denn wer von Taubheit spricht , spricht in der Regel von Stummheit und damit Gehörlosen ab , dass sie eine Sprache haben. Mit dieser Sprache ist meist eine Gebärdensprache gemeint.3 Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen , die ich mit dem Hören und dem Überhören durch meine ›Taubheit‹ machte , in täglichen Situationen in der Schule , der Universität , der Stadt , interessierte ich mich in meinem eigenen literarischen Schreiben für das Phänomen Gehörlosigkeit. Mit dieser Aufmerksamkeit einher ging meine Faszination für literarische Beschreibungen über Behinderung , wie etwa Harlan Lanes »Mit der Seele hören«, Victor Hugos »Der Glöckner von Notre-Dame« oder Gerhard Roths Erkundung zu Blind-

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Wenn nicht anders angegeben , handelt es sich bei den genannten Forschungstagebüchern um Einträge des Autors. Der Begriff ›Gehörlos‹ wird meist in Anlehnung an das englische Wort ›Deaf‹ verwendet und wie dieser bewusst groß geschrieben. Dies ist ein Versuch , den abwertenden Begriff ›deaf and dumb‹ positiv zu konnotieren. Auch im deutschsprachigen Diskurs wird diese Begriffsprägung meist durch die Großschreibung des Adjektivs ›Gehörlos‹ gekennzeichnet. Mit ›Deaf‹ sind damit all jene gemeint , die sich aktiv zur Gehörlosencommunity bekennen , vgl. Ladd ( 2008 ): Deafhood. Vgl. Groschek ( 2008 ): Welt 16 ; Clarke ( 2006 ): Unerhört , S. 9–10. Es gibt viele verschiedene Gebärdensprachen , neben österreichischer und deutscher Gebärdensprache etwa auch die American Sign Language , vgl. ebd. , S. 24.

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heit in Wien.4 Wie die Erfahrung der Umwelt beeinflusst ist von den eigenen sinnlichen Voraussetzungen , interessierte mich für die literarische Recherche , die ich immer als Verarbeitung von Beobachtetem , Gehörtem , Gelesenem oder anderweitig Angeeignetem begriff. Lange suchte ich nach einer literarischen Strategie und Perspektive , die auch den eigenen Behinderungen , dem Überhören und Übersehen Rechnung trug. Ansatzweise sehe ich sie in den Überlegungen zum Gedehnten Blick von Wilhelm Genazino. Im Folgenden werde ich mit dieser Herangehensweise das Material sichten , das ich im Rahmen meiner Ethnographie zu Gehörlosigkeit in Wien sammelte ; Svenja Reinke und ich hatten dazu das Modell des Wahrnehmungsspaziergangs variiert und waren in einem von uns so genannten ›ethnographischen Tandem‹ in unterschiedlichen Räumen in Wien unterwegs. Beides , der Gedehnte Blick wie das Ethnographische Tandem , sind für mich Zugangsweisen , die mir helfen sollen , über Stadt und Behinderung nachzudenken , Perspektiven auf ein noch wenig bearbeitetes Forschungsfeld der Europäischen Ethnologie zu entwickeln.

Der Gedehnte Blick und das Ethnographische Tandem Seit ich in Städten lebe – Innsbruck , Wien , Hamburg – unternehme ich ausgedehnte Spaziergänge und beobachte PassantInnen. Die Beobachtungen trage ich häufig in ein Notizbuch ein. Ich übernahm diese Tätigkeit von Peter Handkes »Gewicht der Welt«. Aus dem Wahrgenommenen fertigt er Montagen an , Montagen dessen , »was aus der oberflächlichen Welt zu mir gedrungen ist und wo ich mich doch auch wiedererkannt habe , ob das nun die Musik der Beatles war oder die Reklameschriften oder die Aufschriften an einer Tür , wo dann steht : Ziehen oder Drücken oder Stoßen.«5 Eine ähnliche Vorgangsweise wie Handke stellt auch Wilhelm Genazino vor , wobei Genazino die Notizen weitergehend betrachtet. Die Notizen der Alltagsbeobachtung werden von ihm in mehrfachen Schritten , in einem im Grunde nie abgeschlossenen Prozess interpretiert : Anhand des Gedehnten Blicks entwickelt er in dem gleichnamigen Essay Interpretationen von notierten Beobachtungen und anderen Materialien wie Fotografien oder Tonaufnahmen. Er geht exemplarisch vor und von einer Fotografie aus , die er über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder betrachtete und neu interpretierte. »Wir haben über die Zeit ein Foto betrachtet. Was heißt ›über die Zeit‹? Offenbar haben wir verinnerlicht , wie viel Zeit wir für die Betrachtung diverser Objekte veranschlagen dürfen.«6 Der Gedehnte Blick fängt beim Unver4 5 6

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Vgl. Lane ( 1990 ): Seele ; Hugo ( 1996 ): Glöckner ; Roth ( 2011 ): Nachtschrift. Handke /  Gamper ( 1990 ): Zwischenräumen , S.  125. Vgl. Handke ( 1979 ): Gewicht. Genazino ( 2007 ): Blick , S. 42.

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ständnis an und weitet den Zeitraum der Betrachtung aus. Wo etwas kaum oder nicht verstanden wird , beginnt der Zustand des Gedehnten Blicks. Was Genazino als Gedehnten Blick beschreibt , kann auch auf die Ergebnisse ethnographischer Recherchen angewandt werden. Das aus diesen gewonnene Material – Notizen , Fotografien und vieles mehr – wird im Nachhinein immer wieder Phasen der längeren Betrachtung unterzogen. Ausgangspunkt bildeten in meinem Fall die beobachteten Situationen. Im Hervorkramen der Notizen , Fotos und anderer Materialien der Ethnographie , im Schreiben dieses Textes und jetzt im Überarbeiten für die Publikation befragte ich die Beobachtung nochmals und setzte somit den Blick fort. Mit ethnographischen Beobachtungen zu Gehörlosen in Wien versuchte ich mich dem zu nähern , wie Gehörlose und auch ich , als Person mit partieller Gehörlosigkeit , mit städtischen Situationen umgehen und wie die Stadt erfahren wird. Dazu unternahm ich gemeinsam mit Svenja Reinke Wahrnehmungsspaziergänge und begleitete eine Gehörlosenführung in teilnehmender Beobachtung. Wir entschieden uns dafür , unsere jeweilige Feldforschung in Wien – ihre zu Tauben und meine zu Gehörlosen – gemeinsam zu unternehmen.7 Dieses Vorgehen hatte mehrere Vorteile. Nach unseren Wahrnehmungsspaziergängen sprachen wir über unsere Eindrücke , schrieben sie auf oder zeichneten unsere Gespräche mit dem Diktiergerät auf. Wir trennten in diesen Diskussionen und Gesprächen , in den Beobachtungen und in den Forschungstagebucheinträgen unsere jeweiligen Forschungsinteressen nicht voneinander , wenn uns etwas – zu einem unserer Themen – auffiel , hielten wir es fest oder diskutierten es , wenngleich unser jeweils eigenes Forschungsinteresse dabei weiterhin im Vordergrund stand. Zu zweit hatten wir die Möglichkeit , auch auf Phänomene zu achten , die für das jeweils andere Thema interessant waren , Phänomene , an die wir eventuell unvoreingenommener und offener herangingen. Diese Vorgehensweise ergänzt den gedehnten Blick insofern , als sich dieser auf das selbst erhobene Material bezieht , das immer wieder besehen und neu befragt wird. Auf den Wahrnehmungsspaziergängen überlegten wir , dass wir durch unser gemeinsames Auftreten in der Szenerie die Wirkung , die wir auf sie hatten , besser reflektieren konnten. Wir konnten darüber sprechen , was und wie wir erlebten , konnten uns gegenseitig auf Übersehenes aufmerksam machen. ( Forschungstagebuch 01. 09. 2010 )

Durch unser gemeinsames Auftreten unterlagen wir selbst einer stärkeren Beobachtung , wir gaben gewissermaßen eine größere Beobachtungsfläche ab. 7

Es war Zufall , dass Svenja Reinke Tauben beobachtete und ich sozusagen ›Taube‹, Forschungstagebuch 01. 09. 2009. Vgl. den Text von Svenja Reinke im vorliegenden Band.

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Auch Wilhelm Genazino macht sich mit seiner Methode des Beobachtens die Wechselseitigkeit von Beobachtungen bewusst. Am Ende des Buches »Eine Frau , eine Wohnung , ein Roman« sieht die Hauptfigur Weigand ein Kind , das sich in einer »Blickkette« befindet : »Das Kind entdeckte seine Betrachter und sah sie kurz nacheinander an. Erst die beiden Frauen , dann mich , dann die Amerikaner. In der Blickkette stießen das heimliche und das öffentliche Leben sanft aneinander. Das Kind sonnte sich in der Huldigung seiner Betrachter und hob das Brot kurz in die Höhe , dann verschwand es.«8

Sichtbarkeit und Sehen U3-Station Volkstheater , ich befand mich auf dem Heimweg vom MUMOK und dachte darüber nach , wie ich mich kurz vor Feierabend mit einem Kollegen über Prag unterh[ alten hatte ] und dabei erstmals feststellte , dass er auf einem Auge blind zu sein schien und wie mich das im Gespräch ( sieht man nun hin oder nicht ? ) irritierte«, schrieb ich am 28. Juli 2009 in mein Forschungstagebuch. »Nachdenkend ging ich durch die U3-Station Volkstheater , als ich vor mir drei junge Frauen gewahrte. Zuerst fiel mir nur jene auf , die direkt vor mir ging , und zwar bemerkte ich das Hörgerät an ihrem linken Ohr. Dann bemerkte ich , dass die drei Frauen , während sie langsam den Bahnsteig der U3-Station abschritten , sich in Gebärdensprache unterhielten und dass die linke , mit dem Hörgerät , den anderen etwas erklärte. Diese nickten , erwiderten ab und zu etwas und folgten ansonsten den Ausführungen der jungen Frau. Ich folgte den dreien , zu Fuß und später mit dem Blick und begann auf die Umgebung zu achten. Die wenigsten Leute beachteten die Gehörlosen und ich bemerkte , dass ich in der Situation selbst in einen stigmatisierenden Blick verfiel. Denn ich beachtete die Gehörlosen nur wegen ihrer Sprache , sensibilisiert durch das Gespräch mit dem Arbeitskollegen. Manche der U-BahnGäste folgten den jungen Frauen mit dem Blick [ … ]. Andere U-Bahn-Gäste beobachteten mich in meiner Beobachtung ( Forschungstagebuch 28. 07. 2009 ).

Die Beobachtung und Thematisierung von Behinderung9 erinnerte mich in der oben beschriebenen Begegnung an Erving Goffmans Stigma-Theorie , die 8 9

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Genazino ( 2003 ): Frau , S. 159–160. Der Begriff ›Behinderung‹ wird oft kritisiert , da er in der Regel mit einer stigmatisierenden Politik des Behindert-Werdens in Verbindung gebracht wird. Demgegenüber steht der Begriff Disability für den reflektierten Umgang mit Behinderung , dazu Waldschmidt /  Schneider ( 2007 ): Disability Studies ; Dederich ( 2007 ): Körper , S. 17–21. Die vorliegende Arbeit verwendet den Begriff ›Behinderung‹, versucht jedoch die Probleme , die dieses Wort mit sich bringt , zu berücksichtigen , vgl. Borsdorf ( 2010 ): Schwerhörigenanlagen.

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von einer »beschämenden Andersartigkeit«10 behinderter Körper ausgeht. Die Stigma-Theorie lässt sich jedoch in dieser Hinsicht auf Gehörlose kaum anwenden. Denn sie geht von einer körperlichen Sichtbarkeit von Behinderung aus. Gehörlosigkeit – verstanden als körperliche Andersartigkeit und Normabweichung , die vom gesellschaftlichen Umfeld als Mangel erachtet wird – ist auf den ersten Blick nicht sichtbar.11 Sie wird erst sichtbar , wo die gesellschaftlichen Zuschreibungen ›taub‹ und ›stumm‹ am wenigsten zutreffen : im Gebärden , im Sprechen also. Die meisten bewussten Begegnungen mit Gehörlosen ergeben sich denn auch , wenn diese auf ihre Behinderung als körperliches Handicap hinweisen : »Gegen 13 Uhr , als ich im Café Kantine im Mq ( Museumsquartier ) saß und am Notebook arbeitete , kam ein junger Mann an meinen Tisch und legte erst auf den Nachbartisch , dann auf meinem je 2 Stofftiere und ein Kärtchen ab , auf dem stand : ›Bitte entschuldigen ! Es kostet 2 € per 1 + 1 Gratis. Vielen Dank !‹ Es fanden sich noch ein winkender /  lachender Smiley und das Symbol eines durchgestrichenen Ohres , weiß auf blauem Grund. Als der Mann wenig später zurückkam , kaufte ich ihm wortlos zwei Stofftierchen ab« ( Forschungstagebuch Svenja Reinke 13. 10. 2009 ). Im Jahr 2000 machte Trude Dimmel , die damalige Präsidentin des österreichischen Gehörlosenbundes , eine ähnliche Beobachtung. Sie befand sich auf dem Rückweg von Brüssel nach Wien , setzte sich im Flughafen in ein Restaurant und las Zeitung. »Der Inhalt war oft so anregend , dass ich nicht immer gleich bemerkte , wenn mir eine Hand einen Schlüsselanhänger über den Tisch schob. Dabei war der Zettel : ›Ich bin taubstumm , ich bitte um eine milde Gabe , damit ich auch menschenwürdig leben kann , ich möchte nicht betteln , aber ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen‹, stand darauf. Insgesamt wartete ich vier Stunden und vier Schlüsselanhänger wurden mir angeboten. Das sind vier ›taubstumme Personen‹ am Flughafen in Brüssel , keine anderen Behinderten , nur die Taubstummen mit ihren Schlüsselanhängern.« Dimmel reagierte misstrauisch. »Ich frage mich , was veranlasst diese Menschen sich als ›taubstumm‹ auszugeben und von den milden Gaben zu leben. Ich habe nicht den Eindruck , dass sie alle ›taubstumm‹ waren. Wenn man sie genau ansah , wurden sie unsicher und hatten es eilig.«12 Dabei war Trude Dimmels Gehörlosigkeit den ›Taubstummen‹ offenbar nicht aufgefallen. Dimmels Beobachtung unterscheidet sich von der Beobachtung Svenja Reinkes durch den Gebrauch des Wortes ›taubstumm‹. Darin äußert sich das Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt solcher Zettel. Dies spricht von einem Misstrauen , das Behinderung zumal in öffentlichen Räumen entgegen10 Vgl. Goffman ( 1975 ): Stigma , S. 12–14. 11 Vgl. Waldschmidt /  Schneider ( 2007 ): Körper , S.  27–43. 12 Dimmel ( 2000 ): Alltagsgeschichten , S. 2.

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gebracht wird. BettlerInnen , die auf der Straße beispielsweise ihre Amputa­ tionen und Narben nicht verbergen ,13 werden in bestimmten medialen Diskussionen unter Verdacht gestellt , beispielsweise in Zeitungsartikeln , die von einer Instrumentalisierung behinderter BettlerInnen ausgehen.14 Diese mediale Auseinandersetzung mit Behinderung ist nicht neu. In Victor Hugos Roman »Der Glöckner von Notre-Dame« ( 1831 ) wagt sich der Dichter Gringoire in die als gefährlich geltenden , von Armen bewohnten Bezirke von Paris und begegnet dort Körperbehinderten und Bettlern , die so tun , als seien sie behindert. Hier wird Behinderung als Distinktionsmittel dargestellt ,15 da Behinderte innerhalb der von Hugo beschriebenen Gesellschaft eine besondere , gehobenere Stellung aufweisen. Bei Quasimodo , dem Glöckner von Notre-Dame , handelt es sich denn auch um die , wie der Schriftsteller Karsten Krampitz es nannte , »Galionsfigur der Behindertenbewegung«16 , da Quasimodo mit und durch seine Behinderung als Held eines Romans auftritt. »Sein Bild illustrierte die Titelseiten der ›Krüppelzeitung‹ [ … ]. Was für eine Metapher ! Ein Buckliger , der von der Brüstung herab die Nichtbehinderten mit Steinen bewirft.«17 In den medialen Diskussionen rund um Behinderung und Bettlertum und etwa auch in Trude Dimmels Misstrauen , welche Personen eine ›echte‹ Behinderung aufweisen oder nicht , klingt an , inwiefern die Sichtbarkeit von Behinderung im städtischen Raum auf diesen einen gewissen Einfluss ausübt. Dass Behinderung den Umgang mit dem städtischen Raum beeinflusst , zeigt sich konkret in Vorrichtungen , die eine Barrierefreiheit ermöglichen sollen. Durch induktive Höranlagen , Rollstuhlrampen , taktile Blindenleitsysteme oder andere Objekte der Barrierefreiheit wird der Stadtraum anders genutzt , nicht nur von jenen , für die derartige Objekte installiert wurden. »Auf der anderen Straßenseite ( der Währinger Straße , Wien ) unterhielten sich vier junge Frauen in Gebärdensprache. Es waren nicht viele andere an der Ampel , doch schienen sie nicht auf die Ampel zu achten. Ein Mann tippte auf sein Mobiltelephon , eine Frau besah , wie auch ich , die Gehörlosen. Plötzlich setzten sich der Mann und die Frau in Bewegung. Ich fragte mich , weshalb , blickte zur Ampel und sah , dass sie bereits auf Grün umgesprungen war. Ich kombinierte , dass sie das taktile Blindenleitsystem gehört hatten und ich die Töne des Blindenleitsystems , dessen stetes Klopfen [ an Ampeln ] , das sich je 13 14 15 16 17

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Vgl. Möhring ( 2007 ): Körper , S. 191–192 ; Sennett ( 1997 ): Fleisch , S. 24. Vgl. etwa Loibnegger ( 2010 ): Alte. Vgl. Hugo ( 1996 ): Glöckner , S. 94–165. Krampitz ( 2009 ): Galionsfigur , S. 5. Ebd. , S. 5. Es gibt verschiedene Behindertenbewegungen , die jeweils von eigenen Konnotationen des Behinderungsbegriffs ausgehen. Bei der Krüppelbewegung handelte es sich um eine bewusst provokative Form , der Christian Mürner und Udo Sierck auf den Grund gehen , vgl. Mürner /  Sierck ( 2007 ): Krüppelzeitung.

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nachdem [ ob eine Grün- oder Rotphase besteht ] nur im Rhythmus verändert , überhört hatte. Nun , als sie sich in Bewegung setzten , betraten auch die Gehörlosen die Straße« ( Forschungstagebuch 10. 09. 2009 ). Was die Gehörlosen und ich überhört hatten , war offenbar von den anderen gehört worden : Das taktile Blindenleitsystem hatte es den anderen PassantInnen wahrscheinlich ermög­ licht , ohne auf die Ampel zu blicken , die Grünphase wahrzunehmen. Das Überhören oder Übersehen ist eine Stadterfahrung , die viele Personen miteinander teilen , auch diejenigen , die sich als nicht behindert verstehen. Das zeitweilige Überhören und Übersehen macht die Situationsabhängigkeit und Prozesshaftigkeit von Behinderung deutlich. Bei Gehörlosen führt es offenbar zu einem vorsichtigeren Umgang mit dem Stadtraum. U-Bahn-Stationen dienen dann zuweilen auch als Treffpunkte. Durch ihr klares Regelwerk , ihre Begrenzungen und Leitsysteme bieten Stationen und Bahnhöfe eine gewisse Sicherheit , die etwa auf der Straße nicht gegeben ist ( Forschungstagebuch 26. 08. 2009 ). »Die großen Bahnhöfe in Deutschland sind traditionell beliebte Treffpunkte jüngerer gehörloser Menschen.«18 Das Auftreten in der Gruppe gibt mehr Sicherheiten , etwa hinsichtlich der Bewegungen im Stadtraum. Barrieren , Gefahrenquellen werden gemeinsam erlebt und thematisiert.19 »Wer in unserer Welt nichts oder nur wenig oder nur eingegrenzt hören kann , ist besonders im Straßenverkehr gefährdet. Das zeigen traurige Unfälle von Gehörlosen und Schwerhörigen im Alter.«20 Die Gebärdensprachdolmetscherin Valerie Clarke veranschaulicht das Gefühl der Unsicherheit , das Gehörlose im Stadtraum zuweilen haben , folgendermaßen : »Gehen Sie einmal mit einem laut gedrehten Walkman durch die Stadt. Automatisch werden Sie sich in diesen Minuten öfters umdrehen oder umherschauen. Das fünf Minuten lang zu machen mag lustig erscheinen und schärft sicherlich wieder Ihre Sinne. Aber es ein ganzes Leben lang zu machen bedeutet , ständig erhöhtem Stress ausgesetzt zu sein.«21 Gewiss , Clarke vereinfacht hier , denn für Frühertaubte ist Stadterfahrung vermutlich anders als für Spätertaubte und für beide Gruppen fühlt sich die Stadt wahrscheinlich anders an als für jemanden , der einen Walkman trägt. Doch geht es auch mir so : Mit Menschen im Stadtraum unterwegs zu sein , die links von mir gehen , bedeutet erhöhten Stress , wobei ich nicht weiß , wie Gehen in der Stadt für jemanden ist , der auf beiden Ohren hört.22 18 19 20 21 22

Menzel ( 2008 ): Jugendliche , S. 44. Vgl. Becker /  Griebel ( 2009 ): Wunsch. Stepf ( 2009 ): Anfang , S. 20. Vgl. auch Becker /  Griebel ( 2009 ): Wunsch , S. 234. Clarke ( 2006 ): Unerhört , S. 19. Am 27. Juli 2009 gingen ein junger Mann und eine junge Frau an mir vorüber. Sie spazierten die Mariahilfer Straße ( W ien 6 /  7 ) entlang und gebärdend blickten sie einander jeweils an. Ich fühlte mich an die Situation erinnert , wenn jemand

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Körper und Differenz Der sinnlichen Erfahrung Gehörloser und der damit verbundenen Raumnutzung wollte ich auf den Grund gehen. Doch es ist heikel , ein Forschungssetting zu entwerfen , das versucht , die Wahrnehmung anderer am eigenen Leib nachzuempfinden.23 Diese Schwierigkeit fasst auch die Sinnesanthropologie ins Auge. Sie geht der Frage des Wahrnehmens beispielsweise anhand von Diskurs­analysen24 oder von Beobachtungen des eigenen Körpers nach.25 Doch orientiert sich die Sinnesanthropologie deutlich an normativen Wahrnehmungsformen und Körperlichkeiten. Der Vielschichtigkeit des Wahrnehmens , etwa durch die Berücksichtigung veränderter Sinnesmöglichkeiten , kommen diese Zugänge nicht nahe.26 Svenja Reinke und ich kamen auf die Idee , uns auf einem Wahrnehmungsspaziergang Wachsstöpsel in die Ohren zu stecken. Konnte uns das bei der intersubjektiven Erfassung und Interpretation verschiedener Wahrnehmungsweisen des städtischen Raumes helfen ? »16 Uhr 10 , Svenja und ich gingen zur Haydn-Apotheke und kauften uns Wachsohrenstöpsel. Vor der Apotheke schoben wir sie uns gleich in die Ohren. Svenja zerteilte einen Stöpsel für beide Ohren , ich nur für das rechte , legte den Rest zurück in die Box. Danach gingen wir die Flurschützstraße entlang und später die Wolfganggasse hinunter zum ›Taubenplatz‹27 ( Hermann-Leopoldi-Park ) am Meidlinger Markt. Mit dem Ohrenstöpsel hört man fast nichts , alles gedämpft. Man hört den eigenen Atem , die eigenen Schritte – wie ein Hämmern. Dadurch ist es sehr beklemmend. Man merkt , wie viel man von der Außenwelt überhört. Man hört besonders markante Geräusche wie Schuhe mit Absätzen auf dem Asphalt oder manche Arten des Vogelgezwitschers. Das Auto eines Gärtners auf dem Radweg am ( Gaudenzdorfer ) Gürtel überhörten wir beide , die Badener Bahn , die

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links von mir geht , auf jener Seite , von der her ich diesen nur unter Verrenkungen des Kopfes verstehe , indem ich stärker auf Körpersprache und Mimik achte , Forschungstagebuch 27. 07. 2009. Es ist schwer , zwischen Hörenden und Hörbehinderten zu unterscheiden , da auch ›Normalhörende‹ medizinisch geringfügig schlechter hören können , auch wenn sie das nicht immer merken , vgl. Fink ( 1995 ): Schwerhörigkeit , S. 1. Vgl. Schwibbe ( 2002 ): Wahrgenommen , S. 16–21 ; Classen ( 2003 ): Schoß. Vgl. Bendix ( 2006 ): Auge. Vgl. Borsdorf ( 2011 ): Behindert Werden. Damit sind etwa auch Wahrnehmungsweisen gemeint , die über herkömmliches Wahrnehmen hinausgehen , etwa wenn manche Sinne geschärft sind , da andere Sinne zu einem Gutteil fehlen , vgl. Saerberg ( 2007 ): Differenz. Die Bezeichnung ›Taubenplatz‹ ergab sich während der Ethnographie etwa zu jenem Zeitpunkt , als dieser Ort zum Hauptfokus von Svenja Reinkes Taubenuntersuchung wurde.

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vom Bahnhof Wolfganggasse zur Flurschützstraße fuhr ( ebenso ). Vermutlich durch das eigene Unwohlsein , war das Sehen geschärft oder zumindest versucht , geschärft zu sein. Wir unterhielten uns brüllend , da wir die verbale Stille wohl auch beklemmend fanden« ( Forschungstagebuch , 23. 02. 2010 ). Beklemmend war nicht die Stille an sich. Dieses Gefühl wurde eher durch die Geräusche erzeugt , die durch die vom Hersteller sogenannten Ohrpassstücke drangen. Ohne die Ohrstöpsel wären die Geräusche deutlich lauter gewesen , zudem klangen die Laute nicht einfach gedämpft , sondern auch verzerrt. Die verzerrte Wahrnehmung eines Hörbehinderten , das Gefühl von Unsicherheit wird von dem Schriftsteller David Lodge sehr gut beschrieben : Die Terroranschläge in der Londoner U-Bahn vom 7. Juli 2005 veranlassen Desmond Bates , den schwerhörigen Ich-Erzähler in Lodges Roman »Deaf Sentence«28, zu einem ausgedehnten Stadtspaziergang. Er hat keine Ahnung , woran es liegt , dass die Straßen menschenleer sind , und kann daher die Ruhe genießen. »Ich war zwar fußmüde , aber seltsam zufrieden. Es war so etwas wie ein unverhoffter Urlaubstag gewesen [ … ] vor allem aber hatte ich die ungewohnte Ruhe in der Stadt genossen. Paradoxerweise weiß man als Schwerhöriger die Stille noch mehr zu schätzen. [ … ] Für einen Schwerhörigen verwandeln sich so viele Geräusche in Lärm , dass er die Stille vorzieht , und deshalb war der Gang durch die verkehrsfreien Straßen eine große Freude. Der Terror hatte vorübergehend die ganze Innenstadt in eine Fußgängerzone verwandelt.«29 Es zeigt sich hier , wie auch oben bei Valerie Clarke , wieder das Phänomen , dass in die Interpretation von Räumen die biografische Erfahrung und Situation mit hineinspielt. Einen wichtigen Faktor bildet hier die Zeit. So beschreibt beispielsweise Lodge einen Spätertaubten , der mit dieser neuen Situation umzugehen versucht , in einer Situation , die ich zum Beispiel nicht anders kenne. Das Gefühl der Unsicherheit und der Beklemmung in Lodges Beschreibung erfasste mich aber , als auch ich mein Hörvermögen weiter dämpfte. Die Art , wie Räume wahrgenommen werden , ist also von vielen Faktoren beeinflusst. Neben der biografischen Situation , den sinnlichen Voraussetzungen und Sensibilitäten , der subjektiven Aufmerksamkeit gegenüber einem Stadtraum hängt sie auch von der atmosphärischen Aufladung der Räume und von der Stimmung der Wahrnehmenden ab.30 So versuchten beispielsweise Architekten der Gallaudet University in Washington 28 Ich nenne hier den englischen Titel , da er mehr aussagt als der deutsche Titel : »Wie bitte ?«. Denn Lodge arbeitet systematisch mit dem ähnlichen Klang der Worte ›deaf‹ und ›death‹, die zumal für Schwerhörige schwer zu unterscheiden sind , dazu Schroeder ( 2010 ): Todesurteil , S.  167–168. 29 Logde ( 2009 ): Wie bitte ?, S. 171. 30 Vgl. Böhme ( 2006 ): Leben mit Atmosphären. Darin lag wohl auch begründet , dass Svenja Reinke und ich für den Wahrnehmungsspaziergang einen Raum wählten , den wir bereits sehr gut kannten , Forschungstagebuch 23. 02. 2010.

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D. C. , einen spezifisch auf die Anforderungen Gehörloser abgestimmten Raum zu entwerfen , den sie als »Deaf Space« bezeichneten. Dieser Raum trägt der Tatsache Rechnung , dass Gehörlose stärker auf Sichtkontakt angewiesen sind , wie er etwa durch Glastüren und -wände , aber auch Lichtklingeln und andere Geräte gegeben ist , die seit geraumer Zeit Teil der Alltage Gehörloser sind.31 In einer Ethnographie zu Gehörlosigkeit im Wiener Stadtraum , die auch atmosphärische Komponenten mit einbezieht , ist nicht nur die Berücksichtigung aller Sinne wichtig. Zu beachten ist auch , dass jene Personen etwa auf sogenannten ›Go alongs‹, »bei denen die Beforschten auf ihren Alltagswegen begleitet werden«32 , eventuell nicht alles auf die gleiche Art wahrnehmen , sie beispielsweise manches überhören , da sie es nicht als wichtig erachten. Dieser Umstand ist entscheidend , da das Nicht-Sehen oder Nicht-Hören die Umgangsweisen mit einem Raum verändert. Und es gibt auch Unterschiede zwischen den einzelnen Sinnen : »Sehen kann so z. B. im Unterschied zum Hören nicht einen Raum in seiner Gänze erfassen«, drückt es der blinde Ethnograph Siegfried Saerberg aus. »Es ist zumeist auf etwas fokussiert , kann zwar noch peripher oder in der Tiefe grobe Sachverhalte oder Gegenstände erfassen , aber jenseits dessen ist Sehen immer auch Nicht-Sehen. Was zu weit hinten oder seitlich liegt , entrinnt dem Blick.«33 Dass etwas nicht auf Anhieb wahrgenommen oder  – im Sinne Wilhelm Genazinos – nicht verstanden werden kann , ist eine Erfahrung , die nicht nur Gehörlose oder Blinde miteinander teilen , sondern die dort auftritt , wo die sinnlichen oder kognitiven Möglichkeiten den Anforderungen der jeweiligen Situation nicht genügen , etwa in sehr lauten oder dunklen Räumen.34 Genazinos Methode des Gedehnten Blickes – mit seinem zeitweiligen und teilweise auch bewusst hergestellten Nicht- oder Anders-Verstehen – bietet sich als Methode an , um zum Themenfeld Stadt und Behinderung zu forschen , da durch den Gedehnten Blick auf das erhobene Material verschiedene sinnliche oder kognitive Voraussetzungen berücksichtigt werden können. Ergebnisse aus dem Forschungsfeld der Disability Studies besagen , dass Menschen mindestens einmal in ihrem Leben eine Behinderung am eigenen Leib empfinden werden. Denn »wenn wir lange genug leben«, so Rosemarie Garland31 Vgl. Uhlig ( 2008 ): Gehörlosen-Architektur , S. 34 ff. Die Gallaudet University ist die erste Gehörlosenuniversität , eine Hochschule , an der in amerikanischer Gebärdensprache unterrichtet wird , vgl. Sacks ( 2008 ): Stimmen. Zu technischen Geräten , vgl. Borsdorf ( 2010 ): Schwerhörigenanlagen. 32 Schwanhäußer ( 2010 ): Stadtethnologie , S. 107 ; vgl. auch Kusenbach ( 2008 ): Mitgehen. 33 Saerberg ( 2007 ): Differenz , S. 207. 34 Vgl. Lodge ( 2009 ): Wie bitte ?, S. 171.

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Thompson »wird jeder von uns einmal behindert sein«.35 Es lässt sich fragen , inwiefern diese »verkörperte Differenz«36 die Ethnographie beeinflusst , die meist von ›perfekten‹ körperlichen Voraussetzungen ausgeht. Die Forderung der Sinnesanthropologie , Hören , Riechen , Tasten in die Ethnographie einzubeziehen , wäre wohl auch um diese Dimension zu erweitern. Gerade die Sinnesanthropologie sollte Differenzen des sinnliches Repertoires der Forschenden und der Beforschten berücksichtigen , um ihr eigentliches Forschungsthema  – Sinne und was und wie diese wahrnehmen – besser zu erfassen.37

Führen und zeigen Das Sichtbarste an Gehörlosigkeit ist die Gebärdensprache.38 Eine große Anzahl Gehörloser erachtet Gebärdensprache als die Sprache einer »Deaf Culture«39. Ihre wichtige Rolle für Gehörlose gilt es , auch in meiner ethnographischen Arbeit zu berücksichtigen. Ethnographie zu Gehörlosigkeit , das war für mich zunächst das Ausschauhalten nach Menschen , die auf besondere Weise die Arme und Hände bewegten oder eine stark ausgeprägte Mimik hatten. Oft beobachtete ich gestikulierende Menschen und merkte erst spät , dass es sich dabei mitnichten um Gebärdensprache handelte. Am deutlichsten wurde dies , nachdem ich das »Haus der Gehörlosen« in der Waldgasse im 10. Wiener Gemeindebezirk besucht hatte. Auf dem Rückweg saß ich in der U1. Es war ein heißer Tag und unweit von mir waren zwei Männer eingestiegen , die sehr viel gestikulierten. Da das Fenster offen stand , konnte ich bis zum nächsten Halt der U‑Bahn keine Lautsprache hören ( Forschungstagebuch 18. 05. 2009 ). Und auch wenn ich mir jetzt wieder den eingangs meines Textes zitierten Tagebuchein35 Zitiert nach Dederich ( 2007 ): Körper , S. 10. Siegfried Saerberg wirkte als Kurator bei der Wanderausstellung »Dialog im Dunkeln« mit , deren meist sehende Gäste von Guides durch einen finsteren Raum geführt wurden. In einem Fazit zu seinem Aufsatz zur Stadterfahrung und Blindheit wird die ›Behinderung auf Zeit‹ der meisten Gäste der Ausstellung sehr anschaulich : »Hat man auch nur eine oder zwei Führungen als blinder Begleiter gemacht und hört man obendrein noch die auf Tonträger gespeicherten Geh-Geräusche ab , so wird sofort ohrenfällig , mit welchem Lärm sich die Blinden auf Zeit fortbewegen : Schnarrend , schabend und reibend schleifen und schlurfen sie über den Boden. Grund für diese vermehrte Geräuschentwicklung ist das Faktum , dass niemand es wagt , den Fuß in gewohnter Weise« zu bewegen , Saerberg ( 2007 ): Differenz , S. 206. 36 Waldschmidt /  Schneider ( 2007 ): Disability Studies , S.  13. 37 Vgl. Borsdorf ( 2011 ): Behindert Werden. 38 Vgl. Waldschmidt ( 2007 ): Körper. 39 Vgl. Maier ( 2006 ): Deaf Culture ; Ladd ( 2008 ): Deafhood ; Lane ( 1990 ): Seele , S. 9–15 ; Sacks ( 2008 ): Stimmen , S. 29 , S. 31 , S. 113–114.

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trag vom 18. September 2009 ansehe und in Erinnerung rufe , wie ich damals an der Ampel stand , die Gruppe Gehörloser und das müde Blinken der Ampel mir gegenüber , und wie ich zu verstehen meinte , dass sich die Gehörlosen über den Weg durch die Stadt unterhielten , muss ich mir eingestehen , dass ich damals wohl kaum etwas von dem verstand , über das sie sich unterhielten. Um den näheren Bedeutungen der Gebärdensprache auf den Grund zu gehen , bedarf es nicht nur der Kenntnis dieser Sprache – die ich auch kaum ­habe – , sondern es bedarf gemeinsamer Tätigkeiten und einer teilnehmenden Beobachtung , um den Bedeutungen , den räumlichen Zusammenhängen von Gebärdensprache auf die Spur zu kommen. Beobachtung ist hier in Anlehnung an den Gedehnten Blick zu verstehen. Beobachtung ist dann Teil der Szenerie , die beobachtet wird , um herauszufinden und auch am eigenen Körper zu erfahren , wie die Gebärdensprache als Sprache , die Raum repräsentiert und nutzt ,40 Raumpraktiken verändert. Hinweise dazu , wie Sprache und Raum zusammenspielen , bieten sich durch die Teilnahme bei Gehörlosenführungen , wie sie in Wien etwa das Reiseunternehmen City Tours ausrichtet. Gemeinsam mit der Firma Visual Signs organisiert es Stadtführungen für Gehörlose in Wien.41 Diese Rundgänge werden von Guides geleitet , deren Vortrag von der Dolmetscherin Valerie Clarke in die österreichische Gebärdensprache übersetzt wird. Die Guides haben meist zum ersten Mal mit Gehörlosen zu tun. Sie erhalten im Vorfeld der Stadtbesichtigung eine E-Mail und eine Broschüre mit Informationen. Hier finden sich Hinweise zur Raumnutzung Gebärdender : »Aufstellung bitte so nehmen , daß sowohl der Guide als auch der Dolmetscher von allen Teilnehmern gesehen werden können.«42 Im informellen Gespräch äußerte Valerie Clarke , dass hierin ein großes Problem bei Stadtführungen bestehe , speziell im ersten Wiener Gemeindebezirk , der durch enge Gassen gekennzeichnet ist. Oft müsse sie sich einen erhöhten Punkt suchen , um von den Gehörlosen gesehen und verstanden zu werden.43 »Es ist mehr Platzbedarf als bei der hörenden Gruppe nötig , da alle sowohl den Guide als auch den Dolmetscher gut sehen können müssen«, heißt es in der Broschüre »Nichts hö40 Vgl. Becker /  Griebel ( 2009 ): Wunsch. 41 E-Mail Valerie Clarke. Ich hatte in einer E-Mail-Anfrage der Gebärdensprachdolmetscherin Valerie Clarke von meinem Forschungsinteresse berichtet und um erste Informationen und die Möglichkeit gebeten , bei einer der Führungen teilzunehmen. Im Zuge dieses E-Mail-Kontaktes erhielt ich auch die Broschüre , die ich im Folgenden zitiere. 42 E-Mail City Tours. 43 In der Prager U-Bahn beobachtete ich Gehörlose , die sich auf verschiedenen Treppenstufen aufstellten , um voneinander gesehen zu werden , Forschungstagebuch 25. 07. 2010.

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ren und trotzdem viel zu sehen bekommen !« 44 Neben der Wahrnehmung und Raumnutzung nehmen die Führungen auch inhaltlich Bezug auf die Interessen der TeilnehmerInnen. Auf einer Führung anlässlich des »2. Internationalen Neujahrsfestivals für Gebärdensprachbenutzer« ( 29.– 31. 12. 2007 in Wien ) hatte man »Stätten gezeigt , an denen zum Beispiel Gehörlose tätig waren. Es gibt einige Skulpturen von gehörlosen Bildhauern in Wien , die wurden gezeigt , also eher ein bisschen andere Sehenswürdigkeiten als für Hörende.«45 Die Themen der Stadtrundgänge , die Valerie Clarke für Visual Signs anbietet , werden von ihr und den regelmäßig Teilnehmenden einmal pro Jahr festgesetzt. Diese Themen unterscheiden sich von anderen Führungen. Mehrere Ortswechsel wie beispielsweise »Rotes Wien mit Stationen Karl-Marx-Hof und Amalienbad oder Biedermeier-Idylle mit Stationen Wien Museum und Spittelberg«46 werden vermieden und auf unterschiedliche Termine aufgeteilt. Bei klassischen Themen der Stadtführung sind die Dolmetscher in besonderem Maße gefordert. Das augenfälligste Beispiel etwa ist Musik , die in herkömmlichen Stadtführungen , gemäß der touristischen Inszenierung der Musikstadt Wien47 , sehr stark zur Geltung kommt , Gehörlosen jedoch gemeinhin nichts bedeutet : »wenn neue Führer ( mit uns unterwegs ) sind kriegen sie [ … ] vor Ort von mir schnell nochmals ein briefing [ sic , MB ] [ … ] und wenn die Führer dann immer noch nicht begriffen haben dass sie nicht 100x über Komponisten und die tolle Musik reden sollen dann erzähl ich einfach etwas anderes was ich aus den anderen Führungen mir gemerkt habe. Am besten kommen Geschichten und Sagen an bei den Leuten.«48 Im Zuge der Tour , an der wir , Svenja Reinke und ich , teilnahmen , die zum Thema Wiener Gemütlichkeit im Wien Museum am Karlsplatz stattfand , wies die Führerin beispielsweise auf Besonderheiten auf manchen Gemälden hin. Besonderheiten des städtischen Raumes , »lustige Bezeichnungen für optische Auffälligkeiten ( ›Haus ohne Augenbrauen‹ [ Adolf-Loos-Haus ] , ›Krauthappel‹ [ Kuppel der Wiener Secession ] etc. kommen bei den Gehörlosen ganz besonders gut an ! )«.49 Die meisten der teilnehmenden Gehörlosen waren bilingual und entschieden spontan , ob sie dem Vortrag des Guides folgten oder Clarkes gebärdensprachlicher Übersetzung. Zuweilen griffen sie auch in den Vortrag des Guides direkt ein , ergänzten oder korrigierten ihn in Laut- oder Gebärden44 Broschüre City Tours , Visual Signs : Nichts hören , S. 2. Ebenso sei darauf zu achten , »nicht im Gegenlicht und nicht im finstersten Schatten zu stehen«- E-Mail City Tours , S. 2. 45 Freakradio ( 2008 ): Jahr. 46 E-Mail City Tours. 47 Vgl. Nußbaumer ( 2007 ): Ohren. 48 E-Mail Clarke. 49 E-Mail City Tours ; vgl. auch Broschüre City Tours.

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sprache ( Forschungstagebuch 01. 09. 2010 ). Führungen , wie sie City Tours anbietet , werden fast nur von Gehörlosen besucht und irritieren in der vermeintlichen Normalität der Raumwahrnehmung , wiewohl sie die Raumpraktiken aller an den jeweiligen Orten verändern. Das Aufsichtspersonal des Museums etwa wusste nicht , wie es reagieren sollte. Die Gebärdensprache mit ihren ausholenden Gesten erzeugte große Nervosität. Die Führerin lieh sich einen Gehstock von einer Gehörlosen und zeigte die Mölkerbastei auf einem der WienReliefs. Als sie von einer Aufseherin zurechtgewiesen wurde , die Angst um das Relief hatte , erklärte sie , die »Herrschaften« seien gehörlos ( Forschungstagebuch 01. 09. 2010 ). Die klar geregelte , vorhersehbare und ruhige Atmosphäre des Museums war , so Valerie Clarke im informellen Gespräch , eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Führung. Ihre Beobachtungen ähneln jenen in Lodges Roman – Hörbehinderte schätzen die Stille.50

Abschließende Überlegungen Vielleicht liegt es darin begründet , dass ich die Forschungstagebucheinträge  – mal weit ausholend , mal flüchtig hingekritzelt – in ein Notizbuch schrieb , in dem ich auch Gedichte , Entwürfe und Recherchen für längere Texte festhalte. Jedenfalls war es für mich naheliegend , in meinen Sondierungen zu Stadt und Behinderung ein literarisches Konzept wie das des gedehnten Blicks mit einem eher wissenschaftlichen Modell wie das des Ethnographischen Tandems zu verbinden. Wenn das Ethnographische Tandem mit dem Gedehnten Blick zusammengebracht wird , erweitert sich der Gedehnte Blick , er dehnt sich sozusagen auf das Blickfeld einer anderen Person aus. Hier liegt der Unterschied zu Genazinos Methode , die wesentlich vom einsamen Flaneur gekennzeichnet ist , der in der Stadt umherschweift und beobachtet.51 Die Erweiterung des Gedehnten Blicks , seine Ausdehnung ist bei Genazino in zeitlicher Hinsicht gemeint. Der Text wird in mehreren Schritten zu dem , was er in Buchform schlussendlich ist. Ein begleitender Teil des Gedehnten Blicks ist für mich ein literarischer Text , in dem ich Eindrücke und Interpretationen verarbeitete. All diese Schritte stehen für eine Konstruktionsarbeit , bei der die Forschungs- oder Notizbucheinträge , falls sie eine Verwendung finden , eine starke Glättung erfahren und schlussendlich womöglich etwas anderes aussagen , als im ersten Verfassen in ihnen angelegt war. Doch ist das nur der – vorläufig – letzte Abschnitt eines Prozesses der Überarbeitung , der bereits mit den Diskussionen zwischen Svenja Reinke und mir 50 Vgl. Lodge ( 2009 ): Wie bitte ?, S. 171. 51 Vgl. Moser ( 2004 ): Isola.

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unterwegs und im Anschluss an unsere Wege durch die Stadt eingesetzt hatte. Der Gedehnte Blick auf das Ethnographische Tandem wiederum ermöglichte es mir , sehr unterschiedliche und noch sehr diverse Blicke auf Behinderung und Stadt zu entwickeln. Die hier skizzierten Aspekte und Momente sollten als Vorschläge und als Anregung verstanden werden , die Möglichkeiten literarischer und ethnographischer Konzepte zu nutzen und zu verbinden , um schwierige , wissenschaftlich noch wenig erschlossene Themen- und Problemfelder zu öffnen.

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QUELLEN Broschüre City Tours , Visual Signs : Nichts hören und trotzdem viel zu sehen bekommen ! Tipps und Anregungen für StadtführerInnen , S. 1–3. E-Mail Clarke , Valerie , 24. 07. 2010 , S. 1–2. E-Mail City Tours , 26. 09. 2010 , S. 1–3. Freakradio ( 2008 ): Das neue Jahr gehörig feiern. Christoph Dirnbacher , Georg Marsh und Lena Schramek im Gespräch. In : Freakradio. Leben mit Behinderung , Leben mit Qualität , http://www.freak-radio.at/cgi-bin/freak.cgi?id=lh00140 ( 02. 03. 2010 ). Loibnegger , Klaus ( 2010 ): Alte und Behinderte in Wien zum Betteln gezwungen. In : Die Kronen Zeitung vom 04. 09. 2010.

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AUTORINNENVERZEICHNIS Jochen Bonz , Dr. , ist Privatdozent am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen und freiberuflich als Dozent tätig , u. a. am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz leitet er eine ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in der Kulturtheorie und der Fankulturforschung. Veröffentlichungen ( Auswahl ): Das Kulturelle , Paderborn u. München : Fink 2011 ; Subjekte des Tracks  – Ethnografie einer postmodernen / Anderen Subkultur , Berlin : Kadmos 2008 ; Lass uns von der Hamburger Schule reden – Eine Kulturgeschichte aus der Sicht beteiligter Frauen , Mainz : Ventil 2011 ( Hg. gemeinsam mit Johannes Springer und Juliane Rytz ). Malte Borsdorf , Mag. , studierte Europäische Ethnologie in Innsbruck und Wien. Arbeitet derzeit in der Hamburger öffentlichen Bücherhalle und absolviert ein berufsbegleitendes Masterstudium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der FH Köln. Seit mehreren Jahren Schriftsteller ; Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien , Literaturpreise und -stipendien , Mitglied der Grazer Autorinnen Autoren Versammlung. Monika Hönig , M. A. , studierte Mediengestaltung , Design , Literatur-KunstMedien und Europäische Ethnologie in Dornbirn , Bozen , Konstanz und Wien. Forschungsinteressen liegen in den Bereichen materielle und visuelle Kulturen , Medien , Museologie. In ihrer Masterarbeit »Aufzüge : Über den routinierten Umgang mit Störungen an einem Ort des Alltags« erforschte sie vertikale Bewegungen in Wien. Seit 2012 arbeitet und lebt sie in Dornbirn. Birgit Johler , Mag.a , studierte Volkskunde /  Europäische Ethnologie und Romanistik an der Universität Wien. Seit 1998 arbeitet sie freiberuflich in Forschungsprojekten und als Ausstellungskuratorin ( u. a. Jüdisches Museum Wien ), seit 2008 ist sie zudem als Kuratorin im Österreichischen Museum für Volkskunde tätig und forscht im Rahmen des hier angesiedelten Forschungsprojektes »Museale Strategien in Zeiten politischer Umbrüche 1930–1950«. Darüber hinaus unterrichtet sie als externe Lehrbeauftragte an den Universitäten Graz , Innsbruck und Wien mit Schwerpunkt Museologie und Museumsgeschichte. Elke Krasny , Mag.a , Kuratorin , Stadtforscherin und Kulturtheoretikerin , studierte Theaterwissenschaft , Germanistik und Philosophie an der Universität Wien ; Senior Lecturer an der Akademie der bildenden Künste Wien ; 2006

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Gastprofessur an der Universität Bremen ; 2012 Visiting Scholar am Canadian Centre for Architecture ; 2012 wurde ihre Ausstellung Hands-On Urbanism im Architekturzentrum Wien und auf der Architekturbiennale Venedig gezeigt. Jüngste Veröffentlichungen : Hands-On Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. 2012 , mit Angela Heide ; Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße. 2010 ; Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture. 2008 ; mit Irene Nierhaus : Urbanographien. Stadtforschung in Kunst , Architektur und Theorie. 2008. Klara Löffler , ao. Univ.-Prof. Dr. , studierte nach der Gesellenprüfung als Tischlerin Volkskunde , Soziologie und Kunstgeschichte in Regensburg , promovierte 1996 in Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft und habilitierte sich 2001 in Wien in Europäischer Ethnologie. Seitdem lehrt sie am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Biografieforschung , Freizeit- und Tourismusforschung , Erforschung materieller und visueller Kulturen , Fragen des ethnographischen Forschens und Schreibens. Siegfried Mattl , Univ.-Doz. Dr. , Historiker , Leiter des Ludwig Boltzmann Ins­tituts für Geschichte und Gesellschaft. Schwerpunkte in Forschung und Lehre : Kultur- , Medien- , Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Lukasz Nieradzik , M. A. , studierte Kulturanthropologie /  Europäische Ethnologie sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Von 2010 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im wwtfProjekt »Doing Kinship with Pictures and Objects. A Laboratory for Private and Public Practices of Art«. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. In seiner Disserta­ tion befasst er sich mit der Transformation des Fleischerhandwerks am Beispiel eines Wiener Schlachthofes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Herbert Nikitsch , Dr. , Studium der Volkskunde und Germanistik in Wien ; nach freiberuflicher Tätigkeit ( div. Projekte , ORF , Verlagslektorat etc. ) seit 1996 am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien in Forschung , Lehre und Verwaltung tätig ; Publikationen u. a. zur Geschichte der österreichischen Volkskunde , zur Heimatschutzbewegung und zu popularer Religiosität. Peter Payer , MMag. Dr. phil. , studierte Geschichte und Stadtforschung an der Universität Wien. Arbeitet als  Wissenschafter , Publizist und Ausstellungs­ kurator im Schnittbereich von Stadt- , Alltags- und Sinnesgeschichte. Seit 2007 Leiter des Sammlungsbereichs »Alltag & Umwelt« im Technischen Mu-

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seum Wien. Zahlreiche Publikationen , zuletzt »Unterwegs in Wien. Kulturhistorische Streifzüge« ( 2013 ) , »Eduard Pötzl : Großstadtbilder. Reportagen und Feuilletons , Wien um 1900« ( Hg. , 2012 ), Forschungsprojekt »Der Klang der Großstadt. Wien 1850–1914«. Web : www.stadt-forschung.at. Magdalena Puchberger , Mag.a , studierte Europäische Ethnologie /  Volkskunde und Geschichte in Wien und schloss ihr Studium 2005 mit der fachhistorischen Arbeit »Volkskunde als Lebensstil« ab. Sie arbeitete als wissenschaft­ liche Mitarbeiterin und Lektorin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien , seit 2010 ist sie im Forschungsprojekt »Museale Strategien in Zeiten politischer Umbrüche 1930–1950« am Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien beschäftigt und verfolgt ihr Dissertationsprojekt »Generation Heimat«, das sich mit der österreichischen Zwischenkriegszeit befasst. Charlotte Räuchle , M. A. , studierte Volkskunde /  Kulturanthropologie und Geschichte in Hamburg und Wien und absolvierte einen interdisziplinär orientierten Masterstudiengang im Bereich »Urban Studies« in London ( University College ). Sie war u. a. als Mitherausgeberin und Redakteurin am »Fensterplatz. Studentische Zeitschrift für Kulturforschung« beteiligt. Ihr Interesse gilt der Stadtforschung , Migrationsforschung , historischen Anthropologie und Erinnerungstheorien. Svenja Reinke , M. A. , studierte in Hamburg , Wien und Kaliningrad Volkskunde /  Kulturanthropologie , Politikwissenschaft und Osteuropastudien. Sie war u. a. am stadtethnographischen Buch Hamburg grün geblickt ( hg. v. S. Windmüller , Berlin 2012 ) und der soziologischen Arbeit Mythos Mitte ( W iesbaden 2011 ) beteiligt und promoviert mit den Schwerpunkten Wissensforschung und ›europäisches Russland‹ am Institut für Europäische Ethnologie der HumboldtUniversität zu Berlin im Fach Europäische Ethnologie zur Historiografie Kaliningrads. Ana Rogojanu ( bis 2013 Ionescu ), Mag.a , studierte Europäische Ethnologie in Wien. Von 2009 bis 2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im wwtfProjekt »Doing Kinship with Pictures and Objects. A Laboratory for Private and Public Practices of Art«. Seit Oktober 2010 ist sie Universitätsassistentin ( prae doc ) am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Aktuelle fachliche Interessen sind materielle Kultur , Stadt- und Architekturforschung. Daniela Schadauer , Mag.a , ist Doktorandin am Institut für Europäische Ethnologie an der Universität in Wien. In ihrem Dissertationsvorhaben beschäftigt

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sie sich mit Image- und Bildproduktionen im städtischen Diskurs. Ihr Forschungsinteresse gilt der visuellen Kultur sowie der Architektur- und Stadtforschung. Brigitta Schmidt-Lauber , Univ.-Prof. Dr. phil. , studierte Volkskunde , Ethnologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an den Universitäten Hamburg und Köln. 1997 promovierte sie in Hamburg ( Ethnizität deutscher NamibierInnen als Alltagspraxis ) und habilitierte sich 2003 ( Gemütlichkeit ). 2006 wurde sie als Professorin an die Universität Göttingen berufen. Seit 2009 ist sie Universitätsprofessorin und Leiterin des Instituts für Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte : Ethnographische Stadtforschung , qualitativ-ethnographische Methoden , Ethnizität und Migration , populäre Kulturen , Fach- und Wissenschaftsgeschichte. Aktuelle Forschungsprojekte u. a. »Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim« ( FWF  ), »Sommerfrische. Transformationen eines Kulturmusters«. Anna Stoffregen , Dr. , studierte Europäische Ethnologie in Marburg und Wien. Sie promovierte an der Universität Wien als Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit einer Forschungsarbeit über Linz als Europäische Kulturhauptstadt. Momentan arbeitet sie am uropean centre for creative economy in Dortmund. Anton Tantner , Priv.-Doz. Dr. , studierte Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Wien ; Veröffentlichungen zur Geschichte der Subkultur der Wiener »Schlurfs«, der Alltagsgeschichte zweier Parks in Wien-Margareten , zur Hausnummerierung und Volkszählung in der Habsburgermonarchie und zu Adressbüros im frühneuzeitlichen Europa. Homepage mit umfassender Publikationsliste und »Galerie der Hausnummern«: http://tantner.net. Jens Wietschorke , Dr. , studierte Empirische Kulturwissenschaft /  Europäische Ethnologie , Neuere Deutsche Literatur und Philosophie in Tübingen , Wien und Berlin ; Promotion 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Dezember 2009 ist er als Universitätsassistent am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien tätig. Forschungs- und Interessenschwerpunkte : Stadtforschung , historische Kulturanalyse , Raum- und Architektursoziologie , Wissenschaftsgeschichte.

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KARL BRUNNER, PETRA SCHNEIDER (HG.)

UMWELT STADT GESCHICHTE DES NATUR- UND LEBENSRAUMES WIEN (WIENER UMWELTSTUDIEN, BAND 1)

Die alte Metropole Wien im Herzen Europas scheint die meisten ihrer drängendsten Umweltprobleme bereits in der Vergangenheit gelöst zu haben. Ist dieser Eindruck zutreffend? Wie sind die Wiener und Wienerinnen im Laufe der Geschichte mit ihrer „Umwelt Stadt“ umgegangen? Auf welche Weise haben sie den einstigen Naturraum zwischen Donau und Wienerwald in eine Stadtlandschaft verwandelt? Welche ihrer Umweltmaßnahmen waren kurzlebig, welche von Dauer und zukunftsweisend? Mit Fragen solcher Art beschäftigen sich die neunzig Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis, die der vorliegende Band zu einer „Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien“ versammelt hat. Wie so oft beim Rückblick auf die Vergangenheit geht es im Grunde darum, die Gegenwart besser verstehen zu lernen und über die Zukunft nachzudenken. 2005. 659 S. 990 FARB. UND S/W-ABB. GB. 215 X 280 MM | ISBN 978-3-20577400-6

„… ein Standardwerk, das über Jahrzehnte hinaus seine Gültigkeit behalten dürfte …“ Technikgeschichte Bd. 73 (2006) Heft 3/4 böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ROLAND BERGER, FRIEDRICH EHRENDORFER (HG.)

ÖKOSYSTEM WIEN DIE NATURGESCHICHTE EINER STADT (WIENER UMWELTSTUDIEN, BAND 2)

Wien bemüht sich zu Recht, eine „grüne Musterstadt“ zu werden. Von ihren natürlichen Voraussetzungen her ist diese Stadt in einzigartiger Weise begünstigt wie kaum eine andere europäische Metropole. Gelegen am Schnittpunkt mehrerer Großlandschaften, hat sich der Wiener Raum zu einer Drehscheibe von Faunen und Floren aus Süd und Nord, West und Ost entwickelt. Das Hauptanliegen von „Ökosystem Wien - Naturgeschichte einer Stadt“ ist es, die Kräfte und Zusammenhänge anschaulich zu machen, die seit Jahrtausenden zu der ökologischen Sonderstellung dieser Stadt geführt haben. Zugleich soll der Blick geöffnet werden für die unterschiedlichen Landschaften und Ökosysteme, die hier aufeinandertreffen. Zu sehen, was vor den Augen liegt, ist eine in der urbanen Gesellschaft nicht selbstverständliche Fähigkeit. Sie ist heute jedoch notwendiger denn je, wenn wir das einzigartige Naturerbe des Wiener Raumes erhalten wollen. 2011. 744 S. ZAHLR. FARB. UND S/W-ABB. GB. MIT SU. 216 X 279 MM ISBN 978-3-205-77420-4

„Ein spektakuläres Buch!“ profil böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

MICHAEL DIPPELREITER (HG.)

WIEN DIE METAMORPHOSE EINER STADT (SCHRIFTENREIHE DES FORSCHUNGSINSTITUTES FÜR POLITISCHHISTORISCHE STUDIEN DER DR.-WILFRIEDHASLAUER-BIBLIOTHEK, BAND 6/9)

Mit dem Band „Wien – die Metamorphose einer Stadt“ wird die Reihe „Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945“ fortgesetzt. In Anlehnung an die bisher erschienenen Bände wird auch hier ein Überblick über die Entwicklung der Bundeshauptstadt seit 1945 in verschiedenen Bereichen nachgezeichnet. So werden in Beiträgen u. a. die politische und die wirtschaftliche Entwicklung, die kulturellen Anstrengungen am Beispiel der Wiener Festwochen oder die soziale Situation anhand einer Filmgeschichte skizziert. Dem demographischen Wandel, den Fragen von Energie und Verkehr oder neuen Architekturströmungen wird ebenso Raum gegeben wie dem Umgang der Stadt mit großen Frauenpersönlichkeiten, der Bedeutung des Sports am Beispiel des Fußballs, dem Wiedererstehen der jüdischen Kultusgemeinde oder der Stellung Wiens als internationales Zentrum. Mit diesen und noch einigen Beiträgen mehr wird ein differenziertes Bild der Entwicklung der Stadt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dargestellt. 2013. 752 S. 49 S/W-ABB., 102 TAB. U. GRAFIKEN. GB. MIT SU. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-98785-7

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar