Das alte Königsberg: Erinnerungsbuch einer untergegangenen Stadt
 9783412330088, 9783412163044

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DAS ALTE KÖNIGSBERG

Klaus G a r b e r

DAS ALTE KÖNIGSBERG Erinnerungsbuch einer untergegangenen Stadt

§ 2008 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografîsche Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografîsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Königsberg, Schloß / Foto um 1905 © akg-images

© 2008 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-16304-4

INHALT

1. Eingang Die untergegangene Stadt als erinnerter Ort

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2. Aufbruch und Auslöschung Eine literarische Bilderfolge

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3. Geschichte der Stadt bis an die Schwelle der Moderne Eine rhapsodische Erinnerung

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4. Topographie der kirchlichen und gelehrten Institutionen Königsberger Frömmigkeit und Geistigkeit

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5. Wahrer und Mehrer der Überlieferung Gelehrte - Sammler - Bibliographen

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6. Stätten der Erinnerung Bibliotheken - Archive - Museen

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7. Nordöstliche Vorhut des Buches Die Medien der Reformation

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8. Am Rande des deutschen Sprachraums Literarische Statthalterschaft im Zeitalter des Barock

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9. Königsbergs großes Jahrhundert Wege in die Aufklärung - und über sie hinaus

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10. Erinnerte Zukunft Ein Rückblick und ein Ausblick

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Anmerkungen

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Ausgewählte Literatur

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Danksagung

334

Personenregister

335

Abbildungsnachweise

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Inhalt

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1. EINGANG Die untergegangene Stadt als erinnerter Ort

Königsberg bleibt ein Sonderfall nicht nur in der Geschichte der Deutschen. Die Stadt war Krönungsstätte der preußischen Könige und gehörte doch nicht zum Alten Reich. Sie besaß eine Universität von bedeutendem Ruf und durch und durch deutscher Statur, entbehrte jedoch der kaiserlichen Privilegien. Ihr politisches Schicksal verband sich zunehmend mit der im Osten aufsteigenden Großmacht Preußen. Oberster Lehnsherr blieb jedoch über lange Zeit der polnische König, fiir einige Jahre sogar der russische Kaiser. Und als das Alte Reich versank, währte die normale Zugehörigkeit zu Preußen und später dann zum Zweiten Reich eben ein Jahrhundert. Versailles brachte die Zerschlagung Westpreußens und die Freistaatlichkeit Danzigs. So verblieben das gleichfalls amputierte Ostpreußen und seine Hauptstadt im Reichsverband der Weimarer Republik, waren aber räumlich von ihm abgetrennt. Nahm es Wunder, daß die neuerliche Ausnahmestellung durch um so kräftigere Bekenntnisse zum Deutschtum und zum Reich kompensiert wurden? Dem Nationalsozialismus eröffnete sich an eben dieser Front ein dankbares Feld nationalistischer und alsbald rassischer Agitation. Am Ende büßte für das in deutschem Namen begangene inkommensurable Verbrechen keine Stadt Deutschlands und Europas nachhaltiger als die alte Königsstadt am Pregel und der Kurischen Nehrung. Königsberg ist so restlos untergegangen wie keine andere deutsche oder europäische Großstadt sonst. Ungezählte deutsche Städte haben ihr Antlitz verloren und sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Königsberg ist ausgelöscht. Auf deutschem und polnischem Boden war ein Wille vorhanden, Urbane Kultur nach dem Untergang - wie unzulänglich und verfehlt in ungezählten Fallen zu restaurieren. In der sowjetischen Exklave sollte die Erinnerung an die Stadt deutschen Namens, deutscher Geschichte, deutscher Kultur - ganz im Gegensatz zum lebendigen Empfinden vieler russischer Menschen - getilgt werden. Eine Anknüpfung an das Alte, Die untergegangene Stadt als erinnerter Ort

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eine wie auch immer prekäre Vermittlung zwischen Überkommenem und Neuem war nicht gewollt. Den aus allen Teilen des gewaltigen Reichs angesiedelten Menschen sollte im uniformen Allerwelt-Plattenbau ein geschichtsloser, von 750 Jahren kultureller Aktivität leergefegter, zum Neuanfang in der Stunde Null einladender Platz hergerichtet werden, an dem die Erinnerung an den Wirkungsraum, an die Taten und Zeugnisse der Vorgänger, ein für alle Mal verbannt war. Der Ausgang des Experiments, geboren aus dem - menschenverachtenden - Glauben an staatliche Omnipotenz, der die Diktatoren auf beiden Seiten in gemeinsamen Frevel nur allzu deutlich verband, ist offen. Ihm sein definitives Scheitern zu bescheinigen, wäre verfrüht und gefahrlich. Immerhin ist über das Kaliningrad der achtziger Jahre eine Unruhe hereingebrochen, die von den Machthabern nicht mehr erwartet worden war und die in Frage stellte und gefährdete, was sie bezweckten. In der Bevölkerung der Stadt selbst erwachte das Verlangen, über die Geschicke der Stadt, die zur Heimat geworden war, eben das in Erfahrung zu bringen, was tabuisiert, dem Fragen, Wissen, Erfahren auf allen erdenklichen Wegen entzogen worden war. Verständlicherweise nicht die Angehörigen der Gründer-Generation, wohl aber deren Kinder, in Kaliningrad geboren und aufgewachsen, drängte es über die Stunde Null, das Jahr 1945, hinaus zur Inbesitznahme der Stadt als Hort von Geschichte, die verbannt, in ihren Zeugnissen und Denkmälern eliminiert und womöglich ausradiert werden konnte, aber doch nicht ungeschehen zu machen war. Es war eine so gut wie ausschließlich von Deutschen geprägte Geschichte. Deswegen durfte sie nicht sein. Und gerade deshalb wandten sich die wagemutigen, auf Wahrheit bedachten Neugierigen und Jungen ihr zu. In diesem Sinn ist die Wiederentdeckung Königsbergs im Kaliningrad der achtziger Jahre Bestandteil der geistigen Bewegung, die sich mit dem Namen Gorbatschows verbindet, wie sie schließlich zum Zusammenbruch des ideologischen Supersystems - und zugleich in eine gänzlich ungewisse Zukunft führte. Wer die Menschen gleich nach der Öffnung Kaliningrads hoffnungsfroh, ja enthusiastisch die Barrieren der verordneten Geschichtslosigkeit hat beseitigen sehen, wer Zeuge war der liebevol8

Eingang

len, ja ehrfürchtigen und gelegentlich durchaus kultischen Begegnung mit den Uberresten der Vorkriegszeit, dem teilte sich eine Ahnung mit von der viel beredeten und doch nur selten zu spürenden Macht der Geschichte, die allen Fahr- und Widernissen zum Trotz in den Herzen und Köpfen der Pioniere sich ihren Weg zu bahnen wußte. Den Splittern der Vergangenheit habhaft zu werden, hatte nichts gemein mit betulicher Pietät gegenüber einem liebgewordenen versunkenen Alten. Es war ein elementares, leidenschaftliches Begehren nach Selbsterkenntnis, das sich da Bahn brach, ein Wille zum Uberleben durch Erkunden von Vergangenheit, ein Akt der Befreiung durch Konfrontation mit dem verpönten Fremden, das endlich erkannt, verarbeitet, assimiliert sein wollte. Dieser bewegende Vorgang der geschichtlichen Rückvergewisserung ist nicht nur nach wie vor überaus schwierig. Er ist immer wieder überhaupt gefährdet, kann zum Stillstand, zur Desorientierung, zur Resignation fuhren. Er ist mit anderen Worten unabweislich auf Unterstützung von außen angewiesen. Diese hat ihrem Wesen nach nichts gemein mit landsmannschaftlichen, auf Heimat und Herkunft sich berufenden Beweggründen und Verpflichtungen. Auch sie sind aller Ehren und Unterstützung wert, wo sich in ihnen ein unverächtliches Verbundensein mit dem Schicksal vorangegangener verwandtschaftlicher Geschlechter bekundet. Die hier artikulierte Indienstnahme entstammt anderen Quellen. Hat Königsberg wie keine andere Stadt den Preis für ein verbrecherisches Regime und einen von ihm angezettelten Krieg durch seine Vernichtung gezahlt, so ist es Aufgabe einer Kulturgemeinschaft, dem physischen Untergang durch Eingedenken zu begegnen. Dieses kennt keine nationalen, ethnischen oder sonstwie gearteten Grenzen. Es ist aber naturgemäß den Deutschen in ganz besonderer und schlechterdings nicht zu delegierender Weise abgefordert. Der Auftrag ist umfassend. Er reicht von der Bemühung um Aufspüren, Sichern und Zugänglichmachen aller noch vorhandenen historischen Zeugnisse über den Austausch und die Verständigung der ans Licht gebrachten Zeugnisse vor allem mit den russischen Menschen auf dem einstmals deutschen Boden bis hin zur immer erneuten Vergegenwärtigung einer siebenhundertfünfzigjährigen Geschichte und Kultur auf allen denkbaren Ebenen und in Die untergegangene Stadt als erinnerter Ort

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allen verfugbaren Medien, auf daß dem gewaltsam unterbrochenen lebendigen Wachstum in Versenkung und Konzentration ein Prozeß inneren Reifens und lebendigen Überlieferns antworte. Ihm und nur ihm sind die Kräfte vermählt, die schließlich den Ausschlag geben werden, ob die Verständigung auf Dauer zwischen den Völkern und zumal mit dem großen Nachbarn im Osten gelingt oder neuerliches Unheil aufgrund vertaner Einsicht sich ausbreitet. In diesem Sinn bleibt das ferne und verlorene Königsberg ein Prüfstand und Gradmesser des Umgangs mit unserer deutschen Geschichte, der wir uns als ganzer zu stellen haben und die für ein Glied derselben 1945 unwiderruflich ihren Abschluß fand. Die Geschichte einer Stadt prägt sich am sinnfälligsten und am eindrucksvollsten in ihren Bauten aus. Veränderung als Abriß, Umbau, Neukonzeption bleibt das Signum lebendiger, die Zukunft stets neu gewinnender gestalterischer Phantasie. Deshalb gehört die Klage über den respektlosen Umgang mit dem Überkommenen zur mentalen Topik kommunaler Kommunikation. Es macht das Reizvolle baulichen Handelns im städtischen Verband aus, daß es sich vor dem bürgerlichen Gemeinsinn zu verantworten und legitimieren hat. Idealiter ist es die bürgerliche Gemeinschaft als ganze, die die Fortschreibung des Bildes der Stadt berät und gemäß mehrheitlichem Willen exekutiert. Daß diese wie alle sonstigen politischen Akte der Stadt seit frühester Zeit von Oligarchien durchkreuzt werden, die heute in die Rolle der unentbehrlichen Investoren geschlüpft sind, liegt so sehr auf der Hand, daß eben deshalb die Chance demokratischer Willensbildung und Einflußnahme, wie sie in der Formel der Bürgerinitiative und Bürgerbewegung eine so prägnante Formulierung gefunden hat, immer erneut ergriffen werden muß. Womit an dieser Stelle nur erinnert sein soll, daß sich städtisches Leben seinem eigenen Selbstverständnis gemäß in Milieus, in Ensembles, letztlich in von mannigfachen Symbolen geprägten baulichen Ordnungen vollzieht, die Identifizierung, Stolz, eben bürgerliche Teilhabe erlauben. Darum ist der Angriff auf die historischen Stadtkerne, wie immer wieder zu erinnern, ein Angriff auf ein elementares Bedürfnis der Menschen nach Anschauung ihrer selbst in den Objektivationen ihres Daseinsverständnisses. Spekuliert 10 Eingang

wurde im Bombenterror des Zweiten Weltkriegs erstmals in großem Stil auf die nackte Verzweiflung, die sich einstellen muß, wo das in den Bauten Verbürgte mit einem Schlag vor den Augen der Malträtierten versinkt. Tatsächlich waren unabtötbarer Durchhalte- und Uberlebenswille, gepaart mit Fatalismus und ohnmächtigem Zorn die unmittelbare Antwort in den Jahren der Not. Eben diese Affekte mutierten in den Nachkriegsjahren so merklich, daß nur der geschärfte Blick im nachhinein den Zusammenhang mit der vorangegangenen, in der Geschichte der zivilisierten Welt singulär dastehenden Barbarei gewahrt. Die Mentalität des Aufbruchs, die sich zuallererst im erbarmungslosen Beseitigen und Niederreißen und dann im unvermittelten Umgestalten und Begradigen kundtat, war der bewußt zugefugten Entwurzelung geschuldet. In diesem Sinn ist die wohlkalkulierte Strategie des Kriegsgegners so perfekt aufgegangen, daß die Betroffenen nicht einmal zu merken schienen, wie sehr sie einem bewußt in Gang gesetzten Mechanismus noch im nachhinein gehorchten. Wenn die von Trauer begleitete Rede vom Untergang des alten Deutschland mehr sein soll als eine von Sentimentalität durchsetzte Phrase, so sollte sie nüchtern und kritisch zuallererst jener - Städte wie Landschaften gleichermaßen in ihren Strudel reißenden - Reißbrett-Ideologie totaler Planbarkeit und Fungibilität gelten, die zur gewaltsamsten Umformung des geschichtlichen Antlitzes Deutschlands gefuhrt hat. Für diese existiert weder eine Parallele in der Vergangenheit des eigenen Volkes noch eine in den europäischen Nachbarländern der Gegenwart. Sie ist Deutschlands singuläres Schicksal geworden, in dem sich sein singuläres Verbrechen hinter dem Rücken der Akteure fortgeschrieben hat. Daß es nicht Gegenstand unaufhörlicher Beunruhigung, permanenter Debatte, öffentlicher Vergewisserung der unübersehbaren Konsequenzen geworden ist und auch in Zukunft kaum werden dürfte, ist nur das Siegel auf die schlechthinnige Einmaligkeit des Geschehenen. Königsberg teilte mit den drei anderen Metropolen des deutschen Ostens, der pommerschen Haupt- und Residenzstadt Stettin, der westpreußischen Handelskapitale Danzig und der schlesischen Landeshauptstadt Breslau den Vorzug, lange Zeit für die englischen Bomber in großen Formationen nicht erreichbar zu sein. Wäre das Die untergegangene Stadt als erinnerter Ort

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Attentat auf Hitler geglückt und ein Friedensschluß rasch herbeigeführt worden, wären die Kristallisationspunkte des geistigen Lebens im deutschen Osten nicht anders als ungezählte Kleinode deutscher Städtekultur anderwärts erhalten geblieben. Denn immer wieder ist ja zu erinnern, daß nicht nur Dresden oder das Stadtzentrum Berlins, sondern daß ungezählte Städte mittlerer Größe, nachdem die Großstädte allesamt in Schutt und Asche lagen, Opfer einer gezielten - und durch nichts zu rechtfertigenden - Vernichtung kultureller urbaner Substanz Deutschlands wurden. So aber vollzog sich der Untergang Königsbergs in drei Etappen bis zur gänzlichen Auslöschung. Dem englischen Luftangriff im August 1944 folgte - wie im Fall Breslaus, wie im Fall Danzigs - die Deklaration der bereits tödlich getroffenen Stadt zur Festung, mit der sie dem permanenten Beschuß und dann dem Kampf Straßenzug um Straßenzug ausgesetzt wurde. Was aber dem doppelten Inferno entging, wurde Opfer der Sieger. Anders als in Stettin oder Danzig oder Breslau war keine Instanz zur Stelle, die ihre Stimme flir die geschundene Stadt erhoben hätte. Wo alle drei Kapitalen - am wenigsten zweifellos Stettin immerhin die Stadtkerne durch Rekonstruktion retten und damit wie immer fragil Kontinuität bewahren konnten, die Anknüpfung, Fortschreibung, eben Sicherung der geschichtlich geprägten kommunalen Infrastruktur erlaubte, wurde Königsberg definitiv und unrettbar niedergewalzt. Verloren erhebt sich seit jüngstem der Dom auf dem von Häusern entblößten Kneiphof so wie die restituierte Börse solitär am Schloßteich wieder aufragt, und nur in den Außenbezirken gestatten vereinzelte Straßenzüge und Villen dem Spazierenden für Momente die Rückkehr in die Vergangenheit. Der Kontrast zwischen den öden Betonkasernen und den zu später Stunde wiedererstandenen Schmuckstücken ist himmelschreiend, und nur wo der brutale Eingriff halt machte, regt sich zumal um den Schloßteich herum eine Ahnung von der Symbiose der Stadt mit einer anmutig geformten Landschaft, die Königsberg unter einem hellen, durch und durch von der nahen Ostsee geprägten Himmel ausgezeichnet haben muß. Wie sollte die Stadt je ihre über Jahrhunderte geformte Silhouette zurückgewinnen? 12 Eingang

Wo das Bild versagt, tritt die Schrift in ihre Rechte ein. Dem Historiker ist es fortan überantwortet, die innere Anschauung der Stadt von Generation zu Generation zu erneuern und unermüdlich weiter auszuformen. Im Falle Königsbergs freilich will es scheinen, als sei die Aufgabe wenn nicht ein für alle Mal, so doch auf lange Zeit hinaus absolviert. Fritz Gauses dreibändige Geschichte der Stadt Königsberg ist mehr als eine gediegene moderne Stadtgeschichte. Sie ist ein Denkmal, das einer untergegangenen Stadt gewidmet wurde. Königsberg wird in dem Gedächtnis der an seinem Schicksal Teilnehmenden über weite Strecken fortleben in den Formulierungen, Zeugnissen und Details, die der langjährige Leiter des städtischen Archivs und des kulturgeschichtlichen Museums der Stadt aus intimster Kenntnis nach ihrer Vernichtung und eben deshalb vielfach aus der Erinnerung geschöpft zu einem eindrucksvollen Ganzen fugte. Eine Fortentwicklung dieser alle Bereiche des städtischen Lebens berührenden großen Synopsis wird es nur in dem Maße geben wie es gelingt, neue bzw. verloren geglaubte, verschüttete, versprengte Quellen aufzutun und auszuschöpfen. Sie hatten ihren bevorzugten Ort in den Archiven und den Bibliotheken der Stadt. Archive und Bibliotheken sind die Speicher der Erinnerung eines kulturellen Verbandes, einer Stadt, eines staatlichen Gemeinwesens. Und das keineswegs, weil sie von Anfang an mit diesem Auftrag angelegt und fiir ihn bestimmt gewesen wären, sondern weil sie ausgezeichnete Orte waren, in denen vielfach naturwüchsig zusammenströmte, was als bewahrens- und überliefernswert galt. Wo Lenkung und Planung am Werk sind, ist Auswahl und Sonderung alsbald im Spiel, die im nachhinein nur allzu oft als Feinde der Überlieferung sich erweisen. Das planlose Ablagern, das Zusammentreten des Heterogensten, das schlichte Tradieren des womöglich Unscheinbaren, Bedeutungslosen, Abseitigen ist es, das Archive und Bibliotheken zu Reservoiren der Erinnerung heranwachsen läßt. Noch vor aller Spezialisierung und disziplinaren Ausdifferenzierung, vor aller sachgerechten Erschließung und benutzerfreundlichen Bereitstellung entscheidet über den historischen Zeugniswert von Archiven und Bibliotheken der ihnen eigentümliche Prozeß des Wachsens, der unreguliert und über weite Strecken Die untergegangene Stadt als erinnerter Ort

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kärglich verlaufen mag, wenn er denn nur kontinuierlich erfolgte, verschont von Einbrüchen und Versehrungen, der Zeit und ihren politischen Katastrophen trotzend. Als Generatoren der Erinnerung gehören Bibliotheken und Archive zu den elementarsten Instrumentarien jedweder menschlichen Orientierung. Ihr Untergang mitsamt den geschichtlichen Räumen, in denen sie gediehen, ist deshalb eine zivilisatorische Katastrophe unausdenklichen Ausmaßes. Ihr muß mit allen verfügbaren Kräften entgegengearbeitet werden. Welche Stadt aber hätte ein dringlicheres Anrecht auf unsere Bemühungen um Stiftung von Erinnerung als eben das mitsamt seinen Memorialstätten versunkene Königsberg? Eine Kulturgeschichte Königsbergs kann heute nicht mehr in biedermeierlicher Manier durch Einsammlung und Würdigung aller hervorragenden Zeugnisse geschehen. Vielmehr sind scharf konturierte exemplarische Bilder zu vermitteln, so daß sich das Ganze im präzisen und wohldurchdachten Einzelnen manifestiert. In zehn aufeinander abgestimmten Kapiteln bemühen wir uns, Kunde zu geben von der Geistigkeit der untergegangenen Stadt und der in ihr obwaltenden Mentalität. Unterstützt wird unser Vorhaben durch Fotographien aus den frühen vierziger Jahren, als die Verbrecher bereits wußten, daß die Königin des Nordostens ihr kriegerisches Tun so wenig wie andere Städte überleben würde und deshalb veranlaßten, die herrliche Stadt flächendeckend fotographisch zu dokumentieren. Die Bilder werden hier teilweise veröffentlicht. Damit ist schon gesagt, daß wir ein Buch für ein breites Lesepublikum geschrieben haben. Königsberg muß im Bewußtsein der Deutschen haften bleiben als verlorene deutsche Stadt. Dazu will das Buch einen Beitrag leisten. Es wurde mit Blick auf den 750. Geburtstag der Stadt geschrieben. Zugedacht bleibt es dem Gedenken an den gebürtigen Ostpreußen und großen Literaturwissenschaftler Erich Trunz. Er hätte 2005, im Jubiläumsjahr der Stadt, seinen 100. Geburtstag gefeiert.1

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Eingang

2. AUFBRUCH UND AUSLÖSCHUNG Eine literarische Bilderfolge

Lokale Lobpreisung

Zu den gerne aufgegriffenen Wendungen der literarischen Lobreden im Umkreis des europäischen Humanismus gehören Aufweis und Preis der kulturellen Errungenschaften einer Region. Von Menschen nicht gestaltete, wohnlich hergerichtete und also angeeignete Natur erfüllt jedweden standesbewußten Humanisten mit dem sprichwörtlichen horrorvacui. Der antike Einschlag gerade in dieser Vorstellung liegt auf der Hand. Noch bevor die Musen sich einzelner Künste oder Gattungen annehmen, inspirieren sie die Schöpfer der zum Garten fortentwickelten ungezähmten Natur nicht anders als die Erbauer der Städte. Ludwig Friedländer hat in einer unüberholten und immer noch lesenswerten Darstellung schon vor mehr als hundert Jahren die Konsequenzen für das >Naturgefühl< der Alten aufgezeigt.1 Das Meer, das Gebirge, der abgelegene Wald, wilde und unbewohnte Zonen insgesamt werden als Stätten des Reisens durchgehend gemieden. Das der Stadt nahegelegene Land, die mit Villen und Gärten durchsetzte Landschaft, allenfalls die merkwürdige und illustre Abnormität, ziehen das Interesse der Besucher auf sich. In der literarischen Anverwandlung bereichert sich das Bild um die Zurschaustellung der kulturstiftenden Leistungen. Es sind die humanistischen Ideale menschlicher Fertigkeit und Perfektibilität, die zurückprojiziert in die Urzeit ihre zeitlose Beglaubigung finden. Keine Stadt, keine Region, die über ihre humanistischen Dolmetscher nicht in den Rang einer herausragenden Stätte der Zivilisation erhoben würde. Der Wetteifer, allemal das Stimulans seit dem ehrgeizigen humanistischen Projekt der Italiener, ergreift auch die topographische Szenerie. Galt es doch den durchgängigen Nachweis zu erbringen, daß kein Landstrich von den Segnungen gelehrter Kompetenz und Fürsorge ausgespart blieb. Die unerhört vitalen Lobpreisungen einer Stadt nicht anders als die aus gelehrtem Geist Eine literarische Bilderfolge

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gezeugten Landeskunden stellen immer zugleich eine Aufwertung der Lokalität wie eine Selbsthuldigung der Schöpfer jener die Akkulturation befördernden und zu ihrer Sache erhebenden nobilitas litteraria dar. Deutschland, das alte Reich, verfugte über Fürsprecher dieser Idee seit der Einfuhrung des Humanismus, die an programmatischer Kraft, an Weitblick und organisatorischer Befähigung ihren italienischen Vorbildern keineswegs nachstanden. Die Trias Konrad Celtis - Martin Opitz - Johann Christoph Gottsched, an die man zuerst denken wird, zeigt freilich allein durch ihre Existenz, daß es immer neuer Anläufe bedurfte, um den einmal eingeschlagenen und wieder verlassenen Weg stets erneut in Erinnerung zu rufen und sein zielstrebiges Beschreiten anzumahnen. Das von ihnen kulturpolitisch ins Werk gesetzte nationale Erneuerungswerk vermag sich - zumindest seiner Intention nach - mit dem eines Petrarca, Bembo und Muratori in Italien durchaus zu messen. Und noch ein Vico fand in Herder einen kongenialen Partner im hohen Norden. Fast will es scheinen, als habe der verderbliche Nationalismus der nachnapoleonischen Ära und seine definitive Perversion im 20. Jahrhundert gerade in Deutschland zur Folge gehabt, daß das Unverächtliche, um nicht zu sagen das Grandiose dieser nationalen kulturpolitischen Entwürfe bis heute nicht in das Licht gerückt wurde, das allemal und gerade nach den Verirrungen und verbrecherischen Verkehrungen späterer Zeiten auf sie hätte fallen sollen. Und gewiß ist es an der Zeit, den nationalen die gerade für das alte Reich so überaus typischen regionalen und kommunalen Bilder und Geschichten kultureller Interaktion zur Seite zu stellen. In ihnen erfüllte sich auf übersehbarem Raum in Deutschland, was im weiten Rahmen unter dem lockeren Dach des Reiches, Entwurf Wunsch und vergeblich herbeigesehntes Ziel der Intelligenz ganz verschiedener Herkunft und Ausrichtung blieb. Konrad Celtis als Ahnherr in Deutschland - mit einem Blick auf Preußen

Den Humanisten lieferte der humanistische Archipoeta und nationale Chef-Ideologe das Rüst- und Handwerkszeug. Als Heroe eines 16

Aufbruch und Auslöschung

überdimensional konzipierten Werkes steht Konrad Celtis in unwiederholbarer Stunde im Zenit der jungen humanistischen Bewegung auf deutschem Boden, bevor diese kurz darauf in den Bann der alle Verhältnisse umkehrenden lutherischen Reformation gerissen wurde.2 Wie sehr topographisches Denken auch sein Dichten berührt, zeigt die innige Verschränkung des >GermaniaAmoresGermania illustrata< in der Nachfolge von Flavio Biondos >Italia illustrata< mit den Oden und Epoden im Stil des Horaz bzw. den >Amores< in der Nachfolge der römischen Elegiker gemein haben? In den Augen einer auf purifizierte Textsorten erpichten Philologie nichts; unter dem Blick des versierten humanistischen Allegorikers alles. Greift der Kulturpolitiker aus, um den Radius zwischen Weichsel, Donau, Rhein und Elbe auszumessen, so der Dichter, um den nämlichen Raum, personifiziert in vier weiblichen Gestalten, dichtend in Besitz zu nehmen, mit seinen Geschöpfen zu bevölkern, eben zu >akkulturierenSodalitatesPreußenGermania< des Tacitus in Umlauf gebracht willkommen unscharf. Er erlaubt auf deutscher Seite poetisch-politische Zuschreibungen, wie sie von den italienischen Humanisten mit Lorenzo Valla an der Spitze im Namen >Romas< und der mit ihr verknüpften imperialen Latinität erstmals virtuos inszeniert worden waren. Vor welchem politischen Hintergrund aber jene Zuschreibungen erfolgen und welchen aktuellen Zweck sie verfolgen, lehrt das Weichsel-Gedicht im Haselina-Zyklus der >AmoresBarbarenAmores< im Zeichen des Tacitus gewidmet, knüpft sich an dieses Memorialwerk doch die Hoffnung auf eine Erneuerung, Kräftigung und Arrondierung des Reiches im Maximilianeischen Zeitalter gerade im umstrittenen Osten. Nur vor diesem Hintergrund erklärt sich der unverhohlene Tadel des Dichters, daß der die Weichselmündung besiedelnde Stamm abgefallen sei, einem >sarmatischen Tyrannen< (will sagen: dem polnischen König) diene und den deutschen Kaiser grundlos hasse. Es kann dies in den Augen des die Geschichte mobilisierenden Eine literarische Bilderfolge

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Dichters nur ein zeitweiliger Abfall sein. Wird aus reichspatriotischem Geist die Niederlage des Ordens betrauert, so indirekt jedoch zugleich bedeutet, daß nur der Wettstreit kultureller Akkumulation zählt. Und aus diesem Blickwinkel darf die politisch entfremdete Region dem humanistisch wahrgenommenen >germanischen< Kulturverband weiterhin als zugehörig betrachtet werden. Ist die Liebe gut petrarkistisch eine unglückliche, so wird auch sie nun geschichtlich gewendet, nährt sie sich doch von der Niederlage des Ordens. Das Weichselgedicht des Celtis stellt ihr die rechtmäßige, weil in Herkommen und Sitte gegründete und letztlich die Zeiten überdauernde Funktion des Flusses als einer legitimen Grenze des ersehnten Reiches entgegen. Wie sehr aber der politische und am Rande sogar der ethnische Gegensatz sich im Umkreis des gesamten Humanismus relativiert, zeigt nicht zuletzt die Krakau-Panegyrik des Celtis schlagend. Wo immer Zeichen christlich-humanistischer Geistigkeit gesetzt werden, rohe barbarische Natur sich in zivilisierte Stätten mit regem geistigen Leben verwandelt, ist dem primären Anliegen Genüge getan. Die werdenden Nationen bleiben aufgerufen, diese anfangliche kulturstiftende Tat aus dem Geist des Humanismus fortzutragen und umfassend zu verwirklichen. Lob Preußens im schäferlichen Gewand Damit sind von dem unermüdlichen Propagatoren einer allfalligen Akkulturation Germaniens zum Zwecke einer Überwindung des Kulturgefalles im Blick auf die weiter fortgeschrittenen Romanen und zumal die Italiener auch für den preußischen Außenposten aus der Mitte der humanistischen Wertewelt heraus unmittelbar ableitbare Axiome fixiert. Sie vermochten im 16. wie im 17. Jahrhundert immer wieder aufgerufen und variierend und überbietend weitergesponnen zu werden. In der neulateinischen Lyrik geschah dies vor allem durch Eobanus Hessus und Georg Sabinus. Es bleibt ein Glücksfall der preußischen Literaturgeschichte, daß ein Vertreter der von den Humanisten privilegierten Schreibart der Ekloge, in der der kulturstiftende Impetus der >Hirten< immer schon als insgeheim politisch verlängerbare Tat begriffen worden 20 Aufbruch und Auslöschung

war, aus dem Herzen des Reichs, aus Erfurt, fiir einige Jahre in das ferne Preußen zuwanderte. Von 1509 bis 1513 hielt sich Eobanus Hessus bei Bischof Hiob von Dobeneck auf dessen Residenz Wiesenburg an der Weichsel auf.5 Pastoral verklärt steht die Zeit gemeinschaftlichen Dichtens in Erfurt dem Dichter im fernen Ort an der Weichsel vor Augen. Und doch bzw. eben deshalb weiß er sich aufgerufen, jener von den Musen nur zögerlich besuchten Region zu huldigen und mitzuwirken an ihrer literarischen Erschließung. Das geschieht fast programmatisch in einer poetischen Epistel an den Weggefährten Mutianus Rufiis, der stellvertretend angesprochen wird für den geliebten Freundes- und Poetenzirkel, den Hessus nun für eine Weile entbehren mußte.6 Es ist ein Land deutschen Namens, wie es gleich einleitend heißt, in das es den Dichter verschlagen hat. Heimisch wird das Land im Zeichen der die Räume überwindenden Freundschaft, über das die Freunde verbindende und verpflichtende Ideal des Dichtens. Preußen ist ein letzter Außenposten des Christentums. So will es wenigstens aus der Perspektive des Reiches scheinen. In Wahrheit, das vergißt der Dichter nicht hinzuzufügen, ist Livland von der Mission des Ordens mit ergriffen worden. Und hinter diesen letzten Bollwerken römisch-lateinischen Christentums tut sich die unermeßliche Weite Rußlands im Zeichen der östlichen Kirche auf. Preußen und Livland sind dem deutschen Kreuz unterstellt, das Unterpfand bleibt für die Zugehörigkeit zu einer von Deutschen geprägten Kultur. Der eine Name >Prussia< will wie ein einigendes Band erscheinen gegenüber der de facto erfolgten politischen Diversifizierung. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der soziolinguistisch geschulte Humanist diese Chance in seinem Sinn ganz so wie seine illustren Vorgänger nutzt. Die Landesgrenzen Preußens als eines Ganzen werden namhaft gemacht, seine landschaftlichen Qualitäten, seine städtebaulichen Zeugnisse und seine kulturellen Besonderheiten - ohne den leisesten Anflug aktueller Nöte - als das Bleibende und sich langfristig Behauptende herausgestrichen. Zittert ein Erschaudern bei dem Humanisten nach, so in der Erinnerung an das grausame Schlachten, dem das Land seinen Anschluß an die westliche societas christiana schuldet. So wie der Rhein einst blutrot Eine literarische Bilderfolge

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war nach der Eroberung durch die Römer, so die Weichsel durch die der Ordensritter. Dabei ist es der Fluß, der nach antiker Vorstellung segenspendend das Land durchzieht. Antike ideale Örtlichkeiten und mythologische Reminiszenzen sind es denn auch, die zur Würdigung Preußens, zu seiner literarischen Assimilation durch den humanistischen Klassizisten bemüht werden, mittels welcher Preußen in einem Akt poetischer Transformation eingereiht erscheint in die aus gleichem Geist gezeugten Bilder anderwärts. In dem Aufweis der Eigentümlichkeiten und Schönheiten des Landstrichs, dem Preis des natürlichen Reichtums und der symbiotischen Tat von Mensch und Natur, aus der die Physiognomie der Landschaft hervorgeht, Acker, Weide, Garten und nicht zuletzt die Silhouette der Städte, vollendet sich das Werk des Humanisten. Er gibt vor, mit seinen Worten nur nachzuzeichnen, was in Wahrheit doch dank seiner ingeniösen Feder überhaupt erst zusammengeführt und als geprägte Szenerie schriftförmig, literarisiert, poetisch durchgeformt in die kollektive Vorstellung eingeht. Danzig, Königsberg, Elbing, Thorn - es sind Städte, die unter den Deutschen im Reich kaum ihresgleichen haben und die als solche Zeugnis ablegen von der kulturellen Potenz ihrer Schöpfer. Sie kann durch politische Verschiebungen in der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit nicht eigentlich tangiert und schon gar nicht revidiert werden. Die Mahnmale des nur ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Ringens zwischen dem Orden und dem polnischen König ragen nun in die Gegenwart hinein: die Überreste der von dem abgefallenen Elbing zerstörten Thorner Burg, sodann das erhabene Monument des Deutschen Ordens, die Marienburg, unzerstört, aber unglücklicherweise (infoelix) dem polnischen König unterstellt. Das zu bekennen scheut sich der Dichter nicht und gibt damit für einen Moment lang die politische Zielrichtung seines landeskundlichen Poems zu erkennen. Es ist Sinn der vom Allegorismus durchwalteten pastoralen Rede, solche exponierten Stellen alsbald in das bukolische Ambiente zurückzunehmen. In dieser reich gesegneten Landschaft, über der die Blitze der Geschichte nur momentan zucken, lebt der Begründer der Hirtenpoesie in der Nachfolge Dantes, Petrarcas, Boccaccios auf deutschem Boden, der um dieses Verdienst sehr wohl 22

Aufbruch und Auslöschung

weiß und sich im gleichen Atemzug doch demütig als Schüler des geliebten Freundes bekennt. »Wie furchte ich die wütenden Löwen, die blutrünstigen Ungeheuer!« (V. 122). Sie lauern in der Einsamkeit, jenseits des vertrauten Freundeskreises, als Anfechtung und poetisches Unvermögen, zugleich aber auch als pastoral verschlüsselte Gefahren im politischen Raum, die Preußen nach dem Niedergang des Ordensstaates zu gegenwärtigen hat. Daß der pastorale Dichter in gut humanistischer Manier auch dieser geschichtlichen Herausforderung sich stellte, zeigt sein Gedicht auf den polnischen König Sigismund.7 Hessus hat in ihm sein humanistisch-diplomatisches Talent an die heikle Aufgabe gewandt, die sich eben nun abzeichnende Selbständigkeit des nördlichen Preußen unter dem Hochmeister Albrecht und dessen Orientierung zum Reich gegenüber dem polnischen König zu bagatellisieren bzw. poetisch zu überspielen und damit erneut genuin germanisch-deutsche Belange unter dem Deckmantel des Ordens wahrgenommen. Hier interessiert nur ein, Auftrag, Mission und Identität Preußens betreffender und bestimmender Aspekt in Weiterfuhrung der Vorgaben des Celtis. »Preußen, vom Nordwind durchweht, war einst unter einem heidnischen Herrscher ein barbarisches Land« (V. 61 f.). Damit aber, so der gewiefte Stratege, stellt es auch für Polen eine Bedrohung dar. Folglich handelt der Uberwinder der heidnischen Barbaren immer auch im recht verstandenen polnischen Interesse. Ordensmission und polnische Regentschaft stehen also nicht im Widerstreit. Deutsches Blut, >Sanguine Teutonico< (V. 67), ist es gewesen, das die Unterwerfung mit Billigung des deutschen Kaisers Friedrich II. bewerkstelligte, die heidnischen Götter beseitigte, das christliche Kreuz aufpflanzte und damit auch an Polens Grenze eine Gefahrdung beseitigte. Städtegründung und Burgenbau stehen im Zeichen der alsbald erfolgenden zivilisatorischen Erschließung. Macht der Dichter sich zum Sprecher des inzwischen untergegangenen Ordensstaates vor dem polnischen König, erfleht er die neuerliche Zusammenfugung der zerstückelten Teile, so im Namen des kulturstiftenden Kreuzes. Es brachte Städte, Burgen, Bewässerung ins Land, zivilisierte dieses in der Mission, und darf nun - so das Fazit der humanistischen Überblendung kulturzeugender Akte Eine literarische Bilderfolge

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- mit Einheit belohnt werden. Gebieter aber über dieses wieder geeinte Preußen ist kein anderer als Albrecht, dem de facto und wie verklausuliert auch immer die eigentliche Fürsprache des Humanisten gilt - Albrecht, das Oberhaupt des Deutschen Ordens, den sein Preußen gegenwärtig mit Recht Gebieter nennt. 8 Wie es zu einer Koinzidenz der Interessen im Zeichen von Kreuz und Krone kommen könnte, bleibt unklar. Es ist die Indienstnahme des Kreuzes und seine prätendierte symbolische Kraft, in deren Zeichen Polen unbesiegbar wird. Nicht oder nur ganz am Rande wird ausgesprochen, was eigentlicher Zielpunkt der durchaus interessegeleiteten Rede des Humanisten ist: die Einheit des Territoriums als eines starken und unversehrten Gliedes am Körper des Reiches. Es sind schließlich die römischen Adler, die den Feldzeichen des Königs vorausgehen und den Sieg herbeiführen helfen. Das deutsche Volk wird Anerkennung und Ruhm für diese Tat spenden. Denn es kann Herrschaft einräumen, wem es will.9 Diesen reichspatriotischen Impetus zu befördern, ist Bestimmung und Auftrag der Preußen literarisch erobernden Humanisten. Sie exekutierten damit im hohen Nordosten poetisch und kulturpolitisch, was allerorten in Europa durch die >homines novi< der erneuerten antiken Kultur propagiert und im Dienst von Kirche und Kommune, königlicher und fürstlicher Herrschaft, literarisch versiert und poetisch verschlüsselt im Ringen um die frühmoderne Autogenität der werdenden Nationen und Territorien von ihnen in die Waagschale geworfen wird. Die Stimme des ersten Königsberger Rektors Georg Sabinus Rufen wir einen dritten Zeugen auf, der aus gutem Grund unverhohlener in nun schon bekannten Bildern und Argumenten das preußische Gesicht als ein vom Reich geprägtes zu zeichnen sich anschickt. Er darf dies in quasiamtlicher Funktion, als Sprecher der civitas académica, dem sein Amt Rückhalt und Autorität, sein dichterischer Beruf Lizenz und verschlüsseltes Votieren für die preußische Sache erlaubte. Mit der Gründung der Königsberger Universität, der Albertina, im Jahre 1544 war ein Bollwerk errichtet, das Königsberg die geistige Führungsrolle im hohen Norden und dem 24 Aufbruch und Auslöschung

jungen Humanismus einen Wirkungsraum in unmittelbarer Nachbarschaft der politischen Zentrale sicherte. Staatstragendes Dichten in dem wiederum unverächtlichen alteuropäischen, in Alexandrien und Rom vorgeprägten Sinn, war damit erneut vorprogrammiert. Mit Georg Sabinus, Schüler und Schwiegersohn Melanchthons, Gründungsrektor für drei Jahre und Professor für Poetik und Rhetorik im ersten Jahrzehnt der Albertina, war eine Person zur Stelle, gewillt und in der Lage, diese Rolle auszufüllen.10 Uber ihn vor allem verliefen die nicht endenden und schließlich doch vergeblich bleibenden Versuche bei Kaiser und Papst, der universitären Neugründung in der politischen Exklave protestantischen Bekenntnisses außerhalb des Reichs die so begehrten Privilegien zu verschaffen. In Preußen, in Königsberg, an einer zentralen Schaltstelle eingebürgert, sah sich Sabinus dazu aufgerufen, die literarische Fixierung Preußens nach Art seiner Vorgänger fortzuschreiben und eine noch schmale, gleichwohl bereits erkennbare Tradition zu befestigen. Daß dies in poetischen Zuschriften an den eifrigsten Verfechter einer von landschaftlichen Besonderungen gereinigten italienischen Literatursprache geschieht, hat bezeichnenderweise noch keinen Einfluß auf den Duktus der Argumentation. Alles kommt genau wie bei Celtis darauf an, den Musen überhaupt Heimatrecht jenseits der Alpen und nun speziell im hohen Norden zu sichern. Die Frage des Idioms ist demgegenüber noch gar nicht relevant. Wieder ist es der Fluß, von dem die poetische Phantasie ihren Ausgang nimmt.11 Der Pregel wird wie ungezählte andere durch die Städte sich schlängelnde Flüsse oder sie majestätisch durchziehende Gewässer durch die Humanisten poetisch erschlossen und dem literarischen Gedächtnis überantwortet. Königsberg macht da nicht nur keine Ausnahme, sondern wird als eine in der gesamten Topographie fluminal und am Rande auch maritim geprägte Kapitale fortan gerade dieses Motiv besonders begünstigen. Der Fluß ist in der europäischen Literatur seit Pindar einer der bevorzugten Stätten, an denen sich die mythisch verklärte Berufung zum poetischen Archegeten vollzieht. An seiner Wirkungsstätte an der Oder erreicht den selbstverständlich mit den Vokationsformeln vertrauten und bereits nicht Eine literarische Bilderfolge

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mehr unbekannten Humanisten die Aufforderung, den Pregel mit der Oder zu vertauschen. Denn in dem fernab gelegenen Landstrich mangelt es durchaus nicht an den Segnungen der Natur, wohl aber an denen der Kultur. Gewiß verliert das von den Ordensrittern Geleistete in dem Maß an Bedeutung, wie der Protestantismus Einzug hält. Wichtiger aber ist die Ursprungspose als solche. Der gelehrte Humanist schreibt die Regeln vor, entwirft das Szenarium, demgemäß sich die geistige Besiedlung des Landes vollziehen soll. Daß dabei der eigene Anteil der maßgebliche bleibt, versteht sich von selbst. Es geht um das immer gleiche Schema der Interaktion, wie es, in Alexandrien und Rom vorgebildet, im Italien der Frührenaissance wiederaufgenommen, nun auch auf deutschem Boden sogleich eingeführt und fortan unter dem Patronat der Humanisten in Kommunen, Territorien und Nationen immer wieder nachvollzogen werden wird. Der Fürst, der politische Held, der beherzte Träger der Waffen, selbstverständlich im Dienste des Friedens, ist auch in Preußen in der Gestalt Herzog Albrechts erschienen. Er bedarf (wie Augustus und alle seine Nachfolger) der Ergänzung durch den Kulturträger, den Poeten im umfassenden alteuropäischen Sinn, damit sein friedensstiftender Auftrag im Zeichen von Künsten und Wissenschaften sich vollendet. Als solcher entbietet sich der Humanist in der mythisch stilisierten Pose der Berufung. Ihr ist der Ausgleich des ständischen Gefälles und (ganz im Sinne Vergils) die Statuierung einer prinzipiellen Gleichrangigkeit von Herrscher und Dichter zugedacht. Gibt der Regent seinem Land Gesetze und eine gerechte Verfassung, sorgt er für die Bildung durch Schulen bis hinauf zur gelehrten Akademie, so ist es Aufgabe der Humanisten, den so geschaffenen Rahmen mit Leben zu füllen. Das aber kann in der Optik des Humanisten nur heißen, Preußen heranzufuhren und anzuschließen an die eben erneuerten antiken Studien nicht anders als die des göttlichen Wortes. Funktionieren kann dieses Modell nur, wo der Fürst sich den Idealen der Humanisten verpflichtet weiß. Darum ist als Prophezeiung in den Ruf eingeschrieben, was alsbald sich im Verhältnis zwischen Albrecht und Sabinus erfüllen wird. Der Fürst geriert sich als verantwortlicher Landesherr gemäß den tradierten Bildern als der ideale Mäzen, nimmt sein Patronat 26 Aufbruch und Auslöschung

umfassend wahr und stellt damit die Integration Preußens und speziell Königsbergs in die vom Humanismus geprägte Welt sicher. Es wird in der Optik auch des Sabinus zugleich eine des erneuerten christlichen Glaubens und eine im Melanchthonschen Sinn auf Ausgleich und Vermittlung bedachte sein. Nach der Bestimmung des Humanisten soll in dem Land, in dem heidnischer Glauben so lange fortwirkte, nun die >wahre Verehrung Gottes< Einzug halten.12 Mit dem Sieg des Humanismus geht der eines Glaubens einher, welcher vor der Vernunft zu bestehen vermag und für alle vernünftigen Wesen Raum bietet. Damit war für Preußen wie allenthalben sonst der Weg vorgezeichnet, bevor das religiöse Drama sich entrollte, von dem auch der junge Staat nicht verschont bleiben sollte und der sich unter dem Titel des >Osiandrismus< mit ihm so unselig verband. Bilder des Untergangs

Womit wir schon Abschied nehmen von den Bildern und Argumenten, in denen sich die Implantation kultureller Muster auch im Preußenland vollzog, um herüberzuwechseln zu den gegenläufigen, in denen Vernichtung und Tod, Erschrecken vor der Vergänglichkeit, Bangen und Hoffen angesichts der Ewigkeit regieren. Auch das, so sei erinnert, geschieht immer noch präludierend, um uns einzustimmen auf das Drama Königsberg, das in der Phantasie, in der Kunst, im Glauben vorweggenommen war, bevor es sich in der Wirklichkeit entrollte - härter und unerbittlicher als die kühnste Vision je zu imaginieren imstande war. Der Humanismus kannte sehr wohl jene mythisch-biblisch bildnerische Chiffrierung momentaner politischer Konflikte wie langfristiger geschichtlicher Verwerfungen, die gerade seiner lyrischen Formensprache ihre von geschichtlicher Erfahrung gesättigte Prägung verleiht. Die Bilder aus dem römischen Bürgerkrieg hatten sich ihr ebenso eingeschrieben wie die suggestiven Gesichte der >Comedia< Dantes am Beginn einer neuen Zeit, da die imperialen Entwürfe im Strudel der Machtkämpfe zwischen Kaiser und Papst zergingen. Uns fehlt eine Geschichte der politisch imprägnierten Lyrik des europäischen Humanismus, und keine abstrakte Synopsis vermag Eine literarische Bilderfolge

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hier vorläufigen Ersatz zu bieten. Daß aber der Einmarsch Spaniens und Frankreichs zu Ende des Quattrocento in Italien, daß der >Sacco di Roma< im Jahre 1527, daß die alsbald anhebenden kriegerischen Verwicklungen im Namen des rechten Glaubens an ihrer Ausbildung und Profilierung ebenso maßgeblichen Anteil haben wie die sozialen Konflikte, drastisch manifest vor allem in den Bauernkriegen, dem politischen Ringen zwischen Krongewalt und Ständen, Territorien und Kommunen, alsbald dann auch den nationalen Großmächten, ist evident und vielfaltig belegbar. Worauf aber die Humanisten sich besonders verstanden, war die seismographische Registrierung der fundamentalen Erschütterungen auf allen Gebieten des Lebens, die mit den angedeuteten Ereignissen einherging, in die innere Geschichte der Menschen hineinführte und sich in Bildern seltener Eindringlichkeit verdichtete. Sie waren den gelehrten Zeitgenossen vertraut und entschlüsselbar; sie sind seit der Empfindsamkeit auch der gebildeten Welt fern gerückt; sie müßten in einer umfassenden Phänomenologie codierten lyrischpolitischen Sprechens wieder restituiert werden. Humanistische Erfahrung des Krieges Beschränken wir uns wiederum auf eine (nicht ausnahmslos, jedoch vornehmlich preußische) Trias - zeitlich weit ausholend, nur darauf bedacht, die Kehr-, um nicht zu sagen: die Nachtseite der kulturellen Aufbruchsstimmung des jungen Humanismus zu ihrem Recht gelangen zu lassen. Preußen hatte das Glück, insgesamt im allenthalben aufgewühlten 16. Jahrhundert im Schatten der großen Ereignisse zu verharren. Sabinus, ganz staatstragender Dichter, durfte weit ausgreifen in den politischen Raum, unermüdlich von dem Pregel wie von der Oder zur Einigkeit des Reiches aufrufend angesichts der drohenden Türkengefahr, beunruhigt, wo nicht gequält auch er vom Glaubenshader, doch getragen von der Gewißheit, die rechte Lehre zu kennen und um ihre Anerkenntnis und Verbreitung werbend. Wo der Glaubenskampf im Reich wütete und die Humanisten Zeugen wurden, stand ihnen die Sprache zur Verfügung, dem Greuel wie dem Grauen Ausdruck zu verleihen. Es genügt, die vielleicht wortgewaltigste Gestalt des Petrus Lotichius Secundus auf28 Aufbruch und Auslöschung

zurufen, in dessen Elegien der Schmalkaldische Krieg so tiefe Spuren hinterlassen hat, die Erfahrung des Krieges geradezu die prägende lyrische Substanz ausmacht.13 Die Zerstörung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg ist von ihm in einem Traumgesicht vorweggenommen worden.14 Unheilsvögel deuten - wie überall im Umkreis der frühneuzeitlichen Visionsliteratur Unglücksboten jedweder Art - auf das zukünftige Verderben hin. Aufgabe des Dichters in der Rolle des >Vates< ist es, ihm seine Stimme zu leihen und die Umwelt - hier den Adressaten Joachim Camerarius - zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu ermuntern. Es ist Nachtzeit, da das Bild der alten Stadt (vetus urbs) an der Elbe vor dem inneren Auge des Dichters aufsteht, belagert allüberall von blutbeflecktem Kriegsvolk. In der weinenden, wehklagenden, trauernden weiblichen Gestalt verkörpern sich seit Dante und Petrarca Schmach, Elend und Ausweglosigkeit der geknebelten, von Zwist und Unfrieden überzogenen Städte, Regionen und Nationen des werdenden nachmittelalterlichen Europa. So auch bei Lotichius. Von der hohen Mauer aus blickt weinend und zornig, das Haar zerrauft, einen Kranz (der Trauer) in der Linken, eine Jungfrau (Magde-Burg!) auf das Lager der Krieger. Als Schutzpatronin der Stadt versteht sie sich, als solche hat sie über Jahrhunderte ihres Amtes gewaltet. Nun erwartet sie ihr Ende. Von Grund auf wird ein vor nichts zurückschreckender haßerfüllter Feind sie zerstören. Es ist das getreue Festhalten am lutherischen Glauben, durchaus mit Treue zum Kaiser vereinbar, das den Zorn und das drohende Unheil über der Stadt zusammengezogen hat. Die innere Ordnung der Stadt ist zerrüttet, denn die gedeiht - ganz erasmisch - nur im Frieden. In der unschuldigen Natur wird der Frevel des an der Schöpfung sich vergehenden Menschen manifest; die Ernte ist vernichtet, das Land unbebaut, die Blumen von den Wiesen verschwunden. Unter unsäglicher Qual tut sich vor den Augen der Seherin das ungewisse Schicksal der leidbeladenen Stadt auf, die Tore gewaltsam vom Feind geöffnet, Mädchen vom Schwert durchbohrt, Jungfrauen geschändet. Eine Zeit wird kommen, da alles zu Asche geworden ist. Zivilisierte Stätten zergehen, Städte sinken zurück auf den Status von Natur, und - Gryphius vorwegnehmend Eine literarische Bilderfolge

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»wo eine Mauer war, wird der Bauer die Erde durchpflügen und sagen: >Unter diesen Hügeln war einst eine hochgebaute Stadt.ordo< indiziert. Schwerlich ist es das Drama des Krieges als solches, das diese Wendung erzwingt. Es ist der Verlust jedweder Gewißheit, wie er in den Glaubenskriegen sich vollzieht, der die Bilder des Untergangs, das Zergehen des >ordo< hervortreibt.15 Dem 17. Jahrhundert wird es vorbehalten bleiben, inmitten des Dreißigjährigen Krieges diese Erfahrungen des älteren Humanismus ungezählte Male zu wiederholen und dichterisch zu verarbeiten.16 Die Kürbishütte als Emblem irdischen Schicksals Entsprechend wird Vergleichbares, wenn wir recht sehen, auch in Königsberg erst im 17. Jahrhundert (wieder) gedichtet werden. Es bedurfte der Zeugenschaft einer in europäischer Perspektive inzwischen hundertjährigen zumeist bürgerkriegsartigen Verstrickung, um jenes Vertrauen in die irdischen, die politischen Geschicke der Menschen so nachhaltig zu erschüttern, von der auch die Lyrik immer wieder Kunde gibt. Oder wie anders ist es denkbar, daß ein harmloser Akt einer neuer Straßenfuhrung Bilder apokalyptischer Gewalt evoziert, wie in Simon Dachs >Klage über den endlichen Vntergang und ruinirung der Musicalischen Kürbs-Hütte vnd Gärtchens< geschehen?17 Gewiß, der Gedanke war vorgegeben. 1641 hatte der Freund und Weggefahrte Heinrich Albert seine >Musicalische Kürbs-Hütte, Welche uns erinnert Menschlicher Hinfalligkeit< geschrieben und in drei Stimmen gesetzt, die noch im gleichen Jahr und dann erneut 1645 erschien.18 Sie verdankt dem »eben neu-angelegten Gärtlein« ihre Existenz, in dem Albert seine dichterisch und musikalisch inspirierten Freunde empfangt und ihre Namen in den Kürbissen nebst einigen poetischen Zeilen verewigt. Robert Roberthin, drittes und zweifellos prominentestes Mitglied in dem Zirkel, regt dann 30 Aufbruch und Auslöschung

an, eben diese kleinen Gedichte in der Kürbishütte zu singen. Flugs ist Albert mit der musikalischen Untermalung zur Stelle, und über den Tag hinaus mag der Einfall bewahrt bleiben, weil er zusammengehalten wird durch »die Besinnung der Menschlichen Hinfälligkeit«, die zu beherzigen Autor wie Lesern und Hörern gleich wohl ansteht. Es sind die Kürbisse, die als beschriftete nun zu Sprechern wie zu Sinnbildern der Botschaft allseitiger Vergänglichkeit werden, die da in gut stadtbürgerlicher Manier, kaum berührt von der Opitzschen Reform, verlautet: Ob ich gleich muß bald von hier, Kriegstu dennoch Frucht von mir; Wenn man Dich, Mensch, wird begraben, Was wirst Du für Früchte haben?19

Es blieb Simon Dach vorbehalten, den bescheidenen poetischen Vorwurf mit Prospekt und Entwicklung der Stadt zu verknüpfen und ihm als geschichtlich und politisch gemodelten jene metaphysische Tiefe, poetologische Repräsentanz und eschatologische Konsequenz abzugewinnen, der die Kürbishütte noch dreihundert Jahre später dazu qualifizierte, ein Sinnbild Königsbergs abzugeben. Die Kürbishütte, soeben erst aufgerichtet, ist zerstört; der schöne Ort unversehens wieder zu einer >Wüsteney< geworden, von >Schlamm und Wust< bedeckt; ein >grawen< in jener dem emblematischen Zeitalter so typischen Verquickung von konkreter lokaler Physiognomie und innerer Befindlichkeit des sinnenden Betrachters. Es ist jener blitzartige Umschlag, ungezählte Male im Krieg erfahren, der den Dichter herausfordert, ihm einen Sinn abzugewinnen. Das Albertsche >Kürbes-Hütten-Werck< ist verfallen, was bleibt, ist der poetische Ertrag, wie er metonymisch zugleich im >Kürbes-Hütten-Werck< bedeutet wird. Das ist gemeinhumanistische Uberzeugung. Der gläubige Christ aber, der protestantische Dichter, sein städtisches Publikum vor Augen, schickt sich an, auch die geistliche und - verpuppt in sie die politische Resultante aus der Vernichtung der Kürbishütte zu ziehen, dem Freund huldigend, indem sein Einfall, seine >inventiokleines Paradieß< als Ort der Rekreation und der Betrachtung, des Sinnens und Dichtens, des Singens und Musizierens, der Freundschaft und der Liebe, der Fröhlichkeit und des Scherzes, des Essens und Trinkens - kurzum Inbegriff aller guten menschenwürdigen Verrichtungen. Angeschlossen ist er an das städtische Treiben, Handel und Wandel auf dem Markt und dem nahen Pregel, Bürgervergnügen auf dem Fluß und dem Kneiphof: Der Genuß des Daseins verbindet die Besucher der Kürbishütte mit den Bewohnern einer glücklichen Stadt. Eben weil der Musenort wie ein Mikrokosmos des Lebens erscheint, kann er zum sinnbildlichen Spiegel erhoben werden. Indem er - »Ein Wohnhauß gutter Ruh, ein rechtes Frewden Ort< (V. 90) - verschwindet, von einem locus amoenus in einen locus terribilis sich verwandelt, ruft er den Betrachter auf den Plan, der aus der Zerstörung, aus dem sinnfälligen Umschlag seine geistliche und seine humanistische Nahrung zieht. Dach hat den realen Anlaß durchaus in sein Gedicht aufgenommen. Albert hat am Pregel, dort wo einst der Krieg zu Hause war, sein dem Frieden so entgegenkommendes kleines Siedlungswerk vollzogen; die Pfähle am Pregel faulten, der Platz mußte geräumt werden und also fiel auch die Kürbishütte. Dort wo eben noch »die schönsten Blumen waren«, zieht sich nun ein Weg, eine Straße entlang, wo »Die Land und BürgersLeut ietzt reiten, gehen, fahren!« (V. 99 f.). Das ist die natürlichste Sache der Welt, und natürlich hat sich Dach nicht zum frühen Kritiker urbaner Expansion oder gar Verschönerung aufgeworfen. Ist der Freund womöglich ein Opfer 32

Aufbruch und Auslöschung

von >Eigennutz und Neid< geworden (V. 105)? Das ja würde Kritik, sei es an den Mitbürgern, sei es an der Obrigkeit, implizieren, um die es hier überhaupt gar nicht geht. Und so ist es die Zeit, die »sich in alle dringt und allem macht sein Ende«, die als Erklärung flugs bemüht wird, um zum Eigentlichen, zum Entdecken, Verknüpfen, Sichern von Bedeutung zu gelangen. Dafür muß der Umschlag, befreit von empirischer Zufälligkeit, rein und einschränkungslos statuiert werden. Und genau das leistet Dach an dieser Stelle, noch bevor er kurz streift, was de facto geschehen ist: Ein Wohnhauß gutter Ruh, ein rechtes Frewden Ort. Ach aber kurtze Zeit! Wie schön es vor gestanden So gar ist nichts davon, alß Einsamkeit vorhanden, Alß Grawen, Furcht vnd Rew, es kränckt mich hie zu stehn, Für Vnmuth kan ich auch schier nicht vorüber gehn. (V. 90-94)

Nein, dieser Ort ist nicht einsam; er ist von Land- und Bürgersleuten - reitend, gehend, fahrend - belebt, wie uns der Autor wenige Zeilen später mitteilen wird. Einsam ist er - biblisch-theologisch überblendet - als Ort der poetischen Imagination, in der die Assoziation an die >Grabstadt Sodomä< alsbald sich einstellt (V. 97). Wie Sodom auf göttlichen Ratschluß vom Erdboden verschwand, so die Albertsche Kürbishütte, und beidemal ist es menschliche Sündhaftigkeit, die quasiparadiesischer Existenz unversehens ihr Ende bereitet. >Grawen, Furcht vnd Rew< walten an der Stätte der Einsamkeit, die soeben noch fröhliches Treiben kannte (V. 93). Alle drei sind metaphysisch besetzt, das Erschrecken vor der Vergänglichkeit, die Furcht vor dem Gericht, die Reue angesichts der Sünde eine denkbar knappe triadische Formel, in der Daseinsgefuhl vermittelt über geistliche Orientierung sich verkörpert. Der Stachel jedoch, der den Autor zwingt, nicht bei der neuerlichen Formulierung dieser Einsicht zu verharren, liegt in der subjektiven Betroffenheit, den der Untergang gerade des >Gartenwercks< im lyrischen Sprecher evoziert. Seine vornehmste Bestimmung war es, Dichten, Musizieren, ein den Musen gewidmetes Dasein zu befördern. Also muß die Führung des poetischen Gedankens zu Sinn und Bedeutung eben dieses Tuns angesichts der vermeintlich alles vertilgenden Zeit zurückfinden. In einem Bogen von Eine literarische Bilderfolge

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seltener Spannkraft und Eindringlichkeit hat Dach diesen Cursus bewältigt (V. 120 ff). Die >KränkungEisenfest< werde er schlafen und im Tode wieder »werde(n) waß ich war«, hatte der Dichter stellvertretend für die Menschheit gesagt. >Die Seele nehm ich auß< (V. 133 f.). Sie eben ist der körperlose Ort jener Tugenden, die der Dichter aufruft, um der Zeit entgegenzuwirken. An ihm entscheidet sich nicht nur der individuelle Weg, sondern auch der öffentliche Gang der Dinge. Ihre Wohlfahrt ist zunächst und zuerst der Menschheit selbst anheimgestellt; die Gnade antwortet der rechten Entscheidung. O würden wir doch klug durch fremder Noht und Schaden, Ohn Zweiffel kähmen wir bey Gott hiedurch zu Gnaden! Daß gutte, so unß hält vmbgeben in gemein, Würd vnsrer Kinder auch, ja Kindes Kinder seyn. (V. 195-198)

Wirkt Poesie sittigend, reinigend in das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft hinein, so bleibt sie Zeugin, Wächterin, ja Hort 36

Aufbruch und A u s l ö s c h u n g

des hienieden in der Geschichte sich Vollziehenden und als solche Statthalterin in jenem spezifisch humanistisch-erasmischen Sinn, demzufolge gelingendes Leben nur als gemeinschaftliches zu begreifen ist. Visionäre Apokalyptik aus d e m G e i s t e Herders

Hören wir eine letzte Stimme aus dem Munde des größten Sohns, den Preußen neben Kant hervorgebracht hat, in seinem Schatten nicht anders als in dem Goethes verharrend, und doch der weltumspannendste Geist neben Lessing, den die deutsche Aufklärung kannte. Am 11. November 1764 wurde Königsberg, das den Dreißigjährigen Krieg nicht anders als die Nordischen Kriege unversehrt überstanden hatte, Opfer einer verheerenden Feuersbrunst. Noch im gleichen Monat verließ Herder Königsberg, um eine durch Hamann vermittelte - Stelle als Kollaborateur an der Domschule zu Riga anzutreten. Unter den vielen, dem schrecklichen Ereignis gewidmeten Gedichten ragt das Herdersche hervor. »Mit einem ähnlichen Gedicht, dem Gesang an Cyrus, hatte er sich einst in Königsberg eingeführt: mit dem Trauergesang nahm er Abschied.«20 Im nahen Mitau, nun endlich auch zu literarischem Leben erwacht, erschien ein Jahr darauf bei Christian Liedtke >Ueber die Asche Königsbergs. Ein Trauergesang.Selecta Histórica et Literaria< publizierte Arbeit >De Rerum Prussicarum scriptoribus manuscriptis pariter ac impressisPreußische BibliothecSocietät< gehoben werden könne - »freier Zutritt« von seiten der »höchsten Landesherrschaft« vorausgesetzt. Ein >Corpus Scriptorum Borussicorum< wäre zu erstellen. So weit schaute der große Mann im Vorwort zu seinem Werk voraus. Mit seiner >Preussischen Bibliothek< leistete er entscheidende Schrittmacherdienste auf diesem Weg. Die in ihr verzeichneten >Monumenta Prussica< möge man als /Tabulas naufragas< betrachten, als »gleichsam aus dem Schifbruch gerettete Stücke«, die er »zu samlen und zu conserviren« gesucht habe.18 Da regte sich also wieder das Bewußtsein, wie es einen jeden Sammler und Bibliographen Gelehrte - Sammler - Bibliographen

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beflügelt, nämlich Zeugnis abzulegen von allem in Schrift über eine kulturelle Landschaft Verlauteten und für dessen Überlieferung Sorge zu tragen. Kaum faßbar, was der gelehrte Theologe da im Nebenamt an Handschriften, Drucken und ungezählten Miszellen zusammenbrachte. In vielen Fallen gab er an, in welcher Bibliothek oder welchem Archiv sich das entsprechende Dokument befand. Viele Male griff er auch auf private Sammlungen zurück. Was davon mag den widrigen Zeitläuften getrotzt haben und heute noch verfugbar sein? Wir furchten, nur ein Bruchteil. Lilienthal jedenfalls tat das Seine zur Rettung des gefährdeten Schriftguts. Damit gelangen wir zu seiner vielleicht verdienstvollsten gelehrten Verrichtung. Der namhafte kulturpolitische Organisator, der er auch war, ist nicht der erste, wohl aber der größte und fruchtbarste Schöpfer landeskundlicher Periodika, den die preußische Geschichte gekannt hat. Der Ostseeraum, in der Frühen Neuzeit in so vielfaltigem Austausch begriffen, war frühzeitig gut bestückt mit literarischen Organen in dem weiten Sinn, den der Begriff seinerzeit innehatte. In Lübeck, dem einstigen stolzen Zentrum der Hanse, waren seit 1698 die >Nova literaria Maris baltici et Septentrionis eruditi< erschienen, die sich knappe zehn Jahre hielten und eine Unmenge von Titeln darboten. 1718 kam in Danzig, der zweiten Metropole des Ostseeraums, Gottfried Lengnich mit einer Polnischen Bibliothek< heraus, die das auf das Königreich Polen und damit das westliche Preußen bezogene Schrifttum versammelte. 1722 mußte das verdienstvolle Unternehmen wieder eingestellt werden. Nun war Thorn an der Reihe. Im Oktober des Jahres erschien das erste Heft des >Gelahrten PreußenPolnischen Bibliothek< eröffnet wurde. Bis 1725 erstreckte sich das Projekt. Der Thorner Rektor Petrus Jänichius schloß unmittelbar mit den »Meletemata Thorunensia< an, die in drei Teilen zwischen 1726 und 1731 wiederum in Thorn erschienen, das um diese Zeit glänzend dastand. Man sieht jedoch, daß den Organen keine lange Laufzeit beschieden war. Nun aber kam die Stunde Königsbergs, und sie ist fest mit dem Namen Lilienthals verbunden.19 1724 trat in Königsberg eine neue Zeitschrift ans Licht. Sie führte den Titel >Das Erleuterte PreußenErleuterte Preußen< reich an Porträts bedeutender Persönlichkeiten aller Sparten. Viele von ihnen haben erstmals unter Lilienthals Stabführung ihre Biographie erhalten, darunter gleich zu Beginn Simon Dach. Auch Lilienthal selbst publizierte ja hier die Fortsetzung seiner Autobiographie. Die meisten sind ausfuhrlich gestaltet und gut recherchiert. Lilienthal wußte sich ein ganzes Heer qualifizierter Mitarbeiter aus der Stadt, aus dem Land, aber auch von weiter her zu verpflichten. Hinter ihnen erhob sich die Gestalt des Thorner Professors Hartknoch, derer Lilienthal respektvoll gedachte. Mit einem Schlag hatte nun auch Königsberg ein weithin sichtbar wahrgenommenes landeskundliches Organon erhalten. Der unerschöpfliche Lilienthal wurde so zum Begründer der dokumentierten Quellenkunde für den preußischen Raum. Eine Beschäftigung mit ihm ist ohne seine Periodika gar nicht mehr denkbar. Man muß sie griffbereit neben sich stehen haben. Sie waren ihrer ganzen Natur nach einfach nicht zu überholen. Aber der rührige Pfarrer blieb dabei nicht stehen. Er hatte Geschmack gefunden an der Quellen-Dokumentation und sah hier eine ihm zugefallene Aufgabe. 1726 war der vierte Band des >ErleuGelehrte - Sammler - Bibliographen

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terten Preussen< erschienen. Dann setzte eine Pause ein. Erst 1742 erschien der fünfte und letzte Band. Lilienthal war zu einem anderen Projekt herübergewechselt. Ab 1730 erschienen die >Acta Borussica. Ecclesiastica, Civilia, Literaria: Oder Sorgfältige Sammlung allerhand zur Geschichte des Landes Preussen gehöriger Nachrichten/ Uhrkunden/ Schrifften und DocumentenActa< bei drei Bänden, die zwischen 1730 und 1732 erschienen. So als wolle der Herausgeber neue Kräfte schöpfen, währte es acht Jahre, bis er einen dritten Anlauf nahm. 1740 trat er mit einer neuen Gründung auf den Plan. Nun aber war deutlich, daß er sich auf sein ureigenstes Gebiet, die Theologie und speziell die Kirchengeschichte zu kaprizieren gedachte. >Preußische Zehenden Allerhand geistlicher Gaben, Von mancherley in die Gottesgelahrtheit Kirchen- und Gelehrten-Geschichte laufenden Materien, Zum Dienst des Heiligthums und Verpflegung der Kinder Levi, wohlmeynend mitgetheilet.< So der Titel. Jeder der drei 1740, 1742 und 1744 erschienenen Bände enthielt zehn Stücke, daher der Name. Sie hatten ersichtlich keinen unmittelba118

W a h r e r und Mehrer der Überlieferung

ren regionalen Bezug mehr, so sehr der preußische Einschlag im einzelnen erkennbar blieb. Dafiir fand Lilienthal mit dieser Gründung nun Anschluß an seine großen theologischen Werke, die er als wohlbestallter Pfarrer auszuarbeiten vermochte. Sie grenzen an ein Wunder hinsichtlich der obwaltenden stupenden Gelehrsamkeit. Wir werfen also einen Blick auf den Fortgang seines Lebens und seiner Schriftstellerei. 1722 hatte Lilienthal begonnen, Prediger-Kolloquien zu halten. Sie waren alsbald überlaufen. Sein Wirkungsfeld erweiterte sich rasch. 1727 wurde er zum Inspekteur der Ratsbibliothek berufen. Wir kommen darauf sogleich zurück. In der Altstädter Gemeinde und auf dem Löbenicht mußte er aufgrund von Todesfallen aushelfen. Lilienthal wurde zum Konsistorialrat vorgeschlagen, doch blieb die Berufung aus Berlin aus. 1733 wurde er in die Akademie der Wissenschaften zu Petersburg aufgenommen. Schlag auf Schlag ging es nun voran mit der Veröffentlichung seiner Bücher. Er war nicht reich. Aber er wußte um seinen schönsten Schatz >im Zeitlichens seine Bibliothek. So ging er dazu über, auf ihrer Basis gedruckte Hilfsmittel für den Predigerstand zu schaffen. Sie haben seinen Namen als den eines führenden Buchkundlers der biblischen Wissenschaften in die Welt getragen. Katechismen, Predigten, Erbauungsschriften hatte er immer schon drucken lassen. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens hielt er gelehrte Ernte. 1740, als die >Preußischen Zehenden< das Licht der Welt erblickten, legte Lilienthal einen 1300 Seiten umfassenden Wälzer vor, den er >Biblisch-Exegetische Bibliothec< titulierte. >Bibliothec< meint im 18. Jahrhundert nicht nur das Lokal zur Verwahrung von Büchern, sondern auch die Verzeichnung bzw. das Verzeichnis von Schriften zu einem Sachgebiet oder einer Region. Stößt man auf solche Verzeichnisse in der Frühen Neuzeit oder ausnahmsweise in späterer Zeit, dann darf man sicher sein, darin das gesamte ältere und zeitgenössische Schrifttum mehr oder weniger komplett dokumentiert zu erhalten. Später bürgerte sich dafiir der Begriff >Bibliographie< ein. Und doch gab es einen feinen Unterschied. Der Begriff >Bibliothec< wahrte den Rückbezug zur physischen Bibliothek. So auch bei Lilienthal. Er verzeichnete in diesem und den nachfolgenden Werken, was in seiner eigenen mächtigen Gelehrte - Sammler - Bibliographen

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Bibliothek zu dem Gegenstand verfügbar war. So hielt er Tuchfühlung mit den Büchern, konnte beschreiben, was er selbst in Händen hielt, ohne eine Bibliothek aufsuchen oder Freunde bemühen zu müssen. Die großen Gelehrtenbibliotheken waren die Schatzkammern und Magazine der vielfach enzyklopädisch angelegten gelehrten Arbeiten. Die Lilienthalsche zählte im Königsberg des 18. Jahrhunderts zu ihnen. Das lehrt schon ein Blick in die >Biblisch-Exegetische Bibliothek und ihre Nachfolger, die 1741 unter dem Titel »Theologische Bibliothec< bzw. 1744 als »Fortgesetzte Theologische Bibliothec< bei Härtung in Königsberg erschienen, sie beide nochmals jeweils weit über 1000 Seiten stark. Die gesamte theologische Literatur seit Druckbeginn war dort mehr oder weniger vollständig zusammen, mit einem natürlichen Schwerpunkt natürlich im Luthertum. Wenn solch eine Bibliothek nach dem Tode ihres Besitzers einer öffentlichen Bibliothek zufiel, dann war sie auf dem entsprechenden Fachgebiet mit einem Schlag glänzend ausgestattet, hier also der Theologie. Ein so kritischer Kenner wie Julius Petzholdt, der diese Hilfsmittel aus der Frühen Neuzeit ein letztes Mal alle aufführte, wußte deshalb, als er annotierend zu dem erstgenannten biblisch-exegetischen schrieb: »Ein noch gegenwärtig sehr nützliches Buch, worin sich die im Fach der Bibelliteratur sehr reichhaltige Abtheilung von des Herausgebers eigener Bibliothek ziemlich ausführlich und für bibliographische Zwecke gut beschrieben findet.«22 Fast gleichlautend äußerte er sich zu den beiden Folgebänden. Seine Urteile waren, wie jeder Fachmann um die Mitte des 19. Jahrhunderts wußte, ein Gütesiegel erster Klasse. Denn Petzholdt war ein hochangesehener Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek in Dresden - und wie Lilienthal ein großer Zeitschriftengründer. Lilienthal aber hatte noch gar nicht alle Trümpfe gezogen, sondern legte mit einer weiteren Trilogie nach. 1745 erschien wiederum in Königsberg und sodann in Leipzig sein »Biblischer Archivarius der heiligen Schrift Neuen TestamentsIch werd's lesen und von ihnen lernen, wenn's gedruckt seyn wird; jetzt aber der Form wegen mein Legi gleich beyschreiben< rührte Lilienthalen bis ins Innerste, und Arnoldt that ihm diese Erklärung von ganzem Herzen.«25 In diesem Geist also setzen wir - wie immer - Akzente, indem wir bevorzugt die sachlichen Verbindungslinien ausziehen. Anders als Hartknoch und anders auch als Lilienthal ist Arnoldt gebürtiger Königsberger. Der 1706 Geborene entstammte dem städtischen Bürgertum. Der Vater hatte eine kaufmännische Lehre in Königsberg absolviert und war als selbständiger Kauf- und Handelsmann daselbst tätig; er war Mitglied der Krämerzunft. Der Sohn genoß, wie üblich, Privatunterricht und besuchte die Altstädter Schule. Fünfzehnjährig, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, ließ ihn die Mutter 1721 in die Königsberger Universität einschreiben. Er 122

W a h r e r und Mehrer der Überlieferung

belegte philosophische und mathematische Vorlesungen. Prägend und lebensbestimmend, obgleich nur ein Jahr während, wurde der Wechsel an die Universität Halle, wo er Theologie studierte und den Magister erwarb. Schon zum Wintersemester 1729/30 war er wieder in Königsberg und nahm die außerordentliche Professur für praktische Philosophie (Morallehre) an der Universität wahr. 1732 kam die entsprechende Professur für Philosophie hinzu. Ein Jahr später folgte die Promotion in Theologie, die 1734/35 für die ordentliche theologische Professur qualifizierte. Sie hat er fast vierzig Jahre bis kurz vor seinem Tod 1775 innegehabt. Er war in der Albertina wie kaum jemand sonst verwurzelt. Viele Male nahm er das Dekanat in seiner Fakultät wahr; drei Mal bekleidete er das Amt des Rektors. Er wurde der gelehrte Sachwalter der gesamten akademischen Korporation, wie ihn die Albertina in ihrer Geschichte kein zweites Mal gesehen hat. Und er nahm sich der Kirchen- und Predigergeschichte in Stadt und Land insonderheit an. Um diese beiden Aspekte ist es uns in erster Linie zu tun; nur deshalb die biographische und amtsbezogene Abbreviatur. Zunächst jedoch bedarf das theologische Profil Arnoidts einer näheren Betrachtung. Sie fiihrt uns noch einmal hinein in die über dem Glauben entfachten Kämpfe - nun inmitten des 18. Jahrhunderts. Immer noch vermochte die Theologie die Gemüter aufzurühren.26 Arnoidts Lehijahre fielen in die Zeit, da das philosophische Werk Christian Wolffs von Halle aus in Deutschland zur Wirkung gelangte - so bestimmend, wie im 18. Jahrhundert nur noch ein zweites Mal und nun von Königsberg aus. Arnoldt machte sich über seine Königsberger Lehrer mit ihm vertraut und beherrschte Methodik wie System alsbald glänzend. Diese philosophische Versiertheit ging - wie bei Gottsched, wie bei Pietsch und anderen - einher mit einer freilich nur jugendlichen Begeisterung für die Poesie und die Regeln ihrer Verfertigung. In der Neukirchschen und in der Weichmannschen Anthologie fehlte der Name Arnoidts nicht. Und selbst eine Poetik entstammt seiner Feder.27 Doch das alles blieb Vorspiel. Die Langzeitwirkung ging aus von dem Wirkungsort Wolffs. Der Stern Frankes war im Aufgang begriffen - mit allen für Wolff bekannten bitteren Folgen, der 1723 vom König persönlich seines Amtes in Halle enthoben wurde. Gelehrte - Sammler - Bibliographen

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In Königsberg machten sich die Theologen Heinrich Lysius sowie vor allem Georg Friedrich Rogall und Franz Albrecht Schultz zu Fürsprechern des Hallischen Pietismus. Die Keimzelle bildete, wie gezeigt, das Friedrichskolleg. Seit der Mitte der zwanziger Jahre ergriff er weitere Kreise und erschütterte alsbald nicht nur das kirchliche und religiöse Leben in Preußen, sondern auch das akademische in Königsberg. Bis in die Berufskarrieren wirkten die Querelen hinein. Der König Friedrich Wilhelm I. förderte die pietistische Ausrichtung von Universität, Schulen und Kirchen in der Stadt nachhaltig. Königsberg sollte ein zweites Halle werden. Und tatsächlich überflügelte es die pietistische Hochburg nach dem Tod Franckes im Jahr 1727 für eine Weile. Arnoldt wurde wie andere Gleichgesinnte auf dieser Welle in seine Amter getragen. Er hat sich anders als Rogall nie als fanatischer Pietist gegeben und auch nicht spektakulär auf ein Bekehrungserlebnis gesetzt. Die praktische Ausrichtung des Glaubens kam ihm entgegen. Und als die Kämpfe mit den orthodoxen Lutheranern sich verschärften, wußte er, wo sein Platz war: In der Gelehrtenklause, wo gediegene und letztlich von den Tageskämpfen unberührte Arbeit zu leisten war, die über die Zeiten hinweg Früchte trug. Uns geht es nicht um die reiche theologische Ernte, die vor allem in den Gebieten der Moraltheologie und der Homiletik einzufahren war, sondern um seine Prussica.28 »Bey dem Umfange seiner Amtsarbeiten war ihm Vaterlandsgeschichte, die er mit seltener Anhänglichkeit liebte, die stärkendste Erholung. Wenn bisweilen von Geistlichen gesprochen ward, die zum Zeitverderb, wie man es nennen will, das Kartenspiel wählen: so pflegte er zu sagen: Preußische Geschichte ist mein Kartenspiele«29 Das Besondere, ja Einmalige dieses preußischen Landstrichs am Rande des alten Reichs hatte es auch Arnoldt angetan. Er wurde dort tätig, wo er am meisten bewirken konnte und anzuknüpfen vermochte an seine großen Vorgänger. In Lilienthals >Erleutertem Preussen< hob er an und fand zugleich das Thema seines Lebens. »Kurzgefaßte Nachrichten von der Königsbergischen Akademie< steuerte er im vierten Band aus dem Jahr 1728 bei.30 Vier Jahre später lagen seine Lebensbeschreibungen der Königsberger Mathematiker vor. Damit war das Terrain ein erstes Mal abgesteckt. Universitäts- und Gelehrtengeschichte 124

Wahrer und Mehrer der Überlieferung

sollten die beiden Brennpunkte im akademischen Sektor bleiben. Kirchengeschichte und Kirchenrecht traten im theologischen Bereich hinzu. Mit der >Kurzgefaßten Kirchengeschichte des Königsreichs PreußenKurzgefaßt