Das Ländliche als kulturelle Kategorie: Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen 9783839449905

Das Ländliche hat Konjunktur. Zwischen medialer »Landlust« und realem Strukturwandel in den ländlichen Räumen Europas di

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Das Ländliche als kulturelle Kategorie: Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen
 9783839449905

Table of contents :
Inhalt
Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung
Kapitel I. Stadt, Land, Schluss? Konzeptionen und Imaginationen des Ländlichen
Rurbane Assemblagen
Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen
Problemregion oder ländliches Idyll?
Wildwest-Romantik und Spitzentechnologie
Von schöpferischer Kraft und Stimmung
Kapitel II. Arbeit, Mobilität und Wissen. Ressourcen und Teilhabe in ländlichen Settings
Zwischen Mobilität und Immobilität
Energieraum Land
Die Digitalisierung der Landwirtschaft
Stallbauproteste als Indikatoren eines kulturellen Anerkennungsverlustes konventioneller Landwirtschaft
Alltag – Gesellschaft – Utopie
»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht«
Kapitel III. Lehren, Schreiben, Ausstellen – Anpacken. Akademische Praxen als doing rural
»Zwischen Landlust und Landfrust«
»Licht aus – Spot an«
Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe
Die Wiederbelebung ländlicher Potenziale
Mein Dorf im Buch
Resümee
Stadt – Land – Schluss?
Autorinnen und Autoren

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Manuel Trummer, Anja Decker (Hg.) Das Ländliche als kulturelle Kategorie

Kultur und soziale Praxis

Manuel Trummer (Dr. phil), geb. 1979, lehrt Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er habilitierte sich als außerordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zum Thema der Konstruktion des Ländlichen in populären Literaturen und Medien. Zukunftspraxen und kulturelle Konflikte um Raum und Energie in agrarisch geprägten Settings bilden einen weiteren Forschungsschwerpunkt. Anja Decker, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Anthropologie ländlicher Räume insbesondere die Prekaritäts- und Ungleichheitsforschung. Als Mitglied des internationalen DoktorandInnenprogramms Transformations in European Societies promoviert sie am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München zum Thema Configurations of Precarity. An Ethnography of Social Provisioning in Rural Western Bohemia. Sie ist Co-Initiatorin und Sprecherin der Kommission Kulturanalyse des Ländlichen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde.

Manuel Trummer, Anja Decker (Hg.)

Das Ländliche als kulturelle Kategorie Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen

Diese Publikation wurde ermöglicht und gefördert durch: Ernst-Pietsch-Stiftung, Deggendorf Bezirk Oberpfalz Regensburger Verein für Volkskunde Wir bedanken uns bei allen Förderern für die großzügige Unterstützung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Manuel Trummer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4990-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4990-5 https://doi.org/10.14361/9783839449905 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung Anja Decker und Manuel Trummer ......................................................... 9

Kapitel I Stadt, Land, Schluss? Konzeptionen und Imaginationen des Ländlichen Rurbane Assemblagen Vorschlag für eine übergreifende Untersuchung von alltäglichen Aushandlungen von Stadt und Land Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr ............................................. 23

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen Oliver Müller ............................................................................. 45

Problemregion oder ländliches Idyll? »Ländlichkeit« als lebensweltliche Kategorie junger Erwachsener aus Kainuu Lauri Turpeinen ........................................................................... 61

Wildwest-Romantik und Spitzentechnologie Die Inszenierung der US-amerikanischen Marke John Deere im Landwirtschafts-Simulator 19 Lena Möller .............................................................................. 79

Von schöpferischer Kraft und Stimmung Ein Versuch über die kaschubische Ländlichkeit Oliwia Murawska ......................................................................... 99

Kapitel II Arbeit, Mobilität und Wissen. Ressourcen und Teilhabe in ländlichen Settings Zwischen Mobilität und Immobilität Zur internationalen Dimension biographischer und ökonomischer Strategien von Landwirten und Saisonarbeitskräften Judith Schmidt.......................................................................... 125

Energieraum Land Technologische Innovation als Merkmal des ländlichen Raums am Beispiel der Energieproduktion durch Biogas Franziska Sperling ...................................................................... 135

Die Digitalisierung der Landwirtschaft Oder: Von Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten Daniel Best .............................................................................. 151

Stallbauproteste als Indikatoren eines kulturellen Anerkennungsverlustes konventioneller Landwirtschaft Barbara Wittmann....................................................................... 167

Alltag – Gesellschaft – Utopie Kulturelle Formationen solidarischen Landwirtschaftens Lars Winterberg ......................................................................... 185

»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht« Die Schließung von Kleinschulen in Landgemeinden Österreichs aus einer gabentheoretischen Perspektive Sigrid Kroismayr ........................................................................ 209

Kapitel III Lehren, Schreiben, Ausstellen – Anpacken. Akademische Praxen als doing rural »Zwischen Landlust und Landfrust« Aktuelle studentische Projekte über Imaginationen des Ländlichen Valeska Flor und Andrea Graf ............................................................ 225

»Licht aus – Spot an« Die Landdiskothek Zum Sonnenstein im Museumsdorf Cloppenburg Eike Lossin unter Mitarbeit von Victoria Biesterfeld und Michael Schimek ................. 243

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe Eine Mikrohistorie der Gärtnerei Blumen-Weidmann, 1919-2019 Carsten Sobik ........................................................................... 259

Die Wiederbelebung ländlicher Potenziale Urban Gardening geht aufs Land Elisabeth Meyer-Renschhausen .......................................................... 281

Mein Dorf im Buch Ehrenamtliches Engagement für Ortschroniken als Exempel für »doing Ländlichkeit«. Ein Beitrag mit autoethnografischen Elementen Christine Aka ........................................................................... 299

Resümee Stadt – Land – Schluss? Zusammenfassung und Resümee einer Tagung Silke Göttsch-Elten ...................................................................... 315

Autorinnen und Autoren........................................................... 323

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung Anja Decker und Manuel Trummer

Land und Ländlichkeit als Forschungsperspektiven: Eine Konjunktur mit Unbehagen Die Räumlichkeiten der Marburger Gaststätte Barrio Santo dürften selten voller gewesen sein als an diesem 21. Oktober 2017. Mit dem Ziel, innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. ein Forum zum Austausch rund um die Gegenstandsbereiche ›Ländliche Räume‹ und ›Ländlichkeiten‹ zu schaffen, sollte sich an diesem Tage eine neue Forschungskommission gründen. Als InitiatorInnen beabsichtigten wir, damit auf das unlängst wieder deutlich gestiegene Interesse an diesem klassischen Feld der europäisch-ethnologischen/kulturanthropologischen Forschung zu reagieren, das sich in den Jahren zuvor bereits in einer wachsenden Zahl von Abschlussarbeiten, Forschungsprojekten und Ausstellungen angedeutet hatte. Dabei hatten wir mit 20, optimistisch vielleicht auch mit 30, Teilnehmenden gerechnet. Dass sich an diesem Tage letztlich knapp 70 KollegInnen, noch dazu mit sehr unterschiedlichen Forschungsprofilen, versammelten und vielstimmig über das Selbstverständnis der entstehenden Kommission diskutierten, unterstrich die Konjunktur, aber auch die analytische Unschärfe der im Zentrum der Kommissionsarbeit stehenden Begriffe. Besonders die Suche nach dem künftigen Namen der Kommission legte ein grundsätzliches Unbehagen an der Kategorie des ›Ländlichen‹ offen und griff damit Debatten auf, die im Fach1 und innerhalb seiner Nachbardisziplinen2 schon früh geführt wurden. Es gelte, so der Tenor der Diskussion, einen in Hinblick auf StadtLand-Kontinuen und soziale Imaginationen offenen Namen zu finden, um essentialistische Vorstellungen einer ›ländlichen‹ Kultur im Sinne einer wie auch immer von den Städten abzugrenzenden, homogenen Lebenswelt nicht zu reproduzieren. Nur so könnte die Kommission der Heterogenität sozialer Realitäten in als ländlich 1 2

Vgl. Gerndt 1975, S. 31-46; Schwedt 1994, S. 27-34. Zur Kritik an der Kategorie des Ländlichen in der in der Geographie und der Landsoziologie vgl. Hoggart 1990, S. 245-257; Murdoch/Pratt 1993, S. 411-427; Halfacree 2006, S. 44-62.

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Anja Decker und Manuel Trummer

markierten Feldern gerecht werden. Mit deutlicher Mehrheit erwies sich schließlich die Kulturanalyse des Ländlichen als konsensfähige Bezeichnung. Diese sollte, so einigte man sich, vorerst als heuristische Kategorie verstanden werden, die es durch die künftige Kommissionsarbeit inhaltlich und semantisch zu konkretisieren galt. Basierend auf der nunmehr dreijährigen Tätigkeit der Kommission versteht sich dieses Buch als bewusst vielstimmiger Beitrag zu dieser Debatte um die fachspezifische Perspektive und Perspektivierung des Ländlichen. Zu Wort kommen Europäische EthnologInnen/KulturanthropologInnen, die aus ihren aktuellen Forschungsprozessen und -projekten heraus Einblicke in die Vielfalt der Felder bieten, in denen sich das ›Ländliche‹ manifestiert, es hergestellt und verhandelt wird. Ihre Beiträge machen Vorschläge dazu, welche theoretischen Rahmungen und analytischen Konzepte es ermöglichen, ›ländliche‹ Sachverhalte in ihrer Komplexität zu erschließen und bieten Anregungen, wie es mit den Methoden der genannten Disziplinen gelingen kann, das ›Ländliche‹ jenseits von Generalisierungen, Kausalitätsspekulationen und dichotomen Denkfiguren in seiner empirischen Vielfalt zu erfassen und zu beschreiben. In der Zusammenschau der diesem Band versammelten Beiträge entsteht damit ein breiter und zugleich zwingend unvollständiger Aufschlag zu einer europäisch-ethnologischen Positionsbestimmung in Bezug auf die Kulturanalyse des Ländlichen. Er versteht sich als Ausgangspunkt für vertiefende Diskussionen um Land/Ländlichkeit als Erkenntniskategorien und Problemfelder der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie – und damit auch eine Grundlage für die Arbeit der Kommission in den nächsten Jahren bieten möchte. Die Mehrzahl der Texte basiert auf Beiträgen zum Workshop Stadt, Land – Schluss? Das Ländliche als Erkenntnisrahmen für Kulturanalysen, der im September 2018 an der Universität Regensburg stattfand. Die Auftaktveranstaltung der Kommission zielte darauf ab, die (bis dahin mitunter eher vereinzelt an ihren Standorten) zum Thema arbeitenden KollegInnen niedrigschwellig zusammenzuführen, gemeinsame Potentiale zu erschließen und vor allem den Begriff des Ländlichen für historische und gegenwartsbezogene Kulturanalysen konzeptuell und methodisch zu schärfen. Um europäisch-ethnologische/kulturanthropologische Perspektiven auf ländliche Räume, Ressourcen und Imaginationen in möglichst großer Breite zu besprechen, haben wir dieses Buch ergänzt durch weitere Beiträge von aktuell zum Thema forschenden und lehrenden FachkollegInnen. Hierbei leitete uns auch der Wunsch, NachwuchswissenschaftlerInnen mit ihrer laufenden Forschung gleichberechtigt vertreten zu sehen; weiterhin sollte der museale Bereich, der im Fach seit Jahrzehnten zu ländlichen Lebenswelten forscht, Raum für Präsentationen bekommen, und drittens galt es, Offenheit in Bezug auf die Methodologie zu bewahren. Der Band folgt darin Leonore Scholze-

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung

Irrlitzʼ Plädoyer für einen multimethodischen Blick auf das Ländliche3 , der sowohl historische wie gegenwartsorientiert-empirische Perspektiven, teilnehmende Exploration wie Medienanalyse umfasst, und so die Komplexität der ländlichen Netzwerke und Imaginationen nicht unnötig einschränkt. Querstehend zur Vielfalt der hier versammelten methodischen Zugänge, theoretischen Konzepte und thematischen Felder scheinen uns drei Zusammenhänge prägend für die Beiträge. Wir wollen diese einführend gesondert herausgreifen und auch in Hinblick auf die weitere Schärfung der Konturen einer Kulturanalyse des Ländlichen einordnen.

Stadt, Land – Schluss? Konzeptionen und Imaginationen des Ländlichen Die neu entfachte Diskussion über die Positionierung des Fachs gegenüber den Begriffen Land/Ländlichkeit vollzieht sich zu einem Zeitpunkt, in dem ›ländliche‹ Themen und Debatten um den Zustand ›des‹ ländlichen Raums und die Befindlichkeiten ›der‹ ländlichen Bevölkerung (beide eben allzuoft im Singular) allgegenwärtig sind und Land/Ländlichkeit trotz aller empirischen Uneindeutigkeiten und Übergänge als Gegen- oder Kontrastkategorien zu nicht weniger normativen Konzepten wie Stadt/dem Städtischen fungieren. Auf die Popularität von als ›ländlich‹ konnotierten Lebensstil- und Konsumbricolagen und ihre Aktualisierung auf dem boomenden Markt der populären Medien mit seinen idyllischen Bildwelten und Landlust-Erzählungen wurde bereits in zahlreichen Beiträgen, auch unseres Fachs, hingewiesen.4 Auch die Wiederbelebung ›volkskulturell‹ apostrophierter Phänomene in Mode, Musik, Regionalentwicklung und Eventkultur und die Fülle von Bauernmärkten, Hoffesten und agrartouristischen Angeboten illustrieren diese Konjunktur. Demgegenüber stehen populäre mediale und politische Topen, wie »Dorfsterben«, »Wirtshaussterben«, »Bauernproteste« oder »demographischer Wandel« als Teil eines nicht minder sichtbaren Diskurstrangs, der ländliche Regionen narrativ und politisch zu Problemräumen erklärt. Diese nur exemplarische Auflistung populärer Wahrnehmungen, Kommodifizierungen und narrativer Verortungen des Ländlichen und des ländlichen Raums verdeutlicht eines: Land/Ländlichkeit bleiben als kulturelle Ordnungskategorien und Deutungsschemata wirkmächtig. Als historisch fundierte, gegenwartsorientierte Disziplin mit dem inhärenten Anspruch, soziokulturelle Prozesse sowohl kritisch zu hinterfragen als auch aktiv mitzugestalten, ergibt sich daraus für die Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie die aktuelle Dringlichkeit, diesen Dis-

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Vgl. Scholze-Irrlitz 2020, S. 215-226. Z. B. Braun 2012, S. 13-28; Cantauw 2008, S. 297-314; Göttsch-Elten 2018, S. 5-16; Trummer 2018b, S. 86-107.

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Anja Decker und Manuel Trummer

kurs mitzugestalten. Hierbei geht es, wie in den Foren der Kommissionstätigkeit bereits vielfach hingewiesen wurde5 , nicht darum, über Kriterienauflistungen, Definitionsversuche oder Abgrenzungen im Vorhinein festzuschreiben, was das Land ist. Vielmehr kann es der Beitrag unseres Faches sein, in sorgfältig situierten und historisch eingebetteten Settings und über offene, prozessorientierte und multidimensionale Analysemodelle, normative Konstruktionen von Land und Ländlichkeit zu re- und dekonstruieren und in ihrer Wirkmächtigkeit und Statik/Dynamik zu untersuchen. Damit rücken Fragen danach in den Fokus, wann und in welchen Kontexten mit welchen Interessen Land/Ländlichkeit gedacht, enacted oder auch in Abrede gestellt wird, wer die Definitionsmacht über das Ländliche besitzt und welche Erfahrungen und Deutungen dagegen marginalisiert werden. Relevant sind hierbei auch die Fragen, wie sich Land/Ländlichkeit als kulturelle Kategorien zu anderen Konstruktionen gesellschaftlicher und räumlicher Ordnung, wie etwa Wildnis, Natur, Stadt oder Landschaft, verhalten und wie sich diese Deutungsmodelle gegenseitig konstituieren. Offenheit für interdisziplinären Austausch und eine intensive Auseinandersetzung mit Debatten in anderen Segmenten der kulturanthropologischen Forschung, etwa der Urban Anthropology, den Multispecies Studies, der Anthropology of Energy und der Environmental Anthropology, erscheinen hier vielversprechend.6 Ein derartiger, relationaler Blick auf kulturelle Kategorien und räumliche Ordnungen öffnet den Gegenstandsbereich auch für intersektionale Perspektiven. Hier geht es um die Frage, wie sich soziale Kategorien wie etwa Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit und sozialer Status mit Raumvorstellungen und materiellen Gegebenheiten verschränken, wie sie sich gegenseitig konstituieren und so spezifische soziale Positionen und Erfahrungswelten hervorbringen.7 Mehrere Beiträge in diesem Buch bieten anregende Vorschläge für derartige konzeptuelle Rahmungen. Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr entwickeln als Einstieg in das Kapitel einen relationalen Ansatz zur kulturanthropologischen Untersuchung räumlicher Ordnungen. Nach kritischer Prüfung neuerer Raumkonzepte etwa zur Beschreibung von Übergängen und Mischformen von Stadt und Land, schlagen sie den Begriff der »rurbanen Assemblagen« vor. Raum als Miteinander rurbaner Assemblagen gedacht, ermögliche es, die dichotome Abgrenzung von Land und Stadt konzeptionell zu überwinden. Ihr Modell geht dabei deutlich über sozialkonstruktivistische Ansätze hinaus. Denn innerhalb rurbaner 5 6

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Z. B. Fenske/Hemme 2015; Fenske/Scholze-Irrlitz 2019, S. 38-43; Scholze-Irrlitz 2008, S. 7-13; Trummer 2018a, S. 187-212; siehe auch Göttschs facettenreiches Resümee in diesem Band. Hierbei ist vor allem auf die vom Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Universität Würzburg organisierte Tagung Ländliches vielfach! Leben und Wirtschaften in erweiterten sozialen Entitäten hinzuweisen, deren Publikation zum Zeitpunkt der Verfassung dieser thematischen Hinführung in Vorbereitung ist. Vgl. Decker 2019, S. 517-539; Donkersloot 2012, S. 578-599.

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung

Assemblagen vollziehe sich die Aushandlung von ›Land‹ und ›Stadt‹ über die Verschränkung von Diskursen, Praktiken und Materialitäten. Werden räumliche Ordnungen als Assemblagen gedacht, rückten Hierarchisierungen und Machtverteilungen in den Fokus und zudem ließe sich auch die gegenwärtig doch sehr scharfe innerdisziplinäre Trennung der Zuständigkeiten für rurale und urbane Kontexte überwinden. Mithilfe der Konzepte Placemaking und rurale Naturen fragt Oliver Müller nach der Bedeutung von Förderprojekten wie LEADER für lokale Territorialisierungspraxen. Auf der Grundlage einer empirischen Studie8 in einem nordrhein-westfälischen Dorf arbeitet er heraus, wie die partizipativen Bottom-up-Ansätze jüngerer Förderprogramme eine Auseinandersetzung der Bevölkerung mit materiellen Gegebenheiten an ihrem Wohnort aktivieren und Wissen mobilisieren. So treffen teils sehr unterschiedliche, bisweilen konfliktbehaftete Vorstellungen und Konzeptionen von ›Ländlichkeit‹, ›Dörflichkeit‹ und ›Natur‹ aufeinander und werden in ihrer Verwobenheit mit kulturalisierten Imaginationen des Ländlichen sichtbar. Lauri Turpeinen lenkt den Blick auf Vorstellungen von Ländlichkeit in Finnland. Er setzt sich mit den Mitteln der multisited ethnography und dem Konzept der rural others mit den Selbst- und Fremdverortungen junger Menschen auseinander, die in einer ländlichen Region im Osten des Landes aufgewachsen sind. Seinen InformantInnen und ihren Verortungen des Ländlichen zwischen Helsinki und ihrer Herkunftsregion folgend, kann er zeigen, wie in den Rahmungen von Ländlichkeit, zu denen sich diese narrativ und performativ positionieren und sie so mitgestalten, dichotome Vorstellungen des ländlichen Idylls und des ›düsteren Hinterlands‹ ambivalent ineinandergreifen. Während diese Zuschreibungen einerseits eine gewisse Allgemeingültigkeit für finnische und letztlich generell westliche Kontexte zu besitzen scheinen,9 so sind sie jedoch zugleich verbunden mit spezifischen, ebenfalls historisch geformten Verortungen der Herkunftsregion. Die sich hier aufspannende Frage nach den Beziehungen und der gegenseitigen Bedingung von ›ortsunabhängigen‹ und ›ortsgebundenen‹ Imaginationen von Ländlichkeit trägt auch die Beiträge von Oliwia Murawska und Lena Möller. Lena Möller beschreibt in einer kulturanalytischen Untersuchung des international vermarkteten Videospiels Landwirtschafts-Simulator 19, wie sich ikonische Elemente der US-amerikanischen Landschaft des 19. Jahrhunderts zu einer fiktiven Spiellandschaft zusammenfügen und in Beziehung zu Repräsentationen von neuester landwirtschaftlicher Technologie, Männlichkeit und einem kapitalistischen Arbeitsethos treten. In ihrem in der Kaschubei angesiedelten Beitrag entwickelt Oli-

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Der Beitrag steht in Zusammenhang mit dem bei Ove Sutter am Lehrstuhl für Kulturanthropologie der Universität Bonn verorteten DFG-Projekt »Partizipative Entwicklung ländlicher Regionen. Alltagskulturelle Aushandlungen des LEADER-Programms der Europäischen Union«. Vgl. Bell 2006, S. 149-160.

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wia Murawska ein Konzept der Stimmung als theoretischen Rahmen, mithilfe dessen es gelingen kann »die paradigmatische Annahme einer vom physischen Ort gelösten imaginierten Ländlichkeit selbst infrage zu stellen«10 . Sie zeigt dabei unter anderem den Anteil der Volkskunde im frühen 20. Jahrhundert an teilweise bis heute wirksamen populären Repräsentationen des Ländlichen.

Arbeit, Wissen, Mobilität? Ressourcen und Teilhabe in ländlichen Settings Meist eng verbunden mit einer Problematisierung von Imaginationen und Repräsentationen des Ländlichen, richten eine Reihe weiterer Texte ihren Blick auf Wirtschaftsweisen in Räumen und Kontexten, die als ländlich markiert sind. So unterschiedlich die Felder sind, denen sich die AutorInnen zuwenden – von Biogasanlagen über die Umnutzung von Schulgebäuden bis hin zur transnational organisierten Erntearbeit – so erscheint uns eine verbindende Perspektive markant. Denn ländliche Räume und Konfigurationen werden hier vor allem in Hinsicht auf die Verteilung, Nutzung und Hervorbringung von Ressourcen untersucht. Damit öffnet sich der Blick auf zentrale Problemfelder unseres Fachs. Denn Wertschöpfung und Versorgungsarbeiten in ländlichen Settings kritisch zu untersuchen, heißt, translokale und globale Verflechtungen und Mobilitäten herauszuarbeiten, sich mit Steuerungen und subjektiven Erfahrungen gesellschaftlicher Transformation und Reproduktion auseinanderzusetzen und ungleich verteilte Handlungsmächtigkeit und gesellschaftliche Hierarchisierungen sichtbar zu machen. In der Auseinandersetzung mit diesen Themen erscheint es uns besonders wichtig, Untersuchungen aktueller Lebenswelten in einen Dialog mit neueren Arbeiten der historischen Anthropologie und älteren Ethnographien über die Lebensgestaltung in konkreten ländlichen Räumen zu bringen.11 So lässt sich in Erinnerung rufen, dass ländliche Räume, niemals statische Entitäten waren, sondern stets auch Arenen darstellten, in denen sich gesellschaftlicher Wandel vollzog und soziale Konflikte ausgehandelt wurden. Entsprechend ermöglicht eine historische Perspektivierung, Vergleichsrahmen aufzuspannen, um die Spezifika aktueller Ressourcennutzung sichtbar zu machen, aber auch bleibende Logiken und Mechanismen zu identifizieren. In diesem Sinne stellt Judith Schmidt in diesem Band ihre Untersuchung gegenwärtiger translokaler »Arbeitsnetzwerke« in der Landwirtschaft auch bewusst

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Murawska in diesem Band. Bausinger/Braun/Schwedt 1959; Schwedt 1968; Jeggle 1977; Göttsch 1981; Göttsch 1991; Greverus 1982; Scholze-Irrlitz 2008.

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung

in kontextuellen Zusammenhang mit der tragenden Rolle, die polnische Saisonarbeiter in der deutschen Landwirtschaft am Ende des 19. Jahrhunderts spielten. Sie argumentiert, dass Arbeitskulturen in ländlichen Räumen nicht ohne translokale Perspektivierungen zu verstehen sind und zeigt auf, wie der Strukturwandel der Landwirtschaft mit Globalisierungen des Arbeitsmarkts und dem Wohlstandsgefälle innerhalb der Europäischen Union verwoben ist. LandwirtInnen und in ihren Betrieben tätige Saisonarbeitskräfte aus dem östlichen Europa navigieren in unterschiedlichen sozialen Positionen durch dieses in globale Produktionszusammenhänge eingebettete System und richten ihre Entscheidungen, ökonomischen Strategien und Lebensentwürfe ebenfalls global-multilokal aus. Die Texte von Daniel Best und Franziska Sperling zeigen an den Beispielen von Innovationen in der Biogastechnologie und Landwirtschaft, wie neue Technologien die ökonomischen Strategien von LandwirtInnen verändern und dabei zugleich Teilhabechancen neu verteilen und in Erfolgsnarrative und Selbstbilder hineinwirken. Unter Rückgriff auf Konzepte der Innovations- und Wissensforschung beschreibt Franziska Sperling, wie zwei Unternehmer den Einstieg in die Energieerzeugung als ein Spannungsfeld von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten erfahren, aus denen sich Möglichkeiten, aber auch Konflikte – etwa um Flächennutzung und den Schutz geistigen Eigentums – ergeben. Mit ihrem kulturanthropologischen Blick auf die Wissensproduktion im Energiesektor erörtert sie hierbei auch die narrative Verortung ihrer Informanten als »Biogaspioniere«. Deren Verweise auf die eigene Risikobereitschaft und ihre qua Herkunft geprägte Arbeitsmoral versteht sie als ›performative Selbstvergewisserung‹ innerhalb eines durch Unsicherheiten und rasche Transformationen geprägten Wirtschafsbereiches. Kontrastierend dazu kann der Landwirt, dessen ökonomische Strategien Daniel Best in seinen Text zur Digitalisierung der Landwirtschaft exemplarisch untersucht, nicht von der als ›Innovation‹ gerahmten Smart Farming Technologie profitieren. Best nutzt die Erfahrungen seines Informanten sowie weitere ethnographische Beobachtungen für Überlegungen zu Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten im Kontext des gegenwärtigen Landwirtschaftssystems. Auf- und Abwertungen landwirtschaftlicher Produktionsweisen stehen im Zentrum der Texte von Barbara Wittmann und Lars Winterberg. In Dialog gebracht verdeutlichen sie die Wirkmacht von Moralisierungstendenzen innerhalb landwirtschaftlicher Märkte. Barbara Wittmann untersucht, wie sich IntensivtierhalterInnen mit den Protesten gegen von ihnen geplante Stallbauten auseinandersetzen. Es entsteht eine eindrückliche Ethnographie über die Anerkennungsverluste einer AkteurInnengruppe, die den für Deutschland dominanten Modus landwirtschaftlicher Produktionsweise repräsentiert. In Kontrast hierzu wendet sich Lars Winterberg Initiativen der Solidarischen Landwirtschaft in agrarwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten zu. Diese nehmen zwar eine ökonomische Nischenposition ein, erscheinen aber zugleich aktuell besonders

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diskursmächtig. Winterberg sondiert den Forschungsstand und öffnet das Thema so in vielerlei Richtung für kritische kulturanthropologische Studien. Landwirtschaft und Flächennutzung bleiben, so verdeutlichen es diese oben umrissenen Beiträge, ein zentrales Feld der Wertschöpfung und Versorgungsarbeit, in dem Macht und Mitsprache ausgehandelt werden, die Erfahrung sozialer Ungleichheiten reflektiert wird und die Frage nach der Zukunftsfähigkeit und der Bedeutung der ländlichen Räume für die kulturelle, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung verhandelt wird. Eine Fokussierung auf das Spannungsfeld von Ressourcen und ländlichen Konfigurationen schließt dabei auch andere Kontexte der Versorgung ein. So untersucht Sigrid Kroismayr in ihrem Beitrag den Umgang von BürgermeisterInnen österreichischer Gemeinden mit Schulschließungen und dem darin inhärenten Konfliktpotential. Indem sie ihrem Beitrag eine gabentheoretische Perspektive zugrunde legt, kann sie zeigen, wie die unter Handlungsdruck geratenen lokalpolitischen AkteurInnen versuchen, Ausgleiche und Akzeptanten für den Verlust der Schule als einer wichtigen sozialen und kulturellen Ressource zu schaffen. Hierzu zählen etwa die Überführung der Gebäude in andere kommunale Nutzungen oder der Aufbau neuer translokaler Tauschbeziehungen und Rituale.

Schreiben, Lehren, Ausstellen – Anpacken. Akademische Praxen als doing rural Die Ambiguität ländlicher Imaginationen und die Multifunktionalität der ländlichen Räume, die zugleich – und immer anders – Wohnort und Gewerbegebiet sind, die als Raum für Erholung und Nutztierhaltung dienen, die Windenergie und Idyllen produzieren, die als Sehnsuchtsort und Krisengebiet erfahren werden, die als Projektionsfläche grüner Nachhaltigkeitsutopien und brauner Blut-und-BodenRetrotopien dienen, muss uns in ihrer Vielschichtigkeit herausfordern. In diesem Sinne unterzieht Silke Göttsch in ihrem abschließenden Resümee des Regensburger Workshops die Wahl von Themenfeldern in der aktuellen europäisch-ethnologischen Forschung nochmals einer kritischen Prüfung. Mit Blick auf die gegenwärtige Konjunktur von Forschungsfeldern, die um marginalisierte ökonomische Praxen kreisen12 , erinnert sie an die Notwendigkeit, sich über die Reflexion der eigenen Vorannahmen und Positionierungen eine Offenheit für Themen jenseits der eigenen Wohlfühlzone zu bewahren: »[…] unsere eigene Nähe zu manchen Forschungsfeldern sollte uns nicht zu vorschnellen Vorannahmen verführen, sondern im Gegenteil unser Reflexionsvermögen und unsere wissenschaftli12

Zur Debatte um die Wahl der Themenzuschnitte siehe auch Wittmann in diesem Band sowie Decker 2018, S. 213-236.

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung

che Neugier herausfordern«13 . Damit verbunden ist ihr Plädoyer dafür, sich den besonders verbreiteten, hegemonialen Organisationsformen landwirtschaftlicher Produktion ergebnisoffen und mit Blick auf ihre zentrale Versorgungsfunktion und globale Einbettung zuzuwenden. Einige der oben angesprochenen Beiträge zu diesem Band leisten in diesem Sinne wichtige Arbeit. In Hinblick auf Öffnungen und Erweiterungen der Felder und Formate kulturanthropologischer und europäisch-ethnologischer Beschäftigung mit ländlichen Räumen und Ländlichkeiten schließen sich weitere Herausforderungen an. Erstens sei hier unser Wirken im transnationalen Wissenschaftsraum angesprochen. Während Forschungsergebnisse zunehmend in internationalen Fachjournalen und Konferenzen präsentiert werden und die Texte dieses Bandes verdeutlichen, dass sehr stark auf Konzepte aus dem anglo-amerikanischen Wissenschaftsfeld zurückgegriffen wird, so wäre eine wesentlich stärkere Offenheit gegenüber Wissen wünschenswert, das in den universitären Umfeldern der globalen (Semi-)Peripherie entsteht. Zweitens geht es um Arenen des Austausches, die sich innerhalb von Kontaktzonen zwischen Wissenschaft und den Feldern des Aktivismus, Lehre und musealer Arbeit ergeben. Fünf Texte dieses Bandes beschreiben und reflektieren aus der Praxis heraus, wie das Thema Land/Ländlichkeit an diesen Schnittstellen verhandelt und hergestellt wird. Einmal stellen Valeska Flor und Andrea Graf anhand dreier Lernforschungsprojekte der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn dar, wie Studierende in Kooperation mit verschiedenen Kultureinrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland die Möglichkeit erhalten, sich mit zentralen Problemfeldern der Kulturanalyse des Ländlichen auseinanderzusetzen und die Ergebnisse ihres Lernforschungsprozesses in die Öffentlichkeit zu tragen. Anschließend geht es in zwei Beiträgen aus der musealen Arbeit um die Translozierung historischer Gebäude und ausstellungspraktische Möglichkeiten der Analyse ländlicher Gesellschaften über ihre Wohn-, Bau- und Freizeitkulturen. Begleitet von umfangreichem Bildmaterial führt zunächst Eike Lossin vor Augen, wie anhand der Biographie der Land-Disko Zum Sonnenstein künftig im Museumsdorf Cloppenburg die vergangenen Unterhaltungs- und Vergnügungskulturen einer ländlichen Region in Norddeutschland einem – hoffentlich – breiten Publikum alltagsnahe Einblicke in ein bis dato zu wenig belichtetes Forschungsfeld eröffnen. Gerade die erzählerischen Motive des »Wirtshaussterbens« und des »Kneipensterbens«, die oft die Schrumpfung ländlicher Freizeitangebote narrativ rahmen, erhalten hier eine wichtige und eindrückliche empirische Rückbindung. Carsten Sobik beschreibt die Mikrogeschichte eines Gärtnereigebäudes bis hin zu seiner Translozierung in das Freilichtmuseum Hessenpark. Als »erstes Translozierungs-Bauprojekt zur thematischen Erschließung der Zeit nach dem 13

Göttsch in diesem Band.

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Zweiten Weltkrieg«14 , dient es ebenfalls der Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Phasen des Wandels ländlicher Alltagswelten. Zugleich wird das Gebäude für die Zucht bedrohter Pflanzenarten genutzt und erfüllt so eine weitere wichtige Rolle in der museumspädagogischen Arbeit. Den Abschluss bilden zwei Beiträge, die zwei sehr unterschiedliche Konfigurationen engagierter Wissenschaft aus einer Innenperspektive heraus thematisieren. Elisabeth Meyer-Renschhausen skizziert zunächst die Entstehung der Gemeinschaftsgartenbewegung, an der sie selbst seit langem programmatisch, forschend und praktisch mitwirkt. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie sodann ihren Erfahrungen bei der Initiierung zweier Gemeinschaftsgärten im Naturpark Dübener Heide im Rahmen des durch öffentliche Mittel geförderten Projektes Urban Gardening geht aufs Land. Es entsteht so ein engagiert-persönlicher Einblick in die Praxis des projektzentrierten Aktivismus und dessen wissenschaftlicher Begleitung im hochaufgeladenen Feld der Kleinstlandwirtschaft. Christine Aka berichtet in ihrem von autoethnografischen Zugängen inspiriertem Text über ihre Mitwirkung an der Erstellung der Chronik ihres Herkunftsortes. Die gemeinsame Arbeit an der Chronik wird durch Akas schreibendes Wechselspiel zwischen Nähe und Distanzierung, Einwohnerschaft und Wissenschaft als eine Arena erfahrbar, in der ›Dorf‹ über Erinnerungen, Gespräche, soziale Rollenzuweisungen und ethnographisch-historisches Interesse hergestellt und ausgehandelt wird. Dem abschließenden Plädoyer für eine Kulturanalyse des Ländlichen, die sich mit offenem Blick nah am Menschen bewegt, möchten wir uns gerne anschließen. Eines der wichtigsten Desiderate, die sich aus der vielstimmigen Diskussion der Marburger Gründungssitzung an eine zukünftige Kommission zur Kulturanalyse des Ländlichen richteten, bestand darin, die starren theoretischen Kategorien Land/Ländlichkeit zunächst mit Inhalt zu füllen, indem die Vielfalt der europäischethnologischen/kulturanthropologischen Zugänge sowie der laufenden Forschung dokumentiert werden. Wir, die HerausgeberInnen, hoffen mit diesem Band dazu einen Beitrag zu leisten.

Literaturverzeichnis Bausinger, Hermann/Braun, Markus/Schwedt, Herbert: Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts, Tübingen; Stuttgart 1959.

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Sobik in diesem Band.

Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. Eine thematische Hinführung

Bell, David: Variations on the rural idyll. In: Cloke, Paul J./Marsden, Terry/Mooney, Patrick H. (Hg.): Handbook of rural studies, London/Thousand Oaks 2006, S. 149-160. Braun, Annegret: Lust aufs Land? Die mediale Inszenierung des Landlebens. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2015, S. 13-28. Cantauw, Christiane: Landlust. Von der Lust aufs Land und ihren Visualisierungen. In: Westfälische Forschungen 58 (2008), S. 297-314. Decker, Anja: The Ambiguous Experience of Motherhood in the Western Bohemian Countryside: Exploring Rural Gender Inequalities Through the Framework of Precarity. In: Sociologia Ruralis 59 (2019), S. 517-539. Decker, Anja: Eine Tiefkühltruhe voller Fleisch. Selbstversorgerlandwirtschaft im Kontext sozialer Ungleichheit. In: Zeitschrift für Volkskunde 114,2 (2018), S. 213236. Donkersloot, Rachel: Gendered and generational experiences of place and power in the rural Irish landscape. Gender, Place & Culture 19,5 (2011), S. 578-599. Egger, Simone: »Volkskultur« in der spätmodernen Welt. Das Bayerische als ethnokulturelles Dispositiv. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 27 (2016), S. 119-147. Eggmann, Sabine/Oehme-Jüngling, Karoline (Hg.): Doing Society. »Volkskultur« als gesellschaftliche Selbstverständigung. Basel 2013, S. 9-26. Fenske, Michaela/Hemme, Dorothee: Ländlichkeiten in Niedersachsen. Kulturanthropologische Perspektiven auf die Zeit nach 1945 (= Göttinger kulturwissenschaftliche Studien 11). Göttingen 2015. Fenske, Michaela/Scholze-Irrlitz, Leonore: Europäische Ethnologie/Volkskunde; in: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2019, S. 38-43. Gerndt, Helge: Städtisches und ländliches Leben. Beschreibungsversuch eines Problems. In: Kaufmann, Gerhard (Hg.): Stadt-Land-Beziehungen. Verhandlungen des 19. Deutschen Volkskundekongresses in Hamburg vom 1. bis 7. Oktober 1973. Göttingen 1975, S. 31-46. Göttsch-Elten, Silke: »Der Bauernhof ist der ideale Ort, um Menschen emotional zu berühren…«. Vermarktungsstrategien von Ländlichkeit in der Spätmoderne. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 50 (2018), S. 5-16. Göttsch, Silke: »Alle für einen Mann…«. Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert (= Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holstein 24). Neumünster 1991. Göttsch, Silke: Stapelholmer Volkskultur. Aufschlüsse aus archivalischen Quellen (= Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holstein 8). Neumünster 1981. Greverus, Ina-Maria u.a.: Das hessische Dorf. Frankfurt a.M. 1982.

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Anja Decker und Manuel Trummer

Halfacree, Keith: Rural space: constructing a three-fold architecture. In: Cloke, Paul J./Marsden, Terry/Mooney, Patrick (Hg.): The Handbook of Rural Studies. London/Thousand Oaks 2006, S. 44-62. Hoggart, Keith: Let’s do away with the rural. In: Journal of Rural Studies 6 (1990), S. 245-257. Jeggle, Utz: Kiebingen – eine Heimatgeschichte. Zum Prozess der Zivilisation in einem schwäbischen Dorf; Tübingen 1977. Murdoch, Jonathan/Pratt, Andy C.: Comment: Rural Studies: Modernism, Postmodernism and the »Post-rural«. In: Journal of Rural Studies 9,4 (1993), S. 411427. Schmidt-Lauber, Brigitta/Wietschorke, Jens: ›Volkskultur 2.0‹. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 27,2 (2016). Scholze-Irrlitz, Leonore: Paradigma „Ländliche Gesellschaft“. Ethnografische Skizzen zur Wissensgeschichte bis ins 21. Jahrhundert. Münster u.a. 2020. Scholze-Irrlitz, Leonore: Perspektive ländlicher Raum. In: Scholze-Irrlitz, Leonore (Hg.): Perspektive ländlicher Raum. Leben in Wallmow/Uckermark (= Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Sonderheft 45). Münster 2008, S. 7-13. Scholze-Irrlitz, Leonore (Hg.): Perspektive ländlicher Raum. Leben in Wallmow/Uckermark (= Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Sonderheft 45). Münster 2008. Schwedt, Herbert: Auf dem Lande leben. Die vier unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen von »Land« heute (= Studien zur Volkskultur in RheinlandPfalz 17). In: Schwedt, Herbert: Probleme ländlicher Kultur. Gesammelte Aufsätze. Mainz 1994, S. 27-34. Schwedt, Herbert: Kulturstile kleiner Gemeinden. Tübingen 1968. Trummer, Manuel: Das Land und die Ländlichkeit. Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. In: Zeitschrift für Volkskunde 114,2 (2018a), S. 187-212. Trummer, Manuel: Making Bavaria. Zur visuellen Governance des Ländlichen am Beispiel des BR Fernsehen. In: Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raums 15 (2018b), S. 86-107.

Kapitel I Stadt, Land, Schluss? Konzeptionen und Imaginationen des Ländlichen

Rurbane Assemblagen Vorschlag für eine übergreifende Untersuchung von alltäglichen Aushandlungen von Stadt und Land Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr

Der vorliegende Text und dessen Perspektive einer relationalen Rurbanitätsforschung stellen einen Versuch dar, der oft getrennt agierenden, interdisziplinären Stadt- oder Landforschung Impulse für eine übergreifende Perspektive auf Stadt und Land als relationalen Komplex zu geben, die Alternativen zu dichotomen Konzeptionen und Ontologisierungen eröffnet. Stadt und Land stellen zentrale gesellschaftliche Ordnungskategorien der Moderne dar, die in gegenwärtigen Transformationsprozessen in Bewegung geraten. Wahlergebnisse der letzten Jahre haben konträre politische Trends ländlicher und städtischer Bevölkerungsteile in den Blick gebracht und zeigen gesellschaftliche Brüche und Spannungen entlang räumlich differenter Kontexte. Stadt-Land-Unterschiede nehmen keineswegs nur zu, wie Tendenzen zur Counterurbanisierung, Stadt-Land-Hybride wie Metropolregionen und Zwischenstädte zeigen. Zugleich gibt es etwa im Bereich der Raumplanung eine generelle Verschiebung des Urbanen und Ruralen, man denke etwa an die Stadt und Land übergreifenden planerischen und gesellschaftlichen Leitbilder von Gemeinschaftlichkeit, Nachbarschaftlichkeit oder Naturnähe. Diese Verschiebungen am Beginn des 21. Jahrhunderts belegen die Dringlichkeit einer systematischen und übergreifenden Beschäftigung mit den Kategorien Stadt und Land und deren Wirkmächtigkeit.1

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Die Konzeption einer übergreifenden, relationalen Stadt-Land-Forschung ist von Erkenntnissen und Konzepten des von 2011 bis 2016 unter der Leitung von Brigitta Schmidt-Lauber und unter der Mitarbeit von Georg Wolfmayr am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien durchgeführten Forschungsprojekts Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim inspiriert. Vgl. Eckert/Schmidt-Lauber/Wolfmayr 2020; Dies. 2014, S. 3-27.

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Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr

Perspektiven auf Stadt und Land Um übergreifend Stadt und Land in den Blick zu nehmen, gilt es, drei in der gegenwärtigen Stadt-Land-Forschung dominante Perspektiven zu verknüpfen und zu erweitern: (1) die Annahme einer Nivellierung von Stadt-Land-Unterschieden, (2) die Betonung dieser Unterschiede und (3) die Aufmerksamkeit für hybride Formen zwischen Stadt und Land. Verschiedentlich wird seit den 1970er-Jahren eine Nivellierung der Unterschiede zwischen Stadt und Land (1) attestiert. Dabei wird insbesondere mit einer Verbreitung ursprünglich städtischer Infrastrukturen und urbaner Lebensweisen seit den 1950er-Jahren auch auf das Land in Form einer ubiquitären Urbanität und durchgehenden Urbanisierung argumentiert.2 Diese Nivellierung sei Resultat von Agrar-, Verkehrs-, Kommunikations- und Lebensstilumbrüchen sowie einer Entbäuerlichung des ländlichen Raums in der postagrarischen Situation.3 Weitere Gründe seien Suburbanisierungsprozesse sowie die Entstehung riesiger Stadtregionen, die Übernahme urbaner Funktionen im ländlichen Raum – etwa auch von Bildungsinstitutionen in peripheren Lagen4 – oder das Ende wilder Räume.5 Zugleich habe die (nationale und globale) Urbanisierung den Effekt, dass zunehmend mehr Menschen in Städten leben, wodurch generell eine Angleichung von Lebensumwelten stattfinde – immer mehr Menschen teilen eine städtische Umgebung. Begleitet wurde diese Nivellierung von einer gesellschaftlichen Orientierung und der Ausrichtung kultureller Praktiken an der Großstadt als Norm.6 So setzte sich etwa in homosexuellen Zeitschriften ab den 1970er-Jahren ein durchwegs positives Bild der Großstadt als Ort der Emanzipation durch, nachdem zuvor Stadt und Land gleichermaßen als anerkannte Lebensorte galten.7 Ein Rollenwechsel der Stadt vom Gegenpol zum Maßstab ist auch für Fragen der Schulbildung zu beobachten.8 Mitunter wird aus dieser Perspektive der Nivellierung die Sinnhaftigkeit von Kategorien wie Stadt und Land respektive urban und rural in Frage gestellt oder ihre ge-

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Vgl. Häußermann/Siebel 1978, S. 484-500; Siebel 1987, S. 9-13; Amin/Thrift 2002, S. 1; Dirksmeier 2009; Zimmermann 2015, S. 55-68; Kraft/Aichinger/Zhang 2016; auch schon die Darmstadt-Studien der 1950er-Jahre untersuchten die »Verstädterung des Landes«, siehe hierzu Kersting 2015, S. 35-54; bereits Louis Wirth sah die Möglichkeit einer Verbreitung von Urbanität auch im ländlichen Raum und eine damit verbundene Nivellierung: Wirth 1938, S. 1-24. Vgl. Lacour/Puissant 2007, S. 731; Andersson 2009, S. 1-21; Lenger 2009, S. 15-29; Redepennig 2009, S. 46-56. Vgl. Hülz/Trautmann/Wiegand 2016, S. 237-252. Vgl. Brenner/Schmid 2011; Zimmermann 2015, S. 62. Vgl. Kühn 2019; Beetz 2013, S. 57. Vgl. Gammerl 2015, S. 160. Vgl. Langthaler/Schwarz 2015, S. 257-288.

Rurbane Assemblagen

ringe Relevanz konstatiert9 , weil der Forschungsgegenstand verschwunden sei.10 An dieser Annahme einer Nivellierung wird zunehmend kritisiert, dass kultureller Transfer ausschließlich als Einbahn von der Metropole in die Provinz und die nicht-Stadt als defizitär verstanden wird.11 Neben dieser Kritik am Metrozentrismus der Forschung wurde auch darauf hingewiesen, dass der Urbanisierung ein gegenlaufender Prozess der Ausbreitung ruraler Lebensweisen in die Städte entgegensteht.12 Vielfach gehen AutorInnen aber weiterhin von einem Unterschied zwischen Stadt und Land (2) aus.13 Diese Perspektive rekurriert auf die Stadtforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa auf Arbeiten von Georg Simmel und Louis Wirth, welche eine Polarität von Stadt und Land betonten und der Stadt eine eigene Mentalität zuschrieben14 – ein Ansatz, den wir als klassische Urbanitätsforschung beschrieben haben.15 Wie und auf welchen Ebenen sich Stadt und Land nun gegenwärtig unterscheiden, ist aber unklar, so betont etwa Zimmermann trotz einer grundsätzlichen Unterschiedlichkeit von Stadt und Land die Schwierigkeit, Unterschiede zu definieren.16 Die SoziologInnen Gunnar Otte und Nina Baur haben räumliche Variationen der Lebensführung in unterschiedlichen Gemeindegrößenklassen untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Präsenz unterschiedlicher Milieus und Lebensstile bestehen.17 Auf symbolischer Ebene wurde von verschiedener Seite die Verfestigung und das Wiedererstarken klassischer Bilder von Stadt und Land beschrieben, etwa ein neuer Bezug auf Bilder und Narrative der Großstadtkritik des 19. Jahrhunderts, in welcher die Stadt als Hort des Schmutzes, der Kriminalität und der Entfremdung erscheint.18 Zugleich wurden eine Zunahme medialer Bilder einer ruralen Idylle und ein neues Interesse an Landbildern und -geschichten festgestellt.19

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Siehe schon Bahrdt 1969; Urry 1984, S. 45-65; Hoggart 1990, S. 245-257; Halfacree 2009a, S. 449-450; Brenner/Schmid 2011; zur im Vergleich zu sozialstrukturellen Kategorien geringen Aussagekraft der Kategorien Stadt und Land siehe bereits Pahl 1966, S. 299-327. Vgl. Beetz 2015, S. 75. Vgl. Gammerl 2015, S. 157; vgl. Schmidt-Lauber/Wolfmayr 2016a und b; Eckert/SchmidtLauber/Wolfmayr 2020. Vgl. Redepennig 2017. Vgl. Löw 2008, S. 32-40; Otte/Baur 2008, S. 93; Zimmermann 2015, S. 56. Vgl. Fischer 1975, S. 1319-1341; Halfacree 2009b, S. 119; Zimmermann 2015, S. 55; Kress 2016, S. 320. Vgl. Schmidt-Lauber 2010, S. 11-36; Schmidt-Lauber/Wolfmayr 2016a und b; Wolfmayr 2019; vgl. Eckert/Schmidt-Lauber/Wolfmayr 2020. Beispielhaft sind hierfür die grafischen Stadtmodelle der Chicago School mit klar räumlich getrennten Zonen. Vgl. Zimmermann 2015, S. 57. Vgl. Otte/Baur 2008. Vgl. Rolshoven 2010, S. 129-134. Vgl. Scheidegger 2009, S. 193-220; Braun 2012, S. 13-27; Fenske/Hemme 2015, S. 9-20.

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Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr

Darüber hinaus sind in den letzten Jahren insbesondere neue politische Positionierungen, die Stadt und Land verhandeln, zu beobachten. Dies zeigen sowohl Wahlen in unterschiedlichen Ländern (Entscheidung der britischen Bevölkerung für den Brexit, US-Präsidentenwahl, österreichische Bundespräsidentenwahl, französische Präsidentenwahl) als auch Debatten um den ›richtigen Lebensort‹, welche in der Kritik am konservativen, aber authentischen Land und der emanzipatorischen, aber künstlichen Stadt zu erkennen sind, wie etwa in den Diskussionen rund um einen queeren Anti-Urbanismus und eine critical rusticity.20 Mitunter werden Unterschiede zwischen Stadt und Land aber nur in Form von Repräsentationen festgestellt, während materielle Unterschiede nicht mehr erkennbar seien.21 Bestehende fixe Bilder erscheinen demnach zunehmend als Karikaturen und Ausdruck eines Bestehens auf ›reinen‹ Kategorien22 sowie einer Inkongruenz von sozialstrukturell-materiellen Transformationen und gesellschaftlichen Semantiken23 . In systematisch zwischen Stadt und Land unterscheidenden Ansätzen etwa der Raumplanung wird dabei vor allem von den drei Indikatoren Bevölkerungsdichte, Zentralität und Bevölkerungsgröße ausgegangen und darüber entschieden, welche Räume als ländlich oder städtisch gelten, etwa in den Kategorisierungen der OECD (Bevölkerungsdichte unter 150 EinwohnerInnen je km2 gilt als ländlich), in der neueren Definition von Eurostat (Bevölkerungsdichte unter 300 EinwohnerInnen je km2 gilt als ländlich)24 oder in den Raumtypisierungen des deutschen Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (Gemeinden innerhalb eines Gemeindeverbandes oder Gemeinden selbst unter 5.000 EinwohnerInnen und ohne grundzentrale Funktion gelten als Landgemeinden). Auch die Urban-Rural-Typologie der Statistik Austria orientiert sich an solchen strukturellen Merkmalen, ergänzt diese jedoch um funktionale, wie Pendlerströme, Infrastrukturausstattung und Nähe zu urbanen Zentren.25 Solche räumlichen Unterscheidungen sind meist rein quantitativ und statisch und sagen wenig darüber aus, was Stadt und Land im 21. Jahrhundert ausmacht und bedeutet.26 In den letzten Jahren sind zudem insbesondere verschiedene Mischformen zwischen Stadt und Land (3) im Sinne neuer Raumtypen in das Zentrum der Stadt-LandForschung getreten. Dabei konzipierten AutorInnen verschiedene – heute mit einer unübersichtlichen Fülle von Begriffen benannte – Ausformungen von Zwischenräumen: die Zwischenstadt (auch »Siedlungsteppich« oder »urban sprawl«)27 ,

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Vgl. Herring 2010. Vgl. Halfacree 2012, S. 389-390. Vgl. Lacour/Puissant 2007, S. 729-730. Vgl. Redepenning 2009, S. 55. Vgl. Eurostat 2010, S. 240-253. Vgl. Statistik Austria 2020. Vgl. Trummer 2015, S. 123-148. Vgl. Sieverts 1997; Pollak/Moritz 2017.

Rurbane Assemblagen

die »città diffusa«28 bzw. die »ciudad dispersa«29 , Suburbia30 , »modulare Landschaft« oder »Raummodule«31 , »urbane Landschaften« oder »Stadtlandhybride«32 wie auch die »Stadtlandschaft«.33 Auch diese neuen Hybride werden mitunter als Orte der Auflösung des Unterschieds von Stadt und Land verstanden, etwa im Konzept der re-urbanity und der rural metropolitanisation34 . Zwar sind hybride Formen zwischen Stadt und Land eine Möglichkeit, übergreifend Stadt und Land gleichermaßen in den Blick zu nehmen, sie stellen aber zugleich eine konzeptionelle Sackgasse dar, insofern sie weiterhin von der Idee reiner und dichotomer Entitäten von Stadt und Land jenseits dieser Hybride ausgehen. Im Unterschied zu einem solchen Verständnis von Hybridität oder von Stadt und Land als klar getrennten Lebensbereichen, aber auch zur Annahme einer vollständigen Auflösung des Gegensatzes Stadt und Land ist unser Vorschlag, rurbane Assemblagen im Sinne von verschiedenen fortwährenden Bezugnahmen in das Zentrum kulturwissenschaftlicher Stadt-Land-Forschung zu stellen. Damit bezwecken wir allerdings nicht die Festschreibung eines neuen Typus gesellschaftlichen Lebens, sondern eine neue analytische Perspektive auf Stadt und Land.

Rurbane Assemblagen Die analytische Tragfähigkeit der Kategorien Stadt und Land ist heute also umstritten. Dennoch steht außer Frage, dass sie wirkmächtige, emotional, politisch und normativ besetzte Begriffe sind, die eine lange Bewertungsgeschichte aufweisen und gesellschaftlich fest verankert sind.35 Statt von der Nivellierung einerseits und der Betonung der Unterschiede von als starr und klar getrennt verstandenen Raumkategorien andererseits auszugehen oder hybride Räume (bei gleichzeitiger Annahme »reiner« Räume jenseits dieser) zu definieren, suchen wir eine alternative Konzeptualisierung von Stadt und Land, welche den Lebensrealitäten und der Vielfalt räumlicher Konstellationen im 21. Jahrhundert gerechter wird.36 Wir

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Vgl. Indovina 1990. Vgl. Monclús 1998. Vgl. Zimmermann 2015. Vgl. Ipsen 2006. Vgl. Kühne 2012. Vgl. Kurath 2011; Heiler 2013. Vgl. Lacour/Puissant 2007, S. 738. Vgl. Andersson u. a 2009, S. 2; Beetz 2015, S. 71; Kersting 2015, S. 42. Ein viel beachteter Ansatz der letzten Jahre ist in dieser Hinsicht jener der planetary urbanization, welcher davon ausgeht, dass neue räumliche Ungleichheiten nicht mehr mit den Differenzierungen in urban und rural verstanden werden können (vgl. Brenner/Schmid 2015, S. 152). Vielmehr versuchen AutorInnen wie Neil Brenner und Christian Schmid Stadt und Land gleichermaßen von einem übergeordneten Prozess der Urbanisierung geprägt zu ver-

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Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr

schlagen dem folgend, die Untersuchung von rurbanen Assemblagen vor. Der Begriff der Rurbanität, welcher mit dem Geographen Redepenning empirische Phänomene der Vermischung von Stadt und Land beschreibt37 , wenden wir analytisch an und verwenden ihn als generelle Heuristik: Stadt und Land werden von uns als stets vermischt, aufeinander bezogen und in Relationen zueinanderstehend verstanden. Rurbane Assemblagen verstehen wir analog zum etablierten urban assemblages-Ansatz »as a multiplicity of processes of becoming«38 . Zu fragen ist demnach, auf welche Weise etwa in Regionalmarketingbüros, auf dörflichen Marktplätzen, in ländlichen Einkaufszentren, auf Wanderwegen oder in Redaktionen von Landmagazinen, aber auch in städtischen Wochenmärkten, Volkskundemuseen, Parkanlagen und Gartensiedlungen, U-Bahnstationen, über Stadtplanungsmaßnahmen, in »Kreativvierteln« oder Großwohnsiedlungen Praktiken, Diskurse und Materialitäten zu beobachten sind, die ›Land‹ und ›Stadt‹ imaginier- und erfahrbar machen. Wann dagegen gelingt dies nicht oder wird angefochten? Und welche Relationen gibt es jeweils zwischen den Räumen? Zudem stellt sich die Machtfrage innerhalb dieser Assemblagen: Wie sind die rurbanen Assemblagen hierarchisiert, welche ungleichen Machtverteilungen lassen sich feststellen, welche unterschiedlichen Kapitalien, wie Ressourcen und Wissen, werden ins Spiel gebracht39 , wie ist der soziale Raum also in den physischen eingeschrieben?40 Der Ansatz rurbaner Assemblagen konzipiert Stadt und Land damit weder als getrennte Bereiche – etwa im Sinne von Stadt als modern und kapitalistisch und Land als vormodern und nicht-kapitalistisch – noch als nivelliert, sondern interessiert sich mit Latour gesprochen für die andauernde »Reinigungsarbeit« und den »Vermischungsprozess«41 zwischen diesen. Wir verstehen Stadt und Land Clemens Zimmermann und Franz-Werner Kersting folgend als nicht-substantialistisch.42

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stehen. Urbanisierung liege demnach quer zur urban/rural-Trennung und löse diese ab (vgl. Brenner 2017, S. 197). Zugleich geht der Ansatz der planetary urbanization aber nicht von einer Nivellierung der Unterschiede zwischen metropolitanen Zentren und anderen Zonen, etwa mit niedrigen EinwohnerInnenzahlen oder schlechten Verbindungen/Infrastrukturen, aus (Brenner/Schmid 2015, S. 174). Städte stellen jedoch nur eine Form der Urbanisierung in größeren Prozessen sozialräumlicher Veränderung dar (Brenner 2017, S. 197). Aus Perspektive des hier vorgeschlagenen Ansatzes erscheint die Herangehensweise der planetary urbanization – wenn auch als übergreifende Konzeption innovativ – als ökonomistisch und damit letztlich für eine Analyse, welche die Mehrdimensionalität der alltäglichen Aushandlungen von Stadt und Land in den Blick nehmen will, nicht brauchbar. Vgl. Redepenning 2017. Farías/Bender 2010, S. 2. Vgl. McFarlane 2011, S. 664. Vgl. Bourdieu 1991, S. 25-34; Ders. 1997, S. 159-167. Vgl. Latour 1995, S. 20. Vgl. Zimmermann 2015, S. 55-56; siehe dazu auch Murdoch/Pratt 1993, S. 411-427; Halfacree 2006, S. 44-62; Redepenning 2017.

Rurbane Assemblagen

Urban und rural sind kontingent – was der konkrete Inhalt beider Begriffe ist, gilt es zu erforschen, statt vorab festzulegen. Neuere Studien zeigen die Unterschiedlichkeit der Aushandlung von Stadt und Land in verschiedenen Feldern wie etwa in der musikalischen Praxis43 , der Homosexuellenszene44 oder in der Bildung45 . Auch urbanste Räume – Berlin wurde etwa als absolute Stadt in städtischer Reinform beschrieben46 – sind nicht ohne die Kontrastfolie Land denkbar und nicht durchgängig urban, sondern durch vielfältige Verknüpfungen mit anderen Räumen verbunden. Damit kommen Praktiken in den Blick, die entweder Stadt und Land verbinden oder polarisieren47 und Reinigungsarbeit vollziehen.48 Ziel ist nicht, die Typologie städtischer und ländlicher Räume zu differenzieren, sondern Verweissysteme, Bezugnahmen und Praktiken in unterschiedlichen Konstellationen in den Blick zu bekommen. Wie der Soziologe Stephan Beetz feststellt, ist die Frage nach der Relevanz der Unterscheidung von Stadt und Land nicht grundsätzlich zu stellen, sondern empirisch zu verfolgen.49 Ein solcher Ansatz interessiert sich für Verschiebungen im Verhältnis der beiden Kategorien und für Zirkulationen zwischen Stadt und Land, für die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Entwicklungsrichtungen und differenzierter Aufrechterhaltung oder Auflösung des Unterschieds, etwa für unterschiedliche, sich mitunter widersprechende Mobilitäten im Sinne von Pendeln oder Umziehen im Rahmen von Urbanisierung, Suburbanisierung, Counterurbanisierung und Ruralisierung. Lebenswelten und -stile lassen sich nur schwer in ländliche und städtische trennen, sondern sind oftmals – im Tages- und Lebensverlauf – heterogen geprägt, etwa in Form einer Stadt-Land-Multilokalität, Pendelbewegungen oder temporären Aufenthalten in bestimmten Lebensphasen oder auch im Rahmen von Institutionen wie der Sommerfrische.50 Diese Vielschichtigkeit der Reinigungs- und Vermischungsprozesse zeigt sich in der Mehrdimensionalität rurbaner Assemblagen als Zusammenhänge von sozialen Praktiken, Diskursen und Materialitäten. Damit kommt jenseits quantitativer oder numerischer Bestimmungen wie Dichtewerte oder Zentralität in den Blick, was Stadt und Land aus der Perspektive verschiedener AkteurInnen – unterschiedlicher Milieus und Geschlechter, unterschiedlichen Alters etc. – bedeutet51 , also Stadt und 43 44 45 46 47 48 49 50

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Vgl. Mahlerwein 2015, S. 113-135. Vgl. Gammerl 2015. Vgl. Langthaler/Schwarz 2015. Vgl. Lindner 2016. Vgl. Beetz 2015, S. 77. Vgl. Redepenning 2009. Vgl. Beetz 2015, S. 80. Mit dem Typus des »urbanen Ländlichen« wird mitunter gar ein neuer ländlicher Lebensstil in der Stadt diagnostiziert. Vgl. Urbain 2002; Cloke 2006, S. 18; Halfacree 2009b, S. 120; siehe hierzu auch die Arbeiten von Robert Redfield in den 1930er und 1940er-Jahren; Halfacree 2012, S. 394; Langner 2016, S. 41-46; vgl. Redepennig 2017. Vgl. Beetz 2015, S. 75; Trummer 2018, S. 198.

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Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr

Land als (intersektionale) Erfahrungskategorien52 und damit ihre Nutzung, Wahrnehmung und Bewertung.53 Im Zentrum eines solchen Ansatzes stehen somit (1) Symbolische Aushandlungen und die Frage, was wann, wo und von wem unter Stadt und Land verstanden wird. Welche Konzepte haben AkteurInnen von diesen beiden Begriffen? Mit welchen Bildern und Narrativen wird auf Stadt und Land Bezug genommen? Welche Imaginationen des Ländlichen und des Städtischen gibt es in konkreten Feldern? Wie werden bestimmte Zuschreibungen – auch Taxonomien, Klassifizierungen und Kategorisierungen54 – an bestimmte Verhaltensweisen in bestimmten materiellen Settings gebunden? Welches Selbstverständnis haben AkteurInnen? Sodann interessieren (2) Urbanität und Ruralität als soziale Praktiken und enactments – auch unabhängig von ihren materiellen Settings.55 Leitende Fragen sind hier, welche Praktiken als städtisch oder ländlich erscheinen. Wie wird über Praktiken Stadt und Land hergestellt? Wie werden also Stadt und Land enacted? Schließlich gilt es, Stadt und Land als (3) Materialitäten nicht aus dem Blick zu verlieren. Wie auch die Kategorien öffentlich und privat haben Stadt und Land trotz ihrer grundsätzlichen Bedeutungsflexibilität für Jahrhunderte die strukturelle Organisation unserer Gesellschaft geprägt und sich etwa in getrennten Räumen materialisiert, welche wiederum als Bestätigung der Denkkategorien dienen, auf welchen diese Trennung basiert.56 Im Unterschied zu einer in sozial-konstruktivistischen Positionen oft einseitigen Konzentration auf Repräsentationen, etwa in Form von Diskursen, beispielsweise Erzählungen oder Bilder57 , und einem Verständnis von Stadt und Land als primär diskursiven Effekten58 , interessiert sich der Ansatz rurbaner Assemblagen für die mitunter inkonsistenten Zusammenhänge von materiellen Settings, sozialen Praktiken und diskursiven Zuschreibungen59 . Dies eröffnet die Frage, welche Materialitäten heute mit den beiden Kategorien Stadt und Land kontingent verbunden sind bzw. werden. Welche Materialitäten werden also in Aushandlungen in Stellung gebracht und welche nicht? Auf welche beziehen sich AkteurInnen? In

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Auch die »Darmstadt-Studien« fokussierten bereits auf die Erfahrungen der Menschen selbst (siehe Kersting 2015). Vgl. Beetz 2015, S. 77; Vgl. Gammerl 2015, S. 174. Vgl. Halfacree 2012, S. 389. Vgl. Beetz 2015, S. 75; für den urbanen Habitus als mögliche soziale Form auch am Land siehe Dirksmeier 2009; auch Louis Wirth konzeptualisierte eine mögliche Trennung von Stadt und Urbanität, siehe Wirth 1938, S. 3; siehe hierzu auch den Begriff der Post-Ruralität als losgelöst von einem materiellen Referenten, vgl. Halfacree 2009a, S. 453; vgl. Murdoch/Pratt 1993. Vgl. Sayer 1984, S. 33. Vgl. Helbrecht 2014, S. 175. Vgl. Beetz 2013, S. 58; Halfacree 2012, S. 389-392; in Bezug auf den ländlichen Raum auch als armchair countryside bezeichnet, vgl. Bunce 1994, S. 34. Vgl. Cloke 2006, S. 24; Halfacree 2006; Halfacree 2009a; siehe dazu auch das kulturanalytische Quadrat nach Reckwitz 2010, S. 179-205.

Rurbane Assemblagen

welchen materiellen Settings handeln die untersuchten AkteurInnen? Wie werden diese als städtisch oder ländlich verstanden? Dichte, Größe oder »Natur« sind diesbezüglich nur mögliche, keine notwendigen materiellen Bezugsgrößen von Stadt und Land. Diese konzeptionelle Offenheit ist angesichts des Interesses für Verschiebungen der Bedeutungen von Stadt und Land erforderlich. Eine solche alltagskulturell orientierte Untersuchung rurbaner Assemblagen stellt ein Desiderat dar. Vielfach wird die fehlende Beschäftigung mit neuen komplexen Verhältnissen von Stadt und Land aus kulturwissenschaftlicher Perspektive moniert60 , insbesondere fehlen Einzelfallstudien61 und Studien über Agglomerationsräume62 . In den letzten Jahrzehnten boomten im Kontext einer rapide zunehmenden Urbanisierung die Stadtforschung und hier vor allem Studien zu Metropolen und Großstädten. Gegenwärtig kommt dagegen der ländliche Raum wieder vermehrt in den Blick und ins Zentrum gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit63 , speziell auch in der Europäischen Ethnologie64 . Was aber auch aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie fehlt, ist eine übergreifende, alltagskulturell interessierte Sicht auf Stadt und Land65 , die sich von dichotomen, holistischen Kategorien zu distanzieren bemüht. Darüber kämen Stadt und Land (wieder) gleichermaßen als Träger und Gegenstände gesellschaftlicher Transformationsprozesse und als gegenseitig konstitutiv in den Blick.66 Insbesondere in Bezug auf zwei besonders aufschlussreiche Prozesse scheint die Untersuchung von rurbanen Assemblagen aussichtsreich: Zentralisierung/Peripherisierung und Kulturalisierung.

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Vgl. Helbrecht 2014, S. 178; Fenske/Hemme 2015, S. 13 u. 16. Vgl. Redepenning 2009, S. 49. Vgl. Lenger 2009, S. 25. Vgl. Beetz 2015, S. 81-82. Ein Abriss der aktuellen Forschung findet sich bei Trummer 2018, S. 187-212. Zuletzt beschäftigte sich der dgv-Kongress 1973 zum Thema »Stadt-Land-Beziehungen« umfassend mit dem Verhältnis von Stadt und Land (vgl. Kaufmann 1975). Zugleich war der Kongress ein Zeichen für den »Abschied vom Volksleben« und den sich langsam vollziehenden Fokuswechsel weg vom ländlichen Raum. Vgl. Geiger/Jeggle/Korff 1970; siehe darin vor allem Martin Scharfes Kritik am Kanon: Scharfe 1970, S. 74-84. Siehe hierzu auch die Überlegungen von Stephan Beetz zu einer räumlich orientierten Soziologie: Beetz 2015; vgl. Cloke 2006, S. 18; vgl. Woods 2009, S. 849-858; vgl. Heley/Jones 2012, S. 208-217. Überraschenderweise sind gerade auch Assemblage- und ANT-Ansätze, die in den letzten Jahre zunehmend auf Stadt und Land angewendet wurden, thematisch einseitig jeweils auf Stadt oder Land begrenzt, obwohl gerade aus einer solchen Perspektive auf Verbindungen die Vorteile eines übergreifenden Zugriffs einleuchtend sind: Vgl. Jones 2006, S. 185-200; Farías/Bender 2010.

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Zentralisierung und Peripherisierung Aushandlungen von Stadt und Land scheinen uns insbesondere in Zusammenhang mit ungleicher räumlicher Positionierung und Entwicklung, das heißt mit Prozessen der Zentralisierung und Peripherisierung als enactment von scale67 beforschenswert. Zentralisierungs- und Peripherisierungsprozesse werden insbesondere seit den 1990er-Jahren in Anbetracht einer veränderten globalen Geographie aufgrund von Globalisierungsprozessen untersucht. In diesem Zusammenhang wurde eine Konjunktur des Urbanen beobachtet, die zu Wortprägungen wie »neue Urbanität«68 , »zweite Urbanisierung«69 oder »third urban revolution«70 geführt hat. Im Zentrum wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit stehen insbesondere die global und world cities71 . In den Diagnosen einer »neuen Urbanität« wurden auch Zusammenhänge von urbanen Lebensstilen und Zentralisierung hergestellt.72 Zentralisierungsprozesse – mit stadtplanerischen Maßnahmen wie Nachverdichtung und Großwohnsiedlungen – lassen Unterschiede zwischen Stadt und Land steigen, so ist zu vermuten. Schrumpfende Regionen liegen in Europa mehrheitlich im ländlichen Raum. Dieser erscheint als Verlierer der Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit damit verbundenen Phänomenen wie infrastrukturelle Vernachlässigung und Landflucht vor allem der jüngeren Bevölkerung, Gefühlen des »Zurückbleibens«73 und Protesten74 , wohingegen die Großstädte und ihr Umland sowohl in Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung als auch ökonomisch boomen.75 Aus der Perspektive auf rurbane Assemblagen bleiben diese Diagnosen aber weitgehend metrozentristisch. Selbstverständlich sind Orte und Räume mit ungleichen Ressourcen und Kapitalien ausgestattet76 . Das Verhältnis von Stadt und

67 68 69 70 71 72 73 74 75

76

Vgl. Glick Schiller 2005, S. 49-64; Glick Schiller/Çağlar 2009, S. 188. Vgl. Häussermann/Siebel 1987. Vgl. Hengartner 2014, S. 13-20. Vgl. Hall/Hubbard/Short 2008, S. 1. Vgl. Sassen 1991; Sassen 2005, S. 27-43. Vgl. Häussermann/Siebel 1987; Hannerz 1996, S. 127-139; vgl. Smith 2002, S. 427-450. Vgl. Trummer 2015, S. 123-148. Vgl. Woods 2008, S. 129-137. Weltweit lebten im Jahr 2014 54 Prozent der Bevölkerung in Städten (in Europa 73 Prozent), im Jahr 2050 werden es nach Prognosen der Vereinten Nationen 66 Prozent (in Europa 82 Prozent) sein (vgl. United Nations 2014). Vgl. Gartner/Hametner 2017; siehe dazu auch die Prognosen der Österreichischen Raumordnungskonferenz ÖROK 2015a; ÖROK 2015b. Vgl. Bourdieu 1991; Ders. 1997; für den Begriff des residenziellen Kapitals siehe Dirksmeier 2009; Dirksmeier 2012, S. 76-89; für den Begriff des geographischen Kapitals siehe Helbrecht 2005, S. 121-155.

Rurbane Assemblagen

Land begreifen wir aber nicht als asymmetrisch in dem Sinne, dass sich Ruralität aus der Abwesenheit von Urbanität erklärt77 , sondern wir fragen nach Bewertungen unterschiedlicher AkteurInnen, inwiefern und wann also Asymmetrien im Alltag eine Rolle spielen. Aus praxeologischer Perspektive ist entscheidend, welche Rolle Kapitalienverteilungen und scales in Praktiken spielen und wie verschiedene AkteurInnen scale produzieren78 . Wie werden Relationen imaginiert, erfahren und enacted? Welche Verschiebungen in den Relationen gibt es? Aus europäisch-ethnologischer Perspektive interessieren insbesondere »Praktiken der Abgrenzung und des In-Beziehung-Setzens«79 , »Praktiken der différance und Relationierung«80 .

Kulturalisierung Ein zweiter Zugang für die Untersuchung von Stadt und Land stellt die Frage nach Kulturalisierung dar. Vor allem in Städten wurden darunter in den letzten Jahren verstärkt Phänomene wie die Etablierung von creative industries, Eventisierung und Festivalisierung, ästhetisierte Stadtviertel und herausragende Solitärarchitektur oder die Genese einer Kunstszene als Zeichen einer Verschiebung von industrieller Produktion hin zu kultureller Produktion untersucht.81 Obwohl für Kreativitätsagenden insbesondere Agglomerationsvorteile betont werden, betrifft Kulturalisierung aber nicht nur die Städte, sondern in vielerlei Hinsicht auch den ländlichen Raum, welcher wie die Städte infolge industrieller Krisen und darauf reagierender Restrukturierungen, wie die Ablösung von Landwirtschaft durch Tourismus, Konsum und Räume der Erholung, ebenso starker Veränderung ausgesetzt ist.82 Die Transformation ländlicher Räume umfasst eine Kommodifizierung des »Ländlichen«, etwa von Bildern wie Natürlichkeit, Ruhe oder Traditionen in Musik, Kunst, Ernährung oder Architektur.83 Solche sind etwa in Initiativen wie slow food anzutreffen, die sich dem Ideal der höheren Lebensqualität in kleinen Städten durch Entschleunigung (slow cities) verschrieben haben84 , oder in der stadtplanerischen Idee eines new urbanism85 , aber auch in den Darstellungen des ländlichen Raums in Medien wie »Servus TV«, »Landlust« etc.

77 78 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. Helbrecht 2014, S. 168-169. Vgl. Kühn/Weck 2013, S. 26. Vgl Löw 2008, S. 96-97. Vgl. Wietschorke 2012, S. 357-358. Vgl. Reckwitz 2009, S. 2-34; Ders. 2012; Zukin 1995; Scott 2000; Ders. 2008; Lash/Urry 1994. Vgl. Marsden 1999, S. 501-520; Halfacree 2006, S. 53; Bell/Jayne 2010, S. 210. Vgl. Andersson u.a. 2009, S. 5; Bell/Jayne 2010, S. 215-216; Trummer 2015, S. 135-136. Siehe dazu auch das Panel zum Thema »Ländlichkeit« beim dgv-Kongress 2017. Vgl. Pink 2007, S. 59-78; Cittaslow 2012; Cittaslow 2014. Vgl. Katz 1994.

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und in der Raumvermarktung86 . Kommodifizierung zeigt sich nicht zuletzt auch in einer boomenden Regionalisierung87 . Sie adressiert insbesondere die wohlhabende Mittelschicht, die sich nach Natürlichkeit, Gesundheit und Authentischem sehnt88 , einem »rural idyll«89 . Die Kommodifizierung erfolgt unter anderem über Gefühlsarbeit der handelnden AkteurInnen90 und materialisiert sich etwa in Almdörfern oder in ›authentisch‹ restaurierten Ortsbildern oder Bauernhöfen91 – markante Beispiele für die oben genannte Reinigungsarbeit. Ein zusätzlicher Faktor ist die seit den 1980er-Jahren als Counterurbanisierung beschriebene Wanderung von städtischen BewohnerInnen einer wohlhabenden Mittelschicht in naturnahe, ländlich geprägte und idyllisch vorgestellte Räume jenseits suburbaner Gebiete im städtischen Umland.92 Das noch vor wenigen Jahrzehnten negativ und rückwärtsgewandt konnotierte Landleben mit Figuren wie dem Bauern/der Bäuerin oder dem hillbilly hat damit einen Bedeutungswandel erfahren und gilt heute mitunter als Ausdruck eines modernen Lifestyles93 . Nicht zuletzt schlägt sich dies in Konzeptionen eines countryside capital nieder, also an ein an ländliche Eigenschaften gebundenes Kapital.94 Auch im ländlichen Raum werden Kreativitätsagenden explizit eingesetzt, etwa zur Entwicklung einer »creative countryside«95 , in Form einer »greentrification«96 , der Ansiedlung von Raumpionieren97 oder einer Festivalisierung98 . Dabei kann die in den 1980er-Jahren entstehende Ökologiebewegung, welche Ländlichkeit einer neuen Bewertung unterzog99 , als Vorreiter von Stadt-LandHybriden und gegenwärtiger Stadtentwicklung hin zu Städten im »menschlichen Maßstab«100 angesehen werden. Zugleich scheint damit ein an die Großstadtkritik des vorletzten Jahrhunderts erinnernder neuer Rückzug von einer wahrgenommenen gefährlichen, krisenhaften und »pathologischen« Stadt verbunden101 , wie er für das Leben in Suburbia attestiert wurde102 , ebenfalls für gated communities

86 87 88 89 90 91

Vgl. Trummer 2015, S. 136-139. Vgl Sutter 2016; Lindner 1994. Vgl. Andersson u.a. 2009, S. 5-6. Vgl. Cloke 2003, S. 2. Vgl. Decker 2014, S. 159-173. Vgl. Braun 2012, S. 13; für die Unterscheidung des kulturalisierten ländlichen Raums in farmscapes, wildscapes und adventurescapes siehe Bell 2006, S. 149-160. 92 Vgl Redepenning 2009. 93 Vgl. Bell 2006; Benson/O’Reilly 2009, S. 608-625; Scheidegger 2009; Braun 2012, S. 13. 94 Vgl. Garrod/Wornell/Youell 2006, S. 117-128. 95 Vgl. Bell/Jayne 2010. 96 Vgl. Smith/Phillips 2001, S. 457-469. 97 Vgl. Matthiesen 2013. 98 Zur Rolle von Kirchweihfesten vgl. Trummer 2015, S. 134-136. 99 Vgl. Mahlerwein 2015, S. 134. 100 Vgl. Gehl 2010. 101 Vgl. Thrift 2005, S. 133-150; Scheidegger 2009, S. 197-199. 102 Vgl. Menzl 2007.

Rurbane Assemblagen

naheliegt und sich in medialen Bildern eines »heilen Landlebens« spiegelt.103 Die Großstadt wird demgegenüber mitunter wieder als bedrohlicher Ort erfahren, wozu nicht zuletzt die starke mediale Präsenz von Gewalttaten im öffentlichen Raum im Rahmen der Krise der Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 beitrug. Ein gegenwärtig bedeutsamer Begriff, welcher gleichermaßen sowohl in städtischen als auch ländlichen Räumen Anwendung findet und quer zu diesen Kategorien neue hegemoniale Geschmäcker und neue Lebens- und Wertorientierungen beschreibt, ist jener der Lebensqualität104 . In weiterer Folge lassen sich unter Kulturalisierung auch neue Praktiken der Nachbarschaft, der Vergemeinschaftung, des Begegnens (etwa in Gartenprojekten) und des Teilens fassen, welche mitunter als Ruralisierung der Stadt beschrieben wurde.105 Dazu zählen etwa urban-ethische Projekte, welche in den letzten Jahren stark im Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzung gerückt sind.106 Kulturalisierung betrifft heute also ein weites Feld von Praktiken quer zu den Kategorien Stadt und Land. Aus praxeologischer Perspektive auf rurbane Assemblagen ist von besonderem Interesse, welche räumlichen (territorialisierenden, regionalisierenden, place-making etc.) Effekte Kulturalisierung hat. Welche neue Rolle bekommt Raum in Kulturalisierungsprozessen? Und wie wird das Verhältnis von Stadt und Land dabei neu ausgehandelt? Als Resultat räumlicher Abgrenzungen in Vermarktung und Raumplanung (Regionalisierung, Betonung regionaler und lokaler Spezifik) ist zu vermuten, dass neue Differenzen zwischen Städtischkeit und Ländlichkeit produziert werden. Andererseits legt die Gemeinsamkeit kulturalistischer Vermarktung und Planung107 – etwa in der ubiquitären Betonung von Lebensqualität, Natürlichkeit, Gemeinschaftlichkeit und Nachbarschaftlichkeit, Überschaubarkeit und Lokalität – die Vermutung nahe, dass sich Unterschiede auch verringern.108 Aufgrund dieser Verschiebungen in den Stadt-Land-Verhältnissen – hier wird erneut die Unmöglichkeit einer klaren Stadt-Land-Abgrenzung sichtbar – stellt der Prozess der Kulturalisierung ein besonders aussichtsreiches Themenfeld für die Untersuchung rurbaner Assemblagen dar.

103 104 105 106 107 108

Vgl. Trummer 2015, S. 136-139. Vgl. Bell/Jayne 2010, S. 211. Vgl. Urbain 2002; Fenske/Hemme 2015; Redepennig 2017. Siehe dazu das DFG-Forschungsprojekt »Urbane Ethiken« an der LMU München. Vgl. Gehl 2010. Vgl. Halfacree 2009a, S. 453.

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Schluss Im vorliegenden Beitrag haben wir versucht, aus ethnologischer Perspektive einen Forschungsansatz zu entwerfen, der die wissenschaftlich und gesellschaftlich etablierten Dichotomien von Stadt und Land vermeidet und in alltäglichen Lebensverhältnissen verschiedene räumliche Bezüge und Konnotationen aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure herauszuarbeiten vermag. Prozesse der Peripherisierung versus Zentralisierung und der Kulturalisierung scheinen uns dafür besonders geeignete Fragestellungen. Wichtig bei all dem ist es, Raumverhältnisse und diesbezügliche Kulturanalysen auch stets historisch zu kontextualisieren. Schließlich lassen die Ausgestaltung und symbolische Zuschreibung verschiedener Lebensräume Transformationen erkennen und unterliegen verschiedenen Konjunkturen. Stadtflucht und Landflucht waren jeweils zu verschiedenen Zeiten zu beobachten und verzeichneten unterschiedliche Akteursgruppen und Motive. Eine Bestimmung des sozialen und zeitlichen Kontextes jeweiliger Raumorientierungen und Performanzen bleibt damit die Basis ethnologischer Raumanalysen.

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Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen Oliver Müller

1.

Einleitung

An der Trennschärfe und Aussagekraft der Analysekategorie des ›Ländlichen‹ wurde und wird Kritik geäußert: Zum einen führe die Differenzierung ländlicher Räume zu einer Auflösung des ›Ländlichen‹ als Kategorie distinkter soziokultureller, ökonomischer und ökologischer Eigenschaften, Praktiken und Prozesse.1 Zum anderen, und damit eng verknüpft, lasse die raumübergreifende Relationalität ›urbaner‹ und ›ruraler‹ Räume die Differenzierung des ›Ländlichen‹ als Raum mit distinkter kultureller Prägung obsolet werden. Damit verschiebt sich der epistemische Fokus von der definitorischen Bestimmung des ›Ländlichen‹ und dessen Fixierung im topographischen Raum hin zu dessen alltagspraktischer Aktualisierung als »Deutungs- und Wahrnehmungskategorie in Lebenswelten von Akteuren und Gruppen«.2 Wenn im Folgenden von ›Ländlichkeit‹ die Rede ist, so sind damit raumbezogene Semantiken angesprochen, die ›ländlich‹ codierte Lebensformen, Praktiken und Wirtschaftsweisen als kulturelle Ressource konstruieren und in Handlungsstrategien manifestieren.3 Diese Semantiken des ›Ländlichen‹ bilden einen Bezugsrahmen, der in »Abgrenzung zu vorhergehenden und in Antizipation zukünftiger Entwicklungen sowohl kompensatorische als auch reflexive und handlungsleitende Funktionen ausüben [kann] und auch Orientierungsmarken eines ›guten‹ bzw. ›gelingenden‹ Lebens bietet – sei es im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen oder zur Natur.«4 Am Beispiel des EU-Entwicklungsprogramms LEADER für den ländlichen Raum soll der Frage nachgegangen werden, wie das ›Ländliche‹ von lokalen Akteuren

1 2 3 4

Vgl. Jones 1996, S. 35-49. Trummer 2018, S. 198. Vgl. Marszalek/Nell/Weiland 2017, S. 9-26. Ebd., S. 16.

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als Ressource konstruiert wird und in der Herstellung ruraler Naturen manifest wird. Das LEADER-Programm bildet den Ausgangspunkt, da die politökonomische Adressierung vielfältige Imaginationen des ›Ländlichen‹ erzeugt und lokale Akteure dazu aufruft, lokale Idiosynkrasien als territoriale Aktivposten ›in Wert‹ zu setzen.5 Der Fokus dieses Beitrags liegt jedoch weniger auf symbolisch-diskursiven Repräsentationen des ›Ländlichen‹ in Programmtexten, als auf dessen Herstellung in Alltagspraktiken lokaler Akteure, die im Zuge von Entwicklungsmaßnahmen dazu aufgerufen werden, an der (Re-)Konstruktion kulturlandschaftlicher Eigenart mitzuwirken. In einem ersten Schritt wird der territoriale Entwicklungsansatz des LEADERProgramms erläutert, um in einem zweiten Schritt den analytischen Rahmen auf Territorialisierungsprozesse aufzuspannen. In einem dritten Schritt wird das Konzept der ruralen Naturen umrissen und schließlich aufgezeigt, wie lokale Akteure im Zuge der Herstellung ruraler Naturen vieldeutige Semantiken des ›Dörflichen‹ erzeugen und in den Raum ihres Dorfes einschreiben.

2.

LEADER als territoriales Entwicklungsprogramm

Die Diffusion sozialkonstruktivistischer Konzepte von Region in die Raumplanung geht mit einer Ergänzung entwicklungspolitischer Instrumente einher.6 Neben die auf einzelne Sektoren und physische Infrastrukturen fokussierte Entwicklungspolitik treten seit zwei Jahrzenten territoriale Ansätze, deren Fokus auf der Nutzung ›endogener‹ sozialer, kultureller und ökologischer ›Ressourcen‹ eines Gebietes liegt. Damit verschiebt sich der Fokus von Entwicklungspolitiken auf die Hervorbringung territorialer Identitäten, mit dem Ziel, Menschen mitsamt ihrer jeweils unterschiedlichen Kapitalressourcen an ihre Region zu binden.7 So fordert auch das LEADER-Programm lokale Akteure dazu auf, die territoriale Identität ihrer Region als distinkte kulturell-naturräumliche Einheit herauszuarbeiten, und stellt damit die symbolischen Ressourcen bereit, um die Konstruktion lokaler Identitäten mit der sozioökonomischen Entwicklung einer Region zu verknüpfen.8 Christopher Ray spricht von einer »Culture Economy«, die darauf abziele, lokale Identitäten, Wissen, Praktiken und Ausdrucksformen als Ressource für die territoriale Entwicklung nutzbar zu machen.9 Die Hervorbringung territorialer Identitäten kann dabei unterschiedliche Formen annehmen – von der Konstruktion lokaler Identitäten durch historische Orts- und Flurnamen bis hin zur ma5 6 7 8 9

Vgl. Figueiredo/Raschi 2011, S. 4. Vgl. Sutter 2018, S. 111-126. Donaldson 2006, S. 2075-2092. Vgl. Ray 1999, S. 260. Ray 1998, S. 3.

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

teriellen Rekonstruktion ganzer Kulturlandschaften.10 Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der Herstellung ruraler Naturen im Zuge von Territorialisierungsprozessen. Zu diesem Zweck wird eine Perspektivierung auf Praktiken des place-making, Territorialisierungsprozesse und rurale Naturen vorgenommen.

3.

Place-making und Territorialisierung

Da ›das Lokale‹ durch das LEADER-Programm zum Gegenstand von Entwicklungsprozessen gemacht wird, soll der folgende Exkurs die Konstruktion lokaler Eigenart als Strategie des place-making im Zuge von Territorialisierungsprozessen analytisch fassen. Das zugrundeliegende Verständnis von place erkennt die Einbettung von Alltagswelten in topographische Orte an, begreift diese aber als dynamisch und prozessual veränderbar, d.h. in symbolisch-materiellen sozialen Praktiken ›gemacht‹, und in relationale Netze sozialer Beziehungen eingebunden.11 »Places are fluid, dynamic, multidimensional, yet somehow still have binding identities […] running through them, as threads of imaginative and material narrative are woven with threads of ›having become‹ and ›becoming‹.«12 Die Spezifik des Lokalen resultiert demnach aus der Überlagerung pluraler Identitäten und der Konstellation spezifischer sozialer Relationen, die sich an einem Ort verweben.13 Doreen Massey beschreibt diesen Ort als »meeting place«: »This is a notion of place where specificity (local uniqueness, a sense of place) derives not from some mythical internal roots nor from a history of relative isolation […] but precisely from the absolute particularity of the mixture of influences found together there.«14 Orte entstehen in Prozessen des place-making, die Lummina Horlings, Elena Battaglini und Jost Dessein mit dem Begriff der »Territorialisierung« beschreiben. Dieser bezeichnet Prozesse, »in which communities (although involved in unbounded networks) perceive the specific nature and characteristics of their place, attribute symbols to resources and to local peculiarities, reify, structure and organise space.«15 Territorialisierungsprozesse verlaufen entlang dreier sich gegenseitig verstärkender und trialektisch verbundener Ebenen: Der Wahrnehmung, Bedeutungs- und Wertzuschreibung, der praktischen Aneignung physischer Natur sowie der Institutionalisierung eines »Territoriums«.16 Der Begriff des »Territo-

10 11 12 13 14 15 16

Ebd., S. 11. Vgl. Escobar 2001, S. 139-174. Cloke/Jones 2001, S. 652. Vgl. Massey 1993, S. 59-69. Massey 1999, S. 22. Horlings/Battaglini/Dessein 2016, S. 1-16, hier: S. 4. Ebd., S. 6.

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riums« verweist auf die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Ort, sozialer Konstellation und ›Natur‹. Im Rekurs auf Tim Ingold fassen Owain Jones und Paul Cloke diese Verwicklungen zwischen einem Ort, der sozialen Konstellation und seiner ›Natur‹ mit dem Begriff des »Dwelling« und beschreiben damit die körperlich-affektive Eingebundenheit von sozialen Akteuren in ihre physischen Umwelten, die eine jeweils spezifische Temporalität hervorbringt: »[D]welling – the rich, intimate, ongoing togetherness of beings and things, the recognition of agency other than human, the recognition of time-deepened process, embodied experience, the experience of rootedness, the richness of things together over time, and the valuing of local distinctiveness.«17 In diesen körperlich-affektiven Verwicklungen wirkt die materielle Natur aktiv an der Konstitution eines Ortes mit: »Not only people but also the physical nature of territories have ›agency‹ with regard to the perceptions, meanings and values attributed by communities to resources.«18 Territorialisierungspraktiken orientieren sich an den jeweiligen Affordanzen des (soziokulturell gerahmten) materiellen Eigensinns der physischen Natur, die ein körperlich-affektiv grundiertes Wahrnehmungs- und Handlungsregister bedingen: »[A]ffordances are the inherent properties of a natural resource, which, by interacting with perceptions and values, induce a community to select and use resources for their own development paths. They […] refer to the opportunities for action that the environment provides to social actors through the particular characteristics of the specific resource.«19 Mit der ko-evolutionären Dimension von Territorialisierungsprozessen betonen die AutorInnen das dynamische und zeitliche Wechselverhältnis dieser Ko-Produktion von Orten, also deren grundlegende Veränderbarkeit. Diese Perspektivierung ist für die nachfolgende Analyse der Herstellung ruraler Naturen hilfreich, da sich diese als emergente, relationale Gefüge in den Blick nehmen lassen, die in Territorialisierungsprozessen hervorgebracht werden.

4.

Rurale Naturen

Der Begriff wurde zuerst in einem deskriptiven Sinne vom Geographen Marc Mormont im Kontext regionalistischer Bewegungen in Belgien verwendet. Er

17 18 19

Cloke/Jones 2001, S. 654. Horlings/Battaglini/Dessein 2016, S. 5. Battaglini/Babovic 2016, S. 61.

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

beschreibt damit Repräsentationen des ›Ländlichen‹, die gegen das zentralstaatliche Paradigma der Modernisierung des ländlichen Raums in Stellung gebracht wurden. Mormont identifiziert drei Diskursstränge: Naturschützer konzipieren rurale Natur als natürliches Erbe, dessen Wert auf der ökologischen Einzigartigkeit der Landschaft fußt. Die ökologische Bewegung repräsentiert rurale Naturen als Tradition, die einer dominanten ökonomischen Verwertungslogik alternative soziale Beziehungen und Wirtschaftsweisen entgegen zu setzen vermag. Die Regionalisten begreifen rurale Natur als durch zentralistische Politiken, Umweltverschmutzung und Ressourcenextraktion bedrohte Residuen regionaler Autonomie.20 Die Gemeinsamkeit dieser Projekte besteht darin, dass sie das ›Ländliche‹ im Konflikt um die Deutung und Aneignung von ›Natur‹ als kulturelle Ressource mobilisieren: »Their discourse is one of seeking a more convivial form of sociability than in the city, different work relationships and a different relationship with nature: the traditional rural world and the peasant way of life are quite clear references for their projects, for their aspirations, for their desire to be autonomous and for their dissent from the urban environment and the dominant economic universe.«21 Mormonts Analyse bewegt sich auf der diskursiven Ebene der sozialen Konstruktion und Verknüpfung unterschiedlicher Vorstellungen von ›Ländlichkeit‹ in ihrem Verhältnis zur ›Natur‹. Darüber hinaus materialisieren lokale Akteure das ›Ländliche‹ in der Form ruraler Naturen aber auch in Territorialisierungspraktiken. In diesem Prozess wirkt die physische Umwelt qua ihrer Affordanzen auf die Konstitution von Orten ein. In der Herstellungspraxis verflechten sich somit Vorstellungen des ›Ländlichen‹ in ihrem Verhältnis zur ›Natur‹ mit den Materialflüssen physischer Umwelten und bilden auf diese Weise relationale, ortsgebundene »MenschNichtmensch-Ökologien«22 . Dieses Verständnis ruft die Fragen hervor, in welchen (Wissens-)Praktiken diese Verbindungen zwischen den sozialen, semiotischen und materiellen Dimensionen ruraler Naturen entstehen und welche konkrete Erscheinungsform diese annehmen.23 Da sich diese Fragen nur empirisch-fallbezogen erörtern lassen, wird dies im Folgenden anhand eines LEADER-Projekts veranschaulicht, das BewohnerInnen ländlicher Regionen dazu auffordert, sich an der (Re-)Konstruktion kulturlandschaftlicher Eigenart zu beteiligen.

20 21 22 23

Vgl. Mormont 1987, S. 13-14. Ebd., S. 11. Jones 2019, S. 289. Vgl. Gesing 2019, S. 9.

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5.

LEADER-Projekt Das grüne Dorf 24

Das Projekt Das grüne Dorf wurde von einer lokalen Naturschutzorganisation konzipiert und in die Entwicklungsstrategie der LEADER-Region aufgenommen. Die Projektbeschreibung problematisiert den »Lebensraum Dorf« in mehrerlei Hinsicht: »Baulich und siedlungsstrukturell haben sich die Dörfer […] ab den 1970er-Jahren grundlegend verändert. Die urbanen Vorbilder im Einfamilienhausbau, gemeinsam mit dem Wandel weg von der bäuerlichen Landwirtschaft, haben sich auf die Ausgestaltung und Ausstattung der dörflichen Nutzflächen erheblich ausgewirkt. Neben dem Schwinden des Strukturreichtums der Gärten und siedlungsnaher Kulturlandschaft ist auch der Verlust von Wissen und traditionellen Praktiken ursächlich verantwortlich für die Beeinträchtigung der Arten- und Biotopvielfalt in und um die [Regions]dörfer.«25 Die Projektbeschreibung mobilisiert Semantiken des ›Ländlichen‹, hier in der Gestalt eines idealtypischen Bilds des ›Dörflichen‹, dem »Dorf im Kopf«26 als Kontrastfolie zu problematisch wahrgenommenen Entwicklungen. Das ›Dörfliche‹ repräsentiert eine bedrohte Form der Kulturlandschaft, deren Eigenart, das heißt spezifische Zusammensetzung von Arten und Biotopen, durch eine dörflich-bäuerliche Kulturtätigkeit hervorgebracht wurde. Mit der Entfremdung von »traditionellen Praktiken« kleinbäuerlicher Landwirtschaft gehe ein Verlust von Wissen und Fähigkeiten einher. Das Projekt Das grüne Dorf zielt darauf ab, die noch vorhandenen Elemente dörflicher Ökologien unter Beteiligung der BewohnerInnen zu rekonstruieren und deren Identifikation mit dem »Lebensraum Dorf« zu steigern.27 Durch die Auseinandersetzung mit dem »Lebensraum Dorf« werden BewohnerInnen dazu aufgefordert, ihr Lebensumfeld unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen lokalen Spezifik zu bearbeiten. Dazu ruft es die DorfbewohnerInnen als ExpertInnen für Dorfökologien an und fordert zur Mitwirkung auf: »Durch die Bereitstellung von […] Flächen für die ökologische Vielfalt, den Umbau von artenarmen Gärten und Vorgärten und die Förderung der landschaftlichen Eigenart kann jeder Dorfbewohner in seinem unmittelbaren Umfeld einen Beitrag […] leisten. So können Dorfgärten durch Einsatz dorftypischer und charakteristischer Pflanzen wieder zu attraktiven Lebensräumen werden.«28

24 25 26 27 28

Die Namen des LEADER-Projekts und des Dorfes wurde zum Zwecke der Anonymisierung geändert. Biologische Station: Projektskizze »Das grüne Dorf«, S. 3. Bausinger 1990, S. 15. Biologische Station: Projektskizze »Das grüne Dorf«, S. 4. Ebd., S. 5.

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

Im Spätsommer 2017 begleitete ich eine der Projektkoordinatorinnen bei der Durchführung einer Maßnahme. In Folge dessen suchte ich das Dorf und die »Blumenfreunde Hengasch« in temporalisierter, ambulanter Feldforschung über den Zeitraum mehrerer Monate auf.29 Die ›neuen‹ Blumenfreunde beschreiben sich als eine Gruppe von »Ureinwohnern« und »Zugezogenen«, die sich in Folge des Rückzugs der Elterngeneration, den ›alten‹ Blumenfreunden, aus der Pflege der öffentlichen Grünflächen konstituiert hat. Zur Kontextualisierung des Fallbeispiels soll im Folgenden das Dorf Hengasch in seiner geographischen Lage situiert werden. Anschließend illustrieren zwei ethnographische Vignetten die Territorialisierungprozesse im Dorf Hengasch.

6.

Das Dorf »Hengasch«

Geographisch liegt Hengasch in einer Übergangszone zwischen Tief- und Bergland an den Ausläufern eines Mittelgebirges und der Grenze zweier Kreise. Diese periphere Lage wird durch die Anbindung an den ÖPNV noch verstärkt: Es fahren täglich nur zwei Busse. Im Dezember 2017 hatte der Ort 155 EinwohnerInnen. Die umliegende Landschaft ist landwirtschaftlich geprägt, es werden vor allem Feldfrüchte wie Getreide, Mais und Raps angebaut. Den Ort umschließt ein offener Gürtel aus Streuobstwiesen, die teilweise als Grünland für die extensive Beweidung mit Schafen untergenutzt werden, und an dessen Erhalt sich die Blumenfreunde durch Obstbaumpflanzungen beteiligen. Vereinzelte Hofstellen zeugen als Rudimente von einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Am Tag der Ortsbegehung beginnen wir unseren Rundgang durch das Dorf vor dem Haus der Ortsvorsteherin. Der Termin hat sich aus dem persönlichen Kontakt einer Blumenfreundin mit der Projektkoordinatorin ergeben. Dies sei häufig der erste Schritt bei der Umsetzung einer Maßnahme, erklärt mir die Projektkoordinatorin während der Autofahrt in das Dorf. So sind es primär die sozialen Beziehungen der regionalen Naturschutz-Community, die für das ›Andocken‹ des LEADER-Projekts in Hengasch genutzt wurden. Die versammelten Teilnehmerinnen, fünf Frauen mittleren Alters, werden von der Projektkoordinatorin in den Bottom-up-Ansatz von LEADER eingeführt.30 Ziel des Dorfrundgangs sei es, vorhandene »Strukturen« zu sichten und lokale Besonderheiten zu identifizieren; so lassen wir uns im Anschluss von der Gruppe durch das Dorf und zu den von ihnen gestalteten Grünflächen führen. Wir besichtigen die in Patenschaft gestalteten Beete. Manche davon sind in Saisonbepflanzung mit Geranien bepflanzt, flankiert von adrett geschnittenen Buchs29 30

Vgl. Welz 2013, S. 39-54. Vgl. Sutter/Müller/Wohlgemuth 2019, S. 45-65.

51

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bäumchen. Die Mehrzahl der Beete hingegen weist eine Bepflanzung mit Stauden, mehrjährigen krautigen Blütenpflanzen auf, die im Winter einziehen und im Frühjahr neu austreiben. Wie wir erfahren, wurden viele der Beete bereits auf Empfehlung der Bewertungskommission des Wettbewerbs Unser Dorf hat Zukunft umgestaltet – »gebietsfremde« Koniferen wie der Kirschlorbeer durch »heimische« Staudenarten ersetzt. Den Blumenfreunden ist wichtig, dass diese an die Standortbedingungen angepasst und pflegeleicht sind. Das Pflanzgut stammt aus den Gärten der BewohnerInnen, die die Wurzelstöcke der Stauden geteilt haben. Die Projektkoordinatorin ist begeistert und schlägt vor, diese Vielfalt an »Dorfpflanzen« in einem »Mutterstaudenbeet« zu vermehren und im Rahmen einer Tauschbörse zu teilen. Bei meinem nächsten Besuch im Dorf, der Saatgut- und Pflanzentauschbörse im Frühjahr 2018, treffe ich an der Bürgerbegegnungsstätte des kleinen Dorfes ein. Davor steht das Pflanzgut, aufgereiht in Tontöpfen, Eimern und Kübeln, daneben von der Naturschutzorganisation gespendete Nisthilfen und Insektenhotels. Ich begebe mich zu einer Gruppe, die sich auf die Bierbänke neben der Begegnungsstätte gesetzt hat; allesamt »Zugezogene« wie sie mir erzählen. Auf einen Vortrag zum ›Bienensterben‹ in der Agrarlandschaft folgt eine Bestimmung essbarer Wildpflanzen mit angeschlossener Verkostung. Ich verwickle mich mit einem »Zugezogenen« in ein Gespräch über den Rückgang von ›wilden Ecken‹ in der Umgebung des Dorfes im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft, wie er mit Bedauern auf seinen Streifzügen feststellen musste. Es folgt die eigentliche Tauschbörse: Jede/r kann sich Saat- und Pflanzgut mitnehmen und erfährt etwas über deren Standortansprüche und die Pflege. Neben den Wurzelgeflechten der Stauden gibt es auch Tütchen mit Samen vom letzten Jahr zum Mitnehmen; »eine Runde Hengasch« oder nach Arten getrennt, wie mir eine Blumenfreundin erklärt. Was übrig bleibt, wird ins »Mutterstaudenbeet« im Ortskern gepflanzt, das auf Empfehlung der Projektkoordinatorin angelegt wurde. Hier vermehren die BewohnerInnen seitdem die »Ursprungsstauden« ihres Dorfes, von denen sie annehmen, dass sie seit langer Zeit in den Gärten ihres Dorfes wachsen.

7.

Territorialisierungen

Die Vignetten illustrieren schlaglichtartig die Territorialisierungsprozesse im Rahmen des Projekts Das grüne Dorf, in deren Folge die Stauden Teil der Soziomaterialität des Dorfes werden (und andersherum). Die Pflege der Beete und Nutzflächen in Patenschaft ist integraler Bestandteil der sozialen Praktiken der Blumenfreunde, deren Vorstellungen ruraler Naturen sich in der Aneignung der Natur des Dorfes materialisieren. Diese Prozesse sollen im Folgenden entlang der drei Dimen-

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

sionen von Territorialisierung untersucht werden: den räumlichen Praktiken, den Bedeutungs- und Wertzuschreibungen sowie der Wissensproduktion.

7.1

Räumliche Praktiken

Hinsichtlich der räumlichen Praktiken lassen sich aus den empirischen Daten drei zentrale Momente herausstellen. Zunächst setzen sich die BewohnerInnen im Laufe des Dorfspaziergangs mit der materiellen Natur ihres Dorfes unter dem Gesichtspunkt lokaler Spezifik auseinander. Ziel der Begehung ist die Sichtbarmachung dörflicher Ökologien, die im Wechselspiel der natürlichen Potenziale mit den kulturellen Nutzungsweisen eine lokale Eigenart hervorgebracht haben. Wie die Projektleiterin im Interview erklärt, versucht sie, sich »[…] an die Gegebenheiten anzupassen, die im Dorf sind. Also es wäre jetzt widersinnig, finde ich, zu sagen: ›Gut, wir haben jetzt überhaupt keine Miste mehr, wir müssen wieder irgendeinen Misthaufen ins Dorf bringen.‹ Das ist es nicht, sondern zu schauen, welche Lebensraumstätten, Lebensräume gibt es, welche Arten sind vielleicht besonders repräsentativ […] dann versuchen wir da anzusetzen und zu sagen, dann ist das hier das Element der Artenvielfalt in dem Dorf.«31 In Hengasch sind das die »Ursprungsstauden«, die als Spuren einer historischen Nutzungsform in kleinbäuerlichen Selbstversorgergärten Dauerhaftigkeit symbolisieren. Daraus leitet sich für die Blumenfreunde die lokale Eigenart der Stauden ab, denn diese hätten sich in einem wechselseitigen Selektionsprozess an den Standort angepasst. Hier ist zum einen die Vermehrung durch Teilung32 der Stauden zu nennen, zum anderen das Tauschen des Pflanzguts unter den BewohnerInnen. Die neuen Blumenfreunde greifen in ihren räumlichen Praktiken tradierte Gestaltungselemente einer kleinbäuerlichen Wirtschaftsweise auf und formen diese symbolisch um. So erzählt mir eine Blumenfreundin, befragt nach ihrer Gartenpraxis, dass, obwohl sie anders gärtnere als die ältere Generation, sie dennoch in deren »Tradition« stehe: »Und als ich hier als Erste halt ran durfte, da habe ich eher überlegt, was passt dazu und habe dann eher an traditionelle Bauerngarten-Stauden gedacht. […] Deswe-

31 32

Interview 2017 Vermehrung durch Teilung ist ein Prozess der vegetativen Vermehrung. Hierbei entstehen genetisch identische Klone einer »Mutterstaude« aus demselben Pflanzmaterial. Diese Klone können auf unterschiedlichen Wegen erzeugt werden. Die Blumenfreunde Hengasch nutzen die Wurzelstockteilung und das Abtrennen von Rhizomen. Hierbei wird der Wurzelstock nach dem Abblühen im Herbst mit dem Spaten geteilt und die so gewonnene »Tochterstaude« an anderer Stelle wieder eingepflanzt. Diese Methode bietet den Vorteil, dass die Staude durch diesen Prozess ›verjüngt‹ wird.

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gen taucht jetzt hier-, tauchen viele Pfingstrosen auf, die ich an anderer Stelle aus dem Dorf habe, die ich auch selber geschenkt bekommen habe, im eigenen Garten erst hatte, die sind jetzt hierhin gewandert. […] Also meine Überlegung war immer eher, mit dem weiterzuarbeiten, was schon da ist und die Tradition irgendwie aufzugreifen. Also ich fand es erst mal spannend zu sehen, wie die Älteren hier gegärtnert haben.«33 Mit Eric Hobsbawm lässt sich dieser Rückgriff auf aus ihrem Funktionszusammenhang herausgelöste tradierte kulturelle Formen, und deren Adaption für die Konstruktion historischer Kontinuität als symbolische Praxis der »invented tradition« fassen.34 Wie die neuen Blumenfreunde die materielle Natur des Dorfes in ihrer Aneignung umdeuten und mit Werten ausstatten, soll im Folgenden illustriert werden.

7.2

Bedeutungs- und Wertzuschreibungen

Die Aneignung durch die neuen Blumenfreunde erzeugte Reibungen mit den alten Blumenfreunden. Der Konflikt entfachte sich insbesondere an divergierenden Vorstellungen bezüglich der ›richtigen‹ Natur im Dorf. So schildert eine »Zugezogene«, eine Frau Anfang 50, die sich dem ökologisch-alternativen Milieu zuordnet, dass ein von ihr gestaltetes Beet von den alten Blumenfreunden wieder umgegraben wurde, nachdem sie Stauden gepflanzt hatte, bei denen es ihr wichtig war, dass diese besonders »natürlich« wirken. »Mein Patenschaftsbeet, ich habe mich ja lange durchsetzen müssen, dass die Taubnessel da wieder wachsen kann. […] Vielleicht ist eben auch so, dass wir eine Generation eben halt auch sind, die sagen: ›Wir wollen wieder Natur, so wie sie ursprünglich eigentlich war.‹«35 Im Kontrast zur wechselnden Saisonbepflanzung mit Geranien, Begonien und Stiefmütterchen, repräsentieren ausdauernde und pflegeextensive Stauden wie die Taubnessel für die Blumenfreundin eine ›natürlichere‹ Natur. Es ist die Vorstellung einer ersten Natur, die in ihrem freien Wuchs unabhängig von menschlicher Ordnungstätigkeit in einer Autopoiesis existiert.36 Diese ›ursprüngliche‹ Natur symbolisiert für einen weiteren Blumenfreund, ein Mittvierziger und ebenfalls »Zugezogener«, die Verbindung mit dem Dorf. Im Kontrast zur einheitlichen Bepflanzung aus dem Baumarkt, die von ihm als »nichtssagend« wahrgenommen

33 34 35 36

Interview 2018. Hobsbawm 1983, S. 6. Interview 2018 Vgl. Ingold 2000, S. 345.

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

wird, repräsentiert diese Natur für ihn die gewachsene Eigenart und Schönheit des Dorfes. »Ja, ich finde das einfach gut, dass man mal von diesem Althergebrachten weggeht, dass man sagt, wir wollen wieder hier-, ich hätte ja gesagt freie Natur, die trotzdem in einem gewissen Korsett drin hängt. Aber nicht, dass man das Korsett sieht, sondern dass man das Gefühl hat, das Blümchen oder der Strauch, der hat da immer schon so plötzlich dagestanden oder so. Und das finde ich einfach schöner. Nicht dieses einheitliche Pflanzen, sondern dass man sagt, man geht wieder auf Natur zurück.«37 In dem »immer schon so« drückt sich eine Verortung der Natur dieses Dorfes aus. In den sich wiederholenden Rhythmen des Wuchses und der dauerhaften physischen Präsenz werden die Stauden Teil des Dorfes, sie gehören dazu, und sind als Verkörperung einer organischen Zeit Marker raumzeitlicher Kontinuität – von einem imaginären Zeitpunkt in der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Diese Deutung lässt sich als reflexiver Prozess der »invented tradition« fassen, da der Blumenfreund die materielle Natur des Dorfes als unveränderlich und dauerhaft konstruiert, sich dieser Inszenierung jedoch bewusst ist.38 Die Vorstellung eines gewachsenen organischen Zusammenhangs zwischen dem Dorf und dessen materieller Natur, drückt der Blumenfreund darüber hinaus in der Rede vom unsichtbaren »Korsett« aus. Diese harmonisch wahrgenommene Verbindung markiert für den Blumenfreund eine ästhetische Differenz, anhand derer er die Schönheit und Eigenart seines Dorfes in dessen »Ursprünglichkeit« erkennt und gegenüber der Gleichförmigkeit des modernen »einheitlichen Pflanzen[s]« abgrenzt.

7.3

Wissensproduktion

Zur Klassifizierung der Stauden als »Ursprungsstauden« dieses Dorfes, beziehen sich die neuen Blumenfreunde in erster Linie auf ein implizites Erfahrungswissen. Das Wissen, welche Stauden als ortstypisch gelten, vermittelt sich im Sinne eines common sense, der sich aus der alltagspraktischen Aneignung der materiellen Natur des Dorfes speist. Befragt danach, wie die »Ursprungsstauden« entstanden sind, antwortet eine Blumenfreundin, eine »Zugezogene«, die als Staudengärtnerin in der Denkmalpflege arbeitet: »Ich denke das passierte ganz selbstverständlich und völlig automatisch. Also Dinge, die nicht gut wuchsen, die verschwanden entweder von alleine oder wurden rausgeschmissen. Und die Sachen, die sich sehr gut entwickelten, die – nahmen im besten Fall sogar Überhand und wurden dann weiterverteilt oder boten sich 37 38

Interview 2018 Vgl. Hobsbawm 1983, S. 2.

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eben halt an für eine Teilung. Also ich glaube, dass es – im Laufe dieser langen Zeit, so ne, keine Ahnung (lacht) natürliche Auslese war in gewisser Weise.«39 Das gute Wachstum der Stauden wird von der Blumenfreundin als Indikator für deren Anpassung an und dauerhafte Präsenz im Dorf interpretiert. Was nicht ortstypisch ist, wurde auf quasi ›natürlichem‹ Wege ausgeschieden. Die Anpassung begreift die Blumenfreundin als wechselseitigen, ko-evolutionären Prozess zwischen den Stauden, dem Standort und der gezielten Vermehrung durch die BewohnerInnen. Das in diesem Prozess produzierte Wissen vermittelt sich als implizites Praxiswissen des Gärtnerns, oder um es mit ihren Worten zu sagen, »ganz selbstverständlich und automatisch« in der alltagspraktischen Wahrnehmung und Aneignung der materiellen Natur. Die Kulturanthropologin Virgina Nazarea hat aufgezeigt, dass mit der Wende zum in situ Erhalt der Biodiversität eine Bezugnahme auf lokale Wissensbestände und -praktiken einhergeht. Dieses lokale Wissen ist vor allem durch eine hohe Anpassungsfähigkeit und Variabilität seiner klassifikatorischen Register an lokale Kontexte charakterisiert.40 Sie definiert lokales Wissen als »experiential and embodied in everyday practice. It is not logically formulated apart from what makes sense from living day to day in one’s environment; nor is it inscribed as a set of processes or rules.«41 Diese Überlegungen lassen sich auf die Klassifikationspraktiken der Blumenfreunde übertragen, da für die Bestimmung ortstypischer »Ursprungsstauden« ein alltagspraktisches Verständnis handlungsleitend ist. Dessen Geltung speist sich in erster Linie aus seiner Tauglichkeit in diesem lokalen Kontext. Jenseits kognitiv-rationaler Erfahrungsmuster umfasst dieses Wissen eine körperlichaffektive Sensibilität, einen sense of place, der aus der gelebten Erfahrung und aufmerksamen Auseinandersetzung mit den spezifischen Affordanzen der materiellen Natur des Dorfes erwächst. Insofern lässt sich das körperliche Erfahrungswissen der Blumenfreunde mit Tim Ingold auch als »enskillment«, also als »embodiment of capacties of awareness and response by environmentally situated agents«42 begreifen. Dies zeigt sich insbesondere bei Bestimmung der »Ursprungsstauden«, denn das handlungsleitende praktische Verständnis, basiert auf dem körperlichen Erfahrungswissen des Gärtnerns an diesem Ort. »B: Wir haben schon davorgestanden: ›Nehmen wir die? Ja, das ist eine alte Dorfstaude. Nein, die nehmen wir nicht.‹ O: Wie sind Sie da vorgegangen? Also woran konnten Sie sagen, das ist eine alte

39 40 41 42

Interview 2019 Nazarea 2006, S. 321. Ebd., S. 323. Ingold 2000, S. 5.

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

Dorfstaude und das ist keine? A: Aus den Erfahrungswerten heraus. O: Ja? A: Dass man das sieht, was wächst denn hier rum, oder? C: Ja, ja, klar. Und allein an der Größe. E: Das kommt auch daher, wir haben ja alle Gärten und buddeln gerne rum und dann hast du ja auch so Erfahrungen und dann wird einfach losgelegt. A: Vielleicht wählt man ja auch so aus, was wächst gut, ne, sonst wäre es ja nicht so groß geworden.«43 Die Unterhaltung über die Selektion der Stauden deutet darauf hin, dass die Klassifikationen auf ein alltagspraktisches Sensorium zurückgehen, das sich in der körperlich-affektiven Verwicklung mit der materiellen Natur des Dorfes in der Praxis des Gärtnerns (»wir haben ja alle Gärten und buddeln gerne rum«) herausgebildet hat.

8.

Ländlichkeit?

Der vorliegende Beitrag fokussierte auf die Mobilisierung kultureller Ressourcen des ›Ländlichen‹ als Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsrahmen im Verhältnis zu und in der Aneignung von ›Natur‹. Es konnte gezeigt werden, wie die Eigenart des Dorfes Hengasch in der Erscheinungsform der »Ursprungsstauden« in Territorialisierungspraktiken der Blumenfreunde ›gemacht‹ wird. Die Mobilisierung des ›Dörflichen‹ zeigt sich anhand dieser Analyse auf vier Ebenen. Zunächst eröffnet sich ein Zugang zu Vorstellungen des ›Dörflichen‹ über körperlich-affektive Register der Wahrnehmung. Die BewohnerInnen des Dorfes Hengasch werden im Kontext des LEADER-Projekts Das grüne Dorf dazu aufgerufen, die ›endogenen‹ Potenziale der materiellen Natur ihres Dorfes herauszuarbeiten. Auf Grundlage ihrer gelebten räumlichen Erfahrungen an diesem Ort rekurrieren die Blumenfreunde auf die vorindustrielle Nutzungsform des Bauerngartens, dessen Ästhetik die Vorstellung einer agrarischen Wirtschaftsweise in Anpassung an die lokalen Bedingungen vermittelt. Zweitens aktualisieren und interpretieren die Blumenfreunde in ihren Praktiken sozial hergestellte Semantiken des ›Dörflichen‹, die mit dem Lebensraum Dorf raumzeitliche ›Kontinuität‹, ›Naturnähe‹ und ›Ursprünglichkeit‹ assoziieren.44 Auf der einen Seite begreifen sich die Blumenfreunde in der Tradition vorangegangener Generationen, indem sie auf als tradiert inszenierte Gestaltungselemente

43 44

Interview 2018 Vgl. Steinführer u.a. 2019.

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rekurrieren, und somit in der Herstellung ruraler Naturen die raumzeitliche Kontinuität der ›gewachsenen‹ Eigenart von Hengasch absichern. Auf der anderen Seite lässt sich in der Suchbewegung nach »Ursprünglichkeit« die Konstruktion eines historischen a priori erkennen, das an einen Rückzugsort vor die Zeit einer als vereinheitlichend empfundenen Modernisierung der Dörfer und der umgebenden Landschaft zurückführt.45 Das ›Dörfliche‹ bildet hier eine Kontrastfolie und ein Kompensat zu ›modernen‹ Formen der Landbewirtschaftung und der damit einhergehenden Auflösung lokaler Idiosynkrasien in der Verschränkung von Ort, Kultur und Natur. Drittens lassen sich die Bestrebungen der Blumenfreunde, die dörfliche Eigenart von Hengasch zu rekonstruieren auch in Beziehung zu Vorstellungen des ›Dörflichen‹ setzen, die im Mikrokosmos Dorf als Lebensform die Möglichkeit ›authentischer‹ Lebensweisen und Weltbezüge erkennen.46 Rurale Naturen vermitteln in diesem Sinne in ihrem Symbolgehalt die Vorstellung einer ›freien‹ Natur im Kontext harmonischer Mensch-Natur-Verhältnisse. Die Herstellung ruraler Naturen liest sich aus dieser Perspektive als Versuch der Wiedereinbettung sozialökologischer Beziehungen in einen überschaubaren Aktionsraum.47 Schließlich mobilisiert das LEADER-Projekt Das grüne Dorf das ›Dörfliche‹ auch als Wissensformat. Die Materialität des Dorfes als Ergebnis historischer Alltagspraktiken und sozialer Beziehungen wird von den BewohnerInnen als »topographischer Wissensspeicher«48 genutzt, der die Wissensbestände historischer Landnutzungspraktiken ›konserviert‹. Dieses Wissen ist ein situiertes, standpunktgebundenes »Dorfgedächtnis«49 , das von den Mitgliedern einer Interpretationsgemeinschaft in der alltagspraktischen Auseinandersetzung mit der materiellen Natur ihres Dorfes lebendig gehalten wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die BewohnerInnen von Hengasch in den durch das LEADER-Projekt Das grüne Dorf angeregten Deutungen in Bezug auf die materielle Natur ihres Dorfes sozial hergestellte Semantiken des ›Ländlichen‹ aktualisieren, interpretieren und in der Aneignung der Natur ihres Dorfes materialisieren. Die Herstellung ruraler Naturen ist somit ein Feld, in der das ›Dörfliche‹ gelebt, gedacht und gemacht wird.

45 46 47 48 49

Vgl. Trummer 2018, S. 195. Vgl. Marszalek/Nell/Weiland 2017, S. 9-26. Vgl. Giddens 1990, S. 79. Marszalek/Sasse 2010, S. 14. Langthaler 2014, S. 55.

Die Herstellung ruraler Naturen als Materialisierung des Dörflichen

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Problemregion oder ländliches Idyll? »Ländlichkeit« als lebensweltliche Kategorie junger Erwachsener aus Kainuu Lauri Turpeinen

Die nostalgische Verklärung ländlicher Kultur hat in Finnland eine lange Geschichte und auch kansatiede – die finnische Volkskunde/Europäische Ethnologie – hat ihren Teil zur Popularität nostalgischer Repräsentationen von Ländlichkeit beigetragen. Die Disziplin war in ihren Anfangstagen schließlich besonders vom Wunsch beseelt, durch ihre Sammeltätigkeiten Zeugnisse vom Alltagsleben der bäuerlichen Landbevölkerung vor den drohenden Kräften der Urbanisierung und Industrialisierung zu retten. Später, nach dem Bürgerkrieg von 1918 bis in die 1960er-Jahre, genoss kansatiede eine besondere Popularität in Finnland. Viele finnische EthnologInnen betätigten sich damals nicht nur mit dem Verfassen wissenschaftlicher Texte, sondern auch mit dem Schreiben populärer Artikel für Zeitungen und Magazine, in denen sie das bäuerliche Alltagsleben und ihre Forschungsreisen ins ländliche Finnland beschrieben. Die Artikel standen der ländlichen Alltagskultur sehr wohlwollend gegenüber und wurden besonders von der in den Städten lebenden, gebildeten Bevölkerung gelesen. Laut Hanna Snellman waren manche finnische EthnologInnen in dieser Zeit zu mindestens gleichen Teilen WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, und in beiden Rollen produzierten sie nostalgische Verklärungen einer finnischen ländlichen Idylle.1 Pilvi Hämeenaho hat vor einigen Jahren zeitgenössische Vorstellungen vom ländlichen Idyll in Finnland herausgearbeitet. Sie hat gezeigt, dass auch ihnen die Konstruktion einer Dichotomie zwischen Stadt und Land und ein nostalgischer Rückbezug auf die von Land- und Forstwirtschaft geprägte Vergangenheit Finnlands zugrunde liegen. Das Ideal einer finnischen ländlichen Idylle manifestierte sich in den Beschreibungen ihrer Informantinnen – junge Mütter im ländlichen Mittelfinnland – als das einsam in einer weiten Landschaft gelegene Holzhaus, das nur durch den Gartenzaun von unberührter Wildnis getrennt ist.2 Der Alltag in dieser ländlichen Idylle war in ihren Vorstellungen geprägt von Zurückgezogenheit 1 2

Snellman 1997, S. 26-27. Vgl. Hämeenaho 2013, S. 186.

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und von Praktiken wie etwa dem Anbau von eigenem Gemüse.3 Solche idealisierenden Vorstellungen vom Landleben sind in Finnland nach wie vor weit verbreitet und sehr positiv konnotiert. Hämeenaho spricht in diesem Kontext sogar – in Anlehnung an das bekannte Motiv des amerikanischen Traums – von einem finnischen Traum vom Leben auf dem Land.4 Sie sind auch heute noch allgegenwärtig, obwohl die große Mehrheit der FinnInnen mittlerweile in den Städten lebt und höchstens einen Teil des Jahres auf dem Land verbringt, im Sommerhaus oder auf dem Hof der Eltern oder der Großeltern.5 Spuren idyllischer Ländlichkeit sind also seltener in gelebter Alltagspraxis und öfter als Repräsentationen in Zeitschriften, der Werbung, oder sozialen Medien zu finden. Sucht man etwa auf der Internetseite Instagram nach dem Begriff maaseutu, dem finnischen Wort für countryside, dann lassen sich zahlreiche nostalgische Inszenierungen eines finnischen ländlichen Idylls finden.

Düsteres Hinterland? Es ist bereits von vielen AutorInnen betont worden, dass es die Ländlichkeit und das Land so nicht gibt. Der ländliche Raum ist heterogen und Vorstellungen von Ländlichkeit variieren je nach Kontext.6 Mia Vepsäläinen und Kati Pitkänen haben darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Vorstellungen von Ländlichkeit durchaus auch innerhalb eines so kleinen Landes wie Finnland verschieden sein können. Sie verweisen hierbei auf Forschungen, die gezeigt haben, dass Land- und StadtbewohnerInnen in Finnland sehr unterschiedliche Auffassungen von Ländlichkeit haben. Nostalgische und idyllische Repräsentationen haben dabei urbane AdressatInnen und ProduzentInnen, während Vorstellungen von Ländlichkeit in den ländlichen Räumen selbst weniger romantisch und eher von Alltagsroutinen und -problemen geprägt sind.7 Vepsäläinen und Pitkänen führen weiter aus, dass es heutzutage neben nostalgischen Vorstellungen idyllischer Ländlichkeit auch eher negative und düstere Narrative über das Finnland gibt, das jenseits der oft scherzhaft als susiraja (»Wolfsgrenze«) bezeichneten Ringautobahn liegt, die das Zentrum Helsinkis vom Rest des Landes trennt. Sie zeigen, dass finnische Nachrichtenmedien das ländliche Finn-

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6 7

Ebd., S. 185-187. Ebd., S. 186. Statistics Finland zufolge leben 70 Prozent (2017) der FinnInnen in urbanen Regionen. Die Datensätze von Statistics Finland sind auf https://www.stat.fi/til/index_en.html einzusehen [Letzter Zugriff am 16.7.2019]. Vgl. Eriksson 2010, S. 96. Vepsäläinen/Pitkänen 2010, S. 197. Dazu auch: Hämeenaho 2013, S. 186.

Problemregion oder ländliches Idyll?

land heute oft nur in den dunkelsten Tönen zeichnen.8 Abschreckende Darstellungen sind auch in einigen national bekannten Filmen nachzuweisen.9 Das Hinterland wird in diesen Spielfilmen und Nachrichtenberichten als ein bedrückender Ort gezeigt, der unter Abwanderung, Arbeitslosigkeit und anderen strukturellen und sozialen Problemen leidet. Dieser Text widmet sich einer Region, die im finnischen nationalen medialen Diskurs meist eher als ein Problemfall und nicht als Idylle diskutiert wird. Diese Region trägt den Namen Kainuu und liegt rund 600 Kilometer nördlich von Helsinki an der Grenze zu Russland. Es ist eine Region, die – um David Bells Kategorisierung von verschiedenen Vorstellungen von idyllischer Ländlichkeit heranzuziehen – keine pastoral farmscape ist, wie sie etwa die maaseutu-Motive in den sozialen Medien zeigen, sondern die eher als eine natural wildscape gesehen werden könnte, als eine Wildnis fernab der urbanen Zentren.10 Sie hat ungefähr die Flächengröße vom Bundesland Hessen, ist aber nur dünn besiedelt. Die Zahlen von Statistics Finland zeigen zudem, dass Kainuus Bevölkerung von 92.459 BewohnerInnen im Jahre 1990 auf nur noch 73.959 im Jahre 2017 geschrumpft ist. Der Großteil der Bevölkerung konzentriert sich hierbei mit 37.239 EinwohnerInnen (2017) in Kajaani, der größten Stadt der Region. Kainuu ist außerhalb von Kajaani also recht spärlich besiedelt. Es sind dort zwar einige kleinere Ortschaften und Gemeindezentren zu finden, aber sonst ist das Landschaftsbild von tiefen Wäldern, weitläufigen Sumpfgebieten, und in der Wildnis verstreuten Weilern und Bauernhöfen bestimmt.11

Hintergrund und Methodologie Dieser Beitrag ist im Kontext meiner Promotion an der Universität Helsinki entstanden, in der ich seit 2015 die starke Landflucht von jungen Erwachsenen aus Kainuu erforsche. Das Forschungsinteresse des vorliegenden Beitrags sind die angedeuteten idyllischen und abschreckenden Repräsentationen von Ländlichkeit im zeitgenössischen Finnland. Der Text versucht eine Antwort auf die Forschungsfrage zu finden, wie junge Erwachsene aus Kainuu selber mit Vorstellungen idyllischer und abschreckender Ländlichkeit umgehen. Die starke Abwanderung junger Erwachsener aus dem ländlichen Kainuu ist kein neues Thema. Reeta Södergren hat schon 2002 ihre Abschlussarbeit über 8 9 10 11

Vepsäläinen/Pitkänen 2010, S. 197-198. Siehe auch: Apo 1996, S. 176-177. Jumppanen/Suutari 2017, S. 196-219. Bell 2006, S. 150. Siehe auch: Vepsäläinen/Pitkänen 2010, S. 195-197. Kainuu zählt zu den »Northern Sparsely Populated Areas« der Europäischen Union, deren Kennzeichen eine kleine und über große Flächen verteilte Bevölkerung, große Distanzen zwischen einzelnen Orten und harsche klimatische Bedingungen sind. Vgl.: www.nspa-network.eu [Letzter Zugriff am 16.7.2019].

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Landflucht aus einer Gemeinde in Kainuu mit dem prägnanten Titel Viimeinen sammuttaa valot versehen – der oder die Letzte macht das Licht aus.12 Der Strukturwandel des ländlichen Finnlands seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, der mit der heutigen Landflucht in einem Zusammenhang steht, hat aber schon früher ein auch internationales Forschungsinteresse geweckt. Der Anthropologe Tim Ingold hat so beispielweise 1988 einen Sammelband zu diesem Thema vorgelegt.13 Es haben aber auch verschiedene finnische EthnologInnen den Strukturwandel und die resultierende Landflucht in die Städte im Süden von Finnland und nach Schweden ethnografisch beschrieben.14 Das starke Interesse für diese Prozesse überrascht nicht, da Urbanisierung und Landflucht Finnland in kurzer Zeit sehr stark verändert haben.15 In meinem Dissertationsprojekt, einer in Helsinki und Kainuu durchgeführten multi-sited ethnography, habe ich mit 34 jungen Erwachsenen aus Kainuu gearbeitet. 18 von ihnen waren nach Helsinki abgewandert und 16 waren im ländlichen Kainuu verblieben, 18 waren Frauen und 16 waren Männer. Ich habe mit ihnen Leitfadeninterviews geführt, deren Gegenstand ihre Erfahrungen mit Landflucht waren. Danach habe ich sie eingeladen, auch an einem zweiten, visuellen Teil der Forschung teilzunehmen. Die zentrale Methode dieses visuellen Teils war photo elicitation16 , wobei mit von den InformantInnen selbst angefertigten Fotografien gearbeitet wurde. Sie bekamen nach dem Leitfadeninterview eine Woche Zeit, um fünf bis zehn Fotos in ihrem Alltag zu machen, die zum Beispiel ihr neues Leben in Helsinki, ihre Wurzeln in Kainuu, oder die Gründe für ihre Entscheidung in Kainuu zu bleiben zeigen sollten. Die InformantInnen sollten so frei wie möglich in ihrer Auswahl von Motiven sein und auch selber Themen setzen können. Ihre Fotografien wurden schließlich in einem zweiten Fotointerview diskutiert. Es zeigte sich hierbei, dass einige neben neuen Fotos auch ältere Fotografien mit in die Interviews brachten, die sie bereits auf ihren Smartphones gespeichert hatten. Das Material umfasste letztendlich 47 Interviews, 155 Fotografien, sowie meine Feldnotizen von zwölf Monaten Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung in zwei Dörfern in Kainuu. Es ist im Archiv des Finnish Institute of Migration in Turku einzusehen. Ich habe die Interviews transkribiert und kodiert; auch das visuelle Material ist in den Kodierungsprozess miteinbezogen worden. Für diesen Beitrag habe ich das Forschungsmaterial nach Motiven idyllischer Ländlichkeit durchsucht, um den Umgang der InformantInnen mit überspitzten Darstellungen vom ländlichen Finnland nachvollziehbar zu machen.

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Södergren 2002. Ingold 1988. Zum Beispiel: Snellman 2003. Olsson/Ruotsala 2009, S. 9. Harper 2002, S. 13-26.

Problemregion oder ländliches Idyll?

Kainuu – ländliches Idyll oder düstere Peripherie? 2016 veröffentlichte die Tageszeitung Iltalehti einen Artikel mit dem Titel »Studie: Kainuu ist die schlimmste Region der nordischen Länder«.17 Er ist nur ein Beispiel für die effekthascherische Berichterstattung über peripherisierte Regionen wie Kainuu. Er berichtet, dass Kainuu in einem Ranking über die Zukunftsaussichten und die demografische und wirtschaftliche Situation aller Regionen in den nordischen Ländern auf dem letzten Platz gelandet ist. Mit seiner weiten Landschaft könnte die Region durchaus auch als idyllisch bewertet werden, aber Artikel wie jener von Iltalehti dominieren den nationalen Diskurs über Kainuu. Zeitungsartikel wie dieser sind auch klare Hinweise darauf, dass es wegen der abgeschiedenen Lage Kainuus nicht zu leugnende strukturelle Probleme gibt. Diese Situation ist auch nicht neu. Kainuu lag bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion abgelegen am Eisernen Vorhang und war schon im 19. Jahrhundert als arm und strukturschwach bekannt. Die Region ist so auch zum Beinamen »nälkämaa« (»Hungerland«) gekommen. Dieser Begriff geht auf die finnische Literatur der Jahrhundertwende zurück, in der heute zum literarischen Kanon von Finnland zählende Romane das von Armut, Elend und Hunger geprägte Leben der Landbevölkerung in Kainuu beschrieben haben. Er wird auch im Titel der Hymne Kainuus aufgegriffen, nälkämaan laulu (Das Lied des Hungerlandes). Die Hymne und die Romane bedienen die Motive eines entbehrungsreichen Lebens in der Wildnis, das den BewohnerInnen von Kainuu viel Durchhaltevermögen abverlangt. In nälkämaan laulu werden so auch diejenigen, die Kainuu deswegen verlassen wollen, als zu schwach für ein Leben in der Region bezeichnet.18 Es zeigt sich also, dass auch die düsteren Darstellungen von Kainuu und den lokalen Lebensbedingungen – wie die oben genannten idyllischen Verklärungen des Landlebens auch – auf eine lange Geschichte zurückblicken können. Die Soziologen Seppo Knuuttila und Pertti Rannikko weisen hier darauf hin, dass auch der Strukturwandel des ländlichen Finnland seit den 1960er-Jahren Einfluss auf Vorstellungen von Ländlichkeit gehabt hat. In diesen Vorstellungen stehen so nun oft der Niedergang der Forst- und Landwirtschaft, das Verschwinden öffentlicher

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https://www.iltalehti.fi/uutiset/a/2016021621126848 [Letzter Zugriff am 16.7.2019]. In diesem Kontext ist besonders das Werk von Ilmari Kianto zu nennen, der mit seinen Romanen Punainen viiva (1909) oder auch Ryysyrannan Jooseppi (1924) das Bild von Kainuu nachhaltig beeinflusst hat. Er hat auch das Gedicht Nälkämaan laulu (1911) verfasst, das der Text der gleichnamigen Hymne wurde. Nälkämaan laulu endet nach einer Beschreibung der harten Lebensbedingungen mit den Worten »raukat vaan menköhöt merten taa!« (»Nur Feiglinge wollen fort übers Meer!«), was sich auf die damalige Abwanderung in die Vereinigten Staaten bezieht. Der Text ist auf der Website der Lokalregierung von Kainuu zu finden. Vgl. Lokalregierung Kainuu 2019.

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Dienste, die Abwanderung von jungen Menschen und die Überalterung der verbleibenden Bevölkerung im Vordergrund.19 Dies betrifft nicht nur Kainuu, sondern auch viele andere ländliche Regionen Finnlands. Es überrascht daher nicht, dass nostalgische Repräsentationen einer finnischen ländlichen Idylle oft auf Zeiten vor dem Strukturwandel verweisen. Die Ethnologin Pirjo Korkiakangas hat dahingehend beobachtet, dass das ländliche Finnland trotz des Strukturwandels nach wie vor jene positiv-idyllischen Assoziationen mit sich trägt, anhand derer um die Jahrhundertwende herum eine finnische nationale Identität konstruiert wurde.20 Im Fall von Kainuu ist es aber so, dass abschreckende Erzählungen über die negativen Effekte des Strukturwandels auch an eine eher düstere statt nostalgisch-romantische Vorgeschichte anknüpfen können. Vepsäläinen und Pitkänen ist an negativen Darstellungen von Ländlichkeit aufgefallen, dass das ländliche Finnland in derartigen Repräsentationen im Vergleich zu den vermeintlich zivilisierteren Städten als kulturlos, abgehängt und als von ignoranten Hinterwäldlern bewohnt herabgesetzt wird. Sie bemerken auch, dass dem finnischen Hinterland und dessen BewohnerInnen in negativen Beschreibungen neben den bereits bekannten Motiven wie Stagnation, Abwanderung, Unterentwicklung, Überalterung, Engstirnigkeit und Trostlosigkeit auch eine gewisse Fremdheit und Skurrilität zugeschrieben wird.21 Diese negativen Zuschreibungen erinnern an das Konzept der rural others, nach dem besonders junge Männer auf dem Land als »backward, lonely, vulnerable and marginalised«22 sowie als »deviant, unequal and in need of assistance compared to urban counterparts«23 degradiert werden. Einige meiner InformantInnen haben ebenfalls Zuschreibungen dieser Art erwähnt. In einigen Fällen haben sie diese sogar in ihren eigenen Beschreibungen von Kainuu aufgegriffen, wobei das nur bei jenen der Fall war, die Kainuu verlassen hatten. Die Region wird in diesen Darstellungen als ein bedrückender Ort gezeichnet, dessen Bevölkerung unter häufigen Selbstmorden, Alkoholismus, vererbten Krankheiten, einer geringen Lebenserwartung und lebensverkürzenden Lebensstilen, Arbeitslosigkeit, Bildungsferne sowie unter einem ausgeprägtem Sexismus und Rassismus zu leiden hat. Der Großteil der InformantInnen hatte sich allerdings positiv über Kainuu geäußert und ihre Kindheit als ein glückliches und naturnahes Aufwachsen beschrieben – auch diejenigen, die Kainuu verlassen hatten. Einige InformantInnen hatten allerdings von negativen klassistischen Kommentaren in Helsinki berichtet, die auf Unterschiede in Lebensstil, Sprache und

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Vgl. Knuuttila/Rannikko 2009, S. 50. Korkiakangas 2005, S. 36; Hämeenaho 2013, S. 183; Apo 1996, S. 176. Vepsäläinen/Pitkänen 2010, S. 197-198. Stenbacka 2011, S. 235. Ebd., S. 242.

Problemregion oder ländliches Idyll?

Kleidung abzielten. Drei der Informantinnen haben in diesem Kontext auch geschildert, dass sie nach ihrem Umzug nach Helsinki begonnen hatten, ihren Dialekt aus Scham über ihre Herkunft zu unterdrücken. Neben Beispielen für Scham hatten andere InformantInnen mit trotzigem Stolz auf negative Zuschreibungen reagiert. Ein Informant hatte im Interview in Helsinki etwa die Aussage getroffen, dass er aus Kainuu käme und nicht aus Finnland. Ein anderer Informant hatte sich nach dem Umzug das Wappen seiner Heimatgemeinde tätowieren lassen und hatte den Dialekt nicht abgelegt, sondern ihn im Gegenteil auch nach zehn Jahren in Helsinki mit Stolz gepflegt. Es muss klargestellt werden, dass der Großteil der InformantInnen nicht von konkreten negativen Erfahrungen aufgrund ihrer Herkunft aus Kainuu berichtet hatte. So hieß es auch hin und wieder, dass Menschen in Helsinki sich oft nichts unter Kainuu vorstellen können, außer, dass es eine abgelegene Region irgendwo im Norden von Finnland sei. Darüber hinaus, im Widerspruch zu den negativen Zuschreibungen, hatten einige meiner InformantInnen erzählt, dass ihnen ihre Herkunft aus Kainuu auf dem Arbeitsmarkt in Helsinki sogar geholfen hatte. Sie erklärten, dass ArbeitgeberInnen eine ländliche Herkunft mit Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und der Bereitschaft hart zu arbeiten verbinden würden. Ein anderer Informant hatte geschildert, dass er sich in seiner Helsinkier Hausgemeinschaft oft mit der Erwartung der anderen HausbewohnerInnen konfrontiert sehe, dass er als ein Mann aus einem Dorf in Kainuu selbstverständlich alles reparieren könne, was im Haus kaputtgeht – obwohl er sich als handwerklich unbegabt versteht. Es ist anzunehmen, dass diese wohlwollenden Zuschreibungen mit den neben den negativen Zuschreibungen nach wie vor einflussreichen nostalgischen Vorstellungen von einer finnischen ländlichen Idylle und dessen BewohnerInnen zusammenhängen. Diese Forschungserfahrungen mit positiven und negativen Darstellungen von Ländlichkeit mögen aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit zunächst irritieren. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber eine Gemeinsamkeit. Sowohl idealisierende wie abwertende Darstellungen von Ländlichkeit können an lang etablierte Narrative anschließen, die in ihrer polarisierenden Überspitztheit aber nicht viel mit der einerseits weniger romantischen aber anderseits auch weniger dramatischen Realität des zeitgenössischen ländlichen Alltagslebens in Finnland zu tun haben. Der Grund dafür ist, dass es sich bei diesen Darstellungen um Außenperspektiven handelt, um urbane Blicke auf den ländlichen Raum. Auch David Bell sieht die Stadt als den Ort, an welchem idyllische wie dystopische Repräsentationen vom Hinterland als das Gegenüber von den urbanen Zentren gefertigt werden. Der ländliche Raum ist in diesen Repräsentationen gleichzeitig »an object of desire (because it is not-modern in a good way) and of dread (because it is not-modern in a bad way).«24 Sie bleiben dabei jedoch Repräsentationen, die nicht als akkurate Beschreibungen 24

Bell 2006, S. 150 (kursiv im Original).

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ländlicher Realitäten verstanden werden sollten. Manuel Trummer sieht Verklärungen und Verteufelungen dieser Art auch als Begleiterscheinungen der Transformationen des ländlichen Raums, die leider »kaum Raum für differenzierte Zwischentöne lassen.«25 Pertti Rannikko versteht den Gegensatz zwischen überspitzten Blicken aus der Stadt und der mondänen Realität des Alltagslebens in ländlichen Räumen auch als die Wurzel vieler Konflikte um Natur und Umweltschutz in Finnland. In diesen steht oft eine von idyllischen Bildern, Nostalgie und ästhetischen Idealen beeinflusste Wahrnehmung vom ländlichen Raum einer eher von Pragmatismus und wirtschaftlichen Interessen geleiteten Wahrnehmung der lokalen ländlichen Akteure gegenüber.26 Pia Olsson und Helena Ruotsala nennen so in ähnlicher Weise auch die Erwartungen von urbanen TouristInnen an die Ästhetik des ländlichen Finnland, in dem Innovationen der Landwirtschaft beispielsweise die in nostalgischen Repräsentationen präsenten Heupfähle der Vergangenheit mit bunten Plastikballen ersetzt haben.27 Es ist letztendlich also auch eine Distanz zum Alltagsleben im ländlichen Finnland und zu dessen Transformationen, durch die »the rural landscape becomes the other, the wide open spaces between the cities, cultural gaps to be filled with visions and fantasies.«28

Idyllischer Alltag in einer Problemregion In derartigen Visionen und Fantasien setzen sich im Fall von Kainuu im öffentlichen Diskurs eher die Horrorszenarien einer langsam sterbenden Peripherie anstatt romantisch-nostalgischer Repräsentationen durch. Madeleine Eriksson hat auch über Norrland, den Norden von Schweden, der viele negative Zuschreibungen mit Kainuu teilt, geschrieben, dass er im nationalen Kontext aufgrund solcher negativer Zuschreibungen oft als vom modernen und progressiven Außenbild Schwedens abweichend verstanden wird.29 Im Kontext des Konzeptes der rural others weist Eriksson darauf hin, dass solche negativen Repräsentationen von Regionen wie Norrland oder Kainuu Teil einer »deeply embedded practice and tradition of representing a subordinate region as afflicted with various vices and deficiencies so as to produce an exalted national identity«30 wären. Im Fall Kainuu stehen Repräsentationen einer marginalisierten, hilfsbedürftigen und rückwärtsgewandten Peripherie positiven Repräsentationen von Finnland 25 26 27 28 29 30

Trummer 2015, S. 124. Rannikko 1995, S. 78-79. Olsson/Ruotsala 2009, S. 10. Hämeenaho 2013, S. 193 Eriksson 2010, S. 95-96. Ebd., S. 96.

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nach außen gegenüber. Ein Land, das in diesen Darstellungen als ein Zentrum von Innovation, Technik, Bildung und Kunst präsentiert wird. Kainuu hat in diesen Repräsentationen keinen Platz. Es stellt sich also die Frage, wie junge Erwachsene aus Kainuu mit solchen negativen Repräsentationen von Kainuu umgehen, und wie sie Kainuu selber sehen. Ich möchte dabei auf zwei Aspekte eingehen. Das wären einmal die Darstellungen vom Alltagsleben in Kainuu durch meine InformantInnen selbst, die eben nicht nur negative, sondern auch idyllische Seiten ihres Lebens in Kainuu zeigen und die auch auf nostalgische Repräsentationen einer finnischen ländlichen Idylle verweisen. Es soll mit dem Material aber nicht der irreführende Eindruck einer vermeintlichen unveränderten Kontinuität von Alltagspraxen in einer zeitlosen ländlichen Idylle erweckt werden. Die gleich angeführten Elemente idyllischer Ländlichkeit haben sich im Laufe der Zeit zum Teil stark verändert, auch wenn sie auf eine ländlich-traditionelle Vergangenheit verweisen. Die nach wie vor wichtige Elchjagd hat sich zum Beispiel von einer Treibjagd in eine hochtechnisierte Unternehmung gewandelt, in dem die JägerInnen mit Peilsendern versehenen Elchhunden mit der Hilfe von Apps auf ihren Smartphones durch die Wälder von Kainuu folgen. Zum Abschluss möchte ich auf die Hilflosigkeit eingehen, die jungen Menschen in Peripherien oft zugeschrieben werden. Das Forschungsmaterial enthielt viele Beispiele, die derartige Zuschreibungen entkräften und die Gegenerzählung einer vielseitig begabten, kreativen und anpassungsfähigen jungen Landbevölkerung bedienen, die nicht abgehängt im Hinterland vergessen wurde, sondern die im Gegenteil bereit ist, Opfer zu bringen und hart zu arbeiten, um sich dort ein Leben zu ermöglichen. Pilvi Hämeenaho hat festgestellt, dass die »experience of ›living out‹ the idyll was widely shared by my informants.«31 Tatsächlich waren viele Elemente im Alltagsleben ihrer Informantinnen vorhanden, die aus nostalgischen Repräsentationen finnischer ländlicher Idylle bekannt sind. Sie schreibt, dass ihre Informantinnen mit ihren alltäglichen aber nostalgisch konnotierten Aktivitäten, wie dem Sammeln von Beeren und Pilzen, idyllische Ländlichkeit in ihrem Alltagsleben selber produzierten und so die aus Repräsentationen bekannte finnische ländliche Idylle ein Stück weit verwirklichten.32 Im Gegensatz zu bedrückenden Darstellungen von Kainuu waren auch in den Fotos und den Aussagen meiner InformantInnen viele aus den Repräsentationen einer finnischen ländlichen Idylle bekannte Elemente auffindbar. Im öffentlichen Diskurs werden solche idyllischen Elemente meist von Berichten über den Niedergang des Hinterlandes und von dramatischen demografischen Daten verdeckt – ein ethnografischer Zugang kann sie aber sicht-

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Hämeenaho 2013, S. 186. Ebd., S. 187.

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bar machen.33 Sie bieten eine Gegenerzählung zu stigmatisierenden Narrativen an und zeigen, warum Kainuu für viele junge Erwachsene trotzdem eine sehr attraktive Lebensumgebung ist. Ein von vielen InformantInnen genannter Grund für das Bleiben in Kainuu war zum Beispiel, dass es ihnen einen naturnahen Lebensstil und Hobbies ermöglichen würde, die auch in nostalgischen Repräsentationen eines autarken Landlebens präsent sind. Das betrifft neben dem bereits genannten Sammeln von Beeren und Pilzen auch das Angeln und Jagen. So wie es für SommerhausbewohnerInnen gezeigt wurde, haben meine InformantInnen so auch Elemente in ihren Alltag eingebracht, die auf nostalgische Vorstellungen einer traditionellen finnischen ländlichen Idylle verweisen.34 Einige InformantInnen hatten so zum Beispiel geschildert, dass ihre Eltern sie schon als Kinder mit auf die Jagd genommen hatten und sie im Gegenzug nun auch ihren Kindern die Jagd nahebringen würden. Auch die von den Eltern und Großeltern weitergereichten und gut gehüteten Informationen über günstige Blaubeerorte verweisen auf eine idyllisch-nostalgische, von Selbstversorgung geprägte Vergangenheit, die so bis in ihr gegenwärtiges Alltagswirken hineinreicht. Die Möglichkeit des Pflegens und Auslebens solcher idyllisch und nostalgisch konnotierten alltäglichen Praktiken ist ein Grund für viele gewesen, auch trotz der starken Abwanderung im ländlichen Kainuu zu bleiben. Das folgende von einem jungen Mann zur Verfügung gestellte Foto deutet zum Beispiel auf die Bedeutung der Jagd als Hobby hin (Abb. 1). In den genannten Praktiken spielt die Landschaft Kainuus eine zentrale Rolle. So hatten einige InformantInnen betont, dass es ihnen bei ihren Jagdausflügen nicht darum gehen würde, unbedingt Beute zu machen, sondern dass eher das Genießen der Landschaft, die Bewegung in der Natur und Entspannung im Vordergrund stehen. Eeva Uusitalo weist auch darauf hin, dass die Praxis des kulkea (»Umherstreifen«) schon seit langem Teil des Alltagslebens der Bevölkerung Nordfinnlands, der die lokalen Gegebenheiten damals wie heute einen sehr mobilen Lebensstil abverlangen, gewesen sei.35 Heute steht hier aber auch oft der Freizeitwert im Vordergrund (etwa bei Motorschlittenausflügen in die verschneite Wildnis) und nicht das Sichern des Lebensunterhaltes. Pirjo Korkiakangas hat gezeigt, wie die finnische Landschaft in der Nationalromantik von KünstlerInnen zum Symbol der finnischen Nation gemacht wurde und dass deren Kern Repräsentationen einer ländlichen Idylle waren.36 Die an solche Repräsentationen erinnernde Landschaft Kainuus ist auch heute noch mehr als

33 34 35 36

Vgl. Peters 2018, S. 454; Trummer 2015, S. 123-148. Vepsäläinen/Pitkänen 2010, S. 201. Uusitalo 2012, S. 104. Korkiakangas 2005, S. 36-38.

Problemregion oder ländliches Idyll?

Abb. 1: Foto von Informant »Kalle« (alle Namen sind Pseudonyme).

nur der Hintergrund für den Alltag von jungen Erwachsenen in der Region. Viele meiner InformantInnen in Helsinki schilderten so auch häufig ihre Sehnsucht nach der Landschaft von Kainuu und auch alle meine InformantInnen in Kainuu hatten dargelegt, dass ihnen die Landschaft und Natur von Kainuu sehr wichtig wären und, dass es ein Privileg sei, in dieser Region leben zu dürfen. Es ist keine Überraschung, dass die Landschaft von Kainuu auch das Motiv vieler Fotos ist, die die InformantInnen zur Verfügung gestellt hatten. Ein Informant hatte zum Beispiel das folgende Foto vom Dach seines Hauses aus aufgenommen. Die dort abgebildete Landschaft hatte er später im Interview als seine sielunmaisema (»Seelenlandschaft«) bezeichnet, die ihm Ruhe gibt und die er trotz der mangelnden lokalen Möglichkeiten niemals verlassen möchte. Neben den naturnahen Hobbies und alltäglichen Praktiken mit nostalgisch-idyllischer Konnotation, war also auch die in idyllischen Repräsentationen zentrale Landschaft von Nordfinnland selber ein wichtiges Argument dafür, in Kainuu zu bleiben (Abb. 2). Brian Short hat gezeigt, dass Vorstellungen von einer verschworenen und solidarischen ländlichen Gemeinschaft ein weiteres Element von Repräsentationen ländlicher Idylle sind.37 Diese Elemente sind auch in den finnischen nostalgischen Repräsentationen eines ländlichen Idylls präsent, in diesem Fall als eine idealisierte bäuerliche Gemeinschaft der Vergangenheit.38 Die Motive einer vertrauten und

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Short 2006, S. 141; Hämeenaho 2013, S. 190. Apo 1996, S. 176; Korkiakangas 2005, S. 36-38.

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Abb. 2: Foto von Informant »Matti«.

engverbundenen Gemeinschaft traten auch in den Fotografien und Aussagen meiner InformantInnen zutage. So wurde mir oft berichtet, dass im ländlichen Kainuu jede*r jeden kennen würde und dass die Menschen aufeinander achten würden. Dies manifestierte sich beispielsweise auch als das nach wie vor nachweisbare Pflegen von talkoot, der freiwilligen, unbezahlten und gegenseitigen Nachbarschaftshilfe (zum Beispiel die Unterstützung bei Renovierungsarbeiten oder dem Schneeschippen).39 Die Nähe zu Verwandten und der Familie war für viele ein weiteres Argument zu bleiben, gerade für diejenigen, die Kinder hatten. Im Gegensatz zu den negativen Darstellungen angeblicher rural others hatten sie die lokale Gemeinschaft als vertraut und vertrauenswürdig dargestellt und so in ihren Gegenerzählungen ein weiteres aus idyllisch-nostalgischen Repräsentationen vom Landleben bekanntes Element reproduziert. Das folgende Foto kann als eine idyllische Repräsentation einer ländlichen Gemeinschaft gesehen werden. Es zeigt den Bruder und den Vater des Informanten sowie einen Jungen aus der Umgebung bei der gemeinsamen Arbeit auf dem Acker (Abb. 3). Die agrarisch-selbstversorgerische Vergangenheit von Finnland bildet ebenfalls ein zentrales Element nostalgischer Repräsentationen einer finnischen ländlichen Idylle. Viele meiner InformantInnen betrieben eine kleine Nebenerwerbslandwirtschaft – meist neben Haupttätigkeiten im, zum Beispiel, Dienstleistungssektor oder in der Forstarbeit. Ihre selbstversorgerischen Tätigkeiten waren dabei im Regelfall nicht ausreichend für eine vollständige Autarkie und die meisten Lebensmittel kommen heute auch in Kainuu aus dem Supermarkt. Motive von selber angebautem Gemüse, selber gepflückten Beeren und selber erlegten Tieren waren 39

Anttila/Talve 1980, S. 24.

Problemregion oder ländliches Idyll?

Abb. 3: Foto von Informant »Matti«.

trotzdem oft im Forschungsmaterial aufzufinden, was ein Hinweis auf die Bedeutung dieser Alltagspraxen auch über die Subsistenz hinaus ist. Die InformantInnen berichteten hierbei mit Stolz von der Sauberkeit und der Natürlichkeit ihrer selbstproduzierten Lebensmittel. David Bell schreibt, dass dieses Ideal ›natürlicher‹ Lebensmittel heute gesamtgesellschaftlich wirkmächtig ist, wie es auch die Popularität von organic food oder Biolebensmitteln in den Großstädten zeigt.40 Anja Decker verweist ebenfalls darauf, dass die Subsistenzwirtschaft heute eine neue Anerkennung auch im Milieu urbaner Eliten erfährt.41 Diese Wirkungsmächtigkeit macht die Produktion eigener Lebensmitteln zu einer Möglichkeit für als rural

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Bell 2006, S. 157. Decker 2019, S. 653.

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others markierte junge Erwachsene Anerkennung zu generieren. Ihre selbstproduzierten Lebensmittel sind ein Wert, der auch in urbanen Szenevierteln wie Kallio oder Kreuzberg anerkannt wird. Das folgende Foto ist ein Beispiel für die stolze Präsentation selbstproduzierter Lebensmittel (Abb. 4).

Abb. 4: Foto von Informantin »Miia«.

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Fazit: von wegen hilflos In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass das Alltagsleben von jungen Erwachsenen im oft als düstere Peripherie dargestellten Kainuu viele Elemente aufweist, die auf nostalgische Repräsentationen idyllischer Ländlichkeit verweisen. Die InformantInnen haben in ihren Darstellungen ihres Alltagslebens an solche idyllischen Repräsentationen von Ländlichkeit angeschlossen und so eine Gegenerzählung zu den stigmatisierenden Darstellungen vom Leben im ländlichen Kainuu produziert. In ihren Darstellungen haben sie aber auch die Schwierigkeiten der Region thematisiert, die einige coping strategies notwendig machen.42 So berichtete eine Informantin etwa, sie verbringe fast drei Stunden täglich mit dem Pendeln zu ihrer Arbeitsstelle in Kajaani und auch das Schließen kleinerer Dorfschulen, die sie selber als Kinder noch besucht hatten, wurde von den InformantInnen mit Besorgnis beobachtet. Die in Kainuu Verbliebenen waren jedoch bereit, den Preis dieser negativen Seiten zu zahlen, um einen Zugang zu den positiven Seiten des Lebens in Kainuu zu bekommen – die in medialen Repräsentationen der Lebensbedingungen im ländlichen Kainuu oft nicht auftauchen. Im Kontext dieser Schwierigkeiten und coping strategies taucht im Forschungsmaterial wiederholt das Motiv der Unabhängigkeit auf. Ein Informant berichtete etwa, dass wohl die letzte Autowerkstatt in seiner Region schließen würde. Die nächste Werkstatt für das im ländlichen Kainuu lebenswichtige Auto wäre in diesem Fall zwei Stunden entfernt in Kajaani zu finden. Er nahm dies als ein Beispiel, um zu zeigen, dass man im ländlichen Kainuu zumindest rudimentäre mechanische Kenntnisse bräuchte. Er schilderte, dass es schon lange üblich wäre, Dinge selber zu reparieren oder zu bauen, oder NachbarInnen mit Problemen dieser Art zu helfen, einfach, weil man im ländlichen Kainuu oft auf sich selber gestellt ist. Dies ist nur ein Beispiel für die Wertschätzung von handwerklichen Fähigkeiten im ländlichen Kainuu, die negative Zuschreibungen einer vermeintlichen Hilflosigkeit, Passivität und Abhängigkeit der rural others entkräften. Die strukturellen Schwierigkeiten in den abgelegenen Regionen von Kainuu sind nicht zu leugnen, aber sie werden nicht nur passiv ertragen. Die jungen Erwachsenen der Region, die dortbleiben wollen, entwickeln stattdessen kreative Strategien, um sich ein Leben in Kainuu möglich zu machen. Es gilt also auch diese Strategien und Motivationen sichtbar zu machen und so ein differenzierteres Bild der sich stets wandelnden Lebenswelten junger Erwachsener in ländlichen Peripherien anbieten zu können. Manuel Trummer versteht die Europäische Ethnologie als eine Disziplin, die wegen ihres qualitativen, ethnografischen Zuganges besonders gut dazu geeignet ist, die heutigen Transformationen des ländlichen Raums zu analysieren und zu be-

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Bernard u.a. 2016, S. 29-53.

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schreiben.43 Sie kann also auch im Kontext der hier dargestellten zeitgenössischen Repräsentationen Kainuus auf Widersprüche und Leerstellen hinweisen und vereinfachenden Repräsentationen vom Hinterland die Perspektiven lokaler Akteure zur Seite stellen.44 Wie hier am Beispiel Kainuu gezeigt wurde, sind die Lebenswelten hinter den negativen und auch positiven Imaginationen von Ländlichkeit oft weit weniger dramatisch und auch weit weniger romantisch als die Repräsentationen von ihnen. Die Europäische Ethnologie – heute ausgestattet mit einem kritischen Bewusstsein auch über eigene vergangene Verklärungen ländlicher Alltagskultur – ist daher in der Tat bestens dazu geeignet, auch die zukünftigen Transformationen des ländlichen Raums forschend zu begleiten.

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Wildwest-Romantik und Spitzentechnologie Die Inszenierung der US-amerikanischen Marke John Deere im Landwirtschafts-Simulator 19 Lena Möller

Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht die Begegnung zwischen einem Mann und einem Traktor. Der Mann, bekleidet mit einem Holzfällerhemd, Weste und Basecap, fährt gemeinsam mit seinem Hund, vorbei an Heuballen und weiten Feldern, in einem Pickup-Truck zu seiner kürzlich gekauften Farm. Dort angekommen, öffnet sich langsam das Scheunentor, während der Mann seinen silbernen Schlüsselbund zückt, an dem ein kleiner Traktoranhänger baumelt. Als er seine Augen in die schwindende Dunkelheit richtet, zeichnet sich ein Lächeln auf den Mundwinkeln ab. Denn aus dem Inneren wird sein Blick erwidert: durch die großen, glänzend polierten Scheinwerfer eines John Deere-Traktors. Und so dauert es nur wenige Sekunden, bis der Mann sich in das Führerhäuschen setzt, geräuschvoll den Motor startet und sich die schweren Reifen ihren Weg nach draußen in das Tageslicht bahnen. Die gesamte Begegnung ist mit den ersten Zeilen des Tracks Electric Worry der US-amerikanischen Rockband Clutch unterlegt. Dieser Song ist in der US-amerikanischen Popkultur nicht unbekannt, handelt es sich schließlich um die zeitweilige Hymne der Vancouver Canucks – einem Team der National Hockey League1 – und um einen Track für Commercials und Serien wie Sons of Anarchy und Memphis Beat.2 Und so besingen die rauen Männerstimmen auch den amerikanischen Traum – einen Arbeiter vom Land, der einerseits vom großen Reichtum träumt und doch das einfache Leben und die eigene Freiheit schätzt.3 Es mag durchaus überraschen, dass es sich bei der zu Beginn geschilderten Szene nicht etwa um einen Werbespot aus dem US-Fernsehen handelt. Beschrieben wird hingegen ein 40-sekündiger Ausschnitt eines CGI-Trailers des Landwirtschafts-Simulators 19 aus der Simulationsspiel-Reihe des Schweizer Ent-

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Vgl. Williams 2019. Vgl. MÖRAT 2016. Vgl. Clutch 2007.

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wicklerstudios Giants Software aus Schlieren bei Zürich.4 Was zunächst wie ein ›Nischentitel‹ anmuten könnte, gilt seit seiner Ersterscheinung im Jahr 2008 als erfolgreichstes Videospiel der Schweiz und sicherte sich in seiner zweiten Version ein Jahr später den Titel als meist verkauftes Videospiel in Deutschland.5 Auch die Ende 2018 veröffentlichten Absatzzahlen der mittlerweile elften Version wurden im deutschsprachigen Raum konsequent in Superlativen verkündet. So schrieb etwa die deutsche Computerspielzeitschrift Gamestar am 10. Dezember: »In den ersten Tagen nach Release ist der Landwirtschafts-Simulator 19 bereits ein Millionenseller. Nur zehn Tage hat es gedauert, ehe die Simulation die Millionengrenze knackte. Laut einer Pressemitteilung schaffte es der Titel in den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern auf die oberen Plätze der Software-Verkaufscharts.«6 Die Aufregung um den Trailer, der im Juni 2018 im Rahmen der in Los Angeles beheimateten Spielemesse Electronic Entertainment Expo (E3) präsentiert wurde, steigerte sich vor allem durch die erstmalige Kooperation mit einem der weltweit größten Hersteller für Landtechnik, dem im Jahr 1837 im Bundesstaat Illinois gegründeten und international marktführenden Unternehmen Deere & Company, dessen Gründer John Deere (1804-1886) den ersten selbstreinigenden Stahlpflug der Welt erfand. Ebenso wie der Konzern selbst, rekapitulieren Liebhaberwerke wie Udo Paulitzʼ reich bebilderter Sammelband über John Deere-Traktoren die Firmengeschichte häufig in der Form einer Erfolgserzählung: die Geschichte des einfachen Schmieds, dessen Erfinderreichtum dem Unternehmen zu weltweiter Popularität verhalf. Heute besitzt der Konzern mit dem charakteristischen Branding eines springenden Hirschs international einen hohen Marken-Wiedererkennungswert und ist weitläufig unter dem Label John Deere populär.7 Erstmals im Spiel sind also 15 Fahrzeugmodelle des Herstellers vertreten, die den Fuhrpark der steuerbaren Maschinen erweitern, mit denen die Spieler8 beispielsweise Felder pflügen, Heuballen transportieren oder die Ernte einholen können. Insgesamt listet Giants Software 112 Kooperationspartner auf, darunter weitere europäische und außereuropäische namhafte Landtechnik-Hersteller wie CASE, AGCO/Fendt, Deutz oder

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Publiziert wurde der insgesamt 1:45 minütige Trailer vom Pariser Publisher Focus Home Interactive, der sich schon für diverse Vorgänger verantwortlich zeigte. Siehe: Farm like never before. Landwirtschafts-Simulator 19. E3-Trailer. Giants Software. Veröffentlicht im Juni 2018. USA/Schweiz [Ein Reveal-Trailer erschien bereits im Februar 2018]. Vgl. Widmer 2013. Dietrich 2019. Vgl. Paulitz 2009, S. 8-11. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Rahmen dieses Aufsatzes die männliche Form verwendet. Die jeweiligen Begriffe schließen jedoch ausdrücklich alle Geschlechter mit ein.

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Claas.9 Dem Entwicklerstudio zufolge sei es möglich, »über 300 originalgetreue landwirtschaftliche Fahrzeuge samt Zubehör der führenden Marken«10 zu steuern.

Kulturanalytische Zugangsweisen zum Landwirtschafts-Simulator 19 Der Landwirtschafts-Simulator 19 gehört zum Genre der sogenannten Berufssimulatoren oder auch Planspiele (strategical simulation games). Das bedeutet, dass er sich simulativer Techniken bedient, die eine Nachbildung der Realität schaffen. Gleichzeitig produzieren Planspiele aber auch eigene Wirklichkeiten, da in ihnen gesellschaftliche, technische oder politische Botschaften zum Ausdruck kommen.11 Landwirtschafts-Simulationsspiele (agricultural simulation games) fokussieren sich auf den Bereich der Agrarwirtschaft. Zu den Aufgaben der Spieler gehört der Einkauf von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Geräten, das Bestellen, Pflügen und Düngen der Felder und die anschließende Ernte.12 Im sogenannten Karrieremodus steht dafür zunächst ein kleiner Bauernhof ohne viele Gerätschaften zur Verfügung, den es im Verlauf des Spiels durch strategisches Wirtschaften mit größeren Maschinen und einer höheren Anzahl an Nutztieren zu erweitern gilt. Über dieses Spielprinzip schreibt das Entwicklerstudio auf seiner Homepage: »Übernimm die Rolle eines modernen Landwirts und entwickle deinen Hof auf zwei großen Spielumgebungen in Amerika und Europa voller spannender und neuer landwirtschaftlicher Aktivitäten«13 . Im Kern liegt dem Landwirtschafts-Simulator 19 also ein kapitalistisches Arbeitsethos zugrunde, das den zunehmenden Gütererwerb durch Fleiß und beharrliches Arbeiten zum Erfolgsmaßstab macht.14 Das produktivistische, an konsequenter Ertragssteigerung orientierte Spielprinzip spiegelt dabei grundsätzliche Leitbilder der europäischen Agrarpolitik nach 1957 wider.15 Auch der amerikanische Traum scheint darin auf: Ein liberalistischer Grundgedanke, dass jedem grundsätzlich die Freiheit gegeben sei, seine Ziele zu verwirklichen. Allerdings müsse er dadurch auch in einen Wettbewerb mit anderen treten.16 Für den Aufbau des eigenen Betriebs steht im Spiel ein virtueller Raum zur Verfügung, in welchem Tätigkeiten ausgeführt werden können, die in der Alltagsrealität der Spielenden schwer zugänglich oder ohne entsprechendes Fachwissen kaum umsetzbar wären.17 Hinzu kommt, dass der Landwirtschafts-Simulator 19 ein breites 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vgl. Landwirtschafts-Simulator: Offizielle Homepage. Ebd. Vgl. Haar 2019, S. 67 und S. 70-71. Vgl. Breiner/Kolibius, S. 49. Landwirtschafts-Simulator: Offizielle Homepage. Vgl. Lipp 1993, S. 19. Vgl. u.a. Kluge 2000, S. 289-314. Vgl. Weidinger 2006, S. 48-49. Vgl. Becker/Parker 2012, S. 17.

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Spektrum an Produktionszweigen abdeckt, die sich häufig innerhalb eines landwirtschaftlichen Betriebs subsumieren.18 Das Spiel selbst bewirbt ausdrücklich das Szenario einer »modernen Landwirtschaft«, bei welcher der umfangreiche Fuhrpark eine tragende Rolle spielt. Giants Software lässt dazu verlauten, dass besonders eine möglichst realitätsgetreue Darstellung der Fahrzeugmarken angestrebt wird, um den Wünschen der Kooperationspartner und Fans zu entsprechen (»for them it’s important that the machines look and feel as true to life as possible«19 ). Dies ist auch das Konzept vergleichbarer Spiele wie dem Microsoft Flight Simulator, der einst aus einem Programm der NASA in den 1970er-Jahren entstand, oder der Bus-Simulator-Reihe des deutschen Publishers Astragon. All die genannten Simulationsreihen stehen dabei stetig vor der Herausforderung, den Balanceakt zwischen Realismus und Unterhaltung zu meistern.20 Angesichts dieser Hintergründe deutet sich bereits an, dass die Platzierung der Marke John Deere im anfänglich beschriebenen Trailer-Ausschnitt durchaus kein nebensächliches Detail darstellt. Ebenso wenig zufällig scheint der intensive Blickaustausch zwischen dem männlichen Protagonisten und der doch eigentlich leblosen Maschine, deren Begegnung im Mittelpunkt steht. Und auch die visuell in Szene gesetzten weiten Felder, Heuballen und roten Farmgebäude zeigen nicht etwa eine rein fiktive Landschaft, sondern verweisen auf tradierte, spezifisch USamerikanische Bilderwelten. Hinzu kommt, dass all diese Aspekte nur auf den ersten Blick im Bereich des Virtuellen verhaftet sind. Eine nähere Betrachtung führt vielmehr vor Augen, dass Spiele wie der Landwirtschafts-Simulator 19 durchaus an reale Diskurse der Arbeitswelt im Agrarsektor anknüpfen und sogar auch zum (politischen) Sprecher verschiedener sozialer Akteure avancieren.21 Deshalb erscheint es lohnenswert, einen genaueren Blick auf die anfänglich geschilderte Szene zu werfen, um die darin verborgene Bildsprache zu entschlüsseln. Welche tradierten Motive treten hinter den einzelnen Ausschnitten zutage und worin liegt ihre zeitspezifische Bedeutung? Immerhin bilden das Digitale und das Analoge laut der Kulturanthropologin Gertraud Koch keine Gegensätze, sondern sind vielmehr von einer starken Wechselseitigkeit geprägt.22 So sei es laut Koch auch das Erkenntnisinteresse der Kulturanalyse, »ein möglichst breit gefächertes Bild davon zu entwerfen, wo und wie die technischen Prinzipien des Digitalen Anschlussstellen an Kulturelles finden und herstellen«23 . Eine Hilfestellung bietet der Rückgriff 18

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Bemerkenswert erscheint, dass im Kontrast dazu gerade in den USA seit den 1950er-Jahren unter dem Einsatz neuer technischer Möglichkeiten eine immer stärkere Spezialisierung der Betriebe zu verzeichnen ist. Vgl. Wittmann 2017, S. 58-59. Martin Rabl, zitiert nach: Calvin 2018. Vgl. Loguidice/Barton 2009, S. 101-102 und S. 104. Vgl. Roth 2018, S. 108. Vgl. Koch 2017b, S. 8-9. Koch 2017b, S. 11.

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auf ein hermeneutisch-semiotisches Verfahren, das eine narrative, visuelle, darstellerische und auditive Ebene berücksichtigt.24 Der Grazer Kulturanthropologe Thomas Lackner plädiert zudem dafür, gerade Videospiele als »kulturelle Formation zu betrachten, als ein Netz, das kulturelle Praktiken, ihre Auswirkungen und soziale Gruppen miteinander verbindet«25 .

Ein US-amerikanischer Weltmarktführer als Kooperationspartner Dass ausgerechnet ein 8400R-Traktor der Marke John Deere eine tragende Hauptrolle im Trailer einnimmt, überrascht angesichts der hohen Popularität dieses Fahrzeugtyps kaum. Fokussiert werden im Trailer sichtbar die kennzeichnende Nummer und das Markenlogo des springenden Hirschs26 auf der charakteristischen grün-gelben Karosserie und dem Lenkrad des Führerhauses. Die Einstellungen zeigen sowohl Detail- als auch Totalaufnahmen des Fahrzeugs aus verschiedenen Perspektiven, untermalt von elektronischen Gitarrensounds und einem langsam anschwellenden Takt der Musik. Explizit zu sehen ist im Trailer ein Großtraktor, der bereits im Jahr 2016 in Deutschland als »neues Flaggschiff«27 der Marke mit dem Slogan »Mehr Komfort, mehr Smartfarming«28 beworben wurde. Das Modell gehört bis heute zu den internationalen Spitzenmodellen, die für eine moderne Präzisionslandwirtschaft stehen und sich im oberen Preissegment bewegen – nicht zuletzt durch diverse digitale Features.29 Und so liegt auch der Fokus des Trailer-Ausschnitts weniger auf dem Gebrauchswert des Fahrzeugs, als vielmehr auf dem Design, das auf die Vorreiterfunktion der Marke verweist.30 Der Traktor bleibt deshalb kein namenloses, praktikables Fahrzeug eines Landwirts. Ebenso wie andere Maschinen und Anlagen im Spiel wird er untrennbar mit einem Unternehmen verbunden und damit Teil eines größeren Marktes, der über die Funktion und Bedeutung des Traktors im Spiel hinaus geht.31

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Vgl. Bechdolf 2007, S. 289-316. Lackner 2014, S. 14 und S. 17. Laut des bereits erwähnten Sammelbandes ikonischer John Deere-Traktoren symbolisiert der seit 2001 erstmals nach oben ansetzende Sprung des Hirschs den fortlaufenden wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Vgl. Paulitz 2009, S. 10-11. Brockmann 2016. Ebd. Vgl. Deter 2016. Vgl. Lipp 1993, S. 26. Vgl. Seifert 2019, S. 171.

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Abb. 1: Farm like never before. Landwirtschafts-Simulator 19. E3-Trailer. Giants Software. Veröffentlicht im Juni 2018. USA/Schweiz [Ausschnitt 00:33-00:42].

Während in den Trailern der Vorgänger der Fokus deutlich auf der Präsentation einer Franchise-Bandbreite lag32 , nimmt John Deere hier neben der später ebenfalls auftretenden Marke CASE die prominenteste Rolle ein. Ein offizielles Statement der deutschen John Deere-Marketingabteilung verweist in diesem Kontext auf zwei Ziele der Kooperation: erstens die Präsenz der eigenen Maschinentechnik innerhalb des Spiels und zweitens eine Steigerung der Markenbekanntheit innerhalb der weltweit vernetzten Landwirtschaftsbranche: 32

Im offiziellen Gamescom-Trailer des Landwirtschafts-Simulators 17 (2016) tauchen unter anderem sichtbar die Marken JBC, Hampp, CASE, New Holland oder Bergmann auf.

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»Our main target is not the gaming community – our main target is the farming community, and we believe that many, many of our customers and drivers are also following Farming Simulator and they are active users of it. This is why we are active.«33 Umgekehrt führt auch Giants Software als wesentlichen Grund für die Kooperation eine stärkere Zielgruppenanbindung derer an, die selbst in der Landwirtschaft tätig sind oder ein breites Wissen über die Branche besitzen.34 Hinzu kommt die jüngste Entwicklung einer Expansion des LandwirtschaftsSimulators in den ESport-Bereich. So inszenierte Giants Software im Jahr 2019 mit der Farming Simulator-League eine Championship-Tournee mit 15 Stationen quer durch Europa, bei welcher Fans in zusammengestellten Teams um Preisgelder im Gesamtwert von 250.000 Euro spielen konnten. Die Schauplätze der Tournee waren unter anderem die Großevents der Gaming-Branche, wie die Gamescom in Köln oder die Paris Games Week, Landwirtschaftsmessen wie die AgriTechnica in Hannover oder die hauseigene FarmCon in Harsewinkel.35 Auch hier traten die Kooperationspartner in Erscheinung, indem Landtechnik-Hersteller wie John Deere, Horsch oder Claas jeweils eigene Teams ins Rennen schickten. Auf der deutschsprachigen Homepage von John Deere wird das ESport-Engagement mit Videoaufnahmen der Matches, Newsticker und Fotos des Teams im hauseigenen Brand mit John Deere-Basecap und -Shirt aufwendig in Szene gesetzt.36 Bei der Vorstellung der Teammitglieder werden vordergründig muskulöse, technisch versierte Männer in verschränkter Armhaltung präsentiert, die auf biographische Erfahrungen in der Landwirtschaft zurückgreifen können.37 John Deere bedient damit ein gängiges Narrativ, welches auch Giants Software immer wieder bekräftigt: Laut Angaben des Entwicklerstudios besäßen etwa ein Viertel der Landwirtschafts-Simulator-Spieler einen Bezug zur Landwirtschaft, acht bis zehn Prozent seien sogar in Vollzeit in diesem Sektor tätig.38 Davon ausgehend lässt sich also festhalten, dass hinter der Markenplatzierung innerhalb des Trailers weitaus größere infrastrukturelle Zusammenhänge stehen. Gertraud Koch versteht solche Infrastrukturen als Zusammensetzung aus technologischen, organisationalen und sozialen Elementen, die in Bezug auf ihre räumliche Reichweite sowohl regionale als auch globale Dimensionen besitzen können 33 34 35 36 37 38

Stefan Mügge, zitiert nach: Switzer 2019. Vgl. Martin Rabl, zitiert nach: Calvin 2018. Vgl. Hayward 2019. Vgl. John Deere. Offizielle Homepage Deutschland. Vgl. o. A. 2019. Angaben wie diese variieren jedoch in verschiedenen Interviews. So gibt Martin Rabl – Marketing & PR Manager bei Giants Software – im Jahr 2017 einen Anteil an Landwirten von 10 bis 15 Prozent an, räumt jedoch ein, dass dem Unternehmen darüber keine genauen Zahlen vorliegen. Vgl. o. A. 2016.

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Abb. 2: Das hauseigene John Deere-ESport-Team in einheitlichem Brand der Marke auf der FarmCon19.

und Machtverhältnisse spiegeln.39 Schließlich werden bestimmte Zielgruppen aktiv als Kunden und Promoter fokussiert und eine Vormachtstellung der Marke gefestigt. Das Sponsoring der ESport-Events durch den Landtechnik-Hersteller John Deere sowie dessen Präsenz innerhalb des Spiels verdeutlicht die Vernetzung unterschiedlicher Brancheninteressen und ihrer Akteursgruppen40 , die gemeinsam das Bild einer medial repräsentierten Agrarwirtschaft entwerfen, die sich technikverliebt und digital versiert vermarktet. Der spielerische Zugang, der sich in der Produktplatzierung innerhalb des Landwirtschafts-Simulators 19, aber auch in den auf Messen ausgetragenen Wettkämpfen zeigt, spricht dabei ein menschliches Grundbedürfnis nach Unterhaltung und Spiel an, das in den Dienst einer ökonomischen Agenda gestellt wird, die durchaus politische Tragweite besitzt.41 Überaus deutlich verschmelzen hier die digitale Welt des Simulators mit regional, national und sogar international bedeutsamen Events der landwirtschaftlichen Branche.

Die Inszenierung einer US-amerikanischen Landwirtschaftsidylle Gleich die ersten Szenen des Trailers eröffnen die Ankündigung des LandwirtschaftsSimulators 19 mit der Vorstellung eines neuen US-amerikanischen Settings. Gezeigt werden ein quietschendes Windrad, eine weite Landschaft mit gelben Feldern und Heuballen vor einer Bergkulisse und ein rot-weiß gestrichenes Farmgebäude mit einem großen Scheunentor im Morgengrauen. Auf letzteres steuert der Mann mit seinem Hund in einem Pickup-Truck zu. Erste Gitarrenakkorde kündigen den Beginn des Liedes und damit der Storyline an. 39 40 41

Vgl. Koch 2017a, S. 109-111. Vgl. Wittmann 2017, S. 60 und S. 71. Vgl. Schwesinger 2018, S. 93.

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Abb. 3: Farm like never before. Landwirtschafts-Simulator 19. E3-Trailer. Giants Software. Veröffentlicht im Juni 2018. USA/Schweiz [Ausschnitt 00:00-00:14].

Bei der Windmühle handelt es sich um eine sogenannte Westernmill, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Nordamerika entwickelt wurde und – ähnlich wie der Pickup-Truck – als Symbol des industriellen amerikanischen Fortschritts fungiert.42 Ebenso ikonisch besetzt ist auch das Farmgebäude, dessen Bautypus sich – häufig in Verbindung mit dem Windrad – als beliebtes Postkarten-Motiv für Staaten wie Kansas, Iowa, Nebraska oder Vermont erweist. Eine vergleichbare Scheune mit Berglandschaft und Feldern findet sich beispielsweise auf dem Cover des Bildbandes Barn: Form and Function of an American Icon von Susan Carol Hauser, welche die hölzernen Scheunen ebenfalls zu einem Symbol der amerikanischen Landwirtschaft erklärt.43 Die spezifische Auswahl der Motive, die mehrfach auf das 19. Jahr42 43

Vgl. Gasch/Twele 2005, S. 29-30. Siehe: Hauser 2017.

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hundert und die Industrialisierung verweisen, erinnert nicht zufällig an die cineastischen Inszenierungen populärer Western-Film-Produktionen wie The Way West (1967). Dort werden fruchtbare Landschaften und Gebirgszüge präsentiert, die den amerikanischen Siedlern in der Form eines von Gott gesegneten »gelobten Landes« eine sichere Zukunft verheißen. Auch hier begleitet die Kamera oft eine Kolonne oder einen Reiter zu kleinen Ortschaften oder Landstrichen, die kultiviert werden sollen.44 Im Falle des Landwirtschafts-Simulators 19 dominiert eine mittlerweile menschengeformte, ökonomisch genutzte Kulturlandschaft. Insgesamt spielt die Szene des Trailers auf eine neu verfügbare Karte innerhalb des Spiels an: den fiktiven US-amerikanischen Landstrich Ravenport. Dieser zeichnet sich durch weitläufige Felder aus, auf denen unter anderem Mais, Sojabohnen und Hafer angebaut werden können. Hinzu kommt ein Transportnetz mit Schiffen und Zügen oder die Möglichkeit, sich der Pferdezucht zu widmen.45 Anstatt einen spezifischen Bundesstaat oder gar eine real existierende Örtlichkeit zu benennen, präsentiert der Trailer eine Art Collage, bei der sich eine US-amerikanische Landwirtschaftsidylle aus ikonisch aufgeladenen Bilderwelten zusammensetzt. Interessant erscheint auch, dass der Landwirt seine Farm mit der aufgehenden Sonne ansteuert, mit langsamen, bedächtigen Bewegungen und als sein eigener Herr, der frei über die eigene Arbeitszeit verfügen kann. Statt einer industriellen »Zeitdiktatur«46 , die ein schnelles Arbeitstempo und Pünktlichkeit fordert, suggeriert der Trailer ländlichen Müßiggang. Angelehnt an die Betrachtungen des Geographen Christoph Baumann über die hohe Popularität von Freizeitmagazinen wie der Landlust, könnte man auch den Landwirtschafts-Simulator 19 als eine »Entschleunigungsinsel«47 bezeichnen, in welcher der Spieler während seiner Freizeit einen privaten Rückzugsort findet, um der Strenge des unübersichtlichen Alltags zu entkommen.48 Bewusst bildet das Spiel deshalb nicht den zeitlich getakteten, realitätsnahen Arbeitsalltag des »modernen Landwirts« ab, sondern entspricht vielmehr dem Bedürfnis der spielenden Zielgruppe, die immer wieder in Interviews dahingehend zitiert wird, dass das Spielen der Landwirtschafts-Simulatoren einen entspannenden Effekt habe.49 Deshalb wurde im Trailer auch darauf verzichtet, den landwirtschaftlichen Betrieb etwa in einer urbanisierten Kulisse zu präsentieren, in der große Produktionshallen, eine eng ausgebaute Infrastruktur und Baustoffe wie Beton oder Glasfronten dominieren. Stattdessen wird der kapitalistische Grundgedanke des Spiels einer immer effizienteren Erwirtschaftung von

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Vgl. Klein 2015, S. 65 und S. 76. Vgl. Rüther 2018. So etwa: Lipp 1993, S. 21. Baumann 2018, S. 235. Vgl. Bausinger 2001, S. 10. Vgl. o. A. 2017.

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Ressourcen mit einer inszenierten »Agrarromantik«50 abgeschwächt. Anstatt die Geschichte eines stetig wachsenden Betriebs zu erzählen, der durch viele gleichzeitige Hände geführt wird, findet hier eine Anlehnung an die Narrative der amerikanischen Kolonialisierung statt: es geht um einzelne fleißige Pioniere, die das Land mit ihren eigenen Händen formen.51

Der Traum von der beherrschbaren Maschine Einen vorläufigen Höhepunkt des Trailers bildet das Aufeinandertreffen des Protagonisten mit dem John Deere-Traktor im Halbdunkel der Scheune. Hier setzen die ersten Zeilen des Liedes ein, dessen besungener einfacher Landarbeiter dem gezeigten Mann eine Identität verleiht, die letztlich der Spieler selbst übernehmen darf. Interessant erscheint vor allem die visuelle Inszenierung der Begegnung zwischen Mensch und Maschine, die in ihrer bildlichen Ikonographie an den Showdown aus einem Western erinnert. So ähnelt die Montage aus unterschiedlichen Einstellungsgrößen, der Fokus auf den Blickaustausch und die geöffnete Hinterhand mit dem Schlüsselanhänger an die Duelle der Filmklassiker Zwei glorreiche Halunken (1966) und Spiel mir das Lied vom Tod (1968) von Sergio Leone.52 Solche Assoziationen sollen im späteren Verlauf des Trailers sogar noch deutlicher hervortreten, wenn der Traktor während des Refrains (»Bang, bang, bang, bang! Vamonos, vamonos!«53 ) von einer Herde wild galoppierender Pferde begleitet wird. In diesem Kontext wird das Fahrzeug im übertragenen Sinne personifiziert. Es erhält durch das sichtbare Branding nicht nur einen Namen, sondern scheint durch die inszenierte Gegenüberstellung von Auge und Scheinwerfer nahezu »belebt«54 . Der Schlüsselanhänger zeigt an, wer die Maschine als Respekt einflößendes Gegenüber am Ende zu bändigen weiß. Auf diese Weise interpretiert, zeigt die Szene, wie die Maschine als Herausforderung präsentiert wird, die es durch den Spieler zu meistern gilt. Zwar löst das Technische nicht mehr Unbehagen und Angst aus – gehört es schließlich zum festen Repertoire des modernen Landwirts. Doch der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger betont, dass gerade diese Selbstverständlichkeit einen Nährboden dafür schafft, dass der Mensch die ihn umgebende Technik in seine sozialen Beziehungsnetze einflechtet.55 Bereits in den Vorgängern waren es vor allem die spektakulär inszenierten Fahrzeuge, die den Kern jedes Trailers ausmachten und mit musikalischer Unter50 51 52 53 54 55

Baumann 2018, S. 110. Vgl. Klein 2015, S. 76. Vgl. ebd, S. 82-83. Clutch 2017. So etwa: Bausinger 2005, S. 35. Vgl. Bausinger 2005, S. 34-35.

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Abb. 4: Farm like never before. Landwirtschafts-Simulator 19. E3-Trailer. Giants Software. Veröffentlicht im Juni 2018. USA/Schweiz [Ausschnitt 00:22-0:31].

malung dramaturgisch in Szene gesetzt wurden. Interviews und Presseberichte zitieren das Entwicklerstudio diesbezüglich, dass der Landwirtschafts-Simulator 19 insbesondere Agrarwirten, aber auch normalen Nutzern die Möglichkeit böte, »große und kostspielige Maschinen ausprobieren zu können, die für sie in der Realität wohl unleistbar wären«56 . Der Medienwissenschaftler Christian Roth sieht in der Faszination für Berufssimulatoren eine gewisse Entlastungsfunktion. Diese Spiele böten: »[…] eine geordnete, geradezu heile, klar strukturierte und daher funktionierende Welt. Ohne zwischenmenschliche Konflikte erlebt man den eigenen Fortschritt, das Wachstum […]. Simulationen bieten Raum für frei gewählte Arbeit, die als 56

Leitner 2019.

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Unterhaltung empfunden wird. [Darüber hinaus] können sie das Gefühl vermitteln, eine komplizierte Technologie oder Technik (Traktor, Panzer, Zug, Flugzeug) zu beherrschen.«57 Die Illusion einer beherrschbaren Technologie kann allerdings nur dadurch erreicht werden, indem die Entwickler auf eine Komplexitätsreduzierung zurückgreifen oder dem Spieler erlauben, den Schwierigkeitsgrad an die eigene technische Expertise anzupassen.58 Simulatoren können und wollen dabei nicht alle Einzelheiten einer realen Alltagswelt originalgetreu abbilden. Die dort auftretenden Fahrzeugmodelle erfassen keinesfalls jedes Attribut eines durch sie repräsentierten Originals, sondern jene, die von den Entwicklern, Kooperationspartnern und Nutzern als relevant eingestuft werden.59 Im Falle des im Trailer dargestellten Traktors muss also der Spagat gelingen, die Maschine einerseits möglichst realitätsgetreu und im Sinne der Marke wiederkennbar und ästhetisch ansprechend darzustellen. Andererseits sollen eine leichte Bedienbarkeit und eine betonte Lässigkeit den Spielern suggerieren, dass sie eine solche Maschine ohne Vorwissen steuern und damit zu »ihrer Maschine« erklären können.

Die virtuelle Landwirtschaft zwischen Wildwest-Romantik und Spitzentechnologie Die enge Vernetzung digitaler und analoger Formen der Landwirtschaft gilt auch im Jahr 2019 als eines der Topthemen der Branche. Berichte von der AgriTechnica 2019 in Hannover betonen den zunehmenden Einsatz von Robotern und eine fortschreitende Digitalisierung der Agrarwelt, in welcher sich Betriebe weitläufig vernetzen und verstärkt mit spezialisierter Software arbeiten (»Smart Farming«).60 John Deere verkündete in den letzten Jahren beispielsweise, an effizienten digitalen Lösungen für eine weltweite Lebensmittelversorgung und einen besser justierbaren Pestizideinsatz zu arbeiten.61 Und so verwundert es auch kaum, dass im Jahr 2018 in Deutschland eine Veranstaltung unter dem Titel John Deere digitalisiert die Landwirtschaft mit Vertretern des Unternehmens stattfand, die im Vorfeld mit folgenden Worten beworben wurde: »Die Landtechnik-Hersteller wie John Deere setzen seit Jahren auf die Unterstützung von Satelliten-Technik, sowie auf die Vernetzung von Maschinen

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Roth 2016. Vgl. Loguidice/Barton 2009, S. 93-94. Vgl. Stachowiak 1973, S. 132. Vgl. dpa 2019. Vgl. Maar 2016, S. 75.

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und Arbeitsabläufen. Der Landwirt ist heutzutage digital. In der MarketingKommunikation werden Soziale Netzwerke und digitale Medien immer wichtiger. Sehen Sie wie John Deere heute den Landwirt anspricht […].«62 Spiele wie der Landwirtschafts-Simulator 19 reagieren sensibel auf gesellschaftliche, politische und ökonomische Erwartungshaltungen an eine Landwirtschaft des Informationszeitalters, die souverän mit technischen Entwicklungen Schritt hält und digitale Tools zu nutzen weiß. Der Slogan des Trailers »Farm like never before« wird damit zu einem Versprechen, den Spielern Innovatives zu präsentieren. So werden vor allem Fans mit einer gewissen Technikbegeisterung in den Fokus genommen. Giants Software baut dabei auf ein Vorwissen der Spieler, die eine technologisch durchdrungene Arbeitswelt als selbstverständlichen Teil ihres Alltags begreifen.63 Der Umgang mit Technik ist immerhin als eine eingeübte kulturelle Praxis zu verstehen, bei der durch das schnelle ›Altern‹ der Angebote das eigene Wissen stets aktualisiert werden muss. Sowohl Entwickler als auch Konsumenten übersetzen deshalb hochkomplexe technische Maschinen, Fahrzeuge und Vorgänge in leichter verständliche, reduzierte Abbildungen der Realität.64 Gleiches gilt für den im Spiel dargestellten landwirtschaftlichen Arbeitsalltag. Gezeigt wird vordergründig ein »gutes Leben auf dem Land«65 mit sich homogen wiederholenden Arbeitsabläufen und übersichtlichen Wirtschaftskreisläufen. Um das Konzept ansprechend zu bewerben, greift der Trailer auf fest im kollektiven Gedächtnis verankerte US-amerikanische Narrative und Bilder zurück, die ganz in der Tradition des Western-Films auf romantisierte Weise die Geschichte des Pioniers erzählen, der das ihm gegebene Land nach seinen Vorstellungen formt. Im starken Kontrast zu dieser Geschichte von Freiheit und Autonomie stehen die komplexen Verflechtungen ökonomischer und politischer Netzwerke des Informationszeitalters, die längst nicht mehr aus zentralen Hierarchieträgern bestehen, sondern zunehmend zu einer Vielzahl an sozialen Akteuren mit Handlungsmacht tendieren. Die landwirtschaftliche Branche ist schließlich kaum als homogene Einheit zu betrachten, vielmehr ergeben sich »komplexe Verflechtungen […] innerhalb eines Systems«66 . Deshalb erwies sich auch im Rahmen der Analyse ein Blick ›hinter die Kulissen‹ als fruchtbar. Hier wurde deutlich, dass der Landwirtschafts-Simulator 19 keinesfalls nur die Interessen des dahinterstehenden Entwicklerstudios vertritt. Vielmehr verschafft er verschiedenen Vertretern der Agrarbranche und der Unterhaltungsindustrie Anknüpfungspunkte für eine positive Außenwirkung und Zielgruppenanbindung. 62 63 64 65 66

Marketing Club Rhein-Neckar e.V. 2018. Vgl. Bausinger 2005, S. 36. Vgl. Herlyn 2005, S. 412. Vgl. Trummer 2018, S. 104-105. Wittmann 2017, S. 71.

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Gleichzeitig zeigt die Inszenierung der Landwirtschaft im Trailer-Ausschnitt, dass sich die kulturelle Wahrnehmung des Ländlichen unter dem Druck der Modernisierung in einem stetigen Aushandlungsprozess befindet.67 Nach wie vor scheint das Bedürfnis nach traditionell verhafteten, romantisierten Vorstellungswelten von Ländlichkeit, Bodenständigkeit und Naturnähe ungebrochen. Begleiterscheinung einer technisierten Moderne ist immer auch die Sehnsucht nach dem Vertrauten.68 Infolgedessen kommt es zur Konstruktion requisitenähnlicher Bilder.69 Auch die inszenierten US-amerikanischen Landschaften befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen einer agrarisch geprägten, aber mit der Natur im Einklang befindlichen, und einer industrialisierten Welt, in der technische Innovationen zelebriert werden.70 So sehr sich die Grundphilosophie des Spiels am kapitalistischen Ideal des freien Unternehmertums anlehnt, bei dem Angebot und Nachfrage den Markt bestimmen71 und der Einzelne nur ein Zahnrad im großen Getriebe ist, so konstant erweist sich die Betonung der Individualität – das Versprechen, durch das virtuelle Landleben die eigenen Spielerträume zu verwirklichen und selbst den Steuerknüppel in die Hand nehmen zu dürfen.

Literaturverzeichnis Baumann, Christoph: Idyllische Ländlichkeit. Eine Kulturgeographie der Landlust. Bielefeld 2018. Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart 3 2005. Bausinger, Hermann: Vom Jagdrecht auf Moorhühner. Anmerkungen zur kulturwissenschaftlichen Medienforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 97 (2001), S. 1-14. Bechdolf, Ute: Kulturwissenschaftliche Medienforschung: Film und Fernsehen. In: Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin 2 2007, S. 289-316. Becker, Katrin/Parker, Jim: The Guide to Computer Simulations and Games. Indianapolis 2012. Breiner, Tobias C./Kolibius, Luca D.: Computerspiele. Grundlagen. Psychologie und Anwendungen. Berlin 2019. Gasch, Robert/Twele, Jochen: Windkraftanalagen. Grundlagen, Entwurf, Planung und Betrieb. Wiesbaden 4 2005.

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So etwa: Trummer 2019, S. 661. Vgl. Köstlin 2000, S. 63-72. Vgl. Bausinger 2005, S. 92. Vgl. Weidinger 2006, S. 89-91. Vgl. Seifert 2019, S. 171.

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Von schöpferischer Kraft und Stimmung Ein Versuch über die kaschubische Ländlichkeit Oliwia Murawska

Es ist mittlerweile über 100 Jahre her, dass die Kaschubei zuletzt von der deutschen Volkskunde in den Blick genommen wurde. Gleichwohl erscheint diese im Nordwesten Polens gelegene und heute noch weitgehend rural geprägte Region für eine fachhistorische, methodische und theoretische Annäherung an den ländlichen Raum sowie die Kategorie der Ländlichkeit überaus geeignet. Doch wie lässt sich die ländliche Dimension der Kaschubei erfassen, wenn sich bereits der ländliche Raum in seiner Vielfarbigkeit, Wandelbarkeit und Tiefgründigkeit einer »schnellfüßigen Darstellung und Generalisierung«1 entzieht? Manuel Trummer nimmt in Anlehnung an Rolf Lindner eine gedanklich weiterführende Unterscheidung vor: »Der Ordnungskategorie des ländlichen Raums steht der Begriff der Ländlichkeit gegenüber. Dieser hat sich als kulturelles Dispositiv von konkreten physischen Orten gelöst. Als kollektives ›imaginaire‹ bringt es über einen figurativen Kern ›ländlich‹ besetzter Symbole die heterogene Produktion des Ländlichen diskursiv zusammen.«2 In die gleiche Richtung weist Silke Göttsch-Elten, wenn sie schreibt: »Es geht bei Ländlichkeit […] nicht um konkrete Räume, die auf dem Land im Gegensatz zur Stadt zu finden sind, sondern vielmehr um Zuschreibungen, die Räume erst entstehen lassen, also um Vorstellungen und Deutungen, die stets sozialen Aushandlungsprozessen und historischen Transformationen unterliegen.«3 Hieran anknüpfend lassen sich erste Fragen an den vorliegend behandelten Gegenstand formulieren: Wie imaginierten, visualisierten, inszenierten und kultivierten die um 1900 in der Kaschubei tätigen VolkskundlerInnen die kaschubische Ländlichkeit? Welche bis in die Gegenwart wirksamen, kanonischen Bilder und Ikonen kaschubischer Ländlichkeit produzierten sie? Gleichwohl gilt es in einem nächsten

1 2 3

Henkel 1999, S. 17. Trummer 2018, S. 190. Göttsch-Elten 2017, S. 65.

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Schritt die paradigmatische Annahme einer vom physischen Ort gelösten imaginierten Ländlichkeit selbst infrage zu stellen: Wie lassen sich der physische ländliche Raum – wahrgenommen als ländliche, ›schöne‹ Landschaft – und die daraus hervorgebrachte Ländlichkeit integrieren? Welche Faktoren begünstigen die Hervorbringung kollektiver Imaginationen vom ländlichen Raum? Ein Versuch zur Beantwortung dieser Fragen könnte mithilfe des Konzeptes der schöpferischen Kraft einer als ländlich erfahrenen Landschaft unternommen werden. Wer oder was ist schöpferisch: der die Ländlichkeit Kreierende oder die ländliche Landschaft selbst? Vielleicht gelingt eine Integration der Subjektivationen und der Objektivationen des Ländlichen kraft der emischen Kategorien des Stimmungsbildes und der Stimmung?

1.

Produktion, Überlieferung und Ikonografie kaschubischer Ländlichkeit

Um die Untersuchung auf ein fachhistorisches Fundament zu stellen und zu veranschaulichen, wie sich die Produktion und Überlieferung kaschubischer Ländlichkeit vollzieht, soll nachstehend die Aufmerksamkeit auf das Ehepaar Gulgowski gerichtet werden, das auf nachhaltige Weise zur volkskundlichen Erforschung, Bewahrung, Vermittlung und Visualisierung kaschubischer Kultur beigetragen hat:4 Teodora Gulgowska (1860-1951), eine als »kaschubisierte Deutsche«5 charakterisierte, in Berlin ausgebildete Künstlerin lernte ihren polnischen Mann Izydor Gulgowski (1874-1925) in der Kaschubei kennen. Neben seiner Tätigkeit als preußischer Beamter und Volksschullehrer widmete dieser sich mit großer Leidenschaft der volkskundlichen Erforschung und Sammlung kaschubischer Kultur. Im Jahre 1906 erwarb das Ehepaar ein zum Abriss vorgesehenes kaschubisches Laubenhaus in Sanddorf/Wdzydze, worin es seine Volkskunstsammlung ausstellte. Damit schufen sie, dem skandinavischen Vorbild folgend,6 eines der ersten und bis heute existierenden Freilichtmuseen Europas (Abb. 1). Unter dem Motto »Die Grundbedingungen, das heißt das Vorhandensein alter einheimischer Techniken, sind da. Es heißt nur das Alte zu studieren, um darauf Neues zu schaffen«7 , engagierte sich das Ehepaar zudem für die Revitalisierung des kaschubischen Hausfleißes, in deren Zuge es Ikonen kaschubischer Ländlichkeit hervorbrachte. Mit künstlerischer Freiheit komponierte Teodora Gulgowska

4 5 6 7

Zum Ehepaar Gulgowski vgl. Murawska 2019a, S. 96-123. Bukowski 1950, S. 137. Vgl. Seefried-Gulgowski 1911, S. 142. Ebd.

Von schöpferischer Kraft und Stimmung

Abb. 1: Das 1906 vom Ehepaar Gulgowski erworbene kaschubische Laubenhaus.

die auf kaschubischen Möbeln, Kopfhauben oder Glasmalereien auffindbaren floralen Motive8 zu Stickerei-Mustern und begründete im Winter 1906/07 eine eigene Stickerei-Schule. Teodora Gulgowska erinnert die Initiative wie folgt: »Ich wollte den Mädchen eine praktische Betätigung verschaffen, und dafür boten mir meines Mannes Sammlungen und Studien der Volkskunde die wertvollsten Fingerzeige. Ich lerne es kennen, daß die frühere Generation eine eigenartige, farbenfrohe Volkskunst besessen hatte. Truhen, Schränke, Stühle, Bänke, Betten, Wiegen waren mit buntfarbigen Malereien versehen. In den Motiven prägte sich ein einheitlicher, charakteristischer Volksstil aus.«9 Keineswegs suchte sie die Authentizität uralter Muster heraufzubeschwören, sondern betonte, dass der Vorrat an volkskundlichen Studien ihres Mannes, so »reichhaltig« gewesen sei, dass sie aus »dem Vollen schöpfen« und stets neue Muster ersinnen konnte (Abb. 2).10

8 9 10

Vgl. Błachowski 2004, S. 82-93. Seefried-Gulgowski 1911, S. 145. Ebd., S. 146-147.

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Abb. 2: Teodora Gulgowskas Skizzenbuch mit Entwürfen der Stickerei-Muster.

Von Anbeginn sah Gulgowska neben dem dekorativen auch den kommerziellen Nutzen und erzielte mit den Stickereien auf Volkskunstmessen europaweit Erfolge. Um den Geschmack ihrer Kunden in den urbanen Zentren und die in ganz Europa verbreitete Mode für ländliche Motive zu bedienen, nahm sie bewusst Abstand von den barocken, sakralen Vorbildern der Klosterstickereien und orientierte sich an den profanen Interpretationen der Muster durch die Landbevölkerung des 18. Jahrhunderts. Mithin steigerte sie noch den ›ländlichen Effekt‹ durch eine höhere Blütendichte sowie die handgeknüpften groben Leinen, und trug auf diese Weise nicht nur zur ländlichen Stilisierung,11 sondern auch zur Verbreitung eines als kaschubisch identifizierbaren Formenschatzes bei. Obschon die Stickereien nicht im eigentlichen Sinne der ländlichen Kultur entsprangen und erst später Einzug in die bäuerlichen Häuser der Kaschubei erhielten,12 gelten sie noch heute als Zeichen kaschubischer Ruralität.

11 12

Vgl. Błachowski 2004, S. 84-88. Ebd., S. 95.

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In der Gegenwart gehören die Muster – als erfundene Tradition – ganz selbstverständlich zur kaschubischen Ikonosphäre13 und fügen sich, vom Leinen meist losgelöst, in diverse Alltagskontexte. Sie stiften Identität14 und definieren recht eigentlich den geografischen Radius der Kaschubei, die ansonsten keine festgelegten Grenzen besitzt. Zuspitzen ließe sich dies mit dem Satz: Wo die kaschubischen Muster auf Lebensmittelgeschäften, Plastiktüten, Tellern, Schürzen und Ortseinfahrtschildern zu erblicken sind, dort darf man sich noch in der Kaschubei lokalisieren (Abb. 3).

Abb. 3: Die Omnipräsenz kaschubischer Muster.

Einem Alltags-Mythos gleich, so ließe es sich mit Roland Barthes formulieren, haben sich die Muster naturalisiert, verselbstständigt und die Erinnerung daran verloren, dass sie je hergestellt worden sind:15 Der Mythos »[…] beseitigt die Komplexität der menschlichen Handlungen, verleiht ihnen die Einfachheit der Wesenheiten, unterdrückt jede Dialektik, jeden Rückgang hinter das unmittelbar Sichtbare; er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne

13 14 15

Vgl. Siemiński 2010, S. 8. Ikonosphäre kann als Synonym zur visuellen Umgebung verstanden werden; zum Begriff: Piątkowska/Nowina-Sroczyńska 1997, S. 45-54. Vgl. Kulikowska 2017, S. 5-13. Vgl. Barthes 2015, S. 295.

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Tiefe, ausgebreitet in der Evidenz; er legt den Grund für eine glückliche Klarheit. Die Dinge tun so, als bedeuteten sie von ganz allein.«16 In ihrer in Form und Farbe reduzierten Erscheinung, ihrem Wiedererkennungswert und ihrer Allgegenwart vermögen es die Muster, die kaschubische Ländlichkeit zu bedeuten und zu homogenisieren: Sie gehören zum figurativen Kern ›ländlich‹ besetzter Symbole des kollektiven ›imaginaire‹, das die heterogene Produktion des Ländlichen ikonografisch zusammenbringt.17 Dennoch sind sie nicht statisch, sondern nehmen Anteil an dynamischen, globalen Designtendenzen: Sie werden schlanker, greller, einfacher und transformieren sich unablässig. Getragen von den Ideen der Revitalisierung, Bewahrung, Erforschung und Visualisierung der kaschubischen Kultur trug auch Izydor Gulgowski zum Erhalt eines Ikons kaschubischer Ländlichkeit bei: dem kaschubischen Laubenhaus. In seiner historischen Gestalt – früheste noch bewahrte Exemplare stammen meist aus dem 18. Jahrhundert – ist es heute eher in Freilichtmuseen anzutreffen. Vereinzelt lassen sich die aus Holz gebauten Laubenhäuser noch in kleinen Ortschaften in der Kaschubei finden (Abb. 4). Ihre Nachbauten hingegen sind populär, und werden es zunehmend, vor allem im touristischen Kontext, etwa in Feriensiedlungen (Abb. 5), in Freizeitparks oder in Gestalt von Touristeninformationszentren (Abb. 6). Ferner haben sich ihre Formen subtil auch in die gegenwärtige Architektur der Kaschubei eingeschrieben, etwa in Gestalt der verbreiteten Seitenlaube. Begleitet von Euphorie und »Sammelwut«18 , vor allem aber getrieben von der zeittypischen Sorge eines unwiederbringlichen Verlustes, durchforstete Gulgowski die Kaschubei auf der Suche nach noch erhaltenen Laubenhäusern, legte ethnografische Studien über sie an, erstellte Typologien, dokumentierte sie fotografisch, zeichnete Grundrisse und Giebelverzierungen ab, sammelte Geld für ihren Erhalt und schrieb diverse Artikel, die auch in deutschen Fachorganen wie der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde zitiert wurden.19 Gulgowskis ernüchternder Befund lautet: »Mit dem Holzhaus und namentlich mit der Giebelhalle wird in der Kaschubei gründlich aufgeräumt. Die Überreste sind auch schon so spärlich, daß in wenigen Jahren das Laubenhaus gänzlich verschwinden wird.«20 Er echauffiert sich über die »Geschmacklosigkeit« des zeitgenössischen Baustils und die baupolizeilichen Vorschriften, die den Neubau strohgedeckter Häuser verboten: »Keine Sorge!«, bemerkt er sarkastisch: 16 17 18 19

20

Ebd., S. 296. Wie eingangs: Trummer 2018, S. 190. Gulgowski 1912, S. 84. So schreibt Emil Schnippel: »Und da ist es denn eine bemerkenswerte Mitteilung, die ich Herrn I. Gulgowski verdanke, daß Beischlaghäuser mit Altan und breiter Freitreppe auf der vorderen Längsseite einst gerade auch in der Kassubei als ›schlachecky domki‹, d.h. ›Edelmannshäuser‹, üblich waren.« Aus: Schnippel 1909, S. 160. Seefried-Gulgowski 1911, S. 49.

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Abb. 4: Vereinzelt sind noch alte Laubenhäuser zu finden.

»Wenn es in diesem Tempo vorwärts geht, so braucht man nicht lange zu warten, und wir haben kein ursprüngliches Bauerndorf in der Kaschubei mehr. Man mag darüber spotten, daß nur Idealisten, Maler und Dichter an den moosbedeckten Hütten Gefallen finden. Gut! Dann haben diese Bauten den Beifall wenigstens einer Menschenklasse.«21 Nicht nur verraten seine Worte, zu welcher »Menschenklasse« er sich selbst zählte, sondern auch, dass der Lebensstil, den er und seine Ehefrau führten, weniger ländlich-bäuerlich, denn vielmehr urban-bürgerlich war: Obzwar sie sich mit kaschubischen Laubenhütten umgaben, bewohnten sie in unmittelbarer Nähe zur 1906 erworbenen »Urhütte«22 ihre eher alpine Bauformen aufnehmende ›kaschubische Holzvilla‹ auf dem Museumsgelände, vor der und in der sie sich als Bohemiens, einem Künstlerpaar gleich, inszenierten (Abb. 7). Dort empfingen sie auch Gäste, die im weitesten Sinne zur intellektuellen und künstlerischen Elite der Kaschubei zählten. Ihre Inszenierung erinnert an die zur selben Zeit in ganz Europa entstehenden Künstlerkolonien und ihr Wirken an das 21 22

Ebd., S. 59. Zum Wort Urhütte vgl. Figal 2012.

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Abb. 5: Feriensiedlung bei Wiele.

Programm der deutschen Heimatbewegung. In der Tat stand das Ehepaar in engstem Kontakt zum deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und verfolgte dessen programmatischen Ziele, zu denen der Natur- und Landschaftsschutz, die Brauchpflege, die historische Erforschung des eigenen Lebensraumes sowie der Erhalt von Baudenkmälern und typischen Bauformen zählten.23 Der Rückzug der Eheleute Gulgowski auf das Land und ihre darin sich zeigende, in der Moderne unter Intellektuellen verbreitete »Hüttenneigung«24 waren nicht einem zivilisationskritischen Eskapismus geschuldet – hier ging es um Reform. Mit der Revitalisierung des Hausfleißes verfolgten die Gulgowskis einerseits ideelle Ziele wie die Hebung der kaschubischen Identität, die Kultivierung des künstlerischen Sinns und die Beseitigung demoralisierender Arbeitslosigkeit auf dem Lande,25 andererseits aber auch ökonomische wie die Verbesserung der materiellen Situation der verarmten Sanddorfer.26 Als kaschubische »Raumpioniere«27 erkann23 24 25 26 27

Vgl. Klueting 1991, S. X; vgl. dazu auch: Göttsch 2001, S. 123-143. Figal 2012. Vgl. Seefried-Gulgowski 1911, S. 144. Vgl. Kwaśniewska 2009, S. 155. Vgl. Matthiesen 2014, S. 97-113.

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Abb. 6: Touristeninformationszentrum in Dziemiany.

ten sie die Potenziale der kaschubischen Landschaft sowie der darin eingelassenen Menschen und erschufen eine Experimentierstation der Kommerzialisierung, Inszenierung, Reformierung und Visualisierung ländlicher Kultur.

2.

Arbeit im ländlichen Raum: Wer oder was ist schöpferisch?

Fraglos war das Ehepaar Gulgowski schöpferisch, doch worin bestand, neben den zeittypischen Reform-, Bewahrungs- und Revitalisierungsideen, das Geheimnis ihrer Produktivität? Was war die Quelle ihres Schaffensdrangs? Welche Rolle spielt darin der physische Raum? Neben der Gründung des Vereins für kaschubische Volkskunde (1907) sowie der Herausgabe der Mitteilungen des Vereins für Kaschubische Volkskunde (1908) publizierte Gulgowski unter dem Pseudonym Ernst SeefriedGulgowski28 im Jahr 1911 die erste und bis heute einzige deutschsprachige volks28

Das Pseudonym wählte Gulgowski in Anlehnung an den Taufspruch, den Richard Wagner an seiner Bayreuther Villa anbringen ließ: »Hier wo mein Wähnen / Frieden fand // Wahnfried // sei dieses Haus von / mir benannt.« Mit der analogen Sentenz »Hier am See, wo den Frieden ich fand – Seefried – sei dieses Haus benannt.« brachte Gulgowski seiner Ehefrau zufolge

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Abb. 7: Die Eheleute Gulgowski in ihrem Atelier.

kundliche Monografie zur Kaschubei mit dem sprechenden Titel Von einem unbekannten Volke in Deutschland. Bemerkenswert ist, dass er die Abhandlung mit einem Kapitel über die kaschubische Landschaft eröffnet und darin, anders als in den nachfolgenden, kanonisch aufgebauten, sachlich gehaltenen und quellensatten Kapiteln, ein durchweg gestimmtes Landschaftsbild liefert. Neben dem Charakter einer Ouvertüre, die den Leser in der Südkaschubei verortet, ist das Landseine emotionale Bindung zu dem an einem See gelegenen Ort Wdzydze zum Ausdruck. In Wdzydze fand Gulgowski nicht nur seine Bleibe, sondern auch seinen ersehnten Frieden, den Gegenstand seiner Arbeit und einen seiner angeschlagenen Gesundheit angemessenen Ort. Vgl. dazu Bukowski 1950, S. 151.

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schaftskapitel zudem Ausdruck einer Korrespondenz zwischen der schöpferischinspirierenden Landschaftsformation und der darin verrichteten volkskundlichen Arbeit: »Der südliche Teil der Kaschubei – die Quelle des vorliegenden Werkes – ist der unbekannteste. Und doch muß ich hier gleich hervorheben, daß er landschaftlich der eigenartigste ist. […] Es ist ein gewaltiges Stimmungsbild mit herbem, schwermütig-melancholischem Unterton. Das Auge schweift ungehindert hinaus über die weiten Heiden mit den dunklen Seen. Die Kiefernwälder am Horizont sind meist in eine feine blaue Dunsthülle getaucht. Diese ruhigen, weichen Linien verleihen der Landschaft etwas Großzügiges. Wenn wir aber die Gegend durchwandern, so löst sich die große Einheit gleichsam auf in kleine intime Bilder. Und erst jetzt offenbart sie uns ihre ganzen Reize. Die Linie erhält eine mannigfaltige Bewegung, denn die Ebene wird stets von tiefen Tälern und Schluchten unterbrochen. Es reiht sich hier Bild an Bild. Und gerade in den einfachsten Motiven liegt oft eine überwältigende Kraft. Das Einzelne herrscht vor, das Haus, das Gehöft, eine Baumgruppe, die Kiefer, die Birke. Das Auge wird an den einen Gegenstand gebannt. Es hat einen Ruhepunkt. […] Und dann gibt es noch Gegenden der tiefsten Einsamkeit, wo man stundenlang dahinwandert auf sandigen Wegen, zwischen kleinen verkümmerten Kiefern, zwischen ganzen Feldern von Wacholdergruppen. Wellenförmig zieht sich die Landschaft dahin, mit dunklen Torfmooren in den Sandkesseln. Hier herrscht das große Schweigen.«29 Würde Hans Ulrich Gumbrecht diese Passage zur Lektüre vorgelegt bekommen, so würde er vermutlich und wohl nicht zu Unrecht von »intellektuellem Kitsch«30 sprechen – mit diesen Worten beschrieb er immerhin auch Martin Heideggers Essay Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz, der erstaunliche Parallelen zu Gulgowskis Landschaftskapitel aufweist. Allen spöttischen Urteils ungeachtet, stellt Gumbrecht heraus, dass die Provinz seit jeher Ursprung philosophischer Impulse gewesen sei und es in Deutschland die »Tradition einer Konvergenz zwischen Provinz und kraftvollem Denken«31 gebe. Allemal schien Heidegger selbst von der Wirkmacht ländlicher Landschaft überzeugt gewesen zu sein, wenn er, wie schon Gulgowski, sinnlich-stimmungsvoll jenen Raum beschreibt, in dem er sein Denken und seine Arbeit verortet, namentlich im Schwarzwald, wo sich in Todtnauberg seine berühmte Hütte befindet.32 In seiner Schöpferischen Landschaft unterscheidet Heidegger die äußerliche Betrachtung landschaftlicher Schönheit durch die Augen eines ›Sommerfrischlers‹ von der Landschaftserfahrung:33 29 30 31 32 33

Seefried-Gulgowski 1911, S. 34-35. (Hervorhebungen O. M.). Gumbrecht 2014. Ebd. Zur Bedeutung von Heideggers Hütte in Todtnauberg vgl. Figal 2009, S. 225-229. Heidegger 1983a, S. 9.

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»Ich selbst betrachte eigentlich die Landschaft gar nie. Ich erfahre ihren stündlichen, täglich-nächtlichen Wandel im großen Auf und Ab der Jahreszeiten. Die Schwere der Berge und die Härte ihres Urgesteins, das bedächtige Wachsen der Tanne, die leuchtende, schlichte Pracht der blühenden Matten, das Rauschen des Bergbaches in der weiten Herbstnacht, die strenge Einfachheit der tiefverschneiten Flächen, all das schiebt sich und drängt sich und schwingt durch das tägliche Dasein dort oben. […] Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muß dann einfach und wesentlich werden. Die Durcharbeitung jedes Gedankens kann nicht anders denn hart und scharf sein. Die Mühe der sprachlichen Prägung ist wie der Widerstand der ragenden Tannen gegen den Sturm.«34 Obschon Heideggers Worte zunächst der lebendigen Arbeit an seinem Mythos Ausdruck verleihen, gelingt es ihm dessen ungeachtet jene Wechselwirkung und Resonanz35 herauszustellen, die sich zwischen dem Dasein und der es beherbergenden Landschaft einstellen kann. Diese Durchschwingung des Daseins durch die Landschaft vollziehe sich, so Heidegger weiter, erst dann, »wenn das Dasein in seiner Arbeit steht. Die Arbeit öffnet erst den Raum für diese Bergwirklichkeit. Der Gang der Arbeit bleibt in das Geschehen der Landschaft eingesenkt.«36 Dass die Landschaft nicht bloß in der Arbeit, sondern auch die Arbeit in der Landschaft ist, gelangt auch in Gulgowskis Worten zur Abhebung: Die südkaschubische Landschaft, in der er gemeinsam mit seiner Frau ein »Hüttendasein«37 führte und kultivierte, ist nicht nur der Gegenstand, sondern auch die »Quelle [seines] Werkes«38 . Überdies verbinden beide Landschaftsbeschreibungen dominante Motive, mit denen der ländliche Raum besetzt wird, etwa die tiefe Einsamkeit oder das große Schweigen. Weniger explizit, doch nicht weniger leitend, ist das Motiv der Reduktion, das Günter Figal als Grundfigur der Moderne bezeichnet.39 Symptomatisch für die Moderne und vielfach inspiriert durch Thoreaus Walden (»[…] to drive life into a corner, and reduce it to its lowest terms […]«40 ) begaben sich Repräsentanten des intellektuellen Milieus in die Provinz, auf die Suche nach dem Einfachen, dem Wesentlichen, dem Reduzierten, sei es auf der Ebene der Gedanken, des Lebensstils oder der Formen – zu erinnern ist hier an die Schlichtheit der kaschubischen Muster und Laubenhäuser. So wie für Heidegger die ländliche Landschaft ein idealer Ort der philosophischen Kontemplation war, so war sie für die Gulgowskis ein 34 35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 9-10 (Hervorhebung im Original). Vgl. Rosa 2016. Heidegger 1983a, S. 10 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 11. Gulgowski 1911, S. 34. Vgl. Figal 2012. Thoreau 1854, S. 98-99.

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idealer Ort der volkskundlichen Arbeit. Die materiellen und geistigen Hervorbringungen kaschubischer Ländlichkeit – in Gestalt der kaschubischen Muster oder der gestimmten Landschaftsbeschreibung – waren eingelassen in und nicht losgelöst vom physischen Raum und sind Ausweis einer Zusammenschwingung der schöpferischen Kraft ihrer Urheber mit der schöpferischen Kraft der kaschubischen Landschaft.

3.

Die Qualität des Ländlichen: Das Stimmungsbild und die Stimmung

In seiner Landschaftsbeschreibung verwendet Gulgowski einen Begriff, der sich im Hinblick auf die Annäherung an die kaschubische Ländlichkeit als nützlich erweisen könnte: das Stimmungsbild. Was aber ist ein Stimmungsbild und inwiefern ist es erklärend? Im populären Alltagsgebrauch erscheint das Wort meist in ästhetischen und journalistischen Diskursen.41 Zur Wortüberlieferung lässt sich anführen – und dies ist insbesondere aus volkskundlicher Perspektive bemerkenswert –, dass an der Popularität des Begriffs im 19. Jahrhundert, nachdem er sich im 18. Jahrhundert als ein »intermediales Genre«42 zwischen Malerei und dichterischer Prosa entwickelt hatte, Wilhelm Heinrich Riehl maßgeblich beteiligt war:43 Allein in seiner Abhandlung über Das landschaftliche Auge verwendet Riehl das Wort Stimmungsbild gleich sechs Mal.44 Bis 1920 arbeitete Gulgowski zumeist mit deutscher volkskundlicher Literatur, so dass die Annahme, er habe sich nicht nur inhaltlich, 41

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Einen informativen Eintrag zum Stimmungsbild liefert das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (DWDS): Der Vorteil dieser Datenbank liegt darin, dass in ihr große Mengen online verfügbarer Textdateien (Wörterbücher, Textkorpora, statistische Auswertungen) eingespeist werden, aus denen dann die Bedeutung, die typischen Wortverbindungen, Verwendungsbeispiele, Worthäufigkeiten, Wortverlaufskurven etc. ermittelt werden. URL: https://www.dwds.de/wb/Stimmungsbild [Letzter Zugriff am 24.7.2019]. Jacobs 2013, S. 171. Vgl. Lecke 1969, S. 9. Lecke definiert das literarische Stimmungsbild als »eine bestimmte Prosakurzform, die mit rein sprachlichen Mitteln ein begrenztes Bild der vorgefundenen Natur im gleichzeitigen Erlebnisaugenblick und in der besonderen Situation des Autors festhält und wiedergibt« (ebd., S. 9). Zur Bedeutung, Herkunft und Verwendung des Wortes Stimmungsbild im 19. Jahrhundert sowie zur Rolle von Wilhelm Heinrich Riehl als Vermittler vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 18, Sp. 3135. URL: www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=stimmungsbild [Letzter Zugriff am 24.7.2019]. Riehl verwendet den Begriff eher im pejorativen Sinne. Kontrastierend stellt er die Landschaftsdarstellungen alter »fernsichtiger« Meister, wie die von Van Dyck oder Breughel, jenen seiner »kurzsichtigen« Zeitgenossen gegenüber, die nichts weiter seien als »reine Stimmungsbilder«. Gleichwohl ist seine Kritik keine grundsätzliche: Er unterscheidet vielmehr ein aus seiner Sicht eigentliches, wohlverstandenes vom uneigentlichen, missverstandenen, manierierten Stimmungsbild. Vgl. Riehl 2010, S. 36-49.

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sondern auch sprachlich von Riehls Texten beeinflussen lassen, hier nicht ganz abwegig erscheint. Um die Bedeutung des Wortes Stimmungsbild zu erfassen, erfordert zunächst der Stimmungsbegriff einer definitorischen Bestimmung.45 Als ontische Kategorie46 bezeichnet Stimmung weder ein innerliches noch ein äußerliches Phänomen: »Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ›Außen‹ noch von ›Innen‹, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf.«47 Im alltäglichen Gebrauch wird Stimmung zumeist synonym zur Laune oder zum Gemütszustand benützt,48 doch genau dies meint Stimmung, wie sie vorliegend verstanden wird, nicht: »Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt.«49 Stimmung bezeichnet vielmehr eine Überein- oder Zusammenstimmung des Menschen mit der Welt: »Sie ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist.«50 Oder, um es mit den Worten von Stephan Strasser zu formulieren: »Es erscheinen in den echten Gestimmtheiten überhaupt kein Ich, kein Gegenstand, keine Grenze zwischen Ich und Gegenstand. Man muss das Gegenteil sagen: Die Grenzen des Ich verschwimmen und verschwinden in eigentümlicher Weise. Ich und Welt werden in ein ungeteiltes Totalerleben eingebettet. Stimmung ist Ich- und Weltgefühl zugleich.«51 Nicht zuletzt aufgrund der divergenten Wortherkunft gilt es, zwischen Stimmung und Atmosphäre zu differenzieren. Im Unterschied zum Stimmungsbegriff, der ein musikalischer Terminus ist, hat der Atmosphärenbegriff seinen Ursprung in den Naturwissenschaften. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird Atmosphäre nicht ausschließlich zur Beschreibung der die Planeten umgebenden Luftschicht verwendet, sondern auch jener Umgebung, in der sich Menschen auf-

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Vorliegend wird keine erschöpfende Definition des Stimmungsbildes angestrebt. Sowohl Stimmung als auch Stimmungsbild sind gekennzeichnet durch ihre Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit. Was Heidegger existenzial-ontologisch Befindlichkeit nennt, ist existenziell-ontisch, d.h. aus der Perspektive des Daseins, die Stimmung, in der es sich befindet. Da sich das Dasein nun einmal in der Welt befindet (befindlich ist), ist es von jeher gestimmt. Heidegger 1967, S. 134. Ebd., S. 136 (Hervorhebung im Original). Gefühle sind intentional auf einen Gegenstand gerichtet, Stimmungen indessen haben keinen bestimmten Gegenstand. Zum Zusammenhang zwischen Stimmung und Gefühl vgl. Bollnow 1956, S. 34-38. Heidegger 1967, S. 137. Ebd., S. 136 (Hervorhebung im Original). Strasser 1956, S. 115.

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halten,52 wenngleich ihm das Nebulöse, Flüchtige, Labile und Zerstörbare bis heute anhaftet. Als volkskundliche Kategorie hat Albrecht Lehmann die Atmosphäre in den Fachdiskurs eingeführt. Obwohl Lehmann nicht zwischen Stimmung und Atmosphäre unterscheidet, die Termini stellenweise gar synonym verwendet oder aber in einen kausalen Zusammenhang bringt,53 führt er ein treffendes Beispiel an, auf dessen Grundlage sich eine Trennung vornehmen lässt: Ein ruhebedürftiger Wanderer durchstreift die alpine Landschaft. Plötzlich rauscht ein Flugzeug durch die Idylle und zerstört mit einem Mal die (Illusion der) Stille, Natürlichkeit und Einsamkeit.54 Zwar vermag das Flugzeug die »Klangatmosphäre[…]«55 der Landschaft und die Laune des Wanderers zu zerstören, nicht aber die Stimmung – wenn diese wie vorliegend als Übereinstimmung des Daseins, des Mitdaseins und der Welt verstanden wird. Der Wanderer, das Flugzeug, die Alpen etc. sind bereits in die so verstandene und von der bloßen Atmosphäre zu unterscheidende Stimmung eingelassen. Auch Göttsch-Elten gebraucht im Zusammenhang mit der Kategorie Ländlichkeit den Atmosphärenbegriff – »Ländlichkeit meint also in diesem Sinne eine Imagination, eine Atmosphäre, mit der ein Raum ausgestattet wird«56 – und charakterisiert die Atmosphäre ganz im Sinne der vorliegend getroffenen Unterscheidung von der Stimmung vor: Der ländliche Raum wird mit Atmosphäre ausgestattet, sie ist produzierte Ländlichkeit. Indem demgegenüber Stimmung immer schon da ist und nicht produziert, wohl aber geweckt werden kann,57 ist auch der physische, als ländlich konzeptualisierte Raum immer schon so oder anders gestimmt. Zum besseren Verständnis sei daher die folgende definitorische Unterscheidung angeboten: Die Stimmung ist das Primäre, Dauerhaft-Stabile, Durchdringende, die Atmosphäre das Sekundäre, Flüchtig-Labile, Umströmende. Stimmungen sind immer da und können geweckt werden, Atmosphären können erzeugt und produziert werden und anschließend wieder weg sein.58 Gleichwohl beeinflussen sich Stimmung und Atmosphäre gegenseitig und stehen im Wechselverhältnis zueinander. Das Stimmungsbild unternimmt nun den Versuch, die Stimmung, als das Durchströmende und Zusammenstimmende, als dasjenige, in das der Mensch unhintergehbar eingeflochten ist, zu artikulieren, und dies in Wort, Klang oder Bild. Obschon die mediale Formung unvermeidlich zu einer Verfremdung der tatsächlich erfahrenen Stimmung führt, das Stimmungsbild nie Spiegelbild der

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Vgl. Lehmann 2007, S. 92-93. Vgl. ebd., S. 74-88. Vgl. ebd., S. 97-98. Vgl. ebd. S. 97. Göttsch-Elten 2017, S. 65. Vgl. Heidegger 1983b, S. 96. »Atmosphären werden nicht nur von Menschen wahrgenommen, sie werden auch vom Menschen produziert.« Vgl. Lehmann 2007, S. 82.

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Realität sein kann, schafft es sich doch, indem es symbolisch über sich hinausweist, eine eigene Wirklichkeit. Die bildhafte Darstellung einer Stimmung, die einer räumlich-zeitlichen Situation zugrunde liegt, bedarf dabei stets einer sozialen Übereinkunft: Das Stimmungsbild muss als solches erkenn- und vermittelbar sein. Die Funktion der Erzählkategorie Stimmungsbild besteht darin, dasjenige, das sich nur schwer in Worte fassen lässt, doch in seinem Einfluss auf unser Fühlen und Denken unbestreitbar ist, zu kommunizieren. In dreifacher Weise können das Stimmungsbild und die Stimmung als Kategorien des Ländlichen in Erscheinung treten.

3.1

Der ländliche Raum, wahrgenommen als Landschaft, ist gestimmt

Indem Gulgowski seine Monografie mit der Beschreibung der südkaschubischen Landschaft eröffnet, gelingt es ihm, seine LeserInnen in der Südkaschubei zu verorten – sie in Stimmung zu bringen – und ihnen die ländliche Dimension des kaschubischen Raums bildhaft vor Augen zu führen. Mit seinem Stimmungsbild, seiner subjektiven, emotionalen und persönlichen Darstellungsweise versucht er, seine Eingelassenheit in die südkaschubische, ländliche Landschaft sowie die von ihm darin erfahrene Stimmung zu verbalisieren. Durch die Verwendung eigens der Beschreibung seelischer Zustände und sinnlicher Wahrnehmungen vorbehaltener Attribute – herb, ruhig, weich und schwermütig-melancholisch – vermittelt er zwischen der von ihm betrachteten und erfahrenen und der von ihm angesprochenen Welt seines Lesers. Damit gelingt ihm eine Integration der äußeren, physischen mit der inneren, geistigen Welt. Auf die Zusammengehörigkeit von Stimmung und Landschaft weist bereits Georg Simmel hin. Für ihn ist die Landschaft eine »geistige Tat«, ein vom Menschen vorgenommener Ausschnitt aus dem Naturganzen, den der Mensch anschließend im Geiste zu einer Einheit zusammensetzt.59 Die Stimmung ist ferner jener Träger, der die Teilstücke zu einer Landschaft zusammenführt: »Der erheblichste Träger dieser Einheit ist wohl das, was man die ›Stimmung‹ der Landschaft nennt […] – so durchdringt die Stimmung der Landschaft alle ihre einzelnen Elemente«.60 In Gulgowskis Landschaftsdarstellung ließe sich auch die Stimmung als derjenige Stoff identifizieren, der die Mosaiksteinchen der Umgebung – das Haus, das Gehöft, die Baumgruppe, die Kiefer, die Birke, die kleinen intimen Bilder – zu einer Landschaft zusammenbringt. Damit homogenisiert die Stimmung den Raum und hält ihn in seiner Wandelbarkeit und Komplexität zusammen. Gleichwohl stehen Stimmung und Landschaft nicht in einem kausalen Verhältnis, sondern müssen

59 60

Simmel 1957, S. 142-143. Ebd., S. 149 (Hervorhebung im Original).

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vielmehr gleichursprünglich gedacht werden: »So sind die Einheit, die die Landschaft als solche zustande bringt, und die Stimmung, die uns aus ihr entgegenschlägt und mit der wir sie umgreifen, nur nachträgliche Zerlegungen eines und desselben seelischen Aktes.«61 Obzwar die Stimmung einer Landschaft eine Universalie ist, besitzt jede Landschaft ihre je eigene und spezifische Stimmung: »[D]ie hier gemeinte Stimmung einer Landschaft ist durchaus nur die Stimmung eben dieser Landschaft und kann niemals die einer anderen sein […]; aber Stimmung, die ihr unmittelbar eigen ist, und die mit der Änderung jeder Linie eine andere würde, diese ist ihr eingeboren, ist mit dem Entstehen ihrer Formeinheit untrennbar verwachsen.«62 Anders als Heidegger und Simmel setzt Angelika Krebs die Stimmung einer als schön erfahrenen Landschaft nicht einfach als gegeben voraus, sondern fragt nach der aktiven Rolle des Menschen im Prozess der »Infusion« von Stimmung in eine Landschaft.63 Die Stimmung der Landschaft, die sich beispielweise als friedlich oder ländlich charakterisieren lasse, sei in den Farben, Geräuschen, im Licht real und werde durch Wahrnehmung, Einfühlung, Mitgefühl und Ansteckung für den Menschen erfahrbar.64 Besonders in der ästhetischen und damit zweckfreien65 Betrachtung und Erfahrung von Landschaft werde der Mensch für Stimmungen empfänglich – oder anders formuliert: Die schöne Landschaft als kultureller Wahrnehmungsschlüssel für Natur fordert zum Verweilen und sich Einlassen auf Stimmungen auf. Was zunächst mit der schöpferischen Kraft von Mensch und Landschaft erläutert wurde, könnte nun mit der Kategorie der Stimmung in Zusammenhang gebracht werden, und zwar dahingehend, dass die Stimmung der als ländlich erfahrenen Landschaft schöpferische Kräfte freisetzt oder gar selbst die schöpferische Kraft ist.

3.2

Der über Ländlichkeit nachdenkende und sprechende Mensch ist gestimmt

Vermutlich ist es die ontische Nähe zur uns stets und gleichwohl unsichtbar durchströmenden Stimmung, die den Blick des eigens zur Erkenntnis alltäglicher Unsichtbarkeit geschulten Volkskundlers auf diese Kategorie verstellt hat. Dabei lie-

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Ebd., S. 150. Ebd., S. 151 (Hervorhebung im Original). Vgl. Krebs 2014, S. 1251-1269. Krebs weist darauf hin, dass der deutsche Terminus Stimmung nicht in die englische Sprache übersetzbar sei. Im Deutschen umfasst das Wort Stimmung drei Bedeutungen: 1. Harmonie (engl. harmony), 2. Atmosphäre (engl. atmosphere) und 3. Laune/Anwandlung/Gemütslage (engl. mood). Vgl. Ebd. Vgl. Ritter 1978.

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fert Stimmung »eine Schlüsselkategorie für den ganzen Menschen, der die Welt nicht nur über den Verstand analysiert oder ordnet«66 und wirkt somit als ein totales Phänomen in alle lebensweltlichen Bereiche des Menschen hinein. Daher gilt es die im Alltag in Erzählungen, Erinnerungen, Medien etc. gegenwärtige Stimmung als das »Bekannteste und Alltäglichste«67 , als eine emische Kategorie also, aus volkskundlicher Sicht ernst zu nehmen, zu bedenken und zu beschreiben. Weil der Mensch von jeher gestimmt ist und Stimmungen ursächlich für das sind, was der Mensch ist und was er tut, sind auch seine an das Ländliche geknüpften Wahrnehmungen, Imaginationen, Narrationen und Erinnerungen von Stimmungen durchdrungen. Dabei treten im Zusammenhang mit individuellen und kollektiven Vorstellungen von Ländlichkeit zumeist die extremen Ausschläge von Stimmungen in Erscheinung, etwa in Gestalt der zum Topos gewordenen »Landlust und Landfrust«68 oder des Revitalisierungseifers auf der einen und der Untergangsszenarien des Ländlichen auf der anderen Seite.69 Die dem Diskurs über das Ländliche inhärenten Stimmungen werden sowohl von den Medien und als auch von der Industrie genutzt, was wiederum auf gesellschaftliche Stimmungen zurückwirkt: »Diese divergierenden Erfahrungen sehen sich flankiert von einem dynamischen Markt ländlicher Imaginationen. Magazine, TV und Popmusik und korrespondieren mit Verlustängsten, Sehnsüchten und sich wandelnden Ansprüchen an das Ländliche. Sie wirken so auf dessen gesellschaftliche Wahrnehmung zurück.«70 Auch Göttsch-Elten deutet die Vielzahl populärer Lifestyle-Magazine (Landlust, Walden etc.) als einen »Ausdruck spätmoderner Befindlichkeiten«71 . Zudem weist sie darauf hin, dass sich die gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussionen um die Wahrnehmung von Ländlichkeit häufig aus historischen Erfahrungen speisen. Obschon Befindlichkeit ontologisch betrachtet keine historische Kategorie ist, ist diese in die Vergangenheit gerichtet. Die Stimmung, in der die Befindlichkeit im Alltag ontisch zum Ausdruck kommt, offenbart sich zwar zukunftsgerichtet in der Gegenwart, doch immer vor dem Erfahrungshorizont des Vergangenen: »der existenziale Grundcharakter der Stimmung ist ein Zurückbringen auf …«72 .

66 67 68 69 70 71 72

Bude 2016, S. 34. Heidegger 1967, S. 134. Vgl. dazu auch den Beitrag in diesem Band. Vgl. Flor 2017; Trummer 2015, S. 123-148. Trummer 2018, S. 188. Göttsch-Elten 2017, S. 62. Heidegger 1967, S. 340 (Hervorhebung im Original).

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3.3

Der über die Kategorie des Ländlichen forschende Volkskundler ist gestimmt

Indem sich Gulgowski in seinem Landschaftskapitel als gestimmt zu erkennen gibt, erinnert er uns daran, dass nicht nur der Forschungsgegenstand, sondern auch der Forscher von Stimmungen durchwirkt ist.73 Wie schon die primäre, alltägliche, so ist auch die sekundäre, theoretische Entdeckung der Welt nicht »freischwebend«74 , sondern der Stimmung überlassen.75 Bereits die Entscheidungen für einen Untersuchungsgegenstand, für eine an ihn gerichtete Fragestellung oder für die Erhebungsmethode sind nie bloß rational und noch weniger zufällig, sondern erwachsen in und gemeinsam mit der Stimmung. Der Volkskundler geht gestimmt in sein Feld, nimmt Einfluss auf die Stimmung im Feld und ebenso gestimmt wählt er seine analytischen Instrumente zur Auswertung seines Materials. Daher gilt es die Stimmung als Einflussgröße auf den gesamten Forschungsprozess zu reflektieren. Als Beispiel für eine derzeit viel verwendete Methode, die mit den im Feld registrierten Stimmungen konvergiert, kann die Sinnliche Ethnographie angeführt werden.76 Dieser Methode liegt die Annahme zugrunde, dass der ganze Körper des Forschers ein Registrierungsinstrument ist: Wie in einer weichen Modelliermasse hinterlassen die im Feld – und damit auch im ruralen Feld – gewonnenen sinnlichen Wahrnehmungen im Körper Eindrücke, die es im Feldtagebuch zu notieren und anschließend zu analysieren gilt.77 Durch die Konzentration auf die Inkorporierung des Feldes beginnt die physische Umwelt den Forschenden anzugehen, ihn zu berühren: In einer intensivierten Weise erfährt er dann seine eigene Präsenz sowie die ihm gegenwärtig werdende Stimmung im Feld.78 Die registrierten Stimmungen können die Arbeit stimulieren, den Forschenden schöpferisch machen, seinen Geist anregen, und dies nicht nur im Feld, sondern auch am Schreibtisch. Wie Stimmungen volkskundliche Fachdiskurse anleiten können, lässt sich trefflich anhand des Wandels im Umgang mit der Kategorie des Ländlichen nachvollziehen: Nicht nur Gulgowski schwankte zwischen Euphorie und Pessimismus, auch wir, so zeigte es die 2017 in Marburg abgehaltene konstituierende Sitzung der dgv-Kommission Kulturanalyse des Ländlichen, balancieren gegenwärtig zwischen Faszination und Unbehagen. Die stimmungsgeladenen Debatten und Konjunkturen der Kategorie entlang der Fachgeschichte der Volkskunde reichen 73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 142, S. 339. Ebd., S. 339. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass die Wissenschaft dem Gefühl ausgeliefert sei. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. Arantes/Rieger 2014; Murawska 2019b, S. 39-62; Pink 2009; Sieferle 2019, S. 27-49. Vgl. Bendix 2006, S. 79. Vgl. Gumbrecht 2011, S. 15.

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von anfänglicher romantischer Verklärung über die kritische Perspektivierung des Ländlichen in den 1950er-Jahren, sodann über die heftigen Folklorismus-Debatten bis hin zur (Wieder-)Entdeckung des Themas in der Gegenwart.79 Dass Stimmungen in der Wissenschaft »nach positivistischer Meinung keine Rolle spielen dürften«, es aber nicht zuletzt aufgrund dieses heuchlerischen Postulats, umso mehr tun, bemerkt Martin Scharfe, und geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er Paradigmen als von Stimmungen getragene wissenschaftliche Festlegungen charakterisiert: »Insofern sind die Konventionen unserer Wissenschaft, gerade weil wir sie brauchen (und indem wir sie benützen), auch so gefährlich; denn sie ersticken als festgefügtes Interpretament, als Paradigma, als Stimmung des selbstverständlich Richtigen, als Bewusstsein der gültigen Erkenntnis – die Neugier.«80 Abschließend und daran anschließend gilt es noch einen Gedanken zum volkskundlichen Umgang mit der Kategorie des Ländlichen zu ergänzen: Offenbar hat der Volkskundler wie schon um 1900 noch immer einen Hang und Drang zum Ländlichen; und in all seinem Nachhängen, Hinzudrängen und Verdrängen offenbart sich seine ganze Sorge um den ländlichen Raum.

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79 80

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Von schöpferischer Kraft und Stimmung

Siemiński, Tomasz: »Rajskie ogrody«. W ikonosferze wsi kaszubskiej. Synkretyczna forma kultury potocznej [»Paradiesgärten«. In der Ikonosphäre des kaschubischen Dorfes. Eine synkretistische Form populärer Kultur]. Pruszcz Gdański 2010. Sieferle, Barbara: Teilnehmen – Erfahren – Verstehen. Ein methodischer Zugang zur Körperlichkeit soziokultureller Wirklichkeiten. In: Zeitschrift für Volkskunde 115,1 (2019), S. 27-49. Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft. In: Ders.: Brücke und Tor. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. von Michael Landmann. Stuttgart 1957, S. 141-152. Strasser, Stephan: Das Gemüt. Grundgedanken zu einer phänomenologischen Philosophie und Theorie des menschlichen Gefühlslebens. Freiburg 1956. Thoreau, Henry D.: Walden; or life in the woods. Boston 1854. Trummer, Manuel: Das Land und die Ländlichkeit. In: Zeitschrift für Volkskunde 114,2 (2018), S. 187-212. Trummer, Manuel: Zurückgeblieben? »Shrinking regions« und ländliche Alltagskultur in europäisch-ethnologischer Perspektive – Forschungshorizonte. In: Alltag – Kultur – Wissenschaft 2 (2015), S. 123-148.

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Kapitel II Arbeit, Mobilität und Wissen. Ressourcen und Teilhabe in ländlichen Settings

Zwischen Mobilität und Immobilität Zur internationalen Dimension biographischer und ökonomischer Strategien von Landwirten und Saisonarbeitskräften Judith Schmidt

Die landwirtschaftliche Produktion ist ein Grundpfeiler menschlicher Ernährung. Ihre Wirtschaftsweise musste sich jedoch unterschiedlichen Veränderungen anpassen. Seit die SoziologInnen Harriet Friedmann und Philip McMichael1 in einer historischen Analyse die Nahrungsmittelproduktion und den Nahrungsmittelvertrieb in drei Nahrungsregimen periodisiert haben, lässt sich das Ausmaß nationaler Nahrungsmittelproduktion nicht mehr außerhalb eines globalen Zusammenhangs denken. »Zu den Stärken des Nahrungsregime-Konzepts zählen erstens die Verbindung von Produktions- und Konsumfragen, zweitens die transnationale, den Nationalstaat als Untersuchungsrahmen überwindende Ausrichtung und drittens die zieloffene, nicht auf einen Endzustand verengte Entwicklungsperspektive.«2 Im 20. Jahrhundert entstanden erstmals »transkontinentale Märkte für Grundnahrungsmittel«3 . Seitdem vertreibt ein globaler Lebensmittelmarkt Produkte, die in ländlichen Gegenden produziert werden. Dies lässt mich die Frage formulieren: Wie ländlich ist eigentlich die Landwirtschaft? Denn auch der Agrarhistoriker Gunter Mahlerwein erkennt: »Betriebsmittel, aber auch Arbeitskräfte und Wissensbestände werden in der modernen Landwirtschaft ebenso aus einem zunehmend globalen Zusammenhang bereitgestellt wie auch Verarbeitungs- und Distributionsfunktionen fortschreitend von global agierenden Akteuren übernommen werden.«4

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Friedmann/McMichael 1989, S. 93-116. Ermann u.a. 2018, S. 19. Ebd., S. 21. Dazu auch Langthaler 2010, S. 135-169. Mahlerwein 2016, S. 12.

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Judith Schmidt

Ebenso blickt die Saisonarbeit in Deutschland auf eine lange Geschichte zurück. Vor allem Arbeitskräfte aus dem heutigen Polen kamen bereits Ende des 19. Jahrhunderts nach Deutschland, um dort saisonale Tätigkeiten in der Industrie, aber auch vor allem in der Landwirtschaft auszuführen und veranlassten damalige Studien zu nationalistischen Schlussfolgerungen wie der Warnung vor der »Polonisierung des Ostens«5 Max Webers oder der Aufforderung zu einer »inneren Kolonisierung«6 , einer Abschottung entlang nationalstaatlicher Grenzen, Anton Knokes. Die Landwirtschaft ist verwoben in unterschiedliche Abhängigkeits- und Arbeitszusammenhänge, die sich innerhalb einer lang andauernden gemeinsamen Geschichte entwickelt haben. Die an der Landwirtschaft beteiligten Akteure sind heterogen und lassen sich nur innerhalb eines globalen Netzes begreifen. Zwei Akteursgruppen werde ich nachfolgend in ihrem regionalen und globalen Interaktionszusammenhang exemplarisch betrachten. Zunächst werde ich die Perspektive der arbeitgebenden Landwirte und deren Verflechtung in regionalen und globalen Kalkulationsmustern nachzeichnen, um danach die internationale Arbeitsplatzsuche der saisonalen Arbeitskräfte zu fokussieren. Im Anschluss gilt es, die beiden Perspektiven zusammenzuführen, um darzulegen, inwieweit agrarische Arbeitsnetzwerke im Lokalen international geprägt sind und die Akteure sich nicht nur innerhalb eines regionalen, sondern eines globalen Zusammenhangs positionieren. Hierbei greife ich auf meine Forschung im Rahmen meines Dissertationsprojektes zurück, in dessen Verlauf ich Experteninterviews mit Landwirten führte und biographische Interviews mit Saisonarbeitskräften. Da die Interviews mit den Landwirten nicht ihre eigene Person mit biographischen und demografischen Angaben zum Thema hatten, sondern ihre Arbeitsweise als landwirtschaftliche Akteure, bezeichne ich diese als Experteninterviews. Entsprechend habe ich den Landwirten keine Namen gegeben, sondern sie nummeriert. So ist eine Kenntlichmachung des Redeanteils einzelner Landwirte zwar möglich, allerdings spielen personenbezogene Daten in meiner Analyse keine Rolle, was sich in der Art der Verweise widerspiegelt. Ich konnte nur männliche Landwirte treffen, entsprechend verwende ich in der Beschreibung meiner empirischen Daten über die Landwirte nur das Maskulinum. Im Gegensatz zu den Landwirten sind die zu den Saisonarbeitskräften erhobenen Daten deutlich personenbezogen; die Darstellung des eigenen Werdegangs ist Teil meiner Analyse. Entsprechend sind die dargestellten Personen pseudonymisiert.

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Weber 1924a, S. 452. Knoke 1911, S. 2.

Zwischen Mobilität und Immobilität

Die Landwirte: Globale Unternehmer Der landwirtschaftliche Beruf zeigt sich anpassungsfähig an unterschiedliche Herausforderungen. Der ländliche Raum als Arbeitsplatz zeigt sich unterschiedlich global verwoben: Die Landwirte müssen die Preisentwicklung in anderen Ländern beobachten, um ihren eigenen Gewinn einschätzen zu können. So erläutert Landwirt 4, dass er ohne schlechte Witterungsbedingungen in Ländern des östlichen Europas keinen Gewinn erzielen kann, »Dass da wirklich mal 50 Prozent der Ernte vernichtet ist, dann können wir hier ›ne gute Saison einfahren.«7 Der gesetzliche Mindestlohn, der in den Ländern der EU deutlich unterschiedlich bemessen ist, veranlasst die Landwirte ebenfalls zu Kalkulationen: »Polen ist der größte Produzent und wenn die kommen und sagen, ich kann die Kirschen franko Fabrik für 25 Cent liefern und dann kann ich keine 60 Cent kriegen, obwohl ich das bräuchte, um den Mindestlohn wenigstens abdecken zu können.«8 Aktuell müssen Landwirte nicht nur den Weltmarkt im Blick haben, sondern auch den Lebensmitteleinzelhandel, was Landwirt 4 beschreibt: »Die rufen an, unten in Ingelheim und sagen hier, ich brauche nächste Woche Süßkirschen für 1,50 Euro das Kilo, machst du das: Ja oder nein? Und wenn der nein sagt, rufen sie beim nächsten Markt an und irgendeiner in Deutschland sagt ja«.9 Die Ketten des Lebensmitteleinzelhandels haben bestimmte Preisvorstellungen, die die genossenschaftlichen Großmärkte erfüllen müssen. Von diesen Preisvorstellungen ist der Gewinn der Landwirte abhängig. Dies zeigt auch, dass all diese Akteure potentielle Störungen der Kalkulation auslösen können. Entsprechend versuchen die Landwirte, ihre Vertriebswege zu optimieren, was vor allem über die Direktvermarktung vorgenommen werden kann. Weitere Überlegungen sind durch die limitierte saisonale Verfügbarkeit des landwirtschaftlich erzeugten Produktes geprägt: nur zu bestimmten Vegetationsperioden kann es geerntet und vertrieben werden und muss je nach Betriebsausrichtung den Unterhalt für ein ganzes Jahr erbringen. Die Landwirte erkennen schnell, welche Art des Anbauprodukts sich für sie noch lohnt und welche nicht, wie Landwirt 1 schildert: »Es gibt immer mal eine Anlage, die nicht so ist und auch mal ʼne Kultur, die nicht so viel Geld bringt und dafür bringt eine andere vielleicht mehr, und dann wird das

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Landwirt 4, Interview vom 11.3.2016. Landwirt 1, Interview vom 2.2.2016. Landwirt 4, Interview vom 11.3.2016.

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Judith Schmidt

verrechnet. Und wir gucken: Ist diese Kultur in den letzten drei Jahren so schlecht gewesen, dann muss die verschwinden.«10 Die Wahl der Anbauprodukte richtet sich nach dem Ertrag. Die Landwirte entscheiden sich für ein Produkt aufgrund seines zu erwartenden Gewinns. Der Anbau muss wirtschaftlich sein, sonst wird er verändert Das saisonale Produkt stellt noch weitere Anforderungen an die Landwirte: Die Arbeitsbelastung innerhalb der Ernteperiode verlangt nach einer deutlich höheren Anzahl von Arbeitskräften als im restlichen Jahr. Entsprechend benötigen die Landwirte zusätzliches Personal, um die Ernte ihres Anbauproduktes zu bewältigen. Dieses Personal finden sie allerdings nicht in Deutschland, da sich ihre Gehaltszahlungen am Mindestlohn orientieren, was die Arbeit zusätzlich zu den körperlichen Anstrengungen und dem saisonalen Charakter unattraktiv macht. Entsprechend profitieren die Landwirte unmittelbar vom Wohlstandsgefälle innerhalb der EU, wenn sie Saisonarbeitskräfte aus Polen und seit 2014 vor allem aus Rumänien anwerben und einstellen. Die Landwirte agieren somit auf unterschiedlichen Ebenen global, kalkulieren Erntesituationen aus Konkurrenzländern in ihren Gewinn mit ein und sind eingebunden in einen europaweiten Arbeitsmarkt, von dessen divergierenden Lohnniveaus sie als Akteure abhängig sind. So strukturiert sich das von mir untersuchte Forschungsfeld grundsätzlich durch einen saisonalen Mehrbedarf an Arbeitskraft im Gemüse- und Obstanbau, der ein System der »zeitweisen Anziehung und Abstoßung«11 von ausländischen Arbeitskräften entstehen lässt. Hierbei zeigt sich vor allem seit den 1960er-Jahren die gegenseitige Bedingtheit von wirtschaftlich gebotenen Betriebsvergrößerungen nach dem Prinzip der economies of scales und der Anwerbung von Arbeitskräften, unterstützt durch ein Regime der Gastarbeiteranwerbung. In den Worten eines befragten Landwirtes hört sich dies folgendermaßen an: »Meine Eltern haben Spargel angebaut und die hatten ʼnen halben Hektar Spargel, damit waren die zwei ausgelastet, da gab es nichts mehr links und rechts. So und das war ja erst möglich, nachdem Sie Saisonarbeitskräfte kriegten, sagen Sie gut, dann machen wir eben ein paar Hektar Spargel, dann machen wir noch Erdbeeren dabei, Rhabarber dabei, weil im Grunde, Arbeitskräfte kriegen Sie ja. […] Ich habʼ 88 gestartet. Da habʼ ich mir direkt drei, vier türkische Mitarbeiter gesucht, dass wir hier pflanzen konnten. Weil, ich dachte auch direkt: Ich muss groß machen. Da kam einer ins Feld zu mir und meinte: Junge, Junge, wenn du mal nicht die Türken hast, dann liegst du aber dick auf der Nase. Dat klappt doch alles dann nicht mehr. Und der Mann hätte auch recht gehabt damit.«12

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Landwirt 1, 02.02.2016 Weber 1924b, S. 478. Schmidt 2015.

Zwischen Mobilität und Immobilität

Die Motivation zur Betriebsvergrößerung hängt hier prinzipiell von der Verfügbarkeit saisonaler Arbeitskräfte ab. Indem die Landwirte sich international aufstellen, Arbeitsplätze nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Ausland anwerben, zeigen sie ihr Vernetzungspotential. Die Prozesse eines Strukturwandels in der Landwirtschaft spiegeln sich darin deutlich wider: Die Bearbeitungsflächen wachsen mit höherem Modernisierungsanspruch und dem Bedürfnis nach Wachstum. Lag die durchschnittliche Betriebsgröße 1960 in Rheinland-Pfalz noch bei 5 Hektar, stieg sie bis 2007 auf 29 Hektar an.13 Die Modernisierung der Landwirtschaft und die damit verbundene Vergrößerung der Anbauflächen kann somit in einen Zusammenhang mit der Verfügbarkeit ausländischer Arbeitskräfte gebracht werden. Der ländliche Raum zeigt hier seinen globalen Charakter.

Die Saisonarbeitskräfte: Mobile Lebensentwürfe Mit dem Begriff der »mobilen Lebensentwürfe« trägt die Kulturanthropologin Stefanie Sommer dem Umstand Rechnung, dass Menschen ihre Biographien einerseits aktiv mitgestalten, und andererseits Lebensentscheidungen von Vorläufigkeiten und Unbeständigkeiten geprägt sind: »Anders als der Begriff der Biografie, legt der Gedanke von ›Lebensentwürfen‹ die Vorstellung nahe, dass Menschen im Hinblick auf ihr Leben und ihre Zukunft eine Wahl haben und sich somit verschiedene Möglichkeiten gegenüberstehen«14 . Der Begriff besitzt somit auch eine fiktive Kraft, nämlich die Kapazität, individuellen Vorstellungen von der Zukunft gerecht zu werden beziehungsweise sich diese auszumalen. Die im folgenden vorgestellten Lebensverläufe von saisonal in der Landwirtschaft Beschäftigten sind geprägt durch Mobilität als fiktiver Kraft; Vorstellungen von einer besseren Zukunft sind das Movens der mobilen Erwerbsarbeit. Ich stelle die Biographien zum Erhebungszeitpunkt vor, Daten müssen somit aus dem Erhebungszusammenhang, der zwischen 2017 und 2018 lag, verstanden werden. Zunächst unterliegen auch die biographischen Entscheidungen einer internationalen Relationalität von Wohlstand und Arbeit im Bereich der Landwirtschaft: Die Saisonarbeitskräfte nutzen das höhere Lohnniveau im Ausland, um in ihrem Heimatland bleiben zu können: »Rather than relying on transnational networking for improving their condition in the country of their settlement, they tend to ›settle within mobility‹, staying mobile ›as long as they can‹ in order to improve or maintain the quality of life at home. Their experience of migration thus becomes their lifestyle, their leaving home and

13 14

vgl. Mahlerwein 2016, S. 26-27. Sommer 2016, S. 55.

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Judith Schmidt

going away, paradoxically, a strategy of staying at home, and, thus, an alternative to what migration is usually considered to be – emigration/immigration.«15 Mit der Arbeit im Ausland wird der Lebensunterhalt im eigenen Land bestritten, denn in Rumänien, so beschreibt zum Beispiel Mihai die Situation, »In Rumänien gibt es keine Gehälter, mit denen du dir leisten kannst, etwas zur Seite zu legen. Was ich sagen will, ein bisschen Geld zu haben, du kannst dir nicht leisten, ein Haus zu kaufen, irgendetwas. Und die Jobs im Ausland sind besser bezahlt als in Rumänien. In Rumänien kannst du dir nicht leisten, ein anständiges Leben zu führen, du kannst nur überleben.«16 Florin möchte mit dem in Deutschland verdienten Geld seiner Familie eine Zukunft bieten. Momentan lebt er mit seiner Frau und seiner Tochter bei den Schwiegereltern, das zweite Kind ist unterwegs. Der Lohn aus dem Ausland soll in den Bau eines eigenen Zuhauses fließen, sodass seine Kinder eine schöne Kindheit und eine gute Zukunft haben, wie er sagt.17 Dies ist auch der Antrieb von Ana, die bereits mit dem Bau eines Hauses begonnen hat und dieses gemeinsam mit ihrem Mann sukzessive fertig stellt. Dafür arbeitet sie in Deutschland bei einem Winzer und nimmt in Kauf, ihre Kinder nur zu bestimmten Zeiten im Jahr sehen zu können. Die Arbeit im Ausland ermöglicht den Bau eines Hauses in Rumänien.18 Bei Cosmin ist es anders gekommen: Nachdem er seinen Arbeitsplatz in der Stahlindustrie verloren hatte, begann er, im Ausland zu arbeiten. Zuerst war er als Saisonarbeiter in Österreich, dann in England, schließlich in Deutschland beschäftigt. Er suchte Stabilität, wie er sie aus seiner Anstellung in der Stahlindustrie kannte und war dafür bereit, die Station der saisonalen Arbeit auf sich zu nehmen, in der Hoffnung, so die Möglichkeit zur Verstetigung zu bekommen. Deshalb wandte er sich schließlich auch an Zeitarbeitsfirmen. Seit mittlerweile drei Jahren arbeitet er nun bei der gleichen Firma und ist damit zufrieden. Kürzlich holte er seine Frau und seinen Sohn, der gerade in Rumänien sein Abitur mit Bestnote abgeschlossen hatte, nach Deutschland. Cosmin wünscht sich eine Zukunft in Deutschland für ihn – unabhängig davon, ob er selbst bleibt, oder nicht, denn so richtig angekommen ist er nicht in Deutschland, er sieht dort nicht seine Zukunft.19 Nicht nur die Art der Zukunft, die meist von dem Wunsch nach einem besseren Leben bestimmt ist, sondern auch der Ort der Zukunft scheint in den Erwägungen der Saisonarbeitskräfte einen gewissen Entscheidungsraum einzunehmen. Während Ana und Florin ihre Zukunft ganz klar in Rumänien sehen und 15 16 17 18 19

Morokvasic 2004, S. 1. Mihai, Interview vom 4.6.2018. Vgl. Florin, Interview vom 31.7.2018. Vgl. Ana, Interview vom 11.7.2017. Vgl. Cosmin 24.11.2017.

Zwischen Mobilität und Immobilität

den Arbeitsplatz im Ausland zu dessen Verwirklichung verwenden, zeigt sich Cosmin deutlich offener, was die Wahl des Wohnortes betrifft. Auffällig wird jedoch in jedem Fall, dass der Arbeitsort in der deutschen Landwirtschaft einen wirtschaftlichen Mehrwert für die Arbeitskräfte darstellt, der ihnen ermöglicht, eine gewisse Stabilität beizubehalten. Die Migrationsforscherinnen und Anthropologinnen Karen Fog Olwig und Ninna Nyberg Sørensen beschreiben dies als »mobile livelihood« und schlussfolgern, »that mobile populations do not necessarily migrate to start a new life elsewhere, but rather to search out new opportunities that may allow them to enhance and diversify livelihoods practised and valued back home.«20 Verstanden als Lebensunterhalt und Lebensgrundlage, lässt sich unter dem Begriff der »livelihood« auch die mobile Erwerbsarbeit der Saisonarbeitskräfte fassen. Die Lebensentwürfe der vorgestellten Arbeitskräfte sind multilokal geprägt und zeigen, wie strategisch internationale Wohlstandsgefälle in biographische Entscheidungen einbezogen werden. Der Arbeitsplatz in der Landwirtschaft wird in Antizipation eines besseren Lebens im Heimatland angenommen.

Landwirtschaft mobil – Ein Fazit Es wurde deutlich: Arbeitskulturen in ländlichen Räumen sind grundsätzlich durch globale Netzwerke und international perspektivierte Entscheidungslogiken bestimmt. Hierbei zeigen sich in den beiden vorgestellten Akteursgruppen unterschiedliche Perspektivierungen auf ihr Leben. Die Saisonarbeitskräfte verwenden die Arbeit im Ausland als Investitionsmöglichkeit in das Herkunftsland: Die Arbeit im Ausland soll zu einer Verbesserung der Lebensqualität beziehungsweise deren Aufrechterhaltung dienen. Ihr Arbeitsplatz ist international: Ungebunden an ein bestimmtes Land suchen sie nach den besten Lohnbedingungen, um ihren Lebensunterhalt im Herkunftsland zu sichern. Der Arbeitsplatz der Landwirte ist demgegenüber an den zu bearbeitenden Boden gebunden, sie sind nicht räumlich mobil. Allerdings müssen sie in ihre Prognosen und Kalkulationen Entwicklungen auf dem Weltmarkt mit einbeziehen. Um eine gewisse Wirtschaftskraft zu erhalten oder auch aufrecht zu erhalten, benötigen die Landwirte eine bestimmte Betriebsgröße, die sie allerdings wiederum oft nur mit Hilfe internationaler Arbeitskräfte bearbeiten können. Innerhalb einer global agierenden Ernährungswirtschaft zeigt sich der ländliche Raum geprägt durch internationale Verflechtungen. Die Landwirte sind internationale Arbeitgeber, auch dieses System des Arbeitsmarkts zeigt sich in Ermangelung autochthoner Arbeitskräfte als global organisiert. Der ländliche Arbeitsplatz

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Nyberg/Fog Olwig 2002, S. 1.

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Judith Schmidt

ermöglicht den saisonal Tätigen den Erwerb des Lebensunterhalts auf Basis mobiler Arbeit, die sich verflochten in internationale, globale Zusammenhänge zeigt. Innerhalb eines größer werdenden wirtschaftlichen Drucks im Rahmen ländlicher Strukturwandelprozesse können ausländische Arbeitskräfte das Wachstum der Betriebe ermöglichen. Die Landwirtschaft präsentiert sich somit als eingebunden in multilokale Netzwerke und Entscheidungsparameter. Gerade auch im mittelständischen Agrarsektor ist wirtschaftliches Agieren globales Agieren. Das doing rural21 wird hier zu einem working rural.

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Neu 2016, S. 5.

Zwischen Mobilität und Immobilität

Weber, Max: Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1924b, S. 470-507.

Quellenverzeichnis Interview mit Cosmin, geführt von Judith Schmidt am 24.11.2017. Interview mit Ana, geführt von Judith Schmidt am 11.7.2017. Interview mit Mihai, geführt von Judith Schmidt am 4.6.2018. Interview mit Florin, geführt von Judith Schmidt am 31.7.2018. Interview mit Landwirt 1, geführt von Judith Schmidt am 2.2.2016. Interview mit Landwirt 4, geführt von Judith Schmidt am 11.3.2016.

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Energieraum Land Technologische Innovation als Merkmal des ländlichen Raums am Beispiel der Energieproduktion durch Biogas Franziska Sperling

Seit über 50 Jahren durchlebt die deutsche Landwirtschaft – ebenso die Landwirtschaften in anderen Ländern – grundlegende Veränderungsprozesse.1 Bereits 1948 beschreibt Sigfried Gideon den Traktor als zentrales Element einer »Vollmechanisierung der Landwirtschaft«2 . Doch es ist offensichtlich, dass hierbei nicht nur ein Wandel der gewohnten Produktionsformen durch die Zuhilfenahme von technologischen Entwicklungen – wie zum Beispiel Automatisierung oder Digitalisierung – stattfindet. Die Transformationsprozesse sind vielschichtiger. Fragen nach einer ›nachhaltigen‹ Gestaltung des landwirtschaftlichen Strukturwandels hinsichtlich der Energieproduktion, beispielsweise durch Biogas-Technologie3 , machen deutlich, dass gerade aktuell politische Programme diesen oft als Gegensatz zum Urbanen skizzierten diffusen ›anderen‹, also nicht-städtischen, Raum neu konfigurieren. Der Wandel von ›traditioneller‹ landwirtschaftlicher Produktion zur ›innovationsgeleiteten‹ Energieproduktion ist hierbei ein Kristallisationspunkt, an dem das Bild des ländlichen Raums als Kornkammer in das des Maschinenraums kippt. Gerade die Europäische Ethnologie, als empirische, an der Gegenwart ausgerichtete Wissenschaft, ist hierbei aufgefordert, ihre eigenen Forschungsprogramme an diesen Entwicklungen zu überdenken und neue Felder kulturanthropologischer Forschung zu erschließen. In diesem Sinne möchte dieser Beitrag auch hervorheben, dass gerade kulturanthropologische Forschungen zentrale Perspektiven entwickeln können, um diese verflochtenen Beziehungsgefüge auch über die Fachgrenzen und Wissenschaft selbst zugänglich zu machen. Ein zentrales Element in diesem Feld des Zusammenwirkens von Technik, Politik und Alltag ist die Energiefrage. Während ein Großteil, wenn nicht alle, der Praktiken des Alltags (post-)industrieller Gesellschaften an energieverbrauchende Bereitstellungen rückgebunden sind, erscheint das Thema ›Energie‹ insbesondere in 1 2 3

Vgl. Uekötter 2010, S. 1. Giedeon 1960 [1948], S. 162. Sperling 2017.

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Franziska Sperling

kulturanthropologischen Forschungszusammenhängen geradezu als blinder Fleck in der Beobachtung.4 Ausgehend vom Thema »Energie als Gegenstand anthropologischer Forschung« entwickelt der Beitrag eine Perspektive auf die Dimension des ländlichen Raums als technisch strukturiertem Feld.5

Anthropology of Energy: Das Forschungsfeld kulturanthropologische Energieforschung Erst in den letzten Jahren werden verstärkt – auch durch Fallstudien unterfüttert – Energie, Energienutzung und Energiepolitik als kulturanthropologisches Feld in den Blick genommen.6 Einen wichtigen Teilbereich nehmen hierbei Forschungen ein, die Praktiken der Energienutzung im Alltag untersuchen und diese in Zusammenhang der Bedeutungszuschreibung von Energie setzen.7 Zudem finden sich insbesondere im Bereich der Science and Technology Studies (STS) empirische Studien, die sich speziell mit den Veränderungsprozessen durch erneuerbare Energien befassen.8 Angesichts des scheinbar rasanten Tempos technischer Innovation, sind es vor allem kulturelle und politische Aspekte und Phänomene, die daran hindern, effektiv auf die enormen Herausforderungen im Energiebereich zu reagieren, jedoch weniger technische.9 Durch ethnographische Fallstudien wird nachvollziehbar, dass Produktion, Verteilung und Verbrauch von Energie fast nie der einfachen Logik der neoklassischen Wirtschaftseffizienz folgen; vielmehr neigen Menschen dazu, ihre verschiedenen Bezugssysteme unter technischen, wirtschaftlichen, kulturellen Voraussetzungen zu wechseln, wenn es um den Verbrauch von Energie geht.10 Energie ist ein Feld in Bewegung, das sich über soziale und physische Räume zieht. Aus diesen Gründen ist es längst höchste Zeit für anthropologische Forschungen: Und zwar darüber, wie Menschen Energie in ihren verschiedenen Qualitäten erfahren und nutzen, wie sie sich auf die Quantität verlassen, und wie sie sich beides, sowohl Qualitäten und Quantität von Energie, nutzbar machen und

4 5 6 7 8 9 10

Vgl. ebd. Dieser Beitrag basiert auf meiner Feldforschung aus den Jahren 2010 bis 2012. Die Ergebnisse dieser Forschung sind bereits in einer Monografie veröffentlicht. Siehe Sperling 2017. Vgl. Ferguson 2005, S. 377-382; Henning/Leijonhufvud 2014, S. 117-123; Sperling/Schwinghammer 2015, S. 145-162; Willow/Wylie 2014, S. 222-236. Vgl. Pink/Leder Mackley 2012, S. 87-105; Shove/Walker 2014, S. 41-58; Strauss 2013; Tauschek 2016, S. 311-330; Wilhite 2013, S. 60-72. Vgl. Delicado 2014, S. 49-71; Levidow, Les u.a. 2013, S. 14-36; Späth/Rohracher 2010, S. 449-458; Wirth 2014, S. 236-246. Strauss u.a. 2013, S. 10. Vgl. Pink/Leder Macklay 2012.

Energieraum Land

aneignen. KulturanthropologInnen sind in der Lage, die Arten von konzeptionellem und sozialem Wandel nachzuzeichnen, welche die globalen Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen (insbesondere in wohlhabenden Gesellschaften) mit sich bringen werden.11 Es geht also darum, dass anthropologische Forschungen der Frage nachgehen müssen, was passiert, wenn sich die Quantität oder Qualität der Energieflüsse verändert, und mit ihr die sozialen Arrangements und kulturellen Verständnisse, die sich durch ein bestimmtes Energie-Regime entwickelt haben.12 Neben Endverbrauchern, technischen Geräten, die in lokalen Aneignungspraktiken beobachtbar sind und Stoffströmen, die durch das Umlegen eines Schalters, dem Griff zur Fernbedienung oder der Nutzung einer Steckdose sichtbar werden, gehören auch politische Programme, ökologische Systeme, Gesetzgebungen sowie technische oder soziale Infrastrukturierungsprozesse in das Forschungsspektrum einer Anthropology of Energy. Der Einfluss von Energie verändert die Welt und fließt in den verschiedensten Formen in natürlichen und sozialen Kreisläufen. Energie ist ein Feld in Bewegung, das sich über soziale und physische Räume zieht.13 Die lebensweltliche Bedeutung von Energie – also etwa die Nutzung im Alltag – und die starke und nahezu omnipräsente Diskursivierung des Themas Energie verlangen geradezu nach einer kritisch-dekonstruierenden kulturanthropologischen Bearbeitung.

Veränderungen des ländlichen Raums: Der Strukturwandel der Landwirtschaft und die Energiewende Seit den 1950er-Jahren wurde menschliche Arbeitskraft aufgrund der zunehmenden Mechanisierung der Landwirtschaft und der damit verbundenen Kapitalisierung der Produktion durch Agrartechnik ersetzt. Die Zahl der Arbeitskräfte und der Betriebe nahm stetig ab, hingegen stiegen die landwirtschaftliche Nutzfläche und die Tierbestände pro Betrieb kontinuierlich an. In den vergangenen Jahren fassten immer mehr Landwirte daher den Entschluss, den landwirtschaftlichen Betrieb nicht mehr weiterzuführen. Mit den zunehmenden Kosten für Arbeit, Boden und Kapital wurden Landwirte weg von gemischten Betrieben mit Vieh und Acker hin zu einer immer stärkeren Spezialisierung getrieben.14 Neben dem seit Jahren

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Vgl. Sperling 2017. Strauss u.a. 2013, S. 13. Vgl. Strauss u.a. 2013 Weiterhin wurden durch die EU-Agrarpolitik kleinere Höfe zurückgedrängt, weil Subventionen in Form von Flächenprämien vielmehr an Großbetriebe vergeben werden. Der Grund dafür ist, dass die EU sich einen globalen Markt durch die wachsende Nachfrage nach Nahrungsmitteln erhofft, um somit konkurrenzfähig mit anderen Nationen zu sein.

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anhaltenden Hofsterben, lässt sich zeitgleich das Wachstum der verbleibenden Betriebe belegen. Eine idyllische Landwirtschaft mit Kleinbauern erscheint nicht nur medial vermittelt als Ideal, sondern taucht ebenso bei politischen Debatten, Urlaubsplänen oder Unterhaltungen in Straßenbahnen auf.15 Doch in der Realität ist dies eine überkommene Wunschvorstellung. Hier tritt ein Konfliktpunkt zu Tage, der bei den weiteren Infrastrukturierungsprozessen gerade im Rahmen der Energiewende Auswirkungen nach sich ziehen wird. Zwar wird Landwirtschaft in der öffentlichen Diskussion häufig immer noch mit der klassischen, kleinbäuerlichen Nahrungsmittelproduktion in Verbindung gebracht, doch nicht nur in Deutschland ist dieses Bild schon lange nicht mehr zutreffend. Ohne die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen erscheint jedoch das Projekt der Energiewende nicht durchführbar. Verfolgt man die derzeitige politische Diskussion zur Energiewende in Deutschland und insbesondere zur bioenergetischen Landnutzung ist offensichtlich, dass der Bereich der Produktion und des Ausbaus erneuerbarer Energien starke infrastrukturelle Änderungen auslöst: Auf der einen Seite entstehen Chancen und Risiken hinsichtlich der jeweiligen Landnutzung, auf der anderen Seiten führt dies zu weitreichenden Auswirkungen und Einschnitten der Infrastrukturen dieser Regionen. Widerstand und moralische Einwände seitens der Öffentlichkeit führen zu neuen Aushandlungsprozessen um die Flächennutzung. Im vorliegenden Fallbeispiel nimmt auch eine emotionale Komponente, die hier durchaus als Teil eines Infrastrukturierungsprozesses bezeichnet werden kann, für den Entschluss zur Energieerzeugung mittels Biogas eine zentrale Rolle ein. Durch die (Teil-)Umstellung sind Landwirte in der Lage, ihren landwirtschaftlichen Betrieb weiterzuführen, in ähnlichen Routinen zu arbeiten, ihre Fahrzeuge zu nutzen und dadurch aus dem ererbten Betrieb etwas Neues, Gewinnbringendes zu entwickeln. Ferner begünstigt die gute Qualität des Bodens und die Innovationsfähigkeit junger Unternehmer die Entwicklung. Auf einer abstrakteren Ebene gesehen, könnte die Nutzung von Biogas dazu beitragen, dass Fläche auf dem Agrarweltmarkt nicht für die Lebensmittel-, sondern für die Energieversorgung verwendet wird. Es stellt die Möglichkeit dar, den europäischen landwirtschaftlichen Subventionierungen entgegen zu wirken: Ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche muss somit nicht für Lebensmittelproduktion verwendet werden. Dies jedoch ist in der öffentlichen Diskussion mit zahlreichen moralischen Einwänden behaftet, weil Landwirtschaft (immer noch) vorwiegend mit Lebensmittelproduktion in Verbindung gebracht wird. Doch inwieweit technologische Innovation als Merkmal des ländlichen Raums trotz entsprechender hartnäckiger Vorstellungswelten ›traditioneller Ländlichkeit‹ sich gerade im Feld der Energieproduktion signifikant manifestiert, soll nun der 15

Man kann sogar so weit gehen und von sozialen Gruppierungen übergreifenden Kollektivimagination sprechen.

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nun folgende Abschnitt verdeutlichen, der auf Feldforschungen im Nördlinger Ries basiert.

Die »Biogaspioniere« Stefan und Thomas Koch »Im Ries gibt’s mehr unternehmungslustige Leute und deshalb die vielen Biogasanlagen«, so Stefan Koch, 59, der mit seinem Cousin Thomas Koch, 47, die erste Biogasanlage im Ries gebaut und in Betrieb genommen hat.16 In der Region sind die beiden als die »Biogaspioniere« bekannt. Die Unternehmer unterscheiden sich darin von anderen Biogasanlagenbetreibern, auch wenn sie ihren Beruf ganz typisch begonnen haben. Bereits ihre Väter waren Landwirte und hielten gemeinsam seit 1975 einen Schweinemaststall mit 1.000 Mastschweinen. Im Jahr 1997 haben Stefan und Thomas Koch den Stall übernommen, mit dem damals jedoch kein guter Verdienst zu tätigen war. Aus diesem Grund haben die beiden sich eine der ersten Biogasanlagen in Bayern angesehen, bei der es sich damals noch um eine sehr kleine Anlage mit gerade 15 Kilowattstunden (kWh) Leistung handelte. Der Betreiber, der sich bereits Energiewirt nannte, versicherte den beiden, dass es sich hierbei um eine gute Investition handelte, die eine lukrative alternative Einkommensquelle zur konventionellen Landwirtschaft darstellte. Zu diesem Zeitpunkt bereits zeichnete sich ab, dass Energieerzeugung in der Landwirtschaft in Zukunft in Deutschland gewinnbringender als Nahrungsmittelerzeugung werden würde, so die beiden Landwirte. Ein Jahr lang haben sich die beiden Unternehmer deshalb sämtliche Biogasanlagen in ganz Deutschland angesehen, bis sie 1999 mit ihrer eigenen Anlage in Betrieb gegangen sind. Im ersten Jahr wurde die Anlage mit 80 kWh Leistung gestartet und im zweiten Jahr gleich auf 500 kWh Leistung aufgestockt. Rückblickend meint das Unternehmerduo Koch, sie seien auf ihrem Weg zum Energiewirt eher blockiert als gefördert worden. Das Landwirtschaftsamt hat ihnen im Jahr 1999 von Biogas abgeraten. Für die erste Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) im Jahr 2000 waren die beiden Unternehmer »zu früh dran«, so Thomas Koch. »Für die weitere Förderung, also die Erweiterung des Bestands hat es für uns nichts gegeben. Nur für Neubau.« Mit 500 kWh Leistung war ihre Biogasanlage eine der Größten in ganz Bayern und die beiden Unternehmer wurden aus diesem Grund auf diverse Fachtagungen eingeladen: »Wir haben Vorträge gehalten, null Ahnung [lacht]. Auf der Fachverbandstagung waren wir unter den sieben größten damals. Und vorne

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Dieses sowie alle nachfolgenden Zitate und entsprechend gekennzeichneten Aussagen sind während eines Gesprächs mit Stefan und Thomas Koch (Namen anonymisiert) im Rahmen meiner Feldforschungen im Nördlinger Ries in den Jahren 2010 bis 2012 entstanden. Vgl. Sperling 2017.

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mit dabei.« Thomas Koch erinnert sich: »Das war bei uns schon lustig, wenn die Doktoren oder Professoren nimmer weitergewusst haben, dann sind die zu uns gekommen.« An dieser Stelle wird der Pionierstatus des Unternehmerduos Koch deutlich: Wissenschaftler haben sich an sie gewandt, um von der Expertise zu profitieren, die die beiden als Erste durch die Inbetriebnahme einer Anlage in der Größenordnung gewonnen haben. Das hat vor allem damit zu tun, dass es sich bei Biogas um eine sich noch (weiter-)entwickelnde Technologie handelt. Ganz im Gegenteil zu Technologien, die gänzlich ausgereift sind und die wie nach einem Baukastenprinzip umgesetzt und angewandt werden und bei denen dann höchstens im Betrieb selbst nochmal Probleme auftreten können, handelt es sich bei Biogas um eine Technologie, die noch im Entstehen begriffen ist. Sie entwickelt sich noch über immer wieder neu gesammelte Erfahrungen in der Praxis weiter und bleibt auch Gegenstand wissenschaftlicher Forschung unterschiedlicher Fachrichtungen (unter anderem Maschinenbau, Agrartechnik, Biologie, Bauingenieurwesen). Mit der österreichischen Soziologin und Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny lässt sich hier vom »Modus 2 der Wissensproduktion« sprechen.17 Nowotny unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Modi der Wissensproduktion. Unter Modus 1 versteht sie eine klare Trennung zwischen Forschung und Anwendung von Technik oder mit anderen Worten einer klaren Trennung zwischen Technologieentwicklung und dem tatsächlichen Betrieb einer Technologie. Unter Modus 2 versteht Nowotny Projekte, die sozial-verteilt, anwendungsorientiert, transdiziplinär und Gegenstand verschiedener Verantwortungsbereiche sind.18 Die Wissensproduktion im Bereich der im Entstehen begriffenen Technologie Energieerzeugung durch Biomasse entsteht im Wesentlichen in der Anwendung, disziplinübergreifend, unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure und mit wechselnden Kompetenzen, die nicht allein im akademischen Feld zu finden sind oder durch andere Kompetenzen informiert wird. Insbesondere die »Biogaspioniere« sind ein gutes Beispiel für veränderte Formen der Wissensproduktion. Hier wird deutlich, dass Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung beziehungsweise Technologieentwicklung und -implementierung überhaupt nicht mehr voneinander getrennt werden können. Allgemein heißt das, in der Praxis der Anwendung entsteht Wissen, Forschung und Technologieentwicklung.19 Das trifft auf die »Biogaspioniere« zu und daher wenden sich Wissenschaftler an sie.

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Vgl. Nowotny 2005, S. 8-33. Vgl. Nowotny/Scott/Gibbons 2003, S. 179-194. Es sind also nicht mehr die Forscher und Akademiker, die wichtiges Wissen über eine bestimmte Technologie produzieren, sondern diejenigen, die die Technologie anwenden (vgl. auch Nowotny/Scott/Gibbons 2003 und Nowotny 2005).

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Zugleich bedeutet das für sie aber auch die Zumutung, mit den vielen Unwägbarkeiten und Risiken umzugehen und abzuwägen. Auch aus diesem Grund waren andere Landwirte vorsichtiger; weil ihnen das Risiko, die Unsicherheit und der finanzielle Aufwand zu groß waren. Erst mit der Novelle des EEG im Jahre 2003 wurden diese Faktoren für andere Landwirte im Nördlinger Ries besser kalkulierbar. Weil es sich bei der Anlage um die erste im Nördlinger Ries handelte, war anfangs auch der zuständige Kreditberater der Bank eher skeptisch. Das finanzielle Risiko war für die beiden mit dem Bau der Anlage 1999 erheblich: »Wir haben ja auch kein Geld gehabt. Wir haben unsere Häuser bei der Bank verpfändet, um das Geld zu kriegen!« Schließlich mussten die beiden Unternehmer im Jahr 1999 eine halbe Millionen Mark und im Jahr 2000 dann nochmal eine Million Mark investieren. Damals gab es noch kein Unternehmen für Biogas-Anlagentechnik, so dass Stefan und Thomas Koch selbst einen großen Teil der Anlage gebaut und viel getüftelt haben. In Abwägung, das finanzielle Risiko möglichst gering zu halten, packten die Unternehmer Koch selbst an. Genauso wie der konzeptionelle Bau der Anlagen waren die technischen Gerätschaften zum Zerkleinern der Biomasse zu dem Zeitpunkt noch nicht weit entwickelt, sodass das Unternehmerduo Koch viel selbst entworfen und mit Maschinenherstellern weiterentwickelt hat. Auf der BiogasFachmesse in Hannover mussten die beiden Unternehmer dann jedoch ernüchtert feststellen, dass genau ihre Idee zum Behälterbau für Silo-Rüben von einem Hersteller für landwirtschaftliche Maschinen geklaut wurde: »Dann waren da die Bilder von uns. Da wollten die das Konzept für Rüben vermarkten, das die bei uns und mit uns entwickelt haben. Aber eigentlich war das unsere Idee.« Mit diesem Zitat wird erneut deutlich, wie das Unternehmerduo in der Praxis Wissen generiert, das dann jedoch in diesem Falle von einem Maschinenhersteller übernommen wird, der von der Erfahrung und dem Wissen der beiden Unternehmer profitiert. Erst im Jahr 2003/2004 hat das lokale Landwirtschaftsamt begonnen, Landwirte im Nördlinger Ries bei einem Biogasvorhaben beratend zu unterstützen. 2004 fassten die beiden Unternehmer daher den Entschluss, den nächsten Schritt zu gehen und eine Anlage mit 1.000 kWh Leistung zu bauen. Zusammen mit 18 beteiligten Rieser Landwirten entstand das sogenannte »Energiezentrum«. Allerdings gab es einige andere Probleme. Weil der Bau der Anlage in einem Vogelschutzgebiet lag, legte das Landratsamt sein Veto für den Bau ein und das Unternehmerduo Koch war gezwungen, neu zu planen. Der Bau der Biogasanlage verzögerte sich um einige Zeit. Die Fläche wurde im Rahmen von Natura 2000 zu einem Vogelschutz-Gebiet für die Rohr- und Wiesenweihe, eine europaweit geschützte Vogelart, deklariert. Hier wird bereits die Konflikthaftigkeit zwischen Energieerzeugung aus Biomasse und Umwelt- und Naturschutz angedeutet. Im Jahre 2006 führten die Unternehmer mit dem regionalen Gasversorger Erdgas Schwaben Verhandlungen über die Möglichkeit zur Gaseinspeisung von Biogas

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ins Erdgasnetz. 2007 unterschrieben sie einen Vertrag mit dem Gasversorger, allerdings mit der Auflage, eine weitere Anlage mit einer Leistung von 1.000 kWh in Betrieb zu nehmen, also insgesamt 2.000 kWh Leistung zu produzieren. Hierfür gewannen die beiden Unternehmer wieder weitere zehn Landwirte als Anteilhaber: »Das hat sich bei uns so hochgeschaukelt. Jetzt sind wir 28 Landwirte und machen 2,5 MW.« Sie produzieren also 500 kWh Strom für das Stromnetz. 2.000 kWh Leistung speisen die beiden Unternehmer ins Erdgasnetz ein, was zum Heizen genutzt wird und an Privathaushalte verkauft wird. Bei der BiogasNetzeinspeisung wird das Biogas nicht sofort zur Stromerzeugung verwendet, es wird erst gereinigt und aufbereitet und erst dann in das Erdgasnetz eingespeist. Diese Biogas-Netzeinspeisung ist im Vergleich zur Biogas-Verstromung eine relativ neue und innovative Technologie, die größere Anforderungen an Betreiber und Planer stellt. Der Bau einer Anlage zur Biogas-Netzeinspeisung kostet nicht nur mehr Geld, sondern verlangt von den Betreibern viel Engagement und Pioniergeist. Erdgas Schwaben besitzt die Gasreinigungsanlage des Betriebs. Die Unternehmer haben mit dem Energiekonzern einen Vertrag über zehn Jahre. Erdgas Schwaben kauft also das Rohgas, reinigt es vor Ort in der Gasaufbereitungsanlage und leitet es ins Netz ein. Die beiden Unternehmer bedauern sehr, aufgrund dessen von Erdgas Schwaben abhängig zu sein: »Den Part, den hätten wir nicht hergeben sollen, aber da waren wir zu wenig mutig. Das haben wir uns 2008 noch nicht getraut.« In ganz Deutschland habe es zu diesem Zeitpunkt noch keine solche Erdgasaufbereitung des Biogases gegeben. »Und dann sollen wir zwei wieder die Ersten sein, nein. Jetzt waren wir ja schon im Ries die Ersten mit Biogas. Erdgas Schwaben hat einfach mehr Abschreibungsmöglichkeiten, wenn’s nicht geklappt hätte.« An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei der Aufbereitung von Bioerdgas um eine recht neue, innovative, aber auch wenig bekannte, bisher zu wenig genutzte und noch nicht umfassend implementierte Technologie handelt. Die beiden Unternehmer jedoch haben sich bewusst dazu entschieden, mit dieser neuen Technologie zu arbeiten, wenn sie auch in Abwägung und Überlegung nicht bereit waren, das alleinige Risiko einzugehen. Sie haben sich dadurch in die Abhängigkeit von einem großen Erdgasversorger gebracht, der das Risiko trägt. Hier lässt sich von einem rationalen Umgang mit Risiken der beiden Unternehmer sprechen, schließlich war nicht klar, ob sich die innovative Technologie der Erdgaseinspeisung bewähren würde oder im schlimmsten Falle das ganze Unternehmen und die Familien in die Insolvenz getrieben hätte. Im Rahmen ihrer Strategie hat das Unternehmerduo Koch also immer kleine Schritte in ständiger Abwägung zwischen Risiko und Gelegenheit unternommen. Im Endeffekt halten die beiden Unternehmer nun drei Betriebe, so wie die Anlagen der Reihe nach in Betrieb genommen worden sind. Sie sind also auch drei verschiedene Eigentümer: 1999/2000 (zu zweit als reine GmbH), im Jahr 2004 das

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Energiezentrum GmbH (das Unternehmerduo Koch) & Co.KG (18 Landwirte), und dann genauso bei der dritten Anlage GmbH (das Unternehmerduo Koch) & Co.KG (10 Landwirte). Die beteiligten Landwirte sind allerdings keine Investoren, sondern liefern die Flächen und sind mit einem Gewinn beteiligt. Über das monatliche Gehalt für das Unternehmerduo Koch wurde in einer Sitzung mit den beteiligten Landwirten verhandelt. Selbstverständlich kennen die Geschäftsführer die Landwirte persönlich, ihre »Lieferanten« wie sie jene auch nennen. Einen großen Vorteil sehen die Unternehmer darin, dass jeder, der sein Geld in ihrem Betrieb anlegt, weiß, »wo es herkommt. Bei uns will der von der Bank keine Zahlen sehen, weil der weiß, da hängen 28 Leute mit drin, da kommt das Geld auf alle Fälle.« Hier wird deutlich, dass das Geschäftsmodell der beiden Unternehmer auf eine bereits bestehende soziale Beziehung aufbaut. Der Faktor des wechselseitigen Vertrauens spielt hierbei eine wichtige Rolle, schließlich befinden sich beide – sowohl die Lieferanten als auch das Unternehmerduo Koch – in einer Art Abhängigkeit voneinander: Die einen sind auf die regelmäßigen Zahlungen angewiesen, die anderen auf die kontinuierliche Lieferung der Biomasse zur Bestückung des Anlage. Andernorts wäre ein solches Geschäftsmodel womöglich gar nicht denkbar. Die Bezeichnung »Biogaspioniere« trifft deshalb auf das Unternehmerduo Koch zu, weil sie die Ersten in der Region waren, die eine Biogasanlage in Betrieb genommen haben. Somit haben beide eine Vorbildfunktion für andere Landwirte, die ihnen nachfolgen. Man könnte sie auch als Change Agents bezeichnen, die bereit sind, das Wagnis und die noch nicht bekannten Risiken auf sich zu nehmen. Dadurch erzeugen die Unternehmer den Wandel im Ries. Der Begriff Change Agents wurde in diesem Zusammenhang vom Soziologen Everett M. Rogers im Kontext der Diffusionstheorie geprägt.20 Mittlerweile wird die Bezeichnung Change Agents in der Diffusionsforschung und der Innovationsforschung verwendet.21 Die Diffusionsforschung untersucht die Ausbreitung von Informationen, Innovationen und menschlichen Aktivitäten in einem geographischen Raum. Für diesen Beitrag meint das, wie sich die technische Neuerung Biogas ausbreitet. Everett M. Rogers geht von der Annahme aus, dass Innovationen Entscheidungen voller Ungewissheit bedeuten und die langfristigen wie auch kurzfristigen Vor- und Nachteile meist unbekannt sind.22 Häufig sind diese auch abhängig von den Entscheidungen anderer Personen. In diesem Zusammenhang versteht Rogers Innovationen immer auch als sozial konstruiert. Die »Biogaspioniere« erscheinen also als Akteure, die eine Region wettbewerbsfähig machen, indem sie eine »learning economy«23 ausgebildet haben, die Innovationen und »knowledge spillovers«24 hervor20 21 22 23 24

Vgl. Rogers 2003; Karnowski 2011. Vgl. Blättel-Mink/Menez 2015; Blättel-Mink/Ebner 2009; Rogers 2003. Vgl. Rogers 2003. Vgl. Lundvall/Johnson 1994, S. 23-42; Lundvall 2016. Howells 2002, S. 871-884.

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bringt. Mit »learning economy« beschreiben die Sozialwissenschaftler Bengt-Åke Lundvall und Björn Johnson eine sozio-ökonomische Entwicklung, in der Wissen als zentrale Ressource und Triebkraft wirtschaftlichen Wachstums in Kombination mit interaktiven und sozial eingebetteten Lernprozessen in den Fokus genommen wird: »The learning economy indicates an economy where the success of individuals, firms, regions and national economies reflect their capability to learn.«25 Im Gegensatz zu Modellen der Wissensökonomie gehen Lundvall und Johnson von einem anwendungsbezogenen Konzept aus, das auch das Vergessen als wesentlichen Teil mitansieht. Aus anthropologischer Perspektive ist dies besonders interessant, da zum einen implizites Wissen mitberücksichtigt werden kann und zum anderen die Form der Darstellung der Wissensanwendung, beispielweise in Interviews, auch zur performativen Selbstvergewisserung beiträgt. Nicht nur mit Hinblick auf Forschungen im sich wandelnden ländlichen Raum ist eine solche Perspektive hilfreich, da sie die besondere Rolle teilnehmender Beobachtung im Zusammenhang von Praxis- und Innovationsforschung unterstreicht. Die »knowledge spillovers« beschreiben hier den Umstand, dass die durch die Praxis erworbenen Wissensbestände sowohl für andere Anlagenbetreiber als auch für klassische Bildungsinstitutionen zugänglich gemacht wurden. Abschließend betrachtet haben die »Biogaspioniere« ihren Betrieb anhaltend in verschiedenen Stufen vergrößert oder verändert. Ganz nach dem Motto: »Step by Step«26 . Ihre Entscheidungen wurden immer in Abwägung der Vorteile und potentiellen Risiken getroffen. Einerseits tragen sie die Hauptlast der unternehmerischen Risiken natürlich in erster Linie selbst, jedoch suchen sie nach Mitteln und Wegen, die Risiken auf mehreren Schultern zu verteilen und weisen damit einen rationalen Umgang mit möglichen Risiken auf. Das wird einerseits deutlich durch die Kreditvergabe der Bank, aber auch durch die im Nachhinein bereute Abhängigkeit vom Erdgasversorger. Ihr Pioniergeist beinhaltet also infolgedessen unterschiedliche Aspekte: Die beiden Unternehmer weisen eine große Risikobereitschaft auf, die aber immer in Abwägung und Überlegung gerade auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Väter mit dem zum damaligen Zeitpunkt verhältnismäßig großen Viehbetrieb getroffen werden. Des Weiteren besitzen Stefan und Thomas Koch ein hohes Maß an Flexibilität. Schließlich handelt es sich bei der Energieerzeugung aus Biomasse und anschließender Erdgasaufbereitung um eine im Entstehen begriffene Technologie, in deren praktischer Anwendung Wissen entsteht. Aus diesem Grund lässt sich über die beiden weiterhin sagen, dass sie äußerst lernfähig sind: Sie bleiben

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Lundvall 1996, S. 2. Ein ähnliches schrittweises unternehmerisches Vorgehen hat auch Gisela Welz in ihrer Fallstudie in der Republik Zypern zur Herstellung agrotouristischer Tourismusräume festgestellt. Vgl. Welz 2010, S. 143-156.

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nicht stehen, sie sind ständig dabei, sich zu fragen, wie kommen wir klar, was muss integriert werden. Energieerzeugung aus Biogas lässt sich hier als Opportunitätsstruktur bezeichnen, in der viele verschiedene Aspekte zum Tragen kommen: Es handelt sich um eine neue Technologie, implementiert durch politische Instrumente (EEG), die die Erzeugung belohnen und lohnenswert machen, sowie rechtliche als auch ökonomische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen beinhalten. Die beiden Unternehmer bewegen sich zwischen diesen Opportunitäten und den Risiken hin und her, schlängeln sich hier geradezu durch. Das Konzept der Opportunitätsstruktur stammt von dem US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton und stellt die strukturellen Zwänge der Handlungssituation von Akteuren in den Mittelpunkt.27 Damit ist die tatsächliche Ungleichverteilung der Bedingungen gemeint, die Individuen und Gruppen mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten ausrüstet, gewisse Ziele zu erreichen, also Chancen zu ergreifen.28 Der Soziologe Jürgen Mackert weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass jene strukturellen Voraussetzungen, die das Handeln und die Wahlentscheidungen veranlassen, asymmetrisch verteilt sind.29 Was also disponiert die »Biogaspioniere« zu diesem Erfolg im Unterschied zu anderen? Welche Kapitalien braucht man für ein solches Entrepreneurship? Sicherlich ist es ihre bereits beschriebene Risikobereitschaft. Die neue Technologie Biogas befähigt sie, sich durch die praktische Anwendung Wissen, also Wissenskapital, anzueignen. Sie sind aber auch deshalb erfolgreich, weil sie sehr hart arbeiten – was ein »schwäbisches Unternehmertum« auszeichnet und wie es von meinen Gesprächspartnern selbst beschrieben wird, eine Eigenart der Bewohner des Nördlinger Ries sei. Jedoch können sie sich gegenseitig entlasten, indem der eine für den anderen einspringen kann. Das Unternehmerduo verbindet ein enges vertrautes, familiäres Band und sie sind sich – wie Stefan und Thomas Koch selbst sagen – »von der Mentalität« her sehr ähnlich. Aus kulturanthropologischer Perspektive zeichnet sich hier ein kulturelles Stereotyp ab. Die Protagonisten selbst jedoch beziehen sich auf diesen Begriff. Typisch für performative Selbstvergewisserung erfüllt dieses Klischee die Rolle eines Referenzrahmens nach Innen und nach Außen. Dieses gerade in der Gruppe der »Dazugehörigen« so positiv konnotierte Stereotyp fungiert gleichzeitig als implizite Vereinbarung der Zuschreibung von bestimmten Verständnissen in Hinblick auf ökonomisches Handeln, regionale Verortung und »Arbeitsmoral«. Man könnte hier durchaus von einer Art kulturellem Kapital sprechen. Die beiden genießen des Weiteren das Vertrauen ihrer Lieferanten, was ihnen durch eine Form ihres sozialen Kapitals in der Region zugutekommt. Durch den vererbten großen Viehbetrieb

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Vgl. Merton 1968, S. 185-214. Vgl. Mackert 2010, S. 401-420. Ebd., S. 403.

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der Väter hat das Unternehmerduo einen finanziellen Rückhalt. So konnten sie zu Beginn des Vorhabens unternehmerische Investments tätigen, die sich nach kurzer Zeit durch ihren wirtschaftlichen Erfolg, das heißt ihr ökonomisches Kapital, auszahlten.30

Abschluss Ländliche, periphere Räume können durch Innovationen im Bereich der Energieerzeugung gewinnen. Dies bedeutet in Relation vor allem auch, dass die Peripherie, abseits von den Knoten der Globalisierung aufgewertet wird, und zwar ökonomisch, politisch und kulturell. Projekte der Dezentralisierung von Energieerzeugung lenken die Aufmerksamkeit auf Regionen, die vorher als wirtschaftlicher Standort nicht attraktiv waren. Diese Zentrum-Peripherie-Debatte veranschaulicht das Transformationspotential von Infrastrukturentwicklungen: Formen des dezentralen und dezentrierten Designs haben hohe Konjunktur und ihre Orte werden zu alternativen Zentren.31 Auch die Kulturanthropologie kann (und muss) dazu beitragen, dass hier neue wissenschaftliche Repräsentationen des ländlichen Raums entstehen. Aktuell scheint es, dass das Bild des Landwirts eng mit dem Ideal einer nachhaltigen, kleinteiligen, ökologischen, diversifizierten, romantischen, nicht-kommerziellen, mono-funktionalen Landwirtschaft verknüpft ist. Eine Umdeutung des Berufsbildes im Sinne des beobachtbaren Transformationsprozesses ist schwierig. Zwar steht die Tätigkeit des Landwirts und jetzt des Biogasanlagenbetreibers fortdauernd im Fokus der öffentlichen Diskussion, jedoch – und das soll an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden – besteht ein Unterschied zwischen der »lokalen Öffentlichkeit«, das heißt zwischen denjenigen Menschen, die tagtäglich die Arbeit des Landwirts mehr oder weniger unmittelbar beobachten können, und denjenigen, die hier provisorisch als »urbane Öffentlichkeit« gefasst werden. Der Landwirt arbeitet ›da draußen‹, außerhalb der Stadt. Er ist ›irgendwie‹ wichtig, aber eben nicht wichtig genug für eine tiefergehende Auseinandersetzung. Was bleibt, ist ein unscharfes Bild einer Arbeit, die eher romantisiert als konkretisiert wird. Studien brachten zu Tage, dass Kinder und Jugendliche die Natur und Landwirtschaft zu einer idyllischen, harmonischen Parallelwelt idealisieren, in der der Mensch nichts zu suchen hat.32 In keinem Tatort, in dem auf einem Bauernhof ermittelt wird, dürfen kleine Gruppen von Hühnern oder eine übersichtli30

31 32

Die Aspekte des Standortvorteils und des sozialen Kapitals spielen in Gisela Welzʼ Fallstudie zur Herstellung agrotouristischer Tourismusräume eine ähnlich wichtige Rolle (vgl. Welz 2010). Vgl. Beck 2008, S. 161-199; Hannerz 2001, S. 1610-1613; Niewöhner 2014, S. 341-352. Vgl. Drösser 2007.

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che Anzahl von Schweinen fehlen. Die zahllosen Epigonen der Zeitschrift Landlust sprechen ebenso dafür, dass das Bild des Landwirts in der (medialen) Öffentlichkeit ein eher verzerrtes ist. Das ›Land‹ als Nicht-Stadt entspricht oft eher dem Image einer friedlichen, naturnahen, nostalgisch-traditionellen Welt als dem Bild einer hochtechnisierten Agrar- bzw. Energiewirtschaft. Und selbst jenseits einer Polemik, die sich an populärkulturellen Formen orientiert, wird landwirtschaftliche Praxis als zwar wichtige, aber grundsätzlich supplementäre Tätigkeit empfunden, mit der man sich eher oberflächlich beschäftigt. Ähnlich verhält es sich mit einem Großteil sozial- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. Die moderne anthropologische Forschung ist in ihrer Fixierung auf »Stadt«, »urbane Kultur« und »das Städtische« keine Ausnahme. Eine »Anthropologie der ländlichen Räume« kann ein wertvolles Komplement in kritischer Auseinandersetzung mit Landwirtschaft, Energiegewinnung und Wasserwirtschaft darstellen, die eben nicht kulturgeschichtliche Gemeindeforschung betreibt, sondern ganz konkret aktuelle Fragen der Lebensmittel-, Energie- und Wasserversorgung ins Zentrum forschender Auseinandersetzungen rückt.

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Die Digitalisierung der Landwirtschaft Oder: Von Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten Daniel Best

Walter, ein Landwirt aus dem Raum Lüchow-Dannenberg, übernahm zu Beginn der 1990er-Jahre die elterliche Ferkelmast, stellte den Betrieb aber 2003 vollständig auf den Kartoffelanbau um.1 Die Umstellung hatte mehrere Gründe, die Walter im Gespräch folgendermaßen erläuterte: »Du kommst ja nie weg. Wenn du Vieh oder Schweine hast, da muss ja immer jemand da sein, die ganze Woche, das ganze Jahr – immer!« Und weiter: »Ich hab ja auch nichts mehr verdient. Sobald mal was war [gemeint sind zum Beispiel Erkrankungen der Ferkel], hab ich am Ende draufgezahlt, und so kam das dann halt mit den Kartoffeln.« Walter baut wie Hermann – der andere im Dorf verbliebene Landwirt, der am Tag meines Besuchs zu Walter auf den Hof kam – exklusiv auf rund 150 Hektar stärkeoptimierte Kartoffeln für die in Lüchow ansässige AVEBE Kartoffelstärkefabrik an. Mit dem Umstieg von der Schweinemast auf den Kartoffelanbau erhofften sich Walter und Hermann wie viele andere LandwirtInnen in dieser Region gesicherte Einkünfte und Abnahmegarantien, aber auch einen Rückgang der Arbeitsbelastung, die mit der Tierhaltung einhergeht. Walter thematisierte im Zusammenhang seiner Betriebsumstellung auch den Wachstumsdruck in der heutigen Landwirtschaft und die daraus resultierenden Verdrängungsmechanismen: »Heute machen das alle in der Umgebung. Früher waren alle Landwirte im Dorf, die hatten so 50 Hektar. Wir [er und Hermann] haben die dann übernommen, die Schläge«. In der Woche meines Aufenthalts im Landkreis Lüchow-Dannenberg im Norden des Bundeslandes Niedersachsen entschied sich Walter für den Kauf einer neuen Feldspritze zum Preis von rund 30.000 Euro. Darauf angesprochen, ob diese Spritze auch über moderne Sensortechnik verfüge, stellte er fest: »Ja das gibt es, diese Sensordüsen. Für meine kleine Fläche lohnt das nichʼ. Die Düsen kosten nochmal drei, vier Tausend. Das kann ich nicht bezahlen.« Denn, so Walter weiter, »[…] letztes Jahr, da im Frühjahr [2017], als [es] so nass war: Wir konnten ja nichts ausbringen, ich steh ja mit dem Rücken zur Wand, also ich brauche jede Ernte. Da 1

Die Gespräche mit Walter und Hermann [beide anonymisiert] fanden am 4. und 5.5.2018 auf Walters Hof in der Nähe von Lüchow-Dannenberg statt.

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kann man keine Rücklagen machen. Weißt Du, ich bin Sklave auf meinem eigenen Hof, ja, [lebe] wie ein Sklave.« Anhand der Aussagen Walters, die im Rahmen eines Feldaufenthaltes im Mai 2018 in informellen Gesprächen auf dem Hof von Walter stattgefunden haben, werden drei Sachverhalte offenbar, die auf abstrakter Ebene Grundvoraussetzungen für eine Digitalisierung der Landwirtschaft darstellen und konkret zu Herausforderungen beziehungsweise Hemmnissen für die betroffenen AkteurInnen werden. Dies ist (1) eine Spezialisierung und Intensivierung der Produktion, sowie (2) ein durch die Globalisierung landwirtschaftlicher Produktion verstärkter Wachstumsdruck und schließlich (3) die Verfügbarkeit von ökonomischen Ressourcen. Der niederländische Agrarsoziologe Jan Dowe van der Ploeg beschreibt diesen Effekt mit dem Begriff des »Double Squeeze«2 : Auf der einen Seite ist die Landwirtschaft demnach getrieben von einem Betriebsgrößenwachstum, um Skaleneffekte nutzen zu können. Dies wird besonders am anhaltenden Strukturwandel deutlich, der sich auch in dem Dorf, in dem Walter lebt, abzeichnet. Von ehemals sieben landwirtschaftlichen Betrieben existieren heute noch zwei, die die verbleibenden Flächen unter sich aufteilen. Auf der anderen Seite steht diesem Prozess ein rückläufiger Anteil der Wertschöpfung ihrer Erzeugnisse gegenüber, der letztendlich Walter dazu veranlasst hatte, den Familienbetrieb auf eine vermeintlich erfolgversprechendere Produktion umzustellen, die ihm allerdings dennoch keine größeren finanziellen Sprünge oder Investitionen in nachhaltigere Technologien ermöglicht. Eine Teilhabe an der digitalen Technik ist ihm aus Kostengründen nicht möglich. Dadurch können von ihm die zu erwartenden Skaleneffekte nicht genutzt werden, wodurch eine Ungleichheit zu größeren MitbewerberInnen in der Region entsteht. Nachfolgend werden diese Zusammenhänge, ausgehend von der empirischen Erfahrung, ausführlicher geschildert, die Ausgangssituation und die Herausforderungen, der sich die Landwirtschaft gegenwärtig gegenübersieht, anhand der gemachten Beobachtungen im Kontext aktueller Forschungen aufgezeigt und problematisiert. Auf diese Weise sollen weitere Forschungen angeregt werden, die von einer kulturanthropologischen beziehungsweise europäisch-ethnologischen Perspektive profitieren können.

Explorative Zugänge Die Annahme, auf einem Hof, der immerhin eine überdurchschnittliche Bewirtschaftungsfläche von 150 Hektar umfasst, auch digitale Technik im Sinne eines Smart Farming3 vorzufinden, stellte sich damit als nicht valide heraus. Wie ist das 2 3

Vgl. Van der Ploeg 2008. Für eine Definition siehe »Precision Agriculture und Smart Farming« innerhalb dieses Textes.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft

zu erklären? Thomas Hengartner stellte unter Verweis auf Hermann Bausinger fest, dass bei der Betrachtung von Technisierungsprozessen sowie den dazugehörigen Diskursen der Eindruck entstehen kann, »als würde gesellschaftlicher und kultureller Sinn, als würden gesellschaftliche und kulturelle Bedeutungen von Technischem gewissermassen [sic!] im Gleichschritt etabliert«4 . Jedoch erlauben der spezifische Blick einer kulturwissenschaftlichen Technikforschung sowie der methodische Zugang eine Analyse der scheinbar vom Diskurs verborgenen Zusammenhänge. Denn die Erfahrungsdimension von Technischem, dessen Sitz im Leben, das unter dieser sozialen und kulturellen Oberfläche in einer Gemengelage sich widerstreitender Einschätzungen besteht, lässt sich am besten mit dem Stichwort der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ fassen, so Hengartner weiter.5 Diese Ungleichzeitigkeit kommt im Beispiel Walters darin zum Ausdruck, als dass dieser trotz des Wissens um die bestehende Technik keinen Nutzen daraus ziehen kann. Zudem werden diese Ungleichzeitigkeiten auch von Ungleichheiten begleitet, die sich »als digital divide, als digitale Kluft hinsichtlich des Zugangs zu Informationsund Kommunikationsmedien und -möglichkeiten«6 zeigen. Sowohl die genannten Ungleichzeitigkeiten als insbesondere auch die Ungleichheiten werden anhand des einführenden Beispiels offenbar. Nachstehend soll das explorative Vorgehen im Feld geschildert werden. Ein erster Feldzugang begann Mitte des Jahres 2017 und reichte bis in den Sommer 2018 hinein. Eine Eingrenzung des Feldes vollzog sich dabei sowohl in der Form der Bewirtschaftung als auch der Größe der Betriebe. Mit der Schwerpunktsetzung Smart Farming wurden die Tierzucht und -mast sowie die Milcherzeugung vorerst ausgeschlossen, dies lag zum einen in einer Komplexitätsreduzierung begründet, und war zum anderen aber auch den gegebenen Pfadabhängigkeiten der technologischen Entwicklung geschuldet – im Verlauf des Textes wird dieser Zusammenhang ausführlicher erläutert werden. Das vorläufige Sample umfasste damit LandwirtInnen, die ihre Betriebe im Haupterwerb durch Ackerbau bewirtschaften und weitestgehend den an der Fläche gemessenen durchschnittlichen Betriebsgrößen in Deutschland entsprachen.7 Neben den LandwirtInnen wurde ebenso die Gruppe der Hersteller betrachtet. Der Zugang über den Besuch der Agritechnica, der weltweit größten Messe für Landtechnik, in Hannover stellte sich aus zweierlei Gründen als sehr gewinnbringend heraus: Zum einen verwies das Leitthema »Green Future – Smart Technology« mit dem Zusatzslogan »The best way to predict the future is to invent it«, einem Zitat des ungarischen Physikers und 4 5 6 7

Hengartner 2012, S. 132-133. Vgl. Ebd. Ebd. (Hervorhebung im Original). Die durchschnittliche Fläche pro Betrieb betrug 2016 rund 61 Hektar. Im Sample waren Betriebe von 40 bis 150 Hektar vertreten. Vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2017, S. 7.

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Gründungsmitglieds des Club of Rome Dennis Gábor8 , bereits auf den einleitend angesprochenen Diskurs, der bereits das normative und deterministische Technikverständnis der Branche der LandmaschinenherstellerInnen vorweg nahm und zum anderen bot die Messe die Möglichkeit, mit LandwirtInnen in der Gegenüberstellung mit der Technik ins Gespräch zu kommen. Die ausgestellten Maschinen und Software-Anwendungen übernahmen hierbei die Funktion eines Stimulus und veranlassten die MessebesucherInnen, ihre Bedenken, aber auch Erwartungen in Bezug auf das Konzept Smart Farming, meist in informellen Gesprächen, zu äußern. Über den Messebesuch hinaus wurden zudem die Marketingbemühungen der TechnikherstellerInnen in Form von Informations- und Werbebroschüren, Flyer, Internetauftritte usw. ausgewertet und einschlägige Fachzeitmagazine mit einbezogen.9

Wegpunkte der landwirtschaftlichen Produktion Nicht zuletzt unter dem Eindruck des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen europaweiten Versorgungsengpasses der Bevölkerung mit Lebensmitteln stellt die EU-Agrarpolitik das erste vollkommen vergemeinschaftete europäische Handlungsfeld dar. Bereits 1957 gehörte die Förderung der Landwirtschaft zu den obersten Zielen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die in den Römischen Verträgen (EWG-Vertrag) verankert wurden und bis heute Bestand haben. So heißt es in Art. 39 AEUV (Ex 33 EGV): »Die Produktion der Landwirtschaft [ist] durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, zu steigern« sowie die »Märkte [sind] zu stabilisieren, die Versorgung sicherzustellen [und] für die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen Sorge zu tragen.«10 Auf den ersten Blick könnten die formulierten Ziele zunächst als erfüllt angesehen werden. Insbesondere die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Produkten, die maßgeblich durch technischen Fortschritt und Industrialisierung der Produktionszusammenhänge realisiert werden konnte, aber

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Zu Dennis Gábor (1900-1979) und seiner Rolle innerhalb der Zukunftsforschung vgl. Seefried 2015, S. 179-293. Bei den betrachteten Firmen bzw. deren Auftritten handelt es sich u.a. um die 365Farmnet Group GmbH & Co. KG, Berlin; Bayer AG. Crop Science Division, Monheim am Rhein; CLAAS E-Systems KGaA mbH & Co KG, Gütersloh; FarmFacts GmbH, Pfarrkirchen; John Deere GmbH & Co. KG, Bruchsal. Vertrag über die Arbeitsweisen der Europäischen Union (Konsolidierte Fassung). In: Amtsblatt der Europäischen Union 2012.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft

auch »die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen« dürfte sich heute unbestritten beim Blick in die Regale des heimischen Supermarktes oder Discounters erschließen. Allerdings, und dies offenbart erst der zweite Blick, wirft diese Entwicklung auch Schatten. Während zur Wende des 19. auf das 20. Jahrhundert deutliche Ertragssteigerungen durch die Einführung des Kunstdüngers und verbessertem Saatgut11 und in den 1950er- und 1960er-Jahren durch den chemischen Pflanzenschutz und die Motorisierung der Landwirtschaft – Jutta Buchner-Fuhs spricht in diesem Zusammenhang von einer »Entanimalisierung der Lebenswelt«12 – erkennbar sind, flachte die Wachstumskurve in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ab.13 Produktionszuwächse kamen fortan nur noch durch eine massive Rationalisierung, Modernisierung und Expansion der landwirtschaftlichen Betriebe – also der Kernelemente einer Intensivierung – aber ebenso der vorund nachgelagerten Wirtschaftsbereiche zustande – mitunter zum Nachteil der LandwirtInnen und VerbraucherInnen sowie der Natur und Umwelt. Besonders deutlich werden diese negativen Implikationen auch mit Blick auf die Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre, die existenzbedrohende Situation, der sich insbesondere die KleinbäuerInnen gegenübersehen – die in diesem Zusammenhang mit dem Schlagwort des ›Hofsterbens‹ verhandelt wird – aber auch, bedingt durch einen zunehmenden Anbau von Monokulturen,14 die Gefährdung der Biodiversität und Artenvielfalt.15 Der Weltagrarrat (IAASTD) kommt in dem 2009 veröffentlichten programmatischen Weltagrarbericht Global Report. Agriculture at a Crossroads zum Schluss, dass den angeführten Herausforderungen einzig durch eine nachhaltige, das heißt gleichberechtigte, soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung begegnet werden kann und auch muss.16 An diesem Punkt betritt, sofern den Versprechungen der AkteurInnen des Agribusiness Glauben geschenkt werden kann, die unter den Schlagworten der Precision Agriculture und des Smart Farming verhandelte 11

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Wesentlich für diese Entwicklung war Justus von Liebig, der um 1840 die wachstumsfördernden Eigenschaften von Stickstoff, Phosphaten und Kalium nachweisen konnte und damit den Grundstein für alle weiteren Entdeckungen der Düngemittelindustrie legte sowie anschließend Fritz Haber und Karl Bosch, die mittels der katalytischen Ammoniaksynthese (19101912, durch die BASF) eine industrielle Produktion des synthetischen Stickstoffdüngers ermöglichten. Buchner-Fuhs 2013, S. 531. Für ausführliche Zahlen vgl. Mahlerwein 2016, S. 150-152. Franziska Sperling verwies hierzu in ihrer Dissertation auf die Transformationsprozesse der Landwirtschaft hin zu einer Energiewirtschaft und die dadurch entstehenden Komplikationen. Vgl. Sperling 2017. Vgl. Umweltbundesamt o.J., S. 86-92. Vgl. International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) 2009, S. 15.

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Digitalisierung der Landwirtschaft das Feld. So verspricht beispielsweise der Landtechnik Hersteller Claas: »Produktivität und Effizienz sind die Schlagworte der heutigen modernen Landwirtschaft. Nur wer unter diesen Gesichtspunkten erfolgreich wirtschaftet, besteht in Zeiten schwankender Märkte und unsicherer politischer Rahmenbedingungen und sichert nachhaltig die Grundlage für kommende Generationen. […] Getreu unseren Leitsätzen ›Stets nach dem Besseren streben‹ und ›Immer in Bewegung bleiben‹ entwickeln wir Produkte, die Ihre Prozesskette im Betrieb intelligent vernetzen, um Daten und Informationen so zu verarbeiten, dass sie Ihnen helfen, Ihre Arbeit noch besser und einfacher zu erledigen.«17 Mittels »hochpräziser Sensorik« und dennoch »einfacher Handhabung« werden beispielsweise im Bereich der N-Düngung Mehrerträge von zwei Prozent bei einer gleichzeitigen Einsparung von fünf bis zehn Prozent der herkömmlichen Düngermenge erzielt.18 Und in der Tat gehen mit dem Einsatz moderner digitaler Technik auch Ertragssteigerungen bei gleichzeitiger Kostenreduzierung – insbesondere bei den Einsatzmitteln wie Dünger und Pflanzenschutz – Hand in Hand. Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers nennt hier eine Steigerung der betrieblichen Prozesseffizienz von elf Prozent und eine Kostensenkung von sieben Prozent.19 Im Kern geht es bei der Digitalisierung der Landwirtschaft also um Wachstumsbzw. Ertragssteigerungen bei einer gleichzeitigen Reduzierung des Dünger- und Pflanzenschutzeinsatzes. Diese Versprechen sind jedoch nur eine Seite der Medaille. Zugleich drohen die hohen Investitionskosten in die digitale Technik den Strukturwandel der Landwirtschaft auf Kosten der kleinen und kleineren Betriebe massiv zu beschleunigen. Im Folgenden sei daher in aller Kürze die gegenwärtige Situation der LandwirtInnen skizziert.

Gegenwärtige Herausforderungen der LandwirtInnen Der Strukturwandel innerhalb der Landwirtschaft, der sich seit den sogenannten ›Wirtschaftswunderjahren‹ abzeichnet, kennzeichnet eine Entwicklung, die zum einen noch nicht abgeschlossen ist und sich zum anderen unter die Prozesse Globalisierung und Beschleunigung durch technische Innovationen subsumieren lässt. Gegenwärtig wird unter dem Schlagwort der Digitalisierung eine Revolution in der Produktions-, Arbeits- und damit auch der Lebensweise verhandelt, die nicht nur

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Claas Vertriebsgesellschaft o.J., S. 3. Vgl. Ebd. S. 13-14. Vgl. PricewaterhouseCoopers AG 2016, S. 13.

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die betroffenen LandwirtInnen selbst, sondern ebenso die Bevölkerung des ländlichen Raums sowie die KonsumentInnen der landwirtschaftlich erzeugten Produkte erfassen wird. Es geht hierbei weniger um den Einsatz von IT-Systemen und Anwendungen20 oder um eine vertikale sowie horizontale Integration landwirtschaftlicher Betriebe in die Kette der Nahrungsmittelproduktion, sondern um die vollständige Automatisierung des primären Sektors. Den Ausgangspunkt bildet hier der massive Rationalisierungs-, Modernisierungs- und Expansionsdruck, dem sich der gesamte primäre Sektor, insbesondere die Landwirtschaft, gegenübersieht. Deutlich wird dies bei der Betrachtung der Statistiken: Diese zeichnen unverkennbar den Trend eines Rückgangs der absoluten Betriebszahlen bei gleichzeitiger Zunahme der durchschnittlichen Betriebsgröße.21 Dieser strukturelle Wandel, der weitläufig auch mit dem Begriff des ›Hofsterben‹ zu beschreiben ist, beziehungsweise unter ›Wachsen oder Weichen‹ zusammengefasst werden kann, wird mit all seinen Konsequenzen aber auch an anderer Stelle deutlich: Während 1991 noch drei Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt waren, verringerte sich ihr Anteil bis ins Jahr 2014 auf eineinhalb Prozent. Wenig verwunderlich erscheint vor diesem Hintergrund, dass in diesem Zeitraum der Kapitaleinsatz je Erwerbstätigen von 176.600 Euro auf 493.700 Euro gestiegen ist.22 Im Vergleich dazu betrug die Kapitalintensität im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt 408.000 Euro (2016).23 Durch eine Intensivierung der Bewirtschaftung, die im Wesentlichen auf drei Grundlagen fußt; nämlich (1) der Spezialisierung und der vertikalen Integration der Betriebe, (2) einem steigenden Einsatz von Düngemitteln beziehungsweise einer Vergrößerung der Mast- und Aufzuchtbetriebe sowie (3) dem Einsatz leistungsfähigerer und innovativer Technik, wurde die Landwirtschaft noch vor dem produzierenden Gewerbe zur kapitalintensivsten Branche. Dementsprechend wirkt sich dieser Trend auch auf die Eigenkapitalquote und den Fremdkapitalbestand aus, der zwar mit einer Fremdfinanzierung von rund 30 Prozent noch relativ gering im Vergleich zu anderen Branchen ausfällt, aber in den vergangenen Jahren dennoch deutlich angewachsen ist.24

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Zur Nutzung von IT- und DV-Anlagen in der Landwirtschaft der 2000er-Jahre vgl. Rosskopf/Wagner 2003. Im Zeitraum von 2007 bis 2014 nahm die Zahl der Betriebe um 34.800 auf 286.800 ab – dies entspricht 10,8 Prozent bzw. einer Abnahmerate von 1,6 Prozent p.a.; vgl. Statistisches Bundesamt 2015, S. 69-70. Gleichzeit nahm die durchschnittliche bewirtschaftete Fläche je Betrieb von 52 Hektar im Jahr 2007 auf 56 Hektar im Jahr 2010 zu; vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S. 6. Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte kann damit etwa alle 20 Jahre eine Halbierung der Betriebe konstatiert werden; vgl. Deutscher Bauernverband 2015, S. 69. Vgl. Deutscher Bauernverband 2015, S. 67-68. Vgl. Statistisches Bundesamt o.J. Vgl. Deutscher Bauernverband 2015, S. 68.

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Zusätzlich wurden diese Entwicklungen durch einen stetig zunehmenden Preisdruck innerhalb der Landwirtschaft verstärkt. Dieser lässt sich auf zwei wesentliche Faktoren zurückführen: Die oligopolistische Marktsituation im vorwie auch nachgelagerten Wirtschaftsbereich, also dem Agrarhandel und den DienstleisterInnen auf der einen Seite und dem Lebensmittelhandel sowie der Lebensmittelindustrie auf der anderen. Gerade die Konzentration des Lebensmitteleinzelhandels25 führt zu einer Abwärtsspirale in der Preisentwicklung durch einen Unterbietungswettbewerb, der auf der einen Seite als positiver Effekt an die VerbraucherInnen weitergegeben wird, aber auf der anderen Seite die Zuliefernden, also die LandwirtInnen verstärkt unter Druck setzt. Das Bundeskartellamt geht in diesem Zusammenhang von der »[…] Wirkung der Beschaffungsmenge auf die Konditionen von einem strukturellen Vorteil der Unternehmen […] im horizontalen Vergleich zu ihren Wettbewerbern und im Vertikalverhältnis zu ihren Lieferanten aus. Für die Strukturkontrolle ist dabei entscheidend, dass die Beschaffungsmenge […] einen signifikanten Einfluss auf das Verhandlungsergebnis zwischen einem Hersteller und einem Händler hat.«26 In der Betrachtung des vorgelagerten Wirtschaftsbereiches zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Auch hier teilen sich nur wenige Unternehmen den Gesamtmarkt, allerdings anders als im Lebensmitteleinzelhandel nicht nur auf einer nationalen, sondern globalen Ebene. Deutlich wird dies insbesondere im Blick auf die Saatgut-,27 Düngemittel- und Agrochemie-Industrie. Hier beherrschen zehn weltweit agierende und untereinander verflochtene Konzerne den globalen Markt – zum Nachteil der LandwirtInnen, der Umwelt und der VerbraucherInnen.28 25

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Die fünf größten Lebensmitteleinzelhandelsgruppen in Deutschland (Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe, Aldi und Metro) vereinen 85 Prozent Marktanteil unter sich (Stand 2014); vgl. Bundeskartellamt 2014, S. 9-10. Bundeskartellamt 2014, S. 9-10. Zur Saatgutindustrie konstatiert Philip H. Howard: »Seed industry consolidation is rapidly expanding in new directions –horizontally, vertically and globally. The result is increasing monopoly/oligopoly power for a decreasing number of transnational corporations. This concentration of power is fundamentally incompatible with renewable agricultural practices that are barriers to large-scale capital accumulation, such as saving and replanting seed. Increasing the opportunities for renewable agriculture requires reversing these trends.« Howard 2009, S. 1287. Der Weltagrarrat sieht bereits heute die negativen Auswirkungen dieser Monopolisierungstendenzen gegeben und warnt: »The major concerns are (1) industrial concentration reduces the amount and the productivity of research because R&D expenditures are consolidated and narrowly focused; (2) concentrated markets create barriers to new firms and quell creative startups; (3) concentration allows large firms to gain substantial monopolistic power over the food industry, making food supply chains vulnerable to market maneuvers. […] There is additional concern that the anticompetitive impacts of concentration have led to higher seed

Die Digitalisierung der Landwirtschaft

Anhand der skizzierten Ausgangslage soll aufgezeigt werden, in welchen Abhängigkeitsverhältnissen sich die LandwirtInnen befinden und welchen Herausforderungen sie sich gegenwärtig gegenübersehen. Zusammenfassend: Eine vertikale und/oder horizontale Integration und die dadurch geforderte Spezialisierung der Unternehmen zwingen die LandwirtInnen zu einer immer ressourcenund damit auch kapitalintensiveren Bewirtschaftung ihrer Betriebe. Ertrags- und Leistungssteigerungen im Ackerbau und in der Tiermast gelingen nur durch Rationalisierung, Modernisierung und Expansion. Gleichzeitig sehen sie sich in Hinblick auf die vor- und nachgelagerten Wirtschaftsbereiche einer »asymmetrischen Machtverteilung«29 unterworfen, die ihre Handlungsoptionen und Entscheidungsspielräume erheblich beeinflusst.

Precision Agriculture und Smart Farming Während aktuell und medienwirksam der Diskurs um die Chancen und Risiken einer ›Industrie 4.0‹ verhandelt werden, ist eine ›Landwirtschaft 4.0‹ bereits in weiten Teilen Realität. Gegenwärtig lassen sich unter dem Begriff des Precision Agriculture vier Teilbereiche zusammenfassen: (1) Die exakte Erfassung (in Echtzeit) und Dokumentation des Betriebsmittelverbrauchs wie Dünger, Pflanzenschutzmittel und Treibstoff, aber auch Maschinendaten wie Einsatzzeiten und -flächen. Darüber hinaus werden mittels Unmanned Aereal Vehicles (UAV) oder auch Satellitentechnik der geowissenschaftlichen Fernerkundung Feldvermessungen durchgeführt und Bodenproben erhoben. (2) Die Teilschlagtechnik, welche mittels der zuvor erhobenen Daten eine exakte Applikation von Düngemittel, Pflanzenschutz und Saatgut ermöglicht. Hier kommen GPS-gestützte Spurführungssysteme auf den Fahrzeugen zum Einsatz, die autonom fahren und dadurch bis auf den Zentimeter genau eine optimale Ausbringung garantieren – dem Fahrzeugführer kommt letztendlich nur noch eine Überwachungsfunktion zu. (3) Das Flotten- und Unternehmensmanagement, in dem mittels Software die erhobenen Daten zusammengeführt werden und schließlich (4) die Feldrobotik, die mittels Sensorik innerhalb der Teilschlagtechnik korrespondiert. Auf der Grundlage der erhobenen und zusammengeführten Daten werden beispielsweise in der Anwendung von Düngemitteln vollautomatisiert die Mengen reguliert und flächengenau ausgebracht.

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prices. USDA data suggest that cotton seed prices in the US have increased 3-4 times since the introduction of GM cotton and that GM fees have substantially raised the price of cotton seed in developing nations, such as India.« International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development 2009, S. 94. Mahlerwein 2016, S. 170.

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Das Smart Farming stellt ein konsequentes Weiter- bzw. Neudenken der bereits bestehenden Technik dar. Cloudcomputing, Neuronale Netze, Künstliche Intelligenz sowie vernetzte Geräte – im Sinne eines Internet of Things (IoT) – sind nur einige der Schlagwörter, die in diesem Zusammenhang verhandelt werden. Es geht somit um ›Big Data‹ in der Landwirtschaft. Der Ökonom Sjaak Wolfert und seine Arbeitsgruppe skizzieren dabei ›Big Data in Smart Farming‹, wie folgt: »Big Data applications in Smart Farming goes beyond primary production; it is influencing the entire food supply chain. Big data are being used to provide predictive insights in farming operations, drive real-time operational decisions, and redesign business models. […] Big Data will cause major shifts in roles and power relations among different players in current food supply chain networks.«30 Smart Farming nach Wolfert et al. zielt also auf eine möglichst autonome und automatisierte Produktion in der Landwirtschaft ab. Darüber hinaus zeichnen sie das Bild von zwei extremen Szenarien: »The future of Smart Farming may unravel in a continuum of two extreme scenarios: 1) closed, proprietary systems in which the farmer is part of highly integrated food supply chain or 2) open, collaborative systems in which the farmer and every other stakeholder in the chain network is flexible in choosing business partners as well for the technology as for the food production side. The further development of data and application infrastructures (platforms and standards) and their institutional embedment will play a crucial role in the battle between these scenarios.«31 Aktuell erscheinen dabei beide Szenarien denkbar, wobei sich im Rückgriff auf die gegenwärtigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen bereits ein Trend abzeichnet: Wie geschildert sehen sich insbesondere die kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe einem höchst oligopolen, wenn nicht monopolen Agribusiness gegenüber, das durchaus als asymmetrisch bezeichnet werden kann. Selbstredend agieren auch hier die wenigen marktbestimmenden Unternehmen aus den Sektoren der Agrochemie-Industrie, der Landtechnik und Maschinenhersteller sowie Unternehmen der Tech-Branche des Silicon Valley, die ebenso auf diesen Wachstumsmarkt drängen.32 Abseits dieser Giganten formieren sich jedoch auch Startups, die mitunter durch innovative Ansätze die etablierten Unternehmen

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Wolfert u.a. 2017, S. 69. Ebd. Der Branchenverband Bitkom erwartet durch den Einsatz digitaler Anwendungen in der Landwirtschaft allein in Deutschland ein zusätzliches Wertschöpfungspotential von drei Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre; vgl. Bitkom 2016.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft

herausfordern.33 Ein weiterer innerhalb des extremen Szenarios I angeführter Punkt besteht in der Proprietät der einzelnen Systeme. Zwar besteht mit ISOBUS beziehungsweise DIN 11783 ein weltweiter Standard für eine Schnittstelle zum Datenaustausch, jedoch sind die einzelnen Unternehmen und AnbieterInnen bestrebt, ihr System möglichst geschlossen zu halten. Das heißt, mit der Entscheidung für eine Landmaschine fällt auch zwangsläufig die Entscheidung für eine Agrarsoftware und dadurch ebenso für die jeweilige Cloud-Dienstleistung, die in Anspruch genommen werden muss. Ein Beispiel für ein solches proprietäres System stellte in der Vergangenheit Monsantos Integrated Farming System (IFS) dar. Auf der Grundlage der erhobenen Geo-Daten wurde durch Monsantos Cloud-Dienste errechnet, auf welchem Quadratmeter eines Feldes welches Hybridsaatgut am effektivsten wachsen und reifen könne. Das errechnete Skript wurde anschließend durch die AnwenderInnen – also die LandwirtInnen – auf die Plattform FieldScripts übertragen. FieldScripts war dabei ausschließlich mit der Hardware des Herstellers Precision Planting – ebenfalls ein Tochterunternehmen der Monsanto-Gruppe – sowie der Landtechnik des Herstellers John Deere kompatibel.34 Anhand dieses Beispiels lassen sich drei wesentliche, die LandwirtInnen betreffende Sachverhalte beschreiben. (1) Die Entscheidung für ein mehr oder weniger geschlossenes System kann den Entscheidungsspielraum der LandwirtInnen erheblich beschränken. Die durch Algorithmen erzeugten ›Anbau-Skripte‹ sind nicht transparent und können mitunter durch die AnwenderInnen nicht nachvollzogen werden. Dieser Umstand verstärkt die Abhängigkeit der LandwirtInnen vom anbietenden Unternehmen und der Zuverlässigkeit der gegebenen Handlungsempfehlungen. (2) Hohe Investitionskosten und lange Amortisationszeiträumen verstärken den Druck auf die Betriebe. Der Einsatz der teuren Technik beschleunigt auf diese Weise den von einem ›Wachsen oder Weichen‹ gekennzeichneten Strukturwandel. (3) Abschließend kommen zum Umgang mit der digitalen Technik selbst sowie die im Zusammenhang mit IT-Systemen stehenden Fragen nach dem Datenschutz und vor allem der Datensouveränität hinzu.

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Als eines von vielen Beispielen kann hier die 2013 durch Monsanto für 960 Millionen Dollar übernommen Climate Corporation angeführt werden. Das auf lokale Wetter- und Geodatenauswertungen spezialisierte Unternehmen ergänzte Monsantos Service-Portfolio; vgl. Upbin 2013. Vgl. Farm Journal 2015; sowie ebd. 2012.

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Fragen für eine kulturanthropologische Erforschung digitaler landwirtschaftlicher Produktionsverhältnisse Wie anhand der exemplarisch herausgestellten Situation des Landwirts Walter deutlich wurde, genügt es nicht allein danach zu fragen, wo die (digitale) Technik ihren Sitz im Leben hat, vielmehr sollten ebenso die komplexen Zusammenhänge in ihrer Ausprägung auf lokalen Handlungsebenen betrachtet werden. Dazu gehört die Frage nach dem »Wandel von Arbeitswissen und Wissensarbeit«35 im Zusammenhang mit der Landwirtschaft, auf den Birgit Huber verwies und feststellte, dass »[…] im Rahmen von Precision Agriculture […] ein neuer Typus von Wissen auf[tritt], ein Wissen, das explizit probabilistisch und unsicher ist […] mit jedem Arbeitsgang nämlich werden die Erfahrungen aus den bisherigen Arbeitsprozessen im Zusammenspiel zwischen menschlicher Beobachtung und maschineller Messung durch Sensoren und den Abgleich mit der Auswertung früherer Aufzeichnungen aktualisiert.«36 Dieser neue Typus, so Huber weiter, überführt »implizites Erfahrungswissen über Mensch-Tier- und Mensch-Pflanzen-Beziehungen in verschiedene Formen expliziten Wissens […], nämlich in Modelle, Graphen und Karten.«37 In diesem Zusammenhang muss auch die Frage nach dem Spacing verhandelt werden, denn in der Nutzung der angesprochene Modelle, Graphen und Karten sind eben nicht mehr die LandwirtInnen die Souveräne, sondern die EigentümerInnen der Algorithmen. Diese gestalten jetzt Raum wesentlich mit und damit auch alltägliche Lebenswelten. Des Weiteren sollte deutlich geworden sein, dass sich die Perspektive auf eine Digitalisierung der Landwirtschaft nicht allein in der Analyse der Technisierungsprozesse verjüngen sollte, sondern immer auch im Sinne der Agro-Food Studies der »Blick vom landwirtschaftlichen Betrieb als zentralem Akteur der agrarischen Produktion auf die gesamte Wertschöpfungskette«38 erweitert werden muss. Vergleichbare Fragen wie die hier skizzierten verfolgt das an der Universität Basel durch Walter Leimgruber initiierte und durch den Schweizer Nationalfonds geförderte Projekt Verhandeln, verdaten, verschalten: Digitales Leben in einer sich transformierenden Landwirtschaft unter Mitarbeit von Ina Dietzsch und Jan Moritz Dolinga, das die komplexen und vielfachen Verschränkungen zwischen »Maschinen, Reglemente, Menschen, Wissen, Infrastrukturen, Interfaces, Daten, Pflanzen, Tiere,

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Huber 2012, S. 211-225. Ebd. S. 219 (Hervorhebung im Original). Huber 2012, S. 222. Ermann u.a. 2018, S. 11.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft

Abfall, Erde/Umwelt«39 analysieren will und die Relevanz des Komplexes Digitalisierung der Landwirtschaft nochmals deutlich hervorhebt.

Literaturverzeichnis Buchner-Fuhs, Jutta: Den technischen Wandel bewältigen. Kulturtheoretische Überlegungen zu biographischen Umbrüchen, Gewöhnung und Resilienz am Beispiel der Landwirtschaft. In: Johler, Reinhard/Marchetti, Christian/Tschofen, Bernhard/Weith, Carmen (Hg.): Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen vom 21. bis 24. September 2011 Münster u.a. 2013, S. 530-539. Ermann, Ulrich/Langthaler, Ernst/Penker, Marianne/Schermer, Markus: AgroFood Studies. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2018. Gandorfer, Markus u.a.: Landwirtschaft 4.0 – Digitalisierung und ihre Herausforderungen (ohne Datum). Auf: Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Institut für Landtechnik und Tierhaltung. URL: https://www.lfl.bayern.de/ mam/cms07/ilt/dateien/digitalisierung_und_ihre_herausforderungen.pdf [Letzter Zugriff am 5.12.2019], S. 11-12. Hengartner, Thomas: Technik – Kultur – Alltag. Technikforschung als Alltagsforschung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 108 (2012), S. 117-139. Howard, Philip H.: Visualizing Consolidation in the Global Seed Industry. 19962008. In: Sustainability 1,4 (2009), S. 1266-1287. Huber, Birgit: Der Wandel von Arbeitswissen und Wissensarbeit. Das Beispiel Landwirtschaft. In: Koch, Gertraud/Warneken, Bernd Jürgen (Hg.): Wissensarbeit und Arbeitswissen. Zur Ethnografie des kognitiven Kapitalismus. (= Arbeit und Alltag. Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung, Bd. 5). Frankfurt/New York 2012, S. 211-225. Mahlerwein, Clemens: Grundzüge der Agrargeschichte. Bd. 3. Die Moderne (18802010), Köln u.a. 2016, S. 150-152. Rosskopf, Karin/Wagner, Peter: Akzeptanz neuer Technologien in der Landwirtschaft – Ergebnisse empirischer Studien. In: Budde, Hans-Joachim/Müller, Rolf A. E./Birkner, Ursula (Hg.): Berichte der Gesellschaft für Informatik in der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft, Bd. 16, Referate der 24. GIL-Jahrestagung in Göttingen 2003: Mobile Information. Chancen für die Agrarwirtschaft und ihre Partner. URL: www.gil.de/dokumente/berichte/DDD/R9_03-0028.pdf [Letzter Zugriff am 10.7.2019].

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Zur Projektbeschreibung siehe: Schweizer Nationalfonds o.J.

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Stallbauproteste als Indikatoren eines kulturellen Anerkennungsverlustes konventioneller Landwirtschaft Barbara Wittmann »Entsetzen über Tierquälerei im Allgäuer Milchviehbetrieb«1 , »Warum Deutschland weiter Küken schreddert«2 , »Das größte Problem heißt Massentierhaltung«3 – Kritik an der konventionellen Landwirtschaft steht angesichts der Brisanz ökologischer und klimatischer Probleme stark im Fokus gesellschaftlicher Diskurse um Ressourcennutzung, Nachhaltigkeit, Biodiversitätsverlust und Tierethik. Die Kulmination der zwar nicht neuen, aber angesichts eines steigenden Bewusstseins für globale Zusammenhänge und durch die Digitalisierung beschleunigten öffentlichen Diskussion spiegelt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in zahlreichen Artikeln über Nahrungsmittelskandale, die Herkunft tierischer Produkte oder den Fleischkonsum der Industrienationen wider.4 Besonders negativ reüssiert dabei die Intensivtierhaltung, die aktuell mit durchschnittlich mindestens einer Sendung pro Woche im öffentlich-rechtlichen Rundfunk thematisiert wird.5 Seit der erstmalig breiteren medialen Berichterstattung um Käfighühner in Legebatterien zu Beginn der 1970er-Jahre belegen sukzessive wiederkehrende Skandale, etwa aus der Schweinehaltung stammende Östrogene in Babynahrung in den 1980erJahren, und dann vor allem die BSE-Krisen der 1990er- und 2000er-Jahre,6 die

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Bayerischer Rundfunk 2019. ZEIT Online 2019. Wille 2018. Vgl. Kwasniewski 2015; Lewandowski 2015. Die Göttinger Agrarwissenschaftlerin Maike Kayser analysierte für ihre Dissertation 5.903 Artikel aus den größten deutschen Tageszeitungen und subsummiert, dass »die Berichterstattung über die Agrar- und Ernährungswirtschaft […] in den klassischen Medien seit Jahren auf einem hohen Intensitätsniveau [ist].« Kayser 2012, S. 29. Ebenso wie eine Studie der Kommunikationsagentur Engel & Zimmermann von 2017, die zum Ergebnis kam, dass von 498 Ausstrahlungen rund um den Themenkreis Landwirtschaft und Ernährung im TV ca. ein Drittel bereits im Titel eine negative Tendenz aufwiesen, verweist sie auf eine besonders kritische Thematisierung der Nutztierhaltung. Vgl. Borowsky 2017. Vgl. dazu Wittmann 2017, S. 53-74; Waskow/Rehaag 2004; Mauritz 2004, S. 63-72.

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anhaltende diskursive Präsenz der Intensivtierhaltung während des gleichzeitig rapiden Rückgangs von Hofzahlen und Beschäftigten in der Landwirtschaft.7 Dass der journalistische Aufmerksamkeitskampf um Klickzahlen und AbonnentInnen mithilfe des Themas »Massentierhaltung«8 gelingt, fußt wiederum darauf, dass es zum Symbol für eine Überfluss und Ausbeutung, ökologische und klimatische Negativfolgen erzeugende Konsumkultur der Länder des globalen Nordens geworden ist, anhand derer Fragen nach künftigen politischen und ökonomischen Weichenstellungen verhandelt werden. Die Intensivtierhaltung fungiert hier als Negativfolie nachhaltigkeitsorientierter und gesundheitsbewusster Lebensstile, während demgegenüber positive Vorstellungen von landwirtschaftlichen Tätigkeiten kulturell weitaus häufiger mit einer kleinstrukturierten, oftmals auch körperlich-performativen, in jedem Fall aber ökologischen Wirtschaftsweise in Verbindung gebracht werden. Ich möchte im Folgenden mit diesen kulturellen Wertigkeiten und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpfte Proteste gegen Stallbauten im ländlichen Raum beleuchten, anhand dessen – so meine These – sukzessive Anerkennungsverluste der konventionellen Landwirtschaft und ihre Wahrnehmung durch die betroffenen AkteurInnen deutlich werden. Dass diese sozial überwiegend als Ausführende eines moralisch verwerflichen Systems bewertet werden, zeigte sich im Laufe der Untersuchungen für meine Dissertation, auf deren Quellenmaterial die folgenden Ausführungen beruhen,9 immer wieder auch bei Gesprächen im eigenen Bekanntenkreis. Berichte über die Offenheit der befragten LandwirtInnen, an Interviews teilzunehmen und mich durch ihre Ställe zu führen, ebenso wie meine Eindrücke von diesen, die keineswegs immer den medial transportierten Bildern von gequälten Tieren auf engstem Raum entsprachen, wurden hier häufig als nicht glaubhaft hinterfragt oder es wurde angenommen, dass nur diejenigen IntensivtierhalterInnen ihre Türen geöffnet hätten, die positive Ausnahmefälle darstellten. Diese Nega7

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Während in den 1950er-Jahren noch rund ein Viertel der Erwerbstätigen in die agrarische Produktion eingebunden war, ist ihr Anteil 2017 auf 1,4 Prozent gesunken. Die Zahl der Betriebe lag in Deutschland 2018 bei circa 270.000. Vgl. Deutscher Bauernverband 2018, S. 16. Aufgrund der definitorischen Schwierigkeiten und der im Begriff enthaltenen Pejoration verwende ich ›Massentierhaltung‹ ausschließlich zur Wiedergabe des öffentlich-medialen Diskurses in Anführungszeichen und spreche im Fließtext stattdessen von Intensivtierhaltung. Die Arbeit wurde im September 2019 unter dem Titel Landwirt – Tier – Gesellschaft. Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung subjektzentrierter Positionierungen von Intensivtierhaltern im Agrarraum Bayern im Fachbereich Vergleichende Kulturwissenschaft am Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg eingereicht. In 30 Interviews wurden dafür 53 LandwirtInnen, Angestellte und Verwandte von Intensivtierhaltung betreibenden Höfen mit Schwerpunkt auf der Schweine- oder Geflügelhaltung befragt. Die Anzahl der Tiere bewegte sich in der Geflügelhaltung (Legehennen, Masthühner, Puten, Mastenten) zwischen 18.500 und 300.000, bei Schweinen lag sie durchschnittlich zwischen 1.400 und 5.000 Tieren.

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tivmanifestationen gegenüber VertreterInnen der Berufsgruppe bilden wiederum die Wirkmächtigkeit medialer Bilder, zugleich aber auch ein soziales und kulturelles Bedürfnis nach Komplexitätsreduktionen ab, die eindeutige und damit für das Individuum Sicherheit und Orientierung stiftende Gut-Böse-Schemata entwerfen, welche es aus forscherischer Sicht zumindest zu hinterfragen gilt. An dieser Wirkmacht vorgeformter Projektionen liegt es womöglich auch, dass Intensivtierhaltung trotz der seit einigen Jahren wieder erstarkenden Auseinandersetzung mit Landwirtschaft von der Kulturwissenschaft/Europäischen Ethnologie10 bislang noch kaum – und wenn dann vor allem aus überwiegend theoretischer, häufig normativ-wertender Perspektive11 – behandelt wurde. Denn anders als städtische Imkerei, Bioläden oder integrative Kooperativen liegt sie kaum im sozialen und politischen Nahraum geisteswissenschaftlicher AkademikerInnen. Schweine- und Geflügelställe mit tausenden gehaltenen Tieren sind weit weg von urban geprägten Milieus und symbolisieren eben jene Lebens- und Konsumwelten, von denen man sich auch hier eher abzugrenzen versucht. Dabei kommt der konventionellen Intensivtierhaltung nicht nur eine hohe ökonomische Bedeutung zu – lediglich drei Prozent des in Deutschland verzehrten Fleisches stammen aus biologischer Produktion12 –, sondern basierend auf der engen Verknüpfung mit der Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen, Science-and-Technology-Komponenten, Esskultur etc. vor allem auch eine starke gesellschaftliche Indikatorfunktion. Gerade angesichts der vergleichsweise hohen Popularität von empirischen Studien

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Vgl. beispielsweise die Arbeiten von Sperling 2017 und Grossarth 2018. In noch laufenden Forschungsprojekten wird an der Universität Basel unter der Leitung von Walter Leimgruber und Ina Dietzsch unter dem Titel Verhandeln, verdaten, verschalten untersucht, wie sich »digitales Leben in einer sich transformierenden Landwirtschaft« darstellt. Vgl. Homepage des Fachbereichs Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie in Basel: https://kulturwissenschaft. philhist.unibas.ch/de/forschung/medien-bilder-toene-filmedigitalisierung-im-alltag/ [Letzter Zugriff am 28.10.2019]. Daniel Best beschäftigt sich am Würzburger Lehrstuhl mit Weinbau, Judith Schmidt für ihre in Mainz verortete Dissertation mit SaisonarbeiterInnen im Obstbau. Etwa die Arbeit der niederländischen Anthropologin Noske 2008, in der aus einer theoretisch-tierethischen Sicht auf die Entwicklung der Nutztierhaltung geblickt wird. Vor allem AutorInnen der Human- und hier insbesondere der Critical Animal Studies (HAS/CAS) betrachten Intensivtierhaltung zumeist als zu überwindende Herrschaftsstruktur. Spannring u.a. schreiben etwa vom Ziel »einer gesellschaftlichen Sensibilisierung und Befreiung der nichtmenschlichen Tiere von Kommodifizierung und Ausbeutung.« Spannring/Schachinger/Kompatscher/Boucabeille 2015, S. 24. So meldete der Verband der deutschen Fleischwirtschaft für 2017 ein Umsatzplus von 15 Prozent für Bio-Fleischwaren – was zunächst nach einem großen Wachstum klingt, ist in Relation zum Gesamtfleischmarkt jedoch nur ein geringer Bruchteil: 1,3 Prozent des gesamten deutschen Absatzes im Wurst- und Geflügelbereich stammen aus biologischer Produktion, 3,2 Prozent des Schweine- und Rindfleischs. Vgl. Redaktion fleischwirtschaft.de 2018.

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zu Selbstversorgung, urban gardening oder Solawi-Initiativen13 , die hier als Mikrokosmos für KulturwissenschaftlerInnen attraktiver zu sein scheinen, spiegelt sich in den Forschungspräferenzen ein Stück weit wider, was Lutz Musner bereits vor einigen Jahren als verlorengehende Sicht auf »den Normalzustand und die Logiken des nicht-exotischen Alltags«14 bezeichnete. Diese Feststellung beinhaltet dabei keine wie auch immer beschaffene Abwertung der Forschung zu sogenannten alternativen Wirtschaftsstilen, die als Formen der Widerständigkeit wichtige Brüche, Bewältigungen von und Kritik an gegenwärtigen globalen Nahrungsregimen15 aufzuzeigen vermögen. Sie ist stattdessen als Plädoyer für eine stärker praxeologisch orientierte und weiter vom eigenen Umfeld der Forschenden entfernte Sicht (nicht nur) auf Landwirtschaft zu lesen. So geht es im Folgenden um die Wahrnehmungen und Positionierungen derjenigen landwirtschaftlichen AkteurInnen, die durch ihre konventionelle Produktionsweise inneragrarisch das »Nicht-Exotische« repräsentieren, sich aber gleichwohl als Betroffene eines gesellschaftlichen Ausgrenzungsund Marginalisierungsprozesses empfinden. Vorauszuschicken ist in Anbetracht der konfliktbehafteten öffentlichen Wahrnehmung des Themas, dass es dabei nicht um eine Bewertung der industrialisierten Nutztierhaltung im Sinne ›guter‹ oder ›schlechter‹ Landwirtschaft geht, sondern um Einblicke in die Positionierungen einer im Diskurs darüber zentralen, aber abseits von VerbandsvertreterInnen häufig wenig sichtbaren Personengruppe.

Das Beispiel Stallbauproteste Ich möchte zur Verdeutlichung der von der Mehrheit meiner InterviewpartnerInnen eingenommenen Selbst-Positionierungen zwei Beispiele von Stallbauprotesten aus der Wahrnehmung der befragten LandwirtInnen beleuchten – im Sinne eines kulturwissenschaftlich-akteurszentrierten Verständnisses steht dabei also nicht die Darstellung objektiver Wahrheiten, sondern die subjektive Deutung des Erlebten im Vordergrund. Auf sieben von insgesamt 30 besuchten Betrieben hatten sich teils langjährige Kämpfe um die Bewilligung von Intensivtierställen abgespielt, zumeist begleitet von Gerichtsverfahren, Bürgerinitiativen und breiter medialer Berichterstattung. Ich deute die in diesen Fallbeispielen zu Tage tretenden sozialen Kulminationen als Indikatoren eines seit Jahrzehnten zunehmenden moralischen und darauf basierenden gesellschaftlichen Anerkennungsverlustes der

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Vgl. in Auswahl: Decker 2018, S. 213-236; Hammes/Cantauw 2016; Kramer 2015, S. 6-11 oder den Beitrag von Lars Winterberg in diesem Band. Musner 2004, S. 77. Vgl. Ermann u. a. 2018, S. 17.

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konventionellen Agrarproduktion, der sich hier als ländlicher Raumnutzungskonflikt spiegelt. Als Grundlage für gesellschaftliche Anerkennung definiert die Soziologin Gabriele Fischer den »jeweilige[n] Beitrag des Einzelnen zu ›kulturellen Standards‹ der Gesellschaft«16 , die wiederum zeitlichem Wandel unterliegen, denn »diese Standards werden als Ergebnisse von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen in spezifischen historischen Situationen verstanden.«17 Dass sich die eigene Produktionsweise aufgrund der starken öffentlichen Kritik am System Intensivtierhaltung kaum mehr »sozial als Erfolg darstellen lässt«18 erfuhren die Betroffenen von Stallbauprotesten dabei besonders deutlich, da die Ebene einer sich zunächst aus der medialen Berichterstattung speisenden Negativ-Wahrnehmung hier in unmittelbares persönliches Erleben umschlug.

»Wir fühlen uns als kleine Landwirte«19 : Wiesenhof-Betrieb Y. Meine exemplarische Darstellung der landwirtschaftlichen Perspektiven auf Stallbauproteste beginnt mit Familie Y.20 , welche einer öffentlich besonders negativ thematisierten Gruppe von InterviewpartnerInnen angehört – den für das Unternehmen Wiesenhof 21 produzierenden Höfen. Aufgrund des Marktmonopols der Firma fielen alle fünf von mir besuchten Masthuhn-Betriebe unter diese Vertragspartnerschaften, als deren wesentliche Kritikpunkte mit dem Unternehmen verbundene Tierhaltungsskandale und angenommene einseitige Abhängigkeiten der LandwirtInnen gelten.22 Zum öffentlichen Negativ-Image von Wiesenhof schreibt 16 17 18 19 20 21

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Fischer 2018, S. 135. Ebd. Wetzel 2013, S. 68. Transkript Interview Familie Y. vom 21.1.2017, Anhang Dissertation S. 311. Sowohl Nachnamen als auch Orte wurden anonymisiert, die Abkürzungen haben keine Verbindung zu den tatsächlichen Initialen der Befragten. Die PHW-Gruppe/Lohmann AG ist das größte Geflügelaufzucht und -verarbeitungsunternehmen Deutschlands, seine bekannteste Marke Wiesenhof erzielte 2018 einen Jahresumsatz von 1,4 Milliarden Euro. Vgl. dazu PHW-Gruppe: Unternehmen. Kennzahlen. www.phwgruppe.de/unternehmen/kennzahlen [Letzter Zugriff am 28.10.2019]. Das Unternehmen stand wegen Tierschutz-Verstößen, illegalen Schlachtabfall-Transporten und schlechten Mitarbeiter-Bedingungen immer wieder medial in der Kritik. Zwar war für mich letztlich nicht überprüfbar, ob und inwieweit das Unternehmen tatsächlich Einfluss auf die Interviewbereitschaft seiner VertragspartnerInnen nahm, meiner Wahrnehmung nach wirkten ihre Aussagen jedoch weder eingeübt noch in irgendeiner Form kontrolliert; die Gespräche mit den Familien kamen meist relativ kurzfristig zustande, zum Teil bereits am Tag nach meinen Telefonanfragen – eine vorherige ›Absegnung‹ durch den Konzern konnte daher häufig gar nicht erfolgen. In meiner Dissertation widme ich den Wiesenhof -Betrieben ein eigenes Kapitel, in dem ausführlich auf von den InterviewpartnerInnen

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Markus Schreckhaas, der die Prozesse der Skandalisierung des Konzerns in den Sozialen Medien analysierte: »Eine breit angelegte mediale Berichterstattung und Kampagnen seitens verschiedener Tierschutzorganisationen führten dazu, dass die Causa Wiesenhof landesweit bekannt wurde und sich skandalisierende Beiträge über Wiesenhof im Bewusstsein größerer Bevölkerungskreise verankerten […].«23 Die als Beispiel gewählte Familie Y. bewirtschaftete zum Zeitpunkt der Befragungen 80 Hektar Ackerfläche und produziert seit 2015 für Wiesenhof. Aufgrund der anhaltenden Krisen in der Milcherzeugung und einer aus seiner Sicht notwendigen Modernisierung für die ökonomisch erfolgreiche Übergabe an seinen Sohn und Hofnachfolger hatte sich Inhaber V.Y. für eine Neuorientierung des Betriebes in Richtung der Masthuhnhaltung entschlossen. Zwischen der Genehmigung des Stalles und seiner Inbetriebnahme lagen allerdings vier Jahre, die von regionalen Protesten gegen den Bau geprägt waren. V. und sein Sohn S.Y. machten dafür im Gespräch vor allem innerlandwirtschaftliche Konkurrenzsituationen und starken ökonomischen Druck verantwortlich. Dabei führten sie andere Landwirte als maßgebende Initiatoren der Gegenkampagne an: V.Y.: »Im Prinzip war es nur einer, wie bekannt eben auch ein Landwirt. Und der ist dann herumgelaufen und hat ein bisschen Unterschriften gesammelt. Und hat … mobilisiert und so große Versammlung abgehalten.« I.: »Und warum ein Landwirt? Was hat der …?« S.Y.: »Am besten ist es, wenn die anderen Landwirte aufhören, dann gibt es nur noch einen. Und das ist dann er am besten.« V.Y.: »Wenn der andere aufhört, dann kann ich übernehmen.« I.: »Und das war kein Bio oder so?« V.Y.: »Nein! Das war der Nachbar.« I.: »Ist ja dann auch hart, oder?« V.Y.: »Ja, irgendwie schon. Das ist schon eine magere Vorstellung. […] Der hat dann Unterschriften gesammelt und ist dann zum Bürgermeister gegangen.« I.: »Und mit welcher Begründung?« V.Y.: »Ja, er ist zum Bürgermeister gegangen und der Bürgermeister ist dann auch gekommen und hat gesagt: Okay, er muss jetzt ein bisschen was machen, ein paar Zeitungsberichte reinmachen, er muss für seine Wähler was machen.« S.Y.: »Ja, Kommunalwahlen sind angestanden.«24

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wahrgenommene Abhängigkeiten, aber auch Entlastungen durch die Vertragsbindung eingegangen wird. Schreckhaas 2015, S. 264. Transkript Interview Familie Y. vom 21.1.2017, Anhang Dissertation S. 298-299.

Stallbauproteste

Mimik, Gestik und eine immer wieder stockende Erzählweise offenbarten im Verlauf des Gespräches die hohe Betroffenheit aufgrund der beschriebenen Verschlechterung des nachbarschaftlichen Verhältnisses. Die Einsilbigkeit der Interviewpartner stand dabei im Gegensatz zur überwiegenden Anzahl der befragten LandwirtInnen, die die Interviewsituation nutzten, um ausführlich über schmerzhafte Entwicklungen während der Proteste gegen ihre Betriebe zu berichten und sich mir gegenüber ›auszusprechen‹.25 Am Beispiel von Familie Y. lassen sich damit nicht nur regionale Auseinandersetzungen um Bauen und Wirtschaften innerhalb des gesellschaftlichen Konfliktbereichs Intensivtierhaltung ablesen, sondern auch innerlandwirtschaftliche Isolations- und Entsolidarisierungsprozesse nachzeichnen, die in fast allen geführten Interviews eine zentrale Rolle spielten. Diese sozialstrukturellen Entwicklungen basieren vornehmlich auf wirtschaftlichen Konkurrenzverhältnissen, deren kulturelle Manifestationen und Folgen26 hier anhand des Ablaufs und der individuellen Bewältigung von Stallbauprotesten transparent werden. So macht Markus Tauschek »Auswirkungen auf soziale Beziehungen«27 als Kernpunkt kulturwissenschaftlicher Analysen zu kompetitiven Logiken aus, »bestimmen sich doch Leistung und Erfolg aus dem Vergleich mit konkurrierenden Akteuren.«28 Zwar bewertet V.Y. das Verhalten seines Nachbarn auf zwischenmenschlicher Ebene einerseits eindeutig negativ, andererseits relativiert er dieses im Kontext von ökonomischem Druck gleichzeitig als rational erklärbar: I.: »Aber wenn ihr sagt, im Ort sind zehn Bauern, das ist ja für so einen kleinen Ort eh relativ viel …« V.Y.: »Ja, das ist viel. Das ist zu viel. […] Die Landwirte untereinander sind schon sehr aggressiv.« S.Y.: »Wäre das schön gewesen, wenn der aufgehört hätte – wäre das schön gewesen!« I.: »Weil man dann selbst etwas wieder zum Dazukaufen hätte?« S.Y.: »Ja.«29 Anknüpfend an agrarsoziologische Untersuchungen, die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vor allem Intensivierungs- und Rationalisierungsprozesse

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So dauerten die Interviews auf Betrieben mit der Erfahrung von Stallbauprotesten durchschnittlich am längsten. Gesprächszeiten von über drei Stunden waren hier keine Seltenheit und stellten aufgrund der teilweise hohen emotionalen Betroffenheit der LandwirtInnen auch für mich als Forscherin eine Herausforderung bezüglich des Umgangs mit Nähe und Distanz dar. Vgl. Tauschek 2013; Bürkert 2019. Tauschek 2019, S. 87. Ebd. Transkript Interview Familie Y. vom 21.1.2017, Anhang Dissertation S. 312-313.

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als ursächlich für ökonomisch bedingte bäuerliche Isolation annehmen,30 galt die vorrangige Sorge der hier befragten LandwirtInnen der gestiegenen Pachtflächenkonkurrenz durch den Bau von Biogasanlagen.31 In der Aussage, neun Vollerwerbsbetriebe seien »zu viel« für ein kleines Dorf mit lediglich wenigen hundert EinwohnerInnen, bilden sich für das Quellenmaterial typische Brüche und Widersprüche der landwirtschaftlichen Positionierungen ab, mäandernd zwischen Schuldzuweisungen, Abgrenzungsversuchen und eigenen Konkurrenzpraktiken, die bei der Untersuchung der Beziehungen innerhalb der Berufsgruppe immer wieder zutage traten. Der Protest gegen den geplanten Masthuhnstall für 54.000 Tiere breitete sich im Fall von Familie Y. im Ort aus, da sich hier bereits mehrere andere Intensivtierställe in Betrieb befanden und die AnwohnerInnen Ängste vor einer weiteren Beeinträchtigung der eigenen Lebensqualität hegten: V.Y.: »Der Hauptpunkt: Wenn man was riecht – und die haben gesagt, man riecht was – dann fallen die Grundstückspreise, dann sind ihre Häuser weniger wert, Lebensqualität lässt nach, das war das Argument. Aber auch dieses Argument von der letzten Hand voll, die übrig geblieben ist, wäre überhaupt nie in die Welt gesetzt worden – das Problem ist das, wir haben hier im Ort, in P., mitten im Ort zwei Putenställe.« I.: »Ach so, das ist der, wo Sie …?« V.Y.: »Nein, das ist jemand anders. Der hat zwei Putenställe mitten im Ort und Pute riecht man einfach wesentlich – also Pute riechst du – und das mitten im Ort. Und das ist einfach sehr problematisch. Und da waren die Leute schon aufgeschreckt, wenn jetzt nochmal irgendwas etwas kommen sollte.« I.: »Ja gut, wenn dann gleich der Ort ist …« 30

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Meyer-Mansour, Breuer und Nickel führten dies u.a. bereits in ihren agrarsoziologischen Untersuchungen Ende der 1980er-Jahre aus und schreiben: »Eine Frau schilderte, dass sie auf Grund des Konkurrenzkampfes keine privaten Kontakte zu anderen Bauersfrauen hätte. Dies führte dazu, dass kaum einer der Befragten Freunde im Dorf hatte, sondern der Freundeskreis in Nachbardörfern oder in der Stadt gesucht wurde.« Meyer-Mansour/Breuer/Nickel 1990, S. 41. Vgl. zum Konfliktpotenzial von Biogasanlagen im ländlichen Raum ausführlich Sperling 2017, deren Ausführungen sich stark mit meinen Untersuchungsergebnissen decken. Angesichts der zugesicherten finanziellen Anreize für LandwirtInnen war es in Folge des EEG deutschlandweit zu einem Anstieg von etwa 700 Anlagen 1999 auf rund 9.300 Anlagen Ende 2017 gekommen. Die Einspeisevergütungen für Biogasanlagen führten damit zu einem Biogas-Boom, der durch die viel diskutierte Verbreitung von vor allem Mais-Monokulturen sowie gestiegene Flächenkonkurrenz neue ökologische und ökonomische Problemfelder hervorrief. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Erneuerbare Energien. Zahlen (ohne Datum). Auf: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Offizielle Website. URL: www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/erneuerbare-energien.html [Letzter Zugriff am 5.11.2019].

Stallbauproteste

V.Y.: »Es ist verständlich. Ich habe auch die Leute nicht beschimpft oder irgendwas, oder … ich hab es verstanden.«32 Während Herr Y. den Sorgen der AnwohnerInnen gegenüber durchaus Verständnis äußerte, er aber zugleich auch auf seine selbstempfundene Alternativlosigkeit, die eine Erweiterung des Betriebes für dessen ökonomische Überlebensfähigkeit notwendig gemacht habe, sowie die Gesetzmäßigkeit und Einhaltung der Stallbaurichtlinien verwies, ließ sich bei ihm wie fast allen anderen befragten LandwirtInnen im Zuge der Protest-Erfahrungen eine starke Negativbewertung journalistischen Arbeitens feststellen: V.Y.: »Mein Nachbar, also mein Gegner, hat gemeinsam mit dem Bürgermeister dann schon das Fernsehen geholt, Bayerischer Rundfunk und Zeitungsberichte ohne Ende …« I.: »Und die sind auch hergekommen?« V.Y.: »Die sind auch gekommen, ja. Was in der Zeitung drinnen steht hat mit der Sache, mit der Wahrheit wenig zu tun. Ich hab es auch mal einem Journalisten so gesagt, wo er ein Interview von mir gewollt hätte. Dann habe ich… was er eigentlich will… was schreibt ihr denn immer in der Zeitung? Ja Herr Y., Herr Y., lassen Sie uns doch schreiben. Das liest mir doch kein Mensch nicht, wenn ich das schreibe, was Sie mir sagen. Das ist ja alles langweilig, das ist ja alles eine Richtung dann. Das ist unser Geschäft, lassen Sie uns schreiben. Hat er halt so geschrieben, ob es gepasst hat oder nicht. Ich bin sehr vorsichtig geworden, was in der Zeitung steht.« S.Y.: »Wenn das in den Medien überall so ist, dann können wir das auch bleiben lassen mit den Medien.«33 Hier bildet sich eine weitere zentrale Erzählung meiner Studie ab: Für die Mehrheit der befragten IntensivtierhalterInnen hatte sich die Annahme eines engen Bündnisses zwischen NGOs respektive Tierschutzvereinen und Medien verfestigt. Vertrauen in journalistisches Arbeiten, das als einseitig ›grüne‹ Beeinflussung der Bevölkerung empfunden wird, ist kaum mehr vorhanden. Gleichzeitig wurde das von KritikerInnen häufig gezeichnete Bild einer starken Lobbymacht des Bauernverbandes oder einer als mächtig titulierten Agrarindustrie zurückgewiesen,34 da die eigene Berufsgruppe aufgrund ihrer geringen Anzahl an der Gesamtbevölkerung weder als Wählerklientel noch ökonomisch eine bedeutende Rolle spiele. Darin fin-

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Transkript Interview Familie Y. vom 21.1.2017, Anhang Dissertation S. 300. Ebd., S. 300-301. So ist etwa der Begriff »Agrarlobby« innerhalb der Kritik an der konventionellen Landwirtschaft omnipräsent, zum Beispiel NABU 2017; Bündnis 90/Die Grünen 2018.

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det sich eine weitere Perspektive, die an in älteren agrarsoziologischen Studien festgestellte Selbstpositionierungen als gesellschaftliche Randgruppe anknüpft.35 Familie Y. wurde schließlich gerichtlich die Genehmigung ihres Stallbaus zugesprochen, berichtete aber nach wie vor von Spannungen innerhalb der Ortschaft, die als Folge der Auseinandersetzungen bestehen geblieben seien. Damit reihen sich die Erfahrungen auf Betrieb Y. in die Mehrheit der Fallbeispiele von Protesten gegen Intensivtierställe ein, die zwar – da rechtlich legal und nach bestehenden Vorgaben geplant – letztlich gebaut, innerhalb des lokalen Sozialraumes moralisch aber dennoch weiterhin negativ sanktioniert wurden.

»Ich bin froh, dass wir zu dem Zeitpunkt noch keine Kinder gehabt haben«36 : Kooperative Ä. Kontrastierend zu Betrieb Y., der als Wiesenhof-Produzent mit zehntausenden gehaltenen Masthühnern unter vorherrschende Vorstellungen von »Massentierhaltung« fällt, möchte ich im Folgenden auf den Stallbauprotest gegen die Kooperative Ä. eingehen. Drei seit Kindheit befreundete Landwirte hatten hierfür in der Nähe einer bayerischen Kleinstadt den Bau eines Hofgeländes auf einer gemeinsam angekauften Fläche geplant, um einen bereits bestehenden, ebenfalls zu dritt betriebenen Hofladen mit eigenen Produkten zu versorgen. Die vergleichsweise geringe Anzahl von 500 Mastschweinen wird auf Stroh gehalten, das Rindfleisch stammt aus Mutterkuhhaltung mit Weidegang, die verkauften Waren werden ohne Geschmackszusätze und Konservierungsstoffe hergestellt – eine grundsätzliche Ausrichtung auf biologische Erzeugung war aufgrund der Befürchtungen eines durch erhöhte Ladenpreise geringeren Absatzes der Produkte sowie des eingeschränkten Nährstoffkreislaufs im Ackerbau nicht erfolgt. Dieser innerhalb meines Befragungssamples relativ kleinstrukturierte und tierschutzorientierte Betrieb war ebenfalls Ausgangspunkt eines mehrere Jahre andauernden Gerichtsprozesses und Bürgerprotestes. Als maßgebend für die erfolgte Kulmination machten die Landwirte einflussreiche lokale Firmen, deren Motivation auch hier wiederum in ländlicher Flächennutzungskonkurrenz bestanden habe, sowie eine skandalisierende und aus ihrer Sicht unsachliche Medienberichterstattung aus: I.E.: »Also immer Hauptpunkt war immer Geruchsbelästigung. Dann die massive Gülleausbringung, weil es sind ja wir die einzigen, die weit und breit eine Gülle ausbringen [sarkastisch] oder Mist. Da ist dann, was weiß ich, mit Zahlen argumentiert worden, 20 … nein … 2.000 Tonnen Mist und Gülle in T. Der Baggersee kippt um und baden ist nicht mehr möglich. Und … was haben sie denn noch alles 35 36

In Auswahl dazu Meyer-Mansour 1988, S. 240-260; Pongratz 1987, S. 522-544. Transkript Interview Kooperation Ä. vom 23.6.2017, Anhang Dissertation S. 589.

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für einen Schmarrn geschrieben?« I.Ä.: »Insektenplage.« I.E.: »Insektenplage, genau.« I.Ä.: »Ja, das mit dem Verkehr, das war auch …, dass wir so viele Schweine produzieren, dass wir die in der … oder in ganz Deutschland verkaufen müssen. Und dass da halt dann jetzt eine Autobahn hingebaut wird zu dem Betrieb. Ohne Witz! Eine vierspurige Straße wird da hingebaut, dass man das Fleisch transportieren kann (lacht).«37 Um selbst mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt zu treten, entschlossen sich die Landwirte zur Durchführung einer eigenen Informationsveranstaltung. Rückblickend resümierten die Interviewpartner: I.E.: »Gleich nach dem Zeitungsartikel da im Juli, Anfang August, haben wir dann so eine Informationsveranstaltung machen wollen.« I.Ä.: »Und da waren wir dann in so einem kleineren Ausflugslokal. Da waren dann 150 Leute in dem Nebenzimmer, hauptsächlich gestanden. Die haben uns niedergebrüllt. Drei Stunden lang. Das war … also …« I.E.: »Ja, ich mein, sowas kann man sich wohl sparen. Würden wir heute nie mehr machen! Weil du kannst, wenn die Leute schonmal hysterisch sind und gegen uns sind, kannst sowieso keinem mehr vernünftig irgendwas… der hat gar kein Interesse mehr an irgendwelchen Fakten. Da kannst du hundert Mal sagen: Das sind wenige Tiere und das ist klein und andere Ställe sind zehnmal so groß.« I.Ä.: »Und dann plärrt wieder einer hinten raus: ›Lügner‹.« I.E.: »Bauern sind Lügner und ihr baut ja doch.«38 Derartige Erfahrungen wurden von den InterviewpartnerInnen im Verlauf der gesamten Untersuchung immer wieder geäußert: Häufig mündeten von LandwirtInnen selbst initiierte Informationsveranstaltungen in einer Atmosphäre, die von Animositäten und Gegnerschaft bestimmt war und zukünftige Gesprächsbereitschaft für beide Seiten erschwerte. Alle Befragten, die mit derartigen Negativerfahrungen konfrontiert waren, bereuten daher im Rückblick ihre ursprüngliche Transparenz und gaben an, dass sie die Stallbaupläne künftig unter Ausschluss der Öffentlichkeit einreichen und vorantreiben würden, um eine Eskalation von vorneherein zu vermeiden. Die Erzählungen der InterviewpartnerInnen verweisen zudem auf das sogenannte, auch in Franziska Sperlings Untersuchung zu Konflikten um Biogasanlagen aufscheinende »Nimby«-Verhalten, welches die höhere Protestbereitschaft von BürgerInnen bei einer unmittelbaren regionalen Betroffenheit beschreibt und

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Transkript Interview Kooperation Ä. vom 23.6.2017, Anhang Dissertation S. 590. Ebd., S. 591.

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auch Menschen zu mobilisieren vermag, die sich ansonsten weitestgehend unpolitisch verhalten. Sperling schreibt dazu: »Die Menschen sind für neue Infrastrukturmaßnahmen wie zum Beispiel den Bau neuer Straßen, aber sagen, ›not in my backyard‹, also ›nicht in meinem Hinterhof‹«39 . Was bislang vor allem für Energiewende-Projekte erforscht wurde, gilt hier auch für den Bau von Stallanlagen – kennzeichnend ist, dass sich der Protest auf den eigenen Nahraum bezieht, also weitestgehend entsolidarisiert von gesamtgesellschaftlichen Prozessen abläuft und individuelles Handeln wiederum weniger kritisch hinterfragt wird.40 So häuften sich in den Interviews Erzählungen der LandwirtInnen, die als inkonsequent und hypokritisch empfundenes Verhalten ihrer GegnerInnen herausstellten: I.Ä.: »Und … ja, es ist dir einfach schlichtweg teilweise nicht nachvollziehbar. Wir haben zum Beispiel an dem Sonntag nach dem Bürgerentscheid, haben wir unser Hoffest gehabt. Da waren reihenweise Leute, die groß an dem Bürgerentscheid gegen uns geworben haben. Die waren dann an unserem Hoffest beim Weißwurstessen da. Weil das eine hat ja mit dem andern nichts zu tun …?! Oder wir haben Kunden gehabt, die haben im Laden eingekauft und haben aber … ja, der eigentlich der Hauptgegner im Stadtrat von der SPD, der Fraktionsvorsitzende, der immer… der hat uns immer Lügen und was weiß ich alles… also unterste Schublade unterstellt. Aber das ist …« I.E.: »Der kauft heute noch ein.« I.Ä.: »Mit einer von unseren Stammkunden. Der … den siehst du jede Woche im Laden.«41 Sehr viel stärker als in meinem übrigen Befragungssample wurden von den InterviewpartnerInnen mit Stallbauprotesten zwischenmenschliche Enttäuschungen und Belastungen ihrer Familienangehörigen thematisiert. Ein Landwirt, dessen Kinder im Zuge der Proteste gegen seinen Schweinestall Mobbing ausgesetzt waren, formulierte dazu: H.T.: »[D]ie meinen ja alle, der Widerstand, das ist gegen so eine anonyme Fabrik. Aber es steckt eine Familie dahinter. Und das, das reflektieren die Leute nicht. Dass sie sagen, ja wie wäre das, wenn das gegen meine Familie gehen würde?«42 Im Fall von Kooperative Ä. wurde nach sieben Jahren Kampf um den Stallbau, im Zuge dessen ein Bürgerentscheid, Bebauungssperren seitens der zuständigen Stadt und verschiedene Gerichtsverhandlungen in mehreren Instanzen durchlaufen worden waren, vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof die Genehmigung

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Sperling 2017, S. 205. Vgl. hierzu auch Stine/Walter 2013. Transkript Interview Kooperation Ä. vom 23.6.2017, Anhang Dissertation S. 589. Transkript Interview Familie T. vom 2.7.2016, Anhang Dissertation S. 38.

Stallbauproteste

zum Bau erteilt, da bei der Planung alle bestehenden behördlichen Vorschriften zu Emissions-, Gewässer- und Schadstoffschutz eingehalten worden waren.

Anerkennungsverluste einer (ehemals) zentralen Akteursgruppe im ländlichen Raum Während die befragten LandwirtInnen grundsätzlich immer wieder auf die Legalität und damit für sie auch Legitimität ihrer Vorhaben verwiesen, deuten die Proteste der AnwohnerInnen auf ein fehlendes Vertrauen in die gesetzlichen Vorgaben und einen verantwortungsvollen Umgang der LandwirtInnen mit ihrer Umwelt hin. Diese Entwicklung ist eingebunden in einen grundsätzlichen ländlichen Transformationsprozess, der zur Veränderung sozialräumlicher Strukturen und daraus resultierenden Unsicherheiten führt. Manuel Trummer bemerkt dazu: »Unter dem Druck globaler Veränderungen in der Land-, Energie- und Ernährungswirtschaft durchlaufen nicht nur die Alltagspraxen in den ländlichen Räumen selbst, sondern auch deren kulturelle Imaginationen einen grundlegenden Wandel. Demographie, Strukturwandel, Peripherisierung bilden innerhalb dieser Transformationen die Argumente, an denen sich das Ländliche ebenso festmacht wie an medialen Imaginationen idyllischer Dörfer und intakter Gemeinschaften […].«43 In den beschriebenen Beispielen bildet sich dabei vor allem die Brüchigkeit vermeintlich »intakter Gemeinschaften« auf dem Land ab – Erfahrungen mit Raumnutzungskonflikten, Wahrnehmungen zunehmender sozialer Entfremdung sowohl innerhalb als auch außerhalb des von Konkurrenzdruck geprägten Berufsumfeldes sowie Marginalisierungsempfindungen als Folgen gesellschaftlicher Kritik und eines Bedeutungsverlustes bäuerlicher AkteurInnen waren zentrale lebensweltliche Elemente meiner InterviewpartnerInnen. Dabei wird wiederum das eingangs aufgegriffene, für die Untersuchung zentrale Element der sozialen Anerkennung – hier in Form einer schwerfallenden Bewältigung von Anerkennungsverlust – eklatant: »Das existenzielle Angewiesen-Sein auf eine positive Resonanz umfasst immer auch die Möglichkeit, wenig Anerkennung zu erfahren oder ganz von dieser ausgeschlossen zu sein.«44 Dem negativen moralischen Urteil ihrer Umgebung setzten die Betroffenen von Stallbauprotesten überwiegend juristisch-rechtliche Handlungsmöglichkeiten entgegen, die ihnen zwar einen gerichtlichen, jedoch keinen gesellschaftlichen Anerkennungserfolg erringen konnten. Dazu kam als Folge des Erlebten in allen untersuchten Fällen eine sich 43 44

Trummer 2018, S. 188. Bereswill/Burmeister/Equit 2018, S. 7.

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verstärkende Trotz- und Abwehrhaltung gegenüber aus ihrer Sicht unsachlich und unmoralisch vorgehenden Umwelt- und TierschützerInnen. Die Untersuchung von Anerkennungsverlusten bei einer bislang von der kulturwissenschaftlichen Forschung kaum in den Blick genommenen Gruppe von Menschen offenbart so auch die Notwendigkeit einer Erweiterung von in den Gesellschaftswissenschaften dominanten Perspektiven, die Marginalisierung traditionell vor allem im Kontext von Gender, Migration und Prekarität thematisieren, dabei aber Isolationserfahrungen derjenigen Bevölkerungsteile unterschätzen, die sich vorwiegend durch ein als politisch ›links‹ empfundenes Meinungsspektrum viktimisiert fühlen.45 Im Fall der von mir interviewten IntensivtierhalterInnen führt diese Wahrnehmung auf individueller Ebene zu Resignation, Abwehr und Überforderung, auf kultureller Ebene bildet sie die zunehmende Bewertung von Landwirtschaft nach ihrer Ethizität und nicht (mehr) ihrer Produktivität ab – der Anerkennungsverlust der LandwirtInnen fungiert damit auf einer sozialen HierarchieSkala als »Platzanweiserin, als eine Form der symbolischen Zuordnung zu gesellschaftlichen Positionen.«46

Literaturverzeichnis Bereswill, Mechthild/Burmeister, Christine/Equit, Claudia: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Bewältigung von Nicht-Anerkennung. Modi von Ausgrenzung, Anerkennung und Zugehörigkeit. Weinheim/Basel 2018, S. 7-14. Bürkert, Karin/Engel, Alexander/Heimerdinger, Timo/Tauschek, Markus/Werron, Tobias (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Münster/New York 2019. Decker, Anja: Eine Tiefkühltruhe voller Fleisch. Selbstversorgerlandwirtschaft im Kontext sozialer Ungleichheit. In: Zeitschrift für Volkskunde 114,2 (2018), S. 213236. 45

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Vgl. dazu auch den wichtigen Verweis auf kulturwissenschaftlich erklärbare, aber bislang kaum untersuchte politische Radikalisierungen im Aufsatz von Warneken 2019, S. 117-130. Bei meinen UntersuchungspartnerInnen bestand die Bewältigung ihrer Marginalisierungsempfindungen soweit aus dem Material hervorgehend nicht in einer politischen Radikalisierung, sondern weitestgehend resignativen Stimmung. Der nach wie vor traditionell starke CSU-Wähleranteil unter LandwirtInnen in Bayern (bei der Landtagswahl im Oktober 2018 gab die landwirtschaftliche Klientel ihre Stimme mit 66 Prozent im Vergleich zu 37,2 Prozent der Gesamtbevölkerung der christlich-konservativen Partei, vgl. Lehmann 2018) lässt sich meines Erachtens nach vor allem aus einem hier empfundenen Rückhalt für landwirtschaftliche Probleme erklären – so formulierte einer meiner Interviewpartner, von der konservativen Seite im Gegensatz zum übrigen politischen Spektrum zumindest mitunter noch positiv wahrgenommen zu werden. Fischer 2018, S. 133.

Stallbauproteste

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Quellenverzeichnis Transkript Interview Familie Y. vom 21.1.2017. Dauer: 2:17:17 Stunden. Transkript Interview Kooperation Ä. vom 23.6.2017. Dauer: 2:00:02 Stunden.

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Transkript Interview Familie T. vom 2.7.2016. Dauer: 3:12:35 Stunden.

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Alltag – Gesellschaft – Utopie Kulturelle Formationen solidarischen Landwirtschaftens Lars Winterberg

Folgt man den medialen Darstellungen der letzten Jahre, so verheißt ein Blick auf unsere Äcker gegenwärtig nichts Gutes: Agrargifte und Pestizidbelastung, Artensterben und Milchpreisverfall, Massentierhaltung und Discount-Fleisch. In der Öffentlichkeit dominiert ein negatives, teils regelrecht dystopisches Bild von moderner Landwirtschaft. Der Kulturwissenschaftler und mehrfach ausgezeichnete FAZWirtschaftsredakteur Jan Grossarth hat sich unter anderem in seiner Dissertation intensiv mit agrarpolitischen Diskursen befasst und zeichnet lange Traditionslinien politischer und religiöser Giftmetaphern nach. Die »Vergiftung der Erde« versteht er nicht bloß als toxikologischen Befund, sondern als kulturelle Leitmetapher.1 Bio- und Handarbeit sei gut, Agroindustrie schlecht – so die vermeintlich einhellige Meinung. Aber so einfach sei das natürlich nicht. Und so leitet Grossarth sein journalistisches Sachbuch Vom Land in den Mund wie folgt ein: »Das Glück im Grünen, Selbstversorgung mit Gemüse und das liebe Mit-Tier lassen Herzen schneller schlagen. Denn Ernährung ist existentiell und für viele nicht nur ein privater Genuss, sondern Teil des Selbstverständnisses oder ein Politikum. […] Aufgrund mancher Erscheinungsformen der Industrie, zum Beispiel der Massentierhaltung, ist vielen Menschen fremd geworden, was sie ernährt. Sie trauen der Landwirtschaft nicht und wollen sie anders haben. Schön, liebevoll, wertvoll, sinnvoll […]. Von den vielen, zum Teil widersprüchlichen Forderungen an die Nahrungsindustrie sind fast alle gut begründet, aber niemals wären alle umsetzbar. Zumindest nicht, ohne auch das Beste über Bord zu werfen, das die Industrie mit sich bringt: eine hohe Produktivität.«2 Was ist also in einer Gesellschaft los, die so viele Ansprüche an die Landwirtschaft hat? Wie geht man damit um? Inwieweit kreisen Aushandlungen um agrarkulturelle Utopien, welche Wunsch und soziale Realität, gesellschaftlichen Wandel und

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Grossarth 2018, S. 433. Grossarth 2016, S. 7.

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seine alltägliche Herstellung zusammenzubringen (sollen)? Im vorliegenden Beitrag werden diese Punkte am Beispiel des rezenten Phänomens des Solidarischen Landwirtschaftens diskutiert und so weiterführender Forschungsbedarf identifiziert. Dabei geht es mithin um die Fragen, inwieweit ein augenscheinlich ›ländlich‹ situiertes Thema und Feld auf Kategorien wie Urbanität, Stadt, Land oder Ländlichkeit rekurriert und inwieweit dies für kulturwissenschaftliche Terminologien und Konzepte des Ländlichen fruchtbar gemacht werden kann.

Agrarkulturelle Transformationen: Annäherungen Meine ersten ethnografischen Annäherungen an Formen und Praxen Solidarischen Landwirtschaftens gehen auf den Herbst 2016 zurück.3 Ich folgte zunächst diskursiven und narrativen Spuren der Akteure, erhielt schließlich aber auch Einblicke in Höfe und Initiativen im Saarland, in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Diese begrenzten empirischen Explorationen ließen sich 2017/18 zudem im Rahmen meines einjährigen Lehrforschungsprojekts an der Universität des Saarlandes durch studentische Forschungsbefunde und -diskussionen flankieren.4 Mit 15 Studierenden konnten Feldforschungsprojekte zu unterschiedlichen landwirtschaftlichen Solidarphänomenen im südlichen Saarland und der südwestlichen Pfalz realisiert werden.5 Auch Grossarth, der als Journalist immer wieder über Agrarthemen schreibt, geht regelmäßig ins Feld und spricht mit ganz unterschiedlichen Akteuren, die irgendwie mit Landwirtschaft zu tun haben. Und er legt den Finger nicht selten in die Wunde des vermeintlich mündigen Verbrauchers. Denn Wunsch und Wirklichkeit gehen hier besonders augenscheinlich auseinander: der Wille zum Wandel und das praktische Verhalten im Hier und Jetzt.6 Die Deutschen essen nämlich allen Lifestyle- und Sinus-Gruppen zum Trotz vor allem noch immer billig. Und das lasse, so Grossarth, im Prinzip nur eine industrielle und hocheffiziente Landwirtschaft zu. 3

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Der vorliegende Beitrag steht im Kontext eines Forschungsprojekts, welches an den Universitäten in Saarbrücken und Regensburg kooperativ vorbereitet wurde. Für Gestaltungsfreiräume und Anregungen danke ich Barbara Krug-Richter und Gunther Hirschfelder. Die Ergebnisse der Lehrforschung wurden in Form einer Fachtagung mit dem Titel Alltag. Gesellschaft! Utopie? Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf eine Landwirtschaft im Wandel im Frühjahr 2018 der Öffentlichkeit präsentiert. Für die Förderung und finanzielle Unterstützung des Projekts danke ich dem saarländischen Ministerium für Umwelt und Verbraucherschutz, der Universitätsgesellschaft sowie der Landwirtschaftskammer für das Saarland. Für die kritische inhaltliche Reflexion historischer und gegenwärtiger agrarkultureller Prozesse sowie fruchtbare Impulse zum Thema Solidarisches Landwirtschaften danke ich den studentischen TeilnehmerInnen des Lehrforschungsprojekts sowie allen Tagungsgästen. Vgl. Hirschfelder 2015, S. 4.

Alltag – Gesellschaft – Utopie

Doch wer trägt dann für Risiken und Probleme moderner Landwirtschaft die Verantwortung? Auch das wird medial intensiv verhandelt. »Uns als Konsumenten wird erzählt, wir könnten […] etwas ändern, wenn wir im Supermarkt nur die richtige Wahl treffen würden. Die grüne Lüge verschafft einem einerseits ein gutes Gewissen, gleichzeitig macht sie den Menschen dauernd ein schlechtes Gewissen, weil sie die Verantwortung auf die einzelnen Käufer schiebt. […] Es ist einfach zynisch, uns die Entscheidung für oder gegen Ausbeutung und Zerstörung zu überlassen. Die wichtige Frage ist doch nicht: Was sollen wir einkaufen? […] [Sie] lautet: Warum dürfen Unternehmen überhaupt so produzieren?«7 Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung beklagt die Autorin des Sachbuchs Die grüne Lüge, dass ethischer Konsum und unternehmerisches greenwashing längst Hand in Hand gingen, weil Weltrettung zum profitablen Geschäft geworden sei.8 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gilt es zunächst einmal nicht zu beurteilen, ob Hartmann recht hat. Es lässt sich aber doch nachvollziehen, dass »fair«, »bio« und »regional« als symbolische Aufladungen fungieren (können), die sich in besonderer Weise vermarkten und damit monetarisieren lassen.9 Tatsächlich sind dies Zuschreibungen, die auch mit spezifischen Bildern von Landwirtschaft und Produktion operieren, die also Projektionen ländlicher Arbeits- und Lebenswelten schaffen. Und diese adressieren keineswegs nur einen urbanen oder städtischen Markt, sondern schaffen auch Imaginationen vom Landleben für Menschen, die unmittelbar auf dem Land leben.10 Ein weiterer Aspekt erscheint relevant, und zwar die Frage, wer uns eigentlich alles über falsches und richtiges, schlechtes und gutes Essen, (Land-)Wirtschaften etc. belehrt. So ist auffällig, dass sich der Kreis der DiskursteilnehmerInnen rund um das Thema Landwirtschaft und Ernährung erheblich erweitert und pluralisiert hat. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts handelte es sich deutlich stärker um einen ExpertInnendiskurs zum Beispiel zwischen Bauern, politischen Vertretern und – zu dieser Zeit recht offensiv – Wissenschaftlern, die antraten, die Produktivität in Ställen und auf Äckern deutlich zu steigern.11 Heute ist Landwirtschaft ein populäres Thema – nicht nur in Fernsehformaten, auch im Alltag, auf der Straße oder am Tisch daheim wird darüber gesprochen. Viele Menschen haben eine Meinung zu Landwirtschaft; aber inwiefern verfügen die verschiedenen DiskursteilnehmerInnen auch über eine hinreichende agrarwirtschaftliche Expertise? Es wird vor

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Vgl. Belopolsky 2018. Vgl. Hartmann 2018. Vgl. weiterführend Wiegand 2018, S. 43; Winterberg 2017, S. 190-191. Vgl. exemplarisch Quaas 2015; Römhild u.a. 2008. Vgl. exemplarisch Egnolff 2015; Gfäller 2015, S. 285. Vgl. Wittmann 2017, S. 55-60.

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allem reichlich über Agrarindustrie gesprochen, wenig aber mit jenen konventionellen LandwirtInnen selbst. Das wird von den AkteurInnen auch immer wieder öffentlich beklagt.12 Dass die landwirtschaftlich geprägte Welt des Dorfes längst keine heile mehr ist, zeigt sich gleichwohl aller Orten: »Wachsen oder weichen« bringt als Faustformel jenen Wandel auf den Punkt, der von einer Intensivierung der Produktion, von Monopolisierung, einer Prekarisierung insbesondere kleinerer Familienbetriebe und schließlich Höfesterben kündet.13 Seit den 1970er-Jahren verlagert sich die Lebensmittelproduktion zunehmend in den Nebenerwerb, während anderswo kapitalintensiv geführte und ebenso hochtechnisierte wie oftmals -spezialisierte Betriebe entstehen. Das schreibt sich auch in die Landschaften ein – Beispiel »Vermaisung«14 . Und es führt folglich auch zu einer Überlagerung pluraler Bilder von Ländlichkeit, die erinnert, medial rezipiert und vor Ort wahrgenommen werden.15 Es ist also vielleicht auch gerade die Inkongruenz jener Bilder, welche unsere Eindrücke von den sogenannten Nebenfolgen einer Industrialisierung der Landwirtschaft verstärken, und die inzwischen in breiten Teilen unserer Gesellschaft ein Unbehagen hervorrufen, eine Skepsis gegenüber dem Status quo unserer Lebensmittelproduktion, ein Misstrauen in Bezug auf Produktinformationen und Werbebilder, unternehmerisches und politisches Handeln.16 Dafür dürfte zuvorderst Kommunikation von Bedeutung sein. Denn nicht nur Produktion, Handel und Konsum sind eng miteinander verknüpft, zentral scheint auch das Sprechen, Schreiben und Lesen über Landwirtschaft und Ernährung zu sein; das, was wir hören, sehen und erzählen, sprich: diskursive und narrative Ebenen des Themas. Es ist also nicht so sehr die eigene Erfahrungs- oder Leidensgeschichte zum Beispiel rund um das Thema BSE, die Zweifel an der Richtigkeit industrieller Lebensmittelproduktion hervorgerufen hat, sondern vor allem die mediale Aushandlung der Krise. Und das gilt für »Dioxin-Eier« und »AntibiotikaFleisch« etc. gleichermaßen. VerbraucherInnen sind nicht zuletzt durch eine kontinuierliche Skandalisierung in Bezug auf das Thema Essen verunsichert – Gunther Hirschfelder diagnostiziert in diesem Zusammenhang eine Consumer Confusion des frühen 21. Jahrhunderts.17 12 13

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Vgl. weiterführend Weiss 2000. Vgl. Langthaler/Tod/Garstenauer 2012, S. 346-382; Uekötter 2010; Mahlerwein 2016; Troßbach/Zimmermann 2006. Vgl. zu internationalen Entwicklungen Thoen 2010-15; Fitzgerald 2003. Chilla/Kühne/Neufeld 2016, S. 26. Sophie Elpers hat Überlagerungen imaginierter, erinnerter und erlebter Bilder von Landleben am Beispiel der Niederlande herausgearbeitet. Vgl. Elpers 2015, S. 37-56. Trummer 2018, S. 189-197; vgl. zum Konzept der Nebenfolgen Beck 1986; Beck/Giddens/Lash 1996; vgl. zum Umgang mit den Nebenfolgen einer industrialisierten Land- und Ernährungswirtschaft weiterführend Grossarth 2018; Winterberg 2015, S. 19-33. Hirschfelder 2014, S. 7; Hudson 2018, S. 30.

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Solidarische Landwirtschaft: Annäherungen Wen also – auch abseits eigener Expertisen – das Gefühl beschleicht, auf Äckern und in Ställen laufe irgendetwas falsch, und wer in unserer sogenannten »postfaktischen Zeit«18 weder den Versprechen der Industrie noch unseren politischen Vertretungen traut, der nimmt die Dinge vielleicht stärker selbst in die Hand – zumindest zeitweise, in Interessengemeinschaften, projekt- und praxisorientiert.19 Gisela Welz und Michaela Fenske haben hierfür einmal die Begriffe der communities of projects und communities of practice angeführt.20 Zweifellos, es handelt sich um gesellschaftliche Nischen, in denen Wenige Alternativen erproben und Utopien eines vermeintlich »besseren Lebens« entwerfen. Es sind konkrete Utopien im Sinne Ernst Blochs, also Zukunftsentwürfe, die im Hier und Jetzt bereits hergestellt werden.21 Die Solidarische Landwirtschaft – kurz Solawi – ist eines dieser Phänomene, welches zunächst vor allem als mediales Sujet begegnet. Dies dürfte mitunter daran liegen, dass die Thematik in besonderem Maße bildaffin ist, sich die Höfe und ihre Gemeinschaften also gut und auch handlungsbasiert zeigen lassen, insbesondere auch junge Menschen aktiv sind, es um alternative Lebensentwürfe geht, die per se polarisieren und somit Spannung erzeugen, und der ganzen Sache dabei trotzdem auch etwas Abseitiges, Naives, Weltfremdes anzuhaften scheint, das sich medial im doppelten Wortsinne vorführen lässt. Die Solawi wurde in den letzten Jahren erheblich popularisiert. Und doch mag überraschen, wie aufgeschlossen man beispielsweise auch im ländlichen Umfeld auf das Thema reagiert: etwa Herr D.,22 ein Landmaschinenmechaniker aus der Eifel, der täglich mit den Bauern der Region zu tun hat – und zwar einer recht konservativen Region ohne unmittelbare Stadtnähe, und damit ohne direkten Bezug zu den sogenannten urban influencers, die angeblich treibende Kräfte solcher Initiativen sind.23 Solche Ansätze würden nicht etwa als Spinnerei belächelt, sondern seien im Umkreis ernsthaft im Gespräch – und erste Initiativen in Gründung begriffen. Welche Bedeutung mediale Repräsentationen für die Entwicklung des Phänomens tatsächlich einnehmen, bliebe empirisch zu prüfen. Aber weder im Allgemeinen noch in Bezug auf das Thema des Solidarischen Landwirtschaftens dürfte eine Kulturanalyse des Ländlichen ohne eine intensive Auseinandersetzung mit

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Nassehi 2015; Distelhorst 2019. Vgl. zur alltagspolitischen Aushandlung individueller und kollektiver Lebenswelten weiterführend Winterberg 2017; Bitzegeio/Mittag/Winterberg 2015; Fenske 2010. Welz 2009, S. 200-201; Fenske 2015, S. 356. Vgl. Bloch 1985. Verweise auf ethnografische Materialien basieren auf Notizen zu Gesprächen, (teilnehmenden) Beobachtungen und Recherchen insbesondere im Kontext der Konzeption und Umsetzung von Lehrforschung und Forschungsprojekt (vgl. Anm. 3 und 4). Hirschfelder 2018, S. 287.

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der Produktion und Rezeption sowie auch den un-/intendierten Effekten zirkulierender Bilder von Ländlichkeit und Landleben auskommen können. Nun bedingt die hohe Popularität des Phänomens Solawi nicht nur, dass lokale Initiativen verstärkt medial, sondern eben auch von WissenschaftlerInnen angefragt werden. Dieser Befund deutete sich auch im Kontext der Saarbrücker Lehrforschung an: Studierende unterschiedlicher Einrichtungen gaben sich gewissermaßen die Klinken der Hoftüren in die Hand – und interagierten entsprechend mit zunehmend forschungserfahrenen AkteurInnen. Das verweist auf methodische Fallstricke entsprechender Themen und Felder, die es kritisch zu reflektieren gilt. Auch die Soziologin Birgit Peucker stellt ein »sehr großes Interesse bei Aktivist/innen der auf Landwirtschaft bezogenen sozialen Bewegungen« und ein geradezu »übergroßes Interesse bei Wissenschaftler/innen« fest.24 Das »Interesse ist so hoch, dass die Initiativen zur Solidarischen Landwirtschaft überlastet sind von den Anfragen«, weshalb eine eigene Abteilung im praxisorientierten Netzwerk Solidarische Landwirtschaft eingerichtet worden sei, das Forschungsanfragen koordiniere, bestehende Studien sammele, AkteurInnen vernetze und auch zur Beteiligung von Initiativen an der Formulierung von Forschungsfragen anrege. Diese Einschätzungen lassen sich nicht zuletzt durch eine recht große Fülle an akademischen (Modul- und) Abschlussarbeiten stützen, darunter einige mit explizit empirischem Zuschnitt.25 Es mangelt jedoch grundsätzlich an qualitativexplorativen Herangehensweisen, wie sie bislang nur in kleineren Mikrostudien erprobt wurden, etwa zu Solawi-Initiativen in Contwig, Darmstadt und NeuEichenberg.26 Die Arbeiten insgesamt sind vielseitig ausgerichtet und fokussieren Facetten wie Direktvermarktungsansätze und Preisfindung, Erfolgsfaktoren, Rechtsformen und -fragen, Partizipationsmöglichkeiten, das Engagement und die Motivation von LandwirtInnen und VerbraucherInnen, Aspekte wie Planung, Preisfindung, Einkommen und Arbeit(-splätze) oder auch Anbauplanung und Saatgutvermehrung.27 Es werden übergeordnete Themen wie Ernährungssouveränität, landwirtschaftliche Transformationen und Verbindungen zum Ökolandbau diskutiert.28 Es geht um Nachhaltigkeitsaspekte, um Klima- und Energiebilanzen, um Naturschutzfragen, (Post-)Wachstumsdebatten und alternative Wirtschaftsmodelle.29

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Vgl. Peuker 2017. Vgl. Bünger 2017; Schroth 2015; Bietau 2013; Mikoleit 2012. Vgl. Chong 2017; Schewina 2015; Haneklaus 2015. Vgl. Müller 2017; Erben 2016; Hesse 2016; Anschütz 2015; Franz 2015; Freudenberg 2015; Kaufmann 2014; Reymann 2014; Spoerry 2013; Homeyer 2012; Julius 2012; Kraiß 2012; Bernhard 2011; Wakamiya 2009; Kraiß 2008; Bohn 2006. Vgl. Kunzmann 2015; Erler 2016; Kildau 2015. Vgl. Buchholz 2017; Egloff 2013; Bechtel 2014; Berk 2017; Helmerich 2015.

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Der akademische Nachwuchs in Deutschland hat das Themenfeld inzwischen vergleichsweise intensiv in Examensarbeiten aufgegriffen. Dem entgegen steht eine eher zurückhaltende Auseinandersetzung mit Solidarischem Landwirtschaften in der weiteren deutschsprachigen Forschungscommunity.30 Häufig begegnen die populärwissenschaftlichen Überblicksbeiträge von Katharina Kraiß, auf die auch im Feld verstärkt verwiesen wird.31 Inzwischen ist sie selbst bekennende SolawiAkteurin – ein Aspekt, der sich insbesondere auch auf der Ebene der (Modul- und) Abschlussarbeiten beobachten lässt und der methodenkritischer und selbstreflexiver Diskussion bedarf (vor allem hinsichtlich einer potenziellen Nähe/DistanzProblematik).32 In internationalen Fachbeiträgen erfahren Formen und Praxen Solidarischen Landwirtschaftens indes intensive Berücksichtigung. Auch hier liegen zunächst einmal enzyklopädische und Überblicksdarstellungen vor, die teils ebenfalls im Schnittfeld zur Praxis entstanden sein dürften.33 Begriffliche Unschärfen sind abweichenden disziplinären Traditionen, aber auch der Heterogenität internationaler Modelle, ihrer jeweiligen historischen Genese und Entwicklung geschuldet.34 Gleichwohl lässt sich ein Grundtypus konturieren, der in hohem Maße dem Selbstverständnis von Akteuren zu entsprechen scheint.35 Es liegen Beiträge zu verschiedenen nationalen Ausformungen vor, etwa zu gemeinsamer Landwirtschaft in Österreich, regionaler Vertragslandwirtschaft in der Schweiz, Gruppo di Acquisto Solidale in Italien, Asociatia pentru Sustinerea Agriculturii Traditionale in Rumänien, Voedselteams in Belgien, Association pour le maintien de l’agriculture paysanne in Frankreich, Reciproco in Portugal, Community-supported agriculture (CSA) in den USA und, als vermeintliche Ur-Form, Teikei in Japan.36 Inwieweit diese nationalen Varianten konzeptuell, formal, funktional oder performativ im Detail vergleichbar sind, bliebe zu prüfen. Deutsche AkteurInnen und Initiativen selbst nehmen weltweite Ansätze allerdings durchaus wahr, verweisen auf diese und verstehen sich offenbar einer übergeordneten globalen Bewegung zugehörig. CSA wird dabei häufig als soziale Innovation interpretiert und in einen übergeordneten Kontext solidarischer Ökonomien, regionaler und alternativer Food-Networks sowie Trends zur Revitalisierung

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Zum jüngeren Forschungsstand vgl. Wellner 2018. Vgl. Kraiß 2016; Kraiß/Elsen 2009, S. 183-194. Vgl. weiterführend etwa Köstlin 2001, S. 7-11. Vgl. Dyttrich/Hösli 2015; Groh/McFadden 2013; Wild 2012; Henderson 2007; Henderson 2003. Vgl. Kondoh 2015, S. 143-153; Schlicht u.a. 2012; Bîrhală/Möllers 2014. Vgl. Schlicht u.a. 2012; Gottwald/Boergen 2012, S. 255-260; Goland 2002, S. 14-25. Vgl. ergänzend zu vorgenannten Studien exemplarisch Schermer 2015, S. 121-132; Brunori/Rossi/Guidi 2012, S. 1-30; Schnell 2013, S. 615-628; Kondoh 2015. Auch erste vergleichende Studien liegen vor: Van Oers/Boon/Moors 2018, S. 55-67; Balázs/Pataki/Lazányi 2016, S. 100111; Peterson/Taylor/Baudouin 2015, S. 64-73; Charles 2011, S. 362-371.

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von Commons eingeordnet.37 Michael Beykirch betont beispielsweise die Selbstorganisation der Initiativen, deutet Solawi als dezentrale Planwirtschaft im Kontext einer Strukturkrise kapitalistischer Warenproduktion und stellt Bezüge zum weiten Feld der Postwachstumsforschung her.38

Solidarische Landwirtschaft: Formen, Akteure, Praxen Was aber ist der eigentliche Gegenstand, wie lässt sich das Phänomen konturieren? In Deutschland bezeichnet die populäre Kurzform Solawi im engeren Sinn den Singular »Solidarische Landwirtschaft«.39 Das heißt: Eine Gruppe privater Haushalte trägt die Kosten, die bei der Erzeugung von Lebensmittel eines Hofs anfallen – also die jährlichen Betriebskosten inklusive Personal. Dies soll idealerweise zu einer Marktunabhängigkeit führen. Im Gegenzug erhalten sie dafür einen Anteil des Ernteertrags. Das Konzept der Solawi sieht also vor, dass sich die Mitglieder eines Betriebs – häufig Hofgemeinschaft genannt – mit den LandwirtInnen auch die Verantwortung und das unternehmerische Risiko teilen. Sie bezahlen also nicht mehr für einzelne Nahrungsmittel, sondern für die Bewirtschaftung eines Hofes. So lautet zumindest die Kernbotschaft, welche auch den Selbstdarstellungen verschiedener Solawi-Initiativen zugrunde liegt.40 Wie sich hingegen abseits medialer Informationsschatten die sozialen Realitäten der Höfe und Hofgemeinschaften ethnografisch darstellen, gilt es für den deutschsprachigen Raum in vergleichenden Studien zu erörtern. Die Skizze eines derartigen Solawi-Grundtypus lässt sich als virtuell geteiltes Selbstverständnis zur Kenntnis nehmen, welches folglich mit den Selbstverortungen heterogener Akteure eines pluralistischen Feldes abgeglichen werden kann. Heterogen und pluralistisch, weil es bei genauerer Betrachtung eben doch abweichende Modelle und Rechtsformen gibt, abweichende Verbindlichkeiten und Partizipationsmöglichkeiten bestehen und teils sehr verschiedene AkteurInnen abweichend integriert sind.41 So erscheinen beispielsweise VertreterInnen einer Solawi im eher konservativen Umfeld der ländlichen Eifel schon äußerlich auffallend different von den studentischen Mitgliedern einer der Solawi-Keimzellen in

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Vgl. Grauel 2018, S. 81-97; Van Oers/Boon/Moors 2018; Boddenberg 2017, S. 125-148; Embshoff 2017, S. 344-355; Ruivenkamp/Hilton 2017; Ronge 2016; Dellenbaugh u.a. 2015; Nost 2014, S. 152-160; Krabbe 2013, S. 129-141; Schnell 2013; Friedland 2010, S. 601-627. Vgl. Beykirch 2018; vgl. zum Postwachstumsansatz weiterführend: Bloemmen 2015, S. 110115; Paech 2014. Vgl. auch nachfolgend Kraiß u.a. 2016; Wild 2012; Kraiß/Elsen 2009. Vgl. https://www.solidarische-landwirtschaft.org/das-konzept/ [Letzter Zugriff am 20.7.2019]. Vgl. exemplarisch Simpfendörfer 2017, S. 85-93; Galt/Christensen/Bradley 2017, S. 435-452.

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Kassel-Witzenhausen. AkteurInnen bringen sich aber auch abweichend in die Projekte ein, arbeiten teils intensiv bei Ernte und Logistik mit oder nehmen vielleicht nicht einmal bei gemeinschaftskonstituierenden Treffen wie Festen und Feiern teil. Junge Familien nutzen die Solawi häufig, um ihre Kinder an landwirtschaftliche Produktion heranzuführen – oder einfach, um im Setting eines Hofs im Grünen oder in Kontakt mit Tieren etwas zu erleben.42 Prinzipiell erfahren soziale Beziehungen und Gemeinschaften im Feld eine Aufwertung, was wiederum auf produktions- und konsumbedingte Vertrauenskrisen zurückgeführt werden kann.43 Häufig mangelt es aber an Informationen beziehungsweise belastbaren Daten über Mitgliederstrukturen, Präferenzen etc., wobei sich Bildungshintergrund und Einkommen als durchaus relevante Merkmale erweisen.44 Ähnlich der Solidarischen Landwirtschaft in Deutschland dürften entsprechend auch Initiativen im weltweiten Vergleich Gemeinsamkeiten und Differenzen aufweisen. Sie betonen ähnliche Aspekte, müssen aber auch im Kontext ihrer jeweiligen Genese betrachtet und interpretiert werden: In Italien beispielsweise stehen sie in Zusammenhang mit Libera Terra-Kooperativen, welche Lebensmittel auf konfisziertem Boden anbauen und somit nicht zuletzt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer in besonderem Maße durch organisierte Kriminalität geprägten Gesellschaft aushandeln.45 Die Genese und die Entwicklung des Phänomens Solawi in Deutschland lassen sich bislang primär über feldimmanente Selbstreflexionen nachvollziehen. Diese fallen teils widersprüchlich, teils aber auch geradezu identisch aus, was Bezugnahmen auf singuläre oder unzureichend abgesicherte Quellenbestände nahelegt. Es besteht also deutlicher Verifizierungsund damit Forschungsbedarf. Folgende grobe Linien zeichnen sich gleichwohl ab: Seit den 1960er- und vor allem 1970er-Jahren gibt es Bestrebungen, solidarische Konzepte von Landwirtschaft insbesondere in Japan, Europa und den USA zu (re-)etablieren.46 In Deutschland wurden bereits um 1968/69 erste rechtliche Vergemeinschaftungen vorgenommen, das heißt, Höfe zum Beispiel der Erbfolge entzogen – sie waren dann fortan nicht mehr Privateigentum. Exemplarisch genannt werden häufig die Betriebsgemeinschaft Dottenfelderhof in Hessen sowie die Landbauforschungsgesellschaft in Niedersachsen.47 Es erscheint geboten, in einer

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Vgl. zu Werten und Motivationen im Solidarischen Landwirtschaften MacMillan Uribe/Winham/Wharton 2012, S. 431-436; Cox u.a. 2008, S. 203-218. Vgl. Sassatelli/Scott 2001, S. 213-244; Pole/Gray 2013, S. 85-100. Vgl. zur Datenerhebung in Bezug auf die Mitglieder von Initiativen Galt 2018, S. 2082-2088. Vgl. zu den Schlüsselfaktoren Bildung und Einkommen: Ders.u.a. 2017, S. 435-452; Hanson u.a. 2019, S. 57-67. Vgl. Salvio 2017, S. 85-100; Tencati/Zsolnai 2010. Kraiß/Elsen 2012, S. 59-64; Schlicht u.a. 2012. Vgl. exemplarisch https://schweisfurth-stiftung.de/stadt-land-tisch/solawis-die-zukunftder-landwirschaft/ [Letzter Zugriff am 20.7.2019].

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diachron ausgerichteten Untersuchung frühe Formen solidarischen Landwirtschaftens vor dem Hintergrund eines landwirtschaftlichen Strukturbruchs zu beleuchten, zudem aber auch zeitgenössische umweltpolitische Einflüsse und die aufkommende Ökologiebewegung einzubeziehen.48 Inwieweit werden vielleicht tradierte Konzepte – etwa der Lebensreformbewegung – revitalisiert?49 Welche Parallelen bestehen zu genossenschaftlichen Ansätzen und solchen der Allmende, Commons und Kollektivnutzung?50 In den 1980ern-Jahren kam es dann möglicherweise zum Export entsprechender Ideen parallel aus Deutschland und der Schweiz in die USA, unter anderem offenbar durch Trauger Groh, der dort als einer der CSA-Gründungsväter gilt.51 Groh habe den elterlichen Hof im Jeverland verkauft und sei dann zeitweise im Kontext früher Hofvergemeinschaftungen tätig gewesen, bevor er mit diesem kulturellen Gepäck emigrierte. Um die Jahrtausendwende waren Solidarische Landwirtschaften im engeren Sinne in Deutschland noch nahezu unbekannt. 1998 habe es zwei, 2003 gerade einmal drei und 2007 erst neun Solawi-Höfe gegeben.52 Zum Vergleich: In den USA – hier differieren die Angaben stark – gab es zeitgleich bereits zwischen 6.000 und 12.000 Höfe.53 Und das hatte Folgen: So ist wahrscheinlich, dass ab den 2000er-Jahren medial bedingte Rückkopplungen gewissermaßen einen Re-Import von CSA aus den USA nach Mitteleuropa begünstigten.54 Jedenfalls nähme es kaum wunder, wenn eine frühe Popularisierung in Deutschland insbesondere auch auf US-amerikanische Vorbilder zurückzuführen wäre. Besondere Verbreitung erlangte jedenfalls das Buch Farms of Tomorrow von Trauger Groh und Steven Mc Fadden – in deutscher Übersetzung Höfe der Zukunft.55 Auch der Film The Real Dirt on Farmer John ist unter AkteurInnen verbreitet. Der deutsche Titel Farmer John. Mit Mistgabel und Federboa betont bezeichnenderweise spezifische Aspekte des Films, um stärker einen medialen Voyeurismus zu bedienen – und dockt so an die eingangs thematisierte Erzählung an, welches Solidarisches Landwirtschaften eben auch als etwas Abseitiges und Weltfremdes präsentiert.

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Vgl. Uekötter 2015; Pettenkofer 2014; Radkau 2011; Rootes 2003. Ob sich das Konzept sozialer Bewegungen als Ordnungs-, Analyse- und Interpretationsrahmen für Formen Solidarisches Landwirtschaftens anbietet, wäre gesondert zu diskutieren. Vgl. weiterführend Rucht/Neidhardt 2001, S. 533-556; Roth/Rucht 2008. Vgl. Wedemeyer-Kolwe 2017; Fritzen 2006; Barlösius 1998. Kramer 2018; Groth 2013, S. 59-65; Helfrich 2012. Vgl. auch nachfolgend Kraiß/Elsen 2012, S. 59. Vgl. zur Ausbreitung auch nachfolgend aid infodienst (Hg.): Solidarische Landwirtschaft 2016, S. 10; Solidarische Landwirtschaft. URL: https://www.solidarische-landwirtschaft.org/ das-konzept/ [Letzter Zugriff am 20.7.2019] Vgl. Henderson 2007. Vgl. Kraiß/Elsen 2012, S. 59-60. Groh/McFadden 1990; Groh/McFadden 2013.

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Seit ca. zehn Jahren boomt das Thema auch in Deutschland: 2011 wurde das bundesweite Netzwerk Solidarische Landwirtschaft gegründet, 2013 habe es dann immerhin schon 39 solidarisch ausgerichtete Betriebe gegeben, 2015 seien es bereits 77 Höfe und 91 weitere Gruppen gewesen, also zum Beispiel Gemeinschaften, die im Aufbau begriffen waren oder noch nach geeigneten Hofkooperationen suchten. Mitte 2019 verzeichnete das Netzwerk 249 Höfe und 38 weitere Initiativen.56 Die Zahlen verändern sich rasch und sind auch nicht abschließend belastbar, stammen sie doch vom Netzwerk selbst. Auf Basis erster eigener ethnografischer Suchbewegungen entstand zumindest der Eindruck, dass es einerseits diverse weitere Initiativen geben könnte, die sich (vielleicht teils ganz bewusst) abseits des Netzwerks entwickeln, möglicherweise insbesondere auf dem Land. Andere Gruppen, auf die wir zum Beispiel im Rahmen von Medienanalysen stießen, waren teils schon nach kürzerer Zeit wieder in Auflösung begriffen – oder sahen sich zu Auszeiten gezwungen, etwa weil Kooperationen mit LandwirtInnen oder GärtnerInnen wegbrachen. So legte beispielsweise die Bergische Solawi in Linde 2018 ein unfreiwilliges »Feld Sabbatical« ein.57

Solidarisches Landwirtschaften: kulturelle Formationen Es deutet sich an, dass recht heterogene Formen, AkteurInnen und Praktiken mit abweichender Schwerpunktlegung und Reichweite unter den Schlagworten Solawi, CSA etc. zusammengefasst werden. Ich möchte vor dem Hintergrund unserer empirischen Suchbewegungen dennoch dafür plädieren, weitere Phänomene als Varianten eines übergeordneten Solidarischen Landwirtschaftens potenziell mit einzubeziehen: Ansätze der Direktvermarktung zum Beispiel, landwirtschaftliche Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, sogenannte Community Connected Agriculture, gegebenenfalls weitere Formen der Vergemeinschaftung wie sie beispielsweise in der Tradition von Genossenschaften und Verbänden bekannt sind, die Re-Regionalisierung landwirtschaftlicher Kreisläufe (u.a. durch Direktvermarktung und regionale Handelspartnerschaften), spezielle Kredit- und Anlagesysteme, also sogenannte Community Financed Agriculture, Ansätze wie Bio-Bienen-Patenschaften, »Miethühner«, Rent-an-apple tree oder Initiativen wie Wein gegen Rassismus. Differenzen und verbindende Elemente sind im Detail herauszuarbeiten beziehungsweise zu diskutieren. Als verbindende Elemente eines so verstandenen Solidarischen Landwirtschaftens verstehe ich jedenfalls die

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Vgl. Solidarische Landwirtschaft. URL: https://www.solidarische-landwirtschaft.org/solawisfinden/auflistung/solawis/ [Letzter Zugriff am 20.7.2019]. Vgl. Bergische Solawi. URL: https://www.bergische-solawi.de/aktuelles/ [Letzter Zugriff am 15.1.2019]

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titelgebenden Fluchtpunkte Alltag, Gesellschaft und Utopie; eben einer »konkreten Utopie«, die nicht fiktiv ist, sondern prinzipiell erreichbar erscheint und an deren Umsetzung im Alltag individuell wie kollektiv partizipiert werden kann.58 Mit Konrad Kuhn ließe sich in diesem Zusammenhang von »Zukunftspraxen« sprechen.59 Es geht um die Suche und Erprobung alternativer Formen der Produktion, der Verteilung und des Konsums von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, eine zumindest latente Gesellschaftskritik, etwa hinsichtlich wahrgenommener Fehlentwicklungen in den Bereichen intensivierter, kapitalorientierter Landwirtschaft – vor allem hinsichtlich ökologischer Nebenfolgen. Dabei stehen oftmals Ressourcenverbrauch, Globalisierung, Tierwohl und Artenvielfalt, Entfremdungen der VerbraucherInnen im Umgang mit Lebensmitteln, Prekaritäten im Agrarsektor und Ähnliches mehr im Vordergrund.60 Inzwischen popularisiert selbst das Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) Solidarische Landwirtschaft, welche explizit als eine »bäuerliche Landwirtschaft« verstanden wird, die neben »fairen Löhnen« auch eine »hohe biologische Vielfalt« verspreche und zum Aufbau und Erhalt eines gesunden, überlebensfähigen Hoforganismus beitrage.61 Kern der verschiedenen Ansätze ist dabei eine spezifische Auslegung von Solidarität, die im Einzelfall durchaus different ausfallen kann, die aber tendenziell auf Konzepte wie Verantwortung, Gemeinwohl oder Fairness zielen, nicht auf Gewinnmaximierung oder eine rein individuelle Bevorteilung. Hier können beispielsweise Hofgemeinschaften im Fokus stehen, die Unterstützung einer Region, in der man sich beheimatet fühlt, die Inklusion marginalisierter Personen oder Gruppen – häufig Menschen mit Behinderung oder zum Beispiel Geflüchtete –, die Aufwertung von Familie oder Familienbetrieben.62 Aufbauend auf ersten Explorationen sollten sich, so die Annahme, Regime einer Re-Kulturalisierung von Landwirtschaft analysieren lassen, die auf eine Überwindung jener dominant industriellen Formen zielen, die sich vor allem im fortschrei58 59 60 61 62

Vgl. weiterführend Wright 2017; Brie 2015. Kuhn 2019, S. 223; vgl. Winterberg 2019, S. 239. Vgl. zu zivilgesellschaftlichen Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitspraktiken auch Wellner/Theuvsen 2017, S. 235-244. Siehe https://www.bzfe.de/inhalt/solidarische-landwirtschaft-31086.html [Letzter Zugriff am 20.7.2019]. Wie verschieden Visionen einer vermeintlich ›guten‹ oder ›richtigen‹ Landwirtschaft ausfallen können, lässt sich mit Verweis auf die sogenannten »Neo-Artamanen« zeigen. Bis vor wenigen Jahren noch weitgehend unbekannt, begegnen entsprechende Initiativen inzwischen auch in populären Formaten wie der Krimi-Reihe Tatort einer breiteren Öffentlichkeit. In mutmaßlich eher loser Anlehnung an den 1926 gegründeten Siedlungsbund der Artamanen zielen sogenannte »Völkische Siedler« ebenfalls auf Solidaritäten: unter Slogans wie »frei – sozial – national« aber offensichtlich auf gänzlich andere als beispielsweise der Wein gegen Rassismus. Vgl. weiterführend Kater 1971, S. 577-638.

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tenden 20. Jahrhundert verstetigten und die im Übergang zum 21. Jahrhundert allmählich brüchig werden. Ulrich Ermann et al. sprechen in diesem Zusammenhang von »Nahrungsregimen«63 . Meines Erachtens verdichten sich veränderte kulturelle Formationen, in denen spezifische Aspekte von Landwirtschaft, von Handel und Konsum, von Gemeinschaft etc. symbolisch aufgeladen und umgedeutet werden, so dass es (zum Beispiel via Ästhetisierung und Medialisierung) zu Diskursverschiebungen, Neubewertungen und allgemein zu veränderten Wahrnehmungen und Deutungen von Landwirtschaft und Ernährung kommt. Hier spielen beispielsweise auch jüngere Phänomene wie Ernährungsräte oder die zunehmend populären Essbaren Städte eine Rolle.64 Aber es geht dabei eben nicht zuletzt auch um Vorstellungen von Land und Ländlichkeit, die es auch kulturanalytisch zu fassen gilt. Doch ist solidarisches Landwirtschaften tatsächlich ein »ländliches« Sujet? Initiativen sind nicht selten stadtnah angesiedelt. Und ihre medialen Repräsentationen können sogar den Eindruck erwecken, dass Solawi ein spezifisch urban geprägtes Phänomen sei: AkteurInnen der Gemeinschaften leben oder agieren häufig im urbanen Umfeld, der Transfer von Ernte in die Stadt ist ebenfalls bedeutsam. Mein Eindruck ist, dass auch der Grunddiskurs urban geprägt ist, ebenso der politische Anspruch und die Bildungsarbeit. Auf dem Land scheinen mir teils weniger die Utopien denn vielleicht das ökonomische Experiment für Hofbesitzerinnen und -pächter zentral zu sein. Gleichwohl spielen ›Ländlichkeit‹ und hier insbesondere Bilder und Vorstellungen von Land, Landleben und eben doch auch einer Utopie von ›neuer‹ oder ›guter‹ Landwirtschaft eine zentrale Rolle. Ländlichkeit sollte daher stärker auch über ihre (idealisierte) Imagination gedacht werden, die mitunter an Verlusterfahrung und -ängste gekoppelt, also eher mit dem Erinnern und Imaginieren eines ›guten Lebens auf dem Land‹ verbunden sein können. Die gesellschaftliche Bedeutung derartiger Restrukturierungen »kultureller Bedeutungsgewebe«65 – hier gefasst als kulturelle Formationen solidarischen Landwirtschaftens – würde sich, so meine abschließende These, weniger über eine Skalierbarkeit66 des Phänomens Solawi bemessen, sondern hinsichtlich einer Popularisierung damit verbundener Werte, Symbole und Bilder. Inwieweit dies mittelfristig dazu beitragen könnte, Veränderungsleistungen im Agrar- und Ernäh-

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Ermann 2018, S. 19. Vgl. Stierand 2016, S. 130; Kreutzberger 2017; Kosack 2016, S. 138-144. Geertz 1983, S. 9. Gleichwohl finden sich weltweit deutlich skalierte Varianten des Phänomens. Verwiesen sei exemplarisch auf Hansalim: Der größten Organisation Solidarischen Landwirtschaftens in Südkorea gehören tausende Höfe an, die Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgen, über diverse Verteilerkooperativen sowie ein eigenes Liefersystem verfügen und zudem zahlreiche Bioläden ansteuern. Vgl. Seungkwon 2019.

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rungssektor insgesamt anzustoßen, zu beschleunigen oder zu lenken, bliebe auch kulturwissenschaftlich kritisch zu verfolgen.

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Alltag – Gesellschaft – Utopie

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rung am Beispiel der Gärtnerei Wurzelwerk (Universität Kassel/Witzenhausen: Masterarbeit 2012). Kunzmann, M.: Ernährungssouveränität durch Solidarische Landwirtschaft? Eine Suche nach den solidarischen Prinzipien in den Initiativen bei Göttingen (Universität Göttingen: Masterarbeit 2015). Mikoleit, R.: »Ein bisschen pioniermäßig unterwegs«. Die Umsetzung der solidarischen Landwirtschaft am Fallbeispiel der GartenCoop Freiburg aus soziologischer Perspektive (Universität Freiburg i.Br.: Bachelorarbeit 2012). Müller, S.: Welchen Einfluss hat die Anwendung von Name-Your-Own-Price auf die Solidarität unter den Mitgliedern in einer Solidarischen Landwirtschaft? (Universität Kassel/Witzenhausen: Bachelorarbeit 2017). Reymann, A.: Anbauplanung in der Solidarischen Landwirtschaft – Die Entwicklung einer bedarfsgerechten Ausrichtung der Gemüseversorgung (Universität Kassel/Witzenhausen: Bachelorarbeit 2014). Schewina, K.: Solidarische Landwirtschaft als Policy Practice. Eine kulturanthropologische Fallstudie aus dem Rhein-Main-Gebiet. (Universität Frankfurt a.M.: Masterarbeit 2017). Schroth, M.: Solidarische Landwirtschaft entsteht – Untersuchung zum Gruppengeschehen in der Aufbauphase der Solawi Hopfenhof (Universität Hohenheim: Masterarbeit 2015). Spoerry, A.: Rechtsformen und Eigentumsverhältnisse von Solidarhöfen in Deutschland – Überblick, Anforderungen, Erfahrungen und Informationsbedarf (HNE Eberswalde: Bachelorarbeit 2013). Wakamiya, A.: Verantwortung für Landwirtschaft? Unterstützungsformen und Motivationen von Bürgern für ihr Engagement in ausgewählten landwirtschaftlichen Initiativen (Universität Kassel/Witzenhausen: Masterarbeit 2009).

Links Bergische Solawi. URL: https://www.bergische-solawi.de/aktuelles/ [Letzter Zugriff am 15.1.2019]. Solidarische Landwirtschaft. URL: https://www.solidarische-landwirtschaft.org/ das-konzept/ [Letzter Zugriff am 20.7.2019].

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»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht« Die Schließung von Kleinschulen in Landgemeinden Österreichs aus einer gabentheoretischen Perspektive Sigrid Kroismayr

1.

Einleitung

Die Schließung von Kleinschulen ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. Dies hängt mit verschiedenen Entwicklungen zusammen. Viele ländliche Regionen sind von einer Abwanderung der Bevölkerung betroffen, was zu einer Reduktion der Zahl der Schulkinder beiträgt und eine Schulschließung auslösen kann.1 Diese Entwicklung geht in vielen europäischen Ländern Hand in Hand mit einer neoliberal ausgerichteten Bildungspolitik, die Quantitäten vor Qualitäten stellt, indem neue Bestimmungen für die Mindestgröße einer Schule erlassen oder finanzielle Gründe als Argument für die Schulschließung vorgebracht werden.2 Auch in Österreich haben diese Entwicklungen zu einem markanten Anstieg von Schulschließungen geführt, wobei vor allem Kleinschulen, insbesondere einklassige Volksschulen betroffen waren.3 Neben diesen generellen Entwicklungen gibt es auch lokale Bedingungen, die eine Schulschließung in die Wege leiten. Dazu kann es kommen, wenn die Schule im Hauptort grundlegend saniert oder neu gebaut wird. Dadurch wird die Kleinschule in einem Ortsteil als veraltet betrachtet und von der Gemeinde als Eigentümerin des Schulgebäudes die Schließung bei den Landesbehörden beantragt. In anderen Fällen möchte man vermeiden, dass die Schule im Hauptort als Kleinschule geführt werden muss und schließt deshalb die zweite Kleinschule im Ortsteil.

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Vgl. Barakat 2015, S. 1853-1871; Bartl/Sackmann 2016, S. 321-358. Für Frankreich vgl. Chignier-Riboulon/Fournier 2007, S. 215-233; für Norwegen vgl. Knutas 2017, S. 695-712. Von Kleinschulen spricht man in Österreich, wenn zumindest zwei Klassen gemeinsam unterrichtet werden; bei einklassigen Kleinschulen findet der Unterricht aller vier Volksschulklassen gemeinsam statt.

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Ein weiterer Anlass für die Schließung kann auch die Pensionierung der Direktorin oder des Direktors der Kleinschule sein. Unabhängig davon, ob die Schließung von der Gemeinde selbst oder von der Landesregierung ausgeht, immer liegt es an der politischen Vertretung, in aller Regel dem Bürgermeister oder der Bürgermeisterin, diese Entscheidung der lokalen Bevölkerung zu kommunizieren. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn selbst wenn die Entscheidung vom Land ausgeht, kann die Bevölkerung dies den lokalen, politisch Verantwortlichen zulasten legen und ihnen vorwerfen, dass sie sich nicht genug für die Gemeinde eingesetzt hätten. Diese Situation bildet den Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag. Es wird der Frage nachgegangen, wie der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin das Vorhaben der Kleinschulschließung der Bevölkerung nahebringt. Dabei soll das Augenmerk auf die Vereinbarungen und Abmachungen gerichtet werden, die während oder nach dem Schließungsprozess getroffen werden, um potenzielle Konflikte zu kalmieren und eine gewisse Akzeptanz für die Entscheidung herbeizuführen. Gerade kleine Gemeinden sind häufig der Schauplatz einer Kleinschulschließung. In Österreich haben 54 Prozent der Gemeinden nicht mehr als 2.000 EinwohnerInnen. Für das Zusammenleben bedeutet dies, dass man sich mehr oder weniger gut kennt und auch bei diversen Anlässen zusammentrifft, wie beim Einkauf, bei ÄrztInnen, auf der Bank oder bei kirchlichen Anlässen und Gemeindefesten. Konsensuale Lösungen in einer Konfliktsituation sind daher wichtig, um die Stabilität und ein gutes Miteinander innerhalb der Bevölkerung sowie zwischen politischer Vertretung und Gemeindebevölkerung zu wahren. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Um die Situation theoretisch zu verorten, wird das Gabe-Theorem von Marcel Mauss aufgegriffen und seine Anwendbarkeit auf die Situation einer Kleinschulschließung diskutiert. Danach folgen Angaben zur Erhebung und Auswertung des Datenmaterials, das aus 30 qualitativen Interviews mit BürgermeisterInnen besteht, in deren Gemeinde eine oder mehrere Kleinschulen geschlossen wurden. Im anschließenden Ergebnisteil werden die verschiedenen Vereinbarungen vorgestellt, die im Zuge des Schulschließungsprozesses zum Einsatz kommen. In diesem Zusammenhang wird auch auf jene Fälle näher eingegangen, in denen diese Strategie ihr Ziel verfehlte und die Schließung trotz der Gabeangebote der Gemeindevertretung beträchtliche Konflikte und Spannungen hervorgerufen hat. Der Beitrag schließt mit zusammenfassenden Überlegungen und einen Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf.

2.

Theoretischer Hintergrund

Der Vorschlag, das Konzept der Gabe von Marcel Mauss als theoretischen Rahmen für Schulschließungsprozesse zu verwenden, mag zunächst befremdlich klingen.

»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht«

Wie kann dieser Ansatz, den Mauss anhand des Studiums von Austauschbeziehungen in archaischen Gesellschaften entwickelte, zum Verständnis von modernen Lebensrealitäten im globalen Norden, konkret, zum Verständnis von Schulschließungsprozessen in kleinen Gemeinden beitragen? In der Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, auf das Bezug zu nehmen, was Mauss als »System totaler Leistungen« bezeichnet hat.4 Dieses lässt sich durch drei Merkmale charakterisieren: »Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; […] Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten, sei’s als Gruppe auf dem Terrain selbst, sei’s durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auch auf beide Weisen zugleich. Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, […], bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist. Schließlich vollziehen sich diese Leistungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenke, Gaben, obwohl sie im Grund streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten und öffentlichen Kriegs. Wir haben vorgeschlagen, all dies das System der totalen Leistungen zu nennen.«5 Alle drei Merkmale dieser »totalen Leistungen«, das heißt das Auftreten von kollektiven Akteuren, die Bedeutung von nicht-monetären, immateriellen Gütern in den Austauschbeziehungen sowie der verpflichtende Charakter der Gegenleistungen lassen sich in der einen oder anderen Form auch bei der Schließung von Kleinschulen finden. Kollektive AkteurInnen spielen hier insofern eine Rolle, als dass in Schulschließungsprozessen verschiedene Interessensgruppen involviert sind. So kann eine Gruppe sich für den Erhalt der Schule stark machen, während eine andere aktiv die Schließung betreibt. Mauss verweist auch ausdrücklich auf die Repräsentation von Gruppen durch Stammesführer, weshalb die Beziehung einer Bevölkerungsgruppe zur Gemeindevertretung sich in das Konzept der Gabe einordnen lässt. Nicht selten sind die sich gegenüberstehenden Gruppen mit unterschiedlich viel Macht ausgestattet. Dieses Machtungleichgewicht bringt das politische Potenzial der ›Gabe‹ ins Spiel. Kollektive AkteurInnen versuchen mit anderen für oder gegen

4

5

Mauss sprach von »prestations« und »contre-prestation«, womit der Austausch von Geschenken und Dienstleistungen gemeint war. Indem es im Englischen kein äquivalentes Wort gibt, hat der Übersetzer, der Kürze willen den Begriff »total services« und »total counter-services« eingeführt. Vgl. Mauss 2000, S. vi. Im Deutschen ist dann daraus das »System totaler Leistungen« geworden. Mauss 1990, S. 21-22.

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etwas Allianzen zu bilden, um Interessen durchzusetzen.6 Wenn eine kleine Schule Gefahr läuft, geschlossen zu werden, kann die Bildung von Allianzen, zum Beispiel durch die Mobilisierung weiterer Bevölkerungsteile oder lokaler Medien, ein erster Teil der Strategie sein, um die Verhandlungsmacht zu stärken und die Schließung zu verzögern und sogar zu verhindern. Maussʼ zweiter Punkt verweist auf den interessanten Aspekt, dass in archaischen Gesellschaften die Begegnung zwischen Gruppen primär durch den Austausch von Höflichkeiten und Annehmlichkeiten (z.B. Tänzen) bestimmt ist und wirtschaftliche Transaktionen immer in diese kulturellen Praktiken eingebettet sind. Dieser Aspekt kommt auch im Zuge der Debatten rund um eine Schulschließung sowie nach der Schließung zum Tragen. In der Begegnung zwischen den involvierten Gruppen spielen diese nicht-wirtschaftlichen Übereinkünfte und Austauschformen ebenfalls eine wichtige Rolle, wie noch zu zeigen sein wird. Dies führt zum dritten Merkmal: dem verpflichtenden Charakter dieser Austauschformen. Oberflächlich betrachtet scheint die ›Gabe‹ auf freiwilliger Basis gegeben worden zu sein. Die Erfüllung von Vereinbarungen findet jedoch nicht sofort statt – wie es in der Regel der Fall ist, wenn etwas mit Geld gekauft wird –, sondern es besteht eine strukturelle Unsicherheit. Zwischen der Abmachung und dem Erfüllen dieser Abmachung besteht eine zeitliche Kluft. Für Caillé ist dieser zeitverzögerte Effekt der ›Gabe‹ das fehlende Glied, das erklärt, wie soziale Beziehungen überhaupt entstehen und wie Vertrauen zwischen Menschen aufgebaut wird. In dieser Unsicherheit des Erwiderns liegt die »Uneigennützigkeit« der ersten Gabe, die für die Entstehung sozialer Beziehungen entscheidend ist und ohne diese es »sehr genau nichts« gäbe, eine Tatsache, die aus seiner Sicht stark unterschätzt wird.7 Für die Schließung von Kleinschulen ist dies insofern von Bedeutung, als dass das soziale Gefüge in diesen Gemeinden durch mehr oder weniger enge Kontakte geprägt ist. Sich um eine Akzeptanz der Schließung in der Bevölkerung zu bemühen, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass soziale Kontakte weiterhin freundschaftlich verlaufen. Wodurch das im Einzelnen erzielt wird, das heißt, durch welche ›Gaben‹ die Situation der strukturellen Unsicherheit gelöst wird, um es der lokalen Bevölkerung zu erleichtern, die Entscheidung zur Schließung zu akzeptieren, wird Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein.

6 7

Caillé 2006, S. 161-214. Ebd., S. 182.

»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht«

3.

Methodische Vorgehensweise

Das in diesem Beitrag präsentierte Datenmaterial stammt aus einem zwischen 2013 und 2015 durchgeführten Forschungsprojekt. Ziel der Studie war es, das Ausmaß an Kleinschulschließungen im ländlichen Raum Österreichs zu erfassen sowie Erkenntnisse zum Ablauf des Schließungsprozesses und der damit verbundenen Folgen für die Gemeinde zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurde zunächst mit den Bildungsabteilungen aller Bundesländer – mit Ausnahme von Wien – Kontakt aufgenommen und es wurden Auskünfte über die Zahl Schulschließungen im Volksschulbereich erbeten. Auf Basis dieser Informationen wurden dann alle Gemeinden telefonisch kontaktiert, um Kontextinformationen zu der (oder den) Schulschließung(en) – einige Gemeinden schlossen mehr als eine Kleinschule – einzuholen. Dies beinhaltete die Anzahl der SchülerInnen zum Zeitpunkt der Schließung, das Jahr der Schließung, die Zahl der geschlossenen Volksschulen, die Entfernung zur nächsten Schule sowie die verbleibende Anzahl der Schulen in der Gemeinde. Diese Erhebungen zeigten, dass in Österreich zwischen 2001 und 2014 insgesamt 230 Kleinschulen in 191 Landgemeinden geschlossen wurden. Im Weiteren wurde für jedes Bundesland ein Stichprobenplan erstellt, der neben den Kontextinformationen zur Schließung auch die Größe der Gemeinde sowie den Bezirk berücksichtigte. Aus jedem Bundesland wurden einerseits ›typische‹ beziehungsweise repräsentative Gemeinden ausgewählt, andererseits aber auch auf eine gewisse Breite der ausgewählten Fälle geachtet. Die Zahl der ausgewählten Gemeinden pro Bundesland wurde proportional abhängig von der Zahl der Schließungen festgelegt. Insgesamt wurden 30 Gemeinden ausgewählt. Diese Entscheidung verdankte sich der Überlegung, eine hinreichend große Stichprobe zu haben, die im Rahmen des Forschungsprojekts angemessen zu bearbeiten war. Daraufhin wurden die BürgermeisterInnen dieser 30 Gemeinden um ein persönliches Gespräch über die stattgefundenen Kleinschulschließungen gebeten und ein Termin vereinbart. Bis auf eine Ausnahme haben alle sofort einer Befragung zugestimmt. Die Gemeinde, die kein Interesse an der Untersuchung hatte, wurde dann durch eine andere ersetzt. Die qualitativen Interviews fanden zwischen August und Oktober 2014 in den Gemeindeämtern statt und dauerten durchschnittlich zwischen einer Dreiviertelstunde und einer Stunde. Die Interviews wurden eingeleitet mit der Bitte zu beschreiben, wie es zur Schließung der örtlichen Kleinschule(n) in der Gemeinde gekommen ist. Je nach Verlauf des Interviews wurden weitere Themen eingebracht, wie zum Beispiel die Reaktion der Bevölkerung sowie der LehrerInnen, finanzielle Aspekte der Schließung, Transport, Auswirkungen auf das Gemeindeleben und die Nachnutzung des ehemaligen Schulgebäudes. Alle Interviews wurden aufgezeichnet und wortwörtlich in Standardsprache transkribiert.

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Sigrid Kroismayr

Anschließend wurden die Transkripte sorgfältig gelesen und kodiert, das heißt mit der Vergabe von Kategorien und Unterkategorien begonnen. Einige der Hauptkategorien wurden direkt aus den Interviewleitfäden übernommen (siehe oben), während andere, wie zum Beispiel das Konzept der Gabe, das hier im Mittelpunkt des Beitrages steht, aus dem Material selbst abgeleitet wurde. Bei der Lektüre der Interviews hatte die Autorin den Eindruck, dass es auf kommunaler Seite den Wunsch gab, die lokale Bevölkerung für den Verlust der Schule zu entschädigen. Dies zeigte sich besonders deutlich in jenen Fällen, in denen Vereinbarungen für das Abhalten von Festen ausgehandelt wurden oder auch in der Nachnutzung des Schulgebäudes. Hervorzuheben ist, dass die BürgermeisterInnen aufgrund ihrer politischen Position eine spezielle Gruppe von Befragten sind. Indem sie die Gemeinde nach innen und außen repräsentieren, sind sie es gewohnt, ihre Aktivitäten und Entscheidungen in einem positiven Lichte darzustellen. Im Kontext von Schulschließungen könnte sich dies in einer Tendenz zeigen, Konflikte innerhalb der lokalen Bevölkerung generell herunterzuspielen und den Schließungsprozess harmonischer zu präsentieren, als er tatsächlich stattgefunden hat. Für den hier gewählten Fokus dürften diese Bedenken jedoch von untergeordneter Bedeutung sein, da die Praktiken der ›Gabe‹ kein explizites Thema in den Interviews waren, sondern von den Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen selbst angesprochen wurden. Das bedeutet, dass sie im Gespräch nicht gedrängt oder verpflichtet waren, erwünschte Antworten zu geben. Da nur die politische Vertretung der Gemeinde die Befugnis hat, solche ›Gesten der Versöhnung‹ überhaupt zu offerieren, erscheint es auch legitim, ihre Perspektive bevorzugt darzustellen.

4.

Ergebnisse

Im Folgenden werden die verschiedenen Formen der Vereinbarungen und Angebote präsentiert, die von der Gemeinde als Versöhnungs- und Ausgleichsgaben offeriert werden, um die Bedenken und den Widerstand gegen die Schließung der Kleinschule in der lokalen Bevölkerung zu zerstreuen. Tabelle 1 präsentiert einen quantitativen Überblick über die Verbreitung der einzelnen Gabepraktiken und gibt an, wann diese im Schließungsprozess relevant werden. Erfolgt die Gabenofferte gleich zu Beginn eines Schließungsprozesses, handelt es sich meist um eine Restrukturierung des Angebots an den bestehenden (kleinen) Volksschulen und dem Gemeindekindergarten. Ausgelöst werden diese Überlegungen aufgrund notwendiger Gebäudesanierungen sowie Anpassungen an die Nachfrage. Die Umgestaltung der ehemaligen Schule in einen Kindergarten kann aber auch zu einem späteren Zeitpunkt ein Thema werden.

»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht«

Während des Schließungsprozesses selbst geht es um die Organisation des zukünftigen Schulalltags. Es lässt sich in manchen Schließungsprozessen das Bestreben feststellen, den Übergang für Eltern und Kinder aus der Kleinschule in die neue Schule so friktionsfrei wie möglich zu gestalten. Wenn sehr beliebte Lehrpersonen von der neuen Schule übernommen werden können, ist die Schließung für die Eltern leichter zu akzeptieren. Aber auch der Transport der Schulkinder zur neuen Schule ist ein wichtiges Thema in diesen Diskussionen. Des Weiteren geht es in dieser Phase oft darum, der örtlichen Bevölkerung die von ihnen vorgebrachten Ängste zu nehmen. Die BürgermeisterInnen berichten, dass durch die im Raum stehende Schließung die Eltern und Großeltern den Verlust ihres sozialen und kulturellen Lebens fürchten, da die mit dem Schuljahr verbundenen Feierlichkeiten nun woanders stattfinden. Nach der Schließung steht die Frage im Mittelpunkt, was die Gemeinde mit dem Schulgebäude vorhat, und wie das Gebäude weiterhin genutzt werden soll. Tabelle 1: Übersicht über die »Gaben« der Gemeinde an die lokale Bevölkerung Zeitpunkt der Relevanz

Formen der ›Gaben‹

Zahl der Gemeinden

Vor, während und nach der Schließung

Die Schule wird zum Kindergarten umgestaltet.

5

Während der Schließung

Lehrpersonal der Kleinschule wird von der neuen Schule übernommen

2

Arrangements bezüglich der Organisation des Schulkindertransports werden getroffen.

3

Neue Arrangements bezüglich des Abhaltens von Feierlichkeiten werden getroffen.

7

Die Schule wird von lokalen Vereinen genutzt.

13

Die Schule wird an ein Unternehmen vermietet.

3

Die Räumlichkeiten der Schule werden als Gemeindewohnungen verwendet.

3

Die Schule wird an jemanden aus der lokalen Bevölkerung verkauft.

3

Der öffentliche Charakter der Schule bleibt trotz Verkaufs erhalten.

3

Nach der Schulschließung

Da es den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde, alle Formen im Detail vorzustellen und mit Interviewzitaten zu veranschaulichen, wird eine Auswahl getroffen, die sich an den am meisten verbreiteten und für die lokale Bevölkerung

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bedeutsamsten Gabeformen orientiert und alle Phasen des Schließungsprozesses abdeckt.8 Im Folgenden wird auf die Umgestaltung in einem Kindergarten, den Austausch von Feierlichkeiten sowie die Nachnutzung durch lokale Vereine eingegangen. Am Ende des Abschnitts werden einige Überlegungen zu den möglichen Gründen angestellt, warum die Gemeindevertretung nicht in der Lage war, trotz der offerierten ›Gaben‹ die lokale Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen.

4.1.

Die Schule wird zum Kindergarten umgestaltet

In zwei Gemeinden startete die Schließungsdebatte durch die Notwendigkeit, die Standorte von Volksschulen und Kindergarten neu organisieren zu müssen. Diese Situation war in beiden Fällen dadurch entstanden, dass die Zahl der Schulkinder rückläufig war, während es eine steigende Nachfrage nach Kindergartenplätzen gab – ein Trend, mit dem viele ländliche Regionen konfrontiert sind.9 Gleichzeitig waren die Schulgebäude im Hauptort renovierungsbedürftig. Um diese Situation zu lösen, entschloss man sich, die Volksschule im Hauptort zu modernisieren und in der Kleinschule im Ortsteil den Gemeindekindergarten unterzubringen. Ein Bürgermeister wies darauf hin, dass sich der Standort der Kleinschule im Ortsteil besonders als Kindergarten eignete, da dort die Schule von einem großen Garten umgeben war. Beide Bürgermeister hielten diese Entscheidung unter den gegebenen Umständen auch für die finanziell beste Lösung: »In [Hauptort] ist die Schule in den sechziger Jahren erbaut worden und [es] war auch dringend nötig, dass eine Sanierung gemacht wird. Das Gleiche auch in [Ortsteil]. In der Zwischenzeit ist das aber auch gekommen, dass die Zahl der Kinder tatsächlich sehr stark zurückgegangen ist. […] Und somit ist das auch gelungen, dass wir eben dieses Vorhaben im Gemeinderat durchgebracht haben.« (Interview 6, S. 2) Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, dass die Bevölkerung im Ortsteil immer ein Einsehen hat, auch wenn dafür der Gemeindekindergarten an ihrem Standort angesiedelt wird. Gerade in der zweiten Gemeinde kam es zwischen örtlicher Bevölkerung und Gemeindevertretung zu beträchtlichen Spannungen, worauf weiten unten genauer eingegangen wird.

4.2.

Vereinbarungen über den Austausch von Feierlichkeiten

»Aber sie machen wie gesagt eben Fronleichnam machen sie da drüben, einmal in Ortsteil und einmal da, wechseln so hin und her, net. Und zum Muttertag und

8 9

Für weitere Informationen vgl. Kroismayr 2017, S. 43-58; sowie Kroismayr 2019. Kuepper/Steinführer 2015, S. 44-60.

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so Anlässe, die es halt eben gibt, net, da wechseln sie halt so ein bisschen, net. Und das funktioniert aber ausgezeichnet. Einmal sind die Anderen da, einmal die Anderen drüben, und wie gesagt, harmoniert. Gibt es kein Problem.« (Interview 8, S. 8)   »Aber auch aufgeteilt, mit der Stammschule in [Hauptort], sowie ich einmal so, das ist für jeden Ortsteil, es gibt zum Beispiel Altentage, wo ältere Leute einmal eingeladen werden zum Essen, wo man sich bei ihnen bedankt für die Arbeit, die sie geleistet haben. […] Jetzt haben wir eine Aufteilung, in jeden Ort geht es zum Beispiel in, nach [Ortsteil 1] die erste Klasse, nach [Ortsteil 2] die zweite Klasse, nach [Hauptort] die dritte Klasse, dass überall wieder Kinder da sind.« (Interview 30, S. 5) Diese Formen der Kooperation beschränken sich jedoch nicht nur auf die Zusammenarbeit zwischen Ortsteil und Gemeindevertretung, sondern können auch zwischen zwei eigenständigen Gemeinden vorkommen. Ein Bürgermeister berichtete, dass man sich im Zuge der Schließung der letzten Schule im Ort mit einer gleichgroßen Nachbargemeinde zusammengetan hat, obwohl eigentlich von der Landesbehörde die Zusammenarbeit mit einer anderen Gemeinde angedacht war. Ausschlaggebend war, dass in Bezug auf die Größe der zwei Gemeinden »nicht irgendwo einer der Stärkere ist und einer der Schwächere, weil sonst hat man doch das Gefühl, dass man als kleinere Gemeinde dann einmal unter die Räder kommt« (Interview 21, S. 7). Dies bot die Grundlage, Vereinbarungen in Bezug auf die Organisation von Festen und Feiern zu treffen. So hat man die Abmachung getroffen, dass die Erstkommunion im jährlichen Wechsel einmal in der eigenen Gemeinde, dann in der anderen stattfindet, obwohl diese üblicherweise immer am Schulstandort abgehalten wird. Des Weiteren findet nach wie vor der Kinderfasching in der Gemeinde statt, der immer vom Elternverein organisiert wird und wo nun auch die Eltern der Nachbargemeinde, wo die Kinder zur Schule gehen, eingeladen sind.

4.3.

Die Schule als Veranstaltungsort für örtliche Vereine

In dreizehn Gemeinden dient die Schule nach wie vor als Treffpunkt für lokale Vereine. Das Gebäude wird dabei von ganz unterschiedlichen Gruppen wie der Freiwilligen Feuerwehr, dem Gesangsverein, der Musikkapelle, dem Fußballverein, der Gymnastikgruppe, dem Jugendclub, dem Seniorenclub oder einer Theatergruppe genutzt, um nur die häufigsten Vereine am Land zu nennen. Die Auslastung der Gebäude variiert dabei zwischen mehrmals bis einmal in der Woche. Neben der Nutzung durch die Vereine befinden sich im Gebäude auch oft ein, oder zwei Wohnungen, sodass das Haus in der Regel täglich frequentiert wird.

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Viele der örtlichen Vereine dürften das Schulgebäude auch schon vor der Schließung als Veranstaltungs- oder Proberaum genutzt haben. Gerade in Bezug auf die Nachnutzung des Schulgebäudes tritt der ambivalente Charakter der Gabe zutage. Rein rechtlich könnte die Gemeinde als Eigentümerin über das Schulgebäude frei verfügen, und es scheint, dass die Gemeinde auf freiwilliger Basis die Instandhaltungskosten des Gebäudes übernimmt. Praktisch sind es jedoch die Erwartungen der Bevölkerung, die das Verhalten der Gemeinde bestimmen. Exemplarisch zeigt sich dies etwa in einem Fall, in dem das Gebäude verkauft wurde. Dort hat man mit dem Käufer vereinbart, dass die lokale Bevölkerung das Recht hat, den Turnsaal für Feste zu nutzen und man dafür als Gemeinde die Instandhaltungskosten übernimmt. Zwar hält der Bürgermeister diese Vereinbarung im Nachhinein für unsinnig, »aber damals, wegen dieser Schließung, war es der einzige Weg, die Bevölkerung an Bord zu bekommen« (Interview 3, S. 12). Diese Aussage zeigt, dass sich die Gemeinde verpflichtet fühlt, auf die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung eingehen. Hätte sie es nicht getan, wäre der Schließungsprozess und die Situation danach von erheblichen Spannungen gekennzeichnet gewesen. In zwei Gemeinden wurde das Schulgebäude nach der Schließung sogar renoviert beziehungsweise neu gebaut, um es als attraktiven Treffpunkt zu etablieren. Ein Bürgermeister berichtet, dass man das ehemalige Schulgebäude abgerissen hat und an dessen Stelle ein neues Mehrzweckgebäude errichtet hat, mit Feuerwache, Clubräumen, Sportplatz sowie vier Wohneinheiten im ersten Stock, die alle an Einheimische vermietet sind. Er meint dazu: »Also, da glaube ich auch, haben wir ein sehr durchdachtes Projekt dann auf die Beine gestellt, und das wird gut angenommen, ja.« (Interview 4, S. 4). In der anderen Gemeinde waren die baulichen Veränderungen wesentlich weniger umfangreich, dennoch wurden sie in der Absicht getätigt, die Bevölkerung für die Schließung der Schule in gewisser Weise zu entschädigen. Er erzählt: »Die Sanierung hat 70.000 Euro gekostet. Aber da unten, da haben wir so einen Raum gehabt, wo die Sänger, die waren auf kleinsten Raum, ich glaube 33 Sänger auf 35 Quadratmeter. Ja, die haben jetzt natürlich eine Schulklasse gekriegt. Es ist alles gemacht worden, Küche hinein und echt einen tollen Proberaum. Da hast du jetzt schon mal 35 Leute, die schon sagen, na ja, na, jetzt ist es schon fein bei uns, nicht.« (Interview 2, S. 5)

4.4.

Exkurs über die Ablehnung von Gabeangeboten

Insgesamt ist in vier von den 30 untersuchten Gemeinden der Schließungsprozess sehr konflikthaft verlaufen. Dies bedeutet, dass entweder die BürgermeisterInnen oder die Mitglieder des Gemeinderats untergriffigen verbalen Attacken ausgesetzt waren – in einem Fall hat es sogar Morddrohungen gegeben – und eine sehr an-

»Und wir haben das ganz gut über die Bühne gebracht«

gespannte Stimmung in der Gemeinde herrschte. Typisch für solche Verläufe war, dass die Entscheidung zur Schließung der Schule im Gemeinderat nicht einstimmig getroffen wurde und die Feindseligkeiten innerhalb der Bevölkerung und zwischen Gemeindevertretung und Bevölkerung noch lange Zeit nach der Schließung fortbestehen. Dies bedeutet, dass man sich nicht mehr grüßt und der Kontakt zu bestimmten Personen vermieden wird. In diesem Abschnitt werden nun die Umstände von jenen zwei Gemeinden genauer besprochen, in denen trotz eines Gabeangebots der Widerstand der lokalen Bevölkerung nicht abgeschwächt werden konnte: In beiden Gemeinden sollte das Schulgebäude in einen Kindergarten umgewandelt werden – in einem Fall für die Kinder im Ortsteil und im anderen Fall für alle Kinder der Gemeinde. Während in anderen Fällen die Adaptierung der ehemaligen Schule in einen Kindergarten als angemessene Kompensation angesehen wurde, konnte in diesen beiden Fällen die Empörung der lokalen Bevölkerung über die Schließungsabsicht dadurch nicht gemildert werden. Dafür könnte das Zusammenspiel von mehreren Faktoren ausschlaggebend gewesen sein. Die betreffenden Gemeinden liegen beide in Tirol, einem Bundesland, das im Vergleich zu anderen Bundesländern auf eine lange Tradition der Eigenständigkeit kleiner Gemeinden zurückblicken kann und wo es auch kaum Gemeindefusionen gegeben hat.10 Interessant ist, dass die betreffenden Orte auch eine eigene Geschichte aufweisen, die sich von jener des Hauptorts in der Gemeinde deutlich unterscheidet. Bedingt wurde dies räumlich, da beide Orte sich am Rande der Gemeinde befinden. Ein Bürgermeister beschrieb dies im Interview wie folgt: »Sie waren immer etwas isoliert. Sie haben ihre eigene Feuerwehr, ihre eigenen Vereine und der soziale Zusammenhalt ist sicherlich viel stärker als im Rest der Gemeinde.« (Interview 2, S. 15) Diese Beschreibung trifft auch auf den anderen Ort zu. Allerdings ist in dieser Gemeinde die Lage am Rand durch die Nähe zu einer größeren Stadt gekennzeichnet, die nur einen Kilometer entfernt liegt. Kirchlich ist die Bevölkerung auch in die Pfarre der Stadtgemeinde eingegliedert. Während sich der soziale und kulturelle Sonderweg in einem Fall durch die Abgeschiedenheit des Orts erklären lässt, ist er im anderen Fall durch die Nähe zum Stadtleben bedingt. Hinzu kommt, dass der lokalen Bevölkerung die Schließungsabsichten auf eine etwas abrupte Art und Weise mitgeteilt wurden. Beide Bürgermeister haben im Interview auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. So gab ein Bürgermeister zu, dass seine Vorgehensweise vielleicht ein bisschen »frech« war, da er ohne entsprechende Rücksprache mit der Bevölkerung die Schließung der Kleinschule auf die Tagesordnung der Gemeinderatssitzung gesetzt hatte (Interview 2, S. 9). Der andere Bürgermeister verwies auf den Umstand, dass die Diskussion »irgendwie« begann und die Gemeinde die Angelegenheit unzureichend 10

Meusburger/Kramer 1991, S. 185.

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vorbereitet hatte, um das Anliegen der Bevölkerung zu kommunizieren: »Man ist nie mit einem vorbereiteten Konzept ah, darauf hingegangen und hat gesagt, das sind die Fakten, so schaut es aus.« (Interview 13, S. 9). Zumindest in diesen beiden Fällen dürfte die Kommunikation eine entscheidende Rolle gespielt haben und ein wesentlicher Grund gewesen sein, warum das Angebot der Gabe, die Etablierung eines Kindergartens, kein Gehör fand und eine feindliche Stimmung während des Schließungsprozess und darüber hinaus provozierte.

5.

Zusammenfassung

In diesem Beitrag stand die Frage im Mittelpunkt, welche Vereinbarungen und Vorkehrungen von Seiten der Gemeinde getroffen wurden, um der lokalen Bevölkerung die Akzeptanz der Schließung der Kleinschule zu erleichtern, um so den sozialen Zusammenhalt sowie eine freundliche Atmosphäre innerhalb der Gemeinde zu erhalten. Diese Frage stellte sich deshalb, weil im Zuge der Befassung mit den Aussagen von BürgermeisterInnen, deren Gemeinde von Kleinschulschließungen betroffen war, der Eindruck entstand, dass die politische Vertretung mehr oder weniger bemüht war, im Rahmen ihrer Möglichkeiten der betroffenen Bevölkerung entgegen zu kommen. Diese Einstellung kann auch damit zusammenhängen, dass die betroffenen Gemeinden in der Regel nicht mehr als 2.000 EinwohnerInnen hatten, was vielfältige persönliche Kontakte innerhalb der Gemeindebevölkerung nahelegt. Theoretisch wurde dieser Sachverhalt mit dem Konzept der ›Gabe‹ interpretiert. Diese Entscheidung liegt vor allem im nicht-ökonomischen Charakter dieser Gabenpraktiken begründet, die als Mittel der gegenseitigen Anerkennung, Großzügigkeit und des Bewusstseins für moralische Verantwortung dienen.11 Die Analyse von 30 qualitativen Interviews mit Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen zeigte, dass eine Vielzahl von verschiedenen Praktiken angewendet wurde, um potenzielle Konflikte zu minimieren. Diese reichen von der Einrichtung eines Kindergartens in der ehemaligen Schule über die Sicherstellung, dass Feste und Feierlichkeiten im Ort erhalten bleiben, bis zur Nutzung des ehemaligen Schulhauses für lokale Vereine und Verbände. All diese Praktiken haben das Potenzial, zur Kontinuität des gesellschaftlichen Lebens beizutragen und die sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinde zu stabilisieren. Zählt man die Vermietung der Schule für Wohn- oder Unternehmenszwecke hinzu, ergibt sich das Bild, dass zwei Drittel der Gemeinden weiterhin das ehemalige Schulgebäude besitzen und damit für die Kosten der Instandhaltung aufkommen. Wo das Schulhaus verkauft wurde, erfolgte dies üblicherweise in Rücksprache mit der lokalen Bevölkerung, 11

Moebius 2009, S. 112.

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die sich als die eigentliche Besitzerin des Gebäudes fühlt.12 Wären die Ortsbewohnerinnen und -bewohner ignoriert worden, hätte dies einen Vertrauensbruch bedeutet, wie ihn Slee und Miller in ihrer Untersuchung über West Aberdeenshire in Schottland beschreiben, wo sich die Bevölkerung von der Behörde übergegangen fühlte, was zu einer Zerrüttung der Beziehungen zwischen der Bevölkerung und den Behörden geführt hat.13 Obwohl die Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten zum Teil zeitaufwendig waren und die gesamte Gemeinde betrafen,14 zeigen die Ergebnisse dieser Studie, dass nach konsensualen Lösungen gesucht wurde, damit auch weiterhin ein gutes Auskommen garantiert ist. Eine Missachtung dieser ungeschriebenen Normen hätte das gütliche Zusammenleben in der Gemeinde wahrscheinlich ernstlich gefährdet. Da es sich in den untersuchten Fällen um kleine Gemeinden handelt, stellt sich die Frage, ob eventuell in größeren Gemeinden, wo der direkte Kontakt zur Bevölkerung nicht gegeben sind, Schließungen in einer anderen Weise verlaufen, eventuell unpersönlicher und mit weniger politischer Bereitschaft, auf die Anliegen der Bevölkerung einzugehen. Es muss weiteren Untersuchungen überlassen bleiben, den generellen Aspekt des Gabe-Theorems zu beleuchten, das heißt zu untersuchen, wie Menschen im ländlichen Raum ihr Aufeinanderangewiesensein spüren, erfahren und gestalten und dadurch eine spezifische gesellschaftliche Verwobenheit herstellen.

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12 13 14

Vgl. Fredua-Kwarteng 2011, S. 1-26. Slee/Miller 2015, S. 90. Vgl. Šupule/Søholt 2018, S. 1070-1085.

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Sigrid Kroismayr

tractivité des territories et engagement des acteurs. Clermont-Ferrand 2007, S. 215-233. Fredua-Kwarteng, Eric: School Closures in Ontario: Who has the Final Say? In: Canadian Journal of Educational Administration and Policy 46 (2011), S. 1-26. Knutas, Agneta: Nordic education policy in retreat neoliberal economic rationalization and the rural school. In: Policy Futures in Education 6 (2017), S. 695-712. Kroismayr, Sigrid: Die Nutzung aufgelassener Schulgebäude und ihre Bedeutung für die Dorfgemeinschaft. In: Land-Berichte 20,2 (2017), S. 43-58. Kroismayr, Sigrid: Kleinschulschließunngen im Ortsteil – eine gabentheoretische Betrachtung. In: Steinführer, Annett u. a. (Hg.): Das Dorf. Soziale Prozesse und räumliche Arrangements. Münster 2019, S. 119-131. Kuepper, Patrick/Steinführer, Annett: Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen zwischen Ausdünnung und Erweiterung: ein Beitrag zur Peripherisierungsdebatte. In: Europa Regional 23,4 (2015), S. 44-60. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a.M. 1990. Mauss, Marcel: The Gift. The Form and Reason of Exchange in Archaic Societies. London 2000. Meusburger, Peter/Kramer, Caroline: Die Entwicklung des Vorarlberger Volksschulwesens zwischen 1948 und 1987 – im Vergleich zum gesamtösterreichischen Trend. In: Österreich in Geschichte und Literatur 35 (1991), S. 185-201. Moebius, Stephan: Die elementaren (Fremd-)Erfahrungen der Gabe. Sozialtheoretische Implikationen von Marcel Maussʼ Kultursoziologie der Besessenheit und des »radikalen Durkheimismus« des Collège de Sociologie. In: Berliner Journal für Soziologie 29,1 (2009), S. 104-126. Slee, Bill/Miller, Dave: School closures as a driver of rural decline in Scotland: a problem in pursuit of some evidence? In: Scottish Geographical Journal 131,2 (2015), S. 78-97. Šupule, Inese/Søholt, Susanne: Rural Municipalities and Change in Local School Structure: Comparing Room for Manoeuvre among Rural Municipalities in Latvia and Norway. In: Scandinavian Journal of Educational Research 61,7 (2017), S. 1070-1085.

Kapitel III Lehren, Schreiben, Ausstellen – Anpacken. Akademische Praxen als doing rural

»Zwischen Landlust und Landfrust« Aktuelle studentische Projekte über Imaginationen des Ländlichen Valeska Flor und Andrea Graf

Der ländliche Raum ist nicht nur aktuelles Thema in der kulturanthropologischen Forschung, auch in der universitären Lehre erfährt das Thema eine Konjunktur. Dabei spielen ein differenziertes Verständnis sowie unterschiedliche Definitionen und Imaginationen des Ländlichen, sowohl in den Wissenschaften als auch im gelebten Alltag, in der akademischen Auseinandersetzung eine Rolle. Ausgehend von Beispielen aus der Lehrpraxis an der Abteilung Kulturanthropologie (Bonn) möchten wir in diesem Beitrag studentische Projektzugänge zu Imaginationen des Ländlichen skizzieren. In Kooperation mit der Abteilung Altamerikanistik/Ethnologie wird der Masterstudiengang Transkulturelle Studien/Kulturanthropologie1 angeboten. Inhaltlich ausgerichtet ist der Studiengang auf die Vermittlung der nötigen Kompetenzen, um Regionen in ihren komplexen lokalen Systemen und ihrer (trans)kulturellen Diversität vor dem Hintergrund überregionaler, translokaler und globaler Vernetzungen erforschen und beschreiben zu können. Ausgangspunkt ist der paradigmatische Kontakt-, Transit- und Vermittlungsraum Rheinland mit seiner heterogenen, auf verschiedenen Ebenen von Globalisierungsprozessen geprägten Gesellschaft. Im Studienplan spielen Lehrforschungsprojekte, die mittlerweile im Pflichtbereich fest in den Lehrplan integriert sind und in der Regel in Kooperation mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen durchgeführt werden, eine große Rolle. Zwischen 2015 und 2017 konnten von uns drei Lehrforschungsprojekte mit Studierenden und verschiedenen Kultureinrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland (im weiteren LVR genannt) durchgeführt werden. Anhand der Projekte kann sowohl die Generierung von Begrifflichkeiten im Hinblick auf den ländlichen Raum aufgezeigt werden als auch die Entwicklung des kooperativen forschenden Lernens im Spannungsfeld der unterschiedlichen Interessen und Aufgaben der Institutionen, der Vorstellungen der Studierenden und der Ergebnisse, die für eine

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Bis Sommersemester 2018 Kulturanthropologie/Volkskunde.

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Valeska Flor und Andrea Graf

größere Öffentlichkeit aufbereitet worden sind. Nach einem fachgeschichtlichen Einblick über die Beschäftigung mit dem ländlichen Raum in der Kulturanthropologie und dessen Verortung widmet sich der Beitrag dem teils widersprüchlichen alltäglichen Verständnis des Ländlichen, um dann das Konzept des forschenden Lernens darzustellen und beides anhand der Einzelprojekte zusammenzuführen und Chancen sowie Probleme zu skizzieren.

Der ländliche Raum als Forschungsfeld2 Der ländliche Raum und das Ländliche sind Begriffe, die in den letzten Jahren wieder eine größere Rolle in der kulturanthropologischen Forschung spielen. Der »fast totgesagte Patient«3 – der ländliche Lebensraum, um noch einen weiteren Begriff hinzuzufügen – ist wieder sehr lebendig. Dabei hat das Thema in der Kulturanthropologie beziehungsweise in ihrer Vorgängerdisziplin Volkskunde eine längere Geschichte.4 Erste Ortsmonografien entstanden im 18. und 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgten thematische Arbeiten, die unter anderem auf die Veränderungen der agrarischen Verhältnisse in der Folge der Landreformen des 19. Jahrhunderts reagierten.5 Diese volkskundlichen Arbeiten sind Beschreibungen der »verschwindenden Lebenswelten« des ländlichen Raums und seiner »traditionellen Lebensverhältnisse«, vor allem »in ihren materiellen Manifestationen […], wenn es etwa um Hausbau, Tracht und Brauchtum oder um Formen von mündlich tradierten Überlieferungen wie Lieder, Märchen und Sagen ging«.6 Ab den 1920erund 1930er-Jahren erfolgten erste intensiv bearbeitete Gemeindestudien, in denen es vor allem um die als kulturelle Traditionen definierten Praktiken in der dörflich-bäuerlichen Lebenswelt, zum Beispiel Vorstellungen von »›Sitte und Brauch‹ als […] kulturelle Regulativen dörflichen Lebens«7 ging, die von den ForscherInnen zumeist ahistorisch gedeutet wurden.8 Ein Wandel fand in den 1970er-Jahren statt, als dieser ahistorische Blick von der stärkeren Perspektivierung des alltagsgeschichtlichen Horizonts verdrängt wurde.9 Die 1970er- und 1980er-Jahre können aufgrund der Vielzahl der Studien als Hochphase der Gemeindeforschung gedeutet werden.10 Insbesondere Tübingen 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Die folgenden Kapitel, bis einschließlich »Die Verortung des ländlichen Raums« basieren zum Teil auf den folgenden bereits publizierten Titeln: Flor 2017 und Bauer/Flor/Graf 2016. Scholze-Irrlitz 2008, S. 7. Scholze-Irrlitz 2009, S. 116; Moser 2002, S. 295. Scholze-Irrlitz 2009, S 116. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Moser 2002, S. 295.

»Zwischen Landlust und Landfrust«

mit Utz Jeggles Studie zum schwäbischen Dorf Kiebingen (1977)11 und verschiedenen Studien des Frankfurter Instituts mit Fragen zu gemeindespezifischen Wohnformen, Umweltaspekten oder auch kulturpolitischen Forschungsinteressen sind hier zu nennen. In diesen Studien lag nicht mehr die historische Alltagswelt im Fokus der BetrachterInnen, vielmehr wurden gegenwartsbezogene Thematiken und deren historische Bedingtheit beforscht. In diesen neueren Studien, vor allem in denen des Frankfurter Instituts, ist allerdings auch eine Kritik an den Gemeindestudien und der Praxis der Lokalisierung auf »einen Ort« impliziert. Gisela Welz fasst diese Kritikpunkte folgendermaßen zusammen: »Gemeindeforschung reproduziert die Gemeinde, den Wohn- und Lebensraum der untersuchten Bevölkerung, als Nexus einer Verknüpfung von Kultur und Identität. Immobilität, geringe Aktionsradien, intensive Binnenkommunikation, konformitätserzeugende Überschaubarkeit werden in der Sozialforschung gerne der kleinen Gemeinde und ihren Bewohnern zugeschrieben.«12 Welz plädiert vielmehr für eine Feldforschung, die den Aktionsradius der Beforschten ausweitet und diese nicht mehr nur an einem Ort lokalisiert. Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsort sind mittlerweile nur noch selten verknüpft, auch Konsum und Freizeit finden nicht nur an einer Lokalität statt und die Gruppe der Beforschten ist nicht homogen.13 In dieser Kritik schwingt eine weitere Perspektive mit: die der stereotypen Zuschreibung von Stadt und Land. Diese Dichotomie suggeriert eine wechselseitige Zuordnung von sozialen Begebenheiten, die weder der historischen noch der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit entspricht.14 Dennoch spielen diese stereotypen Vorstellungen sowohl in Alltagserzählungen als auch im wissenschaftlichen Dialog und in der Lehre eine Rolle. Nach der Hochphase rückte die kulturanthropologische Gemeindeforschung gegen Ende der 1990er-Jahre und vor allem in den 2000er-Jahren erneut in den Hintergrund. Erst in den letzten Jahren fielen wieder vermehrt Forschungsarbeiten zum Thema an. Bei diesen jüngeren Studien geht es unter anderem um die Veränderung in der Aushandlung von Räumen, die durch globale Prozesse angestoßen werden, wenn diese zum Beispiel auf lokales Wissen stoßen.15 Es geht also

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Jeggle 1977. Welz 1998, S. 181. Welz plädiert daher für eine »multi-sited ethnography« und interpretiert einen Vorschlag des Kulturanthropologen George Marcus, der davon ausgeht, dass Gemeindeforschung an sich zu schwerfällig ist und dass eine Forschung, die an eine Lokalität gebunden ist, hinter der veränderten Realität – der mobilisierten Welt mit ihren Migrationswegen, Kommunikationskanälen, Handelsbeziehungen, Konfliktlinien etc. – zurückbleibt (ebd.). Vgl. dazu auch den Beitrag von Schmidt-Lauber/Wolfmayr in diesem Band. Ein Überblick über die jüngere Forschung findet sich bei Trummer 2018, S. 200-204.

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schlichtweg um die Transformation regionaler Räume. Auch die Lehrforschungsprojekte der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn lassen sich in dieses Untersuchungsfeld einordnen.

Imaginationen des Ländlichen Eine erste Beschäftigung mit dem Ländlichen – vielmehr deren überspitzten medialen Repräsentationen – ergibt ein diffuses, oftmals wiedersprüchliches Bild einer nicht genau definierten Gegend, das zwischen einem ästhetisch-schönen und nostalgisch-verklärenden Einblick in den Lebensalltag seiner als ›naturnah‹ gezeichneten Bevölkerung einerseits und einem sich scheinbar oftmals eher negativ auswirkenden Transformationsprozess andererseits schwankt. Gemeint ist hiermit die Gegenüberstellung von Landlust und Landfrust, die sich über aktuelle Fernsehformate wie Bauer sucht Frau oder Deutschland deine Dörfer und gegenteilige Nachrichten über ÄrztInnenmangel, Landflucht, fehlende oder eingesparte Infrastruktur und Überalterung speist. Symbolisch werden hier größtenteils fiktive Vorstellungswelten – Imaginationen16 und Darstellungsweisen des Ländlichen – entworfen, die mit der eigentlichen Wirklichkeit des Ländlichen nicht wirklich konform gehen. Bedingt sind diese Imaginationen sowohl durch die Vorstellung einer »neuen Ländlichkeit«17 , die sich teilweise (aber nicht nur) aus einem urbanen Verständnis von Ländlichkeit als Ressource18 entwickelt hat, als auch von grundlegenden sozialen, politischen und infrastrukturell-ökonomischen Transformationsprozessen, die den gesamten ländlichen Raum Europas beeinflussen. Wie kann das Ländliche nun aber konkreter gefasst werden? Das Ländliche kann zum einen als zentrale Ordnungskategorie verstanden werden, über die der ländliche Raum anhand von Kategorisierungen – vergleichsweise dünne Besiedlung, ein eng verknüpftes soziales Leben, Bedeutsamkeit von natürlichen Ressourcen – definiert werden kann. Zum anderen ist das Ländliche ein soziokulturelles Konstrukt, das eben nicht nur auf »räumliche Anbindungen«, sondern auch auf »Zuweisungen, Vorstellungen und Praktiken«19 basiert. Deshalb sollte das Ländliche – und hier vor allem Aushandlungsprozesse und die Produktion des Ländlichen – untersucht und neu verortet sowie definiert werden.20

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Vgl. Fenske/Hemme 2015, S. 9-11. Hahne 2011, S. 12-18. Vgl. Fenske/Hemme 2015, S. 10. Beide Zitate ebd., S 12. Vgl. Trummer 2018, S. 189-191.

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Die Verortung des ländlichen Raums Etwa 90 Prozent der Fläche in Deutschland sind ländlich geprägt und circa 47 Millionen Menschen leben auf dem Land (das sind somit mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung).21 Als Merkmale ländlicher Regionen gelten in der Regel die folgenden Aspekte oder Kategorisierungen: Sie sind durch land- und forstwirtschaftliche Flächennutzung geprägt; das Landschaftsbild bestimmen Dörfer, kleinere und mittlere Städte, die von Feldern, Wiesen und Wäldern umgeben sind; es gibt kleine und mittelständische Unternehmen, die die Wirtschaft und Arbeit der Region prägen; Erholungsraum ist zahlreich vorhanden; die niedrige Bevölkerungsdichte und große Grundstücke prägen den ländlichen Raum.22 Darüber hinaus ist der Boden des ländlichen Raums wichtige Ressource, sowohl für die Lebensmittel- als auch für die Energie- und Rohstoffproduktion. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche beträgt ungefähr die Hälfte Deutschlands, nimmt in den letzten Jahren aber stetig ab.23 Auch wird den Strukturmerkmalen des ländlichen Raums zugeschrieben, dass sie das Lebensgefühl, die Identität und den Zusammenhalt in diesen Regionen prägen.24 So greift zum Beispiel der Landesentwicklungsplan Nordrhein-Westfalen diese Verbindungslinie – Strukturmerkmale und Lebensgefühl der Bevölkerung – auf und weist auf die Potenziale des ländlichen Raums (aktive integrierte Dorfentwicklung aus dem Dorf heraus, gegenseitige Versorgungsfunktion, Attraktivierung der Dorfkerne) hin.25 Hier spiegeln sich die Herausforderungen wider, denen sich der ländliche Raum im Zuge der globalen Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte stellen muss: »Ländliche Regionen wandeln sich. Die großen gesellschaftlichen Themen wie Klimawandel, Globalisierung, Geburtenrückgang, Zuund Abwanderung und der Wandel von Lebensstilen verändern auch das soziale Leben und die Wirtschaft auf dem Land.«26 Die Auswirkungen dieser Veränderungen erlebt der ländliche Raum sehr unterschiedlich, manche Regionen erfahren eine Aufwertung, andere scheinen Gefahr zu laufen, weiter zurückzufallen. Diese aktuellen Prozesse wirken sich erst auf den ländlichen Raum aus und spielen ebenso in mehreren Lehrforschungsprojekten der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn eine Rolle.

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BMEL/Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2016, S. 3. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 7. Landesentwicklungsplan NRW 2016, S. 13. BMEL 2016, S. 12.

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Lehrforschungsprojekte und Forschendes Lernen Die heutigen Bachelor- und Masterstudiengänge sind in ihrer Modulstruktur und deren Inhalten geprägt vom Kompetenzerwerb. Der Erwerb von sogenannten Schlüsselkompetenzen wird breit definiert, von Fachkompetenz über Methodenkompetenz sowie Sozial- und Selbstkompetenz. Im Bereich der Fachkompetenz, sprich in der (Weiter-)Entwicklung des fachlichen Wissens, wird in der Bonner Kulturanthropologie im Modul »Dynamiken (trans-)kultureller Räume (Projektstudium)« folgendes festgelegt: »Anwendung ethnographischer Methoden in Bezug auf historische und gegenwartsbezogene Fragestellungen; reflektierte Rückbindung der eigenen Forschungstätigkeit an aktuelle kulturanthropologische und ethnologische Theorien (Erprobung eines Forschungsprojektes).«27 In dieser Festlegung sowie im Titel des Moduls wird auf verschiedene hochschuldidaktische Konzepte hingewiesen, die in den letzten knapp 50 Jahren entwickelt, umgesetzt, adaptiert und teilweise wieder abgeschafft wurden. In diesen Konzepten geht es um die (fachliche) Weiterentwicklung der Studierenden. Lehrforschungsprojekte oder das Projektstudium28 können in diesem Zusammenhang folgendermaßen definiert werden: »Allgemein gesagt ist ein Lehrforschungsprojekt eine Lehrveranstaltung, in der Studierende auf Basis ihres bereits erworbenen methodologischen und theoretischen Wissens und unter Anwendung bereits erlernter (bzw. im Rahmen der Lehrveranstaltung zu erwerbender) Methoden selbständig eine Forschungsfrage bearbeiten und ein kleines Forschungsprojekt durchführen, wobei sie sich forschend nicht nur inhaltlich-thematisches Wissen erarbeiten, sondern auch Forschen lernen.«29 Eng in Verbindung dazu steht das bereits erwähnte forschende Lernen. Das hochschuldidaktische Konzept des Forschenden Lernens setzt auf die Selbstständigkeit von Studierenden über die Planung und Ausführung eines Forschungsprojektes den eigenen Lernprozess zu gestalten.30 Die Entwicklung des Konzepts geht auf

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Modulhandbuch M.A. Transkulturelle Studien/Kulturanthropologie, Uni Bonn, S. 8-9. Das Projektstudium wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren eingeführt und teilweise schnell wieder abgeschafft. Kritik wurde unter anderem daran geäußert, dass der fachliche Erkenntnisgewinn im Bereich der Theorien zu kurz kam. In Bremen wurde das Projektstudium nicht abgeschafft, sondern vielmehr früh im Zusammenhang mit dem Konzept Forschendes Lernen weiterentwickelt. Vgl. Mieg 2017, S. 18-19. Weidemann 2010, S. 490. Vgl. Mieg 2017, S. 15.

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die Hochschulreformen der 1960er-Jahre zurück.31 Im Hochschulkontext wird das Forschende Lernen in der Regel folgendermaßen definiert: »Forschendes Lernen zeichnet sich vor anderen Lernformen dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit)gestalten, erfahren und reflektieren.«32 In dieser Definition finden sich Aspekte wieder, die auch in den Lehrforschungsprojekten der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn, eine Rolle spielen: Erstens, die Studierenden durchlaufen den gesamten Forschungsprozess, zweitens, die Ergebnisse des Projektes sollen nicht nur den Studierenden im Zuge ihres Studiums dienen, sondern einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt werden, und drittens, die Planung und Ausführung des Projektes erfolgt selbstständig.33 Im bereits erwähnten Bonner zweisemestrigen Mastermodul Dynamiken kultureller Räume (Projektstudium), gleichzusetzen mit dem Lehrforschungsprojekt, geht es darüber hinaus um diese Inhalte und Lernziele: »[…] historische und gegenwartsbezogene empirische Analyse soziokultureller Dynamiken der Produktion von Räumen sowie die Analyse von Strukturen, Praktiken und kulturellen Repräsentationen vor dem Hintergrund einer von Globalisierungsprozessen geprägten Gesellschaft.«34 Die Themen »Ländlicher Raum« respektive »Imaginationen des Ländlichen« lassen sich inhaltlich daher sehr gut in das Modul und damit in den Lehrforschungsprojekten verorten. Im Folgenden werden drei Projekte vorgestellt und entlang der Chancen und Herausforderungen, die sowohl das Thema als auch das Konzept Forschendes Lernen mit sich bringen, skizziert.

Der Pilot: Dörfer im Fokus Das erste Lehrforschungsprojekt über Veränderungsprozesse im ländlichen Raum, bestand im Sommersemester 2015 aus zwei parallel stattfindenden Übungen: a) 31

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In den Nachfolgedisziplinen der Volkskunde, der Kulturanthropologie, Europäischen Ethnologie und Empirischen Kulturwissenschaft, wurde das Konzept früh in den Lehr- und Lernplan integriert. Beispielhaft sind hier die Institute in Frankfurt und Tübingen zu nennen, z.B. Greverus 1980; Johler 2003. Huber 2009, S. 11. Vgl. Mieg 2017, S. 15. Modulhandbuch M.A. Transkulturelle Studien/Kulturanthropologie, S. 8-9.

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Erftstadt-Erp. Janz weit draußen? Ein Feldforschungsprojekt im ländlichen Raum und b) Dörfer unter Zwang. Veränderungen dörflicher Lebenswelten in Umsiedlungsorten des rheinischen Braunkohlereviers, die von uns angeboten wurden. Der von den Studierenden in den Blick genommene ländliche Raum, der Mikrokosmos zweier rheinischer Dörfer, diente als exemplarischer Ort, an dem Aspekte des Alltagslebens erforscht werden konnten und von globalen Prozessen angestoßene Aushandlungsprozesse um Raum sichtbar wurden. In diesem Projekt waren dies besonders Fragen zu den lebensweltlichen Konsequenzen von Energieerzeugung sowie zu veränderten regionalen Selbstverständnissen über die Identifikation mit sozialen Gruppen oder in Arbeitskontexten. Als Kooperationspartner konnten wir das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte (im Weiteren LVR-ILR), namentlich Dr. Katrin Bauer, als projektbeteiligte Wissenschaftlerin, gewinnen. In diesem Setting testeten wir das Format des Lehrforschungsprojekts an unserer Abteilung erstmalig. Unter dem Titel Dörfer im Fokus beschäftigten sich die Teilnehmerinnen mit den Transformationen von Glaube, Infrastruktur, Arbeit und Landwirtschaft und des Vereinslebens in der ländlichen Region um Erftstadt und Erkelenz. Dabei ging es sowohl um durch den Braunkohletagebau bedingte Transformationsprozesse und Auswirkungen auf den Alltag der BewohnerInnen der untersuchten rheinischen Dörfer als auch um den Wandel von nicht durch Umsiedlung betroffenen Orten. Nach einer Einführung in das Feld der Gemeindestudien und die Methoden der Feldforschung, beinhaltete das Projekt eine mehrtägige Exkursion, die Archivbesuche in Erftstadt sowie Erkelenz ebenso umfasste wie den Besuch des Braunkohletagebaus Garzweiler II und einer Ausstellung zum Thema Energiegewinnung. Es schlossen sich Feldforschungsaufenthalte in den Dörfern Erftstadt-Erp und Immerath (alt und neu) an, wo teilnehmend beobachtet wurde, Wahrnehmungsspaziergänge und Ortsführungen sowie Gespräche mit BewohnerInnen stattfanden oder beim Maifest in der Bürgerhalle Kontakte geknüpft werden konnten. Die theoretischen und methodischen Überlegungen konnten so vor Ort konkret umgesetzt werden. Darüber hinaus beschäftigten sich die Studierenden in Bonn mit den Beständen zum Thema im Archiv des LVR-ILR. Als Ergebnis der Forschungen entstand aus den studentischen und weiteren wissenschaftlichen Beiträgen als Sonderheft einer Schriftenreihe des LVR-ILR die Publikation Dörfer im Fokus. Skizzen über Veränderungsprozesse im ländlichen Raum35 . Die Präsentation der Publikation und damit der Forschungsergebnisse durch die Studierenden fand im Rahmen eines Vortragsabends Ende Januar 2016 unter der Beteiligung von Prof. Dr. Silke Göttsch-Elten als Gastreferentin statt. Nach diesem ersten Projekt zogen wir als Projektleiterinnen ein Fazit: Die zeitlich sehr kurze Beschäftigungszeit mit einem neuen komplexen Themenbereich

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Bauer/Flor/Graf 2016.

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innerhalb eines Semesters wurde von den Studierenden und Dozentinnen als Herausforderung wahrgenommen. Das Setzen eines Oberthemas beziehungsweise die Vorgabe eines Forschungsfeldes wie hier Dörfer im Fokus, unter dem sich die Studierenden weiter spezialisieren können, sowie die Kooperation mit regionalen Partnerinstitutionen und die Exkursionen und Feldforschung vor Ort als Mischung von Empirie und Theorie erschien uns dagegen gewinnbringend. So wurde das Thema des folgenden Lehrforschungsprojekts durch den Kontakt zum Kooperationspartner angeregt und der Projektzeitraum auf zwei Semester verlängert. Durch die Verlängerung des Projektzeitraums ergeben sich für die Durchführung von Lehrforschungsprojekten generell neue Möglichkeiten im Hinblick auf eine gemeinsame Generierung von Begrifflichkeiten mit den Kooperationspartnern zum Beispiel in der Diskussion mit ExpertInnen und PraktikerInnen, die darüber hinaus den Raum, Ressourcen und teilweise die Finanzierung für die Präsentation stellten.

GartenKultur Im akademischen Jahr 2015/16 fand das Lehrforschungsprojekt GartenKultur. Von Subsistenzwirtschaft, politischer Partizipation und Landschaftsgestaltung statt. Das Projekt führte Andrea Graf in Kooperation mit dem LVR-Industriemuseum Schauplatz Euskirchen und der dort zum damaligen Zeitpunkt gastierenden Wanderausstellung Stadt Land Garten. Zur Kulturgeschichte des Nutzgartens durch.36 Die Studierenden erstellten innerhalb des Lehrforschungsprojekts eine Filmcollage zum Thema »Zukunft des Gartens« als Beitrag zur LVR-Ausstellung, welche bei der Eröffnung am 8. Mai 2016 präsentiert wurde und bis Ende 2017 in verschiedenen LVR-Museen zu sehen war.37 Für diese Medienstation recherchierten die Studierenden Filmbeiträge38 über internationale gärtnerische Initiativen im urbanen Raum, stellten diese zu einer Collage zusammen, welche die Ausstellungsinhalte um den aktuellen Aspekt der Nahrungsmittelproduktion in Gemeinschaftsgärten auf Brauchflächen, durch Permaculture oder Aquaponic, aber auch Aktionen zur Begrünung der Stadt durch Guerilla Gardening oder vertikale Wandgärten ergänzen. Des Weiteren beforschten die Studierenden eigene Themenstellungen zur Bedeutung des Gartens und veröffentlichten ihre Ergebnisse in Texten und Bildern auf einem selbstkonzeptionierten und erstellten Webportal zur GartenKultur.39 36

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Präsentation der Ausstellung im LVR-Industriemuseum: Stadt, Land, Garten. Eine Ausstellung zur Kulturgeschichte des Nutzgartens. Auf: LVR-Industriemuseum Kraftwerk Ermen & Engels 2016. Video Die Zukunft des Gartens (16.4.2016). Hier wurden Beiträge weiterverwendet, die unter der entsprechenden Creative Commons Lizenz auf YouTube zugänglich und nutzbar waren. GartenKultur. Studentisches Webportal (o.J.).

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Auf dem im Stil eines Blogs angelegten Webportal wird der Garten als gesellschaftlicher Handlungsraum und das Gärtnern in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen als soziale Praktik verschiedener AkteurInnen, mit sowohl historischen als auch gegenwartsbezogenen Fragestellungen thematisiert. Im Projekt nutzten wir einen sehr weiten Gartenbegriff, der den Ort der Nahrungsmittelproduktion oder Erholung über den Lernort im Museum bis zur Nutzung städtischer Grünflächen umfasst und die Funktionen des Gartens von der Selbstversorgung für eine vegane Ernährung bis zum ästhetischen Genuss der Landschaft thematisiert. Ziele des Lehrforschungsprojekts waren der Erwerb und die Vertiefung von Kompetenzen der historischen und empirischen Analyse von Räumen. Am Beispiel des Gartens als einem in Vergangenheit und Gegenwart sehr heterogen genutztem Raum konnten Aneignungen und Aushandlungsprozesse sowie die damit verbundenen sozialen Verortungen und Vergemeinschaftungen der AkteurInnen in den einzelnen Forschungsprojekten der Studierenden untersucht werden. Dabei war es den Studierenden freigestellt, ob sie ihre Themen im städtischen oder ländlichen Raum beforschen, wobei diese alltagsweltlich oftmals bemühte Dichotomie im »urbanen Gewebe«40 des Rheinlands kaum mehr tragfähig erscheint. Henri Lefèbvre beschrieb mit dieser Metapher bereits in den 1970er-Jahren die fortschreitende Urbanisierung, die Unterschiede zwischen Stadt und Land weitgehend nivelliert.41 Dies ist nicht rein räumlich-baulich sondern auch wirtschaftlich, sozial und kulturell zu deuten und wurde in der Nachfolge Lefèbvres weitergedacht, wie Sigrun Langner in ihrem Beitrag zur Etablierung des Konzeptes einer »(R)urbanen Landschaft« darlegt.42 Im Projekt kristallisierte sich ein weiter Zugriff auf das Thema Garten als sinnvolle Möglichkeit heraus, um die Imagination des Gartens sowie der Produktion von Nahrungsmitteln als im ländlichen Raum verortet zu durchbrechen, indem in den Einzelprojekten die Vorstellung und Umsetzung vom Garten in der Stadt aufgegriffen werden. Das Lehrforschungsprojekt denkt damit Grün und Stadt nicht als Gegenpole sondern das Grün als genuinen Bestandteil der Stadtnatur, in seinen jeweiligen zeitlichen Bezügen.43 Ihre Forschungsergebnisse, präsentierten die Studierenden im Rahmen einer Abendveranstaltung zu der Prof. Dr. Michaela Fenske als Gastreferentin eingeladen wurde. Auch der Erwerb von überfachlichen Schlüsselqualifikationen spielte für die Studierenden bei diesem Projekt eine Rolle. Dies waren durch die Zusammenarbeit mit dem Museum unter anderem: Team-, Organisations- und Entscheidungsfähigkeit, Selbstorganisation, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie

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Vgl. Langner 2014, S. 139-141, S. 144. Langner bezieht sich mit der Formulierung auf Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte. Dresden 2003 [1970]. Vgl. Ebd. S. 139. Vgl. Ebd. S. 152-153. Vgl. Müller 2012, S. 105; Winter 2015, S. 89-91.

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Kreativität. Eine weitere Qualifizierung ist ein produktorientiertes Arbeiten. Während des GartenKultur-Projekts stellten sich sowohl der Filmschnitt als auch die Erstellung eines Webportals für die Studierenden als Herausforderung dar, ebenso Beiträge für die Blogrubrik »Gartenfibel«, eine Art essayistisches Lexikon, zu verfassen und dafür von ihrem eingeübten universitären Schreibstil abzuweichen. Denn die Erstellung eines Produktes für ein bestimmtes Publikum wie InternetleserInnen oder MuseumsbesucherInnen erfordert die Verwendung einer ansprechenden Bildsprache und Begrifflichkeit ohne auf Stereotype und Vorannahmen zurückzufallen. Zum Abschluss soll ein Beispiel herausgegriffen werden, welches einerseits einen Einblick in die didaktische Umsetzung des Projektes bietet, andererseits über das Thema, der Imagination des Ländlichen, zum nachfolgenden Lehrforschungsprojekt überleitet: Eine Studentin beschäftigte sich im Rahmen ihrer eigenen Forschung, explizit mit der medial inszenierten ›Ländlichkeit‹ über die Zeitschrift Landlust. Anhand von LeserInnenbriefen analysierte sie, mit welchem Zweck diese »schönen Seiten des Landlebens«44 als idyllische Konstruktion, von ihr zu Projektbeginn als »GartenTräume« bezeichnet, konsumiert wird. Ihr Arbeitsposter spiegelt über die ergänzenden Klebezettel die Gruppendiskussion des Themas als Arbeitsmethode innerhalb dieses Lehrforschungsprojektes wider (Abb. 1).

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Der Untertitel/Werbeslogan der Zeitschrift: »Landlust zeigt die schönen Seiten des Landlebens …«: Landlust. Webshop des Magazins (o.J.).

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Abb. 1: Die Erstellung von Postern wurde als Methode zur Präsentation und Diskussion eines Themas eingesetzt.

Zwischen Landlust und Landfrust Im Wintersemester 2016/2017 startete das Lehrforschungsprojekt Zwischen Landlust und Landfrust über Aushandlungen des Ländlichen und Vorstellungen vom Leben auf dem Land, welches von Valeska Flor in Kooperation mit dem LVRFreilichtmuseum Kommern durchgeführt wurde: Zehn Studierende des Masterstudiengangs Kulturanthropologie beschäftigten sich über zwei Semester mit dem Thema »Imaginationen des Ländlichen«. Das Projekt hatte das Ziel, aktuelle Inszenierungen des ländlichen Raums zu untersuchen und zu hinterfragen. Vor allem die Leitfragen nach der Verortung und Veränderung des ländlichen Raums und der Formierung von ›Ländlichkeit‹ – wie wird beides produziert, ausgehandelt, tradiert und dargestellt – standen im Mittelpunkt des Interesses. Von Beginn des Projektes an war geplant, die erarbeiteten Ergebnisse in eine Sonderausstellung

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des LVR-Freilichtmuseum Kommern und einen Ausstellungsband einfließen zu lassen.45 Die studentische Ausstellung Zwischen Landlust und Landfrust. Vorstellungen vom Leben auf dem Land im LVR-Freilichtmuseum Kommern beschäftigte sich als Ergebnis des Projektes mit aktuellen Vorstellungen und Darstellungsweisen des ländlichen Raums. Sowohl die Lesart der romantisierenden Idylle der Landlust als auch die defizitäre Erzählung über die Landflucht spielten als Ausgangspunkt eine Rolle. Diese Lesarten prägen den (ländlichen) Alltag, passen sich aber nicht widerspruchslos ein und stehen teilweise in Konflikt zueinander. Der Projektgruppe ging es darum, den ländlichen Raum zwischen den Lesarten zu finden. Die Ausstellung hatte daher das Ziel, folgende Fragen zu beantworten: Was ist das Ländliche? Wo findet man den ländlichen Raum, sowohl gegenwartsbezogen als auch in der Vergangenheit? Die Ausstellung zeigte zunächst gängige Stereotype über den ländlichen Raum. Danach folgten drei themenspezifische Teilprojekte, die in Gänze von den Studierenden erarbeitet wurden. Im Projekt »Gemeinschaft« beschäftigten sich vier Studierende zum Beispiel mit Orten, an denen ein gemeinschaftliches Wir-Gefühl entstehen kann. Die Ausstellung zeigt somit das Große und das Kleine: Vom Dorfgemeinschaftshaus zum Familienhaus und vom Allgemeinen zum Speziellen: von der Gaststätte zum Junggesellenverein. Dabei arbeiteten die vier Studentinnen immer unter der Prämisse: Die typische Dorfgemeinschaft gibt es nicht, doch es gibt typische Vorstellungen davon. Ihre vier Beispiele warfen dabei einen aufgeschlosseneren Blick auf das Zusammenleben auf dem Dorf. Die anderen beiden Projekte »Lebensentwürfe« und »Herstellung und Versorgung« griffen in ähnlicher Weise Aspekte auf, die typische (stereotype) Vorstellungen widerspiegeln und die von den Studierenden in Kontext gesetzt wurden. Wie hat sich die Arbeit in den Lehrforschungsprojekten nun dargestellt? Was sind die Chancen und Herausforderungen in solchen Projekten? Vorteile der Projekte liegen vor allem in der praktischen Arbeit vor Ort und der Diskussion mit den Kooperationspartnern, über die die Themen in eigener und selbstständig durchgeführter Feldforschung der Studierenden intensiviert werden können. Das hilft vor allem bei der Konzeption und Durchführung der folgenden Masterarbeit. Eine Herausforderung, die sich in den ersten drei Jahren des neukonzipierten Masterstudiengangs herauskristallisiert hat, ist die fachliche Heterogenität der Studierenden. Diese Heterogenität birgt vor allem dann Herausforderungen, wenn ›neues‹ Wissen, zum Beispiel über den ländlichen Raum, generiert wird, das zum Teil von den gängigen Vorstellungen über den ländlichen Raum abweicht und so aufbereitet werden muss, dass es dennoch für eine größere Öffentlichkeit funktioniert. In Bonn gibt es derzeit nur den Masterstudiengang (Stand 2019), dementsprechend 45

Flor 2017. Gefördert wurde das Projekt über Mittel der Regionalen Kulturförderung des LVR.

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können keine eigenen Studierende vom B.A. mit in den M.A. genommen werden. Deshalb ist die Bonner Kulturanthropologie auf teilweise fachfremde BewerberInnen der Uni Bonn und anderer Universitäten angewiesen. Aus den verschiedenen Biographien der Studierenden und deren heterogenem fachlichen und methodischen Vorwissen bezüglich des ländlichen Raums ergaben sich in den Lehrforschungsprojekten verschiedene Vorannahmen, die über gemeinsame Diskussion transparent gemacht werden mussten, um eine Grundlage der Auseinandersetzung mit dem Thema ländlicher Raum zu schaffen.

Fazit Lehrforschungsprojekte zu Themen des ländlichen Raums als Kooperationsprojekte mit regionalen außeruniversitären Forschungseinrichtungen auszurichten, bieten für uns demnach vielfältige Chancen für die Studierenden, die Lehrenden und den Kooperationspartner: Der ländliche Raum bietet dabei ein großes thematisches und oftmals unbearbeitetes Forschungspotential, das nicht nur am Standort Bonn quasi vor der Tür liegt. Trotz der bisher realisierten drei aufeinanderfolgenden Projekte mit einem ähnlichen Ausgangspunkt, beschäftigten sich die Einzelprojekte mit unterschiedlichen Themen in ihrer spezifischen Ausprägung an jeweils einem Forschungsgebiet und den dort lebenden Menschen. Für die Studierenden bedeutet dies, dass unter anderem stereotype Vorstellungen über Imaginationen des Ländlichen konkret an einem Beispiel der eigenen Forschung und den Austausch mit den Kooperationspartnern bearbeitet werden können. Dieses sich Befremden-Lassen führt zur Reflexion des Arbeitsprozesses im Hinblick auf den eigenen Lebensalltag der Studierenden und deren Bewertung der Erfahrungen im Feld sowie Einfluss auf das Feld. Über die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse, vor allem über Formate, die sich an ein breites Publikum wenden, werden weitere teils neue Bilder des Forschungsfeldes – hier des ländlichen Raumes – erschaffen, die die verschiedenen Imaginationen aufgreifen, diese aber auch reflektieren und wissenschaftlich kontextualisieren. Die Studierenden lernen dabei, die Stimmen der beforschten AkteurInnen vor Ort so zu präsentieren, dass sie nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, Hausarbeiten und Masterarbeiten gehört werden, sondern auch darüber hinaus. Der Einsatz unterschiedlicher didaktischer Methoden wie Posterpräsentationen, Gruppendiskussionen und Schreibpatenschaften sowie die Formulierung von Teillernzielen mit klaren Terminabsprachen wurden durch großen Freiraum für selbständige Forschung (Themenwahl, Methodik) ergänzt. So unterscheiden sich die Arbeitsweise und besonders die Ergebnispräsentation in Lehrforschungsprojekten von denen anderer Lehrveranstaltungen und zeichnen sich durch eine hohe Eigenverantwortlichkeit der Studierenden aus.

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Zudem lassen sich über diese Projektarbeiten wissenschaftliche Kompetenzen der Studierenden vertiefen, darunter etwa eine Fragestellung zu entwickeln und eine Forschung zu planen, eine Datenerhebung und Auswertung durchzuführen, das Ergebnis zu formulieren und zu präsentieren sowie zu veröffentlichen, wie es bei der eigenen Forschung zur Masterarbeit notwendig ist. Hier können Eigenverantwortlichkeit und Projektmanagement in einem geschützten Raum erprobt werden. Weiter bietet die Projektarbeit Chancen in Bezug auf den Berufseinstieg, indem Kooperationspartner und deren Arbeitsweisen und Berufsanforderungen kennengelernt werden können. Abschließend kann konstatiert werden, dass als Kooperationsprojekte durchgeführte Lehrforschungsprojekte die Möglichkeit zum Transfer von Wissenschaft in die Öffentlichkeit bieten. Einerseits in Bezug auf einen Wissens-Praxistransfer, über den die Ergebnisse in unterschiedlichen Formaten wie beispielsweise Publikationen, Blogs, Filmen oder Ausstellungen einer wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentiert und mit dieser diskutiert werden. Wobei dieser diskursiv hergestellte Wissenstransfer über die Kooperation mit nicht-universitären PartnerInnen und Menschen vor Ort auch Herausforderungen hinsichtlich der Arbeitsweisen mit sich bringt. Andererseits kann unser Fach und die gesellschaftliche Relevanz der Fragen mit denen sich KulturanthropologInnen beschäftigen über die gemeinsamen Projekte sichtbarer gemacht werden: Indem man es über Forschungen und Lehrforschungsprojekte in die Öffentlichkeit trägt, fördert man die Bekanntheit und damit auch die Berufsperspektiven der Studierenden. Zusätzlich ermöglichen die Projekte dem außeruniversitären Kooperationspartner einen Einblick in die Inhalte der aktuellen Studienpläne, generell der universitären Forschung und dem von Lehrenden und Studierenden gemeinsam erarbeiteten universitären Fachdiskurs.

Literaturverzeichnis Bauer, Katrin/Flor, Valeska/Graf, Andrea (Red.): Dörfer im Fokus. Skizzen über Veränderungsprozesse im ländlichen Raum. In: LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte (Hg.): Alltag im Rheinland. Sonderheft. Bonn 2016. BMEL/Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Ländliche Regionen verstehen. Fakten und Hintergründe zum Leben und Arbeiten in ländlichen Regionen. Stand 2016. Fenske, Michaela/Hemme, Dorothee: Für eine Befremdung des Blicks. Perspektiven einer kulturanthropologischen Erforschung von Ländlichkeiten. In: Dies. (Hg.): Ländlichkeiten in Niedersachsen. Kulturanthropologische Perspektiven auf die Zeit nach 1945. Göttingen 2015, S. 9-20.

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Valeska Flor und Andrea Graf

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»Zwischen Landlust und Landfrust«

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»Licht aus – Spot an« Die Landdiskothek Zum Sonnenstein im Museumsdorf Cloppenburg Eike Lossin unter Mitarbeit von Victoria Biesterfeld und Michael Schimek

Im September des Jahres 2020 wird es so weit sein: Das Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum eröffnet die Diskothek Zum Sonnenstein und damit ein bauliches Novum mit neuen musealen Inhalten und Themen im Bereich der deutschen Freilichtmuseumsszene. Diesem Ereignis werden dann gut sechs Jahre intensiven Vorbereitens, Sichtens und Sicherns sowie des Dokumentierens und Inventarisierens vorausgegangen sein. Der für die Öffentlichkeit sichtbare Teil dieses Großprojekts – die Translozierung im Jahr 2018 – liegt dann schon wieder zwei Jahre zurück und gehört zu den wohl spektakuläreren Vorgängen in der Geschichte des Museumsdorfs. Nach Ausbau und Magazinierung sämtlichen Interieurs, wie etwa der Theken, der losen und fest verbauten Möbel, der Küche, der Musik- und Lichtanlage und sämtlicher Kleinobjekte und Dekorationen, konnte mit dem Abbau des Gebäudes selber begonnen werden. Hierbei nahm das Museumsdorf Cloppenburg erstmals eine sogenannte Ganzteiltranslozierung vor. Bei dieser Art der Translozierung wurde die Außenhülle des Gebäudes in möglichst große Teile zersägt, gesichert transportiert und dann am neuen Standort wieder zusammengesetzt. Dies hat den Vorteil, dass verhältnismäßig wenig in die Gebäudesubstanz eingegriffen wird und somit ein größtmöglicher Anteil an originalen Bestandteilen erhalten bleibt, was vor dem Hintergrund, dass ein für Norddeutschland typisches zweischaliges Mauerwerk mit dazwischenliegender Hohlschicht zu versetzen war, besonders spannend zu werden versprach. Die zur Translozierung notwendigen Arbeiten begannen im August 2018 im Dachbereich. Der Erhalt möglichst vieler Dachpfannen hatte dabei Priorität, dennoch mussten zusätzlich ca. 200 m² passender Dachziegel nachbeschafft werden, da etliche schadhaft waren. Nachfolgend wurde die gesamte Unterkonstruktion zurückgebaut, ihr folgte der Dachstuhl. Erfreulicherweise konnte die erhaltene Dachkonstruktion am neuen Standort in Cloppenburg überwiegend wiederverwendet werden; gleiches gilt für die Dachziegel. Zur Positionierung der zersägten

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Eike Lossin

Abb. 1: Der Sonnenstein am Originalstandort in Harpstedt, 2014. Archiv Museumsdorf Cloppenburg.

Gebäudeteile war am neuen Standort im Museumsdorf bereits eine Bodenplatte als Fundament gegossen worden, sodass einem weitgehend reibungslosen Wiederaufbau wenig entgegenstand.

»Licht aus…«1 Dass in immer mehr Landdiskotheken im nordwestlichen Niedersachsen das Licht ausging, war den MuseumsmacherInnen im Schlossmuseum Jever und im Museumsdorf Cloppenburg bereits in den 1990er-Jahren nicht entgangen; 2007 reüssierte Jever mit den Ergebnissen seiner mehrjährigen Forschungsarbeit im Rahmen der 1

Mit dem Slogan »Licht aus – Womm! Spot an – Yeah!« aus der zwischen 1971 und 1982 vom ZDF produzierten Musiksendung disco leitete ihr Moderator Ilja Richter immer eine Sequenz ein, in der die GewinnerInnen des Quiz aus der vorherigen Folge, neben einem Geschenk aus den Händen Richters, als Hauptpreis einen Auftritt in der Sendung erhielten. Dabei mussten (oder durften) sie alleine im Scheinwerferlicht des ansonsten abgedunkelten Studios stehen und Richter ein paar scherzhafte Fragen beantworten.

»Licht aus – Spot an«

Abb. 2: Demontage und Verladung eines ca. 12 Tonnen schweren Giebelteils in Harpstedt, 2018. Archiv Museumsdorf Cloppenburg.

Ausstellung Break on through to the other side2 . Dort lag der Fokus auf den musikgeschichtlichen und soziokulturellen Entwicklungslinien der 1950er- bis 1980er-Jahre in Ostfriesland mit Themen aus einem komplexen Gesamtgefüge aus Musik, Mode und Lebensstil. Am Beispiel der Lichtanlagen, die den Hörgenuss und die Wirkung der Musik intensivieren sollten, dem damit häufig in Verbindung stehenden Drogen- und Alkoholkonsum (Ostfriesland grenzt bekanntlich an die Niederlande mit seiner liberalen Drogenpolitik) sowie dem Ausdruck veränderter Kommunikationsformen und der Performanz sämtlicher Akteure in den Diskotheken, soll heißen ihrer Coolness von der Gestik über die Mimik bis hin zur Pose,3 geschah ein erfolgreicher Aufschlag zum breiten Themenspektrum populärer Unterhaltung wie auch der Freizeitkultur der nordwestlichen Region in der Bundesrepublik. Der spätestens seit

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Schmerenbeck 2007. Zu weiteren vorangegangenen Forschungen mit Ausstellungen der jüngeren Vergangenheit in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vgl. Keller/Wolf 2013 sowie Burhenne/Hilpert/Mania 2018. Huschka 2016, S. 217-238.

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Abb. 3: Vertikal gelagerte Säge während des Zerschneidens des Gebäudes in Harpstedt, 2018. Archiv Museumsdorf Cloppenburg.

den ausgehenden 1990er-Jahren zu konstatierende Niedergang von Landdiskotheken hatte die Museumslandschaft im Nordwesten sensibilisiert; der Nachweis aus Ostfriesland sollte sich daher ebenso am Beispiel der Landdiskothek Zum Sonnenstein in Harpstedt4 , gelegen im Landkreis Oldenburg, erbringen lassen: Was 1875 mit der Gastwirtschaft Johann Heinrich Hasselmanns im »gegenwärtig von ihm bewohnten an der Harpstedt-Wildeshausener Landstraße gelegenen Hause«5 begonnen hatte, endete 2014 mit der Zwangsversteigerung wegen Insolvenz des letzten Eigentümers. Bis zuletzt baulicher Kern des Tanzbetriebes ist ein 4

5

Die Namensgebung Zum Sonnenstein bezieht sich auf einen in den 1920er-Jahren am Harpstedter Galgenberg gefundenen Menhir aus Granit, der auf seiner Vorderseite von zwölf konzentrisch eingekerbten Kreisen gekennzeichnet ist. Die zeitliche Einordnung des Steins in die Ur- und Frühgeschichte ist nach wie vor umstritten. Vgl. Lauer 2000, S. 338 und Groth 2013, S. 229. Gemeindearchiv Harpstedt, HA 32-33-06 (im Folgenden GemA Hpst).

»Licht aus – Spot an«

Abb. 4: Wiederaufbau der Gebäudesegmente am neuen Standort im Museumsdorf auf einem bereits vorbereiteten Fundament, 2018. Archiv Eckhard Albrecht.

am Harpstedter Schützenplatz errichteter Tanzsaal. Bau und Lage boten sich somit als attraktives sonntägliches Ausflugslokal für Gäste aus den nicht weit entfernten Städten Oldenburg und Bremen, vor allem aber für die ländliche Bevölkerung der Umgebung an. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Gebäude mehrfach verändert, umgebaut und ergänzt, und auch die Besitzverhältnisse hatten mehrfach gewechselt: Zum Schützenfest an Pfingsten 1953 veranstaltete Hasselmanns Sohn Johann ein öffentliches Tanzvergnügen mit Ausschank von Getränken ohne Konzession. Im Jahr zuvor hatte er das Gebäude mit seinem Tanzsaal von Emma Krone gekauft, die ihrerseits vorher eine Gastwirtschaft im Ort betrieben und die Liegenschaften am Schützenplatz zwischen 1939 und 1945 als Lagerraum genutzt hatte.6 Offenbar war das Tanzvergnügen zum besagten Schützenfest finanziell erfolgreich, denn im November 1953 eröffnete Hasselmann seinen Schankbetrieb – die Schankerlaubnis erhielt er allerdings erst im Januar des Folgejahres. Ende der 1950er wurde Hasselmann an bestimmten Tagen – wie dem Schützenfest – die Verlängerung der Sperrstunde bis 3 Uhr morgens erlaubt. Mit einem umfangreichen Um- und Erweiterungsbau 1959 erhielt das Gebäude seine heutige Gestalt. Unter anderem entstand im Dachgeschoss auch eine Wohnung. Zum

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GemA Hpst, HA 32-33-06 und HA II 32-33-06.

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gleichen Zeitpunkt taucht der Name Zum Sonnenstein erstmals in den Gemeindeunterlagen für die Vergnügungssteuer-Einnahme-Ausweisung auf; die Konzession gestattete samstags und sonntags den Ausschank in der Bar, die Küche wurde nur zeitweise betrieben.

Abb. 5: Ansichtskarte der Gaststätte »Zum Sonnenstein«, 1960. Der Discoraum (kleines Bild oben rechts) ist hier noch als Gesellschaftssaal mit möglichem Tanzbetrieb in Gebrauch. Anstelle der DJ-Kabine im Hintergrund existierte noch ein Podest, worauf Bands spielten. Sammlung Hans Freitag.

Die Ereignisdichte dürfte nach heutigen Maßstäben bis in die Mitte der 1960erJahre mit »gemächlich« zu beschreiben sein. Das sollte sich allerdings 1973 mit der Übernahme des Sonnensteins durch Klaus Sengstake ändern. Der rührige wie geschäftstüchtige Gastwirt und spätere Taxiunternehmer sorgte in den kommenden 35 Jahren gemeinsam mit seiner Frau Gunda dafür, dass »der Stein« nicht nur für jugendliche DiskothekengängerInnen zu einer festen Instanz des (über-)regionalen Freizeitangebotes wurde.7 So zählten neben den Jugendlichen aus den Landkreisen Oldenburg und Cloppenburg zeitweise auch Rekruten der nahe gelegenen Bundeswehrkasernen in Wildeshausen und Delmenhorst, des bis 1995 betriebenen Fliegerhorsts Alhorn sowie britische und amerikanische Soldaten zur Klientel des

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Farin 2006.

»Licht aus – Spot an«

Sonnensteins. Ihr Aufeinandertreffen in der Disco bot wiederholt Anlass für Raufereien – eine offenbar beliebte Form damaliger Freizeitgestaltung, die das von Heinz Strunk gezeichnete Zerrbild einer an Wochenenden dilettierenden Top-40Band aus Hamburg-Harburg, die auch in Landdiscos auftrat8 , in der Gesamtheit ihrer Erzählung erschreckend nah an die Harpstedter Realität rückt. Zunächst nur am Mittwoch, Samstag und Sonntag geöffnet, wurde die Schankerlaubnis in den kommenden Jahren nach und nach erweitert, bis die Diskothek schließlich fast täglich zumindest mit ihrem Barbetrieb geöffnet war. Es müssen die finanziell, aber auch atmosphärisch erfolgreichsten Jahre gewesen sein: Zahlreich auf Dachboden und in den Geschäftsunterlagen gefundene Plakate, die regional, aber auch überregional bekannte Künstler ankündigten, belegen, dass im Stein nun einiges los war. Die Flower-Power-Bewegung zum Beispiel und mit ihr die sexuelle Befreiung machte sich auch in Harpstedt bemerkbar. Während noch im Januar 1974 der Harpstedter Gemeindedirektor den Auftritt der Damenkapelle »oben ohne« verbot, fanden bis in die 1990er-Jahre regelmäßig Live-Konzerte von Bands wie Truck Stop, The Rattles oder von überregional bekannten Interpreten wie Peter Maffay, Ted Herold, Karl Dall und Frank Farian statt.

Abb. 6: Blick in den Tanzsaal mit unterleuchteter Tanzfläche, zwei Tresen und DJ-Kabine am rechten Bildrand, 2016. Archiv Torsten von Reeken.

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Strunk 2004.

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Als aber 1995 im circa zwölf Kilometer entfernten Wildeshausen die Großraumdiskothek Fun Factory eröffnete, hatte der Niedergang des Steins bereits unaufhaltsam begonnen. Die zum damaligen Zeitpunkt nicht nur musikalisch neue Maßstäbe setzende Technoszene hatte als jugendkulturelles Phänomen breite Kreise angesprochen, Großereignisse wie die Berliner Love-Parade strahlten mit ihrer Musik, neuen Veranstaltungsformaten und neuen Drogen bis in die ländliche Freizeitkultur aus.9 Dem hatte die mittlerweile in die Jahre gekommene Landdiskothek mit ihren alternden Gästen und verglichen mit ihrer modernen und mit neuer Veranstaltungstechnik ausgestatteten Konkurrenz wenig entgegen zu setzen. Das in Eigenregie peu à peu, oftmals auf der Grundlage günstiger Zukäufe aus anderen Betrieben erweiterte Inventar, von der Lichtanlage bis zu den Treseneinrichtungen, erschien einer neuen, jüngeren Gästegeneration offenbar nicht mehr zeitgemäß und wenig attraktiv. Obwohl die Betreiber mit einem Ausbau des Bistrobereichs reagierten, entwickelte sich der Stein zusehends zu einem Ort der Nostalgie, dem immer häufiger der Stempel der Rückständigkeit aufgedrückt wurde. Auf signifikante Weise fügt sich die rückläufige Frequentierung des Steins in ein allgemeines Attraktivitätsproblem des knapp 4.700 Einwohner zählenden Fleckens Harpstedt ein, dessen Wohnungs- und Geschäftsangebot sich seit den späten 90ern zunehmend verschlechtert. Ein im Jahr 2007 vorgestelltes Einzelhandelskonzept der Nachbarstadt Wildeshausen konstatierte für die umgebenden Orte im Landkreis einen schon länger andauernden Trading-Down-Effekt für Wohn- und Geschäftsgebäude mit entsprechender, sich zukünftig verstärkender struktureller Leerstandsproblematik bei gleichzeitigem demografischen Wandel, was für den ländlichen Raum – nicht nur im Nordwesten – ein wohl bekanntes Problem eines sich seit etwa zehn Jahren verschärfenden Prozesses ist.10 So nimmt es nicht Wunder, dass es 2014 zur Zwangsversteigerung des Gebäudes kam, nachdem der letzte Eigentümer Insolvenz anmelden musste. Verkehrswert war damals eine Summe von 45.000 Euro, den Zuschlag erhielt als einziger Bieter der Flecken Harpstedt für 22.500 Euro. In dieser Zeit war der Stein nur noch unregelmäßig geöffnet, gelegentlich fanden darin Abi-Partys statt. Mit wieviel Emotionen der Sonnenstein in den Erinnerungen seiner Stammgäste verknüpft ist, bemisst sich unter anderem an den Aktivitäten des Aktionsbündnisses Stein bleibt.11 Das Bündnis hatte auf die Zwangsversteigerung und einen nachfolgenden Abrissbeschluss durch den Harpstedter Fachausschuss Umwelt und Planung reagiert und stieß einen Ideenwettbewerb zur Nachnutzung von Gelände und Bebauung an. Der genannte Ideenwettbewerb wurde jedoch nicht weiterverfolgt, der Abriss des Gebäudes konnte aber dennoch verhindert werden. Denn im Jahr 2015

9 10 11

Bonz 2016, S. 43-57; Ders. 2008. Schramm 2007. https://de-de.facebook.com/Steinbleibt/ [1.8.2018].

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kam das Museumsdorf Cloppenburg, vertreten durch seinen damaligen leitenden Direktor Uwe Meiners, ins Spiel. Von seinem Mitarbeiter Karl-Heinz Ziessow auf den Sonnenstein aufmerksam gemacht, ist es seinem ›Riecher‹ und seiner Initiative zu verdanken, dass die Sicherung der Inneneinrichtung des Steins im folgenden Jahr begann und die Planungen zur Translozierung voranschreiten und mittlerweile in die Tat umgesetzt werden konnten. Die kurz skizzierten Entitäten von AkteurInnen wie Besitzern und Pächtern, Angestellten, Musikern, DJs und Gästen, deren Interaktionen und Interdependenzen vom Großteil der bislang Interviewten wiederholt als familiär beschrieben werden, sowie die räumlichen Gegebenheiten, das Inventar, die darin laufende Musik, das Licht, die vom Zigarettenrauch geprägte Olfaktorik fügen sich in ein Bild, das mithin als Singularität, wie sie Andreas Reckwitz12 ausführlich beschreibt, verstanden werden kann. Diese Singularisierung des Ortes Sonnenstein fand freilich nachträglich statt und markiert damit ideelle, wenn nicht gar idealisierende Wertsteigerungen angesichts des bevorstehenden beziehungsweise tatsächlichen Verlustes. Soziokulturelle Einheiten wie Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive, die mit Reckwitz ehedem einer sozialen Logik des Allgemeinen zugerechnet werden konnten, transformieren somit nun in eine soziale Logik des Singulären unserer Moderne, und bezeichnenderweise korreliert der schleichende Abstieg des Sonnensteins im Laufe der 1990er-Jahre mit einem »Aufstieg der Kulturmaschine« und dem damit verbundenen Weg »(v)on der industriellen Technik zur digitalen Technologie«13 . Dem kann sich auch die museale Sicht auf den Sonnenstein nicht gänzlich entziehen, denn der Landdisco kommt im Rahmen ihrer Translozierung und Präsentation auf dem Museumsgelände in Cloppenburg eine besondere Rolle zu: Fernab ihrer Themenstellung Landdisco in den 1980er-Jahren ist sie zugleich das erste Gebäude auf einem neu zu erschließenden Geländeteil des Museumsdorfes. Das bisher konzeptionell mit dem Titel »Siedlung« gefasste Areal (im Gegensatz zum Dorf auf dem bisherigen Gelände) fokussiert zukünftig auf die Entwicklung der Alltagskultur des ländlichen Raumes ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wird einen inhaltlich-konzeptionellen Bogen spannen, der durch die drei inhaltlichen Themenbereiche Freizeit, Konsum und Mobilität definiert ist. Freizeit, Konsum und Mobilität treffen in besonderer Weise auf die Disco zu, zugleich sollen sie auch für zukünftig aufs Neuland zu translozierende Gebäude gelten. Geplant ist ein Straßenzug mit verschiedenen Gebäuden; denkbar sind zum Beispiel ein Siedlungshaus, eine Tankstelle, ein Friseursalon und ein Lebensmittelgeschäft. Gerade dieser Baubestand der Nachkriegszeit auf dem Land verschwindet zusehends aus den Ortsbildern der Region. Aufgrund von in den Landkreisen 12 13

Vgl. Reckwitz 2018, S. 57-64. Ebd., S. 225-229.

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Oldenburg, Cloppenburg und Vechta vielerorts durchgeführten Flächenverdichtungen und eines wohlstandsbedingten Modernisierungsdrucks sowie geänderter Konsumgewohnheiten werden viele dieser Gebäude vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft – wie der Sonnenstein – umgebaut und umgenutzt, wenn nicht gar verschwunden sein.

»Spot an…« Zur Erstellung eines schlüssigen Präsentationskonzeptes für die Disco galt es von Seiten des Museumsdorfs zunächst einmal bauhistorische Untersuchungen des Gebäudes vor Ort durchzuführen. Während ehedem beteiligte Architekten anlässlich mehrerer Begehungen zu Zeiten der zu befürchtenden Insolvenz noch ein vernichtendes Urteil zur Bausubstanz, vor allem hinsichtlich des Dachstuhls, fällten, stellte sich die Sachlage aus musealer Sicht bezeichnenderweise anders dar. Im Wesentlichen 1959 errichtet, ist es die für die Architektur der 1950er-Jahre so charakteristische schlichte Eleganz, die auch die äußere Erscheinung der Landdiskothek Zum Sonnenstein ausmacht: Das Mauerwerk der Fassade verrät einerseits aufgrund des sogenannten »Wilden Verbandes«, in dem die Klinkerziegel angeordnet sind, andererseits anhand seiner Hohlschicht mit der Innenschale aus kostengünstigem Kalksandstein seine norddeutsche Prägung. Währenddessen zeugt die Fachwerkbauweise der nördlichen Giebelspitze sowie der Rückfront von einem für die Region typischen ländlichen Einschlag. Mit Sicht auf die zukünftige Dauerausstellung im Gebäude war der Beschluss, einen Zeitschnitt der späten 1980er-Jahre zu präsentieren, relativ schnell gefasst, war doch die Inneneinrichtung des Sonnensteins im Moment einer ersten Inaugenscheinnahme 2014 nicht nur wie in einer Zeitkapsel konserviert, als sei der Betrieb erst am Vorabend eingestellt worden (die Zigaretten lagen quasi noch glimmend im Aschenbecher). Auch die Innenausbauten, wie Theken, aber auch die Bestuhlung, die Trinkgläser und Wanddekorationen, die Licht- und Tontechnik, das aufgefundene originale Werbematerial sowie die umfangreiche Plattensammlung und das fast vollständig erhaltene Mobiliar der Wohnräume bestärkten diesen Beschluss. Nicht zuletzt die von vornherein beabsichtigten, leitfadengestützten und themenzentrierten Interviews mit ehemaligen Besitzern, Theken- und Servicekräften, Gästen, DJs, Musikern und Anwohnern ließen ob der biografischen Daten unserer InterviewpartnerInnen Informationen über die 1980er-Jahre besonders vielversprechend erscheinen. Grundsätzlich wird sich die kommende Dauerausstellung im Erdgeschoss einer möglichst detailgetreuen Rekonstruktion der Innenausstattung widmen, um die Funktionalität der Diskothek vollständig zu erhalten. Einen musealen Glücksfall stellt nämlich die intakte technische Ausstattung dar, mithilfe derer ein weithin authentischer akustischer und visueller Eindruck des Discobetriebes erzielt wer-

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den kann.14 Dachbodenfunde und weitere Objekte aus den Wirtschaftsräumen sowie der im Dachgeschoss liegenden Wohnung dokumentieren eine mehr oder weniger schadlos erhaltene materielle Kultur der 1980er-Jahre im Nordwesten, die in ihrem geschlossenen Erhaltungszustand als wirklich einmalig zu bezeichnen ist. Das Dachgeschoss des Wohngebäudes hingegen soll einen zweiten, teils kontrastierenden Teil der Dauerausstellung enthalten, dessen Thema die soziokulturelle Einbettung des Sonnensteins im Kontext Landdisco im Allgemeinen und den bereits genannten Koordinaten von Freizeit, Konsum und Mobilität im Speziellen enthalten wird. Dahingehend nämlich ist der Stein in Harpstedt ebenfalls als einzigartig zu bezeichnen. Liegt, oder besser lag doch die Disco im Einzugsbereich der Städte Bremen und Delmenhorst im Norden sowie der Kleinstadt Wildeshausen in einem mehrheitlich evangelisch-lutherisch geprägten Umfeld direkt angrenzend an die westlich gelegenen Landkreise Cloppenburg und Vechta mit vornehmlich katholischer Bevölkerung. Dass der Sonnenstein gerade auch für die mobile Jugend aus diesen Landkreisen und damit jenseits einer damals oft noch streng getrennten konfessionellen Grenze eine besondere Attraktion darstellte, innerhalb derer weitaus ungezwungener, weil weniger beobachtet, Freiräume genutzt werden konnten, stützen Aussagen bisheriger InterviewpartnerInnen. Nicht wenige betonten, dass eine ganze Reihe von späteren, auch interkonfessionellen Eheschließungen auf Bekanntschaften aus der Disco zurückgehen.

»Hier ist Disco!« Der Sonnenstein, als Disco in den 1970ern und 80ern bei Jugendlichen ein durchaus attraktiver Ort für Freizeit und Vergnügen, verlangte seinen Gästen zunächst einmal ein erhebliches Maß an selbstorganisierter Mobilität ab. Anders als urbane Nachtschwärmer konnten sie hier nicht auf Busse und Bahnen zurückgreifen. ZeitzeugInnen erzählen von Fahrgemeinschaften, dem Bringen und Abholen durch Eltern, nächtlichen Fahrten mit dem Überlandbus und skurrilen Szenarien, wie Discobesuchen mit dem Trecker oder gar mit noch größerem landwirtschaftlichem Gerät, wie etwa mit dem Mähdrescher. Gerade die letztgenannten, mitunter alkoholisierten Performanzen zeichnen ein Bild von Ländlichkeit – teils im biografischen Nachvollzug humorvoll reflektiert, teils Zeugnis eines selbstverständlichen Agierens im ländlichen Arbeitsalltag. Auch an Nostalgie und Sentimentalität mangelt es in den 30 bislang geführten leitfadengestützten Interviews nicht. Hintergründig scheint in ihnen stets auch der Wunsch nach einem retrospektiv positiv bewerteten, heute aber vergangenen Lebensabschnitt auf, dem der Sonnenstein

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Kaden 2016, S. 239-260.

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Raum gab. Zudem spiegeln sich am Beispiel des Raums Landdisco Transformationsprozesse einer Jugendkultur und ihrer Freizeitgestaltung. In ihr und durch sie eröffneten sich für die Gäste Möglichkeiten, aktuelle Trends, Moden und Musik zu rezipieren beziehungsweise auf die Bedürfnisse auf dem Land anzupassen. In zeitlicher Parallele zu Radio- und Fernsehsendungen wie NDR2 – Der Club, Musikladen von Radio Bremen oder der ZDF-Hitparade – prominent moderiert von Dieter Thomas Heck – kam dem Sonnenstein eine Scharnierfunktion als Ort der Kontaktaufnahme zu diesen Trends zu. Als Landdiskothek ist er zugleich Beispiel gebend für eine sich ab den 1950er-Jahren wandelnde Musikindustrie von den Tanzkapellen als Gatekeeper zwischen Musikanbietern und Konsumenten bis hin zu DJs als einflussnehmender Kraft bei der Popularisierung und Produktion von Schlagern und Popmusik.15 Und mehr noch: Die Landdiskothek Zum Sonnenstein lässt sich für ihre erfolgreichste Zeit in den 1980er-Jahren wie viele andere Diskotheken im ländlichen Raum Nordwestdeutschlands als Ort einer »Erlebnisgesellschaft« definieren, wie sie Gerhard Schulze in seiner Kultursoziologie der Gegenwart beschrieb. 1992 reflektierte er die Reichweite seiner darin entwickelten Theorie folgendermaßen: »Vieles, was sich damals ausgeprägt hat, ist heute noch vorhanden oder hat sich sogar noch verstärkt: Entstehung sozialer Milieus nicht durch Beziehungsvorgabe, sondern durch Beziehungswahl; Orientierung an der psychophysischen Semantik als Vermittlung von Subjekt und Gesellschaft; Alter, Bildung und Alltagsästhetik als evidente und signifikante Zeichen in der sozialen Interaktion. Geblieben ist das Projekt des schönen Lebens als wichtigstes Ziel und das Erleben als dominante Form, Sinn zu definieren. Geblieben ist die Tendenz zur Entregionalisierung und Entökonomisierung sozialer Beziehungen.«16 Die Stärke in Schulzes Konzept der Erlebnisgesellschaft liegt vor allem in seiner Subjektzentrierung bei gleichzeitiger Eingebundenheit in kollektiv etablierte Erlebnisroutinen auf Basis von Werthaltungen, Denk- und Handlungsmustern, die je nach Milieuzugehörigkeit ausgehandelt werden. Diese Milieuzugehörigkeit ist

15 16

Binas-Preisendörfer 2008, S. 192-209; Simmeth 2016, S. 19-22 und S. 47-51. Schulze 2005, S. X. Die Erlebnisgesellschaft erklärt Schulze in Abgrenzung zu überkommenen Gesellschaftstypen wie der korporativen bzw. kompetitiven Gesellschaft wie folgt: »Situatives Charakteristikum dieses Gesellschaftstyps ist ein aus der Perspektive des einzelnen unendlich großer Möglichkeitsraum und ein voll entwickelter Erlebnismarkt. Ständige Versorgung mit und Entsorgung von Erlebnisangeboten ist ebenso selbstverständlich wie eine kontinuierliche Nachfrage nach Erlebnissen. Jenseits der Überlebensfrage, stimuliert durch unausgesetzten alltagsästhetischen Wahlzwang, haben die Individuen das existenzielle Grundproblem, ihr Leben zu erleben. Damit beginnt die Herrschaft der Bedeutungsebene des Genusses. Auswahl und Gruppierung der Zeichen bestimmt sich nach ihrer Eignung für kollektiv etablierte Erlebnisroutinen.« Ebd., S. 140.

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anhand eines selbstbewusst, fast trotzig vorgetragenen Statements aus einem Interview mit dem langjährigen Betreiber des Sonnensteins Klaus Sengstake abzulesen, welches das Selbstverständnis des Steins und all seiner AkteurInnen darin abschließend treffend dokumentiert: Abb. 7: Gunda und Klaus Sengstake Anfang der 1980er hinter der Theke im Bistrobereich des Sonnensteins. Auffallend die große Menge an Spirituosenflaschen, von denen einige für Stammgäste mit Namen versehen reserviert waren. Archiv Museum Cloppenburg.

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»Man musste immer neue Ideen haben und mit der Zeit gehen, nicht nur mit der Musik; unser Vorteil war: Es war ʼne Holzhütte, nicht mit Samt und Seide und Kupfer und Messing. Und es war immer voll und ich fand es schön, wenn morgens viel Dreck war auf der Erde. Dann war auch was los gewesen und die Leute fühlten sich wohl und konnten auch mal eine Kippe auf die Erde werfen und in diesen feinen Läden geht das eben nicht. Da wirst du ja rausgeworfen, das ist viel [zu] steril da teilweise. Und deshalb bin ich da bei allen Umbauten gar nicht so sehr auf das Moderne gegangen und nicht mit Neonlicht und ›Trallala‹.«17

Literaturverzeichnis Binas-Preisendörfer, Susanne: Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. Annäherung an einen populären Begriff. In: Maase, Kaspar (Hg.): Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2008, S. 192-209. Bonz, Jochen: Am Nullpunkt der Identifikation. Beobachtungen an Techno als expressive culture. In: Feser, Kim/Pasdzierny, Matthias (Hg.): Techno Studies. Ästhetik und Geschichte elektronischer Tanzmusik. Berlin 2016, S. 43-57. Bonz, Jochen: Subjekte des Tracks. Ethnografie einer postmodernen/anderen Subkultur. Berlin 2008. Burhenne, Verena/Hilpert, Joachim/Mania, Thomas (Hg.): Demos, Discos, Denkanstöße. Die 70er in Westfalen. Katalogbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung in einer Kooperation des rock’n’popmuseums und des LWL-Museumsamt für Westfalen vom 21.09.2018-19.04.2020. Münster 2018. Farin, Klaus: Jugendkulturen in Deutschland 1950-1989. Bonn 2006. Groth, Johannes: Menhire in Deutschland, hg. von Harald Meller im Auftrag des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Mainz 2013. Huschka, Sabine: Rausch und Ekstase als choreographische KörperSzene. In: Schetsche, Michael/Schmidt, Renate-Berenike (Hg.): Rausch – Trance – Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld 2016, S. 217-238. Kaden, Christian: Klang als Brücke zwischen den Welten. Musik und Trance, Musik und Ekstase. In Schetsche, Michael/Schmidt, Renate-Berenike (Hg.): Rausch – Trance – Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld 2016, S. 239-260. Keller, Harald/Wolf, Reiner (Hg.): The beat goes on. Der Sound. Der Style. Katalog zur Ausstellung im Museum Industriekultur Osnabrück vom 2. Juni–6. Oktober 2013 und im Tuchmacher Museum Bramsche vom 7. Juni–8. September 2013. Oldenburg 2013. 17

Interview Sengstake am 06. November 2016, Teil 2, S. 5.

»Licht aus – Spot an«

Lauer, Hery A.: Archäologische Denkmäler zwischen Weser und Ems. Oldenburg 2000. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2018. Schmerenbeck, Peter: Break on through to the other side. Tanzschuppen, Musikclubs und Diskotheken im Weser-Ems-Gebiet in den 1960er, 70er und 80er Jahren. Oldenburg 2007. Schramm, M. (BBE Unternehmensberatung GmbH): Einzelhandelsentwicklungskonzept für die Stadt Wildeshausen. Hamburg 2007. URL: https://www.wildeshausen.de/downloads/datei/OTE0MDAwNTAyOy07L3Vzci 9sb2NhbC9odHRwZC92aHRkb2NzL3dpbGRlc2hhdXNlbi93aWxkZXNYXVzZW 4vbWVkaWVuL2Rva3VtZW50ZS9iZXJpY2h0X2VoX2VudHdpY2tsdW5nc2tvbn plcHRfd2lsZGVzaGF1c2VuX2VuZGZhc3N1bmcucGRm [Letzter Zugriff am 15.10.2019]. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M./New York 2005. Simmeth, Alexander: Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968-1978. Bielefeld 2016. Strunk, Heinz: Fleisch ist mein Gemüse. Eine Landjugend mit Musik. Reinbek 2004.

Quellenverzeichnis Gemeindearchiv Harpstedt, HA 32-33-06. Gemeindearchiv Harpstedt, HA 32-33-06 und HA II 32-33-06. Archiv, Museumsdorf Cloppenburg, Interview mit Klaus Sengstake am 06. November 2016, Teil 2, S. 5.

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Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe Eine Mikrohistorie der Gärtnerei Blumen-Weidmann, 1919-2019 Carsten Sobik

Im 2011 publizierten Leitbild des Freilichtmuseums Hessenpark in Neu-Anspach im Taunus heißt es im Kapitel Grundpfeiler unserer musealen Arbeit: »Da Alltagsgeschichte jeden Tag voranschreitet, können unsere Sammlungen niemals abgeschlossen sein. So werden wir zukünftig beispielsweise Aussiedlerhöfe der 1950er-, Fertighäuser der 1960er- und Bungalows der 1970er-Jahre als typische Zeugen ihrer Zeit in das Freilichtmuseum ganzteil- oder großteiltranslozieren, um auch diese Epochen für zukünftige Generationen zu bewahren.«1 Als erstes Translozierungs-Bauprojekt zur thematischen Erschließung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sich für ein Gärtnereigebäude entschieden. Im umfangreichen Konzept des internen Fachbereiches Landwirtschaft/Umwelt wurde 2013 eines der kommenden Arbeitsziele festgelegt: die Anzucht ausgewählter, maßgeblich auf der Roten Liste geführter, alter und gefährdeter Zierund Nutzpflanzen in einem historischen Großgewächshaus durch die MuseumsgärtnerInnen. Diese zum Artenerhalt und zur Biodiversität beitragende Pflanzenproduktion wird nach der Kultivierung auf dem über 60 Hektar großen Museumsareal gepflanzt und gepflegt werden. Das Freilichtmuseum Hessenpark möchte neben dem bereits etablierten Erhalt alter Nutztierrassen2 etwas Vergleichbares auch für den Pflanzenbereich ermöglichen.3 Darüber hinaus bietet

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Freilichtmuseum Hessenpark 2011, S. 4. Vgl. Freilichtmuseum Hessenpark 2016, S. 97-105. Die Arche-Park-Zertifizierung für das Freilichtmuseum Hessenpark erfolgte im Mai 2012. Vgl. Weber, Volker 2018, S. 4. Seit 2015 besitzt das Museum ebenfalls eine Bio-Zertifizierung als anerkannter Betrieb nach EG-Öko-Verordnung (Kontrollnummer: DE-ÖKO 006). Zu finden unter: https://www.hessenpark.de/lexikon/landwirtschaft/biozertifizierung/ [Letzter Zugriff am 30.8.2019].

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sich ein konzeptualisierter Raum für die Museumspädagogik4 ebenso an wie zur Ausstellungspräsentation der Entwicklung kleinstädtisch als auch im Ländlichen verorteter Gärtnereien.5 Das Gärtnereigebäude ist damit ein zentraler Anlaufpunkt für weitere im Freilichtmuseum vorhandene Darstellungen zur großen Vielfalt von Gartenbauthemen.6 Kleine bis mittelständische Erwerbsgärtnereien waren spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts Teil ländlicher wie kleinstädtischer Alltagskultur. Sie versorgten die Bevölkerung mit Beet-, Balkon- und Topfpflanzen für den Innen- und Außenbereich, Schnittblumen, Friedhofs- und Grabschmuck, Sträuße, Gestecke und Arrangements für feierliche und/oder persönliche Anlässe. Je nach Produktausrichtung wurden auch vorgezogene Gemüsepflänzchen angeboten, die vom Kunden im heimischen Garten oder Balkonkasten zur Ertragsreife weitergezogen werden konnten. In den Gärtnereien fand die Pflanzenproduktion übersaisonal in Gewächshäusern und Frühbeetkästen7 statt, mit kurzzeitigen Ernten teils in Freilandkultur. Viele dieser Betriebe bedienten ihre Kundschaft in Direktvermarktung über eigene Verkaufsläden beziehungsweise direkt aus einem (Verkaufs-)Gewächshaus heraus.8 Das Freilichtmuseum Hessenpark begann innerhalb des Bundeslandes Hessen die Suche nach einem solchen Gewächshaus aus einem passenden Betriebsund Gebäudekomplex. 2015 wurde dieser mit der aufgegebenen Gärtnerei BlumenWeidmann im Hüttenberger Ortsteil Rechtenbach bei Wetzlar gefunden. Zu Planungsbeginn 2016 fiel der Entschluss zur Versetzung auf das erste, 1957 in Rechtenbach errichtete Gewächshaus mit kleinem Heizkesselkeller – einem Produktionsund späteren Verkaufsgewächshaus mit den Grundmaßen von 14-mal sechseinhalb Metern, auch »Verbinder« genannt. Der übrige, über Jahre gewachsene und recht umfangreiche Gebäudebestand auf dem einen Hektar großen Betriebsareal dieser Gärtnerei war in der Übertragung als Komplettensemble9 vom Museum nicht realisierbar. Die Planung der Projektfinanzierung – in entscheidendem Maß durch Spendengenerierung seitens des Förderkreises des Freilichtmuseums10 – und das

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Vgl. Badeda 2017; Kreuzer 2019. Vgl. Sobik, Carsten: Ausstellungskonzept Rechtenbach 2015-2019. Neu-Anspach 2019 [unveröffentl. Manuskript]. Vgl. Mangold 2013, S. 98-105. Vgl. u.a. Hartwig 1973. Vgl. u.a. Reiter 1916; Nicolaisen/Schubert 1953, S. 11-15, S. 27-51; Gassner 1973, S. 293-446; Wagner 1984, S. 483-505; Panten 1998; Hübner/Wimmer 2016, S. 85-106. Vgl. zu freilichtmusealen Ensembles Sobik 2016. Vgl. Ungeheuer 2015, S. 3; Scheller 2018, S. 1-2; Hoffmann 2019, S. 5.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Abb. 1: Das Betriebsgelände von Blumen-Weidmann in Rechtenbach, späte 1970er-Jahre © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark, aus Privatbesitz.

Umfeld der Lokation auf dem Museumsgelände11 ließen weitere Translozierungen zu: das als zweites in Rechtenbach errichtete Gewächshaus von 1958, ein Vermehrungs- und Kulturhaus mit den Grundmaßen von 25-mal sechs Metern, sowie die Stecksystem-Einzelteile mehrerer Frühbeetkästen von 1957, auch Mistbeete genannt. Die übrigen Gebäude der Gärtnerei, die zwischen 1959 und den 1970er-Jahren in Rechtenbach entstanden waren – weitere Gewächshäuser, ein großes Kesselhaus, eine Remise mit Werkstatt und die zwei bis heute bewohnten Wohnhäuser –, verblieben vor Ort. Außer den Wohnhäusern nebst Grundstück ist das ehemalige Gärtnereigelände heute verkauft. Die alten Gebäude sind abgerissen und durch moderne Wohnhäuser ersetzt worden. Zusammen mit den Gewächshäusern, Frühbeetkästen, und Ersatzteilen für optionale Ausbesserungsarbeiten konnten zahlreiche originale Arbeitsgeräte und Einrichtungsgegenstände aus den Treibhäusern, darunter auch wandfeste Pflanztischkonstruktionen, sowie sehr viele Firmen- und Familiendokumente wie -fotos 11

Zwei der sieben Baugruppen im Freilichtmuseum Hessenpark sind inhaltlich orientiert (Marktplatz, Werkstätten), die übrigen fünf geographisch (Nord-, Mittel-, Ost- und Südhessen sowie Rhein-Main). Der Herkunft Hüttenberger Land verortet die Gärtnerei in der Baugruppe Mittelhessen, leicht abseits der dörflichen Erscheinung der Baugruppe, wie es auch in der Rechtenbacher Ortslage der Fall war.

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mit übernommen werden – ein Idealfall. Hinzu kamen sehr kooperative, kompetente und charmante Zeitzeugen, welche die ausführliche Oral History-Erhebung für den Autor zu einer wahren Freude machte. Mit der vorliegenden Mikrostudie zur Betriebsgeschichte der über vier Generationen geführten Erwerbsgärtnerei der Familie Weidmann soll ein exemplarischer Blick auf den Werdegang eines kleinständischen, nicht spezialisierten Gartenbaubetriebes mit Zierpflanzenbau geworfen werden, wie er – nicht nur in Hessen – in Größe und Produktauswahl recht weit verbreitet war und mittlerweile seit Jahren im Schwinden begriffen ist.12 Der Weg wird dabei nachgezeichnet von der Geschäftseröffnung als städtische Gärtnerei in Wetzlar im Jahr 1919, über die geförderte Aussiedlung in den kleinen Ort Rechtenbach im Hüttenberger Land Ende der 1950er-Jahre, der wirtschaftlich bedingten Betriebsaufgabe in 2005, hin zur Translozierung ins Freilichtmuseum Hessenpark und dem dortigen Wiederaufbau bis 2019.

Die Gärtnerei in der Stadt Wetzlar Georg Weidmann (sen.)13 (1879-1956) aus Darmstadt, Sohn des Schriftsetzers Philipp Weidmann (1854-1924) und Enkel des Schuhmachermeisters Johann Georg Weidmann (1822-1887), war der erste in seiner Familie, der den Beruf des Erwerbsgärtners ergriff.14 Der ausgebildete Gärtnermeister arbeitete als angestellter Kunstgärtner im Großherzoglichen Park in Darmstadt und stieg dort bis zum Posten des OberGartenmeisters auf. Ende 1918 bot ihm die Stadt Wetzlar an, die neu in Planung befindliche Stadt-Gärtnerei zu konstituieren und zu führen. Weidmann hatte vermutlich befürchtet, dass er wegen der mit dem Ende des Ersten Weltkrieges einhergehenden Auflösung des Großherzogtums Darmstadt seinen Arbeitsplatz verlieren könnte. Folglich sagte er zu und zog mit Ehefrau Emma (1883-1973), geborene Eigenbrodt, und Sohn Friedrich (sen.) (1911-1991) vom südhessischen 12 13

14

Vgl. u.a. Storck 1997; Hessisches Statistisches Landesamt 2018. Hier sei der Lesbarkeit halber (sen.) genannt, da es in der Familie mehrere seines Vornamens gab/gibt. Gleiches gilt demnach für (jr.) und bei den Familienangehörigen mit dem Vornamen Friedrich (sen.) bzw. (jr.). Vgl. Freilichtmuseum Hessenpark Bau- und Dokumentationsakten BAB (= Bau-AusgabeBuch) 314 Gärtnerei aus Rechtenbach (nachfolgend FLM HP BAB 314 genannt), Dokumente und Interviews. (Alle Betriebs- und Familiendaten wie auch -zusammenhänge stammen im Folgenden – sofern nicht weiter aufgeführt – aus den dem Museum übergebenen Firmenund Familiendokumenten von Weidmanns sowie aus biographischen Interviews mit dem ehemaligen Eigentümerpaar Irmgard und Friedrich Weidmann (jr.) (*1949/*1945) und dem ehemaligen Angestellten Hans-Joachim Weidmann (*1934), Cousin von Friedrich Weidmann (jr.), erhoben am 25.5. sowie 21.9.2016, am 1.2. sowie 5.10.2018.)

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Abb. 2: Georg Weidmann (sen.), 1920 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark, aus Privatbesitz.

Darmstadt in die mittelhessische, mit der Industrialisierung und durch ansässige Betriebe wie Buderus und Leitz/Leica schnell an Größe und Bedeutung wachsende Kreisstadt Wetzlar. 1919 wurden die Gärtnerei und 1922 die dazu gehörende Baumschule durch Weidmann als Stadtverwaltungsvertreter der Stadt Wetzlarer Eigenwirtschaften GmbH eingerichtet. Dies geschah seitens der Stadt »[…] in der Absicht, 1. die Versorgung der Bevölkerung mit Gemüse, Pflanzen und sonstigen Gartenbau-Erzeugnissen sicher zu stellen, 2. den Bedarf an Blumen, Pflanzen, Sträuchern und Bäumen für den Friedhof, die öffentlichen Anlagen und Schmuckplätze durch eigene Anzucht zu verbilligen, 3. auf den Gemüse- und Blu-

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menhandel anregend und preisregelnd einzuwirken. Zu diesem Zwecke wurden die Gewächshäuser eingangs des alten Friedhofs errichtet, das gegenüberliegende städtische Gelände in Pacht genommen und die Baumschule an der Frankfurter Straße hinter der Spilburg angelegt.«15 Die Bedeutung des als ersten Punkt aufgeführten Grundes ist auf den erst kürzlich durchgestandenen Ernährungsnotstand zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückzuführen. Im Wetzlarer Verwaltungsbericht wurde dies als »Städtische Kriegswirtschaft« erläutert.16 Das Gärtnereigrundstück befand sich in der Wuhlgrabenstraße.17 Hier wurde hinter dem Wohnhaus und dem Verkaufspavillon, Verkaufshalle oder »Blumenhalle« genannt, die Großkulturanlage aus mehreren Gewächshäusern und Frühbeetkästen von der Herstellerfirma Höntsch aus dem sächsischen Niedersedlitz errichtet, einem der damaligen Weltmarktführer für Glasbauten jeder Art und Größe, mit Zweigwerken unter anderem in der Schweiz, Polen, Argentinien und China.18

Abb. 3: Höntsch-Werbefoto der Großkulturanlage der Stadt-Gärtnerei in Wetzlar, 1925 19 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark.

Das Betriebsgelände der Stadt-Gärtnerei umfasste »73 Ar Gesamtfläche bei 300 Quadratmetern Hochglas- [= Gewächshäuser] und 675 Quadratmetern Niederglasfläche [= Frühbeetkästen/Mistbeete].«20 Sie wurde von Weidmanns »zu einem gut 15 16 17 18

19 20

Stadt Wetzlar – Der Bürgermeister 1929, S. 253. Vgl. ebd., S. 244-247. Der Straßenname änderte sich im 20. Jahrhundert mehrfach. Mit Beginn der NS-Zeit wurde sie in Hindenburgring (am Friedhof) umbenannt, nach 1945 in Bergstraße. Vgl. u.a. Höntsch & Co. 1925, S. 11; Höntsch & Co. 1928, S. 17; Höntsch 1942, S. 235-248. (Ab den 1910er-Jahren und bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges etablierte sich die Firma mindestens am deutschen Markt auch mit Holzbauten maßgeblich in Hohlwand-Systembauweise.) Vgl. Höntsch & Co. 1934. Vgl. Höntsch & Co. 1925, S. 57. FLM HP BAB 314, Dokumente, Aussiedlungsantrag: Land- und Forstwirtschaftskammer Hessen-Nassau, Frankfurt a.M.: Gutachtliche Stellungnahme vom 6.1.1957, S. 2.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

renommierten Blumen- und Zierpflanzenbetrieb ausgebaut«21 und lief als »gemischter Fachbetrieb mit Baumschule als Lehrbetrieb.«22 Hohen Anteil am Auftragsaufkommen hatte die Friedhofsgärtnerei und Grabpflege23 nebst Trauer- wie auch Brautbinderei. Hinzu kamen die Anzucht von Schnittblumen, Stauden, Topfund Beetpflanzen in breiter Arten- und Sortenpalette sowie der Direktverkauf mit Blumenbinderei-Dienstleistungen in der Blumenhalle. Die Absicht der Stadt, mit der Arbeit der Gärtnerei eine Versorgung der Bevölkerung mit Gemüse sicherzustellen, wurde außer zwischen 1945 und 1947 nie umgesetzt. Der Betrieb zog allenfalls zur Selbstversorgung Gemüse und Obst an, jedoch nicht gewerblich. Friedrich Weidmann (sen.) legte zwischen 1925 und 1928 eine Gärtnerlehre im väterlichen Betrieb ab, schloss mehrere Fortbildungen an, so in Darmstadt und Kirchen (Sieg), und arbeitete als angestellter Gärtner von 1930 bis 1933 in der StadtGärtnerei. Am ersten Januar 1934 übernahm er den kompletten Gartenbaubetrieb in Pacht. Georg Weidmann (sen.), bereits seit 1920 verbeamtet, blieb bis zu seiner Pensionierung im März 1944 weiterhin Dienststellenleiter der Garten- und Friedhofsverwaltung Wetzlar.24 Friedrich Weidmann (sen.) heiratete im März 1937 die Blumenbinderin Erna Hornung aus Friedberg. Kurz nach der Hochzeit wurde die Stadt-Gärtnerei in Blumen-Weidmann umbenannt. Erna Weidmann erwarb als erste in Hessen-Nassau den im Kurhaus Wiesbaden verliehenen Meistertitel im Blumenbinde-Gewerbe.25 Im 19. Jahrhundert war Blumenbinderei noch kein eigener Berufszweig, sondern eine Dienstleistung der Erwerbsgärtnereien. Mit dem Städtewachstum im Lauf der Industrialisierung verlagerten sich viele der ursprünglich am Stadtrand lokalisierten Gärtnereien ins urbane Umland. Um allerdings die Kundennähe zu wahren, eröffneten die nun ländlich verorteten Gärtenbaubetriebe in den Städten Verkaufsgeschäfte für Schnittblumen, Topfpflanzen und Gestecke. Mit diesen Blumenläden entwickelte sich ab den 1870er-Jahren auch das Gewerbe der Blumenbinderei. 1904 gründete sich in Düsseldorf der erste deutsche Fachverband, der Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber (VDB), der heutige Fachverband Deutscher Floristen (FDF). Die durch den Berliner Blumenladeninhaber Max Hübner 1908 als Blumenspenden-Vermittlungsverein begründete, 1927

21 22 23 24 25

Ebd. FLM HP BAB 314, Dokumente, Aussiedlungsantrag: Weidmann, Friedrich: Mein Lebenslauf. In: Schreiben an die Nassauische Siedlungs-GmbH, Gießen, vom 15.11.1957, S. 2. Vgl. u.a. Hempelmann 1939; Rohlfs 1963; zur Hausen 1986. Vgl. ebd.; FLM HP BAB 314, Interviews. Vgl. FLM HP BAB 314, Dokumente, Abwicklungsstelle Fachgruppe Blumenbindereien: Nachbestätigung für den Titel Blumenbindemeisterin von Frau Erna Weidmann, Wetzlar, vom 17. September 1937. Berlin-Lichtenfelde, 1.10.1946.

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internationalisierte und umbenannte Fleurop zählt zu den weltweit bekanntesten Organisationen dieser Sparte.26 1939 kamen mit dem Zweiten Weltkrieg Gestaltungsaufträge für Soldatengräber und die dazugehörende Grabpflege in Weidmanns Auftragslage auf. Grablegeentwürfe zu diesem Kontext wurden in der Blumenhalle beworben.

Abb. 4: Grabgestaltung für einen gefallenen Soldaten in Weidmanns Blumenhalle am Wetzlarer Friedhof, um 1940 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark, aus Privatbesitz.

Anfang August 1941 wurde Friedrich Weidmann (sen.) zum Kriegsdienst bei der Luftwaffe eingezogen. In seiner Abwesenheit übernahm erneut die Stadt, in Gestalt der Stadt Wetzlarer Eigenwirtschaften GmbH, die Betriebsführung der Gärtnerei. Erna Weidmann war Blumenbindemeisterin, jedoch keine ausgebildete Gärtnerin und damit nach damaligem Recht nicht zur Leitung einer Gärtnerei befugt.27 Bei einem alliierten Luftangriff auf Wetzlar am 21. November 1944 schlug eine Fliegerbombe seitlich des Wohnhauses der Gärtnerei ein, fünf weitere zerstörten die Großkulturanlage fast vollständig. Emma und Georg Weidmann (sen.) überstanden den Angriff unbeschadet. Die schwangere Erna Weidmann jedoch wurde lebensgefährlich und der fünfjährige Georg, der Erstgeborene des Paares, tödlich verletzt. Von ihren schweren Verletzungen genesen, brachte sie im Juni 1945 den zweiten Sohn zur Welt, Friedrich Weidmann (jr.). Im August des Jahres kehrte sein Vater aus britischer Kriegsgefangenschaft zurück und begann ab November mit 26 27

Vgl. u.a. Garmatz 1952, S. 10-17; Wundermann 1971, S. 354-358; Maatsch 1984, S. 311-314. Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

dem Wiederaufbau der Gärtnerei, allerdings ohne finanzielle Unterstützung der Stadt zu erhalten, allein mit Eigenmitteln und Hilfe der noch übrig gebliebenen Belegschaft. Damit einhergehend übernahm Friedrich Weidmann (sen.) wieder die Betriebsleitung.28 Erschwerend zum Wiederaufbau kam – wie eingangs kurz angesprochen – in der Zeit zwischen 1945 und 1947 für die Weidmanns hinzu, dass die Gärtnerei durch Auflagen der Stadtverwaltung dazu verpflichtet wurde, wegen des Ernährungsnotstandes Gemüse als »Beitrag zur Volksernährung« anzubauen. Dafür stellten die Buderus-Werke Wetzlar 3.000 Quadratmeter Brachland zur Verfügung, auf dem die Weidmanns, parallel zu ihrem Tagesgeschäft, zweieinhalb Jahre lang unter anderem Lauch, Sellerie, Wirsing, Speisezwiebeln und Neuseeländer Spinat anbauten.29 Dieses durch die sogenannten Hungerwinter 1946/47 und Hitzesommer 1947 unter erschwerten Bedingungen erzeugte und geerntete Gemüse wurde von der Stadt an die hungernde Stadtbevölkerung verteilt. Ins Umland Wetzlars gelangte davon nichts. Die Situation der Landbevölkerung sah in der Kriegs- und Nachkriegszeit wegen eigener Anbauflächen zur Selbstversorgung grundsätzlich deutlich besser aus als die der Stadtbewohner ohne Nutzland/-garten.30 Mit der Zeit des Wirtschaftswunders in Westdeutschland kam auch der Aufschwung für Blumen-Weidmann: »1951 wurde zum ersten Mal der Gedanke in die Tat umgesetzt, einen Laden in dem Stadtkern zu betreiben. Das Geschäft am Fischmarkt 13 wurde eröffnet, doch im September 1953 wurde es wieder geschlossen. Während dieser Jahre wurde auch ein großer Teil der angezogenen Ware auf dem Wochenmarkt verkauft. Der 2. Versuch einer Filiale in der Stadt erfolgte am 01.01.1954. Es war der Laden in der Lahnstraße 13. Dieser wurde für die nächsten 20 Jahre der Hauptumsatzplatz für die selbstproduzierte Ware und zugekauften Schnittblumen.«31 Erna Weidmann leitete das »gut eingeführte Ladengeschäft […] in der Innenstadt«32 , ihr Mann die Gärtnerei. Im März 1952 legte Friedrich Weidmann (sen.) erfolgreich seine Gärtnermeisterprüfung vor der Land- und Forstwirtschaftskammer Hessen-Nassau ab.33

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Vgl. FLM HP BAB 314, Dokumente: Weidmann 1984, S. 3. Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews. Vgl. u.a. Eidam 2004; LVR-Industriemuseum 2015, hier: S. 42-75. FLM HP BAB 314, Dokumente: Weidmann 1984, S. 4. FLM HP BAB 314, Dokumente, Aussiedlungsantrag: Nassauische Siedlungsgesellschaft mbH, Außenstelle Gießen: Neusiedlung – Spezialstelle Gartenbaubetrieb an den Hessischen Minister für Landwirtschaft und Forsten, Wiesbaden, 12.3.1958, S. 3. Vgl. FLM HP BAB 314, Dokumente: Weidmann 1984, S. 4.

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Die Gärtnerei im Hüttenberger Land 1955 wurde deutlich, dass die Stadt Wetzlar den Pachtvertrag nicht verlängern würde. Das Friedhofsgelände sollte vergrößert und die Stadtbebauung hier erweitert werden. Eine Gärtnerei auf einem städtischen Grundstück erachtete die Stadtverwaltung als nicht mehr notwendig. Noch im gleichen Jahr fand Friedrich Weidmann (sen.) in der acht Kilometer entfernten Gemeinde Rechtenbach das ein Hektar große Stück Land für seine Aussiedlung und kaufte es. »Das Land bestand teilweise aus Acker, Sumpf und Wiese. Es kostete viel Arbeit und Schweiß, das Gelände trocken zu legen und urbar zu machen. Ein kleiner Bach an der Grundstücksgrenze diente lange Zeit der Wasserversorgung, bis er Jahre später verrohrt wurde und man auf die normale Wasserversorgung zurückgreifen mußte.«34 Parallel zum in Wetzlar laufenden Betrieb entstand die neue Gärtnerei am Rechtenbacher Ortsrand. Ab 1957 konnten dort sieben Frühbeetkästen mit insgesamt 345 Quadratmetern Niederglasfläche sowie das Verbinder-Gewächshaus der Herstellerfirma Höntsch & Co. GmbH35 aus Lüdinghausen errichtet werden. Hier befand sich in einem mit tiefem Bodenniveau ausgestatteten Heizraum eine Schwerkraft-Heizanlage mit einem Koks befeuerten Buderus C 40-Heizkessel. Dieser beheizte gleichzeitig das 1958 direkt im Anschluss an den Verbinder angebaute, von Höntsch produzierte, große Vermehrungs- und Kulturhaus. Alle Arbeiten und Bautätigkeiten wurden von einem Gärtnereimitarbeiter akribisch fotografiert. Die beiden umfangreichen Fotoalben liegen dem Museum in digitaler Form vor. Nicht mehr mit der Kamera festgehalten wurden ab 1958 der Aufbau der zwei großen Vermehrungs- und Kulturhäuser der Firma Höntsch, die sich parallel am Verbinder anschlossen, der 1959 fertiggestellte Bau des ersten Wohnhauses sowie alle weiteren Betriebsgebäude der nächsten Jahre, die den Bestand ergänzten. Weidmanns Aussiedlung wurde von der Nassauischen Siedlungsgesellschaft in Gießen nach Antragstellung finanziell gestützt.36 Mit dem Einzug ins

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Ebd., S. 5. Gründer war Rudolf Höntsch, einer der beiden Söhne des Gründers der Höntsch-Werke in Niedersedlitz bei Dresden, welche die Großkulturanlage in Wetzlar hergestellt und errichtet hatte. 1945 war er in den Westen geflohen und hatte den Industriebetrieb im April 1948, deutlich kleiner, in Lüdinghausen neu begründet. Die Firma erlosch 1975. Vgl. Archiv Industrieund Handelskammer Nord Westfalen, Gelsenkirchen: Amtsgericht Lüdinghausen, Auszug Handelsregister HR B 1033. Vgl. FLM HP BAB 314, Dokumente, Aussiedlungsantrag, inkl. Briefwechsel, Baupläne, Katasterauszüge, Bauscheine und Rechnungen. (Die zwei umfangreichen Dokumentenordner beinhalten alle Dokumente der Aufbauphase des Gartenbaubetriebes in Rechtenbach von 1954 bis 1967.)

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Abb. 5: Verbinder-Gewächshaus in Rechtenbach, 1957 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark, aus Privatbesitz.

Wohnhaus Ende 1959 war der Wechsel von der städtischen Gärtnerei in Wetzlar auf das ländlich verortete Areal in Rechtenbach und der rechtliche Charakter der Aussiedlung abgeschlossen. Der Ausbau des Betriebs erstreckte sich im Zuge voranschreitender Modernisierungsmaßnahmen über Jahre. Friedrich Weidmann (jr.) absolvierte von 1962 bis 1964 seine Gärtnerlehre im elterlichen Betrieb und an den Berufsschulen in Wetzlar und Hanau mit Abschluss im Betrieb Blumen Herrmann in Nidderau-Ostheim. Direkt im Anschluss folgte seine Lehre als Blumenbinder beziehungsweise Florist37 in Wiesbaden an der Berufsschule und dem Blumenhaus Amersberger bis 1965. Er heiratete im Dezember 1968 die Technische Zeichnerin Irmgard Diefholz aus Gießen, welche wiederum von 1968 bis 1971 eine Lehre als Floristin bestand, um im Familienbetrieb aktiv mitzuarbeiten. 1969 wurde das erste Kind des Paares, Georg Weidmann (jr.) geboren,

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Der Beruf der Blumenbinderei/Floristik zählt zum Handwerk, im Gegensatz zur Berufsgärtnerei, einem Berufszweig der Landwirtschaft. Am 11.12.1967 wurde die Berufsbezeichnung BlumenbinderIn durch Erlass des Bundeswirtschaftsministeriums in FloristIn geändert und gilt bis heute. Vgl. Fachverband Deutscher Floristen e. V.: Der Fachverband Deutscher Floristen. Seit über 100 Jahren die starke Interessenvertretung der deutschen Floristen. Zu finden unter: https://download.fdf.de/download.php?id=198 [Letzter Zugriff am 30.8.2019].

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Abb. 6: Koks befeuerter Buderus Heizkessel C 40 im Kesselraum des VerbinderGewächshauses aus Rechtenbach, 2019 © Freilichtmuseum Hessenpark.

und Blumen-Weidmann übernahm den Blumenladen der Gärtnerei Franz Werkmeister in Wetzlars Volpertshäuser Straße als Verkaufsfiliale.38 1971 erwarb Friedrich Weidmann (jr.) in Wiesbaden den Gärtnermeister-Titel mit seiner Meisterarbeit zur Fragestellung der Übernahme der elterlichen Gärtnerei als Fallbeispiel zur Betriebsführung und -verbesserung. Die Arbeit liegt dem Museum als Scan vor und spiegelt im Detail den Stand von 1970/1971 als auch die Planungsgedanken zur nachfolgenden Modernisierung wider: 1971 konnte die Gärtnerei auf dem einen Hektar großen Grundstück neben dem Wohnhaus und großen Flächen mit Freilandbeeten 704 Quadratmeter Hochglas- und 414 Quadratmeter Niederglasfläche vorweisen. Zentrale Themen innerbetrieblicher Neuerungen waren die individuellen Antworten auf Fragen nach pflanzkulturtechnischen wie betriebswirtschaftlichen Verbesserungen in Form von moderner Technikausstattung, den Vorteilen der Umstellung von Koks- auf Ölheizung, der grundsätzlichen Erhöhung des Umsatzes gegenüber den hohen Investitionsmaßnahmen sowie dem Zukauf von Jungpflanzen und Rohware bei bereits auf einzelne Arten und

38

Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Sorten spezialisierten Gärtnereien und/oder Großhändlern. Die extrem kostenund arbeitsintensive Eigenanzucht sollte erleichtert und vermindert werden. Eines der genannten Ziele war bereits Anfang der 1970er-Jahre die Reduzierung der Arbeitskräfte, um als kleiner Erwerbsbetrieb mit vom Endverbraucher gewünschter breiter Warenpalette wirtschaftlich am Markt bestehen zu können.39 Als erster Schritt nach dem Meistertitel übernahm Friedrich Weidmann (jr.) als Selbstständiger von seinem Vater die Verkaufsfiliale in der Volpertshäuser Straße. 1973 musste aus ökonomischen Gründen die Filiale in Wetzlars Lahnstraße nach 20 Jahren aufgegeben werden. Wegen der Umwandlung der Straße in eine Fußgängerzone blieb die Kundschaft aus, die vorher mit dem Auto direkt vorfahren und parken konnte.40 Eine Situation, die bis heute im Positiven zur Verkehrsberuhigung und Schadstoffentlastung beitragen kann, im Negativen aber den Gewohnheiten und der Bequemlichkeit der Kunden entgegenläuft und dadurch auch den Niedergang des (Einzel-)Handels in Innerstädten mitbeeinflusst.41 Friedrich Weidmann (sen.) ging 1974 in Ruhestand, sein Sohn übernahm den kompletten Betrieb. 1976 wurde Irmgard und Friedrich Weidmann (jr.)s Tochter Anke geboren, das zweite Wohnhaus auf dem Grundstück in Rechtenbach fertiggestellt sowie eine weitere Verkaufsfiliale von Weidmanns Blumenstube in einem Pavillon der Hessenklinik, heute Klinikum Wetzlar, eröffnet. Alles geschah entsprechend der Pläne, die in der Meisterarbeit genannt worden waren: »Der Absatz ist der wichtigste Faktor im Betrieb. Ich werde deshalb ein Filialgeschäft eröffnen […] in einem Einkaufszentrum am Rande der Stadt. Der Zulauf an dieser Stelle ist sehr gut und die in der Innenstadt raren Parkplätze sind hier vorhanden. Meine ganze Produktion richtet sich ausschließlich auf meine beiden Blumengeschäfte. […] An Festen und Feiertagen, wie Weihnachten, Ostern etc., ist der Verkauf auch im Dorf recht gut.«42 Die letzte Aussage bezog sich speziell auf den Verkauf im Verbinder-Gewächshaus in Rechtenbach, mittlerweile intern als Verkaufsgewächshaus bezeichnet. Hier hatten Weidmanns schon während der laufenden Aussiedlung gehofft, dass sich der Direktverkauf auf dem Land ähnlich erfolgreich etablieren würde wie in den Wetzlarer Verkaufsläden. Dies stellte sich aber als Fehlprognose heraus. Die Zahl der dortigen Laufkundschaft war abgesehen von den genannten Ausnahmen verschwindend gering, der Direktverkauf kaum lukrativ.43 39 40 41

42 43

Vgl. FLM HP BAB 314, Meisterarbeit 1970/71 Friedrich Weidmann. Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews. Vgl. u.a. Poll 2006. URL: https://www.baufachinformation.de/auswirkungenunterschiedlicher-stadtmarketingkonzepte-auf-den-tourismus-dargestellt-am-beispielder-staedte-passau-und-regensburg/bu/2006119013355 [Letzter Zugriff am 30.8.2019]. FLM HP BAB 314, Meisterarbeit 1970/71, S. 13. Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews.

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Abb. 7: Werbeannonce für die Blumenstube an der Hessenklinik und in der Volpertshäuser Straße in Wetzlar, 1980 44 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark.

Ein Ausbildungsbetrieb war Blumen-Weidmann bereits in Wetzlar. Dies setzte sich in Rechtenbach und in den Verkaufsfilialen fort. In den Betriebsjahren zwi-

44

Vgl. Kalle 1980, Vorsatz. Dieses Kochbuch wurde zur standesamtlichen Hochzeit in Wetzlar von der Stadt an jedes jungvermählte Paar verschenkt und bereicherte durch die Werbeannoncen örtlicher (Einzel-)Händler die lokale Wirtschaft.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

schen 1957 und 2005 wurden über 30 GärtnerInnen und FloristInnen ausgebildet. Neben dem leitenden Ehepaar Weidmann gab es in der Rechtenbacher Gärtnerei stets einen Gärtnermeister und einen -gesellen sowie für die Läden eine Floristin und parallel drei auszubildende FloristInnen, je eine(n) im ersten, zweiten und dritten Lehrjahr. Irmgard Weidmanns Schwiegermutter Erna hatte selbst über viele Jahre Abschlussprüfungen von angehenden GesellenInnen in der Prüfungskommission im hessischen Grünberger Bildungszentrum Floristik abgenommen. 1984 feierte Familie Weidmann zusammen mit aktueller wie ehemaliger Belegschaft – bemessen an der Pachtübernahme der Stadt-Gärtnerei von 1934 – das 50-jährige Betriebsbestehen. 1986 wurde die Filiale im Pavillon der Hessenklinik nach zehn Jahren aufgegeben, da sich dort mit Umlegung des Klinikhaupteingangs und des Wegs vom und zum Parkplatz die Verkaufssituation entschieden zum Schlechten verändert hatte. Der Arbeitsaufwand – so die Wochenendöffnungszeiten – stand nicht mehr im Verhältnis zu den Einnahmen. Ab 1987 musste sich Friedrich Weidmann (jr.) aus schweren gesundheitlichen Gründen mehr und mehr aus der aktiven Gärtnerarbeit zurückziehen, blieb aber weiterhin Betriebsleiter. Sein Sohn Georg Weidmann (jr.) schloss als potentieller Nachfolger 1988 seine Gärtnerlehre im Zierpflanzenbau bei der Gärtnerei Reuter in Langgöns-Niederkleen ab.45

Von der Betriebsaufgabe bis zur Museumsnutzung Mit den 1990er-Jahren begann langsam der Niedergang der Gärtnerei Weidmann. Die geringe Zahl der Laufkundschaft in Rechtenbach nahm noch weiter ab. Die kleine, von ihrem Warenangebot der Kundennachfrage halber aber breit aufgestellte Blumen- und Zierpflanzengärtnerei war dem kontinuierlich steigenden Wettbewerbsdruck kaum gewachsen. Nicht spezialisierte Familiengärtnereien mit breiter Warenpalette waren bereits damals am Schwinden. Allein in Hessen gibt es mittlerweile jährlich einen bis zu dreiprozentigen Rückgang von Gartenbaubetrieben.46 Es ist kaum vorstellbar, dass bis in die 1960er-Jahre frische, über den Frankfurter Flughafen versendete Schnittblumen aus Hessen, insbesondere Rosen, auf dem internationalen Markt sehr gefragt waren. Mit der Produktionsverlagerung in spezialisierte Großgärtnereien setzte ein Strukturwandel in allen Fachrichtungen des Gartenbaus ein. Anbauzentren etwa für Topfpflanzen finden sich nunmehr am Niederrhein und in den Niederlanden. Zum Beispiel wurden mit dem Inkrafttreten des europäischen Binnenmarktes seit Januar 1993 transportkostengünstige Blumenimporte von auf den Anbau einer Art spezialisierten Gärtnereien aus der EU deutlich erleichtert. Das 45 46

Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews. Vgl. Hessisches Statistisches Landesamt 2018.

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führte zu kundengünstigen Weiterverkaufspreisen an den Endkonsumenten, nunmehr auch durch nicht selbstproduzierende Händler wie Gartencenter, Baumärkte und sogar Discounter und Tankstellen. Heimische Kleinproduzenten waren nicht mehr in der Lage, mit derart günstigen Preisen mitzuhalten. Schnittblumen kommen heute ganzjährig als Import-Massenware aus wirtschaftlich unterentwickelten Ländern. Niedriglöhne wie auch fehlende Arbeitsschutz- und Umweltschutzauflagen ermöglichen es dort Großinvestoren, Pflanzen für den internationalen Markt trotz längerer Transportwege und -kosten zu konstanten Billigpreisen zu produzieren. Innerhalb nur einer Generation haben sich die Wert- und Preisvorstellungen sowie die Kaufgewohnheiten der Kundschaft einschneidend in Richtung Billigprodukte verändert.47 Mit der Neueröffnung eines großen Gartencenters in Wetzlar bestand für Weidmanns neben der allgemein schwierigen Marktentwicklung auch die direkte Gefahr eines regionalen Konkurrenten. Es stellte sich heraus, dass der Angebotsschwerpunkt des Gartencenters auf getopfter Massenware lag, der von Weidmanns auf individuellen Arbeiten mit Schnittblumen und Sträußen. Die Arbeit der FloristInnen sorgte noch für Einkünfte, während die arbeitsaufwendige Anzucht in den eigenen Gewächshäusern sich kaum rentierte und durch vermehrten Ankauf von Jungpflanzen und Fertigware kompensiert wurde. Doch selbst der Gewinn durch Floristikaufträge sank. Gründe lagen in den massiven Angeboten von Bündelware, unter anderem in Discountern, was die Nachfrage nach individuellen Sträußen zurückgehen ließ. Auch die Grabpflegeaufträge waren bei Weidmanns kontinuierlich rückläufig. Der Anteil der Friedhofsgärtnerei im Wetzlarer Betrieb hatte als Hauptaufgabengebiet noch bei 60 Prozent zum Anzucht- und Verkaufsgeschäft gelegen. In den späten 1990er-Jahren machte die Grabpflege kaum zehn Prozent aus. Dies war darin begründet, dass der alte Betrieb direkt am Friedhof gelegen hatte. Nun mussten die Fahrzeiten nach und von Wetzlar mit in die Kosten-Nutzen-Rechnung einbezogen werden. Der noch wesentlichere Aspekt war der Wandel in der Friedhofs- und Bestattungskultur. Für eine Gärtnerei waren nur die Anlage und Pflege zahlreicher Körperbestattungsgrablegen gewinnbringend. Mit steigender Popularität von kleinbemaßten Boden-Urnengräbern, Kolumbarien, See- und Luftbestattungen, anonymisierten Rasengräbern oder Grablegen in Friedwäldern ist heute die Auftragslage zur Grabanlage und -pflege durch FriedhofsgärtnerInnen nur gering.48

47

48

Vgl. u.a. FLM HP BAB 314, Interviews, Thomas Södler, Projektleitung Gartenbauverband Baden-Württemberg und Hessen e. V., Frankfurt a.M., erhoben am 14.2.2019; Richter 2011. Zu finden unter: https://www.spiegel.de/video/ndr-45min-rosen-story-video-99009035.html [Letzter Zugriff am 30.8.2019]. Vgl. u.a. AG Friedhof und Denkmal/Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel 2003; Sörries 2016; ders. 2016.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Ab 1995 wurde ein Teil der Gewächshauskapazitäten und der Freilandbeete in Rechtenbach an den Gartenbau Lüder Nobbmann aus Wetzlar zur Staudenanzucht verpachtet. 2000 übernahm Georg Weidmann (jr.) den Betrieb mit seiner Mutter als Seniorchefin an der Seite. Im Juli 2001 erschien noch ein ausführlicher Zeitungsartikel über die Arbeit von Blumen-Weidmann,49 doch trotz guter Werbung ging es betriebswirtschaftlich dem Ende entgegen. 2003 musste die Pflanzenanzucht in Rechtenbach eingestellt werden. Die im Wetzlarer Laden in der Volpertshäuser Straße angebotenen Blumen wurden aus der Region, den Niederlanden und Übersee bezogen. Zum 31. Dezember 2005 kam mit der Schließung der Blumenstube das endgültige Ende des Betriebs. Die seit 2002 mit der Einführung des Euro einhergehenden massiven Preiserhöhungen von Blumen im Einkauf, hohen Gewächshausheizkosten und das neue Sparverhalten der Kunden machten Blumen zu einem deutlich weniger als vorher gekauften Luxusartikel.50

Abb. 8: Verbinder-Gewächshaus in Rechtenbach im Zustand vor dem Abbau, 2016 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark.

49 50

Vgl. Birkhölzer 2001. Vgl. FLM HP BAB 314, Interviews, Georg Weidmann (jr.), erhoben am 11.1.2019.

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Bis 2016 lagen die Gewächshäuser entweder brach oder waren zur externen Nutzung verpachtet, unter anderem von einem Baubetrieb, der dort auseinandergenommene Baugerüsteinzelteile einlagerte. Der museale Werdegang wurde bereits eingangs dargestellt. Bis Ende 2018 waren die zwei Gewächshäuser wiedererrichtet, Anfang 2019 die Frühbeetkästen. Seit April 2019 werden die museumspädagogischen Formate »Junges Gemüse« in einem Bereich des Produktionshauses maßgeblich für Grundschulklassen angeboten und rege gebucht. Im für BesucherInnen nicht zugängigen Produktionshausbereich und drei Frühbeetkästen arbeiten die MuseumsgärtnerInnen an der Erhaltungszucht alter Sorten. Seit Juni 2019 ist die neue Dauerausstellung im Verbinder eröffnet. Sie bietet mit Teilen der Originaleinrichtung und vielen weiteren Exponaten eine Einführung in das komplexe Thema des Gartenbaus der letzten 100 Jahre, beispielhaft dargestellt anhand der Biografie der Erwerbsgärtnerei Weidmann. Eingehend werden darüber hinaus Gewächshausbauten wie -heiztechnik, Gärtnerberuf und Arbeitsgerät, Floristik, Friedhofsgärtnerei, Obst- und Gemüseanbau, die aktuelle Situation der Gartenbaubetriebe sowie Anzuchten im Jahreslauf thematisiert.

Abb. 9: Verbinder- und Produktionsgewächshaus aus Rechtenbach im Freilichtmuseum, 2019 © Archiv Freilichtmuseum Hessenpark.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Ausblick Die Geschichte der Gärtnerei Blumen-Weidmann ist ein Fallbeispiel, über das noch ungleich detaillierter weiterberichtet werden könnte. Das Schicksal des Betriebs gilt insgesamt als recht symptomatisch für den Werdegang in der deutschen beziehungsweise hessischen Zierpflanzengärtnerei seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Für eine wissenschaftlich exakte Verifizierung der Entwicklung aber müssten neben den Objektivationen in Form vorhandener allgemeiner Statistikwerte weitere analoge Mikrostudien entstehen, die Subjektivationen in Detailvergleichen zulassen und mögliche zeitliche wie regionale Unterschiede aufzeigen könnten. Gezielte fachspezifische Forschungen und Publikationen mit weiter eingrenzenden Fragestellungen scheinen rar zu sein. Für die Kulturanalyse des Ländlichen gibt es hier aktuell wie zukünftig – buchstäblich – ein weites Feld zu erschließen.

Literaturverzeichnis AG Friedhof und Denkmal/Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.): Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung. Braunschweig 2003. Badeda, Rabea: Gewächshaus aus Rechtenbach. Konzept zur museumspädagogischen Nutzung. Neu-Anspach 2017 [unveröffentl. Manuskript Freilichtmuseum Hessenpark]. Birkhölzer, Rolf: Zwischen Traualtar und Friedhof. In: Wetzlarer Neue Zeitung, 21.7.2001. Eidam, Elke: Die Arbeit gegen den Hunger. Ernährungskultur und weibliche Lebenszusammenhänge in einer hessischen Landgemeinde während der Kriegund Nachkriegszeit (= Europäische Ethnologie 3). Berlin u.a. 2004. Freilichtmuseum Hessenpark (Hg.): Leitbild Freilichtmuseum Hessenpark. NeuAnspach 2011. Freilichtmuseum Hessenpark (Hg.): Entdeckerhandbuch Freilichtmuseum Hessenpark. Kromsdorf/Weimar 2016. Garmatz, Kurt: Blumenbinderei und Grünschmuck. Handbuch für Blumenbinder und Gärtner. Giessen ²1952. Gassner, Joachim Kurt: Der Weg des deutschen Gartenbaus. 1883 bis 1968. BonnBad Godesberg 1973. Hartwig, J.: Gewächshäuser und Mistbeete. Berlin 1876. Hempelmann, Josef: Die Praxis der Friedhofsgärtnerei. Anlage, Verwaltung und Instandhaltung von Friedhöfen und Gräbern mit vielen Musterbeispielen für Grabbepflanzung. Berlin ²1939.

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Hessisches Statistisches Landesamt: Agrarstrukturerhebung 2016 – Gartenbau (= Statistische Berichte, Kennziffer: C IV 9 – 16 – fallweise/16). Wiesbaden 2018. Höntsch, Georg: Tat gestaltet. Lebensbericht eines Großindustriellen. Leipzig 1942. Höntsch & Co.: Das neuzeitliche Gewächshaus. Sonder-Katalog A. DresdenNiedersedlitz 1925. Höntsch & Co.: Das wirtschaftliche Gemüsehaus. Niedersedlitz 1928. Höntsch & Co. GmbH: Das deutsche Holzhaus Bauart Höntsch. Sonderkatalog D. Niedersedlitz 4 1934. Hoffmann, Klaus: Aktuelles Spendenprojekt – Gärtnerei aus Rechtenbach. In: Blickpunkt Freilichtmuseum 2019/21, S. 5. Hübner, Ines/Wimmer, Clemens Alexander: Zur Erinnerung an die Staudengärtnerei Kayser & Seibert. In: Zandera – Mitteilungen aus der Bücherei des Deutschen Gartenbaues e. V. Berlin 31,2 (2016), S. 85-106. Kalle, Margarete: ich koche für Dich. Ein neuzeitliches Kochbuch mit 1527 Rezepten, 33 Farbfotos, Kalorien/Joule-Angaben. Ulm 20 1980. Kreuzer, Pia: Museumspädagogisches Konzept für die Gärtnerei aus Rechtenbach. Neu-Anspach 2019 [unveröffentl. Manuskript Freilichtmuseum Hessenpark] Lauenstein, Arnim: Frühbeetkasten und Folienzelt. Berlin 1973. LVR-Industriemuseum (Hg.): Stadt, Land, Garten. Zur Kulturgeschichte des Nutzgartens. Begleitband zur Ausstellung. Oberhausen 2015. Maatsch, Günther: Der Zierpflanzenbau. In: Franz, Günther (Hg.): Geschichte des deutschen Gartenbaus (= Deutsche Agrargeschichte VI). Stuttgart 1984, S. 223364. Mangold, Josef: Das Museum als Garten – der Garten im Museum. Das LVRFreilichtmuseum Kommern. In: Bund Heimat und Umwelt in Deutschland (BHU) (Hg.): Grün modern – Gärten und Parks der 1950er bis 1970er-Jahre. Ein Kulturerbe als Herausforderung für Denkmalpflege und Vermittlungsarbeit. Dokumentation der Tagung am 15. und 16. Oktober 2013 in Hamburg. Bonn 2013, S. 98-105. Nicolaisen, Nicolai/Schubert, Karl (Hg.): Der gärtnerische Betrieb. Eine betriebswirtschaftliche Strukturbeschreibung. München 1953. Panten, Helga: Politik für den Gartenbau 1948-1998. Bonn 1998. Poll, Christiane: Auswirkungen unterschiedlicher Stadtmarketingkonzepte auf den Tourismus dargestellt am Beispiel der Städte Passau und Regensburg. Berlin 2006. Reiter, Curt: Die Praxis der Schnittblumengärtnerei. Lehr- und Handbuch für den neuzeitlichen Gärtnereibetrieb. Berlin 1916. Rohlfs, Gustav (Hg.): Die Friedhofsgärtnerei. Stuttgart 1963. Scheller, Jens: Rückblick auf das Museumsjahr 2018. In: Blickpunkt Freilichtmuseum 19 (2018), S. 1-2.

Von der Stadt-Gärtnerei über die Aussiedlung bis zur Betriebsaufgabe

Sobik, Carsten: Annäherung an das »Authentische«? Zur möglichen Nutzung des Begriffs Ensemble im Freilichtmuseum (= Werkstattbericht aus dem Freilichtmuseum Hessenpark 5). Neu-Anspach 2016. Sörries, Reiner: Ein letzter Gruß. Neue Formen der Bestattungs- und Trauerkultur. Kevelaer 2016. Sörries, Reiner: Stirbt der Friedhof? Über das Dahinsiechen traditioneller Begräbniskultur. Frankfurt am Main 2016. Stadt Wetzlar – Der Bürgermeister (Hg.): Bericht über Verwaltung, Entwicklung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Wetzlar für die Zeit vom 1. April 1913 bis zum 31. März 1928. Wetzlar 1929. Storck, H. (Bearb.): Der Gartenbau in der Bundesrepublik Deutschland. Leistungen, Strukturen, Entwicklungen (= Schriftenreihe des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Reihe A: Angewandte Wissenschaft 466). Bonn 1997. Ungeheuer, Elke: Spannende Förderprojekte im Jahr 2016. In: Blickpunkt Freilichtmuseum 10 (2015), S. 3. Wagner, Georg: Die Organisation des Gartenbaus im 19. und 20. Jahrhundert. In: Franz, Günther (Hg.): Geschichte des deutschen Gartenbaus (= Deutsche Agrargeschichte, VI). Stuttgart 1984, S. 483-505. Weber, Volker: Projektbericht Historische Gärtnerei aus Rechtenbach. In: Blickpunkt Freilichtmuseum 17 (2018), S. 4. Wundermann, Ingeborg u.a.: Der Florist 2: Pflanze, Material, Beruf. StuttgartHohenheim³1971. zur Hausen, Winfried: Grabstätten. Planung, Anlage und Pflege. Stuttgart 1986.

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Die Wiederbelebung ländlicher Potenziale Urban Gardening geht aufs Land Elisabeth Meyer-Renschhausen

Als 1996 die erste UNESCO-Studie zu Urban Agriculture, Food, Jobs and Sustainable Cities vom Entwicklungshilfe-Experten Jac Smit und seinen Mitarbeitern erschien, konnte keiner wissen, dass sie zu der am häufigsten verkauftesten Studie der UN überhaupt werden und zugleich ein neues Zeitalter einer urbanen Agrarkultur einleiten würde.1 Aber nur zwei Jahre später entstand in Wageningen in den Niederlanden die Rural and Urban Agriculture Foundation (RUAF), eine internationale Studiengruppe, die Forschungen zu Selbsthilfelandwirtschaft nicht zuletzt in Städten in aller Welt förderte. Die Forschungsgruppe initiierte Projekte und Studien und brachte eine eigene Zeitschrift und Sammelbände heraus.2 Die Begeisterung unter den meisten jüngeren WissenschaftlerInnen in aller Welt war so groß, dass die FAO in Rom, die Food and Agriculture Organization der UN, vor etwa zehn Jahren eine internationale Maillingliste einrichtete. Von Rom aus betreut, brachte und bringt sie bis heute einen von einzelnen ForscherInnen kaum noch zu bewältigenden internationalen Austausch über Projekte und Studien zur Subsistenzlandwirtschaft hervor. Zeitgleich entstand an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die AG Kleinstlandwirtschaft in Stadt und Land, die KollegInnen aus der (Entwicklungs-)Soziologie übergreifend mit anderen AkteurInnen aus der Geschichtsschreibung, Regionalplanung oder der Frauenforschung zusammenbrachte. Ihr Entstehen verdankte diese Gruppe wesentlich mehrjährigen Feldstudien im ländlichen Ostdeutschland nach 1989/90 sowie in afrikanischen Großstädten. Dazu kamen Studien zur Geschichte des organisierten Kleingartenwesens. Ihre Tagung Kleinstlandwirtschaft und Gärten als weibliche Ökonomie, die im Jahr 2000 ebenfalls an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität stattfand, war wohl die erste etwas größere Tagung zum Thema hierzulande, die tatsächlich Praktiker und Wissenschaftlerinnen zusammenbrachte. Sie spiegelte einen 1 2

Smit/Ratta/Nasr 1996. Vgl. Bakker 2000; Veenhuizen 2006, S. 2-39.

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Trend, der von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt in verschiedenen Städten Deutschlands bereits erste interkulturelle wie auch gärtnerische Selbsthilfeprojekte hervorgebracht hatte, wie besonders in Göttingen, Leipzig und Berlin, bevor das Thema ab 2009 von der Presse aufgegriffen wurde. Die Aufbruchstimmung auf der Berliner Tagung im Jahr 2000 war beeindruckend. Die AG Kleinstlandwirtschaft wurde sogleich auf den im Folgejahr stattfindenden Kongress der American Community Garden Association nach New York eingeladen, da allen wichtig erschien, die internationale Vernetzung zu fördern. Diese Vereinigung, die in den 1980er-Jahren entstanden war, bemühte sich von Anfang an um eine in Europa bisher so nicht bekannte enge Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Praktikern. Die Forschung zu den Community Gardeners in den USA wird vielfach von Wissenschaftlern und Professorinnen unternommen, die sich nicht scheuen, neben ihrem Lehren und Publizieren auch selbst den Spaten zu schwingen. Seither gibt es das Phänomen Urban Gardening auch in den europäischen Städten. Es begeistert ganz besonders auch die akademisch gebildete Jugend, zumal dann, wenn sie an Umweltfragen und gesunder Ernährung interessiert ist. Vielerorts wird zumindest von einem Teil der Studierenden und AkademikerInnen, oft in Zusammenarbeit mit älteren Zuwanderern und Geflohenen, gebuddelt und gepflanzt, gehackt, gejätet und geerntet was das Zeug hält. Es handelt sich auch um eine neue Form der interkulturellen Integration, die zunehmend auch bei zunächst skeptischen Kommunalpolitikern Anerkennung erfährt. Das Resultat der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro 1992 war der kommunale Agenda-21-Prozess, in dem sich die Städte untereinander verpflichteten, ihren Flächen- und Ressourcenverbrauch – den sogenannten »ökologischen Fußabdruck« – zu reduzieren, respektive weniger Klimaschädliche Treibhausgase zu produzieren. Die ab 1996 entstehenden Gemeinschaftsgärten griffen diese Forderungen auf und baten die Kommunen, ihnen in diesem Zusammenhang Brachen zur Verfügung zu stellen. Das Neue Gärtnern ist daher nahezu überall ökologisch orientiert, da die Kommunen ihre Brachen zwar einerseits zwecks sozialer Integration für »Interkuturelle Gärten« zur Verfügung stellen, das aber auch tun, um den jeweiligen lokalen »ökologischen Fußabdruck« zu reduzieren. So geht es für die meisten ehrenamtlichen Initiatoren der »Interkulturellen«, Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten weniger um eine neue Art der Outdoor-Freizeitgestaltung, als vielmehr um den Kräuter- und Gemüseanbau als umweltpolitische Aktivität, die soziale Belange – wie die Integration von Marginalisierten – gleichwertig einbezieht. Das geschieht vor allem, indem man so Geflohenen und Migrantinnen – für die einen Kleingarten zu pachten unerschwinglich ist – Zugang zum Gärtnern und dabei auch zur Mehrheitsgesellschaft verschafft. Tatsächlich ist der Umweltbildungseffekt dieser community gardens (wie sie im Englischen heißen – ironisch auch »city farms«) enorm und hat wohl mit zu der derzeitigen Neuauflage des Ernährungsdiskurses beigetragen. Im Süden allerdings steht die Subsistenz im Vor-

Die Wiederbelebung ländlicher Potenziale

dergrund, nebst dem Verkauf der Überschüsse, während die Umweltfrage hier besonders eine der Kunst des low budget-Gärtnerns ist.3 Ob diese ökologischen Gemeinschaftsgärten auch etwas für ländliche Kommunen sind, sollte im Rahmen eines Projekts des Naturparks Dübener Heide erkundet werden. Die Dübener Heide liegt zwischen Elbe und Mulde respektive Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt und Torgau in Sachsen. Hier wird – einzigartig – ein ganzer offizieller Naturpark von einem Verein unterhalten. Der Verein Dübener Heide e.V. entstand 1992 aus einem ehemaligen Wanderverein. Darauf angewiesen, den Erhalt des Vereins und des Naturparks über das ständige Akquirieren immer neuer Fördermittel zu betreiben, waren und sind die drei Hauptamtlichen und ihre Unterstützer auch bereit, sich auf in ihren Augen eher kurios wirkende Projektideen einzulassen. Zumal sie den Projekt-Initiator, Torsten Reinsch aus Berlin, zu sich geholt hatten, weil er über den Konflikt zwischen Naturschutz und Einwohnerschaft sowie Konfliktlösungen durch neue Kommunikationsstrategien promoviert hatte.4 Tatsächlich existierten im Herbst 2018, als nach zwei Jahren die Förderung beendet war, tatsächlich zwei typische Gemeinschaftsgärten, einer in der Kleinstadt Bad Düben und ein zweiter im Kemberger Forst – beide mit Aussicht auf Fortexistenz.

Abb. 1: Frühjahrsarbeiten im Gemeinschaftsgarten.

Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen.

3 4

Vgl. Bakker 2000; Veenhuizen 2006, S. 2-39. Reinsch 2010.

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Naturpark Dübener Heide Naturparks wurden 1956 eingeführt, um zumindest in gewissen Regionen dem Naturschutz einen Vorrang vor dem Landschaftsverbrauch zu geben. Verbindliche Auflagen und Vorschriften existierten hier jedoch noch nicht. Genaueres bestimmten die Bundesländer je nach Maßgabe des jeweiligen Naturschutzrechts. Eine Hoffnung war, dass der Tourismus die im landwirtschaftlichen Bereich verschwindenden Arbeitsplätze ersetzen könnte. Auf diese Idee kam man bald nach der Wende 1989/90 auch wieder in Ostdeutschland, nachdem dort infolge der schnellen Wiedervereinigung innerhalb sehr kurzer Zeit nahezu 80 bis 90 Prozent der Erwerbsarbeitsplätze im Bereich der Landwirtschaft verschwunden waren.5 So kam die Idee, Erwerbsarbeitsgelegenheiten im Bereich des Tourismus zu schaffen, erneut auf. Im Zuge des Rückgangs der bäuerlichen Landwirtschaft, wurde so versucht, die Attraktivität der ländlichen Gebiete zumindest mit geschützten Naturschutzgebieten zu erhöhen. Die Naturparks sind in der Regel von Fördergeldern abhängig, sie fördern also das Naturerlebnis – auch um so besser auf sich aufmerksam zu machen – gerne mittels einer niedrigschwelligen Umweltbildung, mit der sich auch Reisende gut ansprechen lassen. Hier treffen sich die Naturparks mit den städtischen Gemeinschaftsgärten, die ebenfalls, weil sie sich via Projektförderung finanzieren müssen, häufig zu anerkannten Zentren eines neuen Nachdenkens über die Umwelt und das menschliche Naturverhältnis wurden. Der Verein Dübener Heide entstand kurz nach der Wende deshalb, weil große Teile der Dübener Heide nach 1989/1990 weiterhin von den Abrissbaggern der Bitterfelder Braunkohleindustrie bedroht waren. Die Gründer kamen von den sogenannten »Grünen Tischen« der Wendezeit. Ihnen gehörten Bürger und Umweltaktivistinnen der Region Dübener Heide an, die seit dem frühen 20. Jahrhundert (neben anderem) vom Kurbetrieb dreier Kleinstädte lebt. Der »Heideverein« (wie er in der Region genannt wird) erhielt vom lokalen »Grünen Tisch« den Auftrag, sich für den Erhalt der Naturlandschaft einzusetzen. 1992 erklärten die Landesregierungen von Sachsen-Anhalt sowie Sachsen die Dübener Heide zum Naturpark. Der Verein Dübener Heide e.V. wurde als von staatlichen Stellen unabhängiger Träger eingesetzt. Dank seiner engagierten Aktiven auf bescheidenen drei halben Stellen und zeitweiligen Projektstellen – etwa für das Ausschildern von Wanderwegen – wurde der Heideverein zu einem wichtigen sozialkulturellen Zentrum der Gegend. Das Städtchen Bad Düben verdankt dem Verein ein Naturparkhaus mit Dauerausstellung zum Naturschutz, das nicht zuletzt auch für die Gäste des örtlichen Kurbetriebs interessant ist. Weil der Verein sich durch immer neue Projekte zu finanzieren und über

5

Busse 2000; Jaster/Filler 2003, S. 12-40.

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Wasser zu halten sucht, ist er in der Region als Projektpartner und Fördermittelempfänger ausgesprochen anerkannt. So wurde der Heideverein zu einem Zentrum der Umweltbildung und zum Träger von Projekten einer Bildung (für) nachhaltige Entwicklung (BNE). Daher war der Heideverein auch bereit, ein Projekt zur Gründung zweier Gemeinschaftsgärten unter seine Fittiche zu nehmen, obschon man von der Idee, Gemeinschaftsgärten zu gründen, zunächst wenig überzeugt war.

Subsistenz- und Kleinstlandwirtschaften vor der Wende Denn eigentlich haben auf dem Land doch die meisten Menschen Gärten. Sogar wer mangels eines Eigenheims – nur 50 Prozent der ostdeutschen Landbewohner sind Hausbesitzer – keinen Hausgarten besitzt, hat zumindest doch einen Kleingarten. Entsprechend ist die Kleingartendichte in Ostdeutschland überall und sogar auf dem Land hoch und übertrifft jene in Westdeutschland um ein vierfaches.6 Dazu kommt dass in der ehemaligen DDR, wie generell im ganzen ehemals sozialistischen Osteuropa, Hausgärten, Kleingärten und Kleinsthöfe als sogenannte »Individuelle Hauswirtschaften« weit verbreitet waren. Diese Kleinstlandwirtschaften und Gärten waren ein probates Mittel, dem Alltagsfrust infolge staatlicher Gängelei und der notorischen Mangelversorgung zu entfliehen. Viele hatten auch Schweine, Ziegen oder sogar Kühe. Und zwar produzierten die LPG-Genossen (die meisten Dorfbewohner gehörten irgendwie zur örtlichen LPG) in ihren Gärten Obst und Gemüse, Tiere oder Tabak sowohl für die Selbstversorgung sowie zum Verkauf. Angeblich langweiliges Landleben hatte durch diesen allgemein üblichen Umgang mit Tieren, Pflanzen und dazu gehörende Nachbarschaftshilfen sehr befriedigende Seiten.7 LPG-Genossenschaftsbauern im ganzen östlichen Europa waren gleich nach der Vollendung der Kollektivierung 1961 jeweils 500 qm private Wirtschaftsfläche als Grundlage einer »Individuellen Hauswirtschaft« zugestanden worden, dazu bestimmte Kontingente an unter anderem Saatgut, Stroh und Viehfutter.8 Diese Subsistenzwirtschaften wurden als kleine Zuerwerbswirtschaften in ganz Osteuropa seitens der Staaten gefördert. Ganz besonders auch, indem man den Erzeugern ihre Produkte zu garantierten Preisen abnahm. Damit sollte die Versorgung der eigenen Bevölkerung sichergestellt werden. Darüber wurde öffentlich jedoch kaum gesprochen, da es dem Diktum von der erfolgreichen kollektiven Landwirtschaft widersprach, die sozialistischen Staaten also nicht zugeben wollten, dass sie den

6 7 8

Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e. V. o.J. Meyer-Renschhausen 2004, S. 83-97; Dies. 1998, S. 60-76; Dies./Müller 2004. Swain 2002, S. 111-133; Swain 2019, S. 563-567.

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Kollektivbauern ihre Nebenbei-Landwirtsschaften zugestanden, um sie auf dem Land halten zu können.9 Da man im Rahmen dieser Kleinbetriebe oft auf Hilfen der Dorfgemeinschaft angewiesen war, half die »Individuelle Hauswirtschaft« paradoxerweise die gegenseitige Nachbarschaftshilfe auf dem Dorf zu erhalten, wie Barbara Schier herausfand.10 Diese staatliche Förderung der dörflichen Kleinstlandwirtschaft fiel mit der Wende sang- und klanglos fort, weil die Politik zwar bei der staatlichen Förderung der Großlandwirtschaft blieb, die weiblich dominierten Garten- und Kleinstlandwirtschaft aber für entbehrlich hielt. 90 Prozent der ehemaligen LPG Genossen verloren ihre Anstellung und von den Frauen wurden fast alle arbeitslos und mit oft kaum 50 Jahren in den Vorruhestand geschickt.11 Manche erwerbslos gewordenen Paare versuchten sich durch Kaninchenzucht und Gartengemüseverkauf auf dem nächsten Wochenmarkt weiterhin ein kleines Einkommen zu verschaffen. Vor allem die Älteren trösteten sich mit ihren Haus- und Kleingärten auch dann noch, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Verkauf sogar auf dem nächsten städtischen Wochenmarkt sich nicht mehr lohnte.12 Manche Dörfer wie etwa Brodowin wurden als Öko-Dörfer sogar zu gewissen Zentren einer neuen Garten- und Kleinstlandwirtschaftskultur. Kurzum: es gibt auf dem platten Land noch immer Kleinstlandwirtschaft und Gärten, wieso nun also auch noch Gemeinschaftsgärten? Tatsächlich stießen die Initiatoren des Projekts Urban Gardening geht aufs Land in beiden Bundesländern im südöstlichen Sachsen-Anhalt ebenso im nördlichen Sachsen auf verschiedene Initiativen und Vereine, die bereits seit Jahren in der Region aktiv sind. Nicht wenige versuchen, die Selbstversorgung, Subsistenzwirtschaft zu einem zentralen Standbein zu machen, um sich vom Erwerbsarbeitszwang etwas lösen zu können, um Zeiten der Erwerbslosigkeit zu überbrücken und zudem auch um sich so den – in ihren Augen problematischen – Produkten des pur gewinnorientierten Landbaus aus den Supermärkten zu entziehen. Das Modell ist in der Regel: ein Partner hat eine einkommensgenerierende Tätigkeit, der andere kümmert sich sprichwörtlich um ›Haus und Hof‹, also Kinder, Alte und Garten oder sogar (meist Klein-)Vieh nebst anfallenden Reparaturarbeiten.

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Swain 2000, S. 45–63; Swain 2002, S. 111-133; Rocksloh-Papendieck 1995. Schier 2001. Neu 2001, S. 240-245; Scholze-Irrlitz 2019, S. 590-598; Dies. 2006. Meyer-Renschhausen 2004, S. 83-97; Dies. 2005, S. 607-612; Meyer-Renschhausen/Müller 2004.

Die Wiederbelebung ländlicher Potenziale

Urban Gardening, Interkulturelle Gärten Interkulturelle Gärten, wie sie hierzulande anfangs hießen, entstanden etwa ab der Jahrtausendwende nach dem Vorbild des community gardening in den USA. Die Anfangsjahre waren schwierig, da sie in den Städten oft lange kämpfen mussten, bevor sie Flächen zur Verfügung gestellt bekamen. Dann aber verlief die Entwicklung rasant. Die Gemeinschaftsgärten in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich fördernde Anstiftung in München (mit der Stiftung Interkultur) zählte im Jahr 2018 bereits 600 Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland.13 Zeitgleich entstanden ähnliche Gemeinschaftsgärten in allen europäischen Ländern von Schweden bis Italien und Spanien. Gemeinschaftsgarten-Gründungen im ehemaligen sozialistischen Osteuropa erfolgten etwas verzögert in den letzten Jahren, soweit nordamerikanische Quäker sie nicht gleich nach dem Jugoslawien-Krieg etwa in Bosnien gefördert hatten. Heute gibt es von Sarajewo über Maribor, von Budapest bis nach Warschau auch in ganz Europa Gemeinschaftsgarten-Initiativen. Hauptkennzeichen ist jeweils eine kommunale Fläche, auf der sich eine feste Gruppe verbindlich zumindest einmal pro Woche zu einem festen Termin zum gemeinsamen ›ackern‹ trifft. Trotz der knappen Flächen fördern zunehmend mehr Städte Gemeinschaftsgärten als Mittel der sozialen Integration. In Paris wurde ein Programm für jardins partagés nach New Yorker Vorbild bereits ab 2003 angelegt. In London wollte man die innerstädtischen community gardens zur Olympiade auf bis zu 2000 vermehrt sehen.14 In Südamerika unterstützen manche Städte urbane Gemüseanbau-Projekten seit Jahren, da sie besonders ärmere Frauen und andere Zuwanderer vor dem Hunger bewahren können, wie etwa in Rosario, Argentinien oder Belo Horizonte, Brasilien. Die Stadt Stuttgart beschäftigt neuerdings einen Urban-Gardening-Beauftragten. Berlin hat beschlossen, der Bauindustrie keine weiteren Garten- oder Grünflächen zu opfern und hat neuerdings ebenfalls einen für Gemeinschaftsgärten (mit) Zuständigen. Einzelne Kommunen, respektive einzelne Bezirke in Berlin, bemühen sich um die Förderung von Garteninitiativen zugunsten von ZuwandererInnen oder Geflüchteten. Notwendiges Umweltwissen kann in einem Nutzgarten en passant gelernt werden. In einem Garten, der ohne Chemie arbeiten will und mangels Finanzen auch muss, muss kompostiert, gemulcht und sparsam gewässert werden. Oder aber man muss hacken, um weniger gießen zu müssen: kurzum der Garten lehrt die Beteiligten das Nachdenken über den Boden, verschiedene Böden und Naturkreisläufe. Beim gemeinsamen Kochen stellen die Gärtner und Gärtnerinnen fest, dass 13 14

Anstiftung. Offene Werkstätten, Reparatur-Initiativen, Interkulturelle und Urbane Gemeinschaftsgärten. Offizielle Homepage o.J. Viljoen/Bohn 2014.

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selbst angebautes Gemüse, wenn es gleich verarbeitet wird, häufig mehr Aroma und Eigengeschmack hat als im Supermarkt Gekauftes. Sie fragen nach den Gründen und kommen so auf die Bedeutung des Frischverzehrens sowie der Arten des Düngens, des Pflegens der Kulturen und weiterer Zusammenhänge. Gerade MigrantInnen und NichtmuttersprachlerInnen sind oft froh, ihre traditionellen Anbauweisen hier als nachhaltige Formen gewürdigt zu wissen und finden über diese Erfahrungen zu einem umweltkonformen Alltagsverhalten. Unversehens sehen sie sich im Mainstream angekommen und gewinnen Freude am Mitmachen.

Kleingärten und ländliche Entwicklung Die Nichthausbesitzer auf dem Land produzierten, wie erwähnt, in ihren Kleinstlandwirtschaften wie auch in den Kleingärten zum Teil auch für den Verkauf. Ein gewisses Zusammenarbeiten gehörte im Dorf wie auch in den Gartenkolonien dazu. Gartenkolonien wären doch auch Gemeinschaftsgärten, wird oft von Kleingartenvertretern gerne gesagt, denen es sauer aufstößt, dass die Presse sich derzeit vor allem für die Gemeinschaftsgärten interessiert.15 Und natürlich stimmt es, dass Kleingärtner zu einem Schrebergarten nur kommen, indem sie einem Kleingartenverein beitreten und sich den Regeln ihrer Kolonie respektive modern »Gartenanlage« unterwerfen. Wenn man so will, können die seit Ende der 1990er-Jahre und den frühen 2000er-Jahren in ganz Europa neu entstehenden Gemeinschaftsgärten als eine neue Form des ehemaligen Arbeitergärtnerns in Kleingartenkolonien gesehen werden. Aber in den Kleingärten stand bei ihrem Entstehen (mit Kleingartengesetz seit 1919) die Idee der Selbstversorgung im Vordergrund.16 Infolgedessen sind sie in der Bundesrepublik Deutschland noch immer per Gesetz vor der Spekulation mit Grund und Boden in gewisser Weise geschützt. Diesen Schutz haben die neuen Gemeinschaftsgärten nicht. Andererseits haben die Kleingärtner infolge des BKG (des heutigen Bundeskleingartengesetzes) Auflagen und Vorschriften zu erfüllen, von denen die Gemeinschaftsgärtner bislang verschont sind. Kleingärten dürfen etwa keine Schattenbäume pflanzen, nicht auf ihren Parzellen wohnen und müssen zum Beispiel auch unverpachtete Parzellen als ganze Gartenkolonie mittragen.17 Das trifft heute besonders ländliche Kleingartenanlagen in Ostdeutschland, wo die Abwanderungsrate teilweise bei bis zu 25 und 30 Prozent liegt. Bad Düben wurde von der Entwicklung neben anderem abgehängt, als die Bahnverbindung von Berlin nach Bad Düben infolge des Neuzuschnitts der Bun15 16 17

So etwa vom Landrat a. D. W. Schübel, Vertreter der Kleingartenverbände Nordsachsens auf der Abschlusskonferenz des Projekts am 27.1.2019. Bertram/Gröning 1996. Konzept zur Bewältigung der Leerstandsproblematik im Landkreis Nordsachsen, Auftraggeber Landratsamt Nordsachsen, Torgau Dezember 2014, S. 18, 21, 27.

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desländer eingestellt wurde. Sachsen-Anhalt hatte südlich von Wittenberg wenig Interesse an einer Bahnlinie durch das dünn besiedelte Waldgebiet. Und weil zudem zahlreiche Gebiets- und Verwaltungsreformen seitens der Bundes- sowie der Länderpolitik die Entleerung der Regionen förderten18 , geriet auch der ehemalige Maschinenbauort Bad Düben am Nordrand Sachsens (mit etwa 6.000 Einwohnern) und die nördlich davon gelegene Dübener Heide in eine prekäre Lage mit der Folge massiver Abwanderung und dem ›von oben‹ oktroierten Verlust einer weiterführenden Schule in Bad Düben. Der Aufbau eines evangelischen Gymnasiums soll aktuell Ersatz schaffen, aber noch müssen viele Klassen in Containern unterrichtet werden, die ausgerechnet auf dem zeitweiligen Schulgarten aufgestellt wurden. Die Dübener Kleingärtner fürchten, demnächst doppelte Pacht entrichten zu müssen, weil so viele Parzellen leer stehen. Viele sind enttäuscht, weil für die Jugend weder Ausbildungsplätze noch Anstellungen bereitstünden und zahlreiche junge Leute abwanderten. Die letzten Wahlergebnisse dokumentierten die Enttäuschung über die Politik deutlich, die AfD hatte deutlich zugelegt.19 Aber es gibt Menschen vor Ort, die sich gleich nach der Wende gegen Abwanderung und Resignation einsetzten. Das war und ist neben dem Verein Dübener Heide unter anderem die Sächsische Interessengemeinschaft ökologischer Landbau e.V. mit Sitz in Dorf Kossa bei Bad Düben. Sie wurde wesentlich vom Agrarwissenschaftler Roland Einsiedel ins Leben gerufen, der zusammen mit seiner Frau in Kossa auch einen kleinen Hof unterhält. Er setzte sich sofort nach der Wende dafür ein, zur Belebung der Region und dem Erhalt lebendiger Dörfer die ehemals privaten Hauswirtschaften, also Hausgärten- und kleine Landwirtschaften nunmehr gezielt ökologisch zu betreiben. Denn mittels regionaler Produktion und Vermarktung gesunder (Öko-)Erzeugnisse würde man doch nicht zuletzt die Frauen der Dörfer vor Erwerbslosen-Frust bewahren können – und nebenbei die Dörfer dadurch für den Tourismus attraktiver machen.20 Im Sinne des Nachhaltigkeitsgedankens vielfältig angelegte Gärten schüfen ansprechende Landschaften und förderten die Biodiversität, argumentierte er. Sie veranlassten die Menschen dazu, in der Region zu bleiben und zögen potentielle Zuwanderer an. Tatsächlich gibt es laut Roland Einsiedel in der Dübener Heide vergleichsweise viele, nämlich über 70 Biolandwirtschaften, 42 im größeren Sachsen-Anhaltiner Teil und 35 im flächenmäßig kleineren sächsischen Teil der Dübener Heide. Ähnlich stießen die Initiatoren des Projekts Urban Gardening geht aufs Land in Sachsen-Anhalt auf verschiedene Initiativen und Vereine, die versuchen, innovative Ideen aus Stadt und Land in ihrer Region umzusetzen, wie etwa die Evangelische

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Henkel 2018. Vgl. dazu Koppetsch 2019 und eigene Untersuchungen. Einsiedel 1991/92.

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Akademie in Wittenberg, einen engagierten Bioladen und ein Biorestaurant ebenfalls in Wittenberg, ein Naturlehrgarten-Projekt in Bergwitz und ein Haus Spes mit einem umweltpolitischen Seminarangebot bei Gniest. Ein bald drittes Mitglied der Gründergruppe des Projektes wurde Paula Passin, die mit ihrem Mann südlich von Wittenberg den Verein Mischkultur e.V. betreibt. Die Initiatoren, Torsten Reinsch und Elisabeth Meyer-Renschhausen, besuchten die örtlichen sozialökologischen Initiativen, organisierten Veranstaltungen und warben so für ihre GemeinschaftsGarten-Idee, was auf zunehmende Resonanz stieß. Ab April 2017 begannen sie, systematisch nach geeigneten Flächen und Gruppen zu suchen. Weil die Dübener Heide sich über zwei Bundesländer erstreckt (Sachsen und Sachsen-Anhalt) wurde angestrebt, zwei Gemeinschaftsgärten zu gründen. Einer entstand auf dem Gelände einer ehemaligen Eisenbahnlandwirtschaft am Bahnhof Düben und ein zweiter mitten im Wald am Holzplatz bei Gniest, den ein am ökologischen Waldumbau interessierter Waldbesitzer kostenlos zur Verfügung stellte.

Gemeinschaftsgärten gründen Zentral war, dass an Bestehendes angeknüpft werden konnte. Die in Bad Düben erst in jüngster Zeit gegründete Bahnhofsgenossenschaft Bad Düben sowie der Verein Mischkultur e.V. aus dem Dorf Gniest wurden über ihre Hauptaktiven also zu den örtlichen Mitgründern. Nach einer Initialrunde mit Einsatz eines örtlichen Beirats steigerten gemeinsame Exkursionen wie eine erste zu den bekannten Annalinde Gärten in Leipzig die Motivation loszulegen. Sorgfältig vorbereitete Workshops zum Bau von Hochbeeten, über Permakultur oder den Abbau und Wiederaufbau einer alten Gewächshausanlage brachten die Menschen zusammen. Treffen und Feste, vor allem aber das gemeinsame Essen am Ende eines jeden Gartentags bildeten ein wichtiges Bindeglied der bunten Truppe. Da das Ziel war, interkulturelle Gärten einzurichten, begann die Projektgruppe zudem, zu Geflüchteten und MigrantInnen und den entsprechenden Organisationen, wie etwa der Arbeiterwohlfahrt, Kontakt aufzunehmen. Viele kamen und blieben wieder weg, weil sie fortzogen, andere halfen beim Gießen im trockenen Sommer 2018. Sprachkurse zu geben, wie die Internationalen Gärten Göttingen21 , gab das Budget nicht her. Gemeinsames Arbeiten, Wochenend-Workshops und Feste mit dazugehörigen Suppentalks, wie generell dem immer dazu gehörenden gemeinsame Abendessen im Gewächshaus und nicht zuletzt der zeitlich überaus engagierte auch praktische Arbeitseinsatz des Projekterfinders Torsten Reinsch, der – im Garten zeltend – ungezählte Arbeitsstunden besonders in den Wiederaufbau eines recycelten Ge-

21

Vgl. Müller 2002.

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wächshauses steckte, bildeten die Grundlage für das Gelingen des Gründens zweier Gemeinschaftsgärten.

Abb. 2: Der Projekterfinder Torsten Reinsch mit Outdoor-PC vor (fast fertigem) Trennklo.

Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen.

Im zweiten Jahr 2018 nahm der Dübener Gemeinschaftsgarten, der so genannte Gemeinschaftsgarten am Wasserturm schnell Konturen an, indem drei Mitglieder der Gründergruppe jede Woche, vorbildlich regelmäßig für zwei Tage in den Gärten arbeiteten. Dieser Gemeinschaftsgarten entstand auf einem Teil der 5.000 Quadratmeter einer ehemaligen Bahnlandwirtschaft, die der örtliche Gartenmeister Michael Kühn für einen derartigen Zweck waghalsig bereits gepachtet hatte. Einen Teil davon hatte er kostenlos an einen erwerbslosen Sibiriendeutschen abgetreten, der dort seine Selbstversorger-Landwirtschaft betreibt. Einen zweiten Teil benutzt Kühn für die Zwischenlagerung von Erdaushub seines Garten- und Landschaftsbaubetriebs. Diese Parzellen einer ehemaligen Bahnlandwirtschaft liegen gegenüber dem Bahnhofsgebäude in Bad Düben, für dessen Rettung Kühn unter anderem zusammen mit seinen Kindern die Bahnhofsgenossenschaft Bad Düben ins Leben rief. Paula Passin vom Verein Mischkultur wurde als gelernte Gärtnerin und gewiefte Selbstversorgerin engagiert und zeigte den Laiengärtnern – nicht zuletzt anhand und mit ihren eigenen Gartengeräten, die sie in ihrem Auto mitbrachte – wie am besten zu graben, stecken, hacken, ausgeizen oder zu gießen sei. Mit genauen Plänen hinsichtlich Mischkulturen und Fruchtfolge brachte sie eine Art

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wissenschaftlichen Zug in die beiden Gartengruppen, der seitens der GärtnerInnen interessiert aufgenommen wurde. Landschaftsplaner Kühn konnte gelegentlich mit seinen Maschinen aushelfen, als es etwa um das Fällen einer großen Weide ging. Aber hauptsächlich wurde das Projekt deshalb ein Erfolg, weil ganz besonders die Gründer zu einem extremen Zeitinput bereit waren und zwar ganz besonders der Projekterfinder Torsten Reinsch, der halbe Wochen in den Gärten und der Dübener Heide zubrachte. Ende der Projektlaufzeit war klar, dass beide Gärten ausstrahlten und sich viele Hausund Kleingärtner schon durch die pure Existenz so verrückter Gruppengärten in ihrem eigenen gärtnerischen Bemühen mehr als bisher gewürdigt fühlten. Einige hohe Birn- und Pflaumenbäume und Rest-Hütten, geeignet als Unterkünfte für Gartengeräte und Kompost-Klo, hatten aus dem Gelände eine etwas abenteuerliche Neuheit gemacht, die allenthalben neugierig machte. So zogen die beiden Gartenprojekte zahlreiche BesucherInnen und Mittuende an. Aus städtischer Sicht hätten es gerne auch ein paar mehr sein können. Aber so hatte man immerhin die Möglichkeit, sich untereinander kennen lernen zu können. Unter den Mitmachenden waren – wie anderswo auch – viele Selbständige, Freischaffende, Angestellte und Rentnerinnen sowie Erwerbslose aus allen gesellschaftlichen Schichten: Kleinstlandwirtinnen, Akademiker und Arbeiter, Idealistinnen sowie Pragmatiker. Insgesamt trauten sich mehr Frauen als Männer, einfach mal vorbeizukommen. Männer wurden eher von ihren Frauen mitgebracht; man musste sich konkrete Aufgaben für sie ausdenken, um sie einzubeziehen. Beim Bau einer Trenntoilette oder eines Insektenhotels etwa waren alle begeistert dabei und sägten und hämmerten, was das Zeug hielt. Beim genauen Hinsehen zeigt sich, dass – wie oft in Dorferneuerungsprojekten – in beiden Gärten die ›Zugezogenen‹ dominierten. Sie stammen zwar meistens aus der Region, und sind noch in der DDR aufgewachsen, haben aber individuell schon so manche Ortswechsel hinter sich. Erstaunlicherweise spielt die Gruppe der in etwa 50-Jährigen, von denen viele seit Jahren auf eine sozialversicherungsfähige Beschäftigung bereits verzichten mussten und als neue Freiberufler eher prekär denn in Saus und Braus lebend, in beiden Gemeinschaftsgärten eine tragende Rolle. Auch im Gniester Garten stammen viele aus der Gegend beziehungsweise suchen als Gruppe schon länger nach neuen, gemeinsamen Wohn- und Arbeitsformen. Viele sind freischaffend, ganz oder halb arbeitslos, manche haben Nebenjobs. Alle leben bescheiden und fast alle betreiben zudem auch eigene Öko-Gärten, die aber oft von benachbarter Großlandwirtschaft mit Agrargiften eingenebelt werden.

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Abb. 3: Die gießende Autorin.

Foto: Torsten Reinsch.

Gemeinschaftsgärten als Projekt Das bei Antragstellung genau ausgetüftelte Projektdesign ermöglichte durch den Projektleiter Torsten Reinsch22 , seine Beraterin (die zugleich die wissenschaftliche Begleitung war: die Verfasserin) und als »Gartenassistenten« ins Projekt geholte örtlichen Aktivisten (Passin, Kühn) eine erste Teambildung. Es war klar, dass Gemeinschaftsgärten nicht von Einzelnen gegründet werden können. Daher zielte die Gründungsphase auf die Einbindung möglichst vieler Beteiligter respektive darauf, möglichst viele AkteurInnen von vorort für das Vorhaben zu gewinnen. Aber schon mit den beiden gelernten Gärtnern der Region war ein tragfähiges Grundteam entstanden, das den Aufbau der Gartengruppen ermöglichte. Mittels dieser Kerngruppe war die notwendige Regelmäßigkeit in den beiden Gärten gewährleistet. Allerdings wären ohne die Bereitschaft dieser vier zu einem erheblichen Mehr an Zeiteinsatz die beiden Gemeinschaftsgärten nicht zustande gekommen. Besonders Torsten Reinsch zeltete unzählige Wochenenden im Dübener Garten, um den zeitraubenden Aufbau eines recycelten Gewächshauses als Zentrum und Hütte des Gartens voran zu bringen. Die bescheidenen Honorare ermöglichten die notwendige Verbindlichkeit. Zentral für das Funktionieren war, dass dauerhaft Zugang zu einem Büro (meistens die Wohnküche des Gartenpächters beziehungsweise bald die 22

Vgl. dazu als Vorstudie: Reinsch/Dallmer/Klotz 2015.

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W-Lan-Verbindungen im Glashaus im Garten selbst) sowie Honorare für die Mitmachenden vorhanden waren. De facto lag der ›Stundenlohn‹ wahrscheinlich bei circa vier Euro oder weniger. Aber diese Grundfinanzierung erlaubte es überhaupt, feste Ehrenamtliche wie etwa Schülerpraktikanten, Personen aus dem Bundesfreiwilligendienst oder dem freiwilligen Ökologischen Jahr sowie andere Praktikanten, verbindlich betreuen zu können. An solchen Angeboten waren auch das Arbeitsamt und andere Ämter interessiert. Im Jahre nach Ende der offiziellen Förderung des Projekts, 2019, war tatsächlich eine gewisse Weiterexistenz beider Gärten zu beobachten, auch wenn die Gartengruppen selbst nicht gerade von einer Masse interessierter überrannt wurden, wie es in Berlin etwa beim Gemeinschaftsgarten Allmende-Kontor anfangs durchaus war. In der Dübener Heide dienten beide Gemeinschaftsgärten als Ankerpunkt für Vernetzung und Zusammenarbeit verschiedener Individuen und Gruppen der Region. Eine engere Zusammenarbeit mit ähnlichen Initiativen sowie Gemeinschaftsgärten in Dessau, Leipzig, Schwerin und Berlin wurde gerade von den dortigen Aktiven gewünscht und auch angebahnt. Die Dübener Gartengruppe beschloss als Untergruppe des Vereins Dübener Heide sich einen festen Rahmen zu geben, der weitere Folgeanträge ermöglicht. Und tatsächlich konnten in Bad Düben 2019 erfolgreich erneut Workshops und Feste ausgerichtet und sogar bei der ersten Wiederbelebung des Bahnhofgebäudes tatkräftig mitgeholfen werden.

Abb. 4: Das interkulturelle Sommerfest im Garten.

Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen.

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Fazit Gemeinschaftsgärten sind also auch auf dem Land möglich und sinnvoll. In Ostdeutschland erinnern sie zwar auch an die ungeliebten Landwirtschaftlichen Genossenschaften aber zugleich an die in der Regel gerne betriebenen Individuellen respektive Privaten Hauswirtschaften der Dorfbewohner. Gärten, zumal solche, die von Gruppen betrieben werden, bieten dem das-Land-schlecht-reden die Stirn.23 Während in der Stadt das Problem der mangelnden Flächen im Vordergrund steht, ist es auf dem Land schwieriger, eine verbindlich mitarbeitende Gruppe von ausreichender Größe zusammen zu bekommen. Die Dorfzusammenlegungen mit ihrem Rückbau von Öffentlichkeitsstrukturen bewirken häufig einen Rückzug ins Private. Die Gemeinschaftsgärten jedoch können als Zentren einer neuen UmweltKommunikation von der Einbindung von Flüchtlingen bis hin zum Nachdenken über umweltgerechte Ernährung zu einer Art neuem Dorfplatz werden, ein (all)gemeiner Ort, eine neue Allmende, zu dem alle einen zwanglosen Zugang haben und gemeinsam feiern und nachdenken können. Als gegen Ende der Projektlaufzeit auch die Mitarbeiter des Naturparks ihre anfängliche Skepsis abgelegt hatten, war klar, dass die nahezu durchgehend positive Resonanz, die der Dübener Gemeinschaftsgarten in der Öffentlichkeit wie etwa in der Leipziger Volkszeitung erfuhr, auch eine gute Werbung für die Dübener Heide insgesamt war. Zum Schluss merkte auch die Stadtverwaltung von Bad Düben, dass solche Gärten ein Zugewinn für die ganze Gemeinde sein können. Deutlich wurde: Gemeinschaftsgärten können neue Treffpunkte sein, die zwanglose Begegnungen ermöglichen. Als unversehens diskursive Zentren dienen sie einer neuen Kommunikation über das menschliche Naturverhältnis, die Natur, die er selbst ist,24 und sein Naturerleben in Feld und Garten. Ein neuer Umgang mit Natur entspringt so nicht zuletzt dem kollektiven Gärtnern. Als Einrichtungen einer neuen und integrativen Form von Umwelt-, Jugend- und Erwachsenenbildung wird ihre Strahlkraft um ein Vielfaches erhöht sein, wenn sie gefördert werden können und also institutionalisiert Freiwillige betreuen können. Besonders Schüler und Studierende wählen das neue Gärtnern gerne für kürzere sowie längere Praktika und/oder Auslandsaufenthalte. Hier bieten sich Chancen für unsere Gesellschaften, die aufgegriffen werden sollten. Zumal das Urban Gardening einhergeht mit einer neuen Begeisterung für eine neue, umweltorientierte Landwirtschaft, die die Dörfer um ihrer Lebendigkeit willen brauchen25 und die ganz besonders die unter Schrumpfungsdruck stehenden ostdeutschen Regionen unbedingt benötigen.

23 24 25

Vgl. dazu u.a. die verschiedenen Beiträge in: Müller 2012. Böhme 2019. Fock 2020, S. 84.

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Mein Dorf im Buch Ehrenamtliches Engagement für Ortschroniken als Exempel für »doing Ländlichkeit«. Ein Beitrag mit autoethnografischen Elementen Christine Aka

Bei einem Luftballonwettbewerb zur 1150-Jahrfeier meiner Herkunftsgemeinde habe ich 1969 eine sogenannte Heimatchronik gewonnen, sie war sogar vom Bürgermeister signiert.1 Für ein kleines Kind war dies nicht gerade das ideale Geschenk, doch ich war begeistert. Gerade erst im ersten Schuljahr, habe ich mich langsam buchstabierend in diesem dünnen Bändchen festgelesen. Es war so enorm spannend, die Geschichten über die Menschen von früher zu lesen, von den alten Sachsen, die so unglaublich froh waren, als endlich mit den Missionaren das »Licht des Christentums« zu ihnen kam. Oder von den armen alten Bauern, die in den Krieg ziehen mussten, um ihre Heimat gegen böse Menschen zu verteidigen. Damals stand mein Entschluss fest, ich wollte eine solche Chronik über mein Dorf schreiben. Unbedingt. Ich kaufte mir im Dorfladen ein kleines Oktavheftchen und begann mit Die Geschichte von Hagstedt. Dabei ist es dann aber auch geblieben. Das Unterfangen erwies sich als zu kompliziert und ich konnte ja auch noch nicht richtig schreiben. Als ich vor einigen Jahren, nach 30 Jahren in Münster, frisch wieder zurück in diese ›Heimat‹ aufs Land gezogen war, wurde ich angesprochen, mich an einer Arbeitsgruppe zur Erstellung einer Ortschronik zu beteiligen. Zwar wusste man dort, dass ich »was mit Geschichte oder so« mache, aber was genau und wie ich damit meinen Unterhalt verdiene, wusste man nicht. Einen Text von mir hatte bis dahin niemand gelesen. Nicht wegen meiner Professionalität wurde ich also angesprochen, sondern als Dorfbewohnerin, als »Tochter von«, als Mitglied einer seit langem dort ansässigen Familie. Mehrere Jahre habe ich in der sich bald etablierenden Chronik-Gruppe mitgearbeitet und auf diese Weise mit fast 50 Jahren Verzögerung mein Kindheitspro-

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Heimatverein Visbek 1969.

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jekt vollendet.2 Als das zweibändige Werk von 900 Seiten endlich verkauft wurde, ging ein Seufzer der Erleichterung durch das ganze Dorf.3 Ältere Menschen hatten befürchtet, das Erscheinen nicht mehr mitzuerleben. An einem Sonntagnachmittag wurden bei Kaffee und Kuchen ca. 500 Exemplare verkauft. Zusammen mit den gesammelten Spenden waren die Herstellungskosten gedeckt, alle Rechnungen konnten bezahlt werden und alle waren euphorisch. Bald kam positive Resonanz aus ganz Deutschland, E-Mails aus Berlin, Hamburg, Stuttgart und Düsseldorf zeigten, wie die ›Weggezogenen‹ mit dem Dorf über diverse Netzwerke verbunden geblieben waren. Mittlerweile wurden 900 Exemplare verkauft und es gibt ein dickes Plus in der Kasse, über dessen sinnvolle Verwendung – zwischen Party und sozialen Projekten – noch keine Einigkeit herrscht. Auch die Einrichtung eines eigenen kleinen Ortsarchivs wird diskutiert, da die Gaststätte, in der alte Pokale, Gruppenbilder und wichtige Objekte an den Wänden hingen, nicht mehr existiert. Weitere Dörfer in der Umgebung haben mit dem Schreiben eigener Chroniken begonnen, das zweibändige Werk setzt dabei Maßstäbe und Anreize zur Konkurrenz. Auch werden nun die Ereignisse im Dorf von der Chronikgruppe dokumentiert und für eine Fortschreibung der Geschichte gesammelt.

Abb. 1: Verkauf der Chronik bei Kaffee und Kuchen, Foto privat.

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Dieser Beitrag erschien in etwas anderer Form im leider letzten Band der RheinischWestfälischen Zeitschrift für Volkskunde 2017/2018, S. 235-244. Heimatverein Visbek 2017.

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Das Identitätssymbol Ortschronik als Quelle Ortschroniken, Heimatbücher, Dorfgeschichtsbücher sind ein Phänomen, das seit mehr als 150 Jahren als beständiges Bedürfnis in Wellenbewegungen von Hochs und Tiefs die europäische Welt erfasste.4 Gegoogelt findet man tausende Ausführungen, dazu Anleitungen, Muster, Ratschläge, Beispiele und Hinweise zur Drucklegung. Zu den Gründen und Hintergründen für dieses Bedürfnis nach solchen Büchern gibt es verschiedene Vermutungen. Diese sollen jedoch nicht mein Thema sein. Mir geht es in diesem kurzen Beitrag um Ideen zur praxeologischen Ebene, um die Begleitumstände von »doing Heimat«, die ich im Laufe einer mehrjährigen Handlungspraxis beobachten konnte.5 Der Entstehungsprozess einer dörflichen Chronik ist fundamental verschieden von städtischen Prozessen. Kleine Auflagen machen es unmöglich, Fachleute zu engagieren und Autorenhonorare zu bezahlen. Es ist eine rein ehrenamtlich ausgeübte Tätigkeit, nicht professionell ausgeführt, »Unprofessionalität« somit gewissermaßen immanent.6 Nicht immer engagieren sich hauptsächlich pensionierte Lehrer, die als »Heimathirsche« in unserem Fach seit vielen Jahrzehnten nicht gerade gut angesehen sind, sondern, zumindest konnte ich dies beobachten, sehr gemischte größere Gruppen. Auch die klassischen Inhaltsformate, die in der Literatur als positivistische respektive faktologische, detailreiche Beschreiben von der Urzeit bis heute, mit Elementen von Natur- und Landeskunde, rein ortszentriert und ohne in den Kontext eingebunden zu sein, beschrieben werden, haben sich verändert.7 Heutige Bedürfnislagen sind mit denen der Nachkriegs- oder gar der Vorkriegszeit nicht zu vergleichen.8 Schon 1977 wies Schöck auf fehlende Untersuchungen zur Rezeption und Wirkungsgeschichte sogenannter Heimatbücher hin und kritisierte die Umgangsweise der Wissenschaft als »weise belächelnd oder misstrauisch beäugend« und betonte, dass die Breitenwirkung dieser ehrenamtlich erstellten Geschichte nicht hinterfragt und ihr Quellenwert nicht erkannt würde.9 Dies hatte in den 1970er-Jahren seine Gründe in nachzuvollziehenden fachhistorischen Vorbehalten, doch hat sich auch fast 50 Jahre später daran kaum etwas geändert. Dies erscheint mir jedoch bedauerlich und nicht mehr nachvollziehbar.10 Literatur zu diesem Thema gibt es somit kaum, nur die »Heimatchroniken« von Ost-

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Siehe dazu vor allem Beer 2010, S. 9-40. Siehe dazu Göttsch-Elten 2010, S. 82. Dazu schon im Titel Klueting 1991, S. 50-89. Vgl. Beer 2010, S. 14, siehe dazu vor allem den Beitrag von Schmoll 2010, S. 309-330. Und vor allem nicht mit den Heimatbüchern Vertriebener, siehe dazu Beer 2010, S. 27 Vgl. Beer 2010, S. 31 und 36. Besonders auch: Schöck 1977, S. 87-94. Diese Vorbehalte müssten in einem größeren Rahmen diskutiert werden, vielleicht in einer gesamten neuen Herangehensweise an heutige ländliche Lebensformen.

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vertriebenen wurden bisher untersucht.11 Doch mit diesen Büchern haben heutige Ortschroniken nur wenig zu tun.12 Der Heimatbegriff und die in dessen Umfeld in den letzten Jahren zutage tretenden Diskurse spielen hier nur eine sehr periphere Rolle. Das eigene Dorf ist viel kleiner als die Heimat, denn dazu gehören ja zumindest noch die Nachbardörfer. Doch die kommen in einer Ortschronik nicht vor. Auch ein anderer Aspekt wurde kaum bedacht. Es ist nicht nur erhellend, die inhaltliche Ebene der fertigen Bücher zu analysieren, sondern vor allem auch deren Zustandekommen, den Weg dahin als ein langfristiges Aushandlungsgeschehen. Der Entstehungsprozess einer Ortschronik zeigt sich nämlich als ein Brennglas innerdörflicher Strukturen, ein Spiegel sozialer Ab-, Ein- und Ausgrenzungen, von Suchbewegungen nach Identität und Exklusivität, von Aushandlungsmustern dörflicher Friedenskulturen, historischer und gegenwärtiger Hierarchisierungen, diversen Gleichberechtigungsbestrebungen, beispielsweise von Männern und Frauen, aber auch zwischen sozialen Milieus sowie zwischen Alt- und Neubewohnern. Auch Einstellungen zum Ehrenamt, zu Vereins- und Nachbarschaftsstrukturen, zum Hausbau und zur Gartenpflege, zu Prestige und Habitus werden dabei deutlich. Hier zeigen sich somit vielfältige Verdichtungen in der Analyse von Phänomenen einer momentan viel diskutierten »neuen Ländlichkeit«13 . Ein ganzes Buch, gar ein professionelles, ließe sich über die Entstehung eines solchen Buches schreiben. Meine Erfahrungen in der Chronikgruppe möchte ich zum Gegenstand einer kleinen auto(bio)ethnografischen Betrachtung machen.14 Sowohl die beschriebene Tätigkeit als auch die Reflexion darüber geht dabei an Grenzen – doppelt und über Bande – an die Grenze zur Wissenschaft und an die Grenze der Methode.15 Ich sehe darin einen Beitrag zur empirisch angelegten Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Leben auf dem Land – über das man doch tatsächlich in unserem einst so ländlich geprägten Fach kaum noch etwas weiß. Mit den Menschen in face to face-Kontakt zu kommen, auch mit den »Heimathirschen«, die sich sehr verjüngt und verändert haben, kann dabei nicht schaden. Selbst Hirschgeweihe sind ja heute

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Beispielsweise von Frede 2004. Der Band von Beer 2010 gibt den besten Überblick. Hahne 2011, S. 12-18. Ob es sich dabei tatsächlich um eine »neue« Ländlichkeit handelt, sollte noch diskutiert werden. Hingewiesen sei hier auf die 2017 gegründete dgv-Kommission »Kulturanalyse des Ländlichen«. Siehe auch die Erfahrungen von Köhle-Hezinger 2010, S. 41-53. Siehe auch den auf den Erfahrungen mit Vertriebenen fußenden Beitrag von Weber/Weber 2010, S. 279-308. Die Methodik der Autoethnografie erscheint in ihrer praktischen Anwendung allerdings noch in mancher Hinsicht unausgereift zu sein, so dass sich mein Beitrag an den Grenzen zum Unprofessionellen sehr gut in das Feld einpassen dürfte. Siehe erhellend: Stadelbauer/Polder 2013, S. 373-404.

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als Designobjekte wieder hochmodisch, werden jedoch oft silbern oder andersfarbig angesprüht, die Ausstrahlung der spießigen »Röhrenden Hirsche« somit ironisch gebrochen. Dies ist vielleicht ein Zeichen. Meine »Mitchroniker« verzeihen mir meine hier vorliegenden Ausführungen. Sie wissen mittlerweile, Volkskundler schreiben eben über den Alltag – und zunehmend auch über den eigenen.

»Doing Chronik« als Aushandlungsprozess Mein Beispiel spielt also in Hagstedt, meinem Herkunftsort. Das Dorf gehört zusammen mit zehn weiteren Bauernschaften zur Gemeinde Visbek im Kreis Vechta. Jede Bauernschaft hat zwischen 200 und 600 Einwohner – und jede hat entweder schon eine eigene Chronik oder arbeitet daran. Die ersten erschienen in den 1980er-Jahren und werden heute wieder aktualisiert. Kaum zwei bis drei Kilometer voneinander entfernt, legt jeder kleine Ort Wert auf das Eigene und sieht sich damit auch in einer Art Chronik-Konkurrenz. Der Heimatverein im Hauptort unterstützt die Chronisten, betreibt eine Sütterlingruppe, eine Gruppe, die historische Bilder einscannt und eine Gruppe, die sich mit Archäologie beschäftigt und ein kleines Museum aufbaut. Familienforschung und Chronikschreiben sind ein großes Thema in der ganzen Region und sogar ein wirtschaftlicher Faktor für die regionalen Druckereien, die eigens »Chronikbeauftragte« finanzieren. Sie informieren jeweils vor Ort über die Druckvoraussetzungen und helfen beim späteren Lektorieren. Die fertigen Produkte sind der Stolz des Ortes, sie liegen in den Kneipen aus, selbst in den Nachbarorten, man kennt »die Chroniken« der anderen. Sie sind symbolisches und kulturelles Kapital, für das man gerne bezahlt.16 Abgegriffene Seiten in den Exemplaren zeigen, wie oft diese Bücher zu Rate gezogen werden, denn sie beantworten ganz praktische Fragen. Anders als in der spärlichen Literatur beschrieben, geht es in einer ›guten Chronik‹ nicht um die Rettung von Heimat oder ähnlich umstrittene Bemühungen, sondern um die Abbildung möglichst aller Bewohner samt ihrer Häuser und deren persönliche Daten. »Wie alt wird er?« und »wann haben die Nachbarn eigentlich Silberhochzeit?«, »wohin ist die Tochter von dem und dem gezogen?« – die Chronik fungiert als Nachschlagewerk und Dorfgedächtnis. Außerdem sucht man sich selbst auf den Fotos, sieht sich als Teil von etwas Ganzem. Diese Ortsbücher sind Bilderbücher der Zugehörigkeit, spiegeln kleine soziale Einheiten, die sich selbst vergewissern und auch abgrenzen. Da das Dorf Hagstedt aus 170 Haushalten besteht, kann man den Aufwand dieser Datenaufnahme erahnen. Für die Chronikgruppe wurden vom Ortsrat zwölf Personen angeworben, wobei man um ein gewisses Gleichgewicht zwischen Jung und Alt (jung, also unter 60, 16

Köhle-Hezinger 2010, S. 47.

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Abb. 2: Häuser, Menschen, Daten – jeder kommt vor, auch die Familie Aka, deren Daten hier aus Datenschutzgründen abgebildet werden.

waren fünf), Männern und Frauen (drei Frauen – sieben Männer) und den Positionen in der althergebrachten dörflichen Hierarchie bemüht war. Eine akademische Ausbildung hatten zwei Personen. Gemeinsam war allen ein eigener biografischer Bezug zum Ort, wobei zwei Frauen und ein Mann durch Heirat in das Dorf gekommen waren. Für die Planungen trafen wir uns zunächst in der noch existierenden Dorfkneipe, deren Abriss schon beschlossene Sache war. Die Heizung war durch einen orangenen Heizlüfter aus den 1970er-Jahren ersetzt worden, die Getränke kaufte die Wirtin im Supermarkt und schlug ein paar Cent drauf. Einige Male war die Haltbarkeit des Biers schon abgelaufen, denn andere Gäste hatte sie nicht mehr. Schon so ließ sich die heutige »neue Ländlichkeit« erfahren. Mittlerweile wurde der Mittel- und Treffpunkt des Dorfes weggebaggert, der dortige Briefkasten entfernt und der Stammtisch der alten Leute ins Private verlegt. Bei unseren Treffen hieß es bald: Wieviel Druckseiten kriegt der Schützenverein? Sollen alle Schützenthrone mit Bild in das Buch, obwohl man dort schon eine eigene Chronik hat? Ist Geschichte überhaupt wichtig? Der Dreißigjährige Krieg war doch überall, was hat das mit unserem Dorf zu tun? Wollen wir nicht lieber Bilder von Partys? So begannen unsere ersten Treffen. Auch wurde in den ersten Sitzungen schon über Schriftart, Format und Seitenzahl gesprochen. Obwohl keine

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Publikationserfahrungen vorlagen, hatten selbstbewusste Herren klare Vorstellungen. Schließlich waren sie schon im Gemeinderat, im Vorstand des Schützenvereins oder hatten die Aktion Unser Dorf soll schöner werden aktiv gestaltet. Konflikte mit den älteren Männern, auch im Kontakt mit Vertretern überörtlicher Organisationen oder Ämter, begleiteten den Prozess immer wieder.17 Geschlechterrollen wurden zudem sehr deutlich gelebt, es gab klare Frauensachen und Männersachen und für mich die Frage, wie ich mich dazu verhalten sollte. Die Frauen in der Gruppe begannen zu den Treffen Kuchen zu backen, Snacks vorbereiten, Kaffee zu kochen – befanden sich quasi immer in einer Doppelfunktion, die Männer nicht. Auch alle »Tipparbeiten« – das Abschreiben all der erhobenen Daten – war Frauenarbeit. Ich versuchte, dies zu umgehen. Fest stand, es sollten alle Bewohner mit Gesicht, Daten und Haus fotografiert, Familiendaten möglichst über drei bis vier Generationen erhoben und die Geschichte der Häuser kurz dargestellt werden. Dazu wurden in späteren Sitzungen sogenannte Erfassungsbögen erstellt und an alle Familien im Dorf ausgegeben. So verteilte ich ›Zettel‹, zum ersten Mal seit Jahrzehnten kam ich nun wieder in die Häuser meiner Kindheit. Damals musste ich Geld für die sogenannte Sterbekasse einsammeln. Auf diese Weise kam ich ins Gespräch mit den Menschen aus meiner Vergangenheit, die ich kaum mehr kannte. Natürlich sollten auch Bräuche gesammelt werden, »denn das gehört sich so für eine Chronik«. Dass diese sogenannten Bräuche einfach Festlichkeiten sind, die seit einigen Jahren immer wieder stattfinden und permanent neu erfunden werden, war dabei völlig klar. Auch dass die Natur, die Vereine, besondere Ereignisse vorkommen sollten, stand außer Frage. Insofern ließ sich doch eine gewisse Vorstellung über klassische Inhalte von Heimatbüchern feststellen. Bei unseren Treffen stand die Wirtin hinter der Theke, sie wollte sich nicht zu uns setzen, darauf legte sie wert, denn dann hätte sie ihre Funktion symbolisch verändert. Aber von ihrem Platz hinter der Theke aus erzählte sie vom Dorfleben, ohne damit Verantwortung als Teil der Gruppe zu übernehmen. Was wir auch besprachen, sie kannte alles, jeden und alle. Seit 1950 stand sie an diesem Platz. Sie hatte die Zeiten gekannt, als die Männer um 11 Uhr morgens zusammen kamen, viele es mit der Arbeit nicht so genau nahmen, und schon vor dem Mittagessen ein paar Schnäpse kippten. Doch dann mussten wir die Kneipe verlassen, wir hörten zwar viele Geschichten, doch es gab kaum Steckdosen und Möglichkeiten für unser hoch aufgerüstetes technisches Equipment. Beamer, Scanner, mehrere Laptops und Tablets, WLAN etc., all dies konnten wir nicht einstöpseln oder war nicht vorhanden. Das Geschäft des »Heimathirschs« ist nämlich ein technisch Anspruchsvolles. So

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Dieses lange bekannte Phänomen, gerade auch im Umfeld von »Heimatforschung« immer wieder erlebbar, wird ja heute als Mansplaining bezeichnet.

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zogen wir um in die sogenannte Schützenhalle, einem modernen Mehrzweckgebäude des Schützenvereins, alles andere als ein dörflicher Lebensmittelpunkt, doch mit allen technischen Raffinessen ausgestattet. Fotos wurden gesammelt, gescannt und besprochen. Die Erhebungsbögen wurden wieder abgeholt und digital erfasst. Und nun kamen die Probleme. Die Auswirkungen historischer Lebensumstände schlichen sich in die Gegenwart. Von den Bauern, den »Herren im Dorf«, gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts viele Fotos, von den landlosen Dorfbewohnern noch 100 Jahre später kaum. Lediglich ein paar Schulfotos oder Hochzeitsbilder ließen sich auftreiben, denn »für einen Fotoapparat hatten nur die Bauern das Geld«. Die ganze Dramatik alter sozialer Konflikte kam nun zutage. Warum sitzen die Bauern noch immer auf dem Schützenfest zusammen an einem Tisch? Wie wird durch diese Strukturen das Gemeinschaftsgefühl des ganzen Dorfes behindert? Welche Rolle spielt Stolz? Welche Rolle spielt Neid? Warum weiß man noch heute, welcher Bauer seine Heuerleute gut behandelt hat und welcher nicht? Und warum darf man das auf keinen Fall in die Chronik schreiben? Es entwickelten sich wichtige Diskussionen, die als Herausforderungen sowohl gruppendynamische Prozesse innerhalb der Chronisten, aber auch zwischen der Chronikgruppe und dem Dorf prägten. Und ich erkannte erstaunt, was das Dorf bewegt. Ursprünglich aus elf Bauernhöfen bestehend, siedelten seit dem 17. Jahrhundert landlose Pächter, die sogenannten Heuerlinge, und Landarbeiter im Dorf. Im 19. Jahrhundert kamen nach der Markenteilung neun Neubauern hinzu und nach dem Zweiten Weltkrieg entstand eine vom alten Dorf getrennt liegende Siedlung, wo sich viele Vertriebene niederließen. Von den heute 170 Familien gehören also nur elf zu den alten Landbesitzern. Dass diese überkommenen sozialen Hierarchien noch heute das Zusammenleben bis in jede Faser des Dorflebens prägen, war eine neue Erkenntnis für mich. Das Zusammenleben mit den gegenwärtig vielen hinzuziehenden Holländern, Russen, Polen, Rumänen und Slowaken scheint demgegenüber viel weniger problematisch. Noch in meiner Generation, bevor der landwirtschaftliche Strukturwandel und die Globalisierung die Region seit den 1970er-Jahren reich machte, hatten viele Kinder nicht so wie ich, neue eigene Kleider, Spielsachen und gar ein Badezimmer. Das hat niemand vergessen. Meine ursprünglichen Bedenken, ich könnte als Akademikerin als abgehoben gelten, relativierten sich durch die Problematik, als »GBT«, als »GroßerBauerTochter« arrogant wirken zu können. Mein akademischer Titel wurde nicht bewusst thematisiert, nur in Form einer joking relationship, mit wiederkehrenden Witzen über die Professorin ohne Ahnung, die immer Zeit hat, nie richtig arbeitet und nur durch die Gegend reist. Außerdem hat sie manchmal Schwierigkeiten, die richtigen plattdeutschen Wörter zu finden und in den letzten 30 Jahren nicht viel vom Dorf mitgekriegt. Doch die Verwendung der heimischen Sprache und einige Bierchen förderten zumindest eine Art »Reintegration«.

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Im gesamten Prozess zeigte sich die enorme Bedeutung von Verwandtschaft und Herkunft. Romantisch bewahrend und an »die guten alten Zeiten« dachte die Gruppe dabei nicht im Geringsten. Dass von den elf Höfen vier nicht mehr existieren, drei in der nächsten Generation verschwinden werden und nur drei absehbar weiter existieren, wird als eine Tatsache hingenommen, nicht weiter traurig bedacht, »nicht unser Problem«. Von Heimatbewahren, gar rückwärtsgewandtem Denken fand sich keine Spur.18 Mir unerklärlich blieb zum Beispiel, dass den heutigen Firmen im Dorf im Buch mehr Platz eingeräumt werden sollte, als den 1000 Jahre alten Bauernhöfen. Dazu passte auch, dass die Dorfgeschichte nur kurz sein sollte, denn »das interessiert ja keinen«. Aber »die Schützenkönige, die müssen mit Bild rein, das ist wichtig«, erklärte man mir. Und für die historischen Fakten, die Geschichte, die ja eigentlich keinen interessiert, »denn sie besteht ja nur aus Daten«, »oder erzählt ja nur von den Bauern«, dafür wäre ich dann zuständig. »Ein paar Seiten, nicht zu viel, mit ein paar alten Fotos« usw., Fußnoten wurden als überflüssig angesehen. So wurde ich ›gegroundet‹ und wartete ab. Verschiedenen Chronisten kamen in dieser sozialen Dynamik verschiedene Aufgaben zu. Während einige eher Daten sammelten, mussten andere Konflikte ausgleichen, wieder andere für eine Wohlfühlatmosphäre sorgen, zum Beispiel durch Aktivitäten wie Fahrradtouren und Feierlichkeiten. Andere waren für Organisatorisches oder Technisches zuständig. Ein Wissen darum, wer für welche Funktion geeignet war, schien selbstverständlich. Wir besuchten gemeinsam Archive, das Katasteramt, die Druckerei und lernten so manches über das Dorf. Ich fand, und das war die mir zugedachte Aufgabe, viele Archivalien, alte Papiere, die niemand lesen konnte. Anhand von Pacht- bzw. Heuerverträgen, Auszahlungen an Knechte und Mägde in den Rechnungsbüchern der Bauern, Quellen über Hollandgänger19 und Auswanderer usw. konnte ich zeigen, dass auch die landlosen Dorfbewohner vorkamen, auch sie Spuren hinterlassen, an »Geschichte« beteiligt gewesen waren. Diese Quellen hätte ich übrigens nie zu Gesicht bekommen, wenn es nicht für die »Dorfchronik« gewesen wäre. Nun wurde Geschichte über »Großelterngeschichten«20 doch interessant, denn meine Mitchroniker fanden jetzt auch ihre Vorfahren, sahen etwa, dass ihr Urgroßvater als Knecht in einem Jahr etwa so viel verdient hatte, wie der Bauer für das Pensionat der Tochter im Monat bezahlte. Sogar Fotos, auf denen die Bauern sich vor ihren Häusern ablichten ließen, zusammen mit einigen Pferden oder einer Kuh und dem Hund, zeigten auch die Knechte und Mägde. Auch sie bekamen nun Gesichter. 18 19

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Und stehen damit ganz im Gegensatz zu den Chroniken der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, siehe dazu Beer 2010, S. 30. Bei den »Hollandgängern« handelt es sich um Wanderarbeiter, die vom 16. bis 19. Jahrhundert als Saisonkräfte in den Niederlanden arbeiteten. Diese waren zumeist Pächter von Heuerstellen, deren Frauen während dieser Monate die Arbeit allein zu erledigen hatten. Köhle-Hezinger 2010, S. 49.

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Durch diese Identifikationsattraktionen überzeugt, durfte ich nun doch mehrere Seiten historischer Ausführungen schreiben.21 Bald wurden Interviews mit den ältesten Dorfbewohnern durchgeführt, Seniorennachmittage als Erzählkaffeetrinken abgehalten und gemeinsam alte Fotos angeguckt. Es flossen Tränen, es gab Wut und viel zu erzählen, über Menschen und Skurrilitäten, Gewalt, Ablehnung, Armut, Alkoholismus, uneheliche Kinder, furchtbare hygienische Zustände, soziale Hierarchien, prügelnde Lehrer, Unglücke, Missgeschicke und vor allem über den Krieg und »die Nazis«.22 Geschichte wurde immer interessanter und es zeigte sich für alle, dass zwar jedes Dorf eine ganz eigene Geschichte hat, und das gilt für alle Familien, aber dass sie im Kontext mit der historischen Situation zu sehen ist. Die Senioren freuten sich auf diese Nachmittage. Für mich waren sie eine geniale Möglichkeit der Feldforschung. Diese Seniorennachmittage wurden seither beibehalten. Einmal im Monat treffen sie sich nun unter dem Label Selbstgest-alter im Schützenhaus bei Kaffee und Kuchen und verschiedenen Programmpunkten. Das wichtigste Gesprächsthema aber waren und blieben im gesamten Prozess die Verwandtschaftsbeziehungen. Über Monate wurden Genealogien mit einem Beamer an die Wand geworfen und die älteren Mitglieder der Arbeitsgruppe fungierten als Dorfgedächtnis, indem sie Geschichten über einzelne Menschen und Familien erzählten. Spezielle Charaktere, ängstliche, draufgängerische, dominante oder gar bösartige Individuen bleiben offensichtlich im Dorfgedächtnis recht lange präsent. Chroniken bilden so auch eine Brücke zu den vergangenen Generationen, zwischen den Lebenden und den Toten.23 »Die Chroniker sind wie die Kriminalpolizei« hieß es bald. Zu beobachten waren bei allen Erzählungen jedoch immer die Grenzen des Sagbaren, eine unsichtbare Grenze der Fairness – denn sonst, das war allen klar »gibt es Mecker«. Und obwohl sich in einzelnen Fällen vorgefasste Meinungen von wahr und falsch kaum durchbrechen ließen, ohne die persönliche Integrität der Traditionswissenden in Frage zu stellen,24 gab es über die lange Zeit der Zusammenarbeit viele Relativierungen. Endlich nach der jahrelangen Arbeit ging es etwa ein Jahr vor der Drucklegung in die Phase der Verschriftlichung. Hier nun kamen neue Probleme auf. Mangelnde Schreiberfahrung konnte kaum jemand offen eingestehen.25 Archive beispielswei-

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Hierin unterscheiden sich Historiker und Genealogen, siehe dazu: Sedgwick 2018. Ein Bewusstsein für die Problematik der Zeit des Nationalsozialismus war sehr wohl vorhanden, diese kann hier jedoch nicht weiter thematisiert werden. Köhle-Hezinger 2010, S. 48. Weber/Weber 2010, S. 291. Bemerkenswert dazu ebd.: »Bedenkt man, dass laut einer kürzlich veröffentlichten Studie rund die Hälfte aller Studenten an deutschen wissenschaftlichen Hochschulen nicht in der Lage ist, wissenschaftliche Texte zu formulieren, dann muss man gegenüber den Autoren von Heimatbüchern wohl toleranter sein«.

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se geben heute viele Hilfestellungen für Familienforscher und haben gelernt, diese sogar in die Arbeit einzubinden, etwa bei der Transkription von Kirchenbüchern und anderen Quellenbeständen. Schreibwerkstätten für Chronisten wären vielleicht auch eine gute Idee. Ich versuchte, gewisse Standards behutsam einzufordern, wobei die Kunst des sich Zurückzuhalten mir nicht gerade entgegenkommt. Doch auch diese Phase wurde überstanden und zusammen mit einer Lektorin und einer Grafikerin das Buch gesetzt. Den Druck beobachtete die ganze Gruppe in der Druckerei, stolz auf jeden einzelnen Bogen.

Abb. 3: Die Chronik wird gedruckt, Foto privat.

Citizen Science und Heimat Wie es sich für einen Beitrag an der Grenze zum Unprofessionellen gehört, werde ich zum Schluss keine umfassende Analyse folgen lassen. Nur einige Gedanken möchte ich formulieren. Durch den Missbrauch von Heimat- und Volkskunde in der Zeit des Nationalsozialismus diskreditiert, ist das bis heute misstrauisch beäugte »Heimathirschen« trotz aller Bemühungen professioneller »Geschichte von unten« gerade auf dem Land immer in den Händen der Laien geblieben. Dort wurden Dorfchroniken zu Identitäts- und Abgrenzungssymboliken, die einen eindeutigen Schwerpunkt auf die Gegenwart legen. Zwischen Buchdeckeln werden

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die Dorfidentität und das Dorf-Prestige zu Grundlage von Orientierung26 und Gemeinschaft symbolisch konstruiert. Ich möchte dafür werben, wieder in Kontakt zu treten mit den Menschen auf dem Land, ohne sich von vorgefertigten theoretischen und oftmals stereotypen Zuschreibungen den Blick verstellen zu lassen und immer wieder zu Schubladenanalysen zu kommen. Wer wirklich als »Volkskundler« unterwegs ist, wird feststellen, dass es nicht immer um die Abgehängten, die Heimattümler geht und der Kontakt mit den Menschen Spaß macht, den Blick weitet und eine Möglichkeit bietet, hyper-theoretische Diskussionen einmal hinter sich zu lassen. Unser Fach hat eine seiner verschämt betrachteten Wurzeln in der sogenannten »Heimatpflege«. Vielleicht sollten wir neu darüber nachdenken, ob wir diese Thematik tatsächlich den jüngst neu geschaffenen »Heimatministerien« überlassen sollten.

Literaturverzeichnis Beer, Mathias: Das Heimatbuch als Schriftenklasse. Forschungsstand, historischer Kontext, Merkmale und Funktionen. In: Ders. (Hg.): Das Heimatbuch. Göttingen 2010, S. 9-40. Emminger, Stefan: Heimatgeschichte zwischen Konflikt und Harmonie. Forschungsfeld, Methoden und Fragestellungen am Beispiel eines Projektes über Wolkersdorf im Weinviertel. In: Unsere Heimat 74 (2003), S. 214-229. Frede, Ulrike: Unvergessene Heimat Schlesien. Eine exemplarische Untersuchung des ostdeutschen Heimatbuches als Medium und Quelle spezifischer Erinnerungskultur (= Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Bd. 88). Marburg 2004. Göttsch-Elten, Silke: »… von der Urgeschichte bis zur Gegenwart…«. Landkreise. Beheimatungsstrategien in der verwalteten Welt. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ›Heimat‹ als Argument im Prozess der Moderne. Kiel 2010. S. 73-84. Hahne, Ulf: Neue Ländlichkeit? Landleben im Wandel. In: Der Bürger im Staat 61,1-2 (2011), S. 12-18. Heimatverein Visbek (Hg.): Visbek. Visbek 1969 Klueting, Harm: Rückwärtigkeit des Örtlichen – Individualisierung des Allgemeinen. Heimatgeschichtsschreibung (Historische Heimatkunde) als unprofessionelle Lokalgeschichtsschreibung neben der professionellen Geschichtsschreibung. In: Ders. (Hg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991, S. 50-89. 26

So interpretiert bei Emminger 2003, S. 214-229.

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Köhle-Hezinger, Christel: Das Heimatbuch. Passt Heimat in ein Buch? In: Beer, Mathias: Das Heimatbuch. Göttingen 2010, S. 41-53. Schmoll, Friedemann: Die Vergegenwärtigung des Verlorenen. Heimatbücher im Schnittfeld von Geschichte und Erinnerung. In: Beer, Mathias: Das Heimatbuch als Schriftenklasse. Forschungsstand, historischer Kontext, Merkmale und Funktionen. In: Ders. (Hg.): Das Heimatbuch. Göttingen 2010, S. 309-330. Schöck, Gustav: Das Heimatbuch – Ortschronik und Integrationsmittel? Anmerkungen zum Geschichts- und Gesellschaftsbild der Heimatbücher. In: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 3 (1977), S. 8794. Sedgwick, John: The Historians Versus the Genealogists (12.4.2018). Auf: New York Times Online. URL: https://nyti.ms/2GTkfJT [Letzter Zugriff am 19.5.2018]. Stadelbauer, Johanna/Polder, Andrea: Autoethnographie und Volkskunde? Zur Relevanz wissenschaftlicher Selbsterzählungen für die volkskundlich-kulturanthropologische Forschungspraxis. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 116,3-4 (2013), S. 373-404. Weber, Renate/Weber, Georg: Zur Produktion von Heimatbüchern. Erfahrungen, Beobachtungen, Reflexionen. In: Beer, Mathias: Das Heimatbuch. Göttingen 2010, S. 279-308.

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Resümee

Stadt – Land – Schluss? Zusammenfassung und Resümee einer Tagung Silke Göttsch-Elten

Schon der Titel der Tagung verweist auf das Dilemma, das sich aus einer eindimensionalen Aufteilung der Welt in Stadt und Land ergibt. Einfache Dichotomien gehen nicht auf und tragen weder der Vielschichtigkeit der jeweils unterschiedlich verfassten Räume Stadt beziehungsweise Land Rechnung, noch sind sie hilfreich, um ihre Verflechtungen und Interdependenzen zu erfassen. Land ist mitnichten eine Heterotopie, die auf ein Gegenbild Stadt verweist, sondern in sich selbst schon Heterotopie und damit disparat, vielfältig, heterogen und changierend zwischen realem und imaginiertem respektive imaginären Räumen. Als vor rund 45 Jahren auf dem dgv-Kongress in Hamburg 1973 so etwas wie ein urban turn innerhalb der Volkskunde eingeläutet und ausdrücklich das Verhältnis Stadt-Land in den Fokus gerückt wurde, war der Konsens darüber, was mit diesen Kategorien aufgerufen sein sollte, deutlich größer als heute. Auch wenn schon damals von Helge Gerndt erhebliche Zweifel an der Selbstgewissheit, was denn nun eigentlich Stadt und was Land genau seien und was sie unterscheide, angemeldet wurden.1 Aber solche Einwürfe mündeten in keiner grundsätzlichen Diskussion, sondern es gab in der Folge einen Wechsel der Perspektive, in dessen Verlauf das ›Land‹ als genuiner Forschungsgegenstand der älteren Volkskunde immer mehr zugunsten einer auf den städtischen Raum ausgerichteten Forschung verlassen wurde. 1983 in Berlin hieß das Thema des dgv-Kongresses dann auch schlicht nur noch »Großstadt«.2 Aber trifft eine solche summarisch vorgetragene fachgeschichtliche Einordnung tatsächlich zu? Das wäre sicher zu einfach gedacht. Zwar wurde Stadtanthropologie später zu einem Terminus technicus, was einer möglichen Bindestrichdisziplin Land-Volkskunde nie gelungen war, vielleicht auch weil es in dieser Zusammensetzung als redundant erschien, aber wenn man genauer hinschaut, dann ist das Land als Forschungsfeld nie aus dem Blick der Europäischen Ethnologie verschwunden. Das belegen viele Publikationen aus dem Institut für Sächsische 1 2

Gerndt 1975, S. 31-46. Kohlmann/Bausinger 1985.

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Geschichte und Volkskunde (ISGV) in Dresden, dem Sorbischen Institut in Bautzen, der Berlin-Brandenburgischen Landesstelle für Volkskunde an der HumboldtUniversität in Berlin und natürlich viele Forschungsprojekte und Qualifikationsarbeiten an Universitätsinstituten.3 Es sei nur an die Veröffentlichungen von Albrecht Lehmann zum Thema Wald erinnert.4 Und auch die Stadt als gesetzter Gegenpol zum Land verlor ja in letzter Zeit an Kontur und wurde verstärkt mit Blick auf ihre Einbindung in ihr meist ländliches Umfeld thematisiert.5 Begriffe, Definitionen, Zu- und Einordnungen sind also im Fluss, wie der Titel der Tagung verspricht. Anja Decker wies in ihren einführenden Worten in die Tagung darauf hin, dass das ›Land‹ als Thema zurzeit eine breite gesellschaftliche, politische, literarische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahre. Denn die Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie ist beileibe nicht die einzige Disziplin, die das Land als nun innovativ deklarierten Forschungsgegenstand (wieder-)entdeckt hat.6 Aber bei allen Bemühungen scheint eine Definition dessen, was ›Land‹ eigentlich ausmache, schwieriger denn je zu sein. Das liegt zum einen daran, dass das bislang so eingängige Gegenüber von hier Stadt da Land nicht mehr als Zuordnung taugt, zum anderen haben Kulturwissenschaften wie die Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie theoretisch und methodologisch dazu gelernt. Wir wissen um die Komplexität von Raumkonzepten, um sozialkonstruktivistische Zugänge, um die Macht der Bilder, die Bedeutung von Aushandlungen und Praktiken etc. etc. Das alles hat Einfluss darauf, was wir als Land wahrnehmen und deuten, das macht es aber auch nicht einfacher, unser Forschungsfeld einem eindeutigen Raumkonzept zuzuordnen. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen scheinen mir folgende Punkte, die sich im Anschluss an die Vorträge und Diskussionsbeiträge ergeben haben, für weitere Diskussionen wichtig zu sein. 1) Eine tragfähige und eindeutige Definition des Ländlichen, die der Problemorientierung einer Europäischen Ethnologie gerecht würde, scheint mir unmöglich zu sein. Natürlich können wir uns auf Kriterienkataloge wie sie z.B. von der Geografie oder von Planungsinstitutionen erarbeitet worden sind, beziehen, geholfen wäre uns damit aber nicht, weil genau die Fragen, die uns interessieren, mit solchen normativen Konzepten nicht angegangen werden können. Die Vorträge und Diskussionen der Tagung haben gezeigt, dass es einer Kulturanalyse des Ländlichen auf die unterschiedlichen Praktiken, die hegemonialen Strategien, die Deutungen und Wahrnehmungen, die Wissensordnungen, die gesellschaftliche 3 4 5 6

Hierzu bietet einen guten Überblick Trummer 2018, S. 187-212. U. a. Lehmann 1999. Z. B. Schmidt-Lauber 2010. Vgl. auch den Beitrag von Schmidt-Lauber/Wolfmayr in diesem Band. Ein ähnliches Interesse ist in den Sozial- und Geschichtswissenschaften, der Geografie und der Literaturwissenschaft zu beobachten.

Stadt – Land – Schluss?

Aushandlungsprozesse darüber, was Land sein kann und sein soll, ankommt und damit immer wieder andere Konfigurationen des Ländlichen in den Blick geraten. Und solche Fokussierungen sind für unser Erkenntnisinteresse sehr viel spannender als es die Suche nach einer normativ gültigen Definition sein kann. Nur mit dieser methodologischen und forschungspraktischen Offenheit ist dem Land als Forschungsfeld in seiner Vielschichtigkeit beizukommen. 2) Michaela Fenske hat in ihrem Vortrag7 darauf hingewiesen, dass das Land als Labor für die Analyse gesellschaftlicher Prozesse gelesen werden kann, weil viele Problemlagen und Konfliktfelder, die unsere Gesellschaft aktuell umtreiben, auf dem Land ausgetragen werden. Land im Sinne von Grund und Boden ist als ökonomische Ressource immens umkämpft. Einerseits dient es der Sicherung der regionalen, nationalen und globalen Ernährung und das ist nicht in erster Linie über alternative Modelle des lokalen Wirtschaftens zu erreichen. Klimawandel und dadurch bedingte Ernteausfälle verschärfen die Konkurrenzen auf dem Markt zunehmend. Alternative Formen der Energieerzeugung wie Biomasseanlagen, Photovoltaik-Anlagen oder Windräder verändern die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen und führen zu einem großen Flächenverbrauch. Die dadurch bedingte Umgestaltung vertrauter Landschaftsbilder führt zu Protesten und Widerstand gegen an sich als ›sauber‹ deklarierte Energien. Es entsteht ein Kampf um Nutzungsansprüche, denn Grund und Boden sind als begrenzte Ressourcen nicht vermehrbar. Die Konsequenz daraus ist ablesbar an steigenden Pacht- und Bodenpreisen, wodurch Agrarflächen zu einer Ware werden, die an den globalen Kapitalmärkten gehandelt werden. Gegen solche Entwicklungen muss sich eine bäuerlich geprägte Landwirtschaft behaupten, die auf die Absicherung von Familienökonomien ausgerichtet ist. Um überlebensfähig zu bleiben, müssen weitere Erwerbsfelder erschlossen und Vermarktungsstrategien entwickelt werden neben der Energiewirtschaft sind das u.a. Angebote für einen wachsenden Freizeit- und Bildungsmarkt wie Ferien auf dem Bauernhof oder Bauernhofpädagogik.8 3) Oliver Müller konnte (gemeinsam mit Ove Sutter und Sina Wohlgemuth) zeigen, wie das Land zum Objekt gesellschaftlicher und politischer Planung wird, mit der auf die gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen reagiert wird. Für eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen in urbanisierten Räumen leben und arbeiten und deren Lebensstil sich an urbanen Standards ausrichtet, werden ganze Regionen unattraktiv. Es gibt ländliche Gegenden, in denen der Verlust an Bevölkerung und Infrastruktur zu prekären Verhältnissen geführt hat.

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Der Vortrag von Michaela Fenske wird voraussichtlich im Band zur Tagung Ländliches vielfach! Leben und Wirtschaften in erweiterten sozialen Entitäten (4. bis 6. April 2019, Universität Würzburg, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde) erscheinen. Vgl. dazu Göttsch-Elten 2018, S. 5-16.

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In Deutschland spricht man von schrumpfenden Regionen9 , in Dänemark gibt es dafür den Begriff udkanten, was so viel heißt wie entlegene Gegend. Um solchen Strukturproblemen entgegenzuwirken, werden von politischer und planerischer Seite Programme entwickelt, wie Infrastruktur (Verkehrsanbindung, Digitalisierung, Schaffung von Arbeitsplätzen usw.) gestärkt, Lebensbedingungen angeglichen und Abwanderung und Überalterung von Regionen so gestoppt werden können. Das fordert dazu heraus, die Ungleichzeitigkeit von Lebensbedingungen auf dem Lande aufmerksam zu beobachten und nach den Auswirkungen von strukturellen Entwicklungen auf das Alltagsleben von Menschen zu fragen. Denn was dem einen als Idylle erscheint, ist für andere Hoffnungslosigkeit. Solche Widersprüchlichkeiten prägen mentale Haushalte und haben immense Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse, die sich auch in einer zunehmenden politischen Radikalisierung äußern können. 4) Trotz steigender Bevölkerungszahlen in den Städten ist immer noch für viele Menschen das, was unter Land verstanden wird, ganz reale alltägliche Lebenswelt. Zwar leben 77 Prozent der Bundesdeutschen in Städten und nur 15 Prozent in Dörfern unter 5.000 Einwohnern.10 Aber immerhin 44 Prozent träumen von einem Leben auf dem Land. Wobei solche Träume sich meistens aus Imaginationen speisen, die sich weniger an realen Lebensbedingungen auf dem Lande orientieren. Es gibt stadtnahe und stadtferne Regionen, Menschen, die zwischen Land und Stadt pendeln oder aber auf dem Land erwerbstätig sind – und das reicht von onlineArbeitsplätzen bis hin zu landwirtschaftlichen Arbeiten. Aber auch ein Landwirt ist je nach Region, Hofgröße und Erwerbsstruktur nicht gleich Landwirt. Da gilt es genau hinzuschauen, denn es bestehen nebeneinander eine Unmenge an unterschiedlichen Lebensstilen, Erwartungen, Nutzungen, die auf dem Land realisiert werden. 5) Damit wird das Land noch einmal in ganz anderer Hinsicht zu einer Ressource. Denn dort gibt es in der Regel preiswerteren Lebensraum als in den umliegenden (Groß-)Städten. Für viele Menschen ist das Land zudem ein Ort für Freizeitaktivitäten, die häufig auch die Folie für den Wunsch nach einem Leben auf dem Land liefern. Dort, so scheint es zumindest, lassen sich Ideen eines nachhaltigeren Lebensstils offensichtlich besser realisieren als in der Stadt. Der Wunsch danach drückt sich allerdings auch in einer als ländlich akzentuierten Ästhetik aus wie sie medial (Zeitschriften, TV-Formate usw.) oder materiell (Lifestyle-Läden usw.) unter dem Schlagwort Shabby Chic angeboten werden. Das Ideal eines gelingenden Lebens, wie es in solchen Bildern aufgehoben ist, gehört zu einem definierten Lebensstil, der Ausdruck einer middle-class-Mentalität ist. Land als Ressource heißt

9 10

Trummer 2015, S. 123-148. Zech 2018.

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auch, dass es den Ort markiert, an dem auf dieses Imaginaire zurückgegriffen werden kann. 6) Land ist ganz sicher keine Dichotomie zur Stadt. Die Bedeutung der Relationalität beider Räume haben Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr in ihrem Tagungsbeitrag betont und die städtische Peripherie als Kontaktzone, an der das gesellschaftliche Verständnis von Ländlichkeit ausgehandelt wird, beschrieben. Es gibt, so ihr Fazit, keine klar konturierte Grenze, sondern Überlagerungen, Schnittstellen, an denen Abstoßung und Anziehung gleichermaßen wirksam sind, an denen die Konflikte über unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen ausgetragen werden. Solche Assemblagen sind allerdings nicht nur in den von Schmidt-Lauber und Wolfmayr fokussierten Stadträndern zu beobachten. Denn auch im Kern sind Städte bei genauerem Hinsehen hybride Orte und das nicht erst seit soziale Praktiken wie Gärtnern und Farmen den städtischen Raum verändern. Mit der Umgestaltung der Städte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und der Anlage von Parks als Orte innerstädtischer Freizeitgestaltung ging eine soziale Segregation einher.11 Die besten Wohnlagen in Städten entstanden in der Regel in der Nähe von Grünanlagen an der Peripherie der Altstädte und ermöglichten ein Wohnen im Grünen mitten in der Stadt. Es geht mir nicht darum, heutiges Urban Gardening und Urban Farming als Aneignung des städtischen Raum mit diesem historischen Praktiken gleichzusetzen, sondern wichtig ist mir die Beobachtung, dass Menschen dazu neigen, Räume als uneindeutig zu gestalten und Elemente des Städtischen mit denen des Ländlichen zu vermischen. Das gilt ja auch für das Land, wenn man sich dort Architektur, Straßenbau usw. anschaut. Aufschlussreich sind vielmehr Fragen danach, welche Intentionen und Bedürfnisse, welche sozialen Differenzierungen und ästhetischen Präferenzen dahinterstehen. Einfache Dichotomien und simple Vereindeutigungen helfen nicht weiter, wenn wir der Verfasstheit von Räumen, die ja das Ergebnis menschlicher Praktiken sind, auf die Spur kommen wollen. Es ist also für eine angemessene Erkundung der Verfasstheit städtischer sowie ländlicher Räume unerlässlich, das Beziehungsnetz, in das sie eingebunden sind, sichtbar zu machen. 7) Um diese Fragen angehen zu können, hilft eine Rückbesinnung auf die Stärken des Faches Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie weiter. Eine unserer wesentlichen Kompetenzen ist die Fähigkeit empirisch dichter Zugänge, ohne die historische wie gegenwärtige, soziale wie gesellschaftliche Kontexte so leicht aus dem Blick geraten. Es gilt unser theoretisches und methodologisches Instrumentarium zu nutzen und zu schärfen, um sich der aufgefächerten Vielschichtigkeit anzunähern. Mir scheinen die Möglichkeiten, die in einer multispecies ethnography liegen, wie sie Michaela Fenske vorschlägt oder das »Follow the people«, das Lauri Turpeinen in seinem Beitrag so eindrucksvoll vorgeführt hat, viel Potenzial zu 11

Vgl. dazu König 1996.

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bieten, neue Themenfelder zu profilieren. Das heißt auch, dass die Beschäftigung mit dem Land keine stationäre Feldarbeit ist, es also nicht darum geht, Menschen nur an ihrem Wohnort zu befragen, sondern dass wir mit unseren Fragestellungen und Forschungsmethoden auf veränderte Lebensstile reagieren sollten und sie in andere Lebensphasen und an andere Orte begleiten müssen.12 Denn Biografien verlaufen nicht mehr so ortsgebunden wie das selbst in früheren Zeiten auch nur für manche Bevölkerungsgruppen galt. Mobilität ist heute eine grundlegende gesamtgesellschaftliche Erfahrung, auch wenn sie unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen verläuft. Welche Bedeutung haben also jene Orte, an denen Menschen sozialisiert werden, welche ›Prägungen‹ nehmen sie mit und wie wirken diese fort oder werden durch einen Ortswechsel überschrieben. Wie werden daraus »Stimmungsbilder« gespeist, die sich wiederum in ästhetischer Produktion wie dem Fotografieren realisieren. Oliwia Murawska hat solche Transformationsprozesse einer sensiblen Analyse unterzogen. Es gibt ein facettenreiches Bündel an empirischen Zugängen, um der Vielschichtigkeit des ›Phänomens‹ Land auf die Spur zu kommen und die gilt es zu nutzen. Und unsere eigene Nähe zu manchen Forschungsfeldern sollte uns nicht zu vorschnellen Vorannahmen verführen, sondern im Gegenteil unser Reflexionsvermögen und unsere wissenschaftliche Neugier herausfordern. Das heißt, dass auch die Frage danach, wie moderne marktorientierte Landwirtschaft in globalen Zeiten funktioniert und wie sich dadurch nicht nur das Selbstverständnis eines Berufes sondern auch die Arbeits- und Produktionsweisen verändern, zentral ist. Landwirtschaft gilt heute als zukunftsträchtiges Feld für die Anwendung künstlicher Intelligenz, smarte Landwirtschaft ist längst in einer modernen Betriebsführung angekommen und nicht jeder als »Massentierhaltung« wahrgenommene Viehbestand rechtfertigt die Behauptung, dass das Tierwohl in konventioneller Landwirtschaft keine Rolle spiele. Es geht also um den Alltag, die unterschiedlichen Realitäten agrarischen Wirtschaftens. Denn, und das sollten wir bei aller Nähe und Sympathie für alternative Formen des Wirtschaftens und der Vergemeinschaftung nicht vergessen, mit solchen Modellen lassen sich die Probleme der Ernährung nicht einmal im eigenen Land geschweige denn die der Welternährung lösen. Denn Landwirtschaft funktioniert und das nicht erst seit gestern wie jede andere Ökonomie auch in einem globalen Raum mit allen Konsequenzen. 8) Damit ist die Forderung nach einer Historisierung der Forschung verbunden, die mir für eine tiefergehende Analyse ganz wichtig zu sein scheint. Gerade wenn es um alternative Ökonomien und Lebensentwürfe, die ihre Vorbilder in

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Darauf hatte in Bezug auf globalisierte Lebenswelten auch schon Gisela Welz hingewiesen. Dennoch scheint diese Erkenntnis in Bezug auf eine Kulturanalyse des Landes noch wenig diskutiert. Welz 1998, S. 177-194.

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der Lebensreformbewegung haben, um Vorstellungen von Landschaft, die in Reiseberichten, Malerei, Lyrik, Literatur seit dem 18. Jahrhundert in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben werden, um fotografische Ästhetik und Praxis, die einer Tradition, die bis um 1900 zurückgeht, basieren, dann verkürzt eine Analyse ohne historische Perspektive die Ergebnisse. Wie und wann schreiben sich welche Imaginationen des Ländlichen mit welchen Interessen in das kulturelle Gedächtnis ein, wie werden sie tradiert und transformiert und warum erlangen sie gerade in jüngster Zeit wieder eine so große Wirkmacht? Wie steht es mit dem kulturellen Gepäck, das wir mit uns herumtragen? Warum werden Praktiken und Deutungen, die sich von Konventionen und gesellschaftlichem Konsens abwenden auf einmal (wieder) modern? Wie verändern sich Lebensentwürfe und warum formulieren Akteure eine andere Moderne, die ja weit mehr betrifft als nur das Verhältnis Stadt – Land, wenn über Lebensformen »jenseits von Markt und Staat« nachgedacht wird. Gerade die alternativen Bewegungen sind Arenen der ethischen Aushandlung um das gute, das gelingende Leben, das in der Postwachstumsgesellschaft anderen Logiken folgt als zuvor und wo Entfremdung und Entschleunigung, Grenzen des Wachstums, Konsumverhalten, Nachhaltigkeit, Identitätsentwürfe und Zeiterfahrungen, Gegenwartsschrumpfung, Wiedergewinnung eines zyklischen Zeithorizonts wie er in Saat und Ernte aufgehoben ist, wo also grundlegende menschliche Erfahrungen und gesellschaftliche Verständigungsparadigmen an sinnliches Erleben, an Erde, Zyklus, Gemeinschaft, Subsistenz zurückgebunden werden. Gelebt werden solche Ideen z.B. in der solidarischen Landwirtschaft. Hier scheint das Ländliche der Ort zu sein, an dem die Kämpfe um Konzepte für ein gelingendes Leben geführt werden. Sinnliche Erfahrung vs. entfremdete bzw. entkörperlichte Erfahrung wie durch die zunehmende Digitalisierung von Lebenswelten. Vielleicht ist deshalb auch das Vermarkten des imaginaires »Land« in den unterschiedlichsten Verpackungen zurzeit so erfolgreich. Die Tagungsbeiträge waren eine erste Vermessung des neu konzipierten Forschungsfeldes des Ländlichen. Sie haben die große Bandbreite thematischer, methodologischer und theoretischer Zugänge vorgeführt. Für einen rurbanen Turn mag das noch nicht ausreichen, aber es ist eine gute Basis, um einer Kulturanalyse des Ländlichen Kontur zu geben.

Literaturverzeichnis Gerndt, Helge: Städtisches und ländliches Leben. Beschreibungsversuch eines Problems. In: Kaufmann, Gerhard (Hg.): Stadt-Land-Beziehungen. Verhandlungen des 19. Deutschen Volkskunde-Kongresses in Hamburg vom 1. – 7. Oktober 1973. Göttingen 1975, S. 31-46.

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Göttsch-Elten, Silke: »Der Bauernhof ist ein idealer Ort, um Menschen zu berühren…« Vermarktungsstrategien von Ländlichkeit in der Spätmoderne. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 50 (2018), S. 5-16. Kohlmann, Theodor/Bausinger, Hermann (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. Berlin 1985. König, Gudrun: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780-1850. Wien 1996. Lehmann, Albrecht: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999. Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der Metropole. Frankfurt a.M./New York 2010. Trummer, Manuel: Das Land und die Ländlichkeit. Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen. In: Zeitschrift für Volkskunde 114,2 (2018), S. 187-212. Trummer, Manuel: Zurückgeblieben? ›Shrinking regions‹ und ländliche Alltagskultur in europäisch-ethnologischer Perspektive. In: Alltag – Kultur – Wissenschaft 2 (2015), S. 123-148. Welz, Gisela: Moving Targets. Feldforschung unter Mobilitätsdruck. In: Zeitschrift für Volkskunde 94 (1998), S. 177-194. Zech, Tanja: Stadt und Land: eine Beziehungsgeschichte (3.8.2018). Auf: Deutschland.de. URL: https://www.deutschland.de/de/topic/leben/stadt-undland-fakten-zu-urbanisierung-und-landflucht [Letzter Zugriff am 8.7.2019].

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. phil. habil. Christine Aka, Jahrgang 1962, ist Geschäftsführerin des Kulturanthropologischen Instituts Oldenburger Münsterland e.V., einem An-Institut der Universität Vechta in Cloppenburg. Sie studierte Volkskunde/Europäische Ethnologie und Geschichte in Münster. Nach einem Volontariat und mehreren Jahren als Wissenschaftlerin in Museen, habilitierte sie 2005 und war, abgesehen von Vertretungsprofessuren in Regensburg, Münster, Bonn und Mainz, freiberuflich tätig, vor allem auf dem Gebiet der Religionsethnologie und Forschungen zu kulturellen Transformationsprozessen im ländlichen Raum. Daniel Best M.A. arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Universität Würzburg. Seit März 2018 forscht er im Rahmen seines Promotionsprojekts Umbruch ländlicher Ökonomien am Beispiel des fränkischen Weinbaus (Arbeitstitel). Seine aktuellen Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind ländliche Ökonomien, Agro-Food Studies, Arbeit im Wandel sowie Digitalisierung im Alltag. Victoria Biesterfeld M.A. hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Nach diversen Praktika im museumspädagogischen Bereich hat sie 2017 in Oldenburg eine duale Weiterbildung zur Fachreferentin für Sammlungsmanagement und Qualitätsstandards in Museen absolviert. Zuletzt war sie am Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum tätig und hat dort, neben der Leitung der Geschäftsstelle der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen, vor allem das Projekt Landdiskothek Zum Sonnenstein koordiniert und wissenschaftlich begleitet. Anja Decker M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Zu ihren Arbeitschwerpunkten gehört neben der Anthropologie ländlicher Räume insbesondere die Prekaritäts- und Ungleichheitsforschung. Als Mitglied des internationalen DoktorandInnenprogramms Transformations in European Societies promoviert sie am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU

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Das Ländliche als kulturelle Kategorie

München zum Thema Configurations of Precarity. An Ethnography of Social Provisioning in Rural Western Bohemia. Sie ist Co-Initiatorin und Sprecherin der Kommission Kulturanalyse des Ländlichen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Dr. Valeska Flor arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin PostDoc an der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn. 2019 wurde sie zum Thema Abgetragene Erinnerungen. Erzählungen, Praktiken und Dinge im Bewältigungsprozess von tagebaubedingten Umsiedlungsmaßnahmen im Fach Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck promoviert. Derzeit forscht sie im Rahmen ihres Post-Doc Projekts How to train climate active citizens. A study of climate action/leadership ideas and programs zur Aushandlung von Klimawissen sowie Wissenskonflikten zwischen alltäglichen und wissenschaftlichen Wissensordnungen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Politische Anthropologie, die Anthropology of Energy and Climate Change, die Meeting Ethnography, die Erzähl- und Biographieforschung, sowie die Arbeitskulturenforschung. Prof. Dr. Silke Göttsch-Elten war bis 2018 Professorin für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Universität Kiel und Direktorin des dortigen Instituts. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Kulturanalyse des Ländlichen sowohl in historischer wie in aktueller Perspektive. Außerdem arbeitet sie zu Themen der Fachgeschichte, zu Genderthemen und zu Fragen der Raumanalyse insbesondere in Bezug auf Grenzregionen. Andrea Graf M.A. ist Wissenschaftliche Referentin am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn. Sie studierte Volkskunde/Europäische Ethnologie, Kunstgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Münster. Im Anschluss absolvierte sie ein Wissenschaftliches Volontariat und arbeitete und lehrte an den Universitäten Münster und Bonn. Aktuell forscht, publiziert und macht sie Filme zu den Themengebieten: Brauch/Ritual, Visuelle Anthropologie, Museum/Ausstellung, ländlicher Raum/regionale Alltagskultur. Dr. in Sigrid Kroismayr arbeitet als Projektmitarbeiterin am Institute for MultiLevel Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien. Weiters ist sie im Club of Vienna für die Organisation von wissenschaftlichen Veranstaltungen zuständig. 2009 promovierte sie zum Thema Vereinbarkeitsstrategien von Akademikerinnen in der intensiven Familienphase. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Dynamik von Aufwertungsprozessen von städtischen Gebieten, Bedeutung von Infrastruktur für die Bewältigung des Alltags, ländliche Regionalentwicklung, qualitative Methoden. 

Autorinnen und Autoren

Dr. Eike Lossin ist Leiter der Abteilung Sammlung und Dokumentation am Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum. 2010 wurde er im Fach Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg mit einer Arbeit zur Religiosität und Spiritualität katholischer Priesterhäftlinge in nationalsozialistischen Konzentrationslagern promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der materiellen Kultur, der Religiosität und Spiritualität und museumswissenschaftlichen Fragestellungen. PD Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen arbeitet als freie Publizistin und unterrichtet als Privatdozentin am Institut für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Promotion zu den Anliegen und sozialpolitischen Erfolgen der ersten Frauenbewegung Weibliche Kultur und soziale Arbeit am Beispiel Bremens 1810 bis 1927. Sie habilitierte sich mit einer Schrift Von der schwarzen zur weißen Küche… zum gesellschaftlichen Umgang mit Weiblichkeit, Leiblichkeit und Ernährung. Seit Gastprofessuren zur Soziologie der Ernährung sowie Frauen in der ländlichen Entwicklung forscht sie zu Bodenfragen, Welternährung, Urban Agriculture respektive Gardening und kleinbäuerliche Landwirtschaft. Sie ist zudem (meistens ehrenamtliche) Mit-Gründerin zahlreicher Gemeinschaftsgärten wie besonders der Allmende-Gärten auf dem Tempelhofer Feld in Berlin und in der Dübener Heide. Lena Möller M.A. absolvierte ein Studium der Vergleichenden Kulturwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Regensburg und Zürich und ist seit Juni 2018 am Regensburger Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft als Wissenschaftliche Assistenz tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der NS-Erinnerungskultur sowie in der populären Erzähl- und Spielkulturforschung.  Oliver Müller M.A. arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Archäologie & Kulturanthropologie der Universität Bonn. Im DFG-Projekt Partizipative Entwicklung ländlicher Regionen untersucht er die Wechselwirkungen zwischen der Revitalisierung des biokulturellen Erbes und place-making Strategien im Rahmen von partizipativen Entwicklungsprojekten. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Kulturwissenschaftliche Raumforschung, die Anthropology of Development mit Fokus auf partizipativer Governance sowie die Environmental Anthropology. Dr. phil. Oliwia Murawska arbeitet als Senior Lecturer am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. 2015 wurde sie zum Thema Die Familienwerft. Strukturen, Traditionen, Nachfolge im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster promoviert. Im Rahmen ihres Habilitationsprojektes erforscht sie die Kaschubei in Geschichte und Gegenwart. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind der Posthumanismus und das Posthumane,

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Das Ländliche als kulturelle Kategorie

Stimmung als volkskundliche Kategorie, sinnliche Ethnografie, Mensch-Tier- sowie Mensch-Umwelt-Beziehungen, Ökonomische Anthropologie, Unternehmenskulturforschung. Dr. phil. Schimek, Michael: nach einer Tischlerlehre Studium der Volkskunde/Europäische Ethnologie, Mittlere und Neuere Geschichte in Münster. 1995-1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum in einem DFG-Forschungsprojekt zum Wandel ländlichen Bauens im Industriezeitalter. 2001 Promotion mit einer Arbeit über staatliche Einflussnahmen auf das ländliche Bauen im Land Oldenburg zwischen 1880 und 1930. Nach Leitungstätigkeiten an den Mönchguter Museen in Göhren (Rügen) und am Rheinland-Pfälzischen Freilichtmuseum Bad Sobernheim leitet er seit 2011 die bauhistorische Abteilung am Museumsdorf Cloppenburg, seit 2019 ist er dessen stellvertretender Museumsleiter. Forschungsschwerpunkte sind der Hausbau und das Wohnen seit dem 18. Jahrhundert sowie die Freilichtmuseologie. Judith Schmidt M.A. ist Kulturanthropologin und wissenschaftliche Referentin am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn. Innerhalb des Projektes Zur Rolle des kulturellen Erbes in Strukturwandlungsprozessen. Die Dörfer der Erkelenzer Börde (Keyenberg, Ober- u. Unterwestrich, Kuckum, Berverath) forscht sie zu tagebaubedingten Umsiedlungsprozessen. Ihre Promotion mit dem Titel Kalkulierte Mobilität. Biographische und ökonomische Perspektiven auf Saisonarbeit. Eine Ethnographie zwischen Deutschland und Rumänien wird vom Schroubek-Fonds östliches Europa gefördert und an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz betreut. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Ökonomische Anthropologie, AgroFood-Studies, Politische Anthropologie, Mobilität und Migration, Arbeitskulturen und Interkulturalität. Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber ist Universitätsprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Ihre Dissertation (1997) setzte sich mit Ethnizität als alltäglicher sozialer Praxis am Beispiel deutschsprachiger NamibierInnen auseinander, die Habilitation (2003) untersuchte »Gemütlichkeit« als alltägliche Befindlichkeit. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die relationale Raumanalyse (»rurban dwelling«, »Mittelstädtische Urbanitäten«, dazu gemeinsam mit Anna Eckert und Georg Wolfmayr: Aushandlungen städtischer Größe. Mittelstadt leben, erzählen, vermarkten. Wien 2020), Populär- und Protestkulturen sowie ethnographische Forschungsmethodik. Carsten Sobik M.A. studierte Europäische Ethnologie/Volkskunde, Medizingeschichte, Ur- und Frühgeschichte sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Am dortigen Seminar für Europäische

Autorinnen und Autoren

Ethnologie/Volkskunde war er 2005 bis 2007 Dozent und Lehrbeauftragter. Parallel arbeitete er freischaffend u.a. im Museumsdorf Hösseringen und im Kindheitsmuseum Schönberg (Probstei). Seit 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sammlung & Dokumentation im Freilichtmuseum Hessenpark in Neu-Anspach im Taunus. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten sowie zur Publikationstätigkeit als Autor und Herausgeber zählen maßgeblich die Sachkultur- sowie Hausforschung und die Museologie. Seit 2018 ist er als Schriftführer Mitglied im Vorstand der Hessischen Vereinigung für Volkskunde. Dr. Franziska Sperling arbeitet derzeit als Referentin für Nachhaltigkeit an der Hochschule Augsburg. 2015 promovierte sie zum Thema Biogas – Macht – Land: Ein politisch induzierter Transformationsprozess und seine Effekte am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre aktuellen Interessen- und Forschungsschwerpunkte umfassen die Themenbereiche Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Energie(-politik).  PD Dr. Manuel Trummer arbeitet als Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg. Die Habilitation erfolgte 2019 mit dem Thema Mediale Governance und ländliche Entwicklung. Eine politische Anthropologie audiovisueller Ländlichkeit. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Kulturanalyse des Raums mit den Schwerpunkten Ländlichkeit und Regionalität (als Ko-Gründer der dgv-Kommission Kulturanalyse des Ländlichen), die AgroFood Studies sowie die Populären Literaturen und Medien. Lauri Turpeinen M.A. ist Doktorand am Department of Cultures der Universität Helsinki. Er erforscht dort seit 2015 die starke Landflucht junger Erwachsener aus Kainuu, einer ländlichen Region im Nordosten von Finnland. Turpeinen arbeitet ethnografisch und seine aktuellen Forschungsinteressen sind die zeitgenössischen ländlichen Räume Finnlands, die Lebenswelten junger Erwachsener, sowie Migrationsbewegungen zwischen Stadt und Land. Dr. Lars Winterberg ist Koordinator des Forschungsverbunds Verdinglichung des Lebendigen: Fleisch als Kulturgut an der Professur für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg. 2016 wurde er mit einer Arbeit zur Aushandlung globaler Armut am Beispiel des Fairen Handels promoviert (Die Not der Anderen). Bis 2018 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten in Bonn, Saarbrücken, Regensburg und Mainz tätig. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Agrar- und Ernährungskulturen, Kulturen sozialer Ungleichheit sowie Alltag und Utopie.

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Das Ländliche als kulturelle Kategorie

Dr. Barbara Wittmann hat nach einer Ausbildung zur Kirchenmalerin an der Universität Regensburg Vergleichende Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Russische Philologie studiert. In der Vergleichenden Kulturwissenschaft war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte tätig. In ihrer mit dem Förderpreis der Gesellschaft für Agrargeschichte ausgezeichneten Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Geschichte der industrialisierten Geflügelhaltung in der BRD. Die Promotion erfolgte 2020 mit der von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt geförderten Arbeit zu Positionierungen landwirtschaftlicher Intensivtierhalter im Agrarraum Bayern. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Landwirtschaft, Esskultur, Mensch-Tier-Beziehungen sowie Flucht und Migration. Dr. Georg Wolfmayr studierte Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie in Graz und promovierte im Jahr 2017 an der Uni Wien mit der ethnographischen Arbeit »Wels. Es hätte schlimmer kommen können«. Auf der Suche nach dem guten Lebensort zwischen Stadt und Land in Zeiten der Kulturalisierung. Von 2010 bis 2017 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien und Projektmitarbeiter im Forschungsprojekt Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim. Aktuell befasst er sich im Rahmen des FWF-Zukunftskollegs SPACE – Spatial Competition and Economic Policies: Discourses, Institutions and Practices mit räumlichen Aspekten von Wettbewerb und Praktiken der Kompetitivität.

Geographie kollektiv orangotango+ (ed.)

This Is Not an Atlas A Global Collection of Counter-Cartographies 2018, 352 p., hardcover, col. ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4519-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4519-8

Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hg.)

Handbuch Praktiken und Raum Humangeographie nach dem Practice Turn 2019, 396 S., kart., 5 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4603-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4603-4

Ian Klinke

Bunkerrepublik Deutschland Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs 2019, 256 S., kart., 21 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4454-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4454-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4454-8

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Geographie Severin Halder

Gemeinsam die Hände dreckig machen Aktionsforschungen im aktivistischen Kontext urbaner Gärten und kollektiver Kartierungen 2018, 468 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4547-7

Christoph Baumann

Idyllische Ländlichkeit Eine Kulturgeographie der Landlust 2018, 268 S., kart., 12 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4333-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4333-0

Sören Groth

Von der automobilen zur multimodalen Gesellschaft? Multioptionalität als Voraussetzung für multimodales Verhalten 2019, 282 S., kart., 18 SW-Abbildungen, 6 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4793-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4793-2

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