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German Pages [760] Year 2013
geschichte der österreichischen bundesländer seit 1945 Herausgegeben von Herbert Dachs · Ernst Hanisch · Robert Kriechbaumer
Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, herausgegeben von Robert Kriechbaumer, Franz Schausberger, Hubert Weinberger Band 6/9
Michael Dippelreiter (Hg.)
W ien Die Metamorphose einer Stadt
2013 böhlau verlag wien · köln · weimar
Gedruckt mit der Unterstützung durch:
Bundesministerium für Wissenschaft Forschung in Wien
MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildungen: Von links nach rechts: Kriegsschäden (© Wien-Bibliothek, Nachlass Viktor Matejka), Weihnachtsfeier im BKA 1945 (© Karl von Vogelsang-Institut), Straßenbahner, Museumsquartier (© WStLA [Wiener Stadtund Landesarchiv], Fotosammlung, media wien).
© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Corinna Salomon Umschlaggestaltung: Tino Erben, Cornelia Steinborn Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: UAB Balto Print, 08217 Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-205-98785-7
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
i
Michael Dippelreiter: Wien in der ersten Hälfte des Jahres 1945 . . . . . . .
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ii
Martin Dolezal: Die politische Entwicklung Wiens . . . . . . . . . . . . .
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iii
Peter Eigner · Andreas Resch: Wirtschaft und Stadt : Ökonomische Entwicklungsprozesse in Wien von 1945 bis 1995. . . . . .
109
Franz X. Eder: Vom wirtschaftlichen Mangel zum Konsumismus. Haushaltsbudgets und privater Konsum in Wien, 1918–1995 . . . . . . .
209
v
Ulrike Renner: Wienkultur 1945–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
vi
Günther Fleck: Die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der Stadt Wien seit Ende des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . .
335
Siegfried Mattl: Filmgeschichte als Sozialgeschichte der Stadt Wien nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
viii Andreas Weigl: Demografischer Wandel in Wien von 1945 bis in das ausgehende 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Georg Rigele: Mehr, mehr, mehr. Energie und Verkehr in Wien 1945–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445
Irene Bandhauer-Schöffmann: Ernährungsverhalten und Kochkultur in Wien. Essen, Kochen, Lebensmittelnahversorgung und Gaststättenwesen in der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Irene Etzersdorfer: Die Wiener jüdische Gemeinde nach 1945 – eine heterogene Schicksalsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
593
Ulrike Steiner: Architektur in Wien nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . .
611
iv
vii
ix
x
xi
xii
5
inhaltsverzeichnis xiii Matthias Marschik: Eine (Miss-)Erfolgsgeschichte. Fußball in Wien/Sport in Österreich, 1945 bis 1995 . . . . . . . . . . . . .
651
Elisabeth Ponocny-Seliger: Benennung öffentlicher Verkehrsflächen seit 1945. Wiens Frauen im Schatten berühmter Männer . . . . . . . . . .
681
Erwin A. Schmidl: Wien als internationales Zentrum . . . . . . . . . . . .
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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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xiv
xv
6
Einleitung
M
itte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts entstand die Idee, in der HaslauerBibliothek ein großangelegtes mehrbändiges Werk über die »Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945« in Angriff zu nehmen. Geplant waren neun Bücher über die einzelnen Bundesländer sowie zwei Zusatzbände. Herausgeber waren rasch gefunden, diese konzipierten ihre Bände und suchten geeignete Autorinnen und Autoren. Relativ schnell erschienen die ersten Bände und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts lagen sieben Bundesländer- und die beiden Zusatzbände vor. Beim Wiener Band »spießte« es sich etwas : Die Herausgeber hatten sich ein hohes und ambitioniertes Ziel gesetzt, welches letztlich nicht erfüllt werden konnte. Die Gesamtherausgeber der Reihe fragten schließlich den jetzigen Herausgeber, ob er sich vorstellen könne, den Band »Wien« neu zu konzipieren und die Herausgeberschaft zu übernehmen. Nach einer längeren Überlegungsphase wurde zugesagt, eine ungefähre Themenauswahl vorgenommen und mit möglichen Autorinnen und Autoren Kontakt aufgenommen. Einige wenige Artikel des ursprünglichen Konzepts konnten nach einer Überarbeitung übernommen werden, die meisten Beiträge wurden aber völlig neu erarbeitet. Im Sinne der Fairness gegenüber den übrigen Herausgebern bzw. Verfasserinnen und Verfassern der bereits erschienenen Bände wurde vereinbart, die Themen nur bis zum Jahr 1995 ausführlich zu behandeln, für die Zeit danach jedoch einen Ausblick zu bringen. Das relativ enge Zeitkorsett, welches für den Herausgeber und die Autorinnen und Autoren vorgegeben war, ermöglichte zwar die Erforschung neuer Themenbereiche, konn����������������������������������������������������������� te aber nicht den nötigen Zeiteinsatz für intensive Archivarbeit ermöglichen. Durch Krankheitsfälle und familiär bedingte Schwierigkeiten einzelner Autorinnen und Autoren war es nötig, für einzelne Bereiche neue Bearbeiterinnen und Bearbeiter zu suchen und finden, welche dann natürlich unter noch größerem Zeitdruck agierten. Zwei Artikel konnten wegen des beruflichen Drucks eines vorgesehenen Autors nicht abgeschlossen werden ; ein längeres Zuwarten wäre aber nicht mehr zu verantworten gewesen. Alles in allem ist ein umfangreicher Band entstanden, in dem sich Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Fachbereichen (Geschichte, Politologie, Psychologie) in den verschiedensten Herangehensweisen ihren Themen nähern. Der Herausgeber beschreibt in seinem Beitrag die (Lebens-)Verhältnisse in Wien im ersten Halbjahr 1945 ; sowohl auf den nationalsozialistischen Terror als auch auf den Widerstand in der Bevölkerung wird eingegangen. Bislang unbekannte persönliche Zeitzeugendokumente werden zitiert und der – in politischer, wirtschaft7
einleitung licher, aber auch privater Hinsicht – schwierige Neuanfang der Stadt wird eingefangen. Der Politologe Martin Dolezal beschreibt die politische Entwicklung Wiens auf eindrucksvolle Weise : Er analysiert, ausgehend von der Landes- und Gemeindeverfassung, die politischen Prozesse und untermauert seine Ergebnisse durch zahlreiche Tabellen und Diagramme. Die Einzigartigkeit der Stellung Wiens innerhalb Österreichs als Bundesland und als Gemeinde erklärt er überzeugend. Aber auch die politischen Entscheidungsmuster bis auf Bezirksebene werden dargestellt und anhand von Beispielen erklärt. Das scheinbare Fehlen einiger erläuternder Tabellen und Darstellungen erklärt sich dadurch, dass ursprünglich ein zweiter, ergänzender Artikel zur Politik vorgesehen war, der aber nicht zustandegekommen ist. Die beiden Wirtschaftshistoriker Peter Eigner und Andreas Resch überarbeiteten einen Artikel, der bereits für das erste Konzept vorgesehen gewesen war. In akribischer Weise wird die Wirtschaftsentwicklung der Bundeshauptstadt dargestellt und in ihren Auswirkungen analysiert. Dieser Beitrag ist in seinem Umfang ein wenig überlastig gegenüber den anderen Artikeln, wegen seiner Substanz kam eine Kürzung jedoch nicht infrage. Auch der Beitrag von Franz X. Eder war schon für das erste Konzept erstellt worden. Eder schildert das Konsumverhalten in der Stadt, vom wirtschaftlichen Mangel bis zum heutigen Überfluss. Er beschreibt die Veränderung der Lebensgewohnheiten, die mit den geänderten Konsummöglichkeiten korrelieren. Die Theaterwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Ulrike Renner nimmt sich der Kultur in Wien an und erläutert am Thema »Festwochen« ausgehend von sehr persönlichen Erfahrungen deren Werdegang und Erfolg – als Beispiel der »Erfolgsgeschichte« der Kultur in Wien insgesamt. Auch der Psychologe Günther Fleck wählt einen sehr persönlichen Zugang, um die Entwicklung des tertiären Bildungssystems in Wien nachzuzeichnen. Dabei beschreibt er die Universität nach dem Humboldt’schen Bildungsideal bis Ende der 60er-Jahre ebenso wie die Änderungen durch mehrere Universitätsreformen bis zum heutigen »Bologna-System«. Auf die Entstehung der Fachhochschulen vergisst er ebenso wenig wie auf die Skizzierung einiger außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, deren Niedergang er wahrzunehmen glaubt. Einen besonderen Beitrag hat Siegfried Mattl gestaltet : Er skizziert eine kurze Sozialgeschichte anhand von Filmen ; dafür untersucht er Filme, die im Auftrag der Stadt Wien oder des Fremdenverkehrsamtes entstanden, auf deren Bilder und Klischees und zieht daraus seine Schlüsse – ein Ansatz, der nachahmenswert erscheint. Andreas Weigl beschreibt in seinem Aufsatz die demografische Entwicklung der Bundeshauptstadt. Durch umfangreiche statistische Materialien unterstützt, zeichnet er den Weg von Bevölkerungsstagnation – ja sogar Rückgang – nach bis zum 8
einleitung leichten Wachstum, welches hauptsächlich durch Zuzug von Gastarbeitern und Flüchtlingen erklärbar ist. Den Bereich »Energie und Verkehr« deckt Georg Rigele durch seinen Aufsatz ab. Der Autor ist der Spezialist für dieses Thema und hat in seinem Beitrag umfangreiches Material zusammengetragen, welches auch den kundigen Leser immer wieder in Erstaunen versetzt. Die Zeithistorikerin Irene Bandhauer-Schöffmann untersucht in ihrem Artikel (auch aus dem ersten Konzept) »Ernährung und Kochen« in Wien. Die Entwicklung des Gaststättenwesens wird dabei ebenso untersucht wie die Lebensmittelnahversorgung oder die Kochgewohnheiten der – hauptsächlich – Wienerinnen. Irene Etzersdorfer versucht in ihrem Beitrag, den schwierigen Neubeginn der Wiener jüdischen Gemeinde nach 1945 nachzuzeichnen. Ausgehend von den komplizierten Verhandlungen über die Vermögensfrage, den Rückerstattungen, bis hin zu den psychischen Belastungen der Überlebenden des Holocaust, werden verschiedene grundlegende Probleme der jüdischen Gemeinde und auch der Kultusgemeinde angesprochen. Einen großartigen Beitrag über die Entwicklung der Architektur liefert die Kunsthistorikerin Ulrike Steiner. Der Überblick über Architekten und deren Bauwerke in Wien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bringt eine Sicht auf die Bemühungen der Künstler, aber auch der Bauherren, Wien einen modernen Touch zu verleihen. Als »wichtigste Nebensache der Welt« wird der Sport angesehen. Matthias Marschik nimmt den Fußballsport als Beispiel und vergleicht ihn österreichweit mit anderen Sportarten, vor allem mit dem Skisport. Die Psychologin Elisabeth Ponocny-Seliger kümmert sich in ihrem Beitrag um die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum. Sie hat die Benennung von Straßen und Plätzen nach Frauen im besagten Zeitraum untersucht und dabei langsame Fortschritte für die Gleichstellung beobachten können. Der letzte Artikel, gestaltet von Erwin Schmidl, befasst sich schließlich mit der Stellung Wiens als Sitz internationaler Organisationen. Schmidl beschreibt den Werdegang Wiens als Treffpunkt der internationalen Diplomatie bis hin zum institutionalisierten Sitz der verschiedensten internationalen Organisationen. Das vorliegende Werk versteht sich ausdrücklich nicht als eine »Geschichte der Bundeshauptstadt Wien seit 1945«. Vielmehr will das Buch zum Nachdenken anregen und Lust auf weitere Forschungen machen. Ein Themenfeld wie dieses kann nur in Teilaspekten erörtert werden, und auch diese können niemals den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Autorinnen und Autoren und natürlich auch der Herausgeber haben bewusst Lücken in Kauf genommen in der Hoffnung, dass junge Fachkolleginnen und -kollegen daraus Anregungen schöpfen und neue Themen be9
einleitung handeln werden. Ebenso hoffen wir, dass öffentliche Stellen solche weiterführenden Forschungen fördern können und wollen, damit weitere Prozesse der Geschichtsaufarbeitung unserer schönen Stadt möglich sind. Abschließend soll noch der Haslauer-Bibliothek gedankt werden für die Idee des Gesamtwerkes und die Bemühung um die Finanzierung sowie dem Böhlau-Verlag für die – wie immer – hervorragende Herstellung des Bandes. Größte Anerkennung gebührt jedoch den Autorinnen und Autoren, die unter erschwerten Bedingungen ihre Beiträge in kurzer Zeit fertigstellen mussten : Sie und ihre KorrekturleserInnen haben hervorragende Arbeit geleistet und große Geduld bewiesen ! Wien, im September 2012
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mich ael dippelreiter
Wien in der ersten Hälfte des Jahres 19451
Z
u Beginn des Jahres 1945 zeichnete sich die Niederlage der deutschen Armee immer deutlicher ab. Trotz Durchhalteparolen der nationalsozialistischen Machthaber war wohl jedermann klar, dass sich das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft abzeichnete. Doch stellte die immer stärker werdende Bombardierung der alliierten Luftstreitkräfte eine große Bedrohung der Zivilbevölkerung dar. »Mit Jahresbeginn 1945 versuchten die Amerikaner von den Russen Flugplätze in den durch die Rote Armee besetzten Staaten Osteuropas zu bekommen. Das Ansinnen wurde im Zusammenhang damit gestellt, dass Wien nunmehr einem ununterbrochenen Bombardement unterzogen werden müsste und dafür zu weit von den süditalienischen Basen entfernt sei.«2 Die Bombenangriffe, die seit Herbst 1944 fast täglich gegen verschiedene Ziele in Wien gerichtet waren, sorgten für Angst und Verzweiflung bei der Bevölkerung. Die Behörden informierten die Bevölkerung über das »richtige Verhalten« bei Luftangriffen, sowohl durch Plakate als auch in den Zeitungen. Die Luftangriffe wurden als »Terrorangriffe« gegen die zivile Bevölkerung klassifiziert. Wie sehr diese Terminologie auch bei den Menschen gegriffen hat, zeigt ein Brief der in Wien verbliebenen jüdischen Krankenschwester Mignon Langnas vom 18. Jänner 1945 an ihre Schwester : »Am 15. d. M. hatten wir einen greulichen Terrorangriff, dessen Ziele nur Privathäuser waren + dessen ›Erfolg‹ Verzweiflung + Verarmung der Zivilbevölkerung ist …«3 Mittlerweile rückten die alliierten Truppen immer näher an die österreichischen Grenzen heran. Zur Beruhigung der Menschen setzten die politischen Funktionäre Zeichen, welche ihre Entschlossenheit zur Abwehr der Feinde dokumentieren sollten. So konnte man unter der Überschrift »Einsatz zum Schutz der Heimat. Politische Leiter beim Schanzen« unter anderem lesen : »Es sind 34 Politische Leiter aus allen Kreisen des Gaues Wien, die in zwei Klassenräumen einer Schule ihr Quartier bezogen haben. Aus den ausgeräumten Zimmern machten sich die Männer anheimelnde Stuben.« Und weiter : »Um halb vier Uhr früh ist Aufstehzeit für die Kolonnenführer. Sie übernehmen die Wallarbeiter in ihren Quartieren und bringen sie zur Abfahrtstelle. Der Marsch zur Baustelle wird zu Fuß zurückgelegt. Der Aufsichtsdienst an den Gräben ist durchlaufend, bei jedem Wetter, ob Regen, ob Schnee, ob Wind. Menagiert wird im Freien. Trecks bringen die Kanister von den Großküchen.«4 Die Tatsache, dass diese Parteibonzen Arbeitstrupps beaufsichtigten, die hauptsächlich aus Kindern und alten Männern, aus kz-Häftlingen, aus verschleppten Zwangsarbeitern und Juden bestanden, wurde nicht erwähnt. 11
michael dippelreiter »Der Entschluss Wien unter allen Umständen zu verteidigen, wurde schon im Spätherbst 1944 gefasst. Hitler verlangte dies sowohl von der Wehrmacht als auch von der Parteiführung und der Gauverwaltung.«5 Die uneingeschränkte Lufthoheit der alliierten Flugzeuge ab Februar 1945 und der Fehlschlag der Entlastungsoffensive der Deutschen Wehrmacht in Westungarn machten die bedrohte Lage Wiens immer deutlicher. Die Befehlshaber in Wien erkannten die aussichtslose Lage recht bald, bei den Besprechungen in Berlin wurde Optimismus vorgetäuscht, welcher auch nach außen gezeigt wurde. So ermunterte der Reichsstatthalter von Wien, Baldur von Schirach, eine Gruppe von kriegsfreiwilligen Hitler-Jungen am 10. März 1945 : »Erst vor wenigen Tagen habe ich bei einem Besuch beim Führer wieder das Wunder der Persönlichkeit erlebt. Adolf Hitler hat sich nicht verändert. … Seine erste Frage galt Wien, den Menschen und der Stadt, die er so liebt. Seine Frage galt vor allem auch der Jugend : Wird sie sich bewähren, wird sie tapfer sein, das Schwerste auf sich nehmen ? Ich weiß ihr werdet den Führer nicht enttäuschen !«6 Am 15. Jänner 1945 flogen 400 Bomber einen Angriff gegen Wien. Bomben fielen auf fast alle Bezirke, brachten Häuser zum Einsturz und lösten Brände aus. Im Jänner gab es noch zwei größere Luftangriffe mit zahlreichen Beschädigungen in den verschiedenen Bezirken ; vor allem die Gegend um den Westbahnhof wurde arg demoliert. Im Februar fanden durchschnittlich jeden zweiten Tag Bombardierungen von Wien statt, wobei der Angriff vom 13. Februar den zahlenmäßig größten darstellte. Über das Leben mit den Luftangriffen schreibt Mignon Langnas unter anderem : »Neues Elend, neues Leid ! Man braucht sich also keine Vorwürfe zu machen, dass man nicht zur Zeit im Keller war, – Bomben finden auch dorthin. … Ich höre, dass Leute nach dem heutigen Alarm im 10. Bezirk – geschrien haben, sie wollen endlich Frieden.« Und weiter : »Mir ist so bang + alles ist so unfassbar schwer. Täglich Alarm, – täglich stundenlang im Keller – das ganze Leben wird schon so darauf eingerichtet, die Unsicherheit, das stete Bedrohtsein, lastet wie ein Alp + man wird ganz hoffnungslos.«7
Der Widerstand formiert sich Nach dem Scheitern des Attentates auf Hitler und den darauffolgenden Massenverhaftungen wurden die Widerstandsaktionen geringer. Erst im Herbst 1944 kam es zur Bildung neuer Gruppierungen, welchen einige der ehemaligen führenden Widerständler angehörten. So konnte der inzwischen zum Major beförderte Carl Szokoll seine Verbindungen zu den Organisatoren des Hitlerattentates geheim halten und recht rasch wieder eine Zelle aufbauen. Erstmals wurde versucht, verschiedene Gruppierungen des militärischen und zivilen Widerstands unter einem Dach zu 12
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 vereinigen. Mitte November 1944 wurde von militanten zivilen Gruppen der sogenannte Siebener-Ausschuss eingerichtet, welcher hauptsächlich zur gegenseitigen Information und Koordination diente. Kurz darauf kam es zur Bildung des »Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees (poen)«, welches bis knapp vor dem Ende des nationalsozialistischen Regimes in Wien eine große Rolle spielen sollte. Mitglieder des poen waren der ehemalige Wirtschaftsrat Otto Spitz, der Monarchist Dr. Josef Graf Ezdorf, der Jurist Prof. Dr. Alfred Verdroß-Droßberg, der ehemalige Propagandaleiter der Vaterländischen Front Dr. Hans Becker, als Vertreterin der Sozialdemokratie Berta Lemberger, der Journalist Dr. Ernst Molden mit seiner Gattin Paula von Preradović und Alfons Stillfried, der in der Militärzensurstelle Wien Dienst verrichtete. Der Sohn von Ernst Molden, Fritz, konnte Beziehungen zu den Westalliierten herstellen und reiste in deren Auftrag mehrmals nach Wien, um die Kontakte zu den Widerstandsgruppen zu pflegen. »Im Rahmen einer weiteren Reise Fritz Moldens, diesmal nach einem Aufenthalt in Paris mit Verbindungsaufnahme zu allen europäischen militärischen Vertretern der Anti-Hitler-Koalition, erfolgte am 25. Februar 1945 die erste Unterredung mit dem Rechtsanwalt Dr. Adolf Schärf. Der Vertrauensmann der sozialdemokratischen Emigration und französische Offizier Erich Lemberger (Nom de guerre : Lambert) hatte diesen persönlich mit Molden zusammengeführt. Am 27. Februar 1945 kam es zu einem Treffen von poenVertretern mit Schärf und dessen Beitritt in jene Vereinigung. Um diese Zeit wurden linksliberale oder linkssozialistische oder kommunistische Persönlichkeiten gesucht und es wurden Kontakte mit Dr. Norbert Bischoff (Diplomat) sowie Dr. Viktor Matejka (Volksbildner) hergestellt«.8 Schon am 25. Februar kam es auch zu einer Besprechung zwischen Vertretern der poen und Mitgliedern des militärischen Widerstandes im Haus von Major Stillfried am Saarplatz im 19. Wiener Gemeindebezirk. Diese Besprechung muss verraten worden sein, denn die Gestapo versuchte, die Teilnehmer zu verhaften ; die Versammlung war aber durch vertraute Soldaten des Major Biedermann, der ein enger Freund Stillfrieds war, gesichert worden, und so konnten die Verschwörer – zumindest vorerst – entkommen. »Am 2. März begann eine Verhaftungswelle der Gestapo, der eine Anzahl der poen-Mitglieder (Ernst Molden mit Paula v. Preradović, Ezdorf, Stillfried, Becker) zum Opfer fielen, unter teilweise dramatischen Umständen mit Schusswechseln und Fluchtversuchen. Die Verhafteten wurden nach scharfen Verhören in Sammeltransporten um den 1. April nach Mauthausen gebracht. Andere wie Berta Lemberger oder Spitz gingen in den Untergrund.«9 Um Stillfried zusätzlich unter Druck zu setzen, wurde auch dessen Frau Aly verhafte und im Beisein Stillfrieds gefoltert. Dennoch hatte Stillfried Glück : Er wurde nicht im Sammeltransport nach Mauthausen gebracht und er erlebte die Befreiung als Gefangener in der Elisabethpromenade. Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass ein hoher Bonze im 13
michael dippelreiter Gefängnis Stillfrieds Schulkamerad gewesen war und diesen zwar auf die Liste des Transportes gesetzt, ihn aber danach unter einem anderen Namen versteckt hatte.
Die Alltagsmühen werden stärker Das Leben der Bevölkerung war durch den »totalen Krieg« ohnehin schon stark eingeschränkt. Das ständige Bombardement der alliierten Luftwaffe mit den darauffolgenden Zerstörungen zehrte nicht nur an den Nerven der Wiener Bevölkerung, es machte den Kampf ums tägliche Überleben zu einer Herausforderung. Die (wenigen) Zeitungen brachten Rezepte für Mahlzeiten aus den wenigen noch vorhandenen Lebensmitteln und gaben Tipps zum Thema »Einfach haushalten – aber wie ? Turmkochen : Dadurch, dass wir Töpfe übereinanderstellen, haben wir die Möglichkeit den Inhalt zweier Töpfe auf einmal zu kochen, auf einer Wärmequelle gar. Der Inhalt des oberen Topfes muss vorher kurz angekocht werden. Wenn nichts anders, so kann man sich auf diese Weise Wasser wärmen. Zum Reinigen von Geschirr wird gebrauchtes Geschirr sogleich mit Wasser gefüllt, damit die Speisereste nicht antrocknen und das Abwaschen erschweren.« Und : »Man spart Spinnstoffe, indem man das Geschirrtuch schont und dafür ein altes Tuch in heißem Wasser fest auswindet und mit diesem noch heißem Tuch das saubere Geschirr abtrocknet. Das Tuch muss während des Trocknens häufiger in heißes Wasser getaucht werden.«10 Die Zeitungen versuchten, den Menschen Mut zu machen, indem sie immer wieder den Fleiß und die Opferbereitschaft der Bevölkerung durch Beispiele hervorhoben, in einem wesentlich größeren Rahmen, als über die militärische Lage und die Schäden der Luftangriffe berichtet wurde. Andererseits wurde ebenso ausführlich über Personen geschrieben, die sich als »Volksschädlinge« erwiesen hatten, indem sie u. a. Diebstähle und Plünderungen nach Bombenangriffen unternahmen, Feindsender abhörten oder defätistische Meinungen abgaben. Diese Vergehen wurden äußerst brutal geahndet, oftmals mit der Todesstrafe, wobei die Strafen immer wieder als Garant für den »Volkswillen« gesehen wurden. Anders sieht dies ein Beamter in seinen Tagebuchaufzeichnungen, die Rebhann teilweise abgedruckt hat : »Montag, 19. Februar : Heute war ich in H. Kerzen holen. Während dessen wurde Alarm gegeben und ich ging in den Keller des Ottakringer Bräu. Diesmal löste sich der Penzinger Frachtenbahnhof in Rauch auf, eine Bombe zerstörte die Winkler Apotheke neben dem ss-Lokal … Donnerstag, 22. Februar : Versuche bei Schleichhändlern etwas Essen gegen meine alten Schuhe zu tauschen. Mittags war ein Großangriff, wir sind lange am Boden des Kellers gelegen. Nachher 12 Kilometer zwischen gräßlichen Zerstörungen zu Verwandten gelaufen … Freitag, 23. Februar : Ein Tag ohne Alarm, aber alle Verkehrsmittel stehen still. Am Abend gibt 14
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 es endlich Licht und daher Gelegenheit, mit dem Radio ausländische Sender abzuhören … Sonntag, 25. Februar : Kein Alarm, doch auch kein Wasser, kein Gas und kein Licht. Seit Tagen keine Post mehr … Montag, 26. Februar : Furchtbare Stürme, aber kein amerikanischer Einflug … Wir haben kaum etwas zu essen, dafür aber vor Sorgen keinen Hunger. Wir beten viel und frieren trotz des wärmenden Wetters …«11 Auch Mignon Langnas beschreibt in ihrem Tagebuch am 8. März 1945 die Not und auch die Sehnsüchte, die sich einstellten : »Ich habe mir in der Kleiderkammer Blusen + Kleidchen geholt + höre, dass Franzi Rittberg + noch einige aus Wien in der Schweiz sind. Wie schön ! Du guter Gott – wie tröstend schön ! Aber was ist aus den anderen geworden ? Quälende Gedanken – Und das Brot ist sosehr gekürzt + es ist verdammt, dass man gerade jetzt so gern Brot isst + dass es einem ganz unfassbar erscheint, dass man einfach in den Laden ging + Brot kaufte + obwohl man doch nicht reich war – Brot + Butter konnte man sich leisten. Ja, liebe Mignon – auch damals + immer hat es Menschen gegeben – für die Brot und Butter eine wunderbare Sache waren …«12
Die Luftangriffe werden verstärkt Nach einer Pause von fast drei Wochen, in denen alliierte Angriffe hauptsächlich auf Ziele in Kärnten, Tirol und der Steiermark geflogen wurden, kam es am 12. März 1945 zu einem der größten Luftangriffe auf Wien. »Es war der Angriff, bei dem so viele Repräsentativbauten im Zentrum Wiens getroffen und vernichtet wurden. Der markanteste davon die Staatsoper. Ihre Decke stürzte ein, Zuschauerraum und Bühne brannten aus. Gleich hinter der Oper, im Philipphof, schlugen mehrere Bomben ein, und im Schutt des in sich zusammenstürzenden Gebäudes wurden Hunderte Menschen, die sich im Luftschutzkeller befanden, begraben. Es gelang auch nach Tagen nicht, sie zu bergen. Schließlich gab man die Rettungsversuche auf.«13 Aber auch anderswo im Stadtgebiet kam es zu schweren Beschädigungen : Das Burgtheater, der Stephansdom, die Hofburg und das Kunsthistorische Museum wurden getroffen, das Gebäude der Albertina wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Beiderseits des Donaukanals sorgten zahlreiche Bombentreffer ebenfalls für große Zerstörungen, so etwa am Hauptquartier der Gestapo, dem ehemaligen Hotel Met ropol. Mignon Langnas vertraut ihr Entsetzen, die schwere psychische Belastung am 14. März ihrem Tagebuch an : »… Die Feindflieger kommen näher + näher und schon eilen wir in den Keller der K. G. (Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse) – Greterl ist schon dort und alle vertrauten Gesichter. Ich stehe eine Weile im Vorraum bei der Lilly, aber ich bin nervös, – mir ist heute besonders unheimlich, ich habe furchtbare Angst. Eine Welle nach der anderen überfliegt uns + das Abwerfen 15
michael dippelreiter der Bomben ganz in der Nähe lässt Wände + Boden erzittern + plötzlich ! Schlägt es dröhnend ein – das alte Lied, die alte Melodie : finster – unheimlich, keine Luft, keine Luft ! Doch ich lebe – ja ich lebe … Verschüttet ? Werden wir hinauskönnen ? Was ist zwei Schritte von uns geschehen ? Es ist finster + ein wüstes Durcheinander + keine Luft ! Und nach unheimlicher Zeit wissen wir, dass wir hinauskönnen + fühlen + ahnen, dass Entsetzliches geschehen ist … Da laufen wir und was wir sehen, ist entsetzlich – denn alle diese einstürzenden, brennenden Häuser sind nicht aus Stein : in ihnen spielen sich Tragödien ab, die allen Jammer der Erde bergen ! Ist die Welt aus den Fugen ? … Und die Oper brennt + das Volkstheater + die Ringstr. verwüstet + überall Entsetzen + Leid + Not …«14
Der K ampf um die Stadt Der Beschluss, Wien unter allen Umständen zu verteidigen, war ja schon im Herbst 1944 gefasst worden. Nun, Ende März 1945, sah die Sache ganz anders aus. Die sowjetische Armee hatte bereits die Grenze zum ehemaligen Österreich überschritten und befand sich auf dem Vormarsch in Richtung Wien. »Am 30. März 1945 erlässt der ›Reichsverteidigungs-Kommissar für den Reichsverteidigungsbezirk Wien‹, Baldur von Schirach, eine Anordnung, mit der die ›Standgerichtsbarkeit mit sofortiger Wirksamkeit im Reichsgau Wien eingeführt wird‹. Wortwörtlich heißt es dann weiter : ›Die Härte des Ringens um den Bestand des Reiches erfordert von jedem Deutschen Kampfentschlossenheit und Hingabe bis zum Äußersten. Wer versucht, sich seiner Pflichten gegen die Allgemeinheit zu entziehen, insbesondere, wer dies aus Feigheit oder Eigennutz tut, muss sofort mit der notwendigen Härte zur Rechenschaft gezogen werden, damit nicht aus dem Versagen eines Einzelnen dem Reich Schaden erwächst. Ich gebe mich der Erwartung hin, dass auch ohne solche Strafandrohung jeder Volksgenosse die Pflichten erfüllt, die die Schwere der Lage des Vaterlandes ihm auferlegen.‹«15 Sowjetische Flieger warfen über Wien Flugzettel ab, auf denen die Bevölkerung aufgerufen wurde, aktiv an der Befreiung vom nationalsozialistischen Joch mitzuwirken. Sorge bereiteten den Machthabern die große Anzahl südosteuropäischer, insbesondere jugoslawischer Fremdarbeiter, deren Verhalten während der zu erwartenden Kämpfe einen Unsicherheitsfaktor darstellte. Am 2. April 1945 wurde Wien zum Verteidigungsbereich erklärt, den Frauen und Kindern anempfohlen, die Stadt zu verlassen, worauf der Westbahnhof geradezu umlagert wurde. Kontrollen wurden durchgeführt, nur Frauen und Kindern die Benutzung der Züge erlaubt, männlichen Einzelpersonen nur mit besonderen Marschbefehlen. Männer, die im Verdacht standen, sich dem Volkssturm zu entziehen, wurden unverzüglich den Standgerichten zugeführt. 16
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 »Womit jedoch die Verteidiger Wiens nicht rechneten, war die Existenz einer aktiven österreichischen (militärischen) Widerstandsbewegung, die trotz des abschreckenden Beispiels der Tragödie vom 20. Juli 1944 bereit war, das Risiko eines offenen Mitwirkens bei den zu erwartenden Kämpfen auf sich zu nehmen.«16 Wie schon oben ausgeführt, hatten sich zahlreiche Widerstandsgruppen untereinander verständigt und unter das gemeinsame Dach der poen begeben, deren Leitung teilweise verhaftet wurde, teilweise aus dem Untergrund heraus agierte. Der militärische Widerstand wurde von Major Szokoll geplant, der die Unterstellung des zivilen Widerstandes unter den militärischen erreichte. Bei einer Besprechung Ende März 1945 wurde bereits das Palais Auersperg als mögliches Zentrum des Widerstandes genannt. Verschiedene Möglichkeiten, Wien mit Hilfe österreichtreuer Truppen zu befreien, wurden erörtert. »Erst nach dem Zusammenbruch der deutschen Front in Ungarn, erst bei einer Besprechung am 2. April – man muss annehmen : nachdem ›Caserta‹ per Funk eine entsprechende Mitteilung gemacht hatte – teilte Szokoll vor versammelten Offizieren und Unteroffizieren laut einem Augenzeugen mit : Die österreichischen Truppen sind zu schwach…um Wien vor der Vernichtung zu bewahren. Der Kampf würde nur noch mehr Blut kosten. Wir müssen daher – die Amerikaner stehen erst in Bayern, die Engländer noch in Italien – mit den Russen in Verbindung treten. Ihnen gegen die Erfüllung unserer Forderungen die Übergabe der Stadt anbieten, die Schlacht um Wien zu vermeiden ! Wer von Ihnen, meine Herren ist bereit, den Auftrag zu übernehmen und die Verhandlungen mit dem russischen Oberkommando zu führen.«17 Der damalige Oberfeldwebel Ferdinand Käs brach mit seinem Motorradfahrer, Obergefreiter Johann Reif – beide hatten sich freiwillig gemeldet – ins südliche Niederösterreich auf, um in Verhandlungen mit der Roten Armee zu treten. Sie überschritten in der Nacht vom 2. zum 3. April die Kampflinie und wurden ins Hauptquartier der Roten Armee gebracht, welches sich damals in Hochwolkersdorf befand ; der Kommandant der 9. Gardearmee fand sich zu Verhandlungen mit Käs bereit. »Szokolls Bitten, die Wasserversorgung Wiens zu ermöglichen und auch die Westalliierten zu veranlassen, die Bombenangriffe auf Wien einzustellen, wurden zustimmend aufgenommen, und es wurde schließlich auch für deren Erfüllung gesorgt … Außerdem informierte Käs die Russen anhand von Skizzen auf einem Meldeblock über die Verteidigungsmaßnahmen Wiens und gab … Informationen und Empfehlungen ab … Schließlich wurden die Russen über die Absichten der Widerstandseinheiten informiert, etwa über das Verbringen widerstandsfreundlicher Einheiten von Stockerau nach Wien.«18 Schließlich wurde über verschiedene Erkennungszeichen und Losungsworte gesprochen. Käs und Reif wurden von den sowjetischen Soldaten an die Front gebracht, und am 4. April kamen sie wieder zurück nach Wien und meldeten sich bei 17
michael dippelreiter Szokoll. Vorher erfuhren sie noch, dass der ehemalige Kanzler Dr. Renner auf dem Weg ins Hauptquartier der 3. Ukrainischen Front sei. Es wurde nach Beratungen beschlossen19, dass nach dem Zeichen der Roten Armee, welches den Angriff auf Wien signalisieren sollte, auch die militärischen Aktionen der Widerständler beginnen sollten. Allen voran wollte man den Festungskommandanten samt seinen Offizieren verhaften ; außerdem war geplant, sich des Senders Bisamberg zu versichern, von wo aus die Bevölkerung über die Ereignisse verständigt werden sollte ; diese Aufgabe fiel dem Kommandanten der Heeresstreife Groß-Wien, Major Karl Biedermann, zu. Das erwartete Signal der Roten Armee kam am 6. April um 1 Uhr nachts und wurde von den Leuten des Widerstandes erwidert. Der Angriff der Roten Armee begann dann um 6.30 Uhr. Der Plan Szokolls, die Widerstandsgruppen gezielt einzusetzen, brach aber gleich zu Beginn zusammen. Unter den ausgewählten Personen für die Übernahme des Senders Bisamberg befand sich ein Mann, der sich an seinen vorgesetzten Führungsoffizier wandte ; dieser wiederum verständigte den Stadtkommandanten und den Gauleiter sowie den zufällig anwesenden Sepp Dietrich als höchsten anwesenden Offizier und Kommandant der 6. Panzerarmee. Der Stadtkommandant Bünau zitierte Biedermann zu sich und ordnete seine Vernehmung an. Nach Folter und Gegenüberstellung mit ebenso verhafteten Mitverschworenen legte Biedermann ein Geständnis ab und verriet auch das Losungswort »Radetzky«.20 Die militärischen Machthaber ergriffen sofort Gegenmaßnahmen ; vor allem setzte eine Verhaftungswelle ein, Standgerichte tagten in Permanenz. Höhepunkt der Grausamkeiten war die Hinrichtung der Offiziere Karl Biedermann, Rudolf Raschke und Alfred Huth am Floridsdorfer Spitz unter den unwürdigsten und erniedrigendsten Umständen. »Sie starben als Männer, mit der Parole auf den Lippen : ›Für Gott und Österreich‹.«21 Andere führende Persönlichkeiten wie Major Szokoll, Leutnant Igler oder Oberfeldwebel Käs konnten entkommen und untertauchen ; der organisierte Widerstand gegen das Naziregime war jedoch zusammengebrochen.
Die Sowjets dringen in die Innenstadt vor Im Gegensatz zum »Völkischen Beobachter« brachte das »Neue Wiener Tagblatt« zahlreiche Berichte von den Kämpfen rund um Wien. Auch die »Tagespost« aus der Steiermark widmete den Kämpfen um Wien großen Raum. Die Aktionen der Widerstandskämpfer fand man allerdings in keiner der Gazetten ; im Gegensatz dazu aber Berichte über Verurteilungen einzelner »Volksverräter«, welche sich Verstöße u. a. wegen Schwarzschlachtens, Hören von Feindsendern oder Verbreitung falscher Nachrichten zuschulden kommen gelassen hatten. Durch die Kämpfe wurden auch 18
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 die Zeitungen eingestellt ; die letzten gedruckten Nachrichten des Naziregimes erschienen in Wien am 7. April 1945. Am 8. April erschien noch eine Gemeinschaftsausgabe der Wiener Zeitungen22, in der auf zwei Seiten über Kampfhandlungen berichtet und an den Mut und das Verantwortungsbewusstsein aller Wiener appelliert wurde. Die Kämpfe wurden heftiger, sowjetische Truppen rückten – vom Westen kommend – bis in die Außenbezirke vor. Auch im Süden Wiens setzten sie sich in Favoriten fest. Von dort begannen Straßenkämpfe, teils Haus um Haus. Die Spitzen von Partei und nationalsozialistischer Verwaltung begannen sich abzusetzen. Gleichzeitig wurde versucht, wichtiges Gerät von Feuerwehr und Rettung zu sichern. »Der Wiener Feuerschutzpolizei … wurde mit einem vom 6. April 1945 datierten Befehl der örtlichen Luftschutzleitung eine Absetzbewegung verordnet. Die Autos mussten in der Nacht zum 7. April am Prater vorbei über die Reichsbrücke nach Kagran hinüberfahren. Die Mannschaften, die durch Festnahmen und Hinrichtungen – darunter eine Massenexekution vor dem angetretenen Personal im Herbst 1944 – eingeschüchtert worden waren, wurden beim Abrücken aufs heftigste zurechtgewiesen. Trotzdem desertierten bald darauf einige Dutzend Männer mit Gerät.«23 Am 9. April wurde bereits überall im Stadtinneren gekämpft, deutsche Truppen versuchten, die eindringenden Trupps der Roten Armee zurückzudrängen, standen aber auf verlorenem Posten. »Um diese Zeit brachen in Wien zahlreiche Brände aus. Teils verursacht durch Bombenabwürfe der Tiefflieger, teils legten Plünderer Feuer in den Geschäften und Warenhäusern, um ihre Spuren zu verwischen, aber auch in so manchen Wohnungen sind die Öfen der hastig in sie hineingestopften nsLiteratur nicht gewachsen. Bald brennt es an allen Ecken und Enden der Stadt.«24 Die wenigen Feuerwehrleute, die den Abzugsbefehl verweigert hatten, standen auf verlorenem Posten ; die Brände weiteten sich aus. Die Deutsche Wehrmacht begann, die Brücken über den Donaukanal, die nicht zu halten waren, zu sprengen ; die Verbindung zwischen den einzelnen Einheiten wurde immer schwieriger. »Stunde um Stunde wuchsen die Schäden Wiens, da die Russen ihre Vorstöße in das Straßenlabyrinth mit Vorliebe durch Panzer- und Artil leriefeuer einzuleiten pflegten. … Im Belvederepark bezog ein Gardeartillerieregiment Stellung und nahm die Innenstadt, insbesondere die Umgebung der Oper, unter konzentriertes Feuer.«25 Die oberste Führung bei der Verteidigung Wiens wurde am 6. April 1945 dem Generaloberst Rendulić, einem ehemaligen k. u. k. Offizier, übertragen. Dieser versuchte zwar, die Kampfhandlungen in Wien zu reduzieren, die militärische Situa tion im östlichen Weinviertel zwang ihn aber dazu, weiterhin Kampfhandlungen zu forcieren. Während die Sowjetarmee versuchte, den Donaukanal zu überqueren, entstanden durch unausgesetzten Artilleriebeschuss zahlreiche Feuer in der Innen19
michael dippelreiter stadt, welche mangels Löschwasser nicht beendet werden konnten ; auf diese Weise brannte auch das Wahrzeichen Wiens, der Stephansdom, fast gänzlich aus. Die Zivilbevölkerung verbrachte fast die ganzen Tage in den Kellern ; selten wagte sich jemand hinaus, um die Lage zu sondieren. Im Gefängnis des Landesgerichtes wurden durch den Gefängnisleiter die Gefangenen freigelassen ; unter ihnen waren der spätere Bundeskanzler Dipl.-Ing. Leopold Figl, der Volksschauspieler Paul Hörbiger oder auch der Widerständler Alfons Stillfried. Andererseits kam es selbst zu dieser Zeit noch zu Massakern durch ns-Organe : Am 11. April 1945 verübten ssSchergen ein Massaker an neun Juden in der Förstergasse im 2. Bezirk ; sie wurden in den Abendstunden durch Genickschüsse ermordet. Nur einige Stunden später, um ca. 3.30 Uhr des 12. April, erreichten sowjetische Soldaten die Förstergasse. Als Beispiel für das (Über-)Leben der Zivilbevölkerung sei nochmal aus dem Tagebuch der Mignon Langnas zitiert, und zwar vom 12. April und vom 16. April, wo auch die Ereignisse vom 13. April festgehalten wurden. »Die Nacht über war es ganz ruhig. Was ist also geschehen ? Was geht draußen vor ? … Draußen Schritte. Ich wage mich ans Fenster : die Straßen menschenleer, der Himmel brennt von allen Seiten – ein altes Mutterl mit einer Kann Wasser…Wir stellen uns um Wasser an, – ein ss-Mann schleicht lauernd im Hof herum, ein junger, bleicher Bub. Wo ist seine Mutter, wird sie ihn je wiedersehen ? … Ja, also am nächsten Tag war Freitag, der 13. ! Warum aber habe ich gewartet mit dem Niederschreiben dieser Zeilen ? Diese Stunden sind so eindrucksvoll, dass ein Erleben das andere nur ablöst + das frühere nur verblasst – Und doch werde ich diesen Augenblick im Leben nicht vergessen, – ich glaubte zu träumen – und es war so ergreifend, dass alles Leid dieser schrecklichen 7 Jahre gelohnt haben – um dieses Augenblicks der Befreiung. … Aber um ½ 6 kommt Herr Lenhom mit Wasser zurück und schwört bei allen Himmeln, dass er zwei Russen gesehen hat, und dass er mit ihnen gesprochen hat ! ! ! Und ich bin nicht zu halten + stürze vors Tor – und langsam auf Wagen + langsam gegangen kommen Russen. … Und Russen sind ringsum + schenken mir Zigaretten + sind lieb + lachen + schauen harmlos drein wie Kinder.«26 Aber sie beschreibt auch die andere Seite. In derselben Tagebucheintragung heißt es auch : »… Dieser Weg ! Ein Zivilist erschossen im Kaipark + Frau zertrümmert im Weg – ermordete Pferde – + wir, wir Menschen gehen an dieser zertrümmerten Welt ruhig vorbei. … Ich gehe allein zurück- Mir ist einsam + weh + ich fühle nichts von dem was ich empfinden müsste in einer Stunde solcher Befreiung. … Die Nacht vergeht, Sonntag der 15. … Und heute – in der Stunde der Befreiung : die Haustüre darf man nicht öffnen, mit Revolvern kommen die Russen + plündern + schänden – Mich schützt meine Schwesterntracht – vor dem Roten Kreuz machen sie noch Halt. …«27 Während die Rote Armee den Übergang über den Donaukanal erzwang, konnten sich bis 13. April die letzten deutschen Soldaten jenseits der Donau zurückziehen. 20
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 Nachdem bereits die Eisenbahnbrücken zerstört worden waren, wurde nun auch die Floridsdorferbrücke gesprengt. Auch die Reichsbrücke hätte gesprengt werden sollen, aber aus welchen Gründen auch immer : Die Sprengung unterblieb, und die Reichsbrücke blieb als einziger Donauübergang bestehen und war – bis zum Wiederaufbau der anderen Brücken – einziger Verbindungspunkt der nördlichen Bezirke mit dem übrigen Wien. Am 13. April wurde in Moskau die Einnahme Wiens durch Salutschüsse verkündet. Armeekommandant Tolbuchin setzte General Alexej Blagodatow als ersten Stadtkommandanten ein. »Und so kam ich nach Wien. Und als ich da war, sah ich die Leichen der Menschen und die Kadaver der Pferde auf den Straßen. Heftige Brände tobten in der Stadt. Die Zerstörungen waren bedeutend. Da wusste ich, welche Aufgaben auf den ›Hausherren‹ warteten. Die Brände mussten bekämpft werden, aber es gab keine Feuerwehren, wir mussten mit eigenen Kräften eingreifen. Die Toten waren zu bestatten, die Kadaver zu beseitigen. Wir stellten die Ordnung von Bezirk zu Bezirk wieder her.«28 Aber Wien stand weiter unter Kriegsrecht, waren doch die Truppen der Deutschen Wehrmacht noch nicht weit genug entfernt und noch immer ein militärischer Faktor.
Wien ist frei Wien war zwar vom nationalsozialistischen Terrorregime befreit, aber noch lange nicht frei. Vor allem gab es keine politischen Strukturen, auf die man aufbauen konnte. Wie schon oben erwähnt, mussten die Soldaten der Roten Armee alle jenen Sicherungs- und Löscharbeiten übernehmen, für welche keine geeigneten Personen und auch kein Material vorhanden waren. Die im Palais Auersperg tätigen Mitglieder der Widerstandsorganisationen traten bald in Kontakt mit entlassenen politischen Häftlingen aus allen politischen Richtungen ; sie hatten gehofft, dass sie beim Neubeginn eines österreichischen Staates wichtige Positionen einnehmen würden, wurden jedoch bald eines Besseren belehrt : Die politische Führung in Moskau hatte ganz andere Pläne. Außerdem waren die Leute des Widerstandes zwar mutig, integer und voller großer Pläne, hatten aber keine politische Erfahrung. Dennoch machten sie sich auf, um das Rathaus zu übernehmen. Da war ihnen jedoch schon jemand zuvorgekommen : Im Büro des Bürgermeisters war bereits am 12. April 1945 ein Mann namens Rudolf Prikryl erschienen, der angeblich Kommunist war und behauptete, mit dem Amt des Bürgermeisters betraut worden zu sein.29 Prikryl schien sehr tatkräftig zu sein. Gemeinsam mit einer Sekretärin und mehreren Stempeln empfing er Bittsteller, vergab Betriebe, stellte Bescheinigungen aus. Wie schon Hugo Portisch belegte, nahm Prikryl weder Geld noch sonstige Sachleis21
michael dippelreiter tungen für seine Dienste ; nur gelegentlich kamen Russen, die Konserven ablieferten.30 Einer der ersten, dem Prikryl zu einem Amt verhalf, war Viktor Matejka, der spätere kommunistische Stadtrat für Kultur, der eine Vollmacht erhielt, die lautete : »ist verantwortlich für die ganze Kultur in Österreich«.31 Aber bereits am 18. April musste Prikryl sein Amt abgeben. Auch die Männer des Widerstandes kamen nicht zum Zug : Die Sowjets fanden einen verdienten Soldaten der ehemaligen k. u. k. Armee, den späteren Politiker der Sozialdemokraten und General Theodor Körner. Verschiedene Männer der Sozialdemokratie der Ersten Republik, wie etwa Dr. Adolf Schärf oder Paul Speiser, hatten den Roten Salon im Rathaus besetzt und stellten den Anspruch auf die Macht im Rathaus. Es wurde ihnen allerdings nicht leicht gemacht, denn in den Höfen des Rathauses lagerten Soldaten der Roten Armee, und jeder, der zu den Sozialdemokraten vordringen wollte, musste die Soldatenketten passieren. Schnell hatte sich diese Situation herumgesprochen, und ebenso schnell versammelten sich ehemalige Funktionäre, welche bereits am 14. April die Sozialistische Partei Österreichs gründeten. Als Kandidat für die Position des Wiener Bürgermeisters wurde General Körner vorgeschlagen. Die Macht lag beim sowjetischen Stadtkommandanten, aber für die Verwaltung der Stadt musste ein Verantwortlicher gefunden werden. Der Stadtkommandant Blagodatow erzählt, wie es zu der Bestellung Körners kam. »Mir war klar, dass wir eventuelle Schildbürgerstreiche unserer eigenen Leute in allen kommunalen Angelegenheiten verhindern mussten. Sie wussten doch nichts von dieser Stadt. Und so lud ich, als ich die Parteien befragte, Johann Koplenig, den Vorsitzenden der kpö ein. Koplenig erklärte mir : ›Wir haben da einen guten Kandidaten, den ehemaligen Armeegeneral Körner. Er ist zwar ein Sozialdemokrat, aber ein rechtschaffener, anständiger Mensch und hat auch eine gewisse Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung‹. So lud ich Körner zu mir ein, und schlug ihm vor, der Bürgermeister zu werden. Körner dachte ein wenig nach und sagte dann zu mir auf Russisch, dass er einverstanden sei.«32 Am 15. April bereits war eine Zeitung der Sowjets für Österreich herausgekommen. Darin stand auf der Titelseite eine Erklärung der Sowjetregierung an die Bevölkerung Österreichs. Auf Seite zwei fanden sich bereits Stimmungsberichte aus dem befreiten Wien : »Noch waren die Kämpfe im Gange, aber die Bewohner Wiens kamen in hellen Scharen, um die Rote Armee zu begrüßen. Weit über 90 % der Wiener waren entgegen den Nazibefehlen, Wien zu verlassen, geblieben. … In der Goebbelspropaganda wurde die Rote Armee als eine schreckliche Horde hingestellt, die in der schönen Wienerstadt keinen Stein auf dem anderen lassen werde. Doch die Tatsachen zeigen, dass dieses Märchen der Goebbelspropaganda bei ihnen nicht verfangen habe. Die Wiener wissen sehr gut, dass die Rote Armee als Befreierin nach Wien gekommen ist.«33 22
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 In derselben Zeitung vom 21. April erzählt der Stadtkommandant über die größten Probleme in der Stadt : »Unsere erste Sorge nach dem Einmarsch in die Stadt galt dem Löschen der zahlreichen Brände. Denn die Deutschen beschossen noch im letzten Augenblick die repräsentativsten Gebäude mit Brandgranaten. Jetzt sind die Wiener dabei, Straßen und Plätze von Schmutz und Schutt zu säubern. Gleichzeitig begannen wir das Brotproblem und andere Fragen zu lösen. Auch Licht und Wasser wird es in wenigen Tagen wieder geben. Das Kraftwerk ist unbeschädigt, nur das Netz ist an vielen Stellen unterbrochen und wird bereits ausgebessert. Auch die Wasserleitung wird bereits repariert. …«34 Aber auch vom Wiedererstehen des Wiener Kulturlebens kann man lesen, etwa vom Plan des Burgtheaters, so rasch wie möglich in einem Ausweichquartier zu spielen, oder von einem geplanten Konzert der Wiener Philharmoniker im Konzerthaus, weil das Gebäude des Musikvereins zu stark beschädigt war. Wie war das Leben der Bevölkerung in jenen dramatischen Tagen verlaufen ? Der ehemalige Beamte des Österreichischen Verkehrsministeriums, später der Reichsbahn, danach wieder Österreichische Bundesbahn, schließlich Kabinettsdirektor bei den Bundespräsidenten Körner und Schärf, Dr. Alexander Toldt, hat seine Lebenserinnerungen nach Tagebuchaufzeichnungen niedergeschrieben. Dort heißt es : »Am ersten Abend nach dem Einmarsch der Russen besuchten uns einige junge Soldaten im Keller und unterhielten sich mit den Hausgenossen in ausgesprochen netter Weise. Wir alle waren angenehmst enttäuscht, da sich die Burschen, die einer im Arenbergpark aufgefahrenen Artillerieeinheit angehörten sehr freundlich zeigten, und sich vor allem den Frauen gegenüber korrekt benahmen. Die beruhigenden Erfahrungen der ersten Nacht bestimmten mich, am nächsten Vormittag einige Bekannte, die in der Nähe wohnten, aufzusuchen, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Die Berichte lauteten zum Teil nicht ungünstig, zum anderen Teil erfuhr man recht beängstigende Dinge.«35 Wie schon oben erwähnt, erwiesen sich die Träume der Widerstandskämpfer, Teil der künftigen Machtstrukturen zu werden, als Illusion ; außer dem späteren Unterstaatssekretär Raoul Bumballa wurde niemand eingeladen, an den Strukturen des neuen Staates mitzuarbeiten. Major Szokoll wurde zwar vom sowjetischen Stadtkommandanten am 13. April als Kommandant einer Hilfspolizei eingesetzt, aber bereits drei Tage später wieder enthoben. »Am 16. 4. den Quellen nach wurde Szokoll von der russischen Militärpolizei verhaftet, verschleppt und wochenlang verhört. … Szokoll wurde irgendwann im Mai von der Anklage, ›amerikanischer Spion‹ zu sein, freigesprochen, aber sofort neuerlich inhaftiert, nunmehr als Kriegsgefangener, und in ein Offizierslager in Kaiser-Ebersdorf transportiert. Er konnte von dort während einer Außenarbeit entfliehen.«36 Auch andere Personen, die das Ende des Naziregimes herbeigesehnt hatten, konnten sich über die Befreiung nicht wirklich freuen, 23
michael dippelreiter so etwa der Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde, Joseph Löwenherz, der von den Sowjets verhaftet und wegen angeblicher Kollaboration angeklagt wurde.
Neues Leben in Wien Der Berufsdiplomat Dr. Norbert Bischoff, der während der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften tätig war, und während der letzten Tage des Regimes, als sich die meisten nationalsozialistischen Funktionäre abgesetzt hatten, sogar mit der Leitung der Geschäfte und der Vertretung nach außen beauftragt wurde,37 verbrachte die Tage der Kämpfe um Wien bei Verwandten in Sievering. Zusammen mit seinem Sohn machte er sich am 12. April in die Innenstadt auf, die wenige Stunden zuvor noch umkämpft gewesen war. Gemeinsam brachten sie Einladungen an in Wien verbliebene Kollegen zu einer ersten Besprechung am 13. April. Diese Besprechung sollte in den Räumlichkeiten des Bundeskanzleramtes am Ballhausplatz stattfinden. Um dies auch zu gewährleisten, brachten Bischoff und sein Sohn einen Zettel an der Tür an, auf dem mit rotem Bleistift geschrieben stand : ›Requiriert von der Österreichischen Widerstandsbewegung‹, und dies auf Deutsch und Russisch. Der Zettel war mit einem Rundstempel versehen, welcher vom Schwiegersohn Bischoffs eigenhändig hergestellt worden war. Die Sitzung fand statt, die Weichen für die Wiederaufnahme der Tätigkeiten eines Österreichischen Außenministeriums wurden gestellt, die Politische Abteilung wurde Dr. Norbert Bischoff anvertraut.38 Auch Dr. Alexander Toldt begab sich recht rasch nach der Befreiung in sein Amt. So schreibt er : »Am 16. April begab ich mich zum ersten Mal nach der Befreiung – in Räuberzivil, der damals üblichen Bekleidung in mein Büro im Trattnerhof, um zu erkunden, was nun zu geschehen hat. Dort sah es wohl recht triste aus. Abgesehen davon, dass es bei den Kampfhandlungen im Trattnerhof gebrannt hatte, wodurch ein Teil unserer im IV. Stock gelegenen Büroräume stark gelitten hatte, waren fast alle Fensterscheiben zerbrochen, Aktenmaterial und Amtsbehelfe sowie sonstige Dinge lagen verstreut auf dem Boden und überall trat man auf Glasscherben. Außer mir waren noch einige weibliche und männliche Bedienstete, darunter selbstverständlich unser gewissenhafter Chef Ministerialrat Dr. Sauter zum ersten Mal wieder im Büro erschienen. Ausnahmslos legten alle Hand an und besorgten zunächst die unbedingt notwendigen Aufräumearbeiten. Erstaunlich war der Fleiß dieser ausgehungerten Menschen, die in beinahe froher Stimmung dabei waren, die Ordnung wieder herzustellen.«39
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Abb. 1 : Das stark beschädigte Bundeskanzleramt
Die Verwaltung formiert sich Mit dem Befehl Nr. 3 bestellte General Blagodatow General Körner zum Bürgermeister von Wien, Karl Steinhardt und Leopold Kunschak zu dessen Stellvertretern. Damit hatten die Sowjets in Wien die Vorherrschaft der Sozialisten anerkannt und ebenso der Volkspartei eine gleichstarke Stellung gegenüber den Kommunisten erlangt. In der neuen Zeitung »Neues Oesterreich«, welche unter der Herausgeberschaft von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Leopold Arzt, Ernst Czeija, Leopold Figl, Ernst Fischer, Jakob Fried, Paul Hörbiger, Franz Schumy und Paul Speiser erschien, heißt es in der ersten Ausgabe unter anderem : »In der Wiener Stadtverwaltung haben sich Vertreter aller demokratischen Parteien zu einer verheißungsvollen Arbeitsgemeinschaft zusammengefunden. … So sollen und müssen alle Schichten und Richtungen unseres österreichischen Volkes zusammenstehen, um auf gemeinsamen Wege und in gemeinsamen Bemühungen zu dem zu gelangen, was der Name dieser Zeitung besagt, zu einem neuen Österreich.«40 Die Verwaltung wurde in elf Verwaltungsgruppen organisiert, deren jede einzelne einem Stadtrat (oder Vizebürgermeister) zugeordnet wurde. Diese Gruppen waren : 25
michael dippelreiter Finanzen unter Karl Honay, Gesundheitswesen unter Prof. Dr. Wilhelm Kerl, Wohnungs- und Siedlungswesen unter Felix Slavik, Technische Angelegenheiten unter Anton Weber und Ernährung unter Franz Fritsch. Für wirtschaftliche Angelegenheiten war Dr. Ludwig Herberth, für allgemeine Verwaltung Josef Afritsch, für Schulwesen Leopold Kunschak, für Unternehmungen Paul Speiser, für Wohlfahrtswesen Karl Steinhardt und für Kultur und Bildungswesen Dr. Viktor Matejka zuständig. Viele Beamte, die anlässlich der nationalsozialistischen Machtübernahme frühzeitig pensioniert oder entlassen worden waren, meldeten sich zum Dienst, sodass die Verwaltung mit unbelasteten, aber sachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an ihre Aufgaben herangehen konnte.
Das Kulturleben beginnt wieder Schon am 23. April wurden Vertreter des Theaters, des Films, der Literatur und der Presse im Kleinen Festsaal des Rathauses versammelt, um vonseiten der Stadtregierung die Maßnahmen erklärt zu bekommen, die den Wiederaufbau des Kulturlebens ermöglichen sollten. Stadtrat Matejka stellte die Pläne der großen Theater vor, welche allerdings erst mögliche Theaterhäuser finden mussten. Die Staatsoper, welche als Ausweichquartier die Wiener Volksoper benützen sollte41, bereitete bereits »Die Hochzeit des Figaro« vor, und die Wiener Philharmoniker probten schon fleißig. Die Musik sollte überhaupt eine positive Erweiterung erfahren : »Gefallen sind die durch lächerliche Vorurteile nationaler oder rassischer Art geschaffenen Grenzen, die ganze Kunstgebiete wegen ›angeblicher Unerwünschtheit‹ oder ›Untragbarkeit‹ abschließen wollten. Nicht mehr werden die Werke der russischen Meister fehlen, nicht mehr bleiben Mendelssohns Sommernachtstraummusik oder sein schon längst klassisch gewordenes Violinkonzert verbannt, nicht mehr werden die Inbrunst der Mahler-Symphonien verboten sein, nicht mehr wird man auf das Schaffen wirklicher Bahnbrecher moderner Musik wie Alban Berg, Schönberg oder Hindemith verzichten müssen.«42 Am 27. April konzertierten erstmals wieder die Wiener Philharmoniker mit Schubert und Tschaikowsky unter Clemens Krauss, am 1. Mai spielten sie Werke von Johann Strauß ; das Publikum war gerührt und feierte die Künstler. Am 30. April nahm das Burgtheater wieder den Betrieb auf ; da das Gebäude am Ring stark beschädigt war, spielte man im Ronacher. Als Eröffnungsstück wurde das Jugendwerk Franz Grillparzers, »Sappho«, mit Maria Eis als Hauptdarstellerin ausgewählt. Die Vorstellung fand, wie auch alle übrigen Kulturveranstaltungen, am späten Nachmittag statt, da es ab 20 Uhr eine nächtliche Ausgangssperre gab, die unbedingt einzuhalten war. Am 1. Mai begann auch die Staatsoper ihren Spielplan im Ausweichquartier an 26
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Abb. 2 : Blick vom Bundeskanzleramt zur Amalienburg
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michael dippelreiter der Wien mit Mozarts »Hochzeit des Figaro«. Dirigent war Josef Krips, es sangen u. a. Hilde Konetzni, Irmgard Seefried, Elisabeth Höndgen, und den Cherubino gab die junge Sena Jurinac. Als weiteres Werk war für 9. Mai eine Aufführung von Puccinis »La Bohème« vorgesehen, mit Anton Dermota und Irmgard Seefried in den Hauptrollen. Aber auch die anderen Bühnen probten fleißig für die Wiederaufnahme ihrer Spielpläne. Die Volksoper eröffnete am 15. Mai mit Lortzings »Waffenschmied« und spielte danach den »Zigeunerbaron« von Johann Strauß. Auch das Theater in der Josefstadt, das Volkstheater und das Akademietheater hatten bereits ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen oder standen kurz davor. Alle kulturellen Veranstaltungen waren gut besucht, sie sollten »den Menschen Freude machen«, wie der Volksschauspieler Paul Hörbiger in einem Interview erklärte.43 Aber auch andere Bereiche der Kunst und Wissenschaft begannen, wieder (fast) im Normalbetrieb zu arbeiten. Auf die Wiederaufnahme des Unterrichts an den Universitäten und Kunsthochschulen kann hier nicht eingegangen werden. Die Österreichische Nationalbibliothek, die glücklicherweise nur wenige Schäden davongetragen hatte, konnte bereits Anfang Mai wieder eröffnet werden. Vor allem die wertvollsten Bestände, welche die Kriegshandlungen in den Depots der Nationalbibliothek überstanden haben, waren gänzlich unversehrt. Aber auch an der Universitäts- und an der Wiener Stadt- und Landesbibliothek wurde emsig gearbeitet. Bei der letzteren waren die Beschädigungen doch so groß, dass sich die Wiedereröffnung noch einige Monate hinzog.
R adio Wien Die abziehenden deutschen Truppen hatten die Senderanlagen am Bisamberg gesprengt, auch die Antennen am Rundfunkhaus in der Argentinierstraße waren total unbrauchbar geworden. Findige Techniker der ehemaligen r avag, die nach der Befreiung sofort das Rundfunkhaus aufgesucht hatten, machten sich daran, eine Notantenne zu basteln und die Sendeanlage notdürftig zu reparieren. Nun fehlte nur noch Strom, um wieder auf Sendung zu gehen, aber dieses Problem konnte schließlich auch gelöst werden. »Am 29. April, das ist der Tag, an dem die österreichische Regierung im Parlament die Unabhängigkeitsproklamation verkündet, meldet sich Radio Wien zum ersten Mal im neuen Österreich. Und Radio Wien berichtet über die Geburtsstunde der Zweiten Republik, verliest die Unabhängigkeitserklärung, verkündet das Programm der neuen Regierung Renner.«44 Schon zwei Tage später meldete sich der Sender dreimal täglich mit Nachrichten, Musik und Wortsendungen. Über das Programm gibt ein Verantwortlicher, Dr. Guggenberger, Auskunft : 28
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 »Unsere Aufgabe sehen wir darin, Radio Wien wieder die hervorragende, angesehene Stellung zu geben, die es einmal im Rundfunkwesen der ganzen Welt eingenommen hat. Unser Programm soll wienerisch, österreichisch und sozial betont sein, mit einem Blick auf die Weltliteratur. Wir Österreicher haben ja viel versäumt in den sieben Jahren Naziherrschaft. … Ferner sehen wir eine unserer Hauptaufgaben darin, historische Vorträge zu bringen, damit die österreichische Jugend, die faktisch durch die sieben Jahre Naziherrschaft gar keine oder eine falsche Vorstellung von der Weltgeschichte hat, wieder ein richtiges Bild bekommt. … Auch all die anderen Programmpunkte, die unsere Hörer so lieben, wie Sprachkurse, Schulfunk, Kinderstunde, sollen wieder aufgenommen werden. Nicht vergessen werden soll auch ein guter und lebendiger Nachrichtendienst und neben dem belehrenden auch ein unterhaltsamer Teil.«45
Aufbau eines Polizeidienstes Ein großes Problem Wiens war die immer stärker um sich greifende Unsicherheit der Bevölkerung. Plünderer, marodierende Soldaten, selbsternannte Polizisten waren überall anzutreffen. Der sowjetische Stadtkommandant Blagodatow hatte bereits einen »polizeilichen Hilfsdienst der sowjetischen Kommandantur« gegründet, welcher bis Mitte Mai ca. 7.200 Personen umfasste. Diese erhielten nun den ausdrücklichen Befehl, die Plünderungen und Vergewaltigungen abzustellen ; dafür wurden auch reguläre Soldaten zur Verfügung gestellt. Diese Hilfspolizei wurde auch als »politische« Polizei eingesetzt, und zwar bei mehreren Verhaftungswellen an ehemaligen Nationalsozialisten, bei denen mehr als 5.500 Personen festgenommen und verschiedentlich behandelt wurden : von Aufräumarbeiten über tägliche Arbeitseinsätze, dem Tragen von Hakenkreuzbinden analog den Judensternen bis zu de monstrativen Häftlingszügen in Richtung Landesgericht. Eine gesetzliche Grundlage für diese Festnahmen gab es nicht. »Die neue Stadtverwaltung unter Bürgermeister Körner versuchte nun, neben dem Polizeilichen Hilfsdienst der Kommandantur eine zweite Polizei aufzubauen, die den österreichischen Behörden untersteht. Uniformen gibt es weder für die Einen noch für die Anderen. Die Polizei unter sowjetischem Befehl trägt Zivil mit rotweißroten Armbinden ; die nun entstehende österreichische Polizei trägt Zivil mit weißen Armbinden und der Aufschrift ›Polizei‹ auf Deutsch und auf Russisch.«46 Die österreichische Polizei richtete einen Aufruf an die Bevölkerung, es mögen sich alle Polizisten aus der Zeit vor 1938, aber auch Schutzpolizisten oder Luftschutzpolizisten wieder zum Dienst melden ; der Erfolg war groß. Belastete wurden nicht genommen, aber es waren genügend Leute da, um auch alle Bezirke mit ver29
michael dippelreiter trauenswürdigem Personal zu versorgen. Nur langsam kam der gesamte Polizeiappa rat unter die Aufsicht der österreichischen Behörden.
Kernprobleme der Verwaltung Die Verwaltung begann langsam, aber sicher zu funktionieren. Zwar waren die meisten Amtsräume noch schwer beschädigt, zwar gab es in der Wasser- und Stromversorgung noch die größten Probleme, dennoch konnte die tägliche Arbeit von routinierten Männern und Frauen getan werden. Zahlreiche Beamte, die 1938/39 wegen »politischer Unzuverlässigkeit« den Dienst verlassen mussten, meldeten sich wieder und konnten ihre Kenntnisse zum Wohl der Bevölkerung einsetzen. Eine wichtige Aufgabe war auch die Beseitigung der nationalsozialistischen Spuren, etwa Benennungen im öffentlichen Raum. So wurden durch Verfügung des Bürgermeisters zahlreiche Straßen und Plätze umbenannt. So etwa : »i. Adolf-Hitler-Platz nunmehr wieder Rathausplatz. i. Joseph-Bürckel-Ring – Dr. Ignaz-Seipel-Ring. ii. Schöne rerstraße – Heinestraße. iii. Schredtgasse – Neulinggasse. iv. Anton-Lehner-Platz – Berta-Suttner-Platz. ix. Sennhofergasse – Hahngasse. x. Horst-Wessel-Platz – Viktor-Adler-Platz. xviii. Planetta-Platz – Parhamerplatz. xx. Feikestraße – Stromstraße. xxi. Mestrozzigasse – Mendelssohngasse« und noch einige mehr. Angefügt wurde jenem Zeitungsartikel die Nachricht : »Wie wir hierzu ergänzend feststellen können, hat die Wiener Bevölkerung diese Rückbenennungen teilweise schon vorweggenommen, die nazistischen Straßentafeln aus eigener Initiative entfernt und durch Aufschriften an den Haustoren ersetzt.«47 Die größte politische Aufgabe bestand für die Stadtverwaltung in der Aufteilung für die geplanten Zonen der (längst nicht mehr im Gleichschritt marschierenden) alliierten Truppen. Da die meisten öffentlichen Stellen ihren Sitz in der Inneren Stadt hatten, konnte jene Macht, welche diesen Bezirk unter Kontrolle hatte, einen erheblichen Einfluss auf die politischen und verwaltungsmäßigen Entscheidungsträger Österreichs ausüben. Eine eigene Kommission wurde gebildet, Vertreter der anderen drei Alliierten kamen erstmals nach Wien und verhandelten über die Aufteilung der Stadt mit den Sowjets. Portisch beschreibt eindrucksvoll die Ergebnisse der Verhandlungen, welche umsichtig und verantwortungsvoll von den Vertretern der vier Mächte abgeschlossen wurden. »Während Renner noch den Kontakt zur Vienna Mission sucht, schließt diese nun ihre Verhandlungen mit den Sowjets in Wien ab. Man einigt sich über die Zoneneinteilung in Wien. Wien wird in den Stadtgrenzen von 1937 aufgeteilt. Der sowjetische Standpunkt hat sich durchgesetzt.«48 Die Bezirke wurden den einzelnen Alliierten zugeordnet, ebenso Gebäude, die als Verwaltungssitze dienen konnten, und 30
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Abb. 3 : Bundeskanzler Figl bei der Weihnachtsansprache im BKA
große Hotels. Besonders wichtig war die Einigung über die Flugplätze. Der Flugplatz Langenlebarn wurde den Amerikanern zugeteilt, während die Briten und die Franzosen gemeinsam den Flugplatz Schwechat nützen konnten. Die Sowjets hatten ja den Flugplatz in Vöslau. Von größter Bedeutung aber war das Versprechen der Sowjets über die ungehinderte Erreichbarkeit der Flugplätze, da sich die drei Westalliierten ja über Gebiet bewegen mussten, das von den Sowjets kontrolliert wurde. Die vielleicht bedeutendste Übereinkunft beschreibt Portisch wie folgt : »Eine der wichtigsten Entscheidungen – noch wichtiger als die über die Flugplätze – ist die Übereinkunft zwischen den Westalliierten und den Sowjets, den ersten Bezirk, die Innere Stadt, mit ihren Regierungsgebäuden und Verwaltungszentren zu einem interalliierten Sektor zu erklären. Eine Forderung der Briten, der aber auch die Sowjets zustimmten. Die Innere Stadt wird allen vier Alliierten gleichermaßen unterstellt. Das Oberkommando soll jeden Monat von einer anderen alliierten Macht ausgeübt werden.«49 Hugo Portisch schließt richtig, dass diese Internationalisierung der Inneren Stadt entscheidend zur Stabilisierung der Verhältnisse in Wien und damit auch in Österreich beigetragen hat. Er schreibt : »Sie gab der österreichischen Regierung, allen 31
michael dippelreiter Ministerien und zentralen Verwaltungsstellen ein hohes Maß an Sicherheit und ließ sie daher um so mutiger und zielbewusster auftreten. Die gemeinsame Verwaltung der Inneren Stadt zwang die vier Alliierten zu einer Zusammenarbeit, die sich kaum aufkündigen und nur schwer durch Bruch beenden ließ. Und die Viermächteverwaltung der Inneren Stadt gab Wien ein internationales Flair schon und gerade zu einer Zeit, als es noch darniederlag, und legte damit wohl auch einen Grundstein für Wiens heutigen Anspruch als internationales Zentrum.«50 Diese Ergebnisse wurden im »Abkommen betreffend die Besatzungszonen und die Verwaltung der Stadt Wien« am 9. Juli 1945 von den vier Alliierten unterschrieben und dienten zusammen mit dem (später erneuerten) »Kontrollabkommen für Österreich« vom 4. Juli 1945 als Grundlage für die Zusammenarbeit der vier alliierten Mächte mit der österreichischen Bundesregierung.
Das Leben wird langsam wieder normal Trotz größter Behinderungen im alltäglichen Leben, sei es Stromversorgung, sei es der öffentliche Verkehr, und natürlich auch die katastrophale Ernährungslage, freuten sich die Menschen doch auf die Rückkehr einer gewissen Normalität. Alexander Toldt schildert die Stimmung in seinem Amt : »Der Geist, von dem das Personal in den Wochen nach der Befreiung beseelt war, war nach all dem Erlebten unwahrscheinlich gut. Trotz der beinahe katastrophalen Ernährungslage und des Fehlens von Beförderungsmitteln – es gab damals keine Tramway – erschienen die Leute ohne Zwang pünktlich zum Dienst, ganz gleichgültig, ob sie nahe oder weit entfernt von ihrer Arbeitsstätte wohnten. So kam z. B. ein höherrangiger Beamter zu Fuß aus Mödling, einige mutige Leute benützen das Fahrrad und riskierten bei jeder Fahrt, dass ihnen ihr Fahrzeug von eigenmächtig handelnden Soldaten ›beschlagnahmt‹ wird, andere wieder nützen jede sich bietende Gelegenheit, um etwa auf Streifenwagen oder einem der wenigen Lastwagen zumindest ein Stück mitgenommen zu werden. Manche schließlich, die weit außerhalb Wiens wohnten, quartierten sich vorübergehend bei Freunden in Wien ein, nahmen dabei alle Schwierigkeiten, die mit der Verpflegung verbunden waren auf sich und begnügten sich damit, sich über Samstag/Sonntag nach Hause zu ihren Angehörigen zu begeben.«51 Am 12. Mai meldete die »Oesterreichische Zeitung« die Wiederaufnahme des Post- und Telegrafendienstes in Wien : Die Post werde wieder befördert, der Telegraf arbeite wieder ; einzig das Telefonnetz sei zu stark beschädigt, sodass die gänz liche Wiederherstellung noch einige Zeit in Anspruch nehmen werde. Da die alliierten Truppen die Wasserversorgung Wiens nicht direkt angegriffen hatten, war diese – wenn auch mit Schwierigkeiten – gegeben. Anders sah es mit 32
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Abb. 4 : Bedienstete des BKA bei der Weihnachtsfeier 1945
der Stromversorgung aus. Der zuständige Stadtrat gab bekannt : »Die derzeitige Stromabgabe liegt bei 42 % der durchschnittlichen Normalleistung. … Im Kraftwerk Engerthstraße des Elektrizitätswerkes gab es schwerwiegende Schäden. Sie sind behoben, das Kraftwerk arbeitet vom 15. Mai an im beschränkten Ausmaß. Die Wasserkraftwerke versorgen im Frieden die halbe Stadt Wien mit Strom. An der Fernleitung Wien-Süd Ebenfurt sind verhältnismäßig wenig Schäden, an der Fernleitung Süd Ternitz schwere Schäden. Wo die Leitungen zugänglich sind, wird mit aller Kraft repariert.«52 Dieselbe Zeitung vermeldet am 27. Mai als Schlagzeile : »Licht und Strom für ganz Wien. Ab 3. Juni bessere Versorgung mit Elektrizität.« Ab diesem Tag sollten alle Betriebe und Wohnungen, deren Zuleitungen nicht noch zerstört waren, mit Strom versorgt werden, da eine zusätzliche Leitung aus der Steiermark Stromlieferungen durchführen könne. Auch das schulische Leben normalisierte sich langsam. Nachdem die Winterferien durch Mangel an Heizmaterial auf zwei Monate verlängert worden waren und sich dann die unmittelbaren Kampfhandlungen auf den Unterricht auswirkten, waren durch Bombenabwürfe und Brände zahlreiche Schulen unbenützbar geworden. Dazu heißt es in der »Oesterreichischen Zeitung« : »Vor den Stadtbehörden stehen große 33
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Abb. 5 : Weihnachtsfeier 1945 im BKA
Aufgaben, um den Unterricht in allen Schulen zu beginnen und in normale Geleise zu bahnen. … In den letzten zwei Wochen ist es ihnen gelungen, in ca. 90 Schulen den Unterricht aufs neue zu beginnen. … Ab Montag, den 14. Mai, sollen noch ca. 70 Schulen den unterbrochenen Unterricht wieder aufnehmen. Das Schulamt und der Stadtschulrat arbeiten energisch daran, möglichst schnell die Schulgebäude zu renovieren, das entsprechende Lehrpersonal ausfindig zu machen, und die Schüler mit Lehrmittel zu versorgen und alle schulpflichtigen Kinder zur Schule zurückzubringen.«53 Eine große Erleichterung für die Wiener Bevölkerung, aber auch für die Wirtschaft, war der Erlass des Stadtkommandanten Blagodatow, den zivilen Personenverkehr bis 22 Uhr zuzulassen. Daraufhin verlängerte die Verwaltung den Straßenbahnverkehr bis 21.30 Uhr. Die Verfügung ermöglichte es aber auch, dass in den Büros, Werkstätten und Fabriken und nicht zuletzt auch in den Schrebergärten länger gearbeitet werden konnte. Gleichzeitig dazu wurde angekündigt, dass der Reparatur der Straßenbeleuchtung verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde. 34
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Abb. 6 : Weihnachtsfeier 1945 im BKA
Das schwierigste Problem, mit dem sich die sowjetische Militärverwaltung, die neugegründete Republik Österreich und die Wiener Stadtregierung konfrontiert sahen, war die Beschaffung der nötigen Lebensmittel. Für die Bevölkerung ging es ums blanke Überleben. Portisch schreibt : »Die Menschen auf den Straßen sind ständig auf Nahrungssuche. Denn mit dem Kriegsende ist auch die Versorgung am Ende. An den mit Brettern vernagelten Schaufenstern hängt die Anordnung des Bürgermeisters, die Geschäfte wieder zu öffnen. Aber es gibt fast nichts zu verkaufen. Wird irgendwo etwas angeboten, stellen sich die Menschen sofort in Schlangen an, und sei es nur, um einen Schluck Sodawasser zu erstehen. Auch Leitungswasser ist bei den vielen Leitungsschäden (ursprünglich) keine Selbstverständlichkeit.«54 »Bis zur Aufteilung der Stadt auf vier Besatzungszonen im Herbst 1945 oblag die Bewältigung der Ernährungsprobleme der Roten Armee. Wien war auf fremde Hilfe angewiesen, waren doch große Teile der Vorräte beim Abzug der deutschen Truppen vernichtet oder durch Plünderungen, im Zuge derer noch Unmengen an Nahrungs35
michael dippelreiter mitteln unbrauchbar gemacht wurden, entwendet worden. Zunächst gab es keine geregelte Lebensmittelversorgung.«55 In dieser allergrößten Not kam es zur ersten Lebensmittelspende Stalins an die Wiener Bevölkerung. Am 1. Mai 1945 wurden der Stadtregierung hauptsächlich Trockenerbsen, aber auch Mehl und Getreide übergeben. Zum ersten Mal seit Beendigung der Kampfhandlungen konnten die Bäckereien wieder Brot backen, auch die renommierte Ankerbrot-Fabrik nahm den Betrieb wieder auf. In Ermangelung von Lebensmittelkarten erfolgte die Verteilung nach dem Prinzip : ein Laib Brot für eine Familie. Noch im Mai kam es zu einer zweiten Lebensmittelspende für die hungernde Wiener Bevölkerung. Die Verteilung der Lebensmittel wurde nun schon professioneller durchgeführt. Als Folge dieser zweiten Lebensmittelspende wurden von der Wiener Gemeindeverwaltung die Lebensmittelrationen erhöht, und zwar mit Wirksamkeit vom 1. Juli. Es kam zur Ausgabe von Lebensmittelkarten : Die verschiedenen Bereiche wie Fleisch, Fett, Zucker und Grütze wurden dreimal monatlich ausgegeben, Brot konnte täglich oder aber auch für zwei Tage im Voraus gekauft werden. »Ab Samstag, 16. Juni, wird in den vom Österreichischen Milch- und Fettwirtschaftsverband I. Wipplingerstraße 30, durch besonderen Aushang gekennzeichneten Milchsondergeschäften auf die Zusatzkarte klst für Kleinstkinder vom vollendeten 1. bis zum vollendeten 3. Lebensjahr ein Achtelliter Vollmilch ausgegeben.«56 Die Zeitung berichtet weiter, es sei den Verantwortlichen bewusst, dass diese Menge kaum ausreiche. Dennoch habe man die Hoffnung, die Milchliefer- und Ausgabemenge in den nächsten Monaten zu steigern. Obwohl es in der Nahrungsmittelversorgung kleine Fortschritte gab, war die Lage weiter sehr kritisch. Im Abkommen für die Aufteilung Wiens in verschiedene Zonen wollten die Sowjets die Versorgung den einzelnen Staaten übertragen ; dies konnte jedoch durch einen Einspruch der anderen drei Alliierten verhindert werden ; die Versorgung für die gesamte Stadt wurde auch künftig zentral durchgeführt. Für jeden einzelnen Wiener war der Überlebenskampf beschwerlich und auch psychisch anstrengend. Auch Mignon Langnas, die als jüdische Krankenschwester die sieben Jahre Naziterror überlebte, hatte durch die Befreiung nicht nur schöne Erlebnisse. In einer Tagebucheintragung am 16. Mai schreibt sie : »Aus dem Dienst weg ein Sprüngerl zur Hanny Zimmer. Ich finde sie in ihrer neuen Wohnung + sie erzählt, dass Rudi aus dem Dienst entlassen wurde + dass man den ehemaligen Mitgliedern der naz. Partei Tafeln umhängte + sie so zur Arbeit durch die Straßen führte : ›Ich war auch ein Nazischwein !‹ Ist das richtig ? Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal in der Heinestraße eine jüdische Frau die Straße habe reinigen gesehen. – alles ist scheußlich.« Und am 21. Mai 1945 vermerkt sie unter anderem : »Lieber Gott, hilf mir, hilf mir ! Ich bin so voll Sehnsucht + Unruhe – jeder Tag scheint 36
wien in der ersten hälfte des jahres 1945 einer Ewigkeit gleich. Und diese Zeit ist kaum zu ertragen. Wo ist die Freude ? Wo ist der Friede ?«57 So wie ihr ging es wohl vielen Wienerinnen und Wienern. Mit der Zeit wurde das Überleben wohl ein wenig leichter, bis zu einem normalen Leben dauerte es aber noch sehr lange.
A nmerkungen 1 Die im Artikel abgebildeten, großteils bisher nicht publizierten Fotos stammen aus dem Dezember 1945. Verwendung mit freundlicher Genehmigung von MR Doz. Dr. Helmut Wohnout, Karl von VogelsangInstitut, Wien. 2 Rebhann, Fritz M.: Finale in Wien. Eine Gaustadt in Scherben. Wien 1969. S. 139. 3 Fraller, Elisabeth/Langnas, George (Hg.) : Mignon. Briefe und Tagebücher einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938–1945. Innsbruck 2010. S. 269. 4 Völkischer Beobachter vom 4.1.1945. S. 2. 5 Gosztony, Peter : Endkampf an der Donau 1944/55. 2. Aufl. Wien 1969. S. 256. 6 Völkischer Beobachter vom 11.3.1945. S. 2. 7 Fraller/Langnas a.a.O. S. 281, 282. 8 Broucek, Peter : Der Kampf um Wien 1945 und der österreichische militärische Widerstand. In : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie. 51. Jg. 2007, Heft 4–5. S. 236. 9 Broucek a.a.O. S. 237. 10 Völkischer Beobachter vom 25.1.1945. S. 4. 11 Rebhann a.a.O. S. 149, 150. 12 Fraller/Langnas a.a.O. S. 288. 13 Portisch, Hugo : Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates. Wien 1985. S. 44, 45. 14 Fraller/Langnas a.a.O. S. 291, 292. 15 Portisch a.a.O. S. 78. 16 Gosztony a.a.O. S. 259. 17 Broucek a.a.O. S. 240. 18 Broucek a.a.O. S. 243, 244. 19 Vgl. dazu Broucek a.a.O. S. 247. 20 Hier kommt Broucek zu einem völlig anderen Ergebnis. Bisher herrschte in der Literatur die Meinung vor, dass ein Telefonat Biedermanns von einem nazibegeisterten Offizier mitgehört und verraten wurde. 21 Gosztony a.a.O. S. 261. 22 Wiener Presse. Gemeinschaftsausgabe der amtlichen Nachrichten. Sonntag, 8. April 1945. 23 Rebhann a.a.O. S. 205. 24 Portisch a.a.O. S. 96. 25 Gosztony a.a.O. S. 262. 26 Fraller/Langnas a.a.O. S. 309, 310. 27 Fraller/Langnas a.a.O. S. 311, 312. 28 Zitiert in Portisch a.a.O. S. 115. 29 Vgl. dazu den Artikel von Martin Dolezal, Anmerkung 137. 30 Vgl. Portisch a.a.O. S. 130
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michael dippelreiter 31 Zit. in Portisch a.a.O. S. 130. 32 Portisch a.a.O. S. 146. 33 Österreichische Zeitung. Frontzeitung für die Bevölkerung Österreichs. 15.4.1945. S. 2. 34 Österreichische Zeitung a.a.O. 21. April 1945. S. 3. 35 Alexander Toldt, Vom E.F. Kanonier zum Kabinettsdirektor zweier Bundespräsidenten. Lebenserinnerungen. Unveröff. Manus. Maschinschr. S. 166. Freundlicherweise dem Autor zur Verfügung gestellt von Dr. Felix Wilcek, dem Enkel von A. Toldt. 36 Broucek a.a.O. S. 253. 37 Brief des mit der Leitung der Akademie der Wissenschaften beauftragten Rektors der Universität Wien vom 31. März 1945. Dem Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Florian Gerhardus. 38 Brief von Dr. Norbert Bischoff an seine Mutter vom 16.4.1945. Dem Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Florian Gerhardus. 39 Toldt a.a.O. S. 168, 169. 40 Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung. Montag, 23. April 1945. S. 1. 41 Vier Tage später wurde aber das Theater an der Wien als Ausweichquartier der Staatsoper genannt, welches es auch bis zur Wiedereröffnung 1955 blieb. 42 Neues Oesterreich a.a.O. 24. April 1945. S. 3. 43 Neues Oesterreich a.a.O. 29. April 1945. S. 4. 44 Portisch a.a.O. S. 302. 45 Oesterreichische Zeitung a.a.O. 6. Mai 1945. S. 3. 46 Portisch a.a.O. S. 315. 47 Neues Oesterreich 29. April 1945. S. 4. 48 Portisch a.a.O. S. 370. 49 Portisch a.a.O. S. 370. 50 Portisch a.a.O. S. 371. 51 Toldt a.a.O. S. 180. 52 Neues Oesterreich 15. Mai 1945. S. 3. 53 Oesterreichische Zeitung 12. Mai 1945. S. 3. 54 Portisch a.a.O. S. 303. 55 Bihl, Gustav : Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte. In : Csendes, Peter/Opll, Ferdinand : Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 3. Wien 2006. S. 560, 561. 56 Neues Oesterreich a.a.O. 15. Juni 1945. S. 3. 57 Fraller/Langnas a.a.O. S. 324, 325.
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martin dolezal
Die politische Entwicklung Wiens
1. Einleitung 1
D
ie Darstellung der politischen Entwicklung eines Bundeslandes wie Wien kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Sie kann sich an den »großen Männern« – und Frauen – orientieren, die zentrale politische Ämter wie das des Landeshauptmanns ausübten. Sie kann die Entwicklung an politischen Ereignissen, die für Aufsehen sorgten, festmachen. Und schließlich kann eine solche Überblicksdarstellung in systematischer Weise die Rahmenbedingungen und Institutionen erläutern, welche die Basis für die politische Entwicklung eines Gemeinwesens bilden. Das vorliegende Kapitel orientiert sich in erster Linie an der letztgenannten Herangehensweise, will dabei aber auch einzelne Ereignisse und für die politische Entwicklung der Nachkriegszeit bestimmende Personen berücksichtigen. Der zeitliche Rahmen des Kapitels bezieht sich in erster Linie naturgemäß auf jene Periode, welcher der vorliegende Band insgesamt gewidmet ist, das heißt auf die Jahre von 1945 bis 1995. Alle Grafiken und Tabellen, die verschiedene Aspekte der politischen Entwicklung Wiens im Zeitverlauf vermitteln, und auch kurze Hinweise im Text selbst behandeln jedoch zusätzlich die Jahre bis einschließlich 2010. Zunächst erfolgt ein Blick auf die Rahmenbedingungen der politischen Entwicklung (Abschnitt 2). Dazu zählen die politischen Konsequenzen der Doppelfunktion Wiens als Stadt und Bundesland, die Dominanz der Wiener spö, die bis 1989 häufig als stärkste sozialistische Partei der westlichen Welt bezeichnet wurde, sowie verschiedene Aspekte der politischen Kultur : von den Einstellungen der Stadtbewohner bis zur Rolle der Massenmedien. Anschließend wird in den Abschnitten 3 und 4 auf den Gemeinderat/Landtag (Legislative) beziehungsweise den Stadtsenat/die Landesregierung (Exekutive) eingegangen. In beiden Bereichen ist auch der Darstellung der rechtlichen Bestimmungen ein wenig Raum gewidmet, im Vordergrund soll aber stets die politische Praxis, also das Handeln der Akteure und deren unterschiedliche Standpunkte, stehen, wenngleich in der vorhandenen Literatur über manche Aspekte nur wenige Informationen vorliegen. Der darauffolgende fünfte Abschnitt geht auf die Rolle der 23 Bezirke ein, die eine eigenständige politische Ebene unterhalb der Landespolitik bilden. Abschließend befasst sich das Kapitel mit Formen der politischen Beteiligung jenseits der Wahlen : Abschnitt 6 geht dabei kurz auf verschiedene Formen des politischen Protests ein, vor allem aber auf den seit den Siebzigerjahren in Wien relativ wichtigen Bereich der direkten Demokratie. 39
martin dolezal Gerade der zuletzt behandelte Aspekt der politischen Entwicklung Wiens wird zeigen, dass die Hegemonie der spö, die bei den Wahlen als unbezwingbar erschien, zumindest manchmal an ihre Grenzen stieß. An der grundsätzlichen Dominanz der Sozialdemokratie im »Roten Wien« hat sich seit 1945 aber dennoch nur sehr wenig geändert. Trotz der weitreichenden Veränderungen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit Beginn der Zweiten Republik – und auch trotz mancher Skandale im Umfeld der Stadtregierung – ist es immer noch die spö, die die politische Entwicklung der Bundeshauptstadt bestimmt.
2. R ahmenbedingungen Die politische Entwicklung einer Großstadt wie Wien ist von zahlreichen Faktoren geprägt. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen etwa die wirtschaftliche Entwicklung, die Struktur der Bevölkerung, das Verhältnis der Stadt- zur Bundespolitik, aber auch Auswirkungen der Europäisierung und Globalisierung. Gerade die »Ausländerfrage« ist als Folge der Migrationsbewegungen seit den Achtzigerjahren nicht nur bei den Wahlen eines der wichtigsten und zugleich umstrittensten Themen der Stadtpolitik.2 Vielen solchen möglichen Einflussfaktoren ist im vorliegenden Band ein eigener Beitrag gewidmet, weshalb in diesem Kapitel nicht weiter darauf eingegangen wird. Im vorliegenden Kapitel wird daher zunächst allein auf die historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen eingegangen, welche die politische Entwicklung bestimmen, konkret auf den eigentümlichen Doppelstatus Wiens als Stadt und Bundesland. Der Bedeutung und dem Charakter des »Roten Wiens«, der hegemonialen Stellung der spö, ist der zweite Unterabschnitt gewidmet. In weiterer Folge wird ein kurzer Blick auf die politische Kultur der Bevölkerung sowie auf die Rolle der Medien geworfen. Gerade Letztere erwiesen sich in manchen Episoden der Stadtpolitik, etwa in den frühen Siebzigerjahren, als die eigentliche »Opposition« zur regierenden spö, wogegen es den tatsächlichen Oppositionsparteien övp, fpö und seit den Achtzigerjahren den Grünen nur selten gelang, die Dominanz der Wiener spö entscheidend herauszufordern.
2.1 Wien als Sta dt und Bundesland Die Doppelfunktion als Stadt (bzw. Gemeinde) und Bundesland verleiht Wien eine Sonderrolle in der österreichischen Politik, doch sind ähnliche Konstellationen auch in anderen föderalen Staaten vorhanden : In Deutschland kommt etwa den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen eine ähnliche Rolle zu. Im Alltagsverständnis der 40
die politische entwicklung wiens Wiener Bevölkerung dominiert eindeutig der Charakter Wiens als Stadt, wogegen die Bundesländer traditionell mit der Provinz, keinesfalls mit der Metropole gleichgesetzt werden. »Kaum ein Wiener«, formulierte der frühere Wiener övp-Chef Erhard Busek etwas überspitzt, »vermutet im Bürgermeister der Stadt Wien den Landeshauptmann und im Gemeinderat den Landtag.«3 Die historische Ursache für diese Sonderrolle Wiens liegt in der zu Beginn der Ersten Republik vollzogenen politischen Trennung von Niederösterreich, das die Stadt vollständig umschließt. Einerseits vermied man im neugeschaffenen Kleinstaat auf diesem Weg die Existenz eines übergroßen Bundeslandes, in dem rund die Hälfte der österreichischen Bevölkerung gelebt hätte. Andererseits schufen sich Sozialdemokraten und Christlichsoziale je eine sichere Hochburg für ihre politischen Bewegungen. Zunächst waren es jedoch die Christlichsozialen sowie vor allem die westlichen Bundesländer, die aus machtpolitischen Gründen für eine Trennung Wiens von Niederösterreich eintraten. Den Sozialdemokraten erschien eine solche Aufteilung weniger dringend, schließlich hatten sie bei der niederösterreichischen Landtagswahl im Mai 1919 eine absolute Mandatsmehrheit gewonnen4 und stellten mit Albert Sever auch den Landeshauptmann. In weiterer Folge sahen jedoch auch die (Wiener) Sozialdemokraten Vorteile in der größeren Autonomie eines Bundeslandes Wien und unterstützten daher den Trennungsplan, der am 1. Jänner 1922 schließlich umgesetzt wurde.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frage des Verhältnisses Wiens zu seinem Umland erneut aktuell. Zwar stand der Status als eigenes Bundesland nicht mehr zur Diskussion, doch war die Grenzziehung zu Niederösterreich 1945 zunächst offen. In der ns-Zeit war – unter teilweisem Rückgriff auf bereits in den Zwanzigerjahren formulierte Überlegungen – der Reichsgau »Groß-Wien« geschaffen worden. Die Fläche der Stadt wurde dadurch auf 1.215 Quadratkilometer verfünffacht. Wien hatte nun mehr als zwei Millionen Einwohner, und die Anzahl der Bezirke wuchs auf 26.6 Generell bestand 1945 die Absicht, österreichweit zu den alten Ländergrenzen zurückzukehren, weshalb die (provisorischen) Landesregierungen Wiens und Niederösterreichs rasch mit entsprechenden Verhandlungen begannen.7 Staatskanzler Karl Renner teilte die dabei erfolgte Einigung, nach der 80 von 97 in der ns-Zeit eingegliederte Gemeinden von Wien zu Niederösterreich zurückkehren sollten, im Oktober 1945 den Alliierten mit der Bitte um Zustimmung mit. Diese wurde jedoch nicht gewährt, da die vier Besatzungsmächte ihr Zonenabkommen, das sich an den vorhandenen Ländergrenzen orientierte, erneuern hätten müssen. So wären etwa bei einer Übernahme der neuen Grenzen Wiens zu Niederösterreich alle Flugplätze an die sowjetische Besatzungsmacht gegangen.8 Erst am 11. Juni 1954 stimmte der Alliierte Rat den 1946 auf Basis der erzielten Verhandlungsergebnisse beschlossenen Verfassungsgesetzen Wiens und Nie41
martin dolezal derösterreichs zur Grenzziehung schließlich zu. Diese Gesetze traten daraufhin am 1. September 1954 in Kraft.9 Neben der Einbeziehung der kpö in die ersten beiden Stadtregierungen (siehe Abschnitt 4) sowie dem Ausschluss ehemaliger National sozialisten von den Wahlberechtigten und der Nichtzulassung nationaler Parteien bei der ersten Wahl – all dies erfolgte auch auf Bundesebene – war die Grenzfrage das vielleicht sichtbarste Beispiel für die Einschränkung der Souveränität bis zum Staatsvertrag von 1955. Während durch das Zweite Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 einfache Gesetze ohne Veto der Alliierten nach 31 Tagen automatisch in Kraft traten, erforderten Verfassungsgesetze, darunter etwa die Grenzfrage, eine einhellige Bestätigung.10 Der Konflikt um die Grenze blieb jedoch eine Ausnahme und war keineswegs typisch für die Beziehung zwischen den Alliierten und der Stadtregierung. Generell ging der faktische Einfluss der Besatzungsmächte auf die Tagesgeschäfte der Kommunalpolitik bereits ab 1947 stark zurück.11 Wien schrumpfte 1954 infolge der Gebietsabtretungen auf 416 Quadratkilometer, verlor aber aufgrund des weitgehend ländlichen Charakters der abgetretenen Gebiete nur rund 150.000 Einwohner – und war immer noch deutlich größer als vor 1938. Nach der erfolgten Grenzziehung zu Niederösterreich konnten auch die Binnengrenzen endgültig festgelegt werden, zum Beispiel jene des 1954 neu geschaffenen xxiii. Bezirks Liesing. Dem bis zuletzt geäußerten Wunsch mehrerer Gemeinden, bei Wien zu bleiben, wurde von den beiden Landesregierungen nicht entsprochen.12 In einigen Randgemeinden hatte es auch Bestrebungen gegeben, die Frage der Zugehörigkeit mittels Volksabstimmungen zu entscheiden, doch waren die dafür notwendigen Instrumente – und vor allem der politische Wille der beiden Landesregierungen – nicht vorhanden.13 Den rechtlichen Rahmen der politischen Entwicklung definiert die Wiener Stadtverfassung (WStV). Sie wurde am 10. Juli 1945 durch das von der provisorischen Staatsregierung erlassene Wiener Verfassungsüberleitungsgesetz in der Fassung von 1931 wieder wirksam,14 ist seit damals aber häufig novelliert worden. Eigentlich ist sie eine Gemeindeverfassung, da die überwiegende Mehrheit ihrer Paragrafen (aktuell 112 von 139) Wien als Stadt gewidmet ist, Wien als Land tritt dagegen deutlich in den Hintergrund. In mehrfacher Hinsicht ist Wien »demnach Gemeinde und fungiert (auch) als Land« :15 Rein rechtlich gesehen wird etwa nur der Gemeinderat gewählt, der dann – personalident – auch als Landtag tätig ist. Ferner wählt nicht der Landtag den Landeshauptmann, sondern der Gemeinderat wählt den Bürgermeister, der dann zugleich als Landeshauptmann amtiert. Dies gilt auch für die Landesregierung, deren Mitglieder zusammen den Stadtsenat bilden. Politisch relevant ist der Sonderstatus Wiens vor allem deshalb, weil er der Mehrheitspartei, das heißt bis heute stets der spö, einige wesentliche Vorteile verschafft. 42
die politische entwicklung wiens
Abb. 1: Wiener Rathaus
Aufgrund der Vorgaben der Bundesverfassung haben grundsätzlich alle Parteien das Recht – aber keinesfalls die Pflicht –, gemäß ihrer Mandatsstärke an der Regierung beteiligt zu werden. Wien ist neben einem Bundesland eben auch eine Gemeinde, und auf dieser politischen Ebene ist das System der Proporzregierung vorgeschrieben.16 1965 wurde im Rahmen einer Novellierung der Stadtverfassung die Anzahl der Stadträte mit mindestens neun und maximal 15 festgelegt.17 Da die Größe der Regierung innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens vom Gemeinderat auch ohne qualifizierte (Zweidrittel-)Mehrheit stets neu bestimmt werden kann, hat eine mit absoluter Mehrheit ausgestattete Partei – konkret die spö – großen Einfluss auf die Frage, welche Parteien in den Stadtsenat aufgenommen werden müssen : Je geringer die Anzahl der Stadträte ist, desto eher besteht die Möglichkeit, kleinen Parteien den Zugang zu verwehren. Kritische Beobachter sehen in dieser Regelung deshalb eine »gewisse Möglichkeit der Manipulation«.18 Der entscheidende machtpolitische Hebel liegt aber nicht in der Festlegung der Anzahl der Stadträte, sondern in ihrer spezifischen Differenzierung in solche mit und ohne Ressort. Allein amtsführende Stadträte leiten Geschäftsgruppen des Magistrats. Den Stadträten, die in den Medien und der politischen Auseinandersetzung häufig 43
martin dolezal »nichtamtsführende Stadträte« genannt werden, kommt hingegen nur eine schwach ausgestattete Kontrollfunktion zu. Sie verfügen über keine Anfrage- oder Antragsrechte und unterliegen zudem der Amtsverschwiegenheit.19 Allerdings haben sie das Recht, jederzeit Einblick in alle Dienststücke der Stadt- beziehungsweise der Landesregierung zu nehmen.20 Der Gemeinderat legt die Ressortzuteilung auf Vorschlag des Stadtsenats fest ; im Falle einer absoluten Mandatsmehrheit kann eine Partei dies allein bestimmen. Wien ist somit das einzige österreichische Bundesland mit Landesregierungsmitgliedern ohne eigenes Ressort.21 Die Oppositionsparteien haben diese von Welan als »Anomalie«22 bezeichnete Einrichtung immer schon kritisiert. 1992 versuchten övp und fpö, diese Regelung auf dem Rechtsweg zu kippen, und beantragten deshalb eine Prüfung auf Verfassungswidrigkeit. Der von den beiden Parteien angerufene Verfassungsgerichtshof entschied jedoch, dass die Notwendigkeit der proportionalen Vertretung nur für den Stadtsenat insgesamt gelte, nicht für die amtsführenden Stadträte.23 Trotz der geringen Kompetenzen und der bis auf wenige Ausnahmen fehlenden öffentlichen Sichtbarkeit und auch Bekanntheit der Stadträte ohne Ressort hat bislang noch keine Partei auf ein solches Amt verzichtet. Noch ein weiteres Element der Rahmenbedingungen erschwert die Rolle der kleineren Parteien in der Regierung. Laut Stadtverfassung ist es möglich, dass »gleichartige, häufig vorkommende Angelegenheiten und Gegenstände von geringerer Bedeutung«24 einzelnen Regierungsmitgliedern oder dem Amt der Landesregierung überlassen werden. Tatsächlich listet die Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung eine Vielzahl an »Geschäften« auf, die dem Amt der Wiener Landesregierung überlassen werden.25 Das Kollegialorgan Landesregierung/Stadtsenat beschränkt sich daher letztlich »auf die Wahrnehmung jener Aufgaben, die ihm bundesverfassungsrechtlich explizit übertragen sind«.26 Schließlich hat die Mehrheitspartei – konkret die spö – einen weiteren Vorteil : Aufgrund der doppelten Funktion Wiens als Gemeinde und Land können wichtige (materielle bzw. faktische) Verfassungsbestimmungen im Rahmen der Gemeindeordnung ohne qualifizierte Mehrheit entschieden werden27– so etwa auch das Wahlrecht. Und nicht zuletzt fehlt in Wien auch das in allen anderen österreichischen Bundesländern vorhandene politische Gegengewicht der Städte und Gemeinden, deren parteipolitische Ausrichtung sich von jener der Landesebene unterscheiden kann. Die Doppelfunktion Wiens als Gemeinde und Land führt somit zu einem politischen System, das einer mit Mehrheit ausgestatteten Partei mehr Einflussmöglichkeiten gibt als in allen anderen Bundesländern. Die Trennung von Niederösterreich hat sich für die Wiener spö somit zumindest machtpolitisch durchaus bezahlt gemacht.
44
die politische entwicklung wiens 2.2 Das »Rote Wien« Die politische Entwicklung Wiens ist seit dem Zusammenbruch der Monarchie ohne Zweifel von der hegemonialen Stellung der spö – bis 1934 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (sdap) – geprägt. Seit 1919, als mit dem neu geschaffenen Frauenwahlrecht erstmals tatsächlich allgemeine Wahlen zum Gemeinderat durchgeführt wurden und die Sozialdemokraten mit 54,2 Prozent der Stimmen hundert von damals noch 165 Sitzen erhielten,28 hat die spö letztlich alle Wahlen gewonnen. Bis 1996 war sie dank einer absoluten Mandatsmehrheit auch stets in der Lage, wichtige Weichenstellungen allein vorzunehmen. In der Ersten Republik wurde dies in zum Teil feindlicher, in der Zweiten Republik, vor allem während der Oppositionsjahre (1966–1970 und 2000–2006), in kritischer Abgrenzung von der konservativ dominierten Bundespolitik vollzogen. Der Verlust des Bürgermeisterpostens oder gar das Ausscheiden aus der Stadt regierung ist aus Sicht der Wiener spö unter demokratischen Rahmenbedingungen ausgeschlossen. Schon der 1996 erstmals erfolgte Verlust der absoluten Mandatsmehrheit und die damit verbundene Notwendigkeit, eine Koalitionsregierung (mit der övp) zu bilden, wurden daher als entscheidende Einschnitte empfunden. Der Rückgewinn der verlorenen Mehrheit bei der darauffolgenden Wahl (2001) stellte deshalb – so die aufschlussreiche Einschätzung des früheren Bürgermeisters Leopold Gratz – »die natürliche Ordnung der Dinge«29 wieder her. Ein symbolträchtiger, gegen die spö gerichteter Mehrheitsbeschluss des Gemeinderats wurde nach 2001 jedoch nicht mehr revidiert : Am 26. 11. 1997 hatten die drei Oppositionsparteien (fpö, Grüne und lif) gemeinsam mit der övp, dem Koalitionspartner der spö, die halbtägige Sperre des öffentlichen Verkehrs am 1. Mai beendet. Diese von der spö bis zuletzt mit Hinweisen auf eine gewachsene Tradition erbittert verteidigte Regelung sollte es den Bediensteten der städtischen Verkehrsbetriebe ermöglichen, an der traditionellen spö-Großkundgebung am Rathausplatz teilzunehmen. Die übrigen Parteien sahen darin jedoch weniger ein gewachsenes Recht der Arbeiterbewegung als eine unzumutbare Belastung der Benützer öffentlicher Verkehrsmittel. Für die spö ist Wien somit mehr als eine wahlpolitische Hochburg, das »Rote Wien« ist für die österreichische Sozialdemokratie ihr zentraler Bezugspunkt und der Ort, wo die Praxis sozialdemokratischer Politik einem Modell gleich umgesetzt werden kann.30 Wahlkampfreden stilisierten die Wiener Stadtpolitik deshalb gar zum »Vorbild für die ganze Welt«31 und zumindest bis in die Siebzigerjahre wurde auch regelmäßig auf die historischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit verwiesen : »In Wien«, so der amtsführende Stadtrat Heinz Nittel in einem 1978 erschienenen Buch über die Wiener spö, »haben die Sozialisten während der schweren Jahre der Ersten Republik ein Beispiel gegeben, wie sie ihre Ziele und Vorstellungen verwirklichen, 45
martin dolezal wenn sie dazu stark genug sind«.32 Die erwähnte Praxis der Kommunalpolitik wurde dabei vor allem durch drei Bereiche bestimmt : durch die kommunale Fürsorgepolitik, den städtischen Wohnbau sowie die Kultur- und Bildungspolitik.33 Der kommunale Wohnbau ist dabei das sichtbarste Ergebnis, bestimmt er doch in einem großen Ausmaß das Wiener Stadtbild – zumindest abseits der klassischen Touristenpfade. Bereits 1933 lebten rund 200.000 Wiener in insgesamt 53.667 Gemeindewohnungen und 5.257 gemeindeeigenen Siedlungshäusern.34 Mit einer Frontlänge von 1.200 Metern ist der 1930 eröffnete Karl-Marx-Hof zwar nur die drittgrößte in Wien errichtete Anlage, gilt aber auch international als das herausragende Symbol des kommunalen Wohnbaus.35 Die nach dem Krieg wieder aufgenommene Errichtung von Gemeindebauten war lange Zeit das wichtigste politische Ziel der Stadtregierung, dem viele andere Infrastrukturmaßnahmen untergeordnet wurden. Im Jahr 2010 lebten rund 500.000 Wiener36, das heißt rund dreißig Prozent der Stadtbevölkerung, in Gemeindewohnungen. Die Errichtung der Gemeindebauten diente nach beiden Weltkriegen in erster Linie natürlich der Bekämpfung der Wohnungsnot, die gerade in der zweiten Hälfte der Vierziger- und in den Fünfzigerjahren auch eine direkte Folge der Kriegsschäden war : 86.875 Wohnungen, das waren 12,3 Prozent des Gesamtbestands, waren infolge der alliierten Bombardierungen und der Kampfhandlungen bei der Befreiung Wiens durch die Rote Armee zerstört worden. Rund 270.000 Menschen hatten dabei ihre Wohnung verloren.37 Mit dem kommunalen Wohnbau waren aber auch stets gesellschaftspolitische Konzepte verknüpft, »in deren Mittelpunkt die Schaffung eines ›neuen Menschen‹ stand«.38 Diese politische Orientierung und das in der Nachkriegszeit nicht nur für die Sozialdemokratie bestimmende Leitbild der Modernisierung rückten alternative Ziele wie die Sanierung alter Stadtviertel lange Zeit in den Hintergrund : Erst Mitte der Siebzigerjahre erfolgten etwa am Spittelberg, einem auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Wohnviertel, die ersten großen Sanierungsmaßnahmen.39 Basis dafür war das im Jänner 1972 beschlossene Gesetz zur Altstadterhaltung,40 das die lange Periode des »bedingungslosen Neubaus«41 und der primären Orientierung an der Stadterweiterung beendete. Und auch Möglichkeiten zur Partizipation waren in den Jahren des Wiederaufbaus zumeist hintangestellt worden : Erst 1976 kam es zur ersten umfassenden Mitbestimmung bei der Planung eines Wiener Gemeindebaus.42 Ihre hegemoniale Stellung in der Stadtpolitik gab der spö großen Einfluss auf die privaten Lebensentwürfe vieler Wiener.43 Der Vorwurf der Patronage, der »Parteibuchwirtschaft« bei der Vergabe von Wohnungen und Posten im öffentlichen Bereich, war deshalb lange Zeit ein Hauptangriffspunkt der Oppositionsparteien und der Medien, gerade auch in den Wahlkämpfen.44 Umfragen zeigten jedoch, dass die Österreicher – und wohl auch die Wiener – zumindest bis in die späten Sechziger46
die politische entwicklung wiens jahre persönliche Vorteile durch die Mitgliedschaft bei einer Partei befürworteten oder zumindest als »übliche« Begleiterscheinung akzeptierten.45 Erst in den Siebzigerjahren verlor das Modell einer umfassenden Parteipolitisierung seine grundlegende Akzeptanz in der Bevölkerung, wenngleich seine Folgen sichtbar blieben : So wohnten etwa 1987 mehr als vierzig Prozent der Wiener spö-Wähler in einer Gemeindewohnung. Von den övp-Wählern, die sich jedoch sozialstrukturell von den Sozialdemokraten unterscheiden, waren es nur zehn Prozent.46 Durch den verstärkten Gebrauch objektivierender Verfahren bei der Vergabe der Sozialwohnungen ist der Parteieneinfluss seit den Achtzigerjahren deutlich gemildert worden. Hauptangriffspunkt der Opposition, konkret der fpö, war in den letzten Jahren daher eher die 2001 begonnene Vergabe von Wohnungen an Migranten. Und insgesamt ging der Wohnbau durch die Gemeinde auch stark zurück : Im Jahr 1996 betrug ihr Anteil an den neu errichteten Wohnungen nur mehr rund zwölf Prozent. Aufgrund der Dominanz gemeinnütziger Bauträger blieb der Anteil der Privaten mit rund neun Prozent jedoch weiterhin sehr gering.47 Nach der Jahrtausendwende wurde der Bau von Gemeindewohnungen schließlich stark zurückgefahren ; insgesamt – einschließlich der Bauten aus der Ersten Republik – beträgt der Bestand nun rund 220.000 Wohnungen.48 Auch im Bereich der Vergabe von Posten im öffentlichen Sektor ist der Höhepunkt der »Parteibuchwirtschaft« wohl überschritten. Das Ausmaß der spö-Nähe der Landesbeamten lässt sich jedoch – indirekt – immer noch anhand der Ergebnisse bei den Wiener Personalvertretungs- und Gewerkschaftswahlen ermessen : In den Jahren von 1950 bis 2010 gewannen die spö-Gewerkschafter dabei immer mehr als drei Viertel der Stimmen, wobei auch Ergebnisse jenseits der achtzig und sogar neunzig Prozent erreicht wurden.49 Der öffentliche Dienst wurde daher zu einer zentralen Wählerbasis der Wiener spö.
2.3 Politische Kultur & M assenmedien Über die politische Kultur Wiens, das heißt die spezifischen Einstellungen der Bevölkerung und der »Eliten« gegenüber generellen Fragen der politischen Ordnung, ist in vergleichender Perspektive vor allem für die ersten Jahre der Zweiten Republik nahezu nichts bekannt. Inwieweit es hier spezifische Unterschiede zu den übrigen Bundesländern gab, kann daher bloß spekuliert werden. Mitte der Neunzigerjahre, also am Ende der in diesem Buch behandelten Epoche, zeigten sich jedoch einige deutliche, auch einen längerfristigen Charakter aufweisende Abweichungen von den übrigen Ländern : So positionieren sich die Wiener am weitesten auf der politischen Linken und sind die am deutlichsten säkular 47
martin dolezal orientierten Österreicher. Die für ein großstädtisches Milieu nicht überraschende Tendenz zur Säkularisierung kann auch am Anteil der Katholiken unter den Stadtbewohnern abgelesen werden. Dieser war immer schon deutlich geringer als in den anderen Bundesländern. Zuletzt, 2001, sank er erstmals unter fünfzig Prozent, wobei er bei den österreichischen Staatsbürgern noch 55,3 Prozent betrug.50 Stärker als die Einwohner der übrigen Bundesländer sehen sich die Wiener in erster Linie als »Österreicher«, weshalb sie auch – nach den Burgenländern – die geringste (hypothetische) Neigung zeigen, eine spezifische Regionalpartei zu wählen.51 Ähnliche Ergebnisse zeigten schon Umfragen in den Achtzigerjahren.52 Das Ausmaß der Partizipation, der Beteiligung am politischen Geschehen, ist im Bereich der Wahlen unterdurchschnittlich ausgeprägt (vgl. Abschnitt 3), im Rahmen »unkonventioneller« politischer Partizipationsformen wie Petitionen und Demonst rationen (vgl. Abschnitt 6) nehmen die Wiener jedoch österreichweit den Spitzenplatz ein.53 Auch hier kann von einer relativ starken Kontinuität ausgegangen werden, da ähnliche Befunde bereits in den frühen Achtzigerjahren vorlagen.54 Stärker als in anderen Bundesländern ist auch die Mitgliedschaft in einer Partei verbreitet, das heißt natürlich vor allem in der spö.55 Auf die damit zum Teil verbundenen Konsequenzen der »Parteibuchwirtschaft« wurde bereits verwiesen. In Bezug auf die politischen Einstellungen der Bevölkerung kann neben der bereits erwähnten generellen »Linksorientierung« von einer weit verbreiteten Akzeptanz der Politik der spö ausgegangen werden – anders wäre ihre ununterbrochene Dominanz wohl nicht erklärbar. Gerade der Bereich der unkonventionellen politischen Partizipation, auf den im vorliegenden Beitrag noch ausführlich eingegangen werden wird, zeigte der spö jedoch mehrfach die Grenzen dieser Zustimmung auf. Bereits in den Sechzigerjahren, als die Parteien damit begannen, die Einstellungen der Wähler systematisch zu erforschen, waren erste Bruchlinien sichtbar : So sprach sich etwa in einer spö-Umfrage vor der Gemeinderatswahl 1964 eine Mehrheit für die Sanierung alter Stadtviertel aus – wogegen die spö-Politik lange Zeit den Neubau und die Stadterweiterung propagierte.56 Den Handlungsspielraum der spö-Politik beeinflussen auch die Massenmedien, denen daher ebenso eine zentrale Rolle im Bereich der politischen Rahmenbedingungen zukommt. Bei den Tageszeitungen muss zunächst auf die besondere Situation des Wiener Zeitungsmarktes verwiesen werden, konkret auf das Fehlen einer typischen Regionalzeitung. Wien bildet mit Niederösterreich und dem Burgenland einen »Medienraum«57, in dem keine spezifischen (relevanten) Ländermedien vorhanden sind. Angesichts der oft mehr oder weniger deutlichen Orientierung regionaler Leitmedien an der jeweiligen Landeshauptmannpartei führte dies für die Wiener spö zu einer schwierigeren Situation als etwa für die övp in einigen ihrer regionalen Hochburgen. Weitere Charakteristika des Zeitungsmarktes stellen jedoch keine Wiener 48
die politische entwicklung wiens Spezifika dar, sondern widerspiegeln die gesamtösterreichische Entwicklung seit 1945 : Im Zeitverlauf muss dabei zunächst auf die Phase der Besatzungszeit verwiesen werden, als die Massenmedien, das heißt die Zeitungen und das Radio, zunächst unter alliierter Kontrolle standen.58 Abgesehen vom Verschwinden der Zeitungen der Besatzungsmächte beziehungsweise deren Übernahme durch österreichische Verleger kam es in weiterer Folge – wie in den meisten anderen Bundesländern auch – zum langsamen Ende der Parteizeitungen und als jüngste Entwicklung der Zweitausenderjahre vor allem in Wien zum Aufkommen von Gratiszeitungen. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Wiener Zeitungslandschaft seit 1965, als zum ersten Mal die Media-Analyse durchgeführt wurde. Deren Ergebnisse zeigen vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine überragende Stellung der Kronenzeitung und eine zurückgehende Bedeutung des Kuriers. Beide Zeitungen standen der Wiener spö nicht immer nur wohlwollend gegenüber. Tabelle 1: Reichweiten ausgewählter Tageszeitungen in Wien seit 1965 (Prozentwerte) Kronenzeitung
Kurier
Die Presse
Der Standard
Express
Neues Öster reich
1965–1970
23,9
33,0
5,6
—
22,4
1970er Jahre
52,9
42,2
7,0
—
—
1980er Jahre
52,5
37,7
7,7
—
1991–1995
42,8
31,0
8,6
Vergleich : 20101
35,6
16,5
8,2
Arbeiterzeitung (SPÖ)
Volksblatt (ÖVP)
3,7
8,2
3,7
—
6,5
—
—
—
5,5
—
11,3
—
—
—
—
11,8
—
—
—
—
Quelle : ARGE Media-Analyse ; Durchschnittswerte der jährlichen Reichweiten in den angegebenen Jahrfünften und Jahrzehnten. Anmerkung : 1 weitere Titel (u. a.) : Heute 37,6 % ; Österreich 22,0 %.
Nicht nur im Bereich der Tageszeitungen, gerade auch auf dem Magazinsektor geriet die spö häufig unter Beschuss. Vor allem das neu gegründete Nachrichtenmagazin profil 59 schrieb seit den frühen Siebzigerjahren mit zum Teil großer Schärfe gegen die Wiener spö beziehungsweise die damals amtierenden Bürgermeister Felix Slavik und Leopold Gratz60 an. Insgesamt wurde der Wiener Stadtpolitik – einschließlich zum Teil bundespolitischer Themen wie dem Bau des Konferenzzentrums und dem akh 61 (Allgemeines Krankenhaus) – damals sehr viel Platz in der Berichterstattung des profil eingeräumt : Eine Durchsicht der Titelgeschichten ergab für die Jahre von 1970 bis 1979 einen Anteil von etwa acht Prozent. 49
martin dolezal
Abb. 2: Das profil kritisierte die Amtsführung von Leopold Gratz (1975).
Abb. 3: Der Einsturz der Reichsbrücke am 1. August 1976 (profil).
Die gerade in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren gegen die spö gerichteten Vorwürfe bezogen sich vor allem auf die nach jahrzehntelanger Regierungstätigkeit enge Verflechtung von Partei, Behörden und gemeindeeigenen Unternehmungen62 und eine damit verbundene mangelnde Kontrolltätigkeit : etwa beim Bauringskandal, als gemeindeeigene Wohnbaugesellschaften bei dubiosen Projekten im arabischen Raum einen Verlust von 1,4 Milliarden Schilling (rund hundert Millionen Euro) verbuchten, oder beim akh-Skandal. Die dominante Position der spö konnten diese Skandale aber letztlich nicht gefährden. Allein Bürgermeister Slavik, der lange mit Vorwürfen des Amtsmissbrauchs – wenngleich nicht der persönlichen Bereicherung – konfrontiert wurde,63 trat 1973 zurück. Das auslösende Moment dafür waren aber weniger die medialen Vorwürfe als die verlorene Volksbefragung um den geplanten Bau eines Universitätsinstituts im Sternwartepark (vgl. Abschnitt 6). In Parteiorganen wurde die Kritik der Medien stets zurückgewiesen, die spö demonstrierte bei diesen Anlässen stets ihre traditionelle Geschlossenheit nach außen64 : Am Beispiel der erwähnten Volksbefragung schrieb etwa Chefredakteur Karl Czernetz im parteieigenen Theorieorgan Die Zukunft, dass es »der Boulevardpresse überhaupt nicht um die Bäume und nicht um das Grünland gegangen ist, sondern 50
die politische entwicklung wiens nur darum, den Sozialisten eins auszuwischen.«65 Im Jahr zuvor war dem profil sogar vorgeworfen worden, Subventionen politischer Gegner als Gegenleistung für die – aus Sicht der spö – »Kampagne gegen Wiens Bürgermeister Slavik« zu erhalten. Die in der Arbeiterzeitung66 veröffentlichten »Beweise« erwiesen sich jedoch als Fälschung, weshalb der Vorwurf zurückgenommen werden musste.67 Zum wohl sichtbarsten Symbol für die von den Medien angeprangerten Verfehlungen der Stadtpolitik wurde schließlich der Einsturz der Reichsbrücke am 1. August 1976.68 Allein der Zeitpunkt des Einsturzes an einem Sonntag kurz vor fünf Uhr früh verhinderte eine Katastrophe, wenngleich ein Todesopfer zu beklagen war. Aufgrund des Vorwurfs der mangelnden Kontrolle durch die Behörden trat der zuständige amtsführende Stadtrat Fritz Hofmann zurück, und auch die Position von Bürgermeister Gratz schien zunächst gefährdet. Sein Rücktrittsangebot nahm die spö jedoch nicht an.69 Ironischerweise war es nicht der Regierungschef, sondern der Chef der Opposition, övp-Landesparteiobmann Franz Bauer, der nach dem Brückeneinsturz zurücktreten musste. Innerparteiliche Gegner hatten ihm vorgeworfen, zu wenig politisches Kapital aus dem Unglück geschlagen zu haben.70 Nachdem ihn ein abschließender Bericht über die Unglücksursache rehabilitiert hatte, kehrte der amtsführende Stadtrat Hofmann 1981 in die Regierung zurück. »Komfortabler« als das Verhältnis zu den Printmedien ist die Beziehung der Wiener spö wohl zum orf. Zwar wurde in Wien auf die traditionelle Radio-Ansprache des Landeshauptmanns bereits in den Achtzigerjahren verzichtet,71 doch ist die Präsenz der spö-Politiker, vor allem des Bürgermeisters, in den regionalen tv-Sendungen stark. Hierbei unterscheidet sich die Situation in Wien jedoch höchstens im Ausmaß, aber nicht grundsätzlich von der in den übrigen Bundesländern.72
3. Der Gemeinder at : Wahl und Stellung im politischen System Der Gemeinderat/Landtag nimmt im politischen System Wiens zumindest formal die zentrale Rolle ein, ist er doch die direkt gewählte Vertretung der Wiener Bevölkerung. Der vorliegende Abschnitt behandelt zunächst die Ergebnisse der Gemeinderatswahlen in einem Längsschnitt von 1945 bis 2010, danach erfolgt ein Blick auf die zum Teil konfliktreiche Entwicklung des Wahlrechts, das die hegemoniale Position der spö auch nach dem Rückgang bei den Wählerstimmen stützte. Anschließend wird auf die Organisation und die Funktionen des »Stadtparlaments« sowie auf seine faktische Stellung in der Wiener Politik eingegangen. 51
martin dolezal 3.1 Die Ergebnisse der Gemeinder atswahlen Die Gemeinderatswahlen sind die zentralen, regelmäßig stattfindenden Ereignisse in der politischen Entwicklung Wiens. Über die Themen der einzelnen Wahlkämpfe und die sonstigen Strategien der Parteien zur Wählermobilisierung kann im vorliegenden Kapitel nicht eingegangen werden, doch liegt dazu für den Zeitraum von 1945 bis 1969 eine Studie des Autors vor.73 Der folgende Abschnitt beschränkt sich auf eine kurze Darstellung der Ergebnisse im Längsschnitt. Die Vorherrschaft der spö war in ihrer Hochburg Wien bei den Gemeinderatswahlen letztlich nie gefährdet, wenngleich die Sozialdemokraten, wie Grafik 1 verdeutlicht, von 1973 bis 1996 bei jeder Wahl an Stimmen verloren. Nach einem Rückschlag bei der Wahl von 1949, als mit dem VdU (Verband der Unabhängigen) eine vierte relevante Partei antreten durfte, waren die Fünfziger- und Sechzigerjahre hingegen von einem stetigen Zuwachs an Wählerstimmen geprägt. Diese Phase kulminierte 1973 – trotz der Krise um den Rücktritt von Bürgermeister Slavik – im Spitzenergebnis von 60,2 Prozent. Nach dem bisherigen Tiefpunkt von 1996, als die spö mit 39,2 Prozent erstmals unter die Vierzig-Prozent-Marke fiel, hat sich die spö zuletzt bei rund 45 Prozent stabilisiert. Die Chance auf eine absolute Mandatsmehrheit und eine damit verbundene Alleinregierung war für die spö daher auch bei den jüngsten Wahlen stets vorhanden. Die Entwicklung der övp war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, das heißt in der Phase der Koalition mit der spö (vgl. Abschnitt 4), von einem schleichenden Rückgang bei den Wähleranteilen geprägt. Der Abstand zur dominierenden Regierungspartei spö wurde von Wahl zu Wahl größer. Unter der Führung von Erhard Busek, der ab 1976 einen neuen oppositionellen Kurs mit einem Team parteiloser Kandidaten – den »bunten Vögeln« – einschlug,74 konnte sie in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren wieder zulegen. Dies blieb jedoch nur eine kurze Episode, nach der die övp dramatisch verlor und in den Neunzigerjahren von der fpö auf den dritten Platz verdrängt wurde. Zuletzt musste sie diesen gegen die erstarkten Grünen verteidigen. Die fpö spielte bis in die späten Achtzigerjahre eine vernachlässigbare Rolle in der Stadtpolitik. 1954 scheiterte die Vorgängerpartei VdU sogar am Wiedereinzug in den Gemeinderat, da mit der fsö (Freiheitliche Sammlung Österreichs) ein Konkurrent auftrat, der das »dritte Lager« spaltete. Länger als in der Bundespolitik konnte die kpö ihre Position halten, bis sie 1969 – zehn Jahre nach dem Nationalrat – auch aus dem Gemeinderat ausschied. Seit 1991, im internationalen Vergleich somit sehr spät, sind die Grünen im Stadtparlament vertreten. Die beiden ersten Kandidaturen, 1983 noch über die Vorgängerpartei »Alternative Liste Wien«, waren an der Prozenthürde (siehe Unterpunkt 3.2) gescheitert. Die beiden übrigen nach 1945 52
die politische entwicklung wiens im Gemeinderat vertretenen Parteien – die Demokratische Fortschrittliche Partei (dfp) des ehemaligen spö-Politikers Franz Olah und das von der fpö abgespaltene Liberale Forum (lif) – waren nur je einmal vertreten : die dfp von 1969 bis 1973, das lif von 1996 bis 2001. Ferner kann noch das bzö – eine weitere Abspaltung von der fpö – erwähnt werden. Es verpasste jedoch bei beiden bisherigen Versuchen (2005 und 2010) klar den Einzug in den Gemeinderat. Grafik 1: Gemeinderatswahlen : Anteile der Parteien und Wahlbeteiligung, 1945–2010 (Prozentwerte) 100 90 80 70
Wahlbeteiligung
60
SPÖ
50
ÖVP
40
FPÖ
30
KPÖ
20
Grüne
2010
2005
2001
1996
1991
1987
1983
1978
1973
1969
1964
1959
1954
1949
0
1945
10
Quelle : Stadtwahlbehörde (vgl. http ://www.wien.gv.at/politik/wahlen/grbv/index.html ; aufgerufen am 25.7.2011) ; für Detailinformationen der Wahlen von 1945 bis 1987 siehe auch Josef Rauchenberger, Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. Anmerkungen : FPÖ 1949 und 1954 : Verband der Unabhängigen (VdU) ; Grüne 1983 : Alternative Liste Wien (ALW) ; KPÖ 1949 : Kommunistische Partei Österreichs und Linkssozialisten (Linksblock), 1954 : Wahlgemeinschaft Österreichische Volksopposition (VO), 1959 und 1964 : Kommunisten und Linkssozialisten (KLS), 1996 : Bewegung Rotes Wien (BRW).
In Bezug auf die Wahlbeteiligung zeigt Grafik 1 einen stetigen Rückgang bis in die späten Achtzigerjahre, als Politologen Wien bereits zur »Stadt der Nichtwähler«75 erklärten. Der singuläre Zuwachs in der Wahlbeteiligung von 1983 war der gleichzeitig abgehaltenen Nationalratswahl zu verdanken. Seit den Neunzigerjahren hat sich die Beteiligungsrate jedoch stabilisiert und lag stets über sechzig Prozent, ein für Großstädte im internationalen Vergleich durchaus akzeptabler Wert. 53
martin dolezal 3.2 Der Dauerstreit um das Wahlrecht Fragen des Wahlrechts gelten gemeinhin als abstrakte, ja sogar langweilige Angelegenheit, doch müssen sie bei näherer Hinsicht als Machtfrage gesehen werden. In Wien wurde dies seit den Neunzigerjahren besonders deutlich, da die spö ihre absolute Stimmenmehrheit verloren hatte, aber dennoch – eben aufgrund der spezifischen Gestaltung des Wahlrechts – ihre faktische Alleinregierung bis 1996 verlängern und danach auch zweimal erneuern konnte. Bei der Festlegung des Wahlrechts ist die Wiener Politik an die Vorgaben der Bundesverfassung gebunden : Die Landtage müssen »auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes […] nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt« werden.76 Spezifische Regelungen der Länder sind möglich, doch dürfen die Bedingungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit nicht enger gezogen werden als auf Bundesebene.77 Nach 1945 waren in Wien folgende Aspekte des Wahlrechts umstritten : vor allem die Frage der »Gerechtigkeit« des Wahlsystems, also das Prinzip der Mandatsaufteilung auf Basis der Stimmenanteile ; die Personalisierung des Wahlrechts, das heißt die größere Einflussnahme der Wähler auf die Auswahl der Mandatare ; sowie die Möglichkeit der Briefwahl. Der vierte zentrale Streitpunkt ist nun die Frage des Ausländerwahlrechts, doch setzte diese Debatte erst in den Neunzigerjahren ein. Seit dem 1995 erfolgten Beitritt Österreichs zur eu sind Unionsbürger bei Bezirksvertretungswahlen (vgl. Abschnitt 5) wahlberechtigt. Ein 2003 von spö und Grünen beschlossenes Landesgesetz, das auch Migranten ohne Unionsbürgerschaft nach fünfjährigem Aufenthalt das Wahlrecht auf Bezirksebene gewährt hätte, wurde nach einem Einspruch der Bundesregierung, das heißt der damaligen övp-fpö-Koalition, vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben.78 Tabelle 2 gibt einen Überblick über die – politisch relevanten – Änderungen des Wiener Wahlrechts seit 1945. Die Jahresangaben beziehen sich dabei nicht auf die Beschlussfassung, sondern auf die erstmalige Umsetzung einer Wahlrechtsänderung. Bei der Anzahl der Wahlkreise wirkte 1945 und 1949 die zu dieser Zeit noch offene Frage der Grenzziehung zu Niederösterreich nach, weshalb die sieben bei den Nationalratswahlen damals geltenden Wiener Wahlkreise auch bei den Gemeinderatswahlen verwendet wurden. 1954 wurden in Anlehnung an die Regelungen der Zwischenkriegszeit wieder die Bezirke als Wahlkreise bestimmt. Aufgrund der Existenz mehrerer kleiner Stadtviertel führte diese Regelung zu einer klaren Benachteiligung der damaligen Kleinparteien fpö (bzw. VdU) und kpö : Je geringer die Anzahl der zu vergebenden Mandate in einem Wahlkreis ist, desto schwieriger wird es für kleine Parteien, ihre Stimmen- in entsprechende Mandatsanteile umzusetzen. Seit einer 1978 durchgeführten Wahlrechtsreform werden die kleinen, innerstädtischen Be54
die politische entwicklung wiens
Tabelle 2: Änderungen des Wahlrechts, 1945–2010 erstmalige Anwendung
Anzahl der Wahlkreise
1945
7
Qualifikation für Mandatsvergabe (zweites Ermittlungsverfahren) Grundmandat
1949 1954
2005
2010
Persönlichkeitswahl/ Vorzugsstimmen
Briefwahl
21
29
—
—
20
26
—
—
—
—
Grundmandat oder 5 %
1969 1978
passiv
23
1959
1996
Wahlalter aktiv
—
—
—
—
19
25 19
—
—
18
18
auf Wahlkreis- und Stadtebene je eine Stimme
—
auf Wahlkreis ebene eine, auf Stadtebene zwei Stimmen
—
18
16
mittels Wahlkarte
Quelle : Landesgesetzblatt für Wien (z.T. online unter http ://www.wien.gv.at/recht/landesrecht-wien/landesgesetzblatt/index.htm ; aufgerufen am 25.7.2011).
zirke nun in zwei Wahlkreisen zusammengefasst, was deren Anzahl auf insgesamt 18 reduziert. Bis einschließlich 1954 galt die Grundmandatshürde als Voraussetzung für die Beteiligung an der Vergabe der Mandate im zweiten Ermittlungsverfahren (Qualifikation für Mandatsvergabe). Ab 1959 wurde die Beteiligung an der Verteilung dieser restlichen Mandate durch eine alternativ wirksame Fünf-Prozent-Hürde ermöglicht. Dies war eine direkte Folge des Abschneidens des VdU, der 1954 den Wiedereinzug in den Gemeinderat verpasst hatte. Eine alleinige Vertretung des »bürgerlichen Lagers« durch die övp wollte die spö damit verhindern und nahm das mittelfristige Überleben der kpö in Kauf.79 Beide Kleinparteien – fpö und kpö – verdankten bei den kommenden Wahlen ihre parlamentarische Existenz allein der Prozenthürde, da sie in keinem Wahlkreis ein Grundmandat erreichten. Den Einfluss der bislang erwähnten Wahlrechtsaspekte zeigt ein Vergleich von Stimmen- und Mandatsprozenten : Über alle Wahlen nach 1945 hinweg erreichte die spö hier ein Plus von 4,9 Prozentpunkten. Im Schnitt errang sie also fünf Sitze mehr, als ihr Stimmenanteil bei einer perfekten Verhältniswahl ergeben hätte. Bei der övp liegt dieser Wert im Mittel bei +0,7. In den letzten zwanzig Jahren war er aufgrund der Stimmenverluste aber stets im negativen Bereich. Deutlicher sind die Unterschiede bei der fpö, die im Schnitt bei –1,9 Prozentpunkten liegt. Erst 55
martin dolezal seit den Neunzigerjahren (außer 2005) erreichte die fpö hier immer einen positiven Wert, wogegen die Grünen und die kpö verglichen mit ihren Stimmenanteilen stets einen relativ geringeren Sitzanteil erwarben. Besonders auffällig werden die Abweichungen jedoch dann, wenn sie aus relativen absolute Mehrheiten erzeugen. Bei immerhin vier von 15 seit 1945 abgehaltenen Gemeinderatswahlen profitierte die spö von solchen »künstlichen Mehrheiten« : 1949, 1991, 2001 und 2005. Abgesehen von 1949, als die spö eine Koalition mit der övp einging, wurden diese Mehrheiten auch zur Bildung von (faktischen) Alleinregierungen genützt. Die übrigen Parteien sprechen sich daher seit Längerem für eine Reform des Wahlrechts aus. Anfang 2010 verpflichteten sich övp, fpö und Grüne sogar per »Notariatsakt«, gemeinsam eine Reform des Wahlrechts zu initiieren80 – unabhängig von ihrer künftigen Rolle als Oppositionspartei oder (möglicher) Koalitionspartner der spö. Im Bereich des aktiven und des passiven Wahlalters folgte Wien zunächst der Entwicklung auf der Bundesebene, doch wurde das passive Wahlalter bereits bei der Gemeinderatswahl 1978 auf 19 Jahre gesenkt. 1981 wurde das aktive mit dem passiven Alter gleichgesetzt,81 weshalb seit 1996, nach einer Senkung des aktiven Wahlalters, nun auch Achtzehnjährige in den Gemeinderat gewählt werden können. Mit der 2005 erstmals angewandten Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre wurde diese Parallelität wieder aufgegeben. Die Schaffung eines Persönlichkeitswahlrechts, also die Möglichkeit, nicht nur Parteien, sondern auch einzelne Kandidaten zu wählen, war in Wien – wie auf der Bundesebene – stets ein besonderes Anliegen der övp. Doch noch bei der Wahlrechtsreform von 1978 wurde das reine Listenwahlrecht beibehalten, obwohl der damalige Bürgermeister Gratz in den Sechzigerjahren zu den Proponenten einer personalisierten Verhältniswahl auf Bundesebene gezählt hatte.82 Erst seit 1996 können die Wähler Kandidaten auf Ebene der Wahlkreise sowie des Stadtwahlvorschlags (das heißt bei der Verteilung der Restmandate) präferieren. Die Hürden für die Wähler sind hier aber höher gesetzt als bei Nationalratswahlen, da auf beiden Ebenen die Namen der Kandidaten auf den Stimmzettel geschrieben werden müssen und nicht angekreuzt werden können. Bislang hat es daher nur ein einziger Kandidat geschafft, von einem hinteren Listenplatz aus mittels Vorzugsstimmen einen Sitz im Stadtparlament zu gewinnen : Der auf diesem Weg bei der Gemeinderatswahl 2010 gewählte Kandidat der Grünen, Alexander Van der Bellen, nahm sein Mandat jedoch nicht an.83 Die Briefwahl, eine weitere jahrzehntelange Forderung der övp,84 wurde 2010 erstmals umgesetzt. Keine Konflikte gab es um die Länge der Legislaturperiode, die in Wien stets – wie in allen übrigen Bundesländern (außer Oberösterreich) – fünf Jahre betrug. Eine Wahlpflicht bestand im Gegensatz zu anderen Ländern nie. Restriktiver als die Bundesländer Niederösterreich und Burgenland definiert das Wiener Wahlrecht schließlich den Kreis der Wahlberechtigten : Nur »Gemeindemitglieder«, das heißt 56
die politische entwicklung wiens österreichische Staatsbürger mit einem Hauptwohnsitz in Wien, sind wahlberechtigt. Wie in den sechs übrigen Bundesländern ist ein Zweitwohnsitz dafür nicht ausreichend.85
3.3 Funktionen und Rollen des »Sta dtparlaments« Zwar sollte dem von den Wienern direkt gewählten Gemeinderat/Landtag eine zent rale Rolle im politischen System der Bundeshauptstadt zukommen, doch wurde sein tatsächlicher Einfluss häufig als minimal eingestuft. Die Dominanz der spö-geführten Regierung und die lange Zeit fehlenden Minderheitenrechte reduzierten den parlamentarischen Charakter der Wiener Politik, so die sehr kritische Einschätzung etwa von Heinrich und Wiatr, »zur reinen Fassade«.86 Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass nur sehr wenige Publikationen87 über die Praxis der parlamentarischen Arbeit in Wien vorliegen, weshalb diese hier auch nur sehr kursorisch dargestellt werden kann. Da über die Tätigkeit der einzelnen Parlamentarier letztlich keine (aktuellen) Informationen vorhanden sind, müssen sich die folgenden Ausführungen auf organisatorische Aspekte sowie auf eine Diskussion der verschiedenen Rollen des Stadtparlaments beschränken. Hierbei können unterschiedliche »Funktionen« differenziert werden, welche Parlamente generell ausüben : vor allem die Gesetzgebungsfunktion, die Wahlfunktion und die Kontrollfunktion. Die im Falle Wiens zu klärende Frage lautet dann, welche Bedeutung den einzelnen Funktionen beziehungsweise Aufgabengebieten generell zukommt und welche Unterschiede zwischen Gemeinderat und Landtag in diesem Zusammenhang bestehen. Zunächst ist es auch für interessierte Beobachter der Wiener Politik schwierig, zwischen den Tätigkeiten des Gemeinderats und des Landtags zu unterscheiden. Der Gemeinderat, der personalident als Landtag arbeitet, zählt seit 1945 durchgängig hundert Sitze und ist damit deutlich größer als die Vertretungskörper der übrigen Bundesländer, die aktuell 36 oder 56 Sitze aufweisen. Neben der personellen Identität seiner »Mitglieder« (Gemeinderat) beziehungsweise »Abgeordneten« (Landtag) wird auch in vielen organisatorischen Belangen nicht zwischen den beiden Gremien differenziert : So sind die Klubs des Gemeinderats auch die Klubs des Landtags. Die Klubs verfügen erst seit 1973 über eigene Räumlichkeiten und öffentlich finanziertes Personal. Seit 1978 sind sie auch rechtlich, das heißt in der Geschäftsordnung, verankert, wobei für die Klubbildung zunächst drei Mandate vorgeschrieben waren. Um der fpö den Klubstatus nach 1983 zu sichern, wurde diese Hürde auf zwei Mandatare gesenkt,88 2001 aber wiederum auf drei erhöht.89 Angesichts der Größe des Stadtparlaments ist die Hürde für die Klubbildung dennoch sehr niedrig geblieben und deutlich minderheitenfreundlicher gestaltet als in allen anderen 57
martin dolezal Landtagen, wo zu Beginn der Zweitausenderjahre zwischen 3,5 (Oberösterreich) und 11,1 Prozent der Mandate (Kärnten) für die Klubbildung erforderlich waren.90 Da kleine Parteien im Normalfall über die Prozenthürde in das Stadtparlament einziehen, gab es in Wien noch keinen Fall, bei dem Abgeordnete einer wahlwerbenden Partei aufgrund einer zu geringen Anzahl keinen Klub bilden konnten. Gewisse Differenzen zwischen dem Gemeinderat und dem Landtag bestehen bei der Organisation der Führungsgremien, die sich in Bezug auf die Anzahl der Mitglieder sowie die Bestimmungen zur Wählbarkeit unterscheiden. Laut Wiener Stadtverfassung können im Gemeinderat zwischen drei und sechs Vorsitzende bestellt werden.91 Von 1945 bis 1996 gab es stets die maximale Anzahl von sechs Vorsitzenden, seit damals nur vier. Das Präsidium des Landtags bestand hingegen immer aus drei Personen. Während im Falle des Landtags – ähnlich wie im Nationalrat – durchgehend eine nominelle Hierarchie der Präsidenten bestand, wurden die Vorsitzenden des Gemeinderats bis 1973 in keiner Rangordnung gewählt. Im Falle des Landtags sind Regierungsmitglieder – sofern sie parallel überhaupt ein Mandat ausüben (siehe Abschnitt 4) – von der Wahl in das Präsidium ausgeschlossen. Bei den Vorsitzenden des Gemeinderats gilt diese Regelung nur für amtsführende Stadträte, weshalb bis in die Siebzigerjahre immer die amtierenden Bürgermeister unter den Vorsitzenden aufschienen. Auch der erste als »Erster Vorsitzender« gewählte Mandatar war 1973 mit Leopold Gratz der damalige Bürgermeister. Grundsätzlich können die Führungspositionen in den beiden Gremien auch gleichzeitig ausgeübt werden. Auf Basis von Recherchen92 konnten 13 Personen identifiziert werden, die bis Ende 2010 sowohl Gemeinderatsvorsitzende als auch Landtagspräsidenten waren, wovon die Hälfte ihre Ämter zumindest teilweise auch parallel führte. Tabelle 3 listet die Ersten Vorsitzenden des Gemeinderats seit 1973 und die Ersten Präsidenten des Landtags seit 1945 auf. Da grundsätzlich die stärkste Partei den Ersten Vorsitzenden beziehungsweise Präsidenten stellt, waren es generell Vertreter der spö, die diese Spitzenpositionen im Stadtparlament einnahmen. Nur im Rahmen der 1996 zwischen spö und övp eingegangenen Koalition (siehe Abschnitt 4) wurde vereinbart, dass die övp den Vorsitz im Landtag führt. Die durchschnittliche Amtszeit der Ersten Vorsitzenden (des Gemeinderats) ist mit 3,7 Jahren etwa ein Jahr kürzer als jene der Ersten Präsidenten (des Landtags), die im Schnitt bisher 4,8 Jahre lang amtierten, das heißt nahezu eine volle nominelle Legislaturperiode. Im Bereich der Gemeinderatsvorsitzenden ist der Durchschnittswert jedoch wenig aussagekräftig, da er von der sehr langen Amtszeit Rudolf Hundstorfers (1995–2007) verzerrt wird. Mehrere Erste Vorsitzende waren hingegen nur sehr kurz im Amt, doch waren sie meist länger Teil des Vorsitzendengremiums, in dem sie auch während einer Legislaturperiode mehrfach innerhalb der verschiedenen Plätze wechselten – wenngleich immer nur in Richtung »höherer Ränge«. Während bei insgesamt zehn Ersten Vor58
die politische entwicklung wiens sitzenden mit Eveline Andrlik bislang nur eine einzige Frau den Gemeinderat führte, besetzten im Landtag weibliche Abgeordnete fünf von 14 Spitzenpositionen. Tabelle 3: Die Ersten Vorsitzenden des Gemeinderats (1973–2010)1 und die Ersten Präsidenten des Landtags (1945–2010)
Amtsdauer (Jahre)
Johann Neubauer
SPÖ
13.12.1945
05.12.1949
4,0
Leopold Mayrhofer
SPÖ
13.11.1978
19.01.1985
6,2
Bruno Marek
SPÖ
05.12.1949
10.06.1965
15,5
Leopold Wiesinger
SPÖ
25.01.1985
08.03.1986
1,1
Wilhelm Stemmer
SPÖ
10.06.1965
23.11.1973
8,5
1,7
Maria Hlawka
SPÖ
23.11.1973
13.11.1978
5,0
0,9
Reinhold Suttner
SPÖ
13.11.1978
13.02.1979
0,3
1,0
Hubert Pfoch
SPÖ
14.02.1979
28.09.1984
5,6
1,2
Günther Sallaberger
SPÖ
28.09.1984
09.12.1987
3,2
4,0
Fritz Hofmann
SPÖ
09.12.1987
28.02.1991
3,2
11,9
Eveline Andrlik
SPÖ
01.03.1991
09.12.1991
0,8
(3,9)2
Christine Schirmer
SPÖ
09.12.1991
07.11.1994
2,9
Ingrid Smejkal
SPÖ
07.11.1994
29.11.1996
2,1
Maria HampelFuchs
ÖVP
29.11.1996
27.04.2001
4,4
Johann Hatzl
SPÖ
27.04.2001
29.10.2008
7,5
Harry Kopietz
SPÖ
29.10.2008
—
(2,2)2
Gerhard Lustig Eveline Andrlik Ernst Outolny Herbert Dinhof Rudolf Hundstorfer Godwin Schuster
SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ
14.03.1986 09.12.1987 16.12.1988 15.12.1989 01.03.1991 17.03.1995 25.01.2007
08.12.1987 18.11.1988 15.12.1989 01.03.1991 17.03.1995 25.01.2007 —
bis
5,0
von
12.11.1978
Partei
23.11.1973
bis
Partei SPÖ
von
Name Leopold Gratz
Otto Hirsch
Name
Landtag Amtsdauer (Jahre)
Gemeinderat
Quelle : Internetauftritt der Stadt Wien, vgl. http ://www.wien.gv.at/kultur/archiv/politik/chronologisch. html#jahr2005, aufgerufen am 30.8.2011 ; Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Wiener Gemeinderat, Wiener Landtag, Register zu den Sitzungen der Funktionsperiode, Teil 2 Personenregister. Wien (diverse Jahrgänge) ; zusätzliche Recherchen über Meldungen der Rathauskorrespondenz sowie Wolfgang Solt, Biographien der Gemeinderäte, Abgeordneten und Bezirksvorsteher 1918–2003 (Loseblattsammlung), Wien 2003. Anmerkung en : 1 Erst seit 1973 werden die Vorsitzenden in einer Rangordnung gewählt. – 2 Stichtag : 31.12.2010.
59
martin dolezal
Grafik 2: Tätigkeitsprofil des Landtags (LT) und des Gemeinderats (GR) : Sitzungshäufigkeit (Linien) und Gesetzesbeschlüsse (Säulen), 1946–2010 70 60 50 Gesetze (LT)
40
GR-Sitzungen
30
LT-Sitzungen
20
GR-Sitzungstage
2006
2001
1996
1991
1986
1981
1976
1971
1966
1961
1956
1951
0
1946
10
Quellen : Gesetzesbeschlüsse 1945–2004 laut Landesgesetzblatt für Wien ; Sitzungshäufigkeit 1945–1997 laut Amtsblatt der Stadt Wien (Jahresinhaltsverzeichnisse). Sitzungshäufigkeit ab 1998 laut Gemeinde Wien, Geschäftsstelle Landtag, Gemeinderat, Landesregierung und Stadtsenat (vgl. http ://www.wien.gv.at/politikverwaltung/land-gemeinde.html ; aufgerufen am 29.7.2011), Gesetzesbeschlüsse ab 2005 laut Gemeinde Wien, Presse- und Informationsdienst (vgl. http ://www.wien.gv.at/recht/landesrecht-wien/landesgesetzblatt/index.htm ; aufgerufen am 29.7.2011). Anmerkung : Fest- und Trauerakte sowie Gedenksitzungen wurden in die Sitzungsstatistik nicht aufgenommen.
Das eigentliche Tätigkeitsprofil des Stadtparlaments kann zunächst anhand der Sitzungshäufigkeit des Gemeinderats und des Landtags sowie der Anzahl der (stets im Landtag) beschlossenen Gesetze erfasst werden. Beim Recht zur Einberufung der Sitzungen enthält die Stadtverfassung unterschiedliche Bestimmungen : Beide Gremien treten zusammen, »sooft es die Geschäfte erfordern«, wobei die Stadtverfassung für den Landtag grundsätzlich eine zweimonatige Sommerpause vom 15. Juli bis zum 15. September vorsieht.93 Während Sitzungen des Gemeinderats im Allgemeinen vom Bürgermeister einberufen werden, ist für Sitzungen des Landtags dessen Erster Präsident zuständig.94 In beiden Gremien besteht jedoch für ein Viertel der Mandatare oder einen Klub die Möglichkeit, eine Einberufung innerhalb von drei Wochen zu erzwingen. Allerdings ist jeder Mandatar beziehungsweise Klub dazu nur einmal pro Jahr berechtigt.95 Grafik 2 zeigt die Häufigkeit der Sitzungen und die Anzahl der Gesetzesbeschlüsse für den Zeitraum von 1946 bis 2010. Im Jahr 1945 gab es eine Sitzung des Landtags, ferner wurden zwei Landesgesetze beschlos60
die politische entwicklung wiens sen. Letztere wurden jedoch vom provisorischen Stadtsenat, der vorübergehend auch als Gesetzgeber fungierte, entschieden, weshalb diese Daten nicht in die Grafik aufgenommen wurden. In Bezug auf die Sitzungshäufigkeit zeigt der Längsschnitt von 1946 bis 2010, dass der Charakter der Gemeindeversammlung wichtiger ist als jener des Landesparlaments.96 Vor allem in den ersten Jahren gab es auch deshalb deutlich mehr Sitzungen des Gemeinderats, da es regelmäßig zu besonderen, »nicht öffentlichen Sitzungen« kam, die zusätzlich abgehalten wurden. Solche Sitzungen gab es später nur mehr sehr selten ; die Verhandlungen im Plenum werden – wie in Parlamenten generell üblich – bis auf wenige Ausnahmen97 grundsätzlich öffentlich geführt. Die intensivere Tätigkeit der Mandatare als Gemeindevertreter wird aber vor allem dann sichtbar, wenn zusätzlich die Länge der Sitzungen berücksichtigt wird, da diese zum Teil über mehrere Tage verliefen. Lange Zeit war es ferner Usus, die Landtagssitzungen bloß im direkten Anschluss an Gemeinderatssitzungen einzuberufen, die dann regelmäßig bis spät in die Nacht andauerten. Erst nach 1996 ist man davon abgegangen.98 Während das Budget im Gemeinderat beschlossen wird, obliegt die Gesetzgebungsfunktion allein dem Landtag. Im Bereich der Gesetzesproduktion ist im Zeitverlauf insgesamt ein Anstieg erkennbar. Dies gilt auch ohne den einmaligen Spitzenwert von 2001, für den zum Teil die im darauffolgenden Jahr eingeführte neue europäische Währung verantwortlich war, da in einigen Gesetzen Geldbeträge in Schilling durch solche in Euro ersetzt werden mussten. Einen Bedeutungsverlust des Landtags hinsichtlich dieses naturgemäß rein formalen Aspekts zeigen die Daten daher nicht. Bei der Frage, wer für den Inhalt der Gesetze sorgt, kann wie im Nationalrat auf deren unterschiedliche Herkunft verwiesen werden : Leider sind diesbezüglich keine Informationen für einen Längsschnitt vorhanden. In der von 1996 bis 2001 laufenden Gesetzgebungsperiode basierten jedoch alle im Wiener Landtag beschlossenen Gesetze auf Regierungsvorlagen und kein einziges auf einem Initiativantrag der Abgeordneten.99 Der faktische Einfluss der Landtagsabgeordneten auf die Gesetzgebung kann daher als gering eingeschätzt werden. Auch die Kontrollfunktion des Gemeinderats/Landtags war lange Zeit sehr schwach ausgeprägt. Erst seit 1978 besteht die Einrichtung einer Fragestunde, bei der die Mandatare ihre Anfragen an den Bürgermeister beziehungsweise die amtsführenden Stadträte direkt richten können. Zuvor waren nur schriftliche Anfragen möglich.100 Weitergehende Kontrollmöglichkeiten wurden im Jänner 2001 beschlossen, wobei die damals geschaffene Möglichkeit der Einrichtung von Untersuchungskommissio nen (Gemeinderat) und Untersuchungsausschüssen (Landtag) – im Gegensatz zum Nationalrat – als Minderheitenrecht etabliert wurde. Bereits dreißig Mitglieder beziehungsweise Abgeordnete können ein solches Kontrollgremium einsetzen.101 61
martin dolezal Über die Öffentlichkeitsfunktion des Stadtparlaments liegen keine Studien vor, doch besteht für einen Beobachter der politischen Szene Wiens wohl kein Zweifel daran, dass die öffentliche Auseinandersetzung über Streitfragen der Kommunalpolitik primär in den Medien ausgetragen wird. Abgesehen von der seit Mai 1988 täglich ausgestrahlten regionalen tv-Sendung Wien heute wird in elektronischen oder Printmedien nur sehr selten aus dem Stadtparlament berichtet. Ferner wird bei Beiträgen über politische Streitfragen oder Entscheidungen der Landespolitik dieses Gremium nur selten erwähnt und, wenn überhaupt, dann kaum als zentrale Arena der Wiener Politik. Bereits seit Juni 2000102 besteht für Interessierte jedoch die Möglichkeit, die Sitzungen via Internet als Livestream zu verfolgen.103 Bei der Wahlfunktion des Stadtparlaments ist eindeutig der Gemeinderat das dominante Gremium, da vor allem der Bürgermeister, die amtsführenden Stadträte sowie die Stadträte ohne Ressort von ihm gewählt werden. Dem Landtag obliegt hingegen die Wahl der Wiener Mitglieder des Bundesrats. Im Gegensatz zum Nationalrat wird die zweite Parlamentskammer auf Bundesebene nicht direkt gewählt, sondern von den neun Landtagen – und daher auch dem Wiener Landtag – beschickt. Anders als zur alltäglichen Arbeit der Mandatare liegen über Aspekte der sozialen Repräsentativität der Abgeordneten einige Studien vor. So lag etwa der Frauenanteil erst seit 1987 über zwanzig Prozent,104 doch ist er höher als in den anderen Bundesländern. Mitte der Neunzigerjahre lag Wien hier auf Platz 1.105 Der sozialstrukturelle Hintergrund der Abgeordneten, ein weiterer Faktor ihrer demografischen Repräsentativität, widerspiegelt weitgehend die gesamtgesellschaftliche Entwicklung : So ging etwa der Anteil der (Fach-)Arbeiter über die Jahrzehnte zurück, während der Akademikeranteil von anfänglich einem Fünftel bis in die späten Neunzigerjahre auf rund ein Drittel anwuchs.106 Die im Zeitverlauf gesunkene Verweildauer im Gemeinderat/Landtag von etwa zehn auf rund fünf Jahre107 – also auf nur eine einzige Wahlperiode – deutet an, dass das Amt für viele Abgeordnete nur einen Zwischenschritt in ihrer politischen Karriere darstellt. Auch dieser Umstand schwächt die Position des Stadtparlaments, da mit dem Ausscheiden erfahrener Mandatare das Parlament nicht mehr auf deren Expertise zurückgreifen kann.
4. Bürgermeister und Stadtr äte : Die Regierung In allen modernen Demokratien gilt die Regierung als das eigentliche Zentrum der politischen Macht : Die Parlamente geraten dabei aufgrund ihrer schlechteren Ausstattung und des damit verbundenen geringeren Know-hows in den Hintergrund. Auch die in größeren Gremien automatisch langsamer ablaufenden Entscheidungsprozesse stehen häufig in einem Konflikt zu den immer schneller ablaufenden politi62
die politische entwicklung wiens schen Vorgängen. Die Wiener Regierung, der Stadtsenat, besteht aus den Stadträten und dem Bürgermeister, die beide vom Gemeinderat gewählt werden und gleichzeitig die Funktion der Landesregierung beziehungsweise des Landeshauptmanns ausüben. Verglichen mit dem Gemeinderat/Landtag sind die amtsführenden Stadträte und vor allem der Bürgermeister ohne Zweifel die zentralen Akteure der Wiener Politik.
4.1 Der Sta dtsenat Die Mitglieder des Stadtsenats werden vom Gemeinderat zu Beginn einer neuen Legislaturperiode beziehungsweise nach Ausscheiden eines Amtsträgers gewählt. Sie müssen nicht dem Gemeinderat angehören, aber zu ihm wählbar sein. Lange Zeit war eine Ämterkumulierung von Gemeinderatssitz und Regierungssitz jedoch die Regel : Drei Viertel der in den Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahren (erstmals) in die Regierung eingetretenen Politiker hatten parallel dazu einen Sitz im Stadtparlament ; von den in den Siebzigerjahren angetretenen Regierungsmitgliedern jedoch nur mehr ein Drittel.108 Seit den Achtzigerjahren wurde von der Ämterkumulierung schließlich nahezu vollständig abgegangen109 und eine klarere Trennung zwischen Legislative (Gesetzgebung) und Exekutive (Regierung) geschaffen. Dies ist in einem parlamentarischen Regierungssystem jedoch nicht grundsätzlich notwendig, da der eigentliche Gegensatz nicht zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien besteht. Für die klarere Trennung der »Gewalten« spricht aber auch ein pragmatischer Grund : Sie ermöglicht es den Wiener Parteien, mehr Personen mit öffentlichen Ämtern auszustatten.110 Zwei der gewählten Stadträte werden in einem eigenen Wahlgang als Vizebürgermeister bestellt. Während die stärkste Partei ein Vorschlagsrecht für einen der Vizebürgermeister hat, kommt der zweitstärksten Partei dieses Recht dann zu, wenn sie zumindest ein Drittel der Gemeinderatsmandate gewonnen hat.111 Bei Koalitions regierungen (siehe unten) war es in den letzten Jahren jedoch üblich, dass der kleinere Partner (der spö) auch dann einen Vizebürgermeister stellt, wenn er weniger als ein Drittel der Mandate kontrolliert. Beide Koalitionspartner der spö – övp und Grüne – lagen in den letzten Jahren sehr deutlich unter diesem Anteil. Andererseits gibt es die Konstellation, in der eine Oppositionspartei aufgrund ihrer Mandatsstärke den Vize-Regierungschef stellen kann : Von 1978 bis 1987 war övp-Stadtrat Busek deshalb auch Vizebürgermeister und Landeshauptmann-Stellvertreter – aber kein amtsführender Stadtrat. Über die Interna der Regierung sind in der Literatur nur spärliche Hinweise vorhanden.112 Seit 1998 können jedoch Berichte über die in der Regel wöchentlich ab63
martin dolezal gehaltenen Sitzungen von der Website der Stadt Wien bezogen werden.113 Inwieweit etwa alltägliche, in erster Linie administrative oder auch substanzielle Entscheidungen der Regierung im Konsens mit den Stadträten ohne Ressort oder mit Mehrheit (der spö) getroffen werden, könnte auf diesem Weg systematisch erfasst werden. Tabelle 4 gibt einen Überblick über die Zusammensetzung der Wiener Regierungen seit 1945. Diese Darstellung orientiert sich an dem politikwissenschaftlichen Begriff des »Kabinetts«. Im Gegensatz zu den »Amtsperioden«, der formal korrekten Bezeichnung für die Identifikation der einzelnen Regierungen, werden die Kabinette nach dem Regierungschef, das heißt nach dem Bürgermeister, benannt. Zu einem Wechsel des Kabinetts kommt es immer dann, wenn zumindest eine der drei folgenden Bedingungen erfüllt ist :114 bei einer Veränderung in der Parteienzusammensetzung des Stadtsenats, bei einem Wechsel in der Besetzung des Bürgermeisteramts und nach jeder Gemeinderatswahl. Die nach dieser Definition bisher – bis Ende 2010 – 22 Kabinette weisen konstante und variable Merkmale auf : Konstant ist vor allem die Dominanz der spö, die alle Bürgermeister stellte (siehe Abschnitt 4.2). Die spö regierte jedoch nicht immer allein, sondern in wechselnden Formen der Zusammenarbeit mit bis heute insgesamt drei anderen Parteien : der övp, der kpö und den Grünen. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1945 bis 1949, stellten alle drei damals bestehenden Parteien (spö, övp und kpö) – analog zur Bundesregierung – amtsführende Stadträte in den Kabinetten Körner i und ii. Zunächst war diese Allparteienregierung im April 1945 provisorisch vom sowjetischen Stadtkommandanten mit nachfolgender Billigung durch die westlichen Alliierten (und die provisorische Staatsregierung) eingesetzt worden. Die kpö hatte dabei ursprünglich gleich viele Regierungssitze wie die spö gefordert, akzeptierte dann aber die Dominanz der spö und begnügte sich wie die övp mit einem Viertel der Sitze.115 Mit der im November 1945 erfolgten ersten Gemeinderatswahl der Zweiten Republik wurde diese Machtverteilung demokratisch legitimiert. Die kpö, die auf Basis des für sie überraschend schlechten Wahlergebnisses von acht Prozent und sechs von hundert Mandaten nun keinen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung gehabt hätte, erhielt im Hinblick auf die Beziehung zur sowjetischen Besatzungsmacht aber erneut einen Sitz.116 Nach dem Ausscheiden der kpö aus der Stadtregierung folgten von 1949 (Kabinett Körner iii) bis 1973 (Gratz i) Koalitionsregierungen von SPÖ und ÖVP. Historisch ging diese Zusammenarbeit auf eine Vereinbarung im Bund zurück, da die Parteien in ihren Koalitionsverträgen zunächst auch die Zusammenarbeit in den Ländern festlegten.117 Aus Sicht der spö erfolgte diese Zusammenarbeit in Wien freiwillig, verfügte sie doch durchgängig über eine absolute (Mandats-)Mehrheit. Die Arbeitsübereinkommen legten fest, dass die övp amtsführende Stadträte stellte, doch waren Mehrheitsentscheidungen gegen sie immer möglich, da die spö – im 64
die politische entwicklung wiens Gegensatz zum Konsensprinzip in der Bundesregierung – der övp kein absolutes Veto zubilligte.118 Von 1973 (Gratz ii) bis 1996 (Häupl i) regierte die spö de facto allein, da nur sie amtsführende Stadträte stellte. Die Zusammenarbeit mit der övp war bereits länger von Konflikten geprägt gewesen. Zuletzt, in den Jahren von 1969 bis 1973, hatten sich die Parteien nicht mehr auf ein gemeinsames (schriftliches) Arbeitsübereinkommen verständigen können. Die Wahl von Gratz zum Bürgermeister während der laufenden Legislaturperiode wurde von den övp-Mandataren – im Gegensatz zur Bestellung Slaviks – nicht mehr unterstützt. Nach der Gemeinderatswahl von 1973 scheiterten Koalitionsverhandlungen dann an einem Konflikt über Tarif- und Gebührenerhöhungen, da die spö eine fixe Zusage der övp einforderte, sowie an zwei großen und umstrittenen Bauvorhaben der Siebziger- und Achtzigerjahre : der Errichtung der uno-City, bei der die spö für eine »große Lösung«, das heißt für ein eigenes Konferenzzentrum, eintrat, und der Neugestaltung des Donaugebiets.119 Im Rahmen der Maßnahmen zum Schutz Wiens vor Hochwasser trat die spö auch hier für eine »große Lösung« ein, die den Bau der späteren Donauinsel, einer zwanzig Kilometer langen, künstlich angelegten Insel zwischen einem neu geschaffenen Entlastungsgerinne (der Neuen Donau) und dem Hauptstrom, inkludierte. Bereits 1969 hatte sich die övp im Gemeinderat gegen dieses erstmals 1958120 öffentlich präsentierte Projekt ausgesprochen und unterstützte daraufhin den Protest von Bürgerinitiativen, die sich für weniger weitreichende Baumaßnahmen aussprachen.121 Das Ausscheiden aus der Regierung war 1973 innerhalb der övp aber nicht unumstritten : So sprach sich etwa die amtsführende Stadträtin Maria Schaumayer für den Verbleib aus, wogegen gerade die Junge Volkspartei für die Oppositionsrolle plädierte.122 Wahltaktisch, so die weitverbreitete Meinung in der övp, hatte sich die Koalition schlichtweg nicht ausgezahlt : Vor allem die Wechselwähler, so die Einschätzung eines Kenners der Partei, »nahmen der övp die Mitbestimmung kaum ab, belasteten sie aber mit der Mitverantwortung«.123 Aufgrund der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Proporzregierung wurden nun erstmals seit der Ersten Republik auch Stadträte ohne Ressort bestellt. Zunächst stellte nur die övp solche Regierungsmitglieder, später auch die fpö (seit 1987) und die Grünen (seit 1991). Nach dem Verlust der absoluten Mandatsmehrheit bei der Gemeinderatswahl von 1996 kam es im Kabinett Häupl ii – dem Muster der Bundespolitik folgend – erneut zu einer Koalition von spö und övp. Nach dem Rückgewinn der Mehrheit waren die nachfolgenden Kabinette Häupl iii und iv wieder Alleinregierungen der spö ; 2010 führte der erneute Verlust der absoluten Mehrheit zu einer Koalition mit den Grünen (Häupl v). Seit 1945 hat die spö somit mit drei der vier übrigen, längerfristig im Gemeinderat vertretenen Parteien koaliert. Allein die fpö blieb stets in der (faktischen) Oppositionsrolle. 65
martin dolezal Tabelle 4 enthält ferner Angaben zur Dauer der Regierungsbildung, der Amtsdauer der einzelnen Kabinette sowie zum Wahlergebnis des Bürgermeisters bei seiner Bestellung durch den Gemeinderat. Bei der Dauer der Regierungsbildung zeigen die Daten den naheliegenden Zusammenhang zwischen der Regierungsform und der Länge der Verhandlungen. Bei den Alleinregierungen der spö erfolgte die Amtseinführung im Durchschnitt bereits 32 Tage nach der Gemeinderatswahl, bei den Koalitionen mit der övp beziehungsweise den Grünen dauerte es mit durchschnittlich 49 Tagen rund zwei Wochen länger. Die Amtsdauer der Kabinette könnte grundsätzlich als Maß für deren Stabilität herangezogen werden, doch kam es aufgrund der Wechsel der Bürgermeister und aus taktischen Gründen vorgezogener Neuwahlen recht häufig zu einer Verkürzung der Amtszeit, weshalb nur vier Kabinette die maximale Periode von fünf Jahren ausnutzten. Die Wahlergebnisse der Bürgermeister können schließlich als Gradmesser für das generelle Konfliktniveau innerhalb des Gemeinderats beziehungsweise zwischen den Parteien herangezogen werden und sind auch ein Maßstab für den Zusammenhalt einer Regierung. In der Phase der Koalitionen von spö und övp erhielt der Bürgermeister nur ein einziges Mal das volle Ausmaß an Unterstützung aus den eigenen Reihen (Körner iii), doch muss einschränkend angemerkt werden, dass der extrem hohe gemeinsame Mandatsanteil von spö und övp dazu führen konnte, dass Abgeordnete es etwa aus gesundheitlichen Gründen eher in Erwägung zogen, der Abstimmung fernzubleiben : Die Wahl des Bürgermeisters war auf keinen Fall gefährdet. Extrem niedrig war die Zustimmung schließlich bei der ersten Wahl von Gratz, der nur 62 von 93 möglichen Koalitionsstimmen erhielt und anscheinend – die Wahlen finden stets geheim statt – nur von der eigenen Partei unterstützt wurde, die damals 63 Mandate hatte. Ein Mandatar der spö war krankgemeldet.124 Seit den Achtzigerjahren erhielt der Bürgermeister jedoch fast immer eine höhere Zustimmung, als aufgrund der Regierungsstärke zu erwarten gewesen wäre. Dieser Indikator deutet somit keineswegs eine gewachsene Konfliktintensität der Wiener Politik an. Über die Rekrutierung der Wiener Regierungsmitglieder liegen in der Literatur keine systematischen Informationen vor. Eine vergleichende Untersuchung der Landesregierungen Salzburgs, der Steiermark und Vorarlbergs zeigte, dass etwa die Landtage »keine vorrangigen Personalreservoirs«125 für die Regierungen darstellen. Im Falle des Wiener Stadtsenats zeigt sich jedoch ein anderes Bild : Insgesamt waren 125 Personen in den Kabinetten Körner I bis Häupl V Stadträte, amtsführende Stadträte oder Bürgermeister. Knapp sechzig Prozent aller Regierungsmitglieder waren zuvor im Gemeinderat/Landtag tätig, der somit im Falle Wiens eine wichtige Rekrutierungsbasis darstellt. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Vierzigerjahre steigt dieser Wert für die seit 1951 erstmals amtierenden Regierungsmitglieder sogar auf 65 Prozent. Und diese traditionelle Karriereschiene 66
Körner III
09.10.1949
Jonas IV
25.10.1964
Zilk III
10.11.1991
Häupl III
Häupl IV
Häupl V
25.03.2001
23.10.2005
10.10.2010
46
26
33
47
29
31
33
25.11.2010
18.11.2005
27.04.2001
29.11.1996
07.11.1994
09.12.1991
09.12.1987
10.09.1984
27.05.1983
(aktiv)
5,0
4,6
4,4
2,1
2,9
4,0
3,3
1,3
4,5
5,0
0,4
2,5
1,5
4,0
0,5
5,0
5,0
3,5
1,6
3,8
0,8
Amtsdauer (Jahre)
Koalition
Alleinregierung
Alleinregierung
Koalition
Alleinregierung
Alleinregierung
Alleinregierung
Alleinregierung
Alleinregierung
Alleinregierung
Alleinregierung
Koalition
Koalition
Koalition
Koalition
Koalition
Koalition
Koalition
Koalition
Koalition
Allparteienregierung
Allparteienregierung
(faktische) Regierungsform
SPÖ-Grüne
SPÖ
SPÖ
SPÖ-ÖVP
SPÖ
SPÖ
SPÖ
SPÖ
SPÖ
SPÖ
SPÖ
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP
SPÖ-ÖVP-KPÖ
SPÖ-ÖVP-KPÖ
Regierungsparteien (amtsführende Stadträte)
7
8
8
6
8
8
9
9
9
10
8
10
10
10
8
8
8
8
7
7
7
6
SPÖ
(1)
(2)
(2)
2
(2)
(2)
(4)
(5)
(5)
(5)
(3)
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
3
ÖVP
(3)
(1)
(3)
(4)
(3)
(3)
(1)
0
0
0
0
0
0
0
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
0
0
0 0
0
0
0
0
1
3
KPÖ2
0
—
0
0
—
—
FPÖ2
1
(2)
(1)
(1)
(1)
(1)
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Grüne
amtsführende Stadträte (Stadträte ohne Ressort) ∑
12
13
14
13
14
14
14
14
14
15
11
14
14
14
12
12
12
12
11
11
12
12
60
55
52
58
52
52
62
61
61
62
66
93
93
93
95
95
93
94
87
87
100
Stärke der Regierung (% der Sitze im Gemeinderat)
65
64
59
65
61
52
70
62
61
61
68
62
88
89
91
913
90
92
76
95
96
Wahlergebnis des Bürgermeisters (Stimmen)
Quelle : Rathauskorrespondenz (seit 1995 online unter http ://www.wien.gv.at/rk/online ; aufgerufen am 1.8.2011). Anmerkungen : 1 Zur Definition eines »Kabinetts« vgl. den Haupttext. 2 Vgl. die Angaben bei Grafik 1. 3 Die Wahl des Bürgermeisters erfolgte bereits am 11.12.1964. 4 Im Zuge einer neuen Geschäftseinteilung veränderte sich im September 1976 die Zusammensetzung des Stadtsenats. Die SPÖ stellte nun zehn amtsführende Stadträte, die oppositionelle ÖVP vier Stadträte ohne Ressort. Auf Basis der im Haupttext erwähnten Definition handelt es sich dabei aber um kein neues Kabinett. Notation : – (Partei ist im Gemeinderat nicht vertreten) ; 0 (Partei ist im Gemeinderat vertreten, aber nicht im Stadtsenat).
Häupl II
13.10.1996
Häupl I
Zilk II
08.11.1987
Zilk I
Gratz IV
24.04.1983
13.11.1978
Gratz III
08.10.1978
36
23.11.1973
Gratz II4
21.10.1973
33
05.07.1973
Gratz I
06.06.1969
10.06.1965
19.12.1964
11.12.1959
10.12.1954
22.06.1951
05.12.1949
14.02.1946
17.04.1945
Antritt
21.12.1970
40
55
47
54
57
82
Dauer der Regierungsbildung (Tage)
Slavik
Marek II
Marek I
Jonas III
25.10.1959
27.04.1969
Jonas II
17.10.1954
Jonas I
Körner II
Körner I
Kabinett1
25.11.1945
Gemeinderatswahl
Tabelle 4: Zusammensetzung des Stadtsenats, 1945–2010
die politische entwicklung wiens
67
martin dolezal hat im Zeitverlauf keineswegs an Bedeutung verloren : Von den Mitgliedern des Stadtsenats, die ihr Amt in den vergangenen beiden Jahrzehnten angetreten haben, waren 60 (Neunzigerjahre) beziehungsweise 74 Prozent (Zweitausenderjahre) zuvor im Stadtparlament tätig. Etwas länger als die Mandatare im Gemeinderat/Landtag verbleiben die Regie rungsmitglieder im Amt. Lässt man die Bürgermeister beziehungsweise die Amtszeiten als Bürgermeister weg, übten die Regierungsmitglieder ihre Ämter im Schnitt sieben Jahre lang aus. Wie zu erwarten, waren die amtsführenden Stadträte länger tätig als jene, die (in ihrer gesamten Karriere) kein Ressort leiteten : Die Durchschnittsdauer beträgt 7,6 beziehungsweise 5,4 Jahre. Die Rekordhalter mit den längsten Amtszeiten sind bei den amtsführenden Stadträten Hans Mayr (spö) mit knapp 21 Jahren, bei den Stadträten ohne Ressort Wilhelm Neusser (övp) mit knapp über 18 Jahren. Bis in die Siebzigerjahre waren nur wenige Frauen im Stadtsenat vertreten ; Maria Jacobi, amtsführende Stadträtin der spö von 1959 bis 1973, war die erste. Seit den Neunzigerjahren und vor allem nach der Jahrtausendwende hat sich das Bild jedoch stark zugunsten eines höheren Frauenanteils geändert. Über den gesamten Zeitraum von 1945 bis 2010 hielten jedoch nur 25 Frauen (20 Prozent) einen Regierungssitz.
4.2 Die Bürgermeister Nach der Befreiung Wiens von der ns-Herrschaft begannen die Parteien bereits am 14. April 1945 mit ersten Gesprächen über ihre Zusammenarbeit und einigten sich schließlich auf Theodor Körner als provisorischen Bürgermeister, der vom sowjetischen Stadtkommandanten General Alexej Blagodatow am 17. April anerkannt wurde. Körner hatte innerhalb der Sozialdemokratie Rückhalt bei beiden großen Strömungen – der alten Partei sowie den Revolutionären Sozialisten –, und auch seine Russischkenntnisse sprachen für den im Ersten Weltkrieg aktiven ehemaligen General. Der letzte amtierende Bürgermeister der demokratischen Periode, Karl Seitz, lebte zu diesem Zeitpunkt, nachdem er kurz zuvor aus dem Konzentrations lager Ravensbrück entlassen worden war, als »Verbannter« im damals noch nationalsozialistischen Thüringen und kam somit für das Amt nicht infrage, da die Parteien eine rasche Lösung anstrebten.126 Als Stellvertreter Körners wurden für die övp Leo pold Kunschak und für die kpö Karl Steinhardt bestimmt. Seit der Wiederaufnahme regulärer demokratischer Verfahren wird der Bürgermeister gemäß den Vorgaben der Wiener Stadtverfassung vom Gemeinderat auf die Dauer seiner Wahlperiode gewählt, wobei der Kandidat dem Gemeinderat nicht 68
die politische entwicklung wiens angehören, aber zu ihm wählbar sein muss.127 In der Praxis wird der Bürgermeister – wie die (amtsführenden) Stadträte – unmittelbar nach einer Wahl im Rahmen der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats bestellt. Vor allem die spö hat die Gemeinderatswahl bereits zu einer »Bürgermeisterwahl«128 transformiert, da sie ihren Spitzenkandidaten in das Zentrum des Wahlkampfs stellt und als Kandidaten für das höchste Amt propagiert.129 Ob eine tatsächliche Direktwahl des Bürgermeisters rechtlich möglich wäre, ist unter Verfassungsrechtlern umstritten,130 in der politischen Auseinandersetzung war sie aber ohnehin noch kein relevantes Thema. Der gewählte Bürgermeister spricht vor dem Gemeinderat ein Ge- Abb. 4: Theodor Körner löbnis, gemäß einer Konvention erfolgt im weiteren Verlauf der konstituierenden Sitzung eine Regierungserklärung. Aufgrund seiner Doppelfunktion muss der Bürgermeister schließlich ein zweites Gelöbnis abgeben : diesmal vor dem Bundespräsidenten, der ihn zum Landeshauptmann angelobt.131 Das Amt des Wiener Bürgermeisters ist nicht nur das älteste des österreichischen Verfassungsrechts, wird es doch seit über sieben Jahrhunderten ausgeübt, es gilt auch als das »mächtigste«.132 Der Bürgermeister, der im Gegensatz zu allen anderen österreichischen Landeshauptleuten keinen eigenen Geschäftsbereich (Ressort) führt, leitet die Sitzungen des Stadtsenats beziehungsweise der Landesregierung, die er auch einberuft. Bei Entscheidungen des Stadtsenats hat der Bürgermeister ein suspensives Veto und kann bei einem erneuten Beschluss der Regierung gegen seinen Willen den Gemeinderat mit der Beschlussfassung betrauen.133 Auch im Rahmen der Landesregierung besitzt der Regierungschef ein höheres Stimmgewicht, da bei Stimmengleichstand seine Präferenz entscheidet.134 Besonders stark ausgeprägt ist überdies sein Weisungsrecht, das die amtsführenden Stadträte, die Bezirksvorsteher sowie sämtliche Beamte und Angestellte der Gemeinde umfasst. Welan bezeichnet das politische System Wiens daher gar als »Präsidentschaftsrepublik«.135 Wie stark die Rolle des Bürgermeisters in der Sicht der Bevölkerung ist, verdeutlicht etwa folgende Zahl : Anfang der Neunzigerjahre erhielt der Wiener Regierungschef 69
martin dolezal
Abb. 5: Franz Jonas (Bildmitte) bei der 1.-Mai-Feier 1958 auf dem Rathausplatz.
– das heißt der damalige Bürgermeister Helmut Zilk – jährlich bis zu 200.000 (Bitt-) Briefe.136 Tabelle 5 listet die sieben137 Wiener Bürgermeister seit 1945 auf ; alle wurden von der spö gestellt und alle waren Männer. Letzteres widerspiegelt weitgehend die Situation in den übrigen Bundesländern, da bislang nur zwei Frauen das höchste Regierungsamt auf Landesebene ausübten : Waltraud Klasnic (övp, Steiermark : 1996– 2005) und Gabriele »Gabi« Burgstaller (spö, Salzburg : seit 2004). Auf Basis ihrer sozialen Herkunft können die sieben Bürgermeister verschiedenen Typen zugeordnet werden : Theodor Körner, dessen Erscheinung viele Zeitgenossen an Kaiser Franz Joseph erinnerte138, ist natürlich als Sonderfall einzustufen. Vor allem Franz Jonas, ein gelernter Schriftsetzer, und Felix Slavik, ein Feinmechaniker, verkörperten hingegen das »Idealbild« eines sozialdemokratischen Politikers mit starken Wurzeln im Arbeitermilieu.139 Bruno Marek, der vor seiner politischen Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter, etwa als Leiter der Wiener Messe ag, tätig war, entsprach diesem Bild weniger. In seiner eigenen Partei wurde er vielmehr als »Grandseigneur« wahrgenommen und war etwa für seine ausgeprägte Jagdleidenschaft bekannt.140 Die 70
die politische entwicklung wiens Bürgermeister seit den Siebzigerjahren waren durchwegs als typische Vertreter der neuen Mittelschicht einzuordnen und verfügten im Gegensatz zu ihren Amtsvorgängern auch über eine akademische Ausbildung als Jurist (Leopold Gratz), Lehrer (Helmut Zilk) und Biologe (Michael Häupl). Tabelle 5: Die Bürgermeister seit 1945
Name
von
bis
vorheriges Amt
Vorsitzender/Obmann der SPÖ Wien1
Rücktrittsgrund
Alter bei Alter bei Antritt Abgang
Amtsdauer (Jahre)
Theodor Körner
17.4.1945 (provisorisch) 14.2.1946 (gewählt)
20.6.1951
Bundesrat (bis 1934)
nein
Wahl zum Bundespräsidenten
72
78
6,2
Franz Jonas
22.6.1951
1.6.1965
amtsführender Stadtrat
1949–1964
Wahl zum Bundespräsidenten
51
66
14,0
Bruno Marek
10.6.1965
17.12.1970
Landtagspräsident
nein
innerparteiliches Alters limit
65
71
5,5
Felix Slavik
21.12.1970
5.7.1973
amtsführender Stadtrat
1964–1970
innerparteiliche Kritik
59
61
2,5
Leopold Gratz
5.7.1973
10.9.1984
Nationalratsabgeordneter
1976–1988
Ernennung zum Außenminister
44
55
11,2
Helmut Zilk
10.9.1984
7.11.1994
Bundes minister
nein
innerparteiliches Alters limit
57
67
10,2
Michael Häupl
7.11.1994
—
amtsführender Stadtrat
seit 1993
—
45
—
(16,2)2
Quellen : Internetauftritt der Stadt Wien (http ://www.wien.gv.at/kultur/archiv/politik/bgmleit.html ; aufgerufen am 25.7.2011), Rathauskorrespondenz. Anmerkungen : 1 Aufgrund der Datenlage können hier nur die Jahre angeführt werden. Tagesgenaue Angaben waren bis für die Siebzigerjahre weder in Parteipublikationen (z. B. Heinz Nittel, SPÖ Wien 1945– 1975. Programme, Daten, Fakten. Wien, Sozialistische Partei Österreichs, Landesorganisation Wien 1978 ; Günther Sallaberger, SPÖ Wien 1945–1985. Daten, Programme, Fakten. Wien, Sozialistische Partei Österreichs, Landesorganisation Wien 1985) noch über die Wiener SPÖ selbst eruierbar. 2 Stichtag : 31.12.2010.
Auf Basis des vorher ausgeübten Amtes wird deutlich, dass kein Wiener Bürgermeister als »Quereinsteiger« bezeichnet werden kann. Ganz im Gegenteil, waren sie doch alle vor ihrem Amtsantritt in relativ hohen politischen Ämtern tä71
martin dolezal tig : Im Falle Körners gilt dies für die demokratische Periode Österreichs bis 1933/1934. Die überwiegende Mehrzahl der Bürgermeister war zuvor auch in der Wiener Kommunalpolitik aktiv. Zählt man Zilk, der vor seiner Zeit als Unterrichtsminister amtsführender Stadtrat war, dazu, gilt dies für fünf von sieben Amtsträgern. Körners fehlender kommunalpolitischer Hintergrund war aufgrund der Umstände seiner Bestellung kein großes Thema. Im Falle von Gratz, der ebenfalls über keine einschlägige Erfahrung verfügte, stand der Wunsch der spö nach einem klaren Neubeginn im Vordergrund, weshalb nach dem Rücktritt Slaviks niemand aus dem Rathausteam, sondern Abb. 6: Bruno Marek bei der Grundsteinlegung eines ein »Troubleshooter«141 von außerhalb Pensionistenheims (1967). nominiert wurde. Überdies galt Gratz als Wunschkandidat von Bundeskanzler Bruno Kreisky.142 Weniger einheitlich ist das Bild in Bezug auf den »Parteiencharakter« des Amtes. Die Position des Bürgermeisters innerhalb seiner Partei, konkret der Wiener spö, ist natürlich von vielen Faktoren geprägt, ein wichtiger Indikator ist jedoch die Frage, ob er auch Parteivorsitzender ist. Vier der sieben Bürgermeister waren Vorsitzende ihrer Partei ; Körner, Marek und Zilk hatten diese Funktion nicht. Ferner übte Slavik das Parteiamt vor seinem Bürgermeisteramt aus, nicht parallel, da die spö 1965 entschieden hatte, bei der Nachfolge von Franz Jonas die Ämter des Bürgermeisters (Bruno Marek) und Parteichefs (Felix Slavik) zu trennen. Als Slavik Marek im Bürgermeisteramt nachfolgte, übernahm Otto Probst die Parteiführung.143 Diese Ämtertrennung wurde jedoch bei Gratz wieder aufgegeben. Besonders gering ausgeprägt war der Parteiencharakter des Amtes dann bei Zilk, der sich vor der Nominierung durch die spö in einer internen Kampfabstimmung gegen den Vizevorsitzenden der Landespartei, Erwin Lanc, durchsetzen musste.144 Diese Parteiferne des Wiener Bürgermeisters blieb aber eine Episode. Häupl, der beide Ämter seit nunmehr zwei Jahrzehnten in seiner Person vereinigt, wird eine sehr starke Position in der spö nachgesagt, die ihn auch zu einem relevanten Mitspieler in der Bundespolitik macht. 72
die politische entwicklung wiens
Abb. 7: Felix Slavik (im Bild rechts) spricht bei der 1.-Mai-Feier 1972 auf dem Rathausplatz.
Die Amtsdauer der Bürgermeister variiert relativ stark : Der glücklos agierende Slavik kam nur auf zweieinhalb Jahre, wogegen der aktuelle Bürgermeister Häupl seit November 1994 an der Macht ist. Verglichen mit den Landeshauptleuten der anderen Bundesländer sind die Amtsjahre der Wiener Bürgermeister im Mittel als durchschnittlich einzustufen.145 Der in der Tabelle 5 angeführte (offizielle) Rücktrittsgrund zeigt, dass das Ausscheiden der Bürgermeister aus ihrem Amt in fünf von sechs Fällen letztlich ohne (größeren) innerparteilichen Konflikt und niemals als Konsequenz einer Niederlage bei Gemeinderatswahlen erfolgte : Die Wahl beziehungsweise Ernennung in zumindest formal höhere Ämter (vor allem Körner und Jonas, vielleicht auch Gratz) ist für österreichische Landeshauptleute eher als Ausnahmefall zu bewerten, da dieses Amt – abgesehen vor allem von Bundeskanzler Josef Klaus (övp), der zunächst Salzburger Landeshauptmann war – generell als Höheund daher auch Endpunkt einer politischen Karriere gilt.146 Auch das Ausscheiden aufgrund des erreichten Alters (Marek und Zilk) muss prinzipiell als »freiwilliger« Rücktritt eingeschätzt werden. Das Alterslimit ist naturgemäß keine verfassungs73
martin dolezal
Abb. 8: Leopold Gratz auf dem Parteitag der SPÖ 1978.
Abb. 9: Helmut Zilk in seiner früheren Rolle als Moderator im ORF-Fernsehen. Abb. 10: Michael Häupl
74
die politische entwicklung wiens rechtliche Bestimmung, sondern eine innerparteiliche Regelung der spö. Um eine ständige Erneuerung der spö-Mandatare zu gewährleisten, gab es seit 1959 in der Bundespartei die Empfehlung, wonach Nationalratskandidaten höchstens 65 Jahre alt sein sollten. 1968 wurde dies fix in den Statuten verankert, wenngleich dem Bundesparteivorstand die Möglichkeit eingeräumt wurde, Ausnahmen zu gewähren.147 Im aktuellen Statut der Bundespartei (Stand : 12. Juni 2010) ist eine solche Regelung nicht mehr vorhanden, doch existiert sie weiterhin in der Wiener spö und gilt für alle öffentlichen Mandate.148 Der gegenwärtige Bürgermeister Häupl (Jahrgang 1949) dürfte demnach bei der kommenden, regulär 2015 stattfindenden Gemeinderatswahl nicht mehr kandidieren, doch kann das zuständige Parteiorgan bei geheimer Wahl und mit Zweidrittelmehrheit eine Ausnahme bewilligen.
5. Die Bezirke Die Darstellung der politischen Entwicklung Wiens seit 1945 bliebe ohne einen Blick auf die Gemeindebezirke unvollständig. Verglichen mit der Situation in den übrigen Bundesländern könnten sie als »lokale« Ebene des politischen Systems Wiens bezeichnet werden. Rein rechtlich betrachtet sind die seit 1954 nun 23 Bezirke jedoch wenig relevante Einheiten. Wien ist eine einzige Gebietskörperschaft, die Gemeindebezirke sind daher bloß administrative Gliederungen ohne Rechtspersönlichkeit, und auch mit »Bezirken« im Sinne der Bundesverfassung haben sie nichts zu tun.149 Die Funktionen der Bezirke sind allein von der Gemeinde Wien übertragen, doch wurden sie im Zuge mehrerer Dezentralisierungsschritte 1979, 1988 und 1997 deutlich ausgeweitet. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören dabei die Erhaltung der Straßen – abgesehen von den Bundesstraßen – sowie der öffentlichen Kindergärten und Pflichtschulen. Zu den konfliktreichsten Angelegenheiten der Bezirkspolitik zählt vor allem die Steuerung des Pkw-Verkehrs, etwa durch die Einrichtung von Parkzonen.
5.1 Bezirksvertretungen und Bezirksvorsteher Seit 1954 werden die Bezirksvertretungen, die »Parlamente« der Bezirke, stets paral lel mit dem Gemeinderat gewählt. In den Jahren zuvor, das heißt 1945 und 1949, ernannte der Bürgermeister auf Basis der Ergebnisse bei den Gemeinderatswahlen in jedem Bezirk 28 provisorische Bezirksräte, da – wie in Abschnitt 2 bereits erwähnt wurde – die Grenze zu Niederösterreich und damit auch die territoriale Einteilung Wiens offen geblieben war.150 Bis 1973 wurden in jedem Bezirk dreißig Mandatare 75
martin dolezal gewählt, seit 1978 hängt die Anzahl der Mandate von der Bevölkerungsgröße ab. Zunächst wurden bei einer Mindestgröße von dreißig maximal fünfzig Sitze vergeben.151 Seit 1987 werden nun zwischen vierzig und sechzig Sitze verteilt, wobei auch die ausländische Wohnbevölkerung in die dafür zugrunde liegende Berechnung einbezogen wird.152 Aufgrund der Koppelung an die Bevölkerungszahl wird die Größe der Bezirksvertretungen nach jeder Volkszählung angepasst ; insgesamt werden zurzeit 1.112 Mandate vergeben. Dank des reinen Verhältniswahlrechts ohne Prozenthürde153 fällt der Einzug in die Vertretungen vor allem in den größeren Bezirken relativ leicht, da dort – in Abhängigkeit von der Verteilung der übrigen Stimmen – nur rund eineinhalb Prozent der Stimmen erreicht werden müssen.154 Wie bei der Gemeinderatswahl kann auch bei den Bezirksvertretungswahlen seit 1996 eine Vorzugsstimme vergeben werden, wobei ebenfalls der Name des Kandidaten eingetragen werden muss und nicht angekreuzt werden kann. Die gewählten Bezirksvertretungen tagen gemäß der Wiener Stadtverfassung mindestens vierteljährlich,155 in der Praxis jedoch etwas häufiger.156 Aufgrund der gewachsenen Kompetenzen der Bezirke durch die mehrfachen Dezentralisierungsschritte erfolgte eine organisatorische Anpassung ihrer Vertretungen : 1988 wurden Finanz- und Bauausschüsse eingerichtet, 1993 Umweltausschüsse.157 Die Bezirksräte, die Mitglieder der Wiener Bezirksvertretungen, sind jedoch Amateurpolitiker geblieben, denen nur eine geringe Aufwandsentschädigung in Höhe von knapp fünf Prozent des Einkommens von Nationalratsabgeordneten zukommt.158 Sie dürfen auch nicht gleichzeitig dem grundsätzlich aus Berufspolitikern bestehenden Gemeinderat/Landtag angehören.159 Ähnlich wie bei den Gemeindevertretungen in den übrigen Bundesländern fällt es den Parteien zunehmend schwer, Kandidaten für die Bezirke zu rekrutieren, wenngleich immer noch viele politische Karrieren dort ihren Anfang nehmen. Auch die Bezirksvorsteher wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst provisorisch bestellt. Ab dem 11. April 1945 ernannten die sowjetischen Bezirkskommandanten vornehmlich der kpö angehörige beziehungsweise zuordenbare Personen zu »Bezirksbürgermeistern«.160 Im Juli 1945 wurden auf Basis des Wiener VerfassungsÜberleitungsgesetzes die meisten Bezirksvorsteher von Bürgermeister Körner – mit Genehmigung des sowjetischen Stadtkommandanten – jedoch neu berufen. Nach der im November durchgeführten Gemeinderatswahl und ebenso 1949 erfolgte schließlich eine Neubestellung auf Basis der bei diesen Wahlen in den Bezirken erzielten Ergebnisse.161 Seit 1954 werden die Bezirksvorsteher von den gewählten Bezirksvertretungen bestimmt, wobei die Regelungen dieser Wahl eine österreichweite Besonderheit darstellen : Die mandatsstärkste oder – bei Gleichstand – stimmenstärkste Partei hat 76
die politische entwicklung wiens einen rechtlichen, nicht nur »politischen« oder »moralischen« Anspruch auf das Amt des Bezirksvorstehers. Konkret wird der Bezirksvorsteher auf Vorschlag der stärksten wahlwerbenden Partei gewählt,162 weshalb der Wahlvorgang formal gesehen einer »Fraktionswahl« entspricht.163 In der politischen Praxis kommt die Wahl des Bezirksvorstehers einer »Direktwahl« durch die Bevölkerung nahe, da vor allem die Großparteien ihre Kandidaten in den Wahlkämpfen klar positionieren – speziell in den kompetitiven Bezirken (siehe unten). Diese Bevorzugung der stärksten Partei und der Wegfall der sonst üblichen Notwendigkeit, bei fehlenden absoluten Mehrheiten Koalitionen zu bilden, wurden mehrfach kritisiert. Teile der övp treten etwa seit den Neunzigerjahren für die Direktwahl von Bezirksvorstehern ein, während die Grünen eher eine herkömmliche Mehrheitswahl durch die Bezirksvertretung bevorzugen.164 Eine weitere Besonderheit der Bezirkspolitik besteht darin, dass die Bezirksvertretungen die Bezirksvorsteher nicht absetzen können. Dies kann jedoch der Bürgermeister, der ferner über ein jederzeitiges Rederecht in den Sitzungen der Bezirksvertretungen verfügt.165 Beiden Regelungen kommt aber wohl nur eine theoretische Bedeutung zu. Im Gegensatz zu den Bezirksräten üben die Bezirksvorsteher ihr Amt als Vollzeitfunktion aus ; nach einer dreimonatigen Übergangszeit besteht für sie ein Berufsverbot.166 Innerhalb der Parteihierarchien – konkret der spö und der övp – nehmen die Bezirksvorsteher eine relativ hohe Position ein. Ihr Amt wird höher eingeschätzt als das eines Mitglieds des Gemeinderats oder auch eines Nationalratsabgeordneten. Dies zeigt auch ihre Besoldung, die etwa über jener der »nichtamtsführenden« Stadträte liegt.167 Trotz ihrer an sich geringen Kompetenzen sehen sich Bezirksvorsteher selbst gerne als »Bezirksbürgermeister«.168 Manche von ihnen werden in den Medien auch als »Bezirkskaiser« bezeichnet, doch variiert ihre Bekanntheit relativ stark : In einer im Jahr 2000 durchgeführten Umfrage169 konnten im Durchschnitt der Bezirke 37 Prozent der Befragten den Namen ihres Bezirksvorstehers nennen, wobei die Prozentwerte zwischen 13 (ii. Bezirk) und 61 Prozent (xix. Bezirk) schwankten. Der am wenigsten bekannte Bezirksvorsteher (Gerhard Kubik, spö) war damals noch kein Jahr im Amt, während der bekannteste (Adolf Tiller, övp) bereits seit 22 Jahren regierte. Letzterer ist mit einer Amtszeit von nun 32,1 Jahren (Stichdatum 31. 12. 2010) auch der Rekordhalter. Bis Ende 2010 haben insgesamt 190 Personen das Amt des Bezirksvorstehers ausgeübt. Von diesen wurden 49 von der sowjetischen Besatzungsmacht oder dem Bürgermeister eingesetzt und waren nach 1954 nicht mehr im Amt, weshalb sie nie regulär gewählt wurden.170 Nur 19 Frauen, das heißt zehn Prozent aller und knapp 14 Prozent der regulär gewählten Bezirksvorsteher, haben bislang diese Funktion ausgeübt. Marie Franc (övp, viii. Bezirk) kam hierbei die Rolle der Pionierin zu : Sie wirkte von 1959 bis 1964. Der Großteil der Bezirksvorsteherinnen amtierte jedoch 77
martin dolezal erst in den Neunziger- und vor allem Zweitausenderjahren. Zuletzt, Ende 2010, waren es bereits neun.
5.2 Parteihochburgen und bezirksspezifisches Wahlverh alten Im Gegensatz zur Landesebene, die generell von Stabilität und der Dominanz der spö geprägt ist, sind die Wahlen auf Bezirksebene von einem stärkeren Wettbewerb der Parteien gekennzeichnet. In den allermeisten Fällen sind es jedoch die bundesweit agierenden Parteien, die auch bei den Bezirksvertretungswahlen Stimmen und Mandate gewinnen. Die während des hier untersuchten Zeitraums in Wien relevanten Parteien (spö, övp, vdu/fpö, kpö, Grüne, lif, dfp – sowie das bzö) erreichten im Schnitt aller von 1954 bis 2010 abgehaltenen Bezirksvertretungswahlen den extrem hohen gemeinsamen Anteil von 99,0 Prozent der Stimmen ; bis inklusive 1996 lag der Wert sogar minimal, um 0,1 Prozentpunkte, höher. Spezifische Bezirksparteien sind somit trotz der günstigen Rahmenbedingungen des Wahlrechts und des ausgeprägten Charakters einer »Nebenwahl«, bei der Wähler eher bereit sind, neuen Gruppierungen eine Chance zu geben, eine seltene Ausnahme geblieben. Als über einen längeren Zeitraum relevante Gruppierung kann letztlich nur das »Bürgerforum Josefstadt« bezeichnet werden, das seit 1991 – in einem Dauerbündnis mit der övp – im viii. Bezirk antritt. Während das Amt des Wiener Bürgermeisters immer von der spö besetzt wurde, stellen neben der spö auch die övp, seit 2001 auch die Grünen Bezirksvorsteher. Grafik 3 zeigt, wie viele Bezirksvorsteherposten die Parteien bei den seit 1954 durchgeführten Wahlen besetzen konnten und in wie vielen Bezirken es bei diesen Wahlen zu einem Machtwechsel kam. Auch bei den Bezirksvorstehern dominiert demnach die spö, die nur in den Jahren von 1978 bis 1987 weniger als 15 Vorsteher stellte. Die övp erreichte in dieser Zeit, in der sie auch bei den Gemeinderatswahlen leicht zulegen konnte, mit neun Bezirkschefs ihre besten Werte, hat zuletzt aber sukzessive Bezirksvorsteherposten verloren. In einer Langzeitperspektive (1954–2010) können drei Gruppen von Bezirken unterschieden werden : Hochburgen der spö beziehungsweise der övp, also Bezirke, in denen eine der beiden traditionellen Großparteien durchgängig stimmenstärkste Partei war und somit den (gewählten) Bezirksvorsteher stellte, und kompetitive oder »umkämpfte« Bezirke, in denen es zu mindestens einem Machtwechsel gekommen ist. Immerhin 14 der 23 Bezirke können auf Basis einer solchen Kategorisierung als Hochburgen der spö eingestuft werden : Neben den zwischen Donaukanal und 78
die politische entwicklung wiens
Grafik 3: Bezirksvertretungswahlen : Anzahl der Bezirksvorsteher pro Partei (Linien) und Machtwechsel (Säulen), 1954–2010
20 SPÖ 15
10 ÖVP 5
2010
2005
2001
1 1996
1991
1969
2 1987
1964
4 1983
3
1978
1
1973
2 1959
0
1954
2 Grüne 2
Quelle : Stadtwahlbehörde (vgl. http ://www.wien.gv.at/politik/wahlen/grbv/index.html ; aufgerufen am 25.7.2011) und Josef Rauchenberger (Hg.), Bezirksvertretungen in Wien, Wien 1990. Anmerkung : Wie im Haupttext erläutert, gab es 1945 und 1949 keine Wahlen der Bezirksvertretungen.
Donau gelegenen Bezirken ii und xx und den innerstädtischen Bezirken iii und v gehören dazu die südlich des Gürtels gelegenen klassischen Arbeiterbezirke x bis xii sowie die westlichen, deutlich heterogeneren Außenbezirke xiv bis xvii. Hinzu kommen noch die beiden jenseits der Donau, in »Transdanubien«171, gelegenen Bezirke xxi und xxii sowie der xxiii. Bezirk. Die övp fällt bei einem solchen Vergleich deutlich zurück, da sie nur in zwei Bezirken durchgängig den Bezirksvorsteher stellte : in der Inneren Stadt (i) sowie im xviii. Bezirk. Bis 2010 zählte hier noch der iv. Bezirk dazu, und seit 1978 ist die övp in den »bürgerlichen« Bezirken xiii und xix durchgängig die stärkste Partei. Weder die spö noch die övp hat es jedoch geschafft, über den gesamten Zeitraum in einer ihrer Hochburgen eine absolute Stimmenmehrheit zu erzielen. In den übrigen sieben Bezirken ist es von 1954 bis 2010 zu mindestens einem Machtwechsel gekommen. Abgesehen von den bereits erwähnten traditionell »bürgerlichen« Außenbezirken xiii und xix, in denen auch 79
martin dolezal die spö in manchen Wahlperioden den Bezirksvorsteher stellte, gehören ausschließlich innerstädtische Bezirke zu dieser kompetitiven Gruppe : der iv. Bezirk sowie die Bezirke vi bis ix. Der wahlpolitisch interessanteste ist dabei der vii., da nach einer övp-dominierten Phase von 1954 bis 1991 und einem spö-geführten Intermezzo (1991–2001) die Grünen nun bereits dreimal in Folge die stärkste Partei waren und mit Thomas Blimlinger seit 2001 den Bezirksvorsteher stellen. Das insgesamt »buntere« Bild auf Bezirksebene, vor allem aber die mehrfachen Wechsel der stimmenstärksten Partei lassen vermuten, dass das Wahlverhalten der Bevölkerung – zumindest teilweise – bezirksbezogene Aspekte aufweist, auch wenn bezirksspezifischen Parteien keine Bedeutung zukommt. Da Umfragedaten für die allermeisten Wahlen nicht vorliegen beziehungsweise nicht greifbar sind, kann die Untersuchung eines solchen »differenzierten« Wahlverhaltens allein auf Basis von Aggregatdaten, also der Wahlergebnisse, erfolgen. Die Frage lautet dann, wie unterschiedlich die Parteien bei den stets gleichzeitig abgehaltenen Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen in den einzelnen Bezirken abgeschnitten haben. Grafik 4 zeigt diese Unterschiede auf Basis einer aus der Literatur172 übernommenen Formel zur Indexbildung. Grafik 4: Unterschiedliches Stimmverhalten bei Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen, 1954–2010 7
Hinweis: Seit 1996 sind bei Bezirksvertretungswahlen auch EUAusländer wahlberechtigt.
6 5 4
alle Parteien
3
SPÖ/ÖVP/FPÖ/KPÖ
2
2010
2005
2001
1996
1991
1987
1983
1978
1973
1969
1964
1959
0
1954
1
Quelle : vgl. Grafik 3. Anmerkung : Der Index summiert bezirksweise die absoluten Differenzen der Parteienergebnisse zwischen den beiden Wahltypen und teilt diese Summe durch zwei.
80
die politische entwicklung wiens Das Liniendiagramm zeigt im Zeitverlauf einen deutlichen Anstieg des wahlspezifischen Stimmverhaltens, das von den Fünfzigern bis in die Achtzigerjahre noch nahezu unbekannt war. Vor allem bei den ersten drei Wahlen waren die Bezirksergebnisse der Parteien bei der Gemeinderats- und der Bezirksvertretungswahl beinahe vollkommen identisch. Seit den Neunzigerjahren sind die Ergebnisse der Parteien in den 23 Stadtvierteln je nach Wahltyp nun unterschiedlicher geworden. Zwar stimmt seit 1996 die Wählerschaft aufgrund des Wahlrechts für eu-Ausländer auf Bezirks ebene nicht mehr komplett überein, doch ist der Einfluss dieser Wählergruppe aufgrund ihrer deutlich niedrigeren Wahlbeteiligung sehr gering.173 Und auch die größere Zahl der Parteien, die naturgemäß zu einem höheren Indexwert führt, ist für den Anstieg des »bezirksbezogenen« Wählens nicht ausschlaggebend. Die Bezirke bilden daher – zumindest in Ansätzen – auch aus Sicht der Wähler eigenständige politische Einheiten.
6. Politischer Protest und direkte Demokr atie Politische Partizipation, die aktive Beteiligung der Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens, geschieht in Wien – wie in allen demokratischen Systemen – primär über Wahlen, das heißt im Rahmen der alle fünf Jahre stattfindenden Gemeinderats- und der seit 1954 immer gleichzeitig durchgeführten Bezirksvertretungswahlen. Insgesamt ist diese institutionalisierte politische Arena zumindest auf Gemeindeebene von einer großen Stabilität geprägt : Die Dominanz der spö war letztlich nie gefährdet, ein tatsächlicher Machtwechsel mit einem nicht von der spö gestellten Bürgermeister schien stets ausgeschlossen. Die Beteiligung der Wiener Bevölkerung an der politischen Entscheidungs findung geht jedoch über die Wahlteilnahme hinaus : Zum einen findet sie als »unkonventionelle« Partizipation statt, zum anderen kommt seit den Siebzigerjahren direktdemokratischen Entscheidungsverfahren eine relativ große Bedeutung zu. Beide Aspekte werden im folgenden Abschnitt behandelt und zeigen dabei, neben längerfristigen Veränderungen der politischen Themenlandschaft, eine zumindest teilweise Beschränkung der hegemonialen Rolle der spö.
6.1 Politischer Protest in Wien Unkonventioneller politischer Partizipation oder allgemein »politischem Protest« kommt im internationalen Vergleich in Österreich eine relativ geringe Bedeutung zu.174 Die in Abschnitt 2 erwähnten Umfrageergebnisse zeigten jedoch eine ver81
martin dolezal gleichsweise größere Bereitschaft der Wiener, sich an Demonstrationen, Streiks und ähnlichen Formen der politischen Meinungsäußerung zu beteiligen, als der Einwohner der meisten anderen Bundesländer. Natürlich ist Wien vor allem aufgrund seines Status als Bundeshauptstadt der zent rale Ort unkonventioneller politischer Mobilisierung. Da sich politischer Protest in den allermeisten Fällen gegen nationale Entscheidungsträger richtet und Wien Sitz aller Bundesbehörden ist, wählen die Aktivisten zumeist die Bundeshauptstadt als Ort der »Auseinandersetzung«. Ferner bringt die Konzentration der elektronischen Medien und der Printmedien für rational kalkulierende Akteure eine größere Chance der öffentlichen Sichtbarkeit ihres Protests mit sich. Es ist daher wohl kein Zufall, dass in der einzigen vorhandenen systematischen Längsschnittanalyse von politischem Protest in Österreich knapp fünfzig Prozent der im Zeitraum von 1975 bis 2005 erfassten Ereignisse in Wien lokalisiert wurden.175 Nicht zuletzt die überragende Bedeutung Wiens als Hochschulstandort brachte mit sich, dass wesentliche politische Auseinandersetzungen nach 1945 auf Wiener Boden »ausgefochten« wurden : Proteste gegen den Umgang mit der ns-Vergangenheit, sei es der Konflikt um den antisemitischen Hochschulprofessor Taras Borodajkewycz in den Sechzigerjahren176 oder die Kontroverse um Kurt Waldheim in den Achtzigerjahren, spielten sich in erster Linie in Wien ab. Auch die in Österreich als insgesamt kurze Episode zu charakterisierenden Ereignisse um 1968 konzentrierten sich in Wien, wo etwa Demonstranten am 1. Mai ein Blasmusikfest der spö im Anschluss an den traditionellen Aufmarsch störten und damit den Unmut des Bürgermeisters Marek erregten.177 Als Höhepunkt der Alternativbewegung der Siebzigerjahre gilt die Besetzung der »Arena«, des ehemaligen Auslandsschlachthofs in Wien-Erdberg. Dieser wurde im Sommer 1976 von den Aktivisten für ein alternatives Kulturprogramm parallel zu den offiziellen Wiener Festwochen, einem seit 1951 wieder aufgenommenen jährlichen Prestigeprojekt der Gemeinde, genützt.178 Auch die Auseinandersetzungen um Fragen der Asyl- und Integrationspolitik finden seit den Achtzigerjahren zumeist in Wien ihren Höhepunkt : So etwa im Rahmen des gegen das fpö-Volksbegehren »Österreich zuerst« gerichteten »Lichtermeers«, bei dem am 23. Jänner 1993 rund 300.000 Menschen für eine humanere Asyl- und Fremdenpolitik protestierten. Diese beispielhaft genannten Ereignisse waren jedoch nicht primär Teil der hier behandelten Kommunal- beziehungsweise Landespolitik, wenngleich gerade die »Ausländerfrage« seit den Achtzigerjahren eines ihrer zentralen Themen geworden ist. Doch auch in erster Linie kommunale Anliegen führten seit den Sechzigerjahren zu mehreren Protesten, wobei die sie tragenden Bürgerinitiativen zum Teil auch erfolgreich waren : Ihr Widerstand richtete sich etwa gegen den in den späten Sechzigerjahren geplanten Abriss der Otto-Wagner-Pavillons am Karlsplatz, gegen die 82
die politische entwicklung wiens Abb. 11: Aufruf zur Rettung des Veranstaltungszentrums Arena (1976).
Abb. 12: Die Errichtung der Donauinsel (Bildmitte) als Teil der Maßnahmen gegen die Hochwassergefahr war eine der großen städtebaulichen Streitfragen der Siebzigerjahre. Die SPÖ setzte diese »große Lösung« gegen anfänglichen Widerstand der ÖVP durch.
83
martin dolezal geplante Schleifung des Naschmarkts durch den Bau einer Stadtautobahn beziehungsweise eines Parkhauses oder – als besonders eindrückliches Beispiel – gegen die um 1970 aufgekommenen Pläne zum Abriss der bis in das 18. Jahrhundert zurückgehenden Wohnhäuser im Bereich des Spittelbergs, der 1973 schließlich zu einer Schutzzone erklärt wurde.179 Einige Jahre zuvor, 1965, war eine von 12.678 Wienern unterstützte Unterschriftenkampagne gegen den Abriss der barocken Matzleinsdorfer Pfarrkirche noch gescheitert. Sie musste – im Einverständnis mit der Erzdiözese Wien – einer unterirdisch geführten Straßenbahnstrecke weichen.180 Bei zwei Bauprojekten führte lokaler Widerstand direkt zur Durchführung von Volksbefragungen, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird : bei der geplanten Errichtung des Universitätsinstituts im Sternwartepark (1973) sowie der vorgesehenen Bebauung der Steinhofgründe (1981).
6.2 Die Volksbefr agungen Insgesamt wichtiger als verschiedene Formen politischen Protests ist in Wien der Bereich der direkten Demokratie. Obwohl es Beispiele gab, bei denen die Anliegen primär von den Bürgern selbst formuliert und teilweise auch durchgesetzt wurden, war jedoch insgesamt auch und gerade dieser Bereich der institutionalisierten politischen Partizipation von zum Teil heftigen Konflikten zwischen den Parteien geprägt. Die bei allgemeinen Wahlen als unbezwingbar erscheinende spö musste dabei mehrere Niederlagen einstecken. Nachdem die erste stadtweite Befragung 1973 noch ad hoc, ohne rechtlichen Rahmen durchgeführt worden war (siehe unten), wurden mit einer 1978 beschlossenen Novellierung der Wiener Stadtverfassung mehrere direktdemokratische Instrumente eingeführt : Für die Landesebene gibt es seit damals die Instrumente Volksbegehren und Volksabstimmung, auf der Gemeindeebene sind Volksabstimmungen und Volksbefragungen möglich.181 Wien folgte damit einer gerade in Westösterreich schon früher einsetzenden Entwicklung, gilt nun aber auf Basis der praktischen Umsetzung der vorhandenen Instrumente neben Vorarlberg als ein österreichweiter Vorreiter.182 Drei der vier vorhandenen Instrumentarien wurden bislang jedoch noch nicht genützt, da die Hürden gerade auf Landesebene sehr hoch sind : So gibt es im Gegensatz zur Bundesebene bei der Volksabstimmung ein vorgeschriebenes Beteiligungsquorum von der Hälfte der Wahlberechtigten.183 Bei einem Volksbegehren müssen wiederum fünf Prozent des Elektorats erreicht werden, wogegen es auf Bundesebene auf Basis der dort erforderlichen 100.000 Unterschriften im Vergleich dazu nur etwa 1,5 Prozent sind. Und darüber hinaus steht in Wien auch keine Eintragungswoche 84
die politische entwicklung wiens mit öffentlichen Wahllokalen, in denen die Wähler ihre Unterstützungserklärung leisten können, zur Verfügung.184 Auch zu einer Volksabstimmung auf Gemeindeebene185 ist es noch nicht gekommen, weshalb allein der Volksbefragung eine reale Bedeutung zukommt. Diese Befragungen, deren Inhalt auf Angelegenheiten des Zuständigkeitsbereichs der Gemeinde beschränkt ist, können sowohl von der Mehrheit des Gemeinderats als auch von fünf Prozent der Wahlberechtigten initiiert werden.186 Die Befragung wird an drei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt ; zuletzt – im Februar 2010 – erfolgte sie ausschließlich in Form der Briefwahl. Rein rechtlich betrachtet sind Volksbefragungen, im Gegensatz zu Volksabstimmungen, für den Gemeinderat beziehungsweise den Stadtsenat nicht bindend. Die unterlegene Seite konnte die Forderungen in der Praxis jedoch nur dann zurückweisen, wenn dies mit einer als zu gering erachteten Beteiligung argumentiert werden konnte. Häufig stand nach einer Volksbefragung daher weniger das eigentliche Ergebnis, also die Verteilung der Stimmen, im Vordergrund der Debatte, sondern das Ausmaß der Beteiligung, da die thematisch unterlegenen Parteien regelmäßig auf eine – ihrer Ansicht nach – zu geringe Wahlbeteiligung verwiesen. Diese spezifische Art der Integration der Volksbefragungen in den Parteienwettbewerb hat ferner zur Folge, dass die Parteien im Vorfeld der Abstimmungen in vielen Fällen eine klare Positionierung unterließen. Durch das Vermeiden einer Stimmempfehlung sollte der Befragung generell die Legitimität abgesprochen werden, und die Parteien sicherten sich damit auch die Chance, nachträglich auf eine mangelnde »Mobilisierungskraft« des Gegenspielers zu verweisen. Ferner war und ist es ein durchgängiges Mittel der Wiener Parteien, mittels Suggestivfragen den – theoretisch durchaus möglichen – rein sachpolitischen Charakter einer Volksbefragung zu hintertreiben : So fragte die spö etwa 1980, ob »Propagandaständer, die […] das Stadtbild stören, auch außerhalb von Wahlzeiten erlaubt sein« sollen [beide Hervorhebungen durch den Autor]. Aber auch die övp bezog sich 1981 auf das »Milliardenprojekt eines neuen Konferenzzentrums bei der uno-City« [Hervorhebung durch den Autor]. Nicht nur um die Formulierung der Fragestellung, auch um die Themen der Befragungen selbst wurde zwischen den Parteien stets gekämpft. Allein bei der letzten, 2010 abgehaltenen Volksbefragung brachten die Oppositions parteien insgesamt 13 Anträge zu zusätzlichen Fragen ein, die jedoch alle an der spö-Mehrheit scheiterten.187 Die nachfolgende Tabelle 6 listet alle 21 im Zeitraum von 1973 bis 2010 durchgeführten Befragungen auf. Im Normalfall wurden stets mehrere Fragen zugleich gestellt, weshalb die »Fragenblöcke« im herkömmlichen politischen und medialen Sprachgebrauch als eine Volksbefragung bezeichnet werden. Neben dem vollständigen Wortlaut der Fragestellungen, der in den Anmerkungen enthalten ist, zeigt die Tabelle die Art der Initiation, die Positionen der Parteien, das Ausmaß der Be85
86 GR
Flötzersteig/Westeinfahrt4 (mehrere Antwortmöglichkeiten)
GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) B : 70.284 B : 70.000e GR GR GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ)
Sozialer Wohnbau8
Modernisierung von Altbauten9
Altstadtsanierung10
Steinhof-Gründe11
Erhaltung der Vollbeschäftigung12
Steinhof-Verbauung13
stadtteilweise Befragungen zu Verkehrsprojekten14
Weltausstellung Wien-Budapest15
Donaukraftwerk Freudenau16
Hausbesorger17
Ganztagsschulen18
City-Maut19
Nachtbetrieb der U-Bahn20
Hundeführschein21
22.–24.2.1990
14.–16.5.1991
11.–13.2.2010
9.–11.12.1981
Ja
Nein
Nein
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
B : 86.965 (ÖVP)
Jag
Ja
Ja
Nein
Nein
Ja
Ja
B : 86.965 (ÖVP)
Stadterneuerung6
Konferenzzentrum (Ausstieg der Stadt)7
15.–17.11.1981
Jad
Variante b)
Variante a)
Auflassung von Friedhöfen5 (zwei Alternativen)
Ja
Nein
Nein
Nein
Ja
Nein
Ja
Ja
—
—
—
—
—
Grüne
Jaf
Nein
Nein
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Nein
Ja
Ja
FPÖ Nein
Ja, Variante b)
Ja
ÖVP Nein
—
Ja
Nein
Ja
Ja
SPÖ
Positionen der Parteiena
Ja, Variante a) GR (SPÖ, FPÖc)
GR (SPÖ)
ohne Spezifizierung
GR
Aufstellen von Propagandaständern3
GR (SPÖ)
initiiert von : Bevölkerung B Gemeinderat GR (Parteien)
Vorrang für öffentlichen Verkehr2
(Anmerkung : noch ohne Rechtsgrundlage)
Neubau eines Universitätsinstituts am Sternwartegelände1
21.–26.5.1973
16.–18.3.1980
Thema
Zeitraum
Tabelle 6: Volksbefragungen, 1973–2010
35,9
43,7
6,1
23,2
16,2
28,9
33,5
(%)
Beteiligung
89,5
54,9
23,5
76,6
83,9
72,6
35,2
92,4
46,5
86,1
49,3
89,8
83,8
83,4
89,9
92,4
63,1
36,9
7,4
31,2
18,1
34,0
77,5
42,6
(%)
Jab
10,5
45,1
76,5
23,4
16,2
27,4
64,9
7,6
53,5
13,9
50,7
10,2
16,2
16,6
10,1
7,6
—
—
43,4
66,1
22,5
57,5
(%)
Neinb
martin dolezal
die politische entwicklung wiens Quellen : Josef Rauchenberger (Hg.), Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. S. 765– 825 ; Protokolle des Gemeinderats (seit 1998 online unter http ://www.wien.gv.at/mdb/gr/ ; aufgerufen am 1.8.2011), Rathauskorrespondenz sowie im Haupttext erwähnte Literatur. Allgemeine Anmerkungen (Kleinbuchstaben als Fußnotenzeichen) : a Wie im Haupttext erläutert, liegen offizielle Empfehlungen der Parteien (»Parolen«) nur selten vor. Die Zuordnung der Positionen orientiert sich daher – neben der Formulierung der Fragestellung – primär an den oben angeführten Quellen. In Fällen, bei denen Parteien keine Position äußerten, da sie meistens die Befragung an sich ablehnten, bleibt die Tabelle leer. b Im Gegensatz zu den amtlichen Angaben der Stadtwahlbehörde (vgl. https ://www.wien.gv.at/advbefergeb/internet/Ergebnis.aspx ; aufgerufen am 30.7.2011) beziehen sich die Prozentanteile der Ja- und NeinStimmen auch bei der Volksbefragung von 2010 allein auf die gültigen Stimmzettel. c Das Gemeinderatsprotokoll (Sitzung vom 1.2.1980) unterschied nur zwischen »einstimmig« und »mehrheitlich angenommen«. Auf Basis der Wortmeldung von Klubobmann Erwin Hirnschall kann angenommen werden, dass die FPÖ – zusammen mit der SPÖ – die Befragung zu den Friedhöfen unterstützte. Schließlich sah Hirnschall darin eine Chance, »den Fortbestand dieser Friedhöfe zu sichern«. d Die ÖVP sprach sich zwar in der Debatte vom 1.2.1980 gegen die Befragung aus, war aber generell – wie die FPÖ – für die Beibehaltung der Friedhöfe. e Wie im Haupttext erläutert, liegen keine Angaben zur genauen Zahl der Unterstützungserklärungen vor. f Wenngleich die Grünen die Volksbefragung generell ablehnten, entspricht die City-Maut einer ihrer Ideen zur Lösung der Verkehrsprobleme. Vereinzelt wurde daher auch dazu aufgerufen, mit »Ja« zu stimmen. g Der Nachtbetrieb der U-Bahn wurde ursprünglich von der Jungen ÖVP gefordert, eine offizielle Empfehlung der Mutterpartei gab es jedoch nicht, da auch sie die Befragung generell ablehnte. Wortlaut der Fragestellungen (Zahlen als Fußnotenzeichen) : 1 Sind Sie damit einverstanden, daß 3.615 qm, das sind 6,14% des 58.891 qm großen Sternwartegeländes in Wien-Währing, für den Neubau eines Zoologischen Instituts der Universität Wien verwendet werden, wobei auch ein Teil des bisher abgeschlossenen Gebietes als Park gestaltet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird ? 2 Sind Sie für wirksame Maßnahmen, um den öffentlichen Verkehr in Wien zu beschleunigen, wie z. B. durch Schaffung eigener Gleiskörper für die Straßenbahn im Straßenbereich, Abgrenzung von Straßenbahngleisen im Straßenbereich mit Schwellen u.ä.; Vorrang für die Straßenbahn bei Verkehrsregelungen und Ampelanlagen ? 3 Sollen die Propagandaständer, die auf Gehsteigen, Grasflächen etc. stehen bzw. an Bäumen und dergleichen befestigt sind und das Stadtbild stören, auch außerhalb von Wahlzeiten erlaubt sein ? 4 Sind Sie für die Schaffung einer zweiten Westeinfahrt Wiens durch den Ausbau der Flötzersteig-Bundestraße – Ja, a) als kreuzungsfreie Hochstraße über das Wiental und die Linzerstraße, b) als niveaugleiche Straße mit geregelter Kreuzung mit der Linzer Straße ; Nein ? 5 Sind Sie dafür, daß der einstimmige Gemeinderatsbeschluß vom 30. Mai 1975, der ab 1995 die Auflassung der Friedhöfe Altmannsdorf, Erlaa, Gersthof, Hadersdorf, Heiligenstadt, Hetzendorf, Hirschstetten, Kaiser-Ebersdorf, Kalksburg, Lainz, Leopoldau, Meidling, Pötzleinsdorf, Siebenhirten, Stadlau und Stammersdorf-Ort vorsieht a) aufrechtbleibt und diese Friedhöfe ab 1995 in Parkanlagen umgewandelt werden oder b) so abgeändert wird, daß diese Friedhöfe erhalten bleiben, auch wenn keine neuen Grabstellen geschaffen werden können ? 6 Sind Sie dafür, daß die Arbeitsplätze durch Vorrang für die Stadterneuerung gesichert werden (z. B. Wohnungsverbesserung statt weiterer Stadtrandsiedlungen, Nahversorgung statt neuer Supermärkte außerhalb Wiens, mehr Grün statt mehr Beton) ?
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martin dolezal 7 Sind Sie dafür, daß sich die Stadt Wien am Milliardenprojekt eines neuen Konferenzzentrums bei der UNO-City endgültig nicht beteiligt und statt dessen die Hofburg als Konferenzzentrum ausgebaut wird ? 8 Sind Sie dafür, daß der Wohnbau ohne Gewinnstreben (sozialer Wohnbau) durch Gemeinde und Genossenschaften mit seinen vielfältigen Wohnformen (mehrgeschossige Wohnhäuser in Baulücken im dichtverbauten Gebiet, Wohnungen in sanierten Altbauten, neue Wohnsiedlungen, Reihenhäuser) eine vorrangige Aufgabe der Wiener Kommunalpolitik bleibt ? 9 Sie Sie dafür, daß die Modernisierung und Wiederbelebung erhaltungswürdiger Wiener Altbauten (durch soziale Wohnbauträger, durch Hauseigentümer und Mieter oder durch Gruppen junger Menschen, denen Häuser zur Sanierung übergeben werden) verstärkt wird, wobei die Erträgnisse einer Abgabe für unvermietete Wohnungen (die von den Hauseigentümern zu leisten ist) ausschließlich der Althaussanierung zugute kommen sollen ? 10 Sind Sie dafür, daß die Altstadtsanierung verstärkt mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, mit dem Hauptziel, das charakteristische Wiener Stadtbild in den älteren Vierteln zu erhalten und dort zugleich modernen Wohnraum zu schaffen ? 11 Sind Sie für die Errichtung von 885 modernen und erschwinglichen Wohnungen in Wien-Penzing (Steinhof-Gründe), wobei gleichzeitig mehr als 200.000 qm Grünfläche, die den Wienerinnen und Wienern bisher nicht zugänglich waren, öffentlicher Grünraum werden sollen ? 12 Sind Sie dafür, daß zur Erhaltung der Vollbeschäftigung in Wien zusätzlich zum Wohnungsbau finanzielle Mittel verstärkt eingesetzt werden, um Groß- und Kleinbetriebe zu sichern beziehungsweise anzusiedeln ? 13 Sollen die Steinhof-Gründe verbaut werden ? 14 Sollen wegen der sich bedrohlich verschlechternden Verkehrs- und Umweltsituation in Wien stadtteilweise folgende Volkbefragungen durchgeführt werden ? [Anmerkung : In den Bezirken wurden unterschiedliche Projekte genannt, über die abgestimmt werden sollte.] 15 Im Jahre 1995 beabsichtigen Wien und Budapest, eine gemeinsame Weltausstellung durchzuführen. Die Ausstellung soll auf einem durch Gemeinderatsbeschluß im März 1990 festgelegten Gelände bei der UNO-City ohne Verkleinerung des Donauparks abgehalten werden. Die Weltausstellung soll von privaten Investoren durchgeführt werden, unter Ausschaltung politischer Einflußnahme. Sind Sie dafür, daß im Jahr 1995 in Wien eine Weltausstellung abgehalten wird ? 16 Die Donaukraftwerke wollen in Wien-Freudenau ein Kraftwerk errichten, das auch dazu dienen soll, den Grundwasserstand in Wien zu sichern. Es liegt ein positives Gutachten der Universität für Bodenkultur vor. Die Bewilligung dieses Kraftwerkes liegt nicht in der Kompetenz des Landes Wien. Wien möchte trotzdem über den Weg einer Volksbefragung die Meinung der Wienerinnen und Wiener zum Thema Kraftwerk Freudenau erkunden. Sind Sie dafür, daß die Donaukraftwerke im Bereich des Hafens Freudenau ein Wasserkraftwerk errichten ? 17 Im Jahr 2000 wurde durch den Bundesgesetzgeber die Möglichkeit abgeschafft, Hausbesorgerinnen und Hausbesorger anzustellen. Eine bundesgesetzliche Neuregelung ist seither nicht zustande gekommen. Sind Sie dafür, dass in Wien die Möglichkeit geschaffen wird, neue Hausbesorgerinnen und Hausbesorger (mit modernem Berufsbild) einzustellen ? 18 Internationale Studien zeigen, dass die Ganztagsschule der [sic !] entscheidende [sic !] Erfolgsfaktor für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie darstellt sowie das Bildungsniveau der Bevölkerung deutlich hebt. Sind Sie für ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen in Wien ? 19 Einige Großstädte (zum Beispiel London, Stockholm) haben zur Bewältigung des innerstädtischen Verkehrs eine Einfahrtsgebühr für das Stadtzentrum eingeführt (Citymaut). In Wien konnte durch die Verkehrspolitik (Ausbau öffentlicher Verkehr, Parkraumbewirtschaftung, Wohnsammelgaragen, Ausbau Radwegenetz) in den letzten Jahren der Autoverkehr in der Stadt deutlich reduziert werden. Soll in Wien eine Citymaut eingeführt werden ?
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die politische entwicklung wiens 20 In Wien fahren täglich Nachtbusse von 0.30 bis 5.00 Uhr. Ein 24-Stunden-U-Bahn-Betrieb am Wochenende (Freitag und Samstag) kostet pro Jahr 5 Millionen Euro und bewirkt veränderte Fahrtrouten der Nachtbusse am Wochenende. Sind Sie dafür, dass die U-Bahn am Wochenende auch in der Nacht fährt ? 21 Seit 2006 wird in Wien ein freiwilliger Hundeführschein angeboten. Der Hundeführschein ist eine fundierte Ausbildung für Hundehalterinnen und Hundehalter, bei welcher der richtige Umgang mit Hunden gelehrt wird. Bei der Prüfung müssen Hundehalterinnen und Hundehalter zeigen, dass sie den Hund auch in schwierigen Situationen im Griff haben. Sind Sie dafür, dass es in Wien für sogenannte »Kampfhunde« einen verpflichtenden Hundeführschein geben soll ?
teiligung durch die Bevölkerung und schließlich das Abstimmungsergebnis. Bei der Initiation kann rein rechtlich zwischen einer Initiative der Bürger und einem Gemeinderatsbeschluss unterschieden werden. Realpolitisch ist der Gemeinderatsbeschluss jedoch von Parteien getragen, die daher in einer Klammer angeführt sind – sofern der Beschluss nicht einstimmig erfolgte. Und auch die Initiierung durch die Bevölkerung kann realpolitisch von einer Partei durchgeführt werden, auf die daher ebenfalls in einer Klammer verwiesen wird. 1973 : Sternwartepark Der Widerstand gegen die geplante Errichtung eines Universitätsinstituts für Zoologie auf dem Areal des Sternwarteparks zeigte zu Beginn der Siebzigerjahre zunächst die Relevanz der neuen Themen Umwelt und Lebensqualität, die der sozialdemokratischen Modernisierungspolitik zum Teil entgegenstanden. Vor allem demonstrierte dieser Konflikt aber auch das Mobilisierungspotenzial der Massenmedien, das jenes der spö zumindest bei diesem Thema bei Weitem übertraf. Nachdem eine lokale Bürgerinitiative rund 16.000 Unterschriften188 gegen den geplanten Neubau gesammelt und vor allem die Kronen Zeitung eine wochenlange, heftige Kampagne gegen den »Bäumemord«189, ja sogar gegen die »Baummörder«190 geführt hatte, entschloss sich die Wiener spö auf Drängen der Bundespartei zur erstmaligen Abhaltung einer Volksbefragung. övp und fpö, die den Bau des Instituts zuvor stets unterstützt hatten, waren längst in das Lager der Gegner gewechselt und hatten sich bereits seit Längerem für eine Befragung ausgesprochen. 191 Sie lehnten aber wie die damals im Gemeinderat vertretene dfp, die eng mit der Bürgerinitiative kooperierte,192 die von der spö beschlossene Fragestellung ab.193 Die Pro-Kampagne der spö – aber auch der Universität Wien, deren Studenten zuvor rund 20.000 Unterstützungserklärungen für den Bau gesammelt hatten194 – ging ins Leere. Das Votum gegen den Bau und die nachfolgende interne Kritik an Bürgermeister Slavik, der bei Vorstandswahlen im Rahmen des Landesparteitags der spö nur von zwei Dritteln der Delegierten unterstützt wurde,195 führten daraufhin zum 89
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Abb. 13: Konflikt um den Sternwartepark, Plakat der ÖVP (1973).
Rücktritt des Regierungschefs und zur wahrscheinlich größten Krise der Wiener spö nach 1945. Wie in Abschnitt 2.3 bereits erläutert wurde, war der Streit um den Sternwartepark jedoch nur der Auslöser, aber keinesfalls der tatsächliche Grund für die interne Kritik an Slavik.
Volksbefr agung 1980 Auf Basis der 1978 geschaffenen Instrumentarien beschloss der Gemeinderat in unterschiedlichen Parteienkoalitionen beziehungsweise Alleingängen der spö vier Befragungen für den März 1980. Zwar unterstützten die Oppositionsparteien övp und fpö teilweise die Fragen, doch scheiterten sie mit Versuchen, zusätzliche Themen einzubringen : Zur Diskussion stand etwa die Errichtung einer weiteren – später auch ohne vorherige Abstimmung gebauten – Brücke über die Donau, der heutigen Brigittenauer Brücke. Während der Kampagne verweigerte Bürgermeister Gratz ostentativ eine persönliche Stimmempfehlung, nahm jedoch spö-Funktionäre von 90
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Abb. 14: Konflikt um den Sternwartepark, Plakat der FPÖ (1973).
Abb. 15: Das profil berichtete im Juni 1973 über den Rücktritt Slaviks und erinnerte an eine frühere Auseinandersetzung, die zur zweifachen Beschlagnahmung einer Ausgabe geführt hatte.
diesem Schweigegebot ausdrücklich aus.196 Die Positionen der Parteien waren somit – zumindest indirekt – für die Wiener erkennbar. Während das bewusst allgemein gehaltene Votum für den öffentlichen Verkehr und die Frage der Umgestaltung alter Friedhöfe nur wenig politischen Sprengstoff enthielten, entzündete sich ein recht heftiger Streit um das vorgeschlagene Plakatierungsverbot außerhalb von Wahlzeiten. Das von der spö angedachte Verbot von »Propagandaständern«, das heißt des Aufstellens von Dreieckständern, wurde von övp und fpö als Einschränkung ihrer oppositionellen Rechte betrachtet. Im Rahmen der Aktion »pro wien« hatte die övp zuvor regelmäßig solche Dreieckständer bei verschiedenen städtischen Problemstellen – etwa schlecht koordinierten Baustellen – postiert.197 Dieser »permanente Wahlkampf«198 richtete sich scharf gegen die regierende spö, die daraufhin mit der Volksbefragung antwortete. Den größten Konfliktstoff barg 1980 jedoch die Frage des Baus einer zweiten Westeinfahrt, der von der spö klar befürwortet und von der övp ebenso klar abgelehnt wurde. Die fpö legte sich zunächst nicht fest, war dann aber Teil des NeinLagers. Etwas verklausuliert empfahl Parteichef Erwin Hirnschall den Wienern, 91
martin dolezal bei dieser Frage so zu entscheiden, »als ob sie unmittelbar betroffen wären«.199 Aufgrund der eigentümlichen Fragestellung – neben einem »Ja« beziehungsweise einem »Nein« wurden die mit »Ja« Stimmenden zusätzlich aufgefordert, zwischen zwei Varianten des Verkehrsprojekts zu entscheiden – entzündete sich nach der Befragung ein heftiger Streit um die Interpretation des Ergebnisses. Zwar summierten sich die Ja-Stimmen zu einer Mehrheit, doch war die Nein-Antwort für sich genommen die am stärksten unterstützte Alternative. Die Angelegenheit war rechtlich problematisch, galt doch laut Stadtverfassung folgende Regelung : »Wenn über zwei oder mehrere Varianten entschieden wurde, so gilt die Variante als bejaht, auf die mehr als die Hälfte der Abb. 16: Volksbefragung 1980, Plakat der ÖVP. abgegebenen gültigen Stimmen entfallen.«200 Gestritten wurde daher, ob die beiden Zusatzfragen als eigenständige Varianten galten – so die Interpretation der Opposition – oder nur als eine Art Zusatzinformation für die generelle Unterstützung des Projekts, wie etwa der amtsführende Stadtrat Peter Schieder betonte.201 Aus Sicht von Oppositionsführer Busek wurde die »Hochleistungsstraße Flötzersteig […] von einer Mehrheit abgelehnt«202, wogegen es für die spö eine »klare Mehrheit«203 für den Bau einer zweiten Westeinfahrt gab – und zwar in der Variante einer Hochstraße quer über den xiv. Bezirk. Wie auch immer : Gebaut wurde diese Straße nie.
Volksbefr agungen 1981 Im Rahmen ihrer bundesweiten Kampagne gegen den Bau eines Konferenzzentrums bei der uno-City204 initiierte die övp im Herbst 1981 mittels Unterstützungserklärungen auch eine kommunale Volksbefragung. Die dabei bestehende Hürde von fünf Prozent der Wahlberechtigten, damals 58.672 Wiener, wurde mit 86.965 Unterstützungen klar überwunden, wenngleich das zuständige Magistratsamt auf Basis 92
die politische entwicklung wiens einer Stichprobe zwölf Prozent der Unterstützungen für ungültig erklärte : Kritisiert wurde, dass nicht alle Unterstützer über einen Hauptwohnsitz in Wien verfügten oder das aktive Wahlalter noch nicht erreicht hätten.205 Neben den einstimmigen Beschlüssen für den Bau des Konferenzzentrums im Nationalrat war es in den Sechzigerjahren auch im Gemeinderat zu gleichlautenden Voten gekommen. Die erste Kritik an den steigenden Kosten wurde dann vor allem von der fpö geäußert.206 Weder die Wiener Volksbefragung noch das österreichweite Volksbegehren der övp, das im Mai 1982 ein Viertel der Österreicher unterstützte, verhinderten jedoch den umstrittenen Bau. Die spö hatte sich dafür entschieden, die Befragung in Wien zunächst zu ignorieren, und verwies danach auf eine ihrer Ansicht nach zu geringe Beteiligung von knapp über 16 Prozent. Parallel zu der von der övp mittels Unterstützungserklärungen initiierten Volksbefragung beschloss die spö mithilfe ihrer Mehrheit im Gemeinderat eine weitere Befragung, die unmittelbar auf jene der Volkspartei folgte. Öffentliche Resonanz löste von den fünf dabei gestellten Fragen jedoch nur eine einzige aus : die geplante Verbauung der Steinhofgründe. övp und fpö sprachen sich klar gegen die Errichtung einer Wohnanlage an diesem Standort aus und unterstützten damit den Widerstand einer lokalen Bürgerinitiative, die mit 70.284 Unterstützungserklärungen die Aufnahme einer weiteren Frage durchsetzte.207 Die Wiener waren bei der Volksbefragung daher mit zwei Fragen zu ein und demselben Thema konfrontiert. Allerdings unterschieden sich deren Formulierungen deutlich. Während die spö in der Fragestellung gleich die Vorteile des Standortes pries, war die Formulierung der Bürgerinitiative an sich kurz und bündig, deutete aber ebenso das gewünschte Ergebnis an : »Sind Sie für die Errichtung von 885 modernen und erschwinglichen Wohnungen in Wien-Penzing (Steinhof-Gründe), wobei gleichzeitig mehr als 200.000 qm Grünfläche, die den Wienerinnen und Wienern bisher nicht zugänglich waren, öffentlicher Grünraum werden sollen ?« (Fragestellung der spö). »Sollen die Steinhof-Gründe verbaut werden ?« (Fragestellung der Bürgerinitiative)
Die spö war sich der Zustimmung zur Bebauung bis zuletzt sehr sicher, weshalb der zuständige amtsführende Stadtrat Johann Hatzl bereits Ende Oktober den Bau im Gemeinderat beantragt hatte, »um bei der erwarteten Zustimmung der Bevölkerung mit den sofortigen Maßnahmen beginnen zu können«.208 Das negative Votum der Wiener wurde infolgedessen als klare Niederlage der spö interpretiert. Bereits am 14. Dezember, nur drei Tage nach der Volksbefragung, hob der Gemeinderat einstimmig den Bebauungsbeschluss auf und öffnete das vorher der Bevölkerung nicht zugängliche Areal.209 Der 1973 »gerettete« Sternwartepark ist dieser hingegen ver93
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Abb. 17: Volksbefragung 1991, Plakat der FPÖ.
schlossen geblieben und dient nun der Umweltforschung.210 Erst seit Mai 2013 ist er an Wochentagen für die Bevölkerung geöffnet. Volksbefr agung 1990 Rund 70.000211 Wiener, mobilisiert durch mehrere Bürgerinitiativen und vor allem den Verein Fahrgast, setzten im Frühjahr 1990 eine Befragung durch, auf deren Wege stadtteilweise Abstimmungen zu umstrittenen Verkehrsprojekten durchgesetzt werden sollten. Die größte Resonanz erfuhr dabei der Konflikt um die Einstellung der Straßenbahnlinie 8 infolge des Ausbaus des U-Bahn-Netzes.212 Die Aktivisten der Bürgerinitiativen scheiterten jedoch – trotz Unterstützung der Oppositionsparteien, die ähnlich gelagerte Anträge zur Durchführung von Volksbefragungen stellten – letztlich an der kommunikativen Herausforderung, die Wiener zur Teilnahme an einer Befragung zu motivieren, deren Inhalt allein erneute Abstimmungen waren. Zudem war die Vorgehensweise rechtlich umstritten, da stadtteilweise Volksbefragungen nur vom Gemeinderat beschlossen werden können.213 Die sehr 94
die politische entwicklung wiens niedrige Beteiligung von nur sechs Prozent der Wahlberechtigten wurde von der alleinregierenden spö als zu gering bewertet, weshalb sie trotz der Einsetzung einer Gemeinderatskommission die Forderungen nach Durchführung der Abstimmungen überging.
Volksbefragung 1991 Die Idee zur Abhaltung einer Weltausstellung gemeinsam mit Budapest wurde Mitte der Achtzigerjahre, also vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, geboren ; bereits 1873 war Wien Schauplatz einer solchen Veranstaltung gewesen. Nachdem im November 1986 die beiden Städte ihre Bewerbung erklärt hatten, erhielten Wien und Budapest am 14. 12. 1989 – das heißt nach dem Zusammenbruch des kp-Regimes – die Vergabe für 1995.214 Im Oktober 1988 hatte der Gemeinderat einstimmig, mit den Stimmen der damals vertretenen Parteien spö, övp und fpö, die expoBewerbung (eine Abkürzung für »Exposition Mondiale«) unterstützt.215 Nach dem Fall des kp-Regimes wurde es jedoch zunehmend unklar, ob Ungarn beziehungsweise die Stadt Budapest am Projekt festhielten, weshalb sich spö und övp ab Dezember 1990 für einen eventuellen Alleingang Wiens aussprachen.216 Die fpö war zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Projekt ausgeschert und begann im März 1991 mit der Unterschriftensammlung zur Einleitung einer Volksbefragung.217 Diese Aktion sowie wachsende Proteste und mediale Kampagnen gegen eine mögliche Verkehrsbelastung und steigende Mietpreise infolge der Weltausstellung veranlassten die Großparteien schließlich zur Abhaltung einer Volksbefragung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Befragungen einigten sich die drei Parteien – die Grünen waren noch nicht im Gemeinderat vertreten – sowohl auf die Durchführung als auch auf die Fragestellung. Nicht zuletzt der Ausstieg Budapests aus dem gemeinsamen Projekt während der Kampagne führte schließlich zu einer überraschend deutlich Ablehnung durch die Bevölkerung.218 Wien zog daraufhin seine Bereitschaft zur Abhaltung der Weltausstellung zurück ; einen Ersatzkandidaten gab es für 1995 nicht. Parallel zur expo-Befragung erfolgte 1991 eine Volksbefragung über den Bau eines Donaukraftwerks im Stadtgebiet (Freudenau). Bürgermeister Zilk hatte eine solche Befragung schon länger versprochen, obwohl spö und övp Sorge hatten, die Abstimmung könnte – nach den Ereignissen von Hainburg – mit einem negativen Votum enden.219 Die Wiener entschieden sich jedoch mehrheitlich für den Bau des Kraftwerks, das 1998 seinen Betrieb aufnahm.
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martin dolezal 6.3 Direkte Demokr atie in den Bezirken Auch auf Bezirksebene sind direktdemokratische Instrumente vorhanden, doch sind sie bislang schwächer entwickelt. Neben der Möglichkeit der Bewohner, sich mit »Wünschen, Anregungen, Vorschlägen und Beschwerden«220 an den Bezirk zu wenden, besteht seit 1987 die Möglichkeit, »Bürgerversammlungen«221 abzuhalten. Die Einberufung solcher Informations- und Diskussionsveranstaltungen ist in den Bezirksvertretungen als Minderheitenrecht konzipiert, da bereits ein Fünftel der Bezirksräte die Abhaltung verlangen kann. Bürgerversammlungen können aber auch von fünf Prozent der Bezirksbewohner verlangt werden, und zwar auch von jenen Einwohnern ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die aufgrund ihres Alters (und des Fehlens sonstiger Ausschließungsgründe) bei der Gemeinderatswahl wahlberechtigt wären.222 In der Praxis kommt diesem Instrument der Bürgerbeteiligung jedoch keine große Bedeutung zu. Auf Basis der spärlich vorhandenen Informationen gab es Anfang der Neunzigerjahre im Durchschnitt rund ein Dutzend Versammlungen pro Jahr, die alle entweder von der Bezirksvertretung oder von Oppositionsparteien initiiert wurden – niemals von der Bevölkerung.223 Von den Bezirksvertretungen initiierte Befragungen sind in der Stadtverfassung nicht eigens vorgesehen, doch wurden seit den Neunzigerjahren zahlreiche Bürgerbeziehungsweise Anrainerbefragungen durchgeführt – meist zu Verkehrsproblemen. Angesichts der fehlenden rechtlichen Grundlagen kommt es vor allem bei den Anrainerbefragungen manchmal zu Auseinandersetzungen um die Frage der Stimmberechtigten. Diese werden zumeist ad hoc festgelegt : Bei einer im Juni 2011 im xvi. Bezirk abgehaltenen Befragung zum Bau einer Garage waren zum Beispiel alle jene Einwohner stimmberechtigt, die innerhalb eines Umkreises von 300 Metern vom geplanten Standort wohnten.224 Auf Basis der vorhandenen Informationen225 kann angenommen werden, dass seit den späten Neunzigerjahren solchen Befragungen eine deutlich größere Bedeutung zukommt als den »offiziellen« Bürgerversammlungen. Im Koalitionsvertrag der seit 2010 bestehenden rot-grünen Stadtregierung ist die Einführung von Volksbefragungen in Bezirken und »Grätzeln« – eine wienerische Bezeichnung für Teile von Bezirken – vorgesehen. övp, fpö und Grüne hatten dies schon lange gefordert.
7. Zusammenfassung »Wien ist anders« lautete viele Jahre lang der offizielle Slogan der städtischen Tourismuswerbung. Und tatsächlich unterscheidet sich die Großstadt Wien recht deutlich von den übrigen österreichischen Bundesländern – gerade auch hinsichtlich der 96
die politische entwicklung wiens in diesem Kapitel vorgestellten politischen Entwicklung seit 1945. In Bezug auf das politische System sind vor allem zwei miteinander verbundene Aspekte zentral : die besondere Ausgestaltung vieler politischer Institutionen aufgrund des Doppelstatus Wiens als Gemeinde und Bundesland sowie die nun bereits knapp hundert Jahre währende führende, ja hegemoniale Position der Sozialdemokratie. Der nach der Trennung von Niederösterreich geschaffene Doppelstatus Wiens als Gemeinde und Bundesland führt zu mehreren in Personalunion ausgeübten politischen Funktionen : Die gewählten Mitglieder des Gemeinderats fungieren auch als Landtagsabgeordnete ; die Stadträte und amtsführenden Stadträte sind Mitglieder der Landesregierung und der Bürgermeister amtiert auch als Landeshauptmann. Einige Konsequenzen des besonderen Status Wiens gehen aber über begriffliche Doppelungen und juristische Spitzfindigkeiten hinaus und führen letztlich zu einem politischen System, das der Mehrheitspartei relativ weitreichende Befugnisse gibt – zumindest im Vergleich zu den anderen Bundesländern und den in Österreich generell stark eingeschränkten Aspekten einer Mehrheitsdemokratie. Die Differenzierung in Regierungsmitglieder mit und ohne Ressort, in amtsführende und »nichtamtsführende« Stadträte, ist dabei der wohl hervorstechendste Faktor, da er das an sich bestehende Proporzsystem bei der Regierungsbildung bewusst hinterläuft. Aus dem Blickwinkel einer Wettbewerbsdemokratie muss ein solches Unterlaufen des Proporzes aber keineswegs negativ gesehen werden, da es zu einer besseren Zuschreibung politischer Verantwortung führt. Parallel dazu müssen jedoch institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sein, die eine wirkungsvolle kontrollierende Tätigkeit der Opposi tionsparteien ermöglichen. Letzteres war aber lange Zeit nicht gegeben. Seit 1945 wird die politische Entwicklung Wiens maßgeblich von der spö bestimmt. Die Sozialdemokraten knüpften nach dem Zusammenbruch des ns-Regimes an ihre bereits in der Ersten Republik erreichte politische Dominanz an und bestimmen seit nun bald hundert Jahren – unterbrochen nur von den beiden Diktaturen des Ständestaats/Austrofaschismus und des Nationalsozialismus – die Geschicke der Stadt. Die spö stellte alle Bürgermeister, war immer die mit Abstand stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen und verfügte auch lange Zeit über eine absolute (Mandats-)Mehrheit. Erst 1996 war sie zum ersten Mal gezwungen, eine Koalition einzugehen, konnte aber anschließend erneut für zwei Perioden alleine regieren. Und auch auf der Ebene der 23 Stadtbezirke ist die spö die dominierende Partei, wenngleich die övp und zuletzt auch die Grünen dort einige Wahlen gewinnen konnten und für ein insgesamt »bunteres« Bild als auf der Landesebene sorgen. Die Dominanz einer Partei – zumindest in Bezug auf die Parteizugehörigkeit des Landeshauptmanns – war in der politischen Entwicklung der österreichischen Bundesländer seit 1945 lange Zeit der Normalfall. Mit Blick auf die Ereignisse der vergangenen Jahre gehört Wien nun jedoch zur kleiner gewordenen Gruppe der 97
martin dolezal Bundesländer ohne Erfahrung eines Regierungswechsels. Doch Wien ist nicht nur die wahlpolitische Hochburg der spö, die Stadt besitzt im Selbstverständnis dieser Partei den besonderen Charakter eines Experimentierfeldes oder gar Modells sozial demokratischer Politik. Vor allem in Zeiten der Opposition wird Wien daher als Gegenmodell zum konservativ dominierten Bund präsentiert. Keinem Bundesland kommt für die Identität etwa der övp eine ähnlich überragende Bedeutung zu. Der stark eingeschränkte politische Wettbewerb vor allem auf der Landesebene ist auch die Konsequenz einer strukturellen Schwäche der übrigen Parteien. Für die övp ist Wien letztlich ein Dauerproblem. Allein in der Periode der »bunten Vögel« unter der Führung Buseks fand die Volkspartei in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren ein Konzept, das sie auch für urbane Wähler attraktiv machte. Die fpö war bis in die Achtzigerjahre eine wenig bedeutende Kleinpartei, erst ihre verstärkt rechtspopulistische Ausrichtung und eine Veränderung der Themenlandschaft machte sie vor allem seit den Neunzigerjahren zu einem relevanten Kontrahenten. Die Allmacht der spö und ihr System des »freundlichen Absolutismus«226, wie es die Stadtzeitung Falter kürzlich bezeichnete, wurden daher in manchen Phasen der Stadtpolitik weniger von den Oppositionsparteien als von kritischen Medien und engagierten Bürgergruppen beschränkt. Die in den Siebzigerjahren aufgekommene Umweltbewegung, vor allem aber der generelle Wunsch nach mehr Mitbestimmung standen der Modernisierungspolitik der spö zunächst im Weg. Die Wiener spö hat auf diese Veränderungen der politisch-kulturellen Rahmenbedingungen jedoch reagiert : Maßnahmen zur Schaffung einer »autogerechten« Stadt oder die Durchführung von Bauprojekten ohne Beteiligung der betroffenen Anrainer gehören im Großen und Ganzen eindeutig der Vergangenheit an. Und auch die starke parteipolitische Indienstnahme des sozialen Wohnbaus und der Beschäftigung im öffentlichen Dienst hat ihren Höhepunkt schon lange überschritten. Die Regierungstätigkeit der spö kann daher – trotz aller Konsequenzen einer jahrzehntelangen De-facto-Alleinherrschaft – insgesamt als Erfolg bewertet werden : Schließlich zählt Wien seit Jahren zu den Großstädten mit der weltweit höchsten Lebensqualität.227
Anmerkungen 1 Barbara Steininger (Wiener Stadt- und Landesarchiv) und Wolfgang C. Müller (Universität Wien) verdanke ich einige wertvolle Hinweise. Ferner möchte ich mich für den – kostenlosen – Abdruck von Coverseiten des Nachrichtenmagazins profil bedanken sowie bei der ARGE Media-Analysen, die mir Ergebnisse ihrer Reichweitenanalysen von Tageszeitungen zur Verfügung stellte. 2 Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Ausländerfeindlichkeit als Wahlmotiv ? Analyse der Wiener Gemeinderatswahl 1991. In : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1991. S. 97–120.
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die politische entwicklung wiens 3 Erhard Busek, Hauptstadt und Bundesland. Eine parallele Existenz. In : Robert Kriechbaumer (Hg.), Liebe auf den zweiten Blick. Landes- und Österreichbewußtsein nach 1945. Wien 1998. S. 47–61, hier S. 47. 4 Neue Freie Presse, 5.5.1919, S. 1, »Sozialdemokratische Mehrheit im Gemeinderate und im Landtage« (online unter http ://anno.onb.ac.at/anno.htm ; aufgerufen am 2.10.2011). 5 Maren Seliger, Bundesland Wien – Zur Entstehungsgeschichte der Trennung Wiens von Niederösterreich. In : Wiener Geschichtsblätter 37 (1982), S. 181–216. 6 Wolfgang Mayer, Territoriale Veränderungen im Raume Wien 1938–1954. In : Wiener Geschichtsblätter 30 (3) (1975). S. 286–294, hier S. 288. 7 Maren Seliger, Groß- oder Klein-Wien ? Politische Auseinandersetzungen um die Nachkriegsgrenzen und Stadtentwicklungsziele. In : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 51 (1995), S. 209–241. 8 Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert. Wien 2000. S. 68–69. 9 Mayer, Veränderungen, S. 289–292. 10 Günther Goller/Oskar Wawra, Der Wiener Landtag. In : Herbert Schambeck (Hg.), Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich. Wien 1992. S. 589–641, hier S. 597–598. 11 Manfried Rauchensteiner, Kriegsende und Besatzungszeit in Wien 1945–1955. In : Wiener Geschichtsblätter 30 (2) (1975), S. 197–220, hier S. 216. 12 Mayer, Veränderungen, S. 293. 13 Seliger, Klein-Wien, S. 228–229. 14 Felix Czeike, Wien und seine Bürgermeister. Sieben Jahrhunderte Stadtgeschichte. Wien 1974. S. 450. 15 Goller/Wawra, Landtag, S. 609. 16 Art. 117 (5) Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG). 17 Landesgesetzblatt (LGBl.) für Wien 26/1965. 18 Goller/Wawra, Landtag, S. 619. 19 Manfried Welan, Der »nichtamtsführende« Stadtrat. In : Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger/Hans Richard Klecatsky/Karl Korinek/Wolfgang Mantl/Peter Pernthaler (Hg.), Der Rechtsstaat vor neuen Heraus forderungen. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag. Wien 2002. S. 817–830, hier S. 818. 20 Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung §9 bzw. Geschäftsordnung des Wiener Stadtsenats §10. 21 Goller/Wawra, Landtag, S. 622. 22 Welan, Stadtrat, S. 816. 23 Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 13.3.1993 (Geschäftszahl G76/92). 24 Wiener Stadtverfassung (WStV) § 132 (1). 25 Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung § 2 (2). 26 Wolfgang C. Müller/Josef Melchior, Parteien und Parteiensystem in Wien. In : Herbert Dachs (Hg.), Parteien und Wahlen in den österreichischen Bundesländern (= Österreichisches Jahrbuch für Politik, Sonderband 4). Wien 1992. S. 533–604, hier S. 536. 27 Müller/Melchior, Parteien, S. 537. 28 Maren Seliger/Karl Ucakar, Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932. Privilegien, Partizipationsdruck und Sozialstruktur. Wien 1984. S. 140. 29 Der Standard, 26.3.2001, S. 6, »Ein Fest in Rot und Grün«. 30 Michael Häupl, Verwalten und/oder Gestalten. Sozialistische Kommunalpolitik in der Zweiten Republik. In : Peter Pelinka/Gerhard Steger (Hg.), Auf dem Weg zur Staatspartei. Zur Geschichte und Politik der SPÖ seit 1945. Wien 1988. S. 377–390, hier S. 377. 31 So Leopold Gratz in einer Wahlkampfrede am 17.9.1973. Abgedruckt in : Die Zukunft, Nummer 19/1973, S. 1.
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32 Heinz Nittel, SPÖ Wien 1945–1975. Programme, Daten, Fakten. Wien : Sozialistische Partei Österreichs, Landesorganisation Wien 1978. S. 5. 33 Mattl, Wien, S. 45. 34 Mattl, Wien, S. 46. 35 Kurt Stimmer, Döbling – ein Bezirk zwischen Cottage und Karl-Marx-Hof. Geschichte der Sozialdemokratie in Döbling. Wien 1992. S. 33–34. 36 Quelle : »Wiener Wohnen« (vgl. https ://www.wohnservice-wien.at/home/gemeindebauten ; aufgerufen am 8.10.2011). 37 Gustav Bihl, Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte. In : Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3 : Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien 2006. S. 545–650, hier S. 547– 548. 38 Peter Eigner/Herbert Matis/Andreas Resch, Sozialer Wohnbau in Wien. Eine historische Bestandsaufnahme. In : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 55 (1999). S. 49–100, hier S. 58. 39 Eigner et al., Wohnbau, S. 82. 40 LGBl. für Wien 1972/16. 41 Andreas Pittler, Die Bürgermeister Wiens. Die Geschichte einer Stadt in Porträts. Wien 2003. S. 149. 42 Eigner et al., Wohnbau, S. 96. 43 Hans-Georg Heinrich, Politische Kultur in Wien. In : Hans-Georg Heinrich (Hg.), Politische Kultur in Österreich. Linz 1989. S. 18–27, hier S. 21–22 ; Peter Gerlich/Helmut Kramer, Abgeordnete in der Parteiendemokratie. Eine empirische Untersuchung des Wiener Gemeinderates und Landtages. Wien 1969, hier S. 177. 44 Martin Dolezal, Wien blieb rot. Landtagswahlkämpfe in Wien 1945–1969. In : Herbert Dachs (Hg.), Zwischen Wettbewerb und Konsens. Landtagswahlkämpfe in Österreichs Bundesländern 1945 bis 1970. Wien 2006. S. 407–454. 45 Politische Protektion – selbstverständlich ? In : Die Meinung. Journal für angewandte Sozialforschung 9 (1–2) (1969). S. 2–5, hier S. 3. 46 Diese Ergebnisse einer von Fessel-GfK durchgeführten Studie erwähnen Hans-Georg Heinrich/Slawomir Wiatr, Political Culture in Vienna and Warsaw. Boulder 1991. S. 157. Der relativierende Verweis auf die unterschiedliche Sozialstruktur der beiden Wählergruppen stammt hingegen allein vom Autor des vorliegenden Beitrags. 47 Bihl, Wien, S. 597. 48 Quelle : »Wiener Wohnen« (vgl. https ://www.wohnservice-wien.at/home/gemeindebauten ; aufgerufen am 8.10.2011). 49 Quelle : Verschiedene Ausgaben der Zeitschrift »Der Gemeindebedienstete« bzw. »Wir Gemeindebedienstete«. 50 Quelle : Volkszählungen, vgl. http ://www.statistik.at/web_de/static/bevoelkerung_nach_dem_religionsbe kenntnis_und_bundeslaendern_1951_bis_2001_022885.xls, bzw. http ://www.statistik.at/web_de/static/ bevoelkerung_2001_nach_religionsbekenntnis_staatsangehoerigkeit_und_bundesl_022895.xls ; aufgerufen am 23.8.2011. 51 Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Regionale Mentalitätsdifferenzen in Österreich. Empirische Sondierungen. In : Herbert Dachs (Hg.), Der Bund und die Länder. Über Dominanz, Kooperation und Konflikte im österreichischen Bundesstaat. Wien 2003. S. 421–440, hier S. 425–435. 52 Rainer Nick, Die Bundesländer und das österreichische Parteiensystem. In : Anton Pelinka/Fritz Plasser (Hg.), Das österreichische Parteiensystem. Wien 1988. S. 401–418, hier S. 414. 53 Plasser/Ulram, Mentalitätsdifferenzen, S. 425–435.
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54 Roland Deiser/Norbert Winkler, Das politische Handeln der Österreicher. Wien 1982. 55 Deiser/Winkler, Handeln, S. 74–75 und S. 274. 56 Mattl, Wien, S. 81–82. 57 Herbert Dachs, Medien, Parteien, Verbände und Wahlen in den österreichischen Bundesländern. Ein Überblick. In : Herbert Dachs/Franz Fallend/Elisabeth Wolfgruber (Hg.), Länderpolitik. Politische Strukturen und Entscheidungsprozesse in den österreichischen Bundesländern. Wien 1997. S. 13–72, hier S. 17. 58 Ulrike Harmat, Die Medienpolitik der Alliierten und die österreichische Tagespresse 1945–1955. In : Gabriele Melischek/Josef Seethaler (Hg.), Die Wiener Tageszeitungen. Eine Dokumentation. Bd. 5 : 1945– 1955. Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresse der Zweiten Republik bis 1998. Frankfurt am Main 1999. S. 57–96. 59 Die Kleinschreibung entspricht dem Markennamen des Magazins. 60 Profil Nr. 6 von 1975 titelte etwa : »Die Zukunft Wiens : Was tut Leopold Gratz (außer Whisky trinken)«. 61 Siehe Anton Pelinka, »Wanzenjournalismus« und »Zerfall der Geschlossenheit«. Der AKH-Skandal. In : Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.) : Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. 2. durchges. u. erw. Aufl. Thaur 1996. S. 532–545. 62 Mattl, Wien, S. 84–97 ; Bihl, Wien, S. 622–626. 63 Robert Kriechbaumer, Österreichs Innenpolitik 1970–1980 (= Österreichisches Jahrbuch für Politik, Sonderband 1). München 1981. S. 153–173. 64 Wolfgang C. Müller, Die Organisation der SPÖ, 1945–1995. In : Wolfgang Maderthaner/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie. Wien 1996. S. 195–356, hier S. 295–298. 65 Karl Czernetz, Die Wiener Volksbefragung. In : Die Zukunft 11 (1973). S. 8. 66 Arbeiterzeitung, 30.4.1972, S. 3, »Wer subventioniert ›Profil‹ ?« 67 Kriechbaumer, Innenpolitik, S. 159–160. 68 Peter A. Ulram, Politischer Wandel in Wien 1972–1983. In : Erhard Busek (Hg.), Mut zum aufrechten Gang. Beiträge zu einer anderen Art von Politik. Wien 1983. S. 157–176, hier S. 163. 69 Bihl, Wien, S. 626. 70 Ebd. 71 Falter, Nr. 31 vom 1.8.2001, S. 14, »Die Sendung mit dem Haider«. Noch Mitte der Neunzigerjahre gab es eine solche »Sendung des Landeshauptmanns« in allen anderen Bundesländern ; vgl. Michael Holoubek, Die rundfunkrechtliche Zulässigkeit der »Sendung des Landeshauptmanns«. In : Rundfunkrecht. Beilage zur Zeitschrift Österreichische Blätter für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (1) (1995), S. 1–11, hier S. 1. 72 So die Ergebnisse von Inhaltsanalysen der Forschungsgruppe »Mediawatch«. Vgl. z. B. den »StandardBericht Mai 2005 : Medienpräsenz der Parlamentsparteien« oder »Landeshauptleute in den ORF – Bundesland heute-Sendungen. Sonderedition erstellt für Der Standard (2008).« Ältere Studien sind nicht vorhanden. 73 Dolezal, Wien. 74 Ulram, Wandel, S. 166–169. 75 Fritz Plasser und Peter A. Ulram, Analyse der Wiener Gemeinderatswahl 1987. Die Stadt der Nichtwähler. In : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1987. S. 57–78. 76 Art 95 (1) B-VG. 77 Karl Ucakar, Direkte Demokratie und Wahlrecht in Wien. In : Josef Rauchenberger (Hg.), Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. S. 161–262, hier S. 202. 78 Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 30.6.2004 (Geschäftszahl G218/03). 79 Dolezal, Wien, S. 415.
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80 Die Presse, 9.9.2011, S. 13, »Wiener Wahlrecht : Ende für SP-Vorteil steht bevor«. 81 LGBl. für Wien 5/1981, §42. 82 Ucakar, Demokratie, S. 224. 83 Die Presse, 9.9.2011, S. 13, »Wiener Wahlrecht : Ende für SP-Vorteil steht bevor«. 84 Goller/Wawra, Landtag, S. 629–630. 85 WStV §§5 und 10. 86 Heinrich/Wiatr, Culture, S. 34. 87 Seit der in Endnote 43 zitierten Studie von Gerlich und Kramer ist keine ähnliche Publikation mehr erschienen. 88 Goller/Wawra, Landtag, S. 616. 89 LGBl. für Wien 26/2001. 90 Dagmar Aigner, Die Landtage. In : Herbert Dachs/Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kra mer/Volkmar Lauber/Wolfgang C. Müller/Emmerich Tálos (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch. Wien 2006. S. 959–973, hier S. 961. 91 WStV kundgemacht am 15.10.1968 (LGBl. für Wien 1968/28) §19. 92 Die Präsidiumsmitglieder des Landtags sind unter http ://www.wien.gv.at/kultur/archiv/politik/landtag. html aufgelistet (aufgerufen am 7.12.2011). Für die Identifikation der Vorsitzenden des Gemeinderats wurde auf die Angaben bei Wolfgang Solt, Mitglieder des Gemeinderates der Stadt Wien (Wiener Landtages) und des Stadtsenates der Stadt Wien (der Wiener Landesregierung) 1945–2002. Wien 2002 sowie auf OTS-Meldungen und Gemeinderatsprotokolle zurückgegriffen. 93 WStV §120 (5). 94 WStV §21 (2) bzw. §120 (2). 95 WStV §22 (4) bzw. §120 (4). 96 So auch die Einschätzung von Gerlich/Kramer, Abgeordnete, S. 35. 97 So war zum Beispiel die 40. Sitzung des Gemeinderats am 26.2.1982 eine »nichtöffentliche Sitzung«. 98 Maria Hampel-Fuchs, Wien ist anders. Das dritte Modell des Föderalismus in Wien. Wien 2008, hier S. 46. 99 Aigner, Landtage, S. 965. 100 Goller/Wawra, Landtag, S. 612. 101 Barbara Steininger, Der Wiener Landtag – das unbekannte Wesen im Mehrebenensystem. In : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 60 (2004). S. 303–326, hier S. 325. 102 Rathauskorrespondenz, 5.6.2000. 103 Vgl. http ://www.wien.gv.at/gr-ltg-tv/ (aufgerufen am 10.11.2011). Die Anzahl der Seher muss jedoch als relativ gering bewertet werden, mehr als rund 1000 bis 2000 Interessierte wurden noch nicht gemessen (vgl. Wiener Zeitung, 8.2.2011, S. 28, »Politik nicht ›im stillen Kämmerlein‹«). 104 Claudia Palt, Der Wandel einer politischen Elite. Der Wiener Gemeinderat/Landtag 1945–1999. Dissertation Universität Wien 2000. S. 192. 105 Elisabeth Wolfgruber, Politische Repräsentation auf Länderebene : Die Landtage und ihre Abgeordneten. In : Herbert Dachs/Franz Fallend/Elisabeth Wolfgruber (Hg.), Länderpolitik. Politische Strukturen und Entscheidungsprozesse in den österreichischen Bundesländern. Wien 1997. S. 73–229, hier S. 169. Vgl. auch Steininger, Landtag, S. 316. 106 Palt, Wandel, S. 198 und 201. 107 Palt, Wandel, S. 208. 108 Diese Zahlen beruhen auf einem vom Autor zusammengestellten Datensatz mit biografischen Angaben zu allen Mitgliedern des Stadtsenats seit 1945.
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109 Johannes Hahn (ÖVP) ist die einzige Ausnahme. 110 Manfried Welan, Der Bürgermeister der Bundeshauptstadt Wien. Schriftliche Fassung eines Vortrages, den der Verfasser am 13. November 1989 im Rahmen des von Karl Korinek veranstalteten staatsrechtlichen Konversatoriums zu Grundfragen und aktuellen Problemen der österreichischen Politik an der Wirtschaftsuniversität Wien gehalten hat. Wien 1992. S. 10. 111 WStV §34. 112 Müller/Melchior, Parteien, S. 549. 113 Vgl. http ://www.wien.gv.at/mdb/sts/1998/index.htm (aufgerufen am 18.8.2011). 114 Siehe dazu Wolfgang C. Müller/Kaare Strom, Koalitionsregierungen in Westeuropa – eine Einleitung. In : Wolfgang C. Müller/Kaare Strom (Hg.), Koalitionsregierungen in Westeuropa. Bildung, Arbeitsweise und Beendigung. Wien 1997. S. 9–45, hier S. 16. 115 Müller/Melchior, Parteien, S. 547. 116 Bihl, Wien, S. 632. 117 Müller/Melchior, Parteien, S. 590–591. 118 Gerlich/Kramer, Abgeordnete, S. 42. 119 Goller/Wawra, Landtag, S. 637–640. 120 Arbeiterzeitung, 20.3.1958, S. 1, »Wiens große Stadtbaupläne«. 121 Ilse König, Vom Hochwasserdamm zur Copa Cagrana. Projekt Donauinselplanung. In : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 30–37, hier S. 31–32. 122 Thomas Köhler, Von Falken und sonstigen »bunten Vögeln«. Eine (etwas andere) Geschichte der Wiener ÖVP. In : Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hg.), Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945. Wien 1995. S. 467–488, hier S. 471. 123 Anton Fürst, Nach dem Ende der Rathauskoalition. In : Österreichische Monatshefte 30 (2) (1974). S. 17–19, hier S. 17. 124 Arbeiterzeitung, 6.7.1973, S. 1, »Schutz für Bäume auch auf Privatgrund«. 125 Franz Fallend, »Kabinettsystem« und Entscheidungsfindungsprozesse in den österreichischen Landesregierungen. In : Herbert Dachs/Franz Fallend/Elisabeth Wolfgruber (Hg.), Länderpolitik. Politische Strukturen und Entscheidungsprozesse in den österreichischen Bundesländern. Wien 1997. S. 231–354, hier S. 254. 126 Kurt Stimmer, Wien 2000. Wiens kommunale Entwicklung seit 1945. Wien 1999. S. 330–334. 127 WStV §31 (1–2). 128 Welan, Bürgermeister, S. 8. 129 Dolezal, Wien. 130 Welan (Bürgermeister, S. 8–9) betont, dass laut Bundesverfassung der Landeshauptmann vom Landtag gewählt wird und schließt damit eine Direktwahl des Bürgermeisters, der ja auch zugleich Landeshauptmann ist, aus. Goller/Wawra (Landtag, S. 622–623) verweisen hingegen auf Autoren, die eine Direktwahl – zumindest theoretisch – für möglich halten. 131 B-VG Art. 101 (4). 132 Welan, Bürgermeister, S. 7. 133 Geschäftsordnung des Wiener Stadtsenates §24. 134 Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung §21. 135 Welan, Bürgermeister, S. 31. 136 Welan, Bürgermeister, S. 24. 137 Rudolf Prikryl, der in der Literatur vereinzelt als »Drei-Tage-Bürgermeister« angeführt wird, wurde am 11.4.1945 von Widerstandsgruppen zum Vizebürgermeister designiert und »amtierte« bis zum 17.4., als
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sich SPÖ, ÖVP und KPÖ auf das Team um Körner einigten. Bürgermeister, auch provisorischer, war Prikryl jedoch nie. Siehe dazu Karl Fischer, Phantom Prikryl. Die Person des Rudolf Prikryl, die Legende vom »Drei-Tage-Bürgermeister« und der Amtsantritt Theodor Körners als Wiener Bürgermeister. In : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 51 (1995). S. 265–298. 138 Peter Gerlich, Theodor Körner. In : Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik. Wien 1995. S. 307– 313, hier S. 309. 139 Kurze Einblicke in ihren Werdegang bieten z. B. die beiden folgenden Beiträge : Peter Gutschner, Franz Jonas. In : Dachs/Gerlich/Müller, Politiker, S. 250–256, sowie Manfred Marschalek, Felix Slavik. In : Dachs/Gerlich/Müller, Politiker, S. 533–539. 140 Quelle : Eintrag zu Bruno Marek in »dasrotewien.at«, dem Weblexikon der Wiener Sozialdemokraten (http ://www.dasrotewien.at/marek-bruno.html ; aufgerufen am 1.8.2011). 141 Karl Vocelka, Leopold Gratz. In : Dachs/Gerlich/Müller, Politiker, S. 185–191, hier S. 186. 142 Müller/Melchior, Parteien, S. 584. 143 Pittler, Bürgermeister, S. 147–148. 144 Müller/Melchior, Parteien, S. 603. 145 Rainer Nick, Die Bundesländer und das österreichische Parteiensystem. In : Anton Pelinka/Fritz Plasser (Hg.), Das österreichische Parteiensystem. Wien 1988. S. 401–418, hier S. 408. 146 Nick, Bundesländer, S. 408–409. 147 Müller, Organisation, S. 284. 148 Statut der SPÖ – Landesorganisation Wien §45. 149 Manfried Welan, Die Bezirksvorsteher der Bundeshauptstadt Wien. Neue überarbeitete Fassung 2002 (= Universität für Bodenkultur Wien : Institut für Wirtschaft, Politik und Recht ; Dokumentation Nr. 20). 150 Josef Rauchenberger, Rückblick und Zukunft der Bezirksvertretungen in Wien. In : Josef Rauchenberger (Hg.), Bezirksvertretungen in Wien. Wien 1990. S. 69–90, hier S. 77–80. 151 LGBl. für Wien 12/1978. 152 Rauchenberger, Rückblick, S. 83–89 ; LGBl. für Wien 32/1987. 153 Josef Ponzer, Die rechtliche Beurteilung der Wiener Bezirksvertretungen. In : Rauchenberger, Bezirksvertretungen, S. 27–31, hier S. 31. 154 Dieser Wert ergibt sich auf Basis einer Berechnung der »effektiven Prozenthürde« von Wahlsystemen. Siehe dazu z. B. Arend Lijphart, Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in ThirtySix Countries. New Haven 1999, S. 153. 155 WStV §64 (1). 156 Hubert Sickinger, BezirksvorsteherInnen in Wien, 2003 (= Universität für Bodenkultur Wien : Institut für Wirtschaft, Politik und Recht ; Diskussionspapier Nr. 99-R-03), S. 57. 157 Hanna-Maria Wismühler, Die Dezentralisierung – mehr Rechte für die Bezirke. In : Perspektiven – 15 Jahre Dezentralisierung [2003], S. 16–34, hier S. 17. 158 Hubert Sickinger, Demokratie in der kleinen Einheit. Wien, Innere Stadt – Eine Fallstudie. Wien 2002, S. 25. 159 WStV §61a. 160 Fischer, Phantom, S. 273–274. 161 Rauchenberger, Rückblick, S. 74–75. 162 WStV §61b (1). 163 Welan, Bezirksvorsteher, S. 6. 164 Sickinger, BezirksvorsteherInnen, S. 48–49. 165 WStV §64 (3).
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166 WStV §61b (4). 167 Sickinger, Demokratie, S. 24–25. 168 Sickinger, Bezirkspolitik, S. 51–81. 169 Kurier, 1.11.2000, S. 10, »Nur jeden vierten Wiener interessiert Bezirkspolitik«. 170 Die den Berechnungen zugrundeliegenden Daten wurden von Barbara Steininger (Landtags- und Gemeinderatsdokumentation des Wiener Stadt- und Landesarchivs) zusammengestellt. Vgl. http ://www. wien.gv.at/kultur/archiv/politik/bezirk.html (aufgerufen am 25.7.2011). 171 Dieser – leicht spöttische – Begriff geht auf »Transleithanien« zurück, eine während der Monarchie gebrauchte inoffizielle Bezeichnung für die jenseits des kleinen Grenzflusses Leitha gelegenen Länder der ungarischen Krone. 172 Amir Abedi und Alan Siaroff, The Mirror has Broken : Increasing Divergence between National and Land Elections in Austria. In : German Politics 8 (1) (1999), S. 207–227. 173 1996 war die Anzahl der Wahlberechtigten bei den Bezirksvertretungswahlen um 1,6 Prozent höher als bei der Gemeinderatswahl. Zuletzt betrug der prozentuelle Unterschied – vor allem aufgrund eines starken Zuzugs aus Deutschland – bereits 9,5 Prozent. Die Wahlbeteiligung der EU-Ausländer kann auf Basis eines Vergleichs der Anzahl der Wahlberechtigten und der abgegebenen Stimmen bei den beiden Wahltypen berechnet werden : 2010 betrug die Beteiligung der EU-Ausländer auf Basis dieser Kalkulation nur 18,5 Prozent. 174 Die klassische Studie, die auch Österreich berücksichtigt, ist immer noch Samuel H. Barnes/Max Kaase (Hg.), Political Action – Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly Hills 1979. 175 Martin Dolezal/Swen Hutter, Konsensdemokratie unter Druck ? Politischer Protest in Österreich, 1975– 2005. In : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 36 (3) (2007), S. 338–352. Die im Rahmen der Studie erhobenen Daten basieren auf der Berichterstattung der Presse, der einzigen im gesamten Untersuchungszeitraum vorhandenen österreichweit relevanten Qualitätszeitung. Da Wien Redaktionssitz dieser Zeitung ist, hatten Ereignisse in Wien zusätzlich eine größere Chance, in die Berichterstattung aufgenommen zu werden. 176 Gerard Kasemir, Spätes Ende für »wissenschaftlich« vorgetragenen Rassismus. Die Borodajkewycz-Affäre 1965. In : Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. 2. durchges. u. erw. Aufl. Thaur 1996. S. 486–501. 177 Georg Friesenbichler, Unsere wilden Jahre. Die Siebziger in Österreich. Wien 2008, S. 72–73. 178 Bärbel Danneberg/Fritz Keller/Aly Machalicky/Julius Mende (Hg.), Die 68er : eine Generation und ihr Erbe. Wien 1998, S. 110–119. 179 Helmut Hofmann, Bürgerinitiativen in Wien. In : Aktion 21 – pro Bürgerbeteiligung (Hg.) : Raus aus der Sackgasse. Bürgerinitiativen und Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 2009, S. 19–24, hier S. 21–23. 180 Eduard Michelitsch/Otto Swoboda, Das war die alte Matzleinsdorfer Florianikirche. In : Steine sprechen, 2. Sondernummer 1968, S. 18. 181 Ucakar, Demokratie, S. 202–203. 182 Siegbert Morscher, Landesgesetzgebung und direkte Demokratie. In : Herbert Schambeck (Hg.), Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich. Wien 1992. S. 137–165, hier S. 141. 183 WStV §131c. 184 WStV §131b. 185 WStV §112e-h. 186 WStV §112a-d. 187 Gemeinderat der Bundeshauptstadt Wien, 18. Wahlperiode, Protokoll der 55. Sitzung vom 18. Dezember 2009, S. 59–60. 188 Anton Fürst, Volksbefragungen in Wien. Wien 1982, S. 9.
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189 So die Schlagzeile der Kronen Zeitung am 15.5.1973 : »Nicht nur im Wiener Sternwartepark Bäumemord«. 190 Kronenzeitung, 15.5.1973, S. 8–9, »700 Bäume sollen gemordet werden.« In diesem Artikel wurde – in Bezug auf die Volksbefragung – zu »einem klaren ›Nein‹ gegen die Baummörder« aufgerufen. 191 Peter A. Ulram, Zwischen Bürokratie und Bürger. Sozialistische Kommunalpolitik in Wien, Stockholm und Bologna. Wien 1978, S. 52. 192 Bihl, Wien, S. 616. 193 Rathauskorrespondenz, 4.5.1973. 194 Ilse König, Vom Hochwasserdamm zur Copa Cagrana. Projekt Donauinselplanung. In : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.) : Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 30–37, hier S. 31. 195 Arbeiterzeitung, 3.6.1973, S. 1, »Felix Slavik stellt sein Amt zur Verfügung«. 196 Rathauskorrespondenz, 4.3.1980. 197 Fürst, Volksbefragungen, S. 27. 198 Müller/Melchior, Parteien, S. 585–586. 199 Rathauskorrespondenz, 4.3.1980. 200 WStV 112c (2). 201 Rathauskorrespondenz, 21.3.1980. 202 Rathauskorrespondenz, 19.3.1980. 203 Rathauskorrespondenz, 20.3.1980. 204 Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Politischer Protest und politische Strategie : das Volksbegehren gegen den Neubau des Internationalen Konferenzzentrums in Wien. In : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1982. S. 23–41. 205 Die entsprechende Erklärung des amtsführenden Stadtrats Franz Nekula vor dem Gemeinderat am 20.11.1981 ist abgedruckt in Josef Rauchenberger, Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. S. 788–789. 206 Fürst, Volksbefragungen, S. 55. 207 Rauchenberger, Stichwort, S. 804–806. 208 Rathauskorrespondenz, 30.10.1981. 209 Fürst, Volksbefragungen, S. 13. 210 Der Standard, 4.6.2011, S. 14, »Ein Stück Wildnis mitten in Wien«. 211 Quelle : Verschiedene Presseaussendungen von ÖVP und FPÖ. Eine genaue Zahl ist darin nicht vorhanden. Auch im Amtsblatt der Stadt Wien sowie in der Rathauskorrespondenz ist bloß vermerkt, dass die notwendige Anzahl an Unterstützungen vorlag. 212 Ilse König, Offene Planung, offener Ausgang. Projekt Gürtelkommission. In : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 49–57, hier S. 57. 213 Josef Ponzer/Gerhard Cech, Die Verfassung der Bundeshauptstadt Wien. Kurzkommentar. Wien 2000, S. 181. 214 Gerhard Feltl/Eugen Semrau, Von der Ambition zur Resignation. EXPO ’95 – Ein österreichisches Schicksal. In : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1992. S. 689–710, hier S. 689–690. 215 Thomas Seifert, Vom Traum zum Trauma. Projekt Weltausstellung EXPO ’95. In : Eugen Antalovsky/ Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 64–71, hier S. 64. 216 Seifert, Traum, S. 64. 217 OTS, 2.4.1991, »Hirnschall : 50.000 Unterschriften für Expo-Volksbefragung«. 218 Seifert, Traum, S. 66. 219 Thomas Seifert, Erfolgreich ! Projekt Kraftwerk Freudenau. In : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 72–75, hier S. 74.
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die politische entwicklung wiens 220 WStV §104b. 221 WStV §104c. Siehe auch Friedrich Brunner, Die Organisation der »neuen« Dezentralisierung der Verwaltung der Stadt Wien. In : Josef Rauchenberger (Hg.), Bezirksvertretungen in Wien. Wien 1990, S. 33–68, hier S. 68. 222 WStV § 104c (2). 223 Diese Schätzung beruht auf einer Recherche von Presseaussendungen (Rathauskorrespondenz bzw. OTS). In mehreren Fällen konnte dabei jedoch nicht geklärt werden, ob es sich bei der Veranstaltung tatsächlich um eine Bürgerversammlung gemäß WStV handelte. Gerade die Oppositionsparteien, aber auch die Stadtregierung selbst bedienen sich bei eigenen Veranstaltungen gerne dieses Begriffs. Auch eine vom Autor an die Büros der 23 Bezirksvorstehungen per E-Mail und Begleitschreiben gerichtete Bitte um Information führte zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Einem ehemaligen Bezirksvorsteher war diese Institution zumindest im ersten Moment nicht geläufig ; in anderen Bezirken – so das Ergebnis der Rückmeldungen – waren nach einem Wechsel der stärksten Partei oder der EDV-Organisation keine Unterlagen mehr vorhanden. Da weniger als die Hälfte der Bezirke auf die Bitte um Information reagierte, musste dieser Versuch der Informationsgewinnung abgebrochen werden. 224 Vgl. http ://www.wien.gv.at/bezirke/ottakring/verkehr/wohnsammelgarage.html (aufgerufen am 3.10.2011). 225 Vgl. Endnote 223. 226 Falter, 28.8.2011, S. 24, »Was der Rathausmann gerne liest«. 227 Vgl. dazu die vielzitierten Ergebnisse der Mercer-Studie : http ://www.mercer.com/press-releases/qualityof-living-report–2010#City_Ranking_Tables ; aufgerufen am 5.10.2011.
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peter eigner · andreas resch
Wirtschaft und Stadt : Ökonomische Entwicklungsprozesse in Wien von 1945 bis 19951 1. Einleitung
S
tädte haben das Potenzial, durch die Ballung von wirtschaftlichen Aktivitäten stimulierende Bedingungen für Entwicklung zu generieren. Beschreibungen und Analysen derartiger Prozesse müssen zwangsläufig immer Komplexität reduzieren, also auf einer Auswahl berücksichtigter Aspekte und Faktoren basieren. Als wesentliche Determinanten können z. B. naturräumliche Standorteigenschaften, stadtplanerische Aktivitäten, die Entwicklung der sozialen und technischen Infrastruktur, demografische Trends sowie die ökonomischen und politischen Ereignisse der sogenannten »großen Geschichte« gelten. Von erheblichem Einfluss sind des Weiteren technologische und unternehmerische Innovationen, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen von den wirtschaftlichen Akteurinnen und Akteuren realisiert werden können. Eine Stadt ist ein komplexes System, für dessen Funktionieren weit mehr als nur ein ausreichendes Ausmaß an Wohnraum, Verkehrseinrichtungen und Arbeitsstätten erforderlich ist. Zu den notwendigen infrastrukturellen Einrichtungen gehören z. B. auch Systeme der Energieversorgung sowie der Entsorgung und im Falle Wiens auch des Hochwasserschutzes. Diverse Freizeiteinrichtungen erhöhen die Lebensqualität in der Stadt und sind zugleich ein nicht unwesentlicher Wirtschaftsfaktor. Nicht zuletzt wird eine Stadt auch vom Weiterwirken der im Laufe der Geschichte bereits entstandenen Strukturen bestimmt. Das historisch Gewordene und Geformte, sei es materieller oder immaterieller Natur, ist ein wichtiger Faktor für die weitere Entwicklung. Aus diesem Grunde muss eine Darstellung der Wirtschaftsentwicklung Wiens von 1945 bis zur Gegenwart auch in die davor liegenden Zeitabschnitte verweisen. Für den vorliegenden Beitrag wurde eine Darstellungsweise gewählt, in der mehrere gängige Analysemuster der Stadt- und Wirtschaftsentwicklung aufeinander folgen, um so ein zunehmend verdichtetes Bild des Gesamtprozesses zu vermitteln. Bewusst ausgespart oder nur so weit aufgenommen, wie für den Darstellungszusammenhang erforderlich, wurden dabei Bereiche, die in anderen Beiträgen zu diesem Buch explizit behandelt werden. Einen ersten Eindruck von den Grundlinien der Wiener Wirtschaftsentwicklung gibt in den folgenden Ausführungen ein Überblick über die sektorale und demogra109
peter eigner · andreas resch fische Entwicklung Wiens sowie über wesentliche geschichtliche Einschnitte ; darauf folgt ein knapper Abriss der regulatorischen Umfelder, in denen sich die Wiener Wirtschaft entwickelt hat. Im dritten Kapitel wird einzelnen Stadtentwicklungsphasen gemäß strukturellen Wechselbeziehungen und wirtschaftlichen Gewichtsverlagerungen zwischen dem innerstädtischen Zentrum und den äußeren Zonen nachgegangen, ehe im abschließenden Abschnitt spezifische Entwicklungen einzelner Sektoren und Branchen bzw. stadtwirtschaftliche Besonderheiten Wiens unter den zuvor skizzierten Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung verdichtet dargestellt werden.
2. Langfristige sektor ale Entwicklungen und historische Zäsuren Die Entwicklung der Wiener Wirtschaftsstruktur lässt einige mit anderen europäischen Großstädten vergleichbare Grundzüge erkennen, sie weist jedoch auch charakteristische Eigenheiten auf, die nicht zuletzt in der spezifischen Geschichte der Stadt, ihrer Funktion als Zentrum der Habsburgermonarchie, ihrer Randlage nach 1918 bzw. ihrer geopolitisch exponierten Lage nach 1945 wurzeln bzw. ihre Erklärung finden. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Stadt wurden nachhaltig von den historischen Zäsuren bedingt durch den Ersten Weltkrieg und die Auflösung des Habsburgerreiches, die ns-Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg sowie die Reformprozesse in den vormals staatsozialistischen Staaten seit 1989 und den eu-Beitritt 1995 verändert.2 Als aussagekräftige Indikatoren für den langfristigen Wandel und die Wirkung markanter Einschnitte lassen sich die wirtschaftssektorale und die demografische Entwicklung heranziehen.3 Wien war gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem rasanten Bevölkerungswachstum gekennzeichnet. Die Einwohnerzahl innerhalb der heutigen Stadtgrenzen erhöhte sich von etwa 890.000 im Jahr 1869 um mehr als 130 Prozent auf über 2,08 Millionen im Jahr 1910. Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt wurde von einem dynamischen Wachstum moderner großbetrieblich organisierter Industriezweige ab den 1880er-Jahren (verstärkt seit 1900, denkt man an die Elektroindustrie und den Maschinenbau) geprägt. Das unter der christlichsozialen Gemeindeverwaltung vorangetriebene Kommunalisierungs- und Ausbauprogramm der technischen und sozialen Infrastruktur begünstigte die Verbreitung großindustrieller Strukturen.4 Seit den 1890er-Jahren nahm jedoch die Anzahl der Beschäftigten im Tertiärsektor noch rascher zu als jene der Industriearbeiterinnen und -arbeiter, vor allem der Handel und der öffentliche Dienst expandierten. Meißl betont wiederum die Bedeutung einer »knowledge based economy« für die Wiener Wirtschaft vor 1914, deren hoher Bedarf an Informationen und Kenntnissen, an Finanzierungs110
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien
Diagramm 1 : Demografischer und ökonomischer Übergang in Wien
Quelle : Klaus Schubert, Wien, in : Jürgen Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 360.
111
peter eigner · andreas resch oder Rechtsberatung, an Werbung das Wachstum des Dienstleistungssektors, v. a. das, um den heutigen Terminus zu gebrauchen, sogenannter unternehmensbezogener Dienstleistungen, begünstigte.5 Räumlich konzentrierte sich die Großindus trie überwiegend im noch locker verbauten Gebiet entlang der Hauptbahnlinien. Floridsdorf, Stadlau, Favoriten oder Simmering wurden bedeutende Industriestandorte. Doch Wien blieb eine Stadt der Klein- und Mittelbetriebe, auch weil Teile des Wiener Handwerks und Gewerbes eine bemerkenswerte Beharrungskraft aufwiesen, die sich ihrer Fähigkeit zur Modernisierung und raschen Anpassung an neue Produktions- und Marktverhältnisse verdankte. Die führende Rolle der bisherigen Wiener Leitbranche, der Textilverarbeitung, hatte das auf Verlagsbasis organisierte Bekleidungsgewerbe übernommen. Vor allem in der Wäsche- und Kleiderkonfektion entwickelte sich eine expansive und modeorientiert Marktproduktion. Sie war charakterisiert durch ein netzwerkartiges System von Zentralen, Stückmeistern bzw. Heimarbeiterinnen und Heimarbeitern und räumlich clustermäßig konzentriert auf die ehemalige Textilzone, den 6. und 7. Bezirk, sowie auf die Außenbezirke 15 und 16. Auch Metall-, Holz-, Leder- und Papierverarbeitung sowie das grafische Gewerbe expandierten. Wesentliche Wachstumsfaktoren waren die Verkehrseinbindung (Eisenbahnbau), das große, differenzierte Arbeitsangebot im Zusammenspiel mit der alten gewerblichen Tradition, die multiple Zentralfunktion der Stadt (politisch, wirtschaftlich, administrativ, kulturell) und die Konsumkraft der Habsburgerresidenz. Das Bevölkerungswachstum wurde nur zu einem geringen Teil vom generativen Verhalten der ortsansässigen Bevölkerung getragen, denn gemäß dem für Industria lisierungsphasen allgemein charakteristischen »demografischen Übergang« waren sowohl die Sterbe- als auch die Geburtenrate im Sinken begriffen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert war dann in Wien die Geburtenbilanz6 fast ausnahmslos negativ. Der Einwohnerzuwachs um die Jahrhundertwende ging vor allem auf die massenhafte Zuwanderung7 nach Wien zurück, insbesondere aus den böhmischen Ländern und dem niederösterreichischen Umland. In dieser Phase raschen Wachstums befand sich Wien sowohl hinsichtlich der sektoralen Struktur der Wirtschaft (Industrialisierung bzw. beginnende Tertiärisierung) als auch hinsichtlich des generativen Verhaltens der Bevölkerung (absinkende Geburten- und Sterberaten) in einem Übergangsstadium. Der Stadtforscher Klaus Schubert hat die jeweiligen transformativen Phasen Wiens in Diagramm 1 (S. 111) zusammengestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung der Habsburgermonarchie wurde Wien von der Metropole eines Reiches mit fünfzig Millionen zur Bundeshauptstadt der neuen Republik Österreich mit nicht einmal sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Der Bevölkerungsstand Wiens ging nach dem Ersten Weltkrieg auf rund 1,9 Millionen Einwohner zurück und verharrte in den folgenden Jahren ungefähr bei diesem Wert. Die Wirtschaftsbeziehungen mit früheren Regionen der Mo112
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien narchie, die nunmehr zum »Neuausland« geworden waren, wurden erschwert, aus Binnenhandel wurde Außenhandel, die neuen Nationalstaaten verfolgten bewusst eine Politik der Emanzipation vom ehemaligen Zentrum Wien, und im Rahmen des neuen Kleinstaates erschien die Hauptstadt nunmehr manchen als »Wasserkopf« mit überdimensionierten Behördenapparaten, Industrien und Dienstleistungsinstitutionen wie Banken und Versicherungen – und noch dazu in einer geografischen Randlage. Unter den schwierigen Rahmenbedingungen blieb die Zwischenkriegszeit wirtschaftlich – mit gewissen konjunkturellen Schwankungen – eine Phase der Stagnation. Die andauernden Konflikte zwischen dem »roten« Wien und dem »schwarzen« Bund und die parteipolitische Polarisierung trugen nicht eben zur Bewältigung der strukturellen Probleme bei. Die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre und der Zusammenbruch der Creditanstalt brachten schließlich einen weiteren Bedeutungsverlust Wiens als überregionales Finanz- und Industriezentrum mit sich. Folge der Krise war eine Massenarbeitslosigkeit, die bis zum »Anschluss« nicht beseitigt werden konnte. Mit dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 wurde auch Wien in das nationalsozialistische Deutschland eingegliedert. Innerhalb von 48 Stunden übernahmen die Nationalsozialisten alle Banken, und im Zuge der »Arisierung« der Wirtschaft wurden die als jüdisch definierten Unternehmen enteignet. Vor dem »Anschluss« gab es in Wien etwa 33.000 Betriebe jüdischer Eigentümer, von denen rund 7.000 bereits vor der Errichtung der sogenannten Vermögensverkehrsstelle am 24. Mai 1938 im Zuge sogenannter »wilder Arisierungen«, also unter Beteiligung von Teilen der Wiener Bevölkerung, aufgelöst wurden. Von den im Sommer 1938 noch bestehenden 26.000 jüdischen Betrieben wurden weitere 21.000 zwangsaufgelöst8 und die verbleibenden unter »arischer« Leitung weitergeführt.9 Von der Zwangsauflösung waren überwiegend kleine Handels- und Gewerbebetriebe betroffen (in der Zeit der Weltwirtschaftskrise hatten zahlreiche Arbeitslose versucht, ihrer prekären Situation durch den Weg in eine meist nicht weniger prekäre Selbstständigkeit zu entkommen). Die massenhafte Liquidierung übrigens nicht ausschließlich »nicht-arischer« Betriebe, von der sich Österreich letztlich nie erholen konnte, war Ausdruck eines ökonomischen Strukturbereinigungs- und Modernisierungsprogramms, hatte aber auch einen Kahlschlag in gewerblichen Branchen zur Folge, in denen Wien bis dahin höchst kompetitive Strukturen aufgewiesen hatte ; etwa in den Bereichen hochqualitativer Modeproduktion und weltweit beachteten Designs.10 Des Weiteren bewirkte die nationalsozialistische Schreckensherrschaft eine Dezimierung und Schwächung eines wichtigen Segments des österreichischen Wirtschaftsbürgertums und eines bedeutenden Teils seiner intellektuellen und kulturellen Eliten. Auch wenn sich die Industriegründungswelle und die deutlich zunehmenden wirtschaftlichen Konzentrationserscheinungen unter dem Nationalsozialismus eher zuungunsten des östlichen Bundesgebietes ausgewirkt hatten, was eine insgesamt 113
peter eigner · andreas resch regional stärker ausgewogene Wirtschaftsstruktur Österreichs nach 1945 zur Folge hatte, entwickelte sich Wien im Laufe des Zweiten Weltkrieges zu einem der Zent ren der deutschen Rüstungsindustrie. Hatte es in Wien im Sekundärsektor 1913 29 Betriebe mit mehr als 1.000 Beschäftigten und 1930 nur noch zehn Unternehmen dieser Größe gegeben, so stieg deren Zahl bis 1944 infolge der Konzentration kriegswichtiger Branchen (Metall, Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie) auf mehr als dreißig an.11 Die gesteigerte Produktion konnte das nationalsozialistische Regime nur unter Heranziehung von Zwangsarbeit in großem Ausmaß und von zunehmendem Terror gegen die Belegschaften aufrechterhalten. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war Wien von umfangreichen Zerstörungen von Industrieanlagen und Wohnbauten durch Luftangriffe und Bodenkämpfe betroffen, abziehende deutsche Truppen sprengten u. a. 120 Brücken. Vom 15. Jänner bis zum 22. März 1945 wurde ein Viertel der Wiener Bausubstanz in Mitleidenschaft gezogen.12 Über 46.800 Gebäude wurden in Wien beschädigt oder zerstört. 86.875 Wohnungen (rund 13 Prozent des Wiener Wohnungsbestandes) waren unbenutzbar, 36.800 davon komplett vernichtet. Rund 270.000 Wienerinnen und Wiener hatten ihr Heim verloren. 25 Prozent der Industrieanlagen, alle sieben Bahnhöfe sowie 15 Donau- bzw. Donaukanalbrücken waren zerstört. Die Verkehrsanlagen sowie die Energie- und Wasserversorgung waren schwer beeinträchtigt.13 Die übergreifenden Organisations-, Kommunikations- und Infrastrukturen der Stadt waren in den ersten Monaten nach Kriegsende zusammengebrochen. Wien lag in Trümmern, es fehlte an Nahrungsmitteln, an Heizmaterial, an Bekleidung. Angesichts der Lebensmittelknappheit musste eine Bewirtschaftung mit Lebensmittelkarten eingeführt werden. Der Schwarzmarkt – wie im und nach dem Ersten Weltkrieg – blühte, Tauschwirtschaft erlebte eine Renaissance. Schrebergärten erhielten neuerlich eine überlebenswichtige Funktion. Eine Ausnahmesituation war entstanden, die durch die im Juli 1945 vorgenommene Aufteilung Wiens in Besatzungszonen verschärft wurde. Es dauerte bis zum Beginn der Fünfzigerjahre, ehe die Alliierten im Wiener Alltag zunehmend an Bedeutung verloren. Zu dieser Zeit kann auch die Endphase des Wiederaufbaus Wiens ausgemacht werden. Ende 1952 waren achtzig Prozent der Schwerstzerstörungen und hundert Prozent der Leichtzerstörungen behoben. Die Abschaffung der Lebensmittelkarten im Jahr 1953 war ein weiterer Indikator für die Verbesserung und Normalisierung der Lebensverhältnisse. Nach 1945 erfolgte eine entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung Österreichs und Wiens, die Trennung Europas in zwei politisch und militärisch antagonistische Machtbereiche. Wien gelangte dadurch – zusätzlich zu seiner Randlage innerhalb des Bundesgebietes – in eine extreme Randlage in der westlichen Hemisphäre, und die Abtrennung von den ostmitteleuropäischen Märkten wurde abermals verschärft. Mit der Besatzung Ostösterreichs sowie der Wiener Gemeindebezirke 114
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Leopoldstadt, Wieden, Favoriten, Brigittenau und Floridsdorf durch die Sowjetunion gingen umfangreiche Industriedemontagen sowie die Eingliederung großer Wirtschaftspotenziale (die als »deutsches Eigentum« im Sinne der »Potsdamer Beschlüsse« galten) in den sowjetisch kontrollierten usia-Konzern14 einher. Dazu zählten die großen Industriebetriebe Siemens-Schuckert, aeg, Hofherr-Schrantz oder die Floridsdorfer Lokomotivfabrik.15 Unter diesen unsicheren Rahmenbedingungen machte sich eine Tendenz bemerkbar, Betriebe aus Wien in das westliche Bundesgebiet zu verlagern. Überdies trugen Rohstoffmangel und Kapitalknappheit – insbesondere in der Sowjetzone – zu einem relativen Zurückbleiben der Wiener Wirtschaft bei. Für die gesamtösterreichische Entwicklung gingen von der us-amerikanischen Marshallplan-Hilfe auf Grundlage des am 2. Juli 1948 unterzeichneten erp-Abkommens16 wesentliche Entwicklungsimpulse aus. Wien konnte davon jedoch vorerst nicht in vollem Ausmaß profitieren. Dafür waren mehrere Gründe maßgeblich : So wurde im Rahmen der Marshallplan-Hilfe insbesondere der Ausbau der Grundstoffindustrien gefördert, wohingegen in Wien traditionell die Konsumgüterindustrien einen Schwerpunkt bildeten, vor allem aber fiel der Kapitalfluss in die besonders industriereiche Sowjetzone weit geringer aus als in Gebiete, die von den Westmächten besetzt waren.17 Die sozialpartnerschaftlich akkordierten, gegen die Inflation gerichteten Lohn-Preis-Abkommen sorgten für eine Dämpfung des Massenkonsums, was u. a. in einer schwachen Dynamik der traditionell stark in der Hauptstadt verankerten Konsumgüterproduktion zum Ausdruck kam.18 Trotz dieser ungünstigen bis negativen Rahmenbedingungen lag im Jahr 1952 das Wiener Volkseinkommen pro Kopf um 34 Prozent, das je Erwerbstätigen um 39 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt. Meißl führt dies auf »Struktureffekte der Agglomeration«, v. a. die hohe Konzentration von Funktionen mit überdurchschnittlicher Wertschöpfung zurück.19 Die Kriegs- und Nachkriegsereignisse schlugen sich auch in der Bevölkerungsentwicklung nieder. Die Geburtenrate erreichte in den frühen Fünfzigerjahren mit jährlich rund sieben Geburten je tausend Einwohner ihren Nachkriegstiefpunkt.20 Von 1934 bis 1951 sank die Bevölkerungszahl Wiens (Gebietsstand vom 1. September 1954) von 1,96 Millionen auf 1,62 Millionen Einwohner. Faktoren dafür waren die Todesverluste im Zweiten Weltkrieg sowie eine ausgeprägt negative Wanderungs bilanz. Ein erheblicher Teil des Bevölkerungsverlustes ging zudem auf den Holocaust zurück. In Wien hatten am 13. März 1938 206.000 Jüdinnen und Juden gewohnt, von denen nur 5.816 ihre Befreiung in der Stadt erlebten, während 65.459 der Massentötung zum Opfer gefallen und die übrigen verstorben oder emigriert waren.21 Nach Abschluss des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 wurde Wien stärker in den Aufschwung der österreichischen Wirtschaft einbezogen. Betrachtet man die 115
peter eigner · andreas resch wirtschaftssektorale Struktur, so sieht man, dass sich die Stadt weiterhin in einer transformativen Situation im langfristigen Entwicklungsprozess zur Dienstleistungs gesellschaft befand. Die Bewältigung der dringlichsten Erfordernisse des Wieder aufbaus ging in Österreich und in Wien in das »Wirtschaftswunder«22 der Jahre 1953 bis 1962 über. In dieser Wachstumsphase konnte noch einmal der sekundäre Sektor am meisten zulegen. Es scheint sich dabei um einen in Westeuropa generell zu beobachtenden Aufholprozess gehandelt zu haben, der aus der wirtschaftlichen Stagnation der Zwischenkriegszeit resultierte und erklärbar ist, und aus der auch im internationalen Vergleich besonders schlechten wirtschaftlichen Performance Österreichs dieser Zeit resultierte ein besonders dynamisches Wirtschaftswachstum. Die erste wirklich lang anhaltende Aufschwungsperiode seit der Gründung der Ersten Republik begann in Wien somit mit einem deutlichen Industrialisierungsschub seit den späten Vierziger-, verstärkt in den Fünfzigerjahren, gestützt auf die 1953 einsetzende Hochkonjunktur und die 1955 erfolgte Aufhebung der Zonenteilung und Rückgabe der usia-Betriebe. Die Beseitigung der Kriegszerstörungen ließ der Bauwirtschaft einen besonderen Stellenwert zukommen, vom Bauboom profitierten Industrie und produzierendes Gewerbe. In den Hinterhöfen des dicht verbauten Gebietes verbreiteten sich in den späten Vierzigerjahren Kleingewerbebetriebe23, am Stadtrand wurden die Industrieanlagen erneuert, und im Wiener Becken, einer der traditionsreichsten österreichischen Industrielandschaften, kam es zu zahlreichen Gründungen.24 Auf den sekundären Sektor entfielen in Wien 1934 47,2 Prozent der Erwerbstätigen, 1951 hingegen 50,9 Prozent und 1961 51,5 Prozent.25 Seit den Sechzigerjahren folgte auf die Industrialisierungsphase eine Tertiärisierungswelle, getragen vom Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssystems. Erste deutliche Zeichen eines tiefgreifenden Strukturwandels der Stadtwirtschaft machten sich bemerkbar. Zu den herkömmlichen Problemen der Industrie, wie mangelnde Innovationskraft, Randlage und zu kleiner Binnenmarkt, Kapitalknappheit bzw. (zutreffender) Unterentwicklung des österreichischen Kapitalmarktes26, trat eine Verschärfung der internationalen Konkurrenz. Beschäftigungsrückgang, Betriebsstilllegungen bzw. -verlagerungen waren die Folge.27 Der Anteil der unselbstständig Erwerbstätigen im sekundären Sektor ging bis in die Siebzigerjahre auf rund ein Drittel zurück, während jener der im tertiären Sektor Arbeitenden nunmehr etwa doppelt so hoch war, womit die »transformative Phase« hin zur Dienstleistungs gesellschaft abgeschlossen war.28 Die Rekonstruktion der Wirtschaft war in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg von einem höheren Produktivitätsniveau und von einem höheren Anteil des tertiären Sektors als im übrigen Bundesgebiet ausgegangen. In der Phase des Wirtschaftswunders hatte Wien seinen Vorsprung noch einmal ausgebaut.29 Danach blieb die Wiener Wirtschaft jedoch in der Wachstumsentwicklung im Wesentlichen bis zu 116
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Beginn des neuen Jahrtausends hinter dem österreichischen Durchschnittswachstum zurück, sodass sich in dieser Zeit eine gewisse Konvergenzentwicklung zwischen der Bundeshauptstadt und der übrigen österreichischen Wirtschaft ergab. Das Wiener Bruttoregionalprodukt entwickelte sich wie folgt : Tabelle 1 : Wiener Bruttoregionalprodukt Wiener Bruttoregionalprodukt Jahr
Absolut in Mio. Schilling
primärer Sektor in %
sekundärer Sektor in %
Vergleich zu Gesamtösterreich tertiärer Sektor in %
Anteil Wiens am österr. BIP in %
Wiener BRP je Beschäftigten in Schilling
Österr. BIP je Beschäftigten in Schilling
1964
70.976,0
2,7
44,7
52,6
31,2
82.055
69.291
1971
125.867,2
2,2
37,2
60,6
30,1
160.094
135.476
1981
282.472,8
2,4
30,0
67,6
27,9
346.145
310.318
1991
533.379,0
2,4
24,9
72,7
28,7
633.038
553.196
2001*
803.890,5
0,3**
17,2**
82,5**
27,5
890.291
738.928
* Beträge umgerechnet : 1 Euro = 13,7603 Schilling. ** Prozentanteil an der Bruttowertschöpfung 2001. Quelle : Daten von Statistik Austria.
Der Anteil der Wiener Wirtschaft am gesamtösterreichischen Bruttoinlandsprodukt sank von beinahe einem Drittel in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf rund 28 Prozent im Jahr 1981.30 Bis 1991 wuchs dann die Wiener Wirtschaft erstmals wieder etwas rascher als die gesamtösterreichische Ökonomie, sodass sich der Anteil am österreichischen bip wiederum geringfügig, auf rund 29 Prozent, erhöhte ; in den Neunzigerjahren wies dann hingegen Österreich insgesamt ein geringfügig stärkeres Wachstum auf, sodass der Anteil Wiens am österreichischen bip neuerlich um einen Prozentpunkt zurückging. Trotz des langfristigen relativen Zurückfallens blieb Wien aber der mit Abstand bedeutendste Wirtschaftsraum Österreichs. Das Bruttoinlandsprodukt je Beschäftigten lag 1964 noch um mehr als 18, 1981 nur mehr um 11,5 Prozent über dem gesamtösterreichischen Niveau. Danach konnte der Vorsprung wieder auf 14,4 Prozent (1991) und 20,5 Prozent (2001) ausgebaut werden. Erwartungsgemäß spiegeln die Zahlen des Wiener Bruttoregionalproduktes die bereits beschriebenen sektoralen Entwicklungstendenzen deutlich wider. Industrie und Gewerbe mussten vor allem seit den Sechzigerjahren einen relativen Bedeutungsverlust hinnehmen, dem primären Sektor kam eine von Haus aus untergeordnete Stellung zu, der expandierende Sektor war der Bereich der Dienstleistungen. 117
peter eigner · andreas resch Wurde schon 1964 mehr als die Hälfte des Wiener Bruttoregionalprodukts im Dienstleistungsbereich erwirtschaftet, so erhöhte sich dessen Anteil bis 1991 auf beinahe 73 Prozent. Der Anteil des tertiären Sektors lag stets höher als der entsprechende Beschäftigtenanteil, das heißt, die Arbeit in diesem Sektor war vergleichsweise produktiver. Die Entwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft war mit einem Abbau von Beschäftigten im sekundären Sektor verbunden. Das Bruttoprodukt wuchs zwar nominell auch in der Sachgüterproduktion (von etwa 31 Milliarden Schilling 1961 auf rund 133 Milliarden Schilling 1991), dieser Zuwachs blieb jedoch deutlich hinter dem Wachstum im Tertiärbereich zurück, sodass der Anteil des Sekundärsektors am Wiener Bruttoregionalprodukt von 45 Prozent (1964) auf ein Viertel (1991) zurückging. Tabelle 2 : Entwicklungsphasen der Wiener Wirtschaft nach gängigen Modellen des Wandels Phasen der Stadtentwicklung***
Demografische und ökonomische Entwicklungsphasen*
Regulationsweise**
1850er – 1930er Jahre : ökonomische und demografische Transformation
I. »extensive Akkumulation« (Mitte 19. Jh. – ca. 1920er Jahre)
(Geburten- und Sterberate sinkt [=»demografischer Übergang«], Anteil der Beschäftigten im sekundären Sektor nimmt zu) Zwei Unterabschnitte dieser Phase : hohe Dynamik des Wachstums und der beiden Transformationsprozesse von 1855–1914, wobei bis 1890 die Industrialisierung überwiegt, nachher bereits ein Tertiärisierungsschub einsetzt ; stagnative Phase bis in die 1930er Jahre
Lohnkostenreduktion durch Fabrikproduktion, insbes. Produktion von Investitionsgütern und Exportwaren, geringe interne Kaufkraft
1930er–1970er Jahre : posttransformative demograf. Entwicklung + Transformation der sektoralen Struktur
II. Fordismus/Keynesianismus (bis in die 1970er Jahre)
50er Jahre: Urbanisierung
1952–61: erneuter Industrialisierungsschub
Spezialisierte Massenproduktion, hierarchische Arbeitsorganisation, wohlfahrtsstaatliche, nationale Regulierungspolitik, breite Mittelschicht, Massenkonsum
60er Jahre : Suburbanisierung
seit 1977 : posttransformative Struktur :
III. »flexible Akkumulation« (Postfordismus) (seit den 70er/80er Jahren)
70er Jahre : Desurbanisierung
etwa doppelt so viele Beschäftigte im tertiären Sektor als im sekundären Sektor
Globalisierung des (Kapital-)Marktes, Flexibilisierung der Produktion, internationale Standortkonkurrenz, Staat verliert an Regulierungspotenzial, Neuformierung einer globalen Städtehierarchie
ab 80er Jahre : Reurbanisierung
1962–1977 : erneute Tertiärisierung
* Zum Modell siehe : J. Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklung in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, Reinbek 1978 ; ders. (Hg.), Stadtentwicklung in West- und Osteuropa, Berlin, New York 1985. Zu Wien : K. Schubert, Wien, in : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 437 ff.
118
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien ** Zum Modell : K. Hübner, B. Mahnkopf, École de la Régulation, Berlin 1988 ; R. Boyer, La Théorie de la Régulation : une analyse critique, Paris 1986 ; G. Maier, F. Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2, Wien, New York 1996 ; Michel Aglietta, Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg 2000 ; Joachim Becker, Akkumulation, Regulation, Territorium, Marburg 2002. Zu Wien : R. Banik-Schweitzer, Die Großstädte im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in : G. Melinz, S. Zimmermann, Wien/Prag/Budapest, Wien 1996, 35 ff. *** Zum Modell : G. Maier, F. Tödtling, Regional- und Stadtökonomik, Wien, New York 1995 ; L. van den Berg u. a., Urban Europe. A study of Growth and Decline, Oxford 1982. Zu Wien : P. Mayerhofer, G. Palme, Wirtschaftsstandort Wien : Positionierung im europäischen Städtenetz, Wien, Wien 1996, 32.
3. Regulationsweisen Nachdem bisher eine erste Annäherung an den Strukturwandel der Wiener Wirtschaft erfolgte, indem zentrale sektorale und demografische Entwicklungen sowie große historische Einschnitte nachgezeichnet wurden, soll das Bild nunmehr anhand der verschiedenen gesellschaftlichen Regulationsweisen verdichtet werden, in deren Rahmen sich auch die Wiener Wirtschaft entwickelte. Der »Regulationsansatz«31 geht davon aus, dass sich im Zeitablauf je spezifischen Formen von Teilsystemen wie Produktionstechnologie, Unternehmensorganisation, Lohnverhältnisse, Reproduktionsmuster und gesellschaftlich-institutionelle Regulationssysteme bzw. -regime ausbilden, die im Zusammenspiel für längere Zeit eine stabile Entwicklung des Gesamtsystems gewährleisten, ehe aufgrund erheblicher Veränderungen einzelner Elemente des Systems eine neue Struktur entsteht. Gemäß dieser Sichtweise lassen sich für den Untersuchungszeitraum folgende drei Entwicklungsphasen unterscheiden : Die Phase der »Konkurrenzwirtschaft des 19. Jahrhunderts« beziehungsweise der »extensiven Akkumulation«, die Phase des »Fordismus«/»Keynesianismus« und als dritte Phase der »Postfordismus« beziehungsweise die »flexible Akkumulation«. Industrialisierung und Tertiärisierung im späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert sowie die stagnative Wirtschaftsentwicklung in der Zwischenkriegszeit waren in relativ hohem Ausmaß von konkurrenzwirtschaftlichen Strukturen gekennzeichnet. Kollektive Regulierungsinstanzen wie Verbände, Interessenvertretungsorganisationen oder staatliche Institutionen spielten noch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Der Industrialisierungsprozess des späten 19. Jahrhunderts brachte tendenziell eine räumliche Konzentration und Spezialisierung von Nutzungsarten mit sich, weil der niedrige Entwicklungsstand der Transportmittel, insbesondere der Massenverkehrsmittel, und die langen Arbeitstage eine räumliche Nähe von Wohnen und Arbeiten erforderten und vielfältige Agglomerationsvorteile aus der Bal119
peter eigner · andreas resch lung der Bevölkerung erwuchsen. Der Citybildungsprozess im Stadtzentrum und die funktionale Ausdifferenzierung anderer Stadträume zu Gewerbezentren oder Industriezonen bzw. zu Mittelschicht- oder Arbeiterwohngebieten zogen unterschiedliche Bodenpreisentwicklungen nach sich und verstärkten das in Wien bereits am Ende des 18. Jahrhunderts bestehende soziale Gefälle zwischen (Innen-)Stadt, Vorstädten (später Innenbezirke) und Vororten (später Außenbezirke), wobei auch andere Standortfaktoren wie die Orientierung einiger Industriebetriebe entlang der das Stadtgebiet durchquerenden Eisenbahnlinien als Beeinflussungsfaktoren wirksam wurden. Unter den ungünstigen Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit verharrte die Stadt weitgehend in ihren Strukturen. Weltweite Beachtung fanden hingegen die kommunalpolitischen Maßnahmen des Roten Wien. Mattl spricht von einem »Beginn der fordistischen Ära der Stadt« und nennt die »Totalversorgung der Stadt mit Infrastruktur zum Einheitstarif, Planung nach stabilen Wachstumserwartungen und orientiert an einer Norm-Familienstruktur sowie die Annahme einer gleichförmigen Nachfrage nach Gütern der Massenproduktion« als Merkmale.32 Rationalisierung wurde nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher Defizite zu einem Modewort, Vorbild für viele Unternehmen wurden die us-amerikanischen Produktionsbedingungen. Doch die wirtschaftlichen Schwächen und die stagnierende Kaufkraft verhinderten die Durchsetzung des Fordismus in der Zwischenkriegszeit. Erst ab den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts setzten sich in Österreich bzw. Wien geänderte Regulierungsmuster durch, die mit den Etiketten »Keynesianismus« beziehungsweise »Fordismus« bezeichnet werden können. Unter »Fordismus« versteht man eine auf spezialisierter Massenproduktion basierende Industriewirtschaft, in der hierarchisch strukturierte Großunternehmen mit großer Produktionstiefe eine bestimmende Rolle spielen. In diesen Strukturen erzielbare Skalenvorteile bilden die Grundlage für Produktivitätssteigerungen, die zum Teil als Lohnsteigerungen an die Beschäftigten weitergegeben werden, welche wiederum erhöhte Konsumausgaben mit sich bringen. »Arbeite, um zu konsumieren«, hieß das fordistische Leitmotiv.33 Auf diese Weise entstehen ein hohes Wirtschaftswachstum, eine anhaltende Steigerung der Masseneinkommen und aufnahmefähige Binnenmärkte für dauerhafte Konsumgüter wie etwa Automobile, Haushaltsgeräte und Unterhaltungselektronik. Deutlich ablesbar wird diese Entwicklung in der enorm raschen Zunahme dieser Güter in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren.34 Fernseher und Auto veränderten das Freizeitverhalten radikal, vor allem das Auto signalisierte den persönlichen Aufstieg wie den gewachsenen Mobilitäts- und Freiheitsspielraum und diente als Mittel der sozialen Distinktion.35 Die Verkürzung der Arbeitszeit, 1959 auf 45, 1975 auf vierzig Stunden (mit einem um den Samstag verlängerten arbeitsfreien Wochenende), und 120
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien längerer Urlaub brachten mehr Freizeit und Inanspruchnahme von Dienstleistungen im Bereich des Sports, des Unterhaltungs- und Gaststättengewerbes oder des Tourismus. Auch die Einkaufsgewohnheiten änderten sich nicht zuletzt durch das Auto, üblich wurde der Großeinkauf am Samstag im Supermarkt. Dass der Vormarsch von Selbstbedienung und Supermarkt viele kleine Händler in den Ruin trieb, dass damit ein Verlust an urbaner Lebensqualität und kleinteiliger Diversität36, an Urbanität schlechthin einherging, wurde zunächst nicht gesehen. Im Jubelwerk »Wiedergeburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965« war von einem »längst fälligen Ausscheidungs- und Konzentrationsprozeß« die Rede, der – ganz im fordistischen Sinne – »die Kapazität und Leistungsfähigkeit der Betriebe durch Technisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen vergrößert(e)«.37 Die soziale Regulierung erfolgte im Rahmen institutionalisierter kollektiver Lohnverhandlungen, in Österreich ausgebildet zum Modell der Sozialpartnerschaft38. Institutionelles Herzstück wurde die 1957 eingerichtete »Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen«. Das System wird durch eine keynesianische Nachfragesteuerung und einen ausdifferenzierten Wohlfahrtsstaat auf nationaler Ebene stabilisiert.39 Die regionale Dynamik des Fordismus war geprägt von der Konzentration führender Sektoren in spezifischen Agglomerationen. Von diesen »Wachstumspolen« gingen auch Ausstrahlungseffekte auf vor- und nachgelagerte Bereiche aus. In Öster reich entwickelten sich als derartige Agglomerationszentren die (Stadt-)Räume Wien, Linz und Graz, denen weniger entwickelte ländliche Regionen gegenüberstanden, welche als Absatzmärkte und als Quelle für Arbeitskräfte fungierten.40 Zusätzlich zu den industriewirtschaftlichen Agglomerationsvorteilen, die der Standort Wien bot, mag auch die Tatsache, dass Wien als österreichische Hauptstadt Sitz der meisten bundesweit wirksamen Regulierungsinstitutionen war und ist, zur Erhöhung der Attraktivität als Wirtschaftsstandort beigetragen haben. Zu nennen sind zum Beispiel die Legislative oder die Zentralen des Verbändewesens (Kammern, Gewerkschaften, …). Offenbar hat die Ausdehnung sozialer Regulierung durch die genannten Institutionen zu einer relativen Stärkung der Position Wiens im österreichischen Staatsgebiet geführt, seiner doppelten Randlage (im Osten des Bundesgebiets und an der Grenze West- und Osteuropas) zum Trotz. Der Ausbau der entsprechenden Behörden- und Kammerstrukturen zog eine weitere Vergrößerung der nicht marktmäßigen Tertiärstrukturen in Wien nach sich. In den Siebzigerjahren geriet das etablierte Regulationssystem unter erheblichen Druck. Als wesentliches Charakteristikum dieses Jahrzehnts ist der Übergang von einer stabilen Wachstumsentwicklung bei Vollbeschäftigung zu einem unstetigeren Wachstum und allmählich entstehenden Beschäftigungsproblemen zu nennen. Weltwirtschaftliche Zäsuren von enormer Tragweite bildeten der Zerfall des Weltwährungssystems von Bretton Woods mit stabilen Wechselkursen (1971/73) 121
peter eigner · andreas resch
Diagramm 2 : Jährliche Wachstumsraten des Wiener BIP (real) 1961–1995
Quelle : Gerhard Lehner/Peter Mayerhofer/Josef Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets. Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1997, Abb. 18.
und der erste Erdölschock (1973). Eine gleichzeitig voranschreitende Öffnung der Wirtschaft (z. B. Kennedy- und Tokio-Runde im Rahmen des gat t, Abkommen mit der EG 1972) eröffnete neue ökonomische Chancen – mit der verschärften inter nationalen Konkurrenz traten aber auch wiederum Strukturprobleme der bisher vor allem auf den regionalen Binnenmarkt orientierten Wiener Wirtschaft zutage. Der Übergang von einer relativ stabilen zu einer wechselhafteren Wachstumsentwicklung sei anhand der Diagramme 2 und 3 zum österreichischen und Wiener Wirtschaftswachstum illustriert. Aus den Diagrammen gehen deutlich die Konjunktureinbrüche seit den Siebziger jahren hervor. Während das Wirtschaftswachstum in den Sechzigerjahren nie unter zwei Prozent fiel, sank es von 1975 bis 1981 drei Mal auf Werte um null. In Wien waren insbesondere die Wachstumsrückschläge 1978 und 1981 stärker als im gesamten Bundesgebiet ausgeprägt, die Streuung der Wachstumsraten größer (7 Pro122
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien
Diagramm 3 : Jährliche Wachstumsraten des österreichischen BIP (real) 1961–1995
Quelle : Gerhard Lehner/Peter Mayerhofer/Josef Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets. Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1997, Abb. 19.
zentpunkte im Vergleich zu 6,6 Prozentpunkten in Österreich), und das langjährige, durchschnittliche Wachstum lag deutlich niedriger (2,9 Prozent gegenüber 3,5 Prozent). In der Boom-Phase um 1970 begründeten nicht zuletzt Kapazitätsengpässe einen Wachstumsrückstand Wiens, dafür fiel der erste Rückschlag 1975 verhaltener aus als auf gesamtösterreichischer Ebene. Diese Entwicklungen machten sich auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, dem im Rahmen der keynesianischen Regulierung höchste Aufmerksamkeit zuteil wurde. Hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung sind in Österreich und in Wien längerfristig folgende drei Phasen zu erkennen, mit denen deutlich unterschiedliche Ausprägungen des regulatorischen Systems einhergingen :41 In einer ersten Phase, die von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder gekennzeichnet war, setzte nach der Stabilisierungskrise von 1952 mit einer Arbeitslosenrate in Wien von 8,5 Prozent ab der Mitte der Fünfzigerjahre eine Entwicklung zur Vollbeschäftigung ein, wobei die 123
peter eigner · andreas resch Gesamtzahl der unselbstständig Beschäftigten in Wien allmählich von 644.604 im Jahr 1954 auf 774.567 (1962) zunahm. Danach ging sie allerdings wieder auf 731.320 (1970) zurück. Der im Vergleich zu den westlichen Bundesländern zurückbleibenden Wirtschaftsentwicklung stand eine Angebotsschwäche auf dem ostösterreichischen Arbeitsmarkt gegenüber, sodass sich die geringere Dynamik nicht in höheren Arbeitslosenraten ausdrückte. In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre wurden die Kapazitätsprobleme auf dem Arbeitsmarkt, trotz der nach dem Raab-Olah-Abkommen (Dezember 1961) zunehmenden Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften, zu einem Wachstumshemmnis, das dazu beitrug, dass die Boom-Phase bis 1973 in Wien schwächer ausfiel als in Österreich. Der Arbeitskräftemangel betraf insbesondere schlecht bezahlte und mit hohem Arbeitsplatzrisiko verbundene Hilfsarbeiterjobs in der Bauwirtschaft und in einigen Industriesparten. Auf einschlägige regionale Entwicklungsprobleme wird weiter unten im nächsten Abschnitt eingegangen. Während bis 1973 immer wieder Stimmen laut wurden, die vor den negativen wirtschaftlichen Folgen eines Arbeitskräftemangels in Wien warnten, kündigten sich in einer zweiten Phase der Entwicklung des Arbeitsmarktes ab der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre erstmals wieder massive Beschäftigungsprobleme an, und in einer dritten Phase ab den Achtzigerjahren wurde schließlich eine erhöhte Arbeitslosigkeit zum Dauerzustand. Temporären Konjunkturproblemen in den späten Fünfziger- und den Sechzigerjahren hatte man noch mit einem ansatzweise keynesianischen wirtschaftspolitischen Instrumentarium und sozialpartnerschaftlicher Regulierung entgegentreten können. Bereits während der Abschwünge 1958 und 1967 war eine Passivierung der öffentlichen Haushalte zur Nachfragebelebung erfolgt. Die zweite Phase der Arbeitsmarktentwicklung von den frühen Siebziger- bis zur Wende zu den Achtzigerjahren gestaltete sich dann gleichsam als Höhe- und Endpunkt keynesianischer Regulierung in Österreich, in Form des sogenannten »Austro-Keynesianismus«.42 Dieser umfasste ein spezifisches Set wirtschaftspolitischer Reaktionsweisen auf die schwere Rezession 1974, die erstmals auch wieder die Vollbeschäftigung zu gefährden drohte. Nachdem 1973 sogar noch Maßnahmen gegen eine Überhitzung der Konjunktur gesetzt worden waren und die Ausländerbeschäftigung weiter forciert worden war (1973 war in Wien mit 88.983 »Gastarbeitern« ein erster Höhepunkt der Ausländerbeschäftigung erreicht worden), reagierte man auf die Krise mit einer massiven Ausweitung des Budgetdefizits 1975/76 (durch die Realisierung einer bereits länger geplanten Steuersenkung sowie durch erhöhte Staatsausgaben). Zugleich hielt man aber an der Hartwährungspolitik fest, wodurch eine allfällige Kosteninflation gebremst wurde. Ein wesentlicher Bestandteil des Austro-Keynesianismus war die enge Kooperation der Sozialpartner, insbesondere die Ausrichtung der Gewerkschaften auf eine maßvolle, produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Tatsächlich gelang es bis zum Ende 124
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien
Diagramm 4 :
Quelle : Statistisches Amt der Stadt Wien (MA 66)
Diagramm 5 :
Quelle : Statistisches Amt der Stadt Wien (MA 66)
125
peter eigner · andreas resch der Siebzigerjahre, die Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten. »Vorerst stellte sich Österreich als die Insel der Seligen dar, an der die vom Ölpreisschock 1973 eingeleitete scharfe Konjunkturwende und Krise des Weltwährungssystems unbemerkt vorbeizugehen schien.«43 Während keynesianische Ideen ab den Fünfzigerjahren nur allmählich aufgegriffen worden waren, kamen die »Vorstellungen einer Globalsteuerung und die Priorität des Vollbeschäftigungszieles … seit Beginn der Siebzigerjahre verstärkt zum Durchbruch. Der Keynesianismus erlebte in Österreich also erst zu einem Zeitpunkt seine Blüte, als sich international seine Erosion bereits deutlich ankündigte.«44 Obwohl in Wien auch in den Siebzigerjahren die Wirtschaftsdynamik hinter Westösterreich zurückblieb, stieg die Zahl der unselbstständig Beschäftigten45 wieder von 731.320 (1970) auf einen Höhepunkt von 791.310 im Jahr 1977 an, danach setzte jedoch wieder ein lang anhaltender Rückgang ein. Offenbar war die austro-keynesianische Vollbeschäftigungspolitik auf Dauer nicht durchzuhalten. Bis zum zweiten Ölpreisschock 1979 war die Staatsverschuldung bereits so weit angewachsen, dass man dem neuerlichen Konjunktureinbruch ab 1981 kaum noch etwas über die Duldung der Budgetdefizite durch die »automatischen Stabilisatoren«46 Hinausgehendes entgegenzusetzen hatte – die Phase des Austro-Keynesianismus ging zu Ende. In der Stadt Wien vermochte eine keynesianische, antizyklische Orientierung der Budgetpolitik nie einen ähnlichen Stellenwert wie auf Bundesebene zu erlangen.47 Einnahmenseitig war der Gestaltungsspielraum stets durch die zentrale Finanzverwaltung weitgehend eingeschränkt bzw. durch die Ertragsanteile an gemeinschaftlichen Bundesabgaben sowie Transferzahlungen im Rahmen des Finanzausgleichs bestimmt. Gegen eine ausgabenseitige keynesianische Politik auf Kommunal- bzw. Landesebene spricht abgesehen von den engen finanziellen Spielräumen auch, dass allfällige Nachfrageeffekte nicht nur der regionalen Wirtschaft zugute kommen, sondern auch in das Umland diffundieren. Zum Beispiel wären gegen Arbeitsmarktprobleme gerichtete Ausgaben für zusätzliche Bauprojekte zu einem erheblichen Teil auf Beschäftigte aus Niederösterreich und dem Burgenland entfallen, weil aus diesen beiden Bundesländern laut einer Schätzung des Arbeitsamtes Wien aus den frühen Achtzigerjahren bis zu siebzig Prozent der »Wiener« Bauarbeiter stammten.48 Analysen der Ausgabengestaltung zeigen aber doch für die Konjunktureinbrüche 1971, 1976 und 1987 gewisse antizyklische Ausschläge.49 Eine Globalanalyse des Wiener Gebarungsabganges auf Kassenbasis ergibt auch für 1981 ein relativ deutliches antizyklisches Verhalten, danach setzten jedoch spürbare Konsolidierungsbemühungen ein, die weder mit der Wiener noch der gesamtösterreichischen Konjunkturentwicklung synchronisiert waren. In der Zeit nach dem Austro-Keynesianismus, ab den frühen Achtzigerjahren, setzten sich nicht nur aus Budgetgründen neue finanz- und regulierungspolitische 126
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Orientierungen durch, sondern es entwickelten sich auch neue Formen der Unternehmensorganisation, der angewandten Technologie sowie der Strukturen der Märkte. Damit wurden auch von diesen Seiten her die Möglichkeiten der regulierenden Wirtschaftspolitik neu definiert. In der Phase »postfordistischer Produktion« treten neben die spezialisierte Massenproduktion kleinere betriebliche Einheiten, die mittels der Anwendung neuer Technologien, etwa elektronisch gesteuerter, flexibel nutzbarer Maschinen, durchaus mit den Stückkosten der Großbetriebe mithalten können, überdies jedoch in der Lage sind, auf Kundenwünsche flexibel einzugehen und qualitativ hochwertige, individuelle Güter und Dienstleistungen anzubieten.50 Dienstleistungsaufgaben wie Design, Entwicklung, Logistik, Finanzwirtschaft etc. können aus Fertigungsbetrieben ausgelagert werden, sodass ein innig verflochtenes servo-industrielles Netzwerk51 moderner, flexibler Produktionsbetriebe und hochwertiger, produktionsnaher Dienstleistungsunternehmen entsteht. Derartige Unternehmensstrukturen bedürfen nicht mehr eines Heeres angelernter Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern sie sind auf hochqualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten angewiesen. Die Wachstumslogik dieser neuen Wirtschaftsstrukturen basiert darauf, dass hoch qualifizierte Arbeitskräfte neueste, hochproduktive, flexible Technologien (etwa ca d-cam, cim und modernste Bürotechnologie) anwenden und die daraus resultierenden Produktivitätszuwächse zum Teil als steigende Einkommen an die Beschäftigten weitergegeben werden. Daraus entsteht eine steigende Nachfrage nach vielfältigen, hoch quali tativen Gütern und Dienstleistungen. Diese neuen Entwicklungsmöglichkeiten wurden in Wien jedoch nicht in einem Ausmaß beschäftigungswirksam, dass die ab 1980 manifest werdenden Arbeitsmarktprobleme gelöst worden wären. Nachdem die Zahl der unselbstständig Beschäftigten von 1977 bis 1984 um 7,6 Prozent auf 731.027 zurückgegangen war, stieg sie bis 1992 auf den Höchstwert von 791.961 Personen an. Trotzdem wuchs die Arbeitslosenquote, die von 1961 bis 1980 stets unter zwei Prozent gelegen war, rasch an. Sie erhöhte sich von 1,5 Prozent (1980) auf 4,5 Prozent 1985, 6,4 Prozent (1992) und 7,3 Prozent (1995), und die Zahl der vorgemerkten Arbeitslosen nahm von 11.433 im Jahr 1980 auf 61.436 (1993) zu, danach ist sie wieder leicht gesunken. In den Achtzigerjahren waren für die zunehmende Arbeitslosigkeit hauptsächlich demografische Faktoren maßgeblich – die geburtenstarken Jahrgänge aus den Sechzigerjahren drängten auf den Arbeitsmarkt. Um 1990 erhöhte sich dann im Zusammenhang mit den Krisen im (ehemaligen) Jugoslawien und der »Ostöffnung« die Zahl ausländischer Arbeitskräfte von 69.679 (1988) auf 104.088 (1991). Zwar wuchs in dieser Periode – nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Wachstumsstimuli durch die Ostöffnung – die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in Wien um bei127
peter eigner · andreas resch
Diagramm 6 : Entwicklung der Arbeitslosenquote* in Wien und Österreich52
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
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Wien
1970
1968
1966
1964
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1960
1958
1956
1954
1952
1950
0
Österreich
* Anteil der vorgemerkten Arbeitslosen in Prozent des Arbeitskräftepotenzials (unselbstständig Beschäftigte und vorgemerkte Arbeitslose). Quelle : Pokay, Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995, 4f ; Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte, Tab. 3.3.
nahe 40.000, also um mehr als die zusätzliche Anzahl ausländischer Arbeitskräfte, trotzdem gerieten insbesondere die in Wien bereits etablierten in- und ausländischen Arbeitskräfte in den ohnehin von erheblichen Schrumpfungs- und Abwanderungsprozessen gekennzeichneten wenig skill-intensiven Industrien unter erhöhten Druck. Keynesianische Instrumente auf nationalstaatlicher Ebene verloren angesichts von Budgetschwierigkeiten sowie unter den Rahmenbedingungen fortschreitender Globalisierung und verschärfter internationaler Konkurrenz in liberalisierten Weltmärkten an Regulierungspotential. Wegmarken der Veränderungen des »regulatorischen Umfeldes«53 waren die Programme zum Abbau des Staatsdefizits ab 1986, die Ostöffnung seit 1989, der ewr- und schließlich der eu-Beitritt Österreichs (1995) 128
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien sowie die weitere Liberalisierung des Welthandels im Zuge des Ausbaus des gat tAbkommens zur wto (1993/94). Generell geht die Wirtschaftspolitik in der transnationalen Standortkonkurrenz um die begehrten hochqualifizierten Produktionsstrukturen, wie sie seit den Achtzigerjahren entstanden, eher zu Versuchen über, angebotsseitig durch Förderung von Innovationen und Flexibilität – somit auch durch die Zurückdrängung etablierter Arbeitnehmerrechte – die eigenen Regionen wettbewerbsfähiger zu machen. Die Hauptgewinner sind neue High-Tech-Metropolen und die Zentren der finanz- und produktionsorientierten Dienstleistungen. Während die gesamtstaatliche Regulierung zurücktritt, gewinnt einerseits die internationale Konkurrenz und andererseits die Qualität lokaler/regionaler Strukturen an bestimmender Bedeutung. Große Städte müssen sich umorientieren – von Entwicklungsstrategien, in denen sie sich vor allem in Konkurrenz mit anderen Städten des Nationalstaates oder in Konkurrenz mit dem städtischen Umland (etwa im Wettstreit um Betriebe) sehen, hin zu Strategien, in denen sie sich gemeinsam mit ihrem Umland als attraktive Wirtschaftsregion im internationalen Standortwettbewerb zu positionieren trachten. Auf aus diesen Entwicklungstendenzen resultierende, konkrete mögliche Strategien für Wien und die Ostregion wird im Schlusskapitel dieses Beitrages eingegangen.
4. Die Entwicklung Wiens gemäß den »Phasen der Stadtentwicklung« In den ersten beiden Kapiteln wurden langfristige Entwicklungsvorgänge nachgezeichnet. Eine Analyse der städtischen Entwicklung in kürzeren Zeitabschnitten erlaubt das Modell spezifischer »Phasen der Stadtentwicklung«.
4.1 Zum Modell der »Phasen der Stadtentwicklung« Der Zugang gemäß den »Phasen der Stadtentwicklung« bezieht sich auf strukturelle Wirkungsmechanismen in der einzelnen Stadtregion selbst. Insbesondere werden Wechselbeziehungen und ökonomische Gewichtsverlagerungen zwischen dem städtischen Kern und dem äußeren Gebiet der Stadtregion (Ring) berücksichtigt,54 wobei zwischen diesen beiden Räumen der Stadtregion fließende Übergänge bestehen können und sie in ihrer räumlichen Ausdehnung nicht unbedingt mit Verwaltungsgrenzen übereinstimmen müssen. Basierend auf der empirischen Untersuchung einer Vielzahl von Städten werden vier charakteristische Phasen der Stadtentwicklung unterschieden, die man wie folgt bezeichnen kann : Urbanisierung, Suburbanisie129
peter eigner · andreas resch rung, Desurbanisierung und – je nach Entwicklungsverlauf – Reurbanisierung oder »urban decline«. Wichtige Indikatoren für die Phasen der Stadtentwicklung sind die jeweilige räumliche Verteilung der Wohnbevölkerung und der Arbeitsstätten in den verschiedenen Zonen der Stadtregion und ihre Veränderung im Zeitablauf. Idealtypisch sind diese vier Phasen wie folgt zu charakterisieren :55 Die Phase der Urbanisierung ist mit einer Industrialisierung der städtischen Wirtschaftsstruktur verbunden. Die Stadt bietet Agglomerationsvorteile, wie etwa konzentrierte Nachfrage und dementsprechend günstige Absatzmöglichkeiten, gutes Arbeitskräfteangebot, zentrale Verkehrslage etc. Daher siedeln sich Industriebetriebe an, und weitere Zuwanderer aus dem Umland können aufgenommen werden. Aufgrund der noch eingeschränkten räumlichen Mobilität, der niedrigen Einkommen und der langen Arbeitstage siedelt sich die Arbeiterschaft in der Nähe der Fabriken an. Es entstehen Agglomerationen von hoher Dichte. Die wachsende Stadt hat mit Problemen wie Wohnungsnot und mangelnde Infrastrukturentwicklung zu kämpfen. Mit dem weiteren Stadtwachstum beginnt allmählich der Prozess der Suburbanisierung. Die Einkommen steigen, die Dichte in der Stadt nimmt zu, das Verkehrssystem wird ausgebaut, und auch die private Massenmotorisierung setzt ein. Zuerst entscheiden sich wohlhabende Schichten, später immer größere Teile der Stadtbewohner (z. B. Familien mit Kindern) dafür, in den äußeren Ring der Stadtregion zu übersiedeln. Den Menschen ist das Wohnen in einer ruhigeren, grünen Umgebung hinreichend viel wert, um die Opfer an Geld und Zeit für die tägliche Überwindung der größeren Entfernung zum Arbeitsplatz auszugleichen. Gartenstädte und Wohnsiedlungen am Stadtrand entstehen in großem Maßstab. Auch Fabriken wandern an die Peripherie, wo die Grundstücks- und Erschließungskosten niedriger sind, Emissionen eher toleriert werden und womöglich die Verkehrsanbindung (für den überregionalen Verkehr) besser ist. Durch die Streuung der Stadtnutzung über größere Räume und ein weiteres Wachstum des städtischen Gesamtsystems entstehen dichtere Verkehrsströme, wobei der Anteil des motorisierten Individualverkehrs zunimmt. Die Stadtverwaltung und die Bauindustrie bedienen die Nachfrage nach immer weiter draußen liegenden Wohnsiedlungen. Eine klare Funktionstrennung tritt zutage. Die City hat in erster Linie Zentralfunktionen inne ; Arbeiten, Wohnen und Erholungsgebiete sind großräumig getrennt. Infolge der Intensivierung der Verkehrsströme wird das Zentrum zunehmend schwerer zugänglich, ältere Stadtbezirke im zentrumsnahen Bereich werden von immer stärker frequentierten Verkehrsadern durchschnitten und sukzessive einer besseren Verbindung des Zentrums mit dem äußeren Ring geopfert. Schließlich können die negativen Effekte dieser Entwicklung zu einer Desurbanisierung, zum »urban decline«, des Stadtgebietes führen. Das Zentrum erstickt im Verkehr und droht durch eine Verdrängung der Wohnfunktion durch Büros und andere hochwertige Nutzungen zu veröden (insbesondere nach Büro- bzw. Geschäfts130
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien schluss), oder es erleidet gar die gesamte Stadtregion einen Niedergang, weil die Abwanderung aus dem Zentrum fortschreitet – unter Zurücklassung eines verfallenden Viertels – und der Stadtrand infolge der zunehmenden Nutzungsdichte seine Standortvorteile (niedrigere Bodenpreise, Grünraum, …) ebenfalls einbüßt, gleichzeitig aber auch nicht die Agglomerationsvorteile des Kerns (dichte, vielfältige Märkte, Kulturangebot, soziale Einrichtungen, …) ausbildet. In der Folge können eine Abwanderung aus der gesamten Stadtregion, ein ökonomischer Niedergang und damit auch eine Einbuße an Steuerkraft einsetzen, wodurch die notorisch überbelasteten Infrastruktureinrichtungen kaum noch zu finanzieren sind und sich der Niedergang noch mehr beschleunigt. Diese Entwicklung muss jedoch nicht zwangsläufig erfolgen. Die Phase der Desurbanisierung kann auch in eine Reurbanisierung übergehen, in der die Stadtregion wieder an Attraktivität und ökonomischer Dynamik gewinnt. Dafür müssen aber Maßnahmen wie Stadterneuerungsprogramme, Verkehrsberuhigung, Entwicklung »weicher« Standortfaktoren (soziales Klima, kulturelles Angebot, …), verträgliche Durchmischung von Gewerbe und Wohnnutzung, Innovationsförderung, Anbindung an hochrangige internationale Verkehrsstrukturen u. a.m. entwickelt werden und zur Ausführung gelangen, die sich wiederum gegenseitig nicht allzu sehr behindern dürfen. Nicht zuletzt auch durch ein erfolgreiches Stadtmarketing müssen Investoren gefunden werden, die an die Nachhaltigkeit der Entwicklungspotenziale und der Standortqualitäten glauben und daher auch bereit sind, den Aufschwungprozess durch Investitionen mitzutragen. Selbst wenn mit diesen Maßnahmen die Stadtregion wieder eine positive ökonomische Entwicklung nehmen kann und für Investoren interessant wird, so sind auch mit der Reurbanisierung charakteristische Probleme verbunden. Durch Maßnahmen der Stadterneuerung können zwar zentral gelegene Viertel für junge, kinderlose, hoch qualifizierte Bevölkerungsgruppen attraktiv werden, die auch am neuen Aufschwung erfolgreich partizipieren. Durch die Steigerung der Wohnungspreise nach der Sanierung und baulichen Aufwertung dieser Viertel kann es aber zur »Gentrification«56, zur Verdrängung bisher anwohnender, weniger zahlungskräftiger Sozialgruppen kommen. Andererseits erfolgt eine Konzentrierung von Immigranten, die aufgrund der Push-Effekte noch schlechterer Lebensbedingungen an ihren ursprünglichen Wohnorten zuwandern, sowie von anderen zahlungsschwachen und eher immobilen Bevölkerungsgruppen der Stadt (z. B. einkommensschwache ältere Bewohnerinnen und Bewohner) in Vierteln, die trotz des urbanen Aufschwungs eher unattraktive Wohngebiete bleiben und wo daher die Immobilienbesitzer als Verwertungsstrategie nicht eine Sanierung, sondern eine möglichst dichte Belegung der unsanierten Häuser wählen. Insgesamt kann daher auch (oder gerade) die Aufschwungphase der Reurbanisierung mit einer Verschärfung sozialer Segregation und sozialer Konflikte verbunden sein. 131
peter eigner · andreas resch 4.2 Die »Phasen der Stadtentwicklung« in Wien Für unseren Untersuchungsgegenstand Wien lassen sich anhand der stadträumlich differenzierten Darstellung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung sowie der Stadtplanung und der Entwicklung der sozialen und technischen Infrastruktur die Phasen der Stadtentwicklung anschaulich nachvollziehen.57 Die Übergänge zur jeweils nächsten Phase verliefen natürlich fließend, sodass die angegebenen Periodisierungen nur ungefähre Richtwerte bilden können. Nachdem in Wien in der Gründerzeit ein erheblicher Bevölkerungs-, Urbanisierungs- und Industrialisierungsschub aufgetreten war, war die Zwischenkriegszeit von wirtschaftlicher Stagnation und tendenziellem Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet, und die ns-Herrschaft brachte mit der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sowie den personellen und materiellen Kriegsverlusten einen schweren Rückschlag. Nach den unmittelbaren Trümmerjahren setzte in den Fünfzigerjahren vorerst wieder ein Urbanisierungsprozess ein (in Form einer nachholenden Industrialisierung), dem in den Sechzigerjahren eine Phase der Suburbanisierung folgte. Die Siebzigerjahre wiesen deutliche Merkmale einer Desurbanisierung auf, während seit den Achtzigerjahren Ansätze einer Reurbanisierung erkennbar wurden. Die Wiener Wohn- und Arbeitsbevölkerung entwickelte sich während dieser Phasen wie folgt : Tabelle 3 : Wohn- und Arbeitsbevölkerung in Wien nach den Volkszählungen 1951–2001 Wohnbevölkerung (Hauptwohnsitz) Jahr
Wien
Innenbezirke Außenbezirke Innere (II bis IX + (X bis XIX + Stadt (I) XX) XXI bis XXIII)
Arbeitsbevölkerung* Wien
Innere Stadt (I)
Innen bezirke (II bis IX + XX)
Außenbezirke (X bis XIX + XXI bis XXIII)
1951
1,616.125
34.654 629.361 (38,9 (2,1 %) %)
952.110 (58,9 %)
_
_
_
_
1961
1,627.566
32.243 602.315 (37,0 (2,0 %) %)
993.008 (61,0 %)
864.983
148.461 (17,2 %)
338.584 (39,1 %)
377.938 (43,7 %)
1971
1,619.885
25.169 541.575 (33,4 (1,6 %) %)
1,053.141 (65,0 %)
786.209
126.879 (16,1 %)
300.012 (38,2 %)
359.318 (45,7 %)
1981
1,531.346
19.537 468.222 (30,6 (1,3 %) %)
1,043.587 (68,1 %)
816.053
121.368 (14,9 %)
293.317 (35,9 %)
401.368 (49,2 %)
1991
1,539.848
18.002 457.809 (29,7 (1,2 %) %)
1,064.037 (69,1 %)
842.412
112.770 (13,4 %)
295.997 (35,1 %)
433.645 (51,5 %)
2001
1,550.123
17.056 442.475 (28,5 (1,1 %) %)
1,090.592 (70,4 %)
837.173
101.668 (12,1 %)
298.283 (35,6 %)
437.222 (52,2 %)
* Arbeitsbevölkerung = im Bezirk wohnhafte Beschäftigte minus Auspendler plus Einpendler. Quelle : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jahrgänge.
132
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien 4.2.1 Die Urbanisierung in Wien während der Fünfzigerjahre Gemäß den modellhaften Stadtentwicklungsphasen kann man in Wien die Fünfzigerjahre als Urbanisierungsperiode kategorisieren. Nach den markanten Bevölkerungsverlusten im Zeitraum 1934 bis 1951 trat die Urbanisierung Wiens in den Fünfzigerjahren unter anderem in einem wenngleich geringfügigen Wachstum der Wohnbevölkerung zutage. Die Einwohnerzahl erhöhte sich von 1,616 Millionen (1951) um 0,7 Prozent auf 1,628 Millionen im Jahr 1961. Der Negativsaldo der Geburtenbilanz (–103.581) wurde durch die Zuwanderung, die in ihrem Ausmaß durchaus an die Gründerzeit herankam, mehr als egalisiert – es wanderten per saldo 115.022 Menschen zu, wobei die Inlandsmigration bei Weitem überwog. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung, der infolge der Wirren zu Kriegsende vorübergehend erhöht war, ging trotz der Ungarnkrise von 1956 erheblich zurück – hatten 1951 47.385 (2,9 Prozent) AusländerInnen in Wien gelebt, so nahm ihre Anzahl auf 24.056 (1,5 Prozent) im Jahr 1961 ab.58 Innerhalb der Stadtregionen war eine gleichmäßigere Bevölkerungsentwicklung als in den folgenden Perioden zu verzeichnen. Die City verlor zwischen 1951 und 1961 sieben Prozent ihrer Wohnbevölkerung, die inneren Bezirke (ii bis ix und xx) büßten 4,3 Prozent ein, während die äußeren Bezirke (x bis xix und xxi bis xxiii) einen Einwohnerzuwachs von 4,3 Prozent aufwiesen. Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt war, wie bereits erwähnt, bis zum Abschluss des Staatsvertrages im Jahr 1955 durch die unsicheren Zukunftserwartungen wegen der sowjetischen Besatzung erheblich beeinträchtigt. Ab der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wirkten sich die Agglomerationsvorteile der Großstadt hingegen wieder unbeeinträchtigt auf das Wachstum aus, und die Investitionstätigkeit nahm zu. Bereits im Zuge des Wiederaufbaus hatte die Entwicklung der Hinterhofindustrie der inneren Bezirke neue Impulse erhalten, die nun in eine weitere Expansion überging. Viele Betriebe bezogen jetzt die Straßentrakte als Verwaltungs- oder Verkaufsräume in ihr Unternehmensgeschehen ein, der hohe Bedarf an gewerblichen Leistungen während des Wiederaufbaubooms überwog die nachteiligen Standort- und Produktionsbedingungen. In den Fünfzigerjahren begann man andererseits bereits, flächenintensivere Betriebe in die Außenbezirke zu verlagern. Zwar wurde der gesamte Stadtbereich von einem Aufschwung des sekundären Sektors gekennzeichnet, die Vermehrung der größeren industriellen Produktionsstätten machte sich aber vor allem an den Stadträndern bemerkbar. Eine regelrechte Industriegründungswelle setzte rund um Wien, v. a. im Wiener Becken und im Südosten ein.59 Etwas als Nachzügler entwickelte sich das traditionelle Wiener Industriezentrum Floridsdorf, das sowjetisches Besatzungsgebiet gewesen war. Hier begann man erst gegen Ende der Fünfzigerjahre, die Schäden der Kriegs- und Besatzungszeit zu überwinden.60 133
peter eigner · andreas resch Detaillierte Informationen zur stadträumlichen Verteilung einzelner Sektoren bzw. Betriebsklassen geben die Betriebsaufnahmen. Bei der offensichtlich nicht vollständigen Betriebsaufnahme im Jahr 195961 wurden 662.74462 unselbstständig Beschäftigte in 87.837 nichtlandwirtschaftlichen Betrieben gezählt. Davon entfielen 288.949 auf das verarbeitende Gewerbe und die Industrie63, 112.455 auf Handel, Vermittlung und Werbewesen, 101.264 auf die Betriebsklassen öffentlicher Dienst, Gesundheits- und Fürsorgewesen, Unterricht, Bildung, Kunst, Unterhaltung, Körperpflege und Reinigungswesen. Im Bauwesen zählte man 58.425 und in den Betriebsklassen Geldwesen, Privatversicherung, Rechts- und Wirtschaftsberatung 36.472 unselbstständig Beschäftigte. Im ersten Bezirk, der City, wurden 1959 noch 25.071 unselbstständig Beschäftigte des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie in 1.708 Betriebsstätten gezählt. In den traditionsreichen Gewerbevorstädten Margareten, Mariahilf und Neubau schienen 49.428 unselbstständig Beschäftigte in 5.030 Sachgüter erzeugenden Betrieben auf. Auch die Gewerbevororte RudolfheimFünfhaus, Ottakring und Hernals wiesen mit 40.032 unselbstständig Beschäftigten in 5.627 Betrieben noch einen deutlichen Schwerpunkt in der Sachgüterproduktion auf. In den späteren Stadterweiterungsbezirken Wiens, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing, zählte man 1959 zusammen erst 26.879 Personen, die in 1.498 Betriebsstätten des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie unselbstständig beschäftigt waren. Unter den tertiären Betriebsklassen waren Handel, öffentlicher Dienst, Geldwesen, Privatversicherung und Rechts- und Wirtschaftsberatung noch in hohem Ausmaß in der Inneren Stadt konzentriert. Von den 191.559 in diesen Bereichen gezählten unselbstständig Beschäftigten arbeiteten 1959 allein 68.115 (35,6 Prozent) in der Inneren Stadt.64 Meißl spricht davon, dass die Strukturdaten der Betriebsaufnahme 1959 die Etablierung einer Stadtwirtschaft abbilden, »die von der Regulationstheorie dem ›fordistischen Akkumulationsregime‹ zugeordnet wird«.65 Vonseiten der Stadtplanung erfolgte in den Jahren 1948 bis 1951 eine Bestandsaufnahme zur Erstellung eines neuen Flächenwidmungsplans für Wien, der 1952 als »8-Punkte-Programm des sozialen Städtebaus« genehmigt wurde. Als städte bauliche Hoffnungsgebiete erachtete man Gründe nördlich der Donau sowie im Süden Wiens am Laaer bzw. Wiener Berg.66 Zu diesem Zeitpunkt wurde die Planungsarbeit allerdings dadurch erschwert, dass die endgültige Festlegung der Stadtgrenzen noch nicht feststand, nachdem im Jahr 1938 die Nationalsozialisten umfangreiche Eingemeindungen vorgenommen hatten, die nun wieder zur Disposition standen. Die Stadtgrenzen waren nach 1945 heftig umstritten. Die Gesamtfläche der Stadt Wien hatte sich vor 1938 auf 27.805 Hektar belaufen und war durch die Eingemeindung von 98 niederösterreichischen Gemeinden auf 121.541 Hektar vergrößert worden. Schließlich wurde durch die neue Gebietsregelung im Jahr 1954 die von den Nationalsozialisten vollzogene Erweiterung Wiens wieder weitgehend rückgängig 134
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien gemacht. Seit 1954 umfasst das Stadtgebiet Wiens 23 Bezirke auf einer Fläche von 41.495 Hektar.67 Somit konnte sich von da an auch die raumordnende Funktion der Stadtplanung wiederum nur auf diesen engeren Bereich beziehen. Schwerpunkte der Wohnbautätigkeit bildeten nach 1945 der Wiederaufbau, also die Beseitigung der Kriegsschäden, und die Nutzung noch freier Baugründe im geschlossenen Stadtkern sowie auch schon erste größere Projekte außerhalb der dicht besiedelten Stadtregion, etwa die Errichtung der Per-Albin-Hansson-Siedlung (West) in Wien-Favoriten ab 1947.68 Markante innerstädtische Projekte waren zum Beispiel das Hochhaus am Matzleinsdorferplatz (1954–57) und die Vorbildwirkung erlangende Wohnhausanlage in Zeilenbauweise in der Vorgartenstraße (1959). Bis 1954 konnten 28.000 Wohnungen (das waren rund 3.000 pro Jahr) errichtet werden, in den Jahren 1954 bis 1959 stieg die Wohnbauleistung auf jährlich 6.000 bis 7.000 Einheiten an. Während die Neubautätigkeit nach wie vor großteils von der Gemeinde (bis 1950 war das Verhältnis zwischen der Gemeinde und Privaten etwa 80 : 20) selbst getragen wurde, erlangten beim Wiederaufbau innerhalb des geschlossenen Stadtgebiets gemeinnützige Genossenschaften, die überwiegend Eigentumswohnungen errichteten, einen großen Stellenwert. Der Bedeutungsgewinn der Genossenschaften und Privaten im Wohnbau wurde durch das Wohnbauförderungsgesetz 1954 unterstrichen. Bis zum Jahr 1960 war in Wien die dringendste Wohnraumnot in quantitativer Hinsicht weitgehend behoben. Dabei war die Einwohnerzahl der inneren Bezirke beinahe gleich geblieben, während aus den verdichteten Zonen überbelegter Arbeiterwohnungen in den äußeren Bezirken eine Abwanderung in meist noch peripherere Siedlungsgebiete erfolgte. Auch in den ehemals sowjetischen Besatzungszonen siedelten sich nach 1955 wieder mehr Menschen an. So kam es innerhalb des Stadtgebietes zu einer gewissen Nivellierung der Einwohnerdichte.69 Die stärksten Wohnungszuwächse in der Periode bis 1960 wiesen Favoriten, Floridsdorf, Meidling und Döbling auf. Bis zum Ende der Fünfzigerjahre fand man mit der Verkehrsinfrastruktur in der Form, wie sie aus der Gründerzeit überkommen war, noch weitgehend das Auslangen. 1949 waren alle Kriegsschäden an den Anlagen der Wiener Verkehrsbetriebe mit Ausnahme der Stadtbahnlinie nach Heiligenstadt behoben. 1950/51 wurde der neue Westbahnhof errichtet, 1953 begannen die Arbeiten am neuen Südbahnhof.70 Bereits in diesen Jahren forderte der wachsende Autoverkehr immer mehr Opfer, besonders an den Einbindungsstellen der alten Ausfallstraßen in den inneren und äußeren Ring (Ringstraße bzw. Gürtel). An der Spitze der Unfallstatistik stand die Opernkreuzung mit achtzig Unfällen im Jahr 1954. Folgerichtig errichtete man hier die erste Fußgängerunterführung, Rolltreppen hielten Einzug in Wien. Weiters entstand 1952 bis 1961 die Schottentorpassage mit unterirdischer Straßenbahnschleife, die im Volksmund bald nach dem damaligen Bürgermeister bzw. ihrer Form »JonasReindl« genannt wurde, 1961 die Karlsplatzpassage. Fußgänger und öffentlicher 135
peter eigner · andreas resch Verkehr mussten ganz im Sinne des Konzepts einer autogerechten Stadt dem motorisierten Individualverkehr weichen. Die traditionell große kulturelle Bedeutung der Wiener Innenstadt wurde u. a. durch den Wiederaufbau des Stephansdoms, der Oper und des Burgtheaters sowie einiger Ringstraßenbauten im historischen Stil betont, gleichzeitig wurde aber mit der Wiener Stadthalle ein moderner Veranstaltungsbau für vielfältige Nutzungen aus Kultur und Sport etwas außerhalb des Gürtels im 15. Wiener Gemeindebezirk errichtet. 4.2.2 Die Suburbanisierung während der Sechzigerjahre In der Phase der Suburbanisierung während der Sechzigerjahre blieb die Einwohnerzahl Wiens weiterhin nahezu unverändert. Die Wohnbevölkerung verringerte sich nur geringfügig von 1,628 Millionen Menschen (1961) um 0,5 Prozent auf 1,620 Millionen (1971). Es erfolgte jedoch eine weitreichende Verschiebung der Wohnbevölkerung und auch der Arbeitsstätten innerhalb der Stadt. Die Wohnbevölkerung der Inneren Stadt schrumpfte um 21,9 Prozent auf 25.169 Personen, in den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) ging sie um 12,7 Prozent auf 541.575 zurück. Die Bevölkerungszahl in den äußeren Bezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) stieg hingegen um 6,2 Prozent auf 1.053.141 an. Obwohl sich die Geburtenrate von etwa sieben Promille in den Fünfzigerjahren bis in die Sechzigerjahre auf einen Nachkriegshöchststand von etwa 13 Promille erhöhte (man spricht in diesem Zusammenhang vom »Babyboom«), blieb sie deutlich unter der Sterberate von circa 17 Promille, sodass die vor allem von Wirtschaftskreisen geforderte Zuwanderung weiterhin nur den natürlichen Bevölkerungsabgang einigermaßen ausgleichen konnte. Nach der erheblichen Zuwanderung während der Fünfzigerjahre blieb auch in den Sechzigern die Wanderungsbilanz noch positiv – per saldo wanderten von 1961 bis 1971 68.446 Personen zu.71 Die Wiener Arbeitsbevölkerung schrumpfte von 1961 bis 1971 um 9,1 Prozent auf 786.209 Beschäftigte.72 Wesentliche Ursachen für diese Verknappung des städtischen Arbeitskräfteangebotes waren die stagnierende Einwohnerzahl und die zunehmende Überalterung der Bevölkerung. Auch die Verlängerung der Schulpflicht (9. Schuljahr) und Veränderungen in der Sozialgesetzgebung (Möglichkeit der Frühpension) trugen zur Verringerung des Arbeitsangebots bei.73 Der Anteil der erwerbsfähigen Wohnbevölkerung74 nahm von 1961 bis 1971 von 69,9 auf 63,7 Prozent ab.75 Bis in die Siebzigerjahre wirkte der Arbeitskräftemangel als einschneidendes Hindernis für eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung in Wien. Mit Ausnahme der Rezessionsjahre 1967 bis 1969 lag im Zeitraum von 1961 bis 1975 die Anzahl der Arbeitslosen stets unter jener der offenen Stellen.76 Vorerst konnte auch die zunehmende Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte die Angebotsknappheit nicht ausgleichen. 136
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Die räumliche Entwicklung der Wirtschaftsaktivitäten in Wien war von einer verstärkten Randwanderung gekennzeichnet, was sich in einer ungleichmäßigen Abnahme der Arbeitsbevölkerung niederschlug. Sie ging in der Inneren Stadt um 14,5 Prozent auf 126.879 Personen zurück, in den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) schrumpfte sie um 11,4 Prozent auf 300.012 Beschäftigte, während sie in den äußeren Bezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) nur um 4,9 Prozent auf 359.318 Personen abnahm.77 Hinter diesen Absolutzahlen steht somit eine relative Verschiebung zwischen den Stadtregionen. Die inneren Bezirke mussten erhebliche Anteile ihrer Arbeitsbevölkerung an die Außenbezirke abgeben. Infolge der gleichzeitigen Veränderungen sowohl der Arbeits- als auch der Wohnbevölkerung und der Abnahme der Gesamtzahl der Beschäftigten nahm die Anzahl der innerstädtischen ArbeitspendlerInnen von 505.375 (1961) um 12,7 Prozent auf 441.406 (1971) ab. Die Zahl der Einpendler aus Gemeinden außerhalb Wiens erhöhte sich in diesem Zeitraum jedoch von 80.401 auf 103.345. Auch die Zahl der Auspendler nahm von 22.344 auf 24.590 zu. Die wachsenden Pendleranteile gelten als Indiz für die zunehmend intensiver werdenden gegenseitigen wirtschaftsräumlichen Verflechtungen zwischen dem Wachstumskern Wien und dem Umland.78 Wie bereits erwähnt, setzte in den Sechzigerjahren nachhaltig der Prozess der Tertiärisierung der Wirtschaft ein. In Summe gingen jedoch vorerst im Stadtgebiet im sekundären Sektor mehr Arbeitsplätze verloren als im tertiären neu entstanden. Der Anteil der Erwerbstätigen im sekundären Sektor sank von 51,5 Prozent im Jahr 1961 auf 38,6 Prozent 1971. Auf den Tertiärsektor entfielen hingegen 1961 47,4 Prozent, 1971 bereits 60,6 Prozent der Erwerbstätigen.79 Stadträumlich kam diese Entwicklung in einem von der City ausgehenden und sich Mitte der Sechzigerjahre beschleunigenden Verdrängungsprozess der zentrumsnahen industriell-gewerblichen Standorte durch konkurrenzfähigere, weil zahlungskräftigere Nutzungen des tertiären Sektors zum Ausdruck. Geänderte Standortbedingungen machten sich weiters in einer Ausdünnung der Konzentration von Unternehmen der Großindustrie entlang der Bahnlinien des 21. und 22. Bezirks bemerkbar. Diese Tendenz überlappte sich mit jener der Entstehung neuer peripherer Industriezonen, die sich in erster Linie nunmehr am Autobahnanschluss (als neuer Standortanforderung) orientierten und sich zunächst v. a. entlang der Südautobahn zu konzentrieren begannen. In der Inneren Stadt nahm trotz der weitgehenden Ausrichtung des Bezirks auf den tertiären Sektor die Zahl der Arbeitsplätze am stärksten ab. Bei einer steigenden Mobilität der Betriebsstätten konnte dieser Prozess auch von einer zum Teil intensivierten Neugründungstätigkeit in einigen Branchen nicht aufgehalten werden. Die beschäftigte Wohnbevölkerung schrumpfte von 1961 bis 1971 um mehr als dreißig Prozent80, und auch die Zahl der Einpendler nahm um rund 18.000 137
peter eigner · andreas resch (–13,2 Prozent) ab. Zu den expansiven Betrieben in der Innenstadt gehörten Bürozentralen großer Unternehmen, Banken und Versicherungen, Handelsbetriebe, internationale Organisationen, Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und freiberufliche Firmen.81 Die Zahl der Einpendler aus Gemeinden außerhalb Wiens in die Bezirke ii bis ix nahm von 1961 bis 1971 von 27.394 um 28,5 Prozent auf 35.211 zu. Neben der City wiesen vor allem die Bezirke Wieden, Mariahilf, Neubau und Alsergrund 1971 weiterhin besonders hohe Einpendlerquoten auf (mehr als 800 Einpendler auf 1.000 Arbeitsplätze), obwohl besonders die alten Gewerbe-Vorstädte (Margareten, Mariahilf, Neubau) von einem Arbeitsstättenschwund betroffen waren.82 Es fand eine fortschreitende Verdrängung des traditionellen Gewerbes, der Hinterhofindustrien, der Schuster, Tischler, Schneider, zunehmend aber auch der kleinen Lebensmittelhändler, der »Greißler«, und anderer Geschäfte für den täglichen Bedarf aus dem innerstädtischen Bereich statt.83 Zum Beispiel erhob man bei der Arbeitsstättenzählung im Jahr 197384 in der Inneren Stadt nur noch eine Anzahl von 11.742 unselbstständig Beschäftigten in 868 Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie85 ; gegenüber 1959 hatten sich die Werte um mehr als die Hälfte verringert (wobei die beiden Zählungen nur bedingt vergleichbar sind). In Margareten, Mariahilf und Neubau ging die Zahl in diesen eineinhalb Jahrzehnten um rund zwei Fünftel auf 29.590 unselbstständig Beschäftigte in 2.207 Betriebsstätten zurück. In Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals ergaben die beiden Zählungen gar eine Abnahme um etwa drei Fünftel auf 24.971 unselbstständig Beschäftigte in der Sachgüterproduktion. In einigen anderen äußeren Bezirken gewannen neue Standorte für Großbetriebe des sekundären und auch tertiären Sektors an Bedeutung, wie zum Beispiel das Industriegebiet Liesing um die Perfektastraße in Erlaa/Siebenhirten. Die Zahl der unselbstständig in der Sachgüterproduktion Beschäftigten erhöhte sich in den jungen, noch nicht so verdichteten Stadtregionen Floridsdorf (Zuwachs um etwa 45 Prozent auf 14.386) und Liesing (Zuwachs um drei Viertel auf 18.077) laut den Arbeitsstättenzählungen 1959 und 1973 bereits kräftig, während sie in Donaustadt in den Sechzigerjahren noch weitgehend stagnierte. Das Branchenspektrum veränderte sich, v. a. traditionelle Sektoren mit herkömmlicher Massenfertigung wie die für Wien lange Zeit so bedeutende Textil- und Bekleidungsindustrie gerieten gegenüber kostengünstigeren Standorten außerhalb Wiens zunehmend ins Hintertreffen.86 Die Konzentration größerer Unternehmen in einigen Gewerberegionen am Stadtrand wurde von der Stadtplanung bewusst forciert. Der Architekt und Stadtplaner Roland Rainer legte ein »Städtebauliches Grundkonzept von Wien« vor, das 1962 vom Gemeinderat angenommen wurde. Darin waren eine Dezentralisierung der Stadt sowie eine Auflockerung des dicht verbauten Stadtgebiets bzw. Verdichtung 138
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien der zu locker verbauten Stadtregionen und die Entmischung von gemischt genutzten Gebieten vorgesehen. Gemeint war nicht eine großräumige Entmischung durch Absiedlung in ein Industriegebiet am Stadtrand, sondern innerstädtische kleinräumige Entmischung, z. B. durch Konzentration von Gewerbebetrieben in »Gewerbehöfen«. Im innerstädtischen Bereich sollten das Gelände des Nordbahnhofs, die Flächen des alten Allgemeinen Krankenhauses (für den Neubau wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben) und des Arsenals die Funktion städtischer Subzentren erhalten, um damit der Ballung zentraler Einrichtungen und der hohen Arbeitsplatzdichte in der Inneren Stadt entgegenzuwirken.87 Gleichzeitig blieben die Intentionen der Stadtplaner auf den Stadtrand konzentriert, gedacht war neben reinen Industriezonen (z. B. Neuansiedlung von Industriebetrieben entlang der süd-westlichen Bandstadt) an neue nachrangige Einkaufszentren mit Dienstleistungs- und Gewerbebetrieben (z. B. Ekazent Hietzing).88 Der kommunale Wohnbau wurde in den Sechzigerjahren vom Konzept der Stadterweiterung, das die planmäßige Schaffung neuer Wohnviertel an den Rändern der Stadt vorsah, bestimmt. Die Suburbanisierung erfolgte dabei kaum, wie in vielen nordamerikanischen und westeuropäischen Städten, durch die Errichtung von großflächigen Siedlungen aus Einfamilienhäusern, sondern in Form der Zeilenbauweise üblicherweise parallel ausgerichteter Wohnblöcke mit zumeist vier oder neun Geschossen. Die größten derartigen Projekte »auf der grünen Wiese« waren ein neuer Stadtteil in Kagran (an der Erzherzog-Karl-Straße) ab 1962 sowie die Großfeldsiedlung und die Per-Albin-Hansson-Siedlung ab der Mitte der Sechzigerjahre. Bei diesen Neubauprojekten wandte man erstmals in großem Maßstab die Montagebauweise an (zu diesem Zweck hatte die Stadt 1961 die Montagebau Wien Ges.m.b.H. gegründet). Industrielle Massenfertigung hielt Einzug in der Wiener Bauwirtschaft. Mit einem Nettozuwachs von über 105.000 Wohnungen erreichte die Bauleistung in den Sechzigerjahren ihren absoluten Höhepunkt, über Ästhetik und Qualität dieser Architektur lässt sich streiten. In diesem Zeitraum entfiel die Hälfte des Zuwachses allein auf die Außenbezirke Favoriten, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing, die klassischen Stadterweiterungsgebiete Wiens. Die neuen Trabanten- bzw. Schlafstädte entsprachen dem funktionalen Konzept der großräumigen Trennung von Wohnen und Arbeiten. Schon ab der Mitte der Sechzigerjahre regte sich jedoch zunehmend Kritik, die anstelle der großräumigen Funktionstrennung eine geeignete Funktionsmischung forderte. Gerade die Großfeldsiedlung galt vielen als negatives Beispiel einer Schlafstadt, wobei neben dem Fehlen eines ausreichenden Arbeitsplatzangebots der Mangel an infrastrukturellen Einrichtungen im Zielpunkt der Kritik stand. Es fehlte an ausreichenden Kindergarten- und Schulplätzen sowie an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.89 Vereinsamung, Alkoholismus und Vandalismus waren die sozialen Folgekosten dieser Planungen. 139
peter eigner · andreas resch Mit der Stadterweiterung und großräumigen Funktionstrennung nahmen die Verkehrsströme zu, und mit dem wachsenden materiellen Wohlstand ging die Massenmotorisierung einher. Noch setzte man in den Sechzigerjahren bezüglich der Lösung der Verkehrsprobleme vor allem auf den Ausbau des Straßensystems. Einzig mit der Eröffnung der Schnellbahn im Jahr 1962 wurde das öffentliche Transportsystem um eine leistungsfähige Linie erweitert. Mit der S-Bahn stand nun eine Durchmesserlinie zwischen Meidling und Floridsdorf, die die City tangierte, zur Verfügung – errichtet auf den alten Trassen der ehemaligen Nord-, Süd- und Verbindungsbahn. Die Schnellbahn entsprach dem Bedarf, die neuen Wohngebiete im Norden Wiens (in »Transdanubien«) mit den dynamischen Betriebsansiedlungsgebieten im Süden zu verbinden, und ihr Netz wurde in den folgenden Jahren noch ausgeweitet. Ansonsten schritt man vielfach bei bestehenden Linien des öffentlichen Personennahverkehrs sogar zu »autofreundlichen« Rückbaumaßnahmen. Mehr als zwanzig Straßenbahnlinien wurden in der Stadt mit dem einstmals größten Straßenbahnnetz der Welt aufgelassen und großteils durch Autobuslinien ersetzt. Hatten sich die Schienenstränge der Tramway in Wien im Jahr 1928 noch über eine Gesamtlänge von 318 Kilometern erstreckt, so wurden sie bis 1971 auf 238 Kilometer reduziert. Diese Politik erschien den Planern angesichts der offenbar überlegenen Attraktivität des motorisierten Individualverkehrs und der sinkenden Fahrgastzahlen der öffentlichen Nahverkehrsmittel gerechtfertigt, erwies sich aber langfristig als äußerst kurzsichtig. Gegen Ende der Sechzigerjahre baute man einige Tramways zur Entlastung stark befahrener Plätze bzw. Straßenzüge als »upflaba« (Unterpflasterbahn) oder über längere Streckenbereiche als »ustr aba« (Unterstraßenbahn) um. Im Zusam menhang mit diesen Projekten sind etwa die Linie H2 zum bereits erwähnten »Jonas-Reindl« sowie die Errichtung der ustr aba Flurschützstraße–Südtirolerplatz mitsamt der Umgestaltung des Matzleinsdorferplatzes bis 1969 zu nennen. In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre setzte dann allmählich die Planung der späteren U-Bahn-Linien ein, deren Grundnetz in den Jahren 1966/68 beschlossen wurde.90 Die Kapazitäten des Straßennetzes wurden in den Sechzigerjahren erheblich ausgeweitet. Es erfolgte der aufwendige Ausbau der Wiener Westeinfahrt von der Westautobahn bis in das Stadtzentrum (dem auch der Naschmarkt zum Opfer hätte fallen sollen), bis 1964 errichtete man die großzügige Nordautobahneinfahrt über die Nordbrücke, und gegen Ende des Jahrzehnts wurden erste Abschnitte der Südosttangente und die Autobahneinfahrt Süd errichtet. Die zur Südosttangente gehörende Praterbrücke (4. Donaubrücke) knickte allerdings bei einem Belastungstest im Jahr 1970 ein und konnte erst nach langwierigen Reparaturarbeiten 1972 für den Verkehr eröffnet werden. Zudem waren die Sechzigerjahre eine Phase des Ausbaus der Ver- und Entsorgungseinrichtungen der Stadt, das E-Werk Simmering erfuhr 140
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien eine beträchtliche Kapazitätserweiterung, neue Gasometer entstanden ebenso wie die Müllverbrennungsanlage Flötzersteig und die Kläranlage Inzersdorf. Mit der Errichtung des Donauturms im Rahmen der Wiener Internationalen Gartenschau (wig) 1964 schuf man nördlich der Donau nicht nur eine Wiener Sehenswürdigkeit, sondern mit dem Donaupark, der auf einer wilden Mülldeponie errichtet wurde, ein Freizeit- und Erholungsareal in einem Wiener Entwicklungsgebiet. 4.2.3 Desurbanisierungstendenzen in den Siebzigerjahren Viele der bereits während der Sechzigerjahre aufgetretenen Probleme der sich erweiternden und verdichtenden Stadtagglomeration nahmen in den Siebzigerjahren weiter zu. Sie schlugen sich nunmehr in für die Phase der Desurbanisierung charakteristischen Entwicklungsmerkmalen nieder, zum Beispiel im beschleunigten Schrumpfen der Stadtbevölkerung und im Stocken des wirtschaftlichen Wachstums. Die Siebzigerjahre waren gemäß den oben besprochenen Regulationsweisen zugleich Höhepunkt und Endphase der Ära des Keynesianismus – in Österreich in Form des »Austro-Keynesianismus«. Für Wien spitzte sich die Situation zu. Angesichts der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz, der Sättigung bzw. Umorientierung der Märkte traten die zunehmenden Strukturprobleme der Wiener Wirtschaft immer deutlicher zutage. Vor dem Hintergrund einer Zunahme der Arbeitsbevölkerung zeigte sich zudem, dass die Kompensationsleistung des Dienstleistungssektors bezüglich des Auffangens von Arbeitskräften der Industrie an seine Grenzen stieß. Der Wertschöpfungsanteil des Sekundärsektors blieb im österreichweiten Vergleich rückläufig, und der Tertiärbereich vermochte nicht mehr so selbstverständlich wie in den Sechzigerjahren die zusätzlichen Beschäftigten zu absorbieren. Die Anzahl der Einwohner Wiens ging von 1971 bis 1981 um 5,5 Prozent auf 1.531.346 Personen zurück. Der relative Bevölkerungsverlust im Zentrum erreichte während dieses Zeitraums seinen Höhepunkt. Die Einwohnerzahl der City nahm bis 1981 um 22,4 Prozent auf 19.537 ab, die Wohnbevölkerung der inneren Bezirke (ii bis ix und xx) reduzierte sich um 14,2 Prozent auf 394.526 Personen. In dieser Periode nahm erstmals aber auch die Bevölkerung in den Außenbezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) geringfügig ab und sank um 0,9 Prozent auf 1.043.587 Personen. Ein weiteres bedenkliches Symptom der Desurbanisierung war, dass in den Siebzigerjahren erstmals die Wanderungsbilanz bei InländerInnen negativ ausfiel. Während in den Sechzigern per saldo noch 28.500 InländerInnen und 39.900 AusländerInnen zugewandert waren, war von 1971 bis 1981 ein Abgang von 26.008 InländerInnen zu verzeichnen. Da die AusländerInnen-Wanderungsbilanz jedoch ein Plus von 54.725 Personen aufwies, ergab die gesamte Wanderungsbilanz noch einen Zuwachs von 28.717 Personen.91 141
peter eigner · andreas resch Die Wiener Arbeitsbevölkerung nahm im Gegensatz zur Wohnbevölkerung etwas zu und vergrößerte sich von 1971 bis 1981 um 3,8 Prozent auf 816.053 Personen.92 Mit dem geringen Zuwachs an Beschäftigten blieb Wien aber in den Siebzigerjahren deutlicher als in den vorangegangenen Perioden hinter der gesamtösterreichischen Entwicklung zurück. War der Anteil Wiens an den unselbstständig Beschäftigten in Österreich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bei etwa 32 bis 33 Prozent gelegen, so sank er im Lauf der Siebzigerjahre auf nur noch rund 28 Prozent.93 Die Randwanderung der Arbeitsstätten erreichte einen ersten Höhepunkt. Während in der Inneren Stadt die Arbeitsbevölkerung zwischen 1971 und 1981 um 4,3 Prozent auf 121.368 Personen zurückging und in den Innenbezirken um 2,2 Prozent auf 293.317 sank, wuchs die Arbeitsbevölkerung in den Außenbezirken um 11,7 Prozent auf 401.368 Personen an. Mit der gegenläufigen Entwicklung der Wohn- und der Arbeitsbevölkerung war ein erhebliches Anwachsen der Pendlerzahl verbunden. Die Massenmotorisierung und der wachsende Wohlstand hatten den Radius des Wiener Einzugsgebietes laufend vergrößert. Der tägliche Strom von Einpendlern aus Gemeinden außerhalb Wiens schwoll von 103.345 Personen (1971) um 57 Prozent auf 162.270 Personen im Jahr 1981 an. Die Zahl der Pendler aus anderen Wiener Bezirken nahm von 441.406 auf 461.789 zu, aber auch die Anzahl der Auspendler in Gemeinden außerhalb Wiens erhöhte sich in diesem Zeitraum von 24.590 auf 35.487. Die Trends der stadträumlichen Wirtschaftsentwicklung aus den Sechzigerjahren setzten sich in gesteigertem Ausmaß fort. Die Arbeitsstättenzählungen 1973 und 198194 geben deutlich Aufschluss darüber. Die Gesamtzahl der Arbeitsstätten lag bei beiden Zählungen etwas über 66.000, ihre räumliche Verteilung verschob sich aber zum Stadtrand hin, und die Gesamtzahl der unselbstständig Beschäftigten nahm von 769.225 auf 710.26995 ziemlich deutlich ab, wobei das Jahr 1973 am Endpunkt einer Hochkonjunkturphase stand. Die Innere Stadt büßte von 1973 bis 1981 12,3 Prozent ihrer Betriebsstätten und ein Viertel der unselbstständig Beschäftigten ein. In den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) reduzierte sich die Anzahl der Arbeitsstätten – wenngleich in geringerem Ausmaß – ebenfalls. Einzig im 9. Bezirk Alsergrund wuchs die Beschäftigtenzahl laut den Arbeitsstättenzählungen an, v. a. wegen einer deutlichen Zunahme der im Geld- und Kreditwesen Beschäftigen von 1.813 auf 3.049 Personen, die u. a. auf den Neubau eines Gebäudes der Creditanstalt am Julius Tandler-Platz zurückzuführen war. Die Reduktion von Betriebsstätten und Beschäftigten in den inneren Bezirken beruhte weiterhin zu einem großen Teil auf der Auflösung oder Abwanderung indust riell-gewerblicher Betriebe. In der Inneren Stadt nahm die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in der Wirtschaftsabteilung verarbeitendes Gewerbe, Industrie um mehr als ein Viertel (von 11.742 auf 8.559) ab. Weiterhin führte der zuneh142
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien mende Flächenbedarf des tertiären Sektors zu einer Verdrängung der Nutzungen für Wohnzwecke und gewerbliche Betriebe. Dieser Prozess wurde allerdings durch die Mieterschutzgesetzgebung und den Denkmalschutz gebremst. In den früheren Gewerbezentren Margareten, Mariahilf und Neubau waren im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie 1981 zusammen nur noch 17.068 Personen unselbstständig beschäftigt. Ihre Anzahl hatte sich seit 1973 erneut um zwei Fünftel reduziert. In der Brigittenau nahmen die unselbstständig Beschäftigten in dieser Wirtschaftsabteilung um dreißig Prozent auf 5.933 Personen ab. Auch in den Außenbezirken Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals setzte sich die Krise der traditionellen Gewerbestrukturen – wenngleich etwas gebremst – fort. Die Zahl der Arbeitsstätten des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie reduzierte sich in diesen Bezirken von 2.481 (1973) auf 1.976 (1981), und die Zahl der in diesen Betrieben unselbstständig Beschäftigten ging um mehr als ein Viertel auf 18.416 zurück. Einzig in zwei Stadtrandbezirken war in diesem Zeitraum eine Zunahme der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie zu verzeichnen. In Donaustadt erhöhte sich ihre Zahl um 36,1 Prozent von einem allerdings sehr niedrigen Ausgangsniveau auf 8.416, und in Liesing nahm sie um 9,2 Prozent auf 19.742 zu. Die Randwanderung der Industrie wurde in erster Linie durch die Bodenpreisentwicklung und die Flächenknappheit in den inneren Bezirken erzwungen.96 Sie beschränkte sich allerdings nicht mehr auf die Verlegung von Betrieben in die äußeren Bezirke des Stadtgebietes, sondern die Abwanderungsdynamik hatte sich über die Wiener Stadt- bzw. Landesgrenzen hinaus dramatisch verstärkt. So wurden in Niederösterreich zum Beispiel von 1970 bis 1973 213 industrielle Betriebsstätten gegründet, im Burgenland 64, und der Anteil von Wiener Firmen an den neuen Betriebsstätten betrug in Niederösterreich 56, im Burgenland 57 Prozent. Insbesondere Industrien, die eine große Zahl wenig qualifizierter Arbeitskräfte benötigten und an einem niedrigen Lohnniveau interessiert waren, wurden in die peripheren Gebiete verlagert. Dazu gehörten zum Beispiel Betriebe der Bekleidungsindustrie, der Lederverarbeitung und der Eisen- und Metallwarenerzeugung.97 Auch innerhalb Wiens war die Randwanderung mit einer erheblichen Ausweitung der Flächen, die für gewerbliche/industrielle Zwecke genutzt wurden, verbunden. In den Sechzigerjahren waren vom neu erschlossenen Bauland noch 300 Hektar für den Wohnbau und nur 125 Hektar für die Errichtung von Arbeitsstätten genutzt worden. In den Siebzigerjahren verschob sich die Gewichtung : Für Wohnzwecke wurden nur noch 200 Hektar in Anspruch genommen, die Betriebsbaugebiete erweiterte man hingegen um 380 Hektar, was einer Verdreifachung gegenüber den Sechzigerjahren gleichkam. Trotzdem blieb ein Arbeitsplatzmangel in den Stadtrandgebieten, insbesondere im Nordosten Wiens, bestehen. Von der Arbeitsstättenstruktur her gesehen wurde eine Vermehrung der gewerblichen und tertiären Betriebe am Stadtrand 143
peter eigner · andreas resch immer vordringlicher, um ein differenzierteres Arbeitsplatzangebot zu schaffen und den überhandnehmenden Personenverkehr einigermaßen einzudämmen.98 Die deutlichen Symptome einer beginnenden Desurbanisierung und die verstärkten Abwanderungstendenzen von Wiener Betrieben in den Siebzigerjahren sowie die Erfahrungen und Lehren aus den Sechzigern schlugen sich in veränderten Ansätzen der Stadtplanung und der städtischen Wirtschaftspolitik nieder. Auf die Wirtschaftsentwicklung der Stadt war seitens der Wiener Stadtverwaltung bislang kaum großes Augenmerk gerichtet gewesen, die Prioritäten waren eindeutig auf dem Wohnbau und dem Infrastrukturausbau gelegen. 1970/71 erstellte man die »Leitlinien für die Wiener Wirtschaftspolitik«. 1972 wurden neue Leitlinien für die Stadtentwicklung erarbeitet, und 1972/73 veranstaltete man eine große Stadtentwicklungsenquete.99 Die gesamten Siebzigerjahre hindurch fanden umfangreiche Vorarbeiten für einen neuen Stadtentwicklungsplan statt, der zeitgemäße Entwicklungsrichtlinien und neue räumliche Ordnungsansätze enthalten sollte.100 Die neuen Ansätze umfassten Vorschläge zur Ausdehnung der Stadt in gemischten Strukturen anstelle monofunktionaler Stadterweiterungsgebiete – das Stadtwachstum sollte entlang von Entwicklungsachsen mit dazwischen liegenden Grünkeilen nach dem Konzept der Bandstadt forciert werden. Diese Entwicklungsachsen waren entlang leistungsfähiger Linien des öffentlichen Verkehrs vorgesehen. Insgesamt wollte man die historische, monozentrische Struktur Wiens (mit ihrer überproportionalen Arbeitsplatzkonzentration in der Innenstadt) durch die Entwicklung neuer Subzentren entlasten und so eine polyzentrische Struktur schaffen. Im Diskurs tauchte aber auch immer mehr die Notwendigkeit einer Positionierung Wiens als überregionales Zentrum auf, seit den Achtzigerjahren verstärkt in der Funktion als Handels- und Finanzzentrum zwischen den östlichen und westlichen Wirtschaftssystemen.101 Hinsichtlich der Betriebsentwicklung verschärfte sich die Konkurrenz zum Umland. Auf die Abwanderungstendenzen reagierte die Stadtverwaltung mit verstärkten Bemühungen, Betriebe innerhalb der Stadtgrenzen zu halten. Die Stadt hatte vitale Finanzinteressen an der Betriebsansiedlung und wendete daher vermehrt Geldmittel dafür auf.102 Die klassische Form kommunaler Wirtschaftsförderung, die Aufschließung und Bereitstellung von Flächen für betriebliche Nutzung, wurde ab 1969 in planmäßiger Weise praktiziert. Zu diesem Zweck rief man die privatrechtlich organisierte Wiener Betriebsansiedlungsgesellschaft mbH (wibag) ins Leben. Die räumlichen Schwerpunkte der Bodenbereitstellung lagen in Donaustadt, Liesing, Floridsdorf, Simmering bzw. in Wien-Auhof. 1978 nahm zur besseren Beratung Grundstück suchender Unternehmer das Informationszentrum der Wiener Wirtschaft seine Tätigkeit auf.103 Weiters wurde in den Siebzigerjahren das Förderungswesen für betriebliche Investitionen auf Landes- und Bundesebene erheblich ausgeweitet. Es entwickelte sich ein dreistufiges öffentliches Haftungssystem für förderungswürdige 144
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Projekte privater Investoren, die nicht über ausreichende bankmäßige Sicherheiten verfügten : Die seit 1955 bestehende bürges Förderungsbank bürgte für kleine Kredite, die Landesgarantiegesellschaften für mittlere Investitionen und die Finanzierungsgarantiegesellschaft für Großinvestitionen.104 Auf Landesebene gründete man die Wiener Kreditbürgschaftsgesellschaft, die für Kredite zwischen 0,2 und 2,5 Millionen Schilling die Haftung übernahm. Die Gemeinde Wien bot eine Reihe weiterer Kreditaktionen an, wobei gleichzeitig Bundes- und Gemeindekredite in Anspruch genommen werden konnten.105 Ende der Siebzigerjahre wurden in Summe 32 Förderungsaktionen, an denen die Gemeinde mitwirkte oder mitbeteiligt war, angeboten. Insgesamt setzte die Stadt Wien von 1971 bis 1981 Finanzmittel im Ausmaß von rund drei Milliarden Schilling ein, mit denen ein Investitionsvolumen von rund 18 Milliarden Schilling stimuliert wurde.106 Überdies setzten nach dem »Erdölschock« von 1973/74 auf Bundesebene Konjunkturbelebungsmaßnahmen ein107, die auch Wiener Betrieben zugute kamen. Aufgrund der bereits skizzierten demografischen Entwicklung verstand man in den frühen Siebzigerjahren in Wien unter »aktiver Arbeitsmarktpolitik« noch etwas ganz anderes als in der Gegenwart. Unter dieser Bezeichnung fasste man damals noch nicht Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und zur Wiedereingliederung von Beschäftigungslosen in den Arbeitsprozess zusammen, sondern Aktivitäten zur Gewährleistung eines ausreichenden – quantitativen und qualitativen – Angebotes an Arbeitskräften. Als wichtigstes Instrument erachtete man die Förderung der Zuwanderung. Seit den Sechzigerjahren wurden nach der Überwindung anfänglicher gewerkschaftlicher Widerstände in zunehmendem Ausmaß ausländische »Gastarbeiter« angeworben, ehe 1974 die bereits dargestellte Trendwende einsetzte. Um den Zuzug – insbesondere aus strukturschwachen österreichischen Regionen, aber auch aus dem Ausland – zu fördern, gründete die Gemeinde Wien gemeinsam mit der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien (Wirtschaftskammer), der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und der Vereinigung österreichischer Industrieller im Jahr 1972 einen »Fonds zur Beratung und Betreuung von Zuwanderern nach Wien«. Diese Institution sollte Zuwanderer anwerben und ihnen in Wien bei der Suche nach einer Wohnunterkunft und bei der gesellschaftlichen Eingliederung behilflich sein.108 Die Errichtung von neuem Wohnraum oblag in den Siebzigerjahren weiterhin überwiegend dem sozialen, das heißt mit öffentlichen Mitteln subventionierten Wohnbau. Angesichts der stagnativen Bevölkerungsentwicklung und der Überwindung der dringenden Wohnungsnot in quantitativer Hinsicht seit den Sechzigerjahren ging das Bauvolumen zurück, wobei insbesondere der Bau neuer Gemeindewohnungen reduziert wurde. Seit 1972 wurde die gesamte Förderung auf Basis des Wohnbauförderungsgesetzes 1968 durchgeführt. Die Gemeinde konzentrierte sich 145
peter eigner · andreas resch in den Siebzigern in einer Art Nachvollzug verstärkt auf den Ausbau der technischen Infrastruktur. Während in den Sechzigerjahren der Wohnungsbestand in Wien um mehr als 100.000 Einheiten gewachsen war, erhöhte er sich von 1971 bis 1981 nur noch um rund 40.000.109 In beiden Zählperioden ist zu berücksichtigen, dass die Wohnbauleistung höher als der tatsächliche Wohnungszuwachs war, weil teilweise alte Häuser für die Errichtung von Neubauten abgetragen wurden bzw. Wohnungszusammenlegungen stattfanden. Nach Bauträgern differenziert wurden von den im Jahrzehnt von 1973 bis 1982 gebauten 67.428 Wohnungen 24.784 (36,8 Prozent) von der Gemeinde Wien, 14.295 (21,2 Prozent) von Genossenschaften, 20.935 (31,0 Prozent) von gemeinnützigen Kapitalgesellschaften und 7.414 (11,0 Prozent) von juristischen oder natürlichen Personen errichtet.110 Im Wohnbau wurden vorsichtig neue Wege beschritten. Unter den realisierten Bauprojekten fanden sich zwar noch einige Großwohnanlagen am Stadtrand im Stil der Sechzigerjahre (z. B. Fertigstellung der Großfeld- und Rennbahnweg-Siedlung), weiters aber mehrere mit dieser Tradition bewusst brechen wollende Großwohnanlagen, die man mit dem Schlagwort »Vollwertwohnen« charakterisierte (z. B. Wohnpark Alt Erlaa, Wiener Flur, Am Schöpfwerk, alle an der Wiener Entwicklungsachse Meidling – Siebenhirten gelegen), sowie kleinförmiger strukturierte Neubauten. Einhergehend mit der abnehmenden Neubauleistung gewann in den Siebzigerjahren der Stadterneuerungsgedanke zunehmend an Bedeutung. 1971 stammten noch immer über 422.000 (54 Prozent) der damals insgesamt bestehenden 782.000 Wiener Wohnungen aus der Zeit vor 1918. Im Althausbestand fanden sich überwiegend Substandardwohnungen ohne WC, Badezimmer und Heizung. Es war somit ein enormer, akuter Modernisierungsbedarf gegeben. Erste – noch sehr radikal umgesetzte – Flächensanierungen waren bereits in den Fünfzigerjahren in Erdberg durchgeführt worden, der Stadtteil Alt-Lichtental folgte in den Sechzigern. In den Siebzigerjahren setzte ein Umdenkprozess ein. Große Bekanntheit als ein erstes Beispiel »sanfter« Sanierung erlangte der Modellversuch »Planquadrat 4« in Wieden. Die Schaffung eines Gartenhofs unter Einbindung der betroffenen Bewohner wurde damals vom orf beobachtend begleitet. Eine wesentliche Weiterentwicklung erfolgte mit der Einstufung von städtischen Problemzonen und Sanierungsgebieten als Stadterneuerungsgebiete, Ottakring machte hier in den Siebzigerjahren den Anfang. Dazu waren mit dem Stadterneuerungsgesetz (BGBl. 287/1974) und dem Bodenbeschaffungsgesetz (BGBl. 288/1974) neue legistische Grundlagen geschaffen worden. Die erste umfassende Assanierungsmaßnahme, bei der Althäuser nicht einfach abgerissen, sondern saniert und modernisiert wurden, betraf den heruntergekommenen Stadtteil Spittelberg in Wien-Neubau (1976).111 Derartige Sanierungsmaßnahmen bergen allerdings die Gefahr in sich (und dies zeigte das Beispiel Spittelberg), dass die alteingesessenen Bewohner durch zahlungskräftigere neue Mieter verdrängt wer146
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien den und es zur »Gentrification« kommt. In Wien versuchte man durch sogenannte »sanfte Sanierungen« die sozialen Folgekosten der Sanierungsmaßnahmen zu verringern. Die geförderten Erneuerungsmaßnahmen sollten nicht zu einer verstärkten sozialen Segregation der Wiener Bevölkerung führen. Das bis in die Gegenwart weiterentwickelte Wiener Modell »sanfter Sanierung« bzw. »Stadterneuerung« findet inzwischen europaweite Beachtung. Bei der Planung und dem weiteren Ausbau der technischen Infrastruktur in Wien setzte sich in den Siebzigerjahren ebenfalls ein gewisses Umdenken durch. Der Ausbau des hochrangigen Straßennetzes wurde zwar mit großem Aufwand fortgesetzt, zugleich räumte man nun aber dem öffentlichen Nahverkehr erhöhten Stellenwert ein.112 Wien erhielt endlich eine U-Bahn, erste Überlegungen und Planungen reichten fast hundert Jahre zurück. Im Jahr 1969 begann am Karlsplatz der Bau des UBahn-Netzes. 1974 nahmen die U4 und 1976 die neu errichtete U1 den Betrieb auf ersten Teilstrecken auf. Durch die Führung der U1 unter dem Stephansplatz wurde es erstmals möglich, die Innenstadt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu bedienen, das in der Lage war, den starken Berufsverkehr zu bewältigen. Dem zu Beginn der Siebzigerjahre aufgrund umfassender Verkehrserhebungen erstellten Verkehrskonzept für Wien folgten 1974 die Gründung des Verkehrsverbundes Ost Region (vor) bzw. Ende des Jahrzehnts die Errichtung der Planungsgemeinschaft Ost. Das größte Straßenbauprojekt Wiens bildete die sukzessive Fertigstellung der Südosttangente (A 23) zwischen Altmannsdorf und dem Knoten Kaisermühlen in den Jahren 1970 bis 1978. Damit wollte man die Gebiete nordöstlich der Donau besser an das hochrangige Straßennetz im Süden anbinden, zugleich wurden die Betriebsbaugebiete entlang dieser Autobahn in den Bezirken Landstraße, Simmering, Favoriten und Liesing aufgewertet. Die Verlegung des Großmarktes nach Inzersdorf, die Errichtung eines Fleisch- und eines Textilzentrums in St. Marx trugen dieser Entwicklung Rechnung. Richtung Nordwesten begann man bereits in den Siebzigerjahren mit dem Bau der 1981 von Stockerau bis zur Floridsdorfer Brücke dem Verkehr übergebenen Donauuferautobahn und der 1982 fertiggestellten Außenringautobahn (Vösendorf – Knoten Steinhäusl – Westautobahn). Der Einsturz der Reichsbrücke 1976 zog neben ihrer Neuerrichtung den Bau der neuen Floridsdorfer Brücke nach sich. Die Struktur des Straßennetzes mit Ringstraße, Gürtel und Südosttangente sowie großen Ausfallstraßen nach Süden, Westen, Norden und Südosten entspricht in seiner Grundstruktur weitgehend dem ring-radialen Ordnungsschema, das auch das System der öffentlichen Verkehrsmittel prägt, bestehend aus der U-Bahn um die City, dem äußeren Ring entlang des Gürtels (U- und S-Bahn) und den radialen Linien (U- und S-Bahn) entlang wichtiger Entwicklungsachsen.113 Somit hatte man in den Siebzigerjahren noch nicht vermocht, die historisch monozentrische Struktur 147
peter eigner · andreas resch der Stadt und ihrer Verkehrsadern in die angestrebte polyzentrische Struktur umzuwandeln. Die Verkehrsströme blieben in hohem Ausmaß auf das Zentrum hin orien tiert, und sie nahmen weiterhin erheblich zu. Die Zahl der Berufseinpendler vergrößerte sich laufend, und auch die Anzahl der in Wien registrierten Kraftfahrzeuge wuchs rasant, von rund 430.000 im Jahr 1969 auf etwa 640.000 1981. Insbesondere die Wiener City drohte im Verkehr geradezu zu ersticken. Durch die Herrenstraße und den Innenring zum Donaukanal quälten sich täglich 40.000 Autos.114 Zusätzlich wurde die Lage durch die langwierigen, umfangreichen Baumaßnahmen der technischen Infrastruktur sowohl in den innerstädtischen Gebieten als auch entlang der hochrangigen Verkehrswege erschwert. Die Motorisierung zog Parkplatzprobleme nach sich. Zur besseren Bewältigung des »stehenden Verkehrs« wurden einige Tiefgaragen im zentralen Bereich gebaut, und als verkehrsberuhigende Maßnahmen errichtete man ab 1973 Fußgängerzonen (Kärntnerstraße, Favoritenstraße, Meidlinger Hauptstraße, …)115 und ab 1980 sogenannte Wohnstraßen (z. B. Wichtelgasse).116 Zur Verbesserung des Hochwasserschutzes und zur Schaffung neuer Erholungsareale für die Wiener Bevölkerung wurde im Jahr 1972 die »zweite Donauregulierung« in Angriff genommen. Im ehemaligen Überschwemmungsgebiet errichtete man ein »Entlastungsgerinne« entlang der 1870 bis 1875 regulierten Donau. Zwischen den beiden Flussläufen entstand die Donauinsel. In die Siebzigerjahre fallen ferner Bau und Fertigstellung der uno-City, die wie die Errichtung des Einkaufszentrums Donauzentrum die Attraktivität der nördlich der Donau liegenden Stadtregion erhöhen sollte. Auf die Schaffung mehrerer kleinerer Subzentren in der Stadt zielten die Einkaufszentren in der Per-Albin-Hansson-Siedlung bzw. im U4-Parkshop Meidling. Neue Schul- und Krankenhausbauten trugen zur besseren Versorgung Wiens bei, die Errichtung zahlreicher Bäder im Rahmen des Sportstättenkonzepts sollte für ein reichhaltigeres Freizeitangebot sorgen. 4.2.4 Reurbanisierungstendenzen seit den Achtzigerjahren Im Laufe der Achtziger- und Neunzigerjahre stellten sich in Wien wieder deutliche Anzeichen einer Reurbanisierung ein.117 Im zunehmenden Städtewettbewerb besann sich Wien seiner sogenannten »weichen« Standortfaktoren, dem reichen kulturellen Erbe der Vergangenheit als Habsburgermetropole, dem breiten Angebot an Hochkultur, aber auch der hohen sozialen Sicherheit, der vergleichsweise hohen Lebensqualität, dem leistungsfähigen öffentlichen Verkehr und einer alles in allem gut funktionierenden Stadtverwaltung. Das museale Image und die mangelnde urbane Dynamik wichen seit Mitte der Siebzigerjahre einem kulturellen und wohl auch gesellschaftspolitischen Aufbruch. Ein Anstoß kam dabei von der in Wien ansonsten eher wenig einflussreichen övp unter Erhard Busek. Sie betonte die Wichtigkeit des 148
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien unmittelbaren Wohnumfelds, des »Grätzels«, für dessen Funktionieren Gasthäuser, Cafés, kleine Lebensmittelgeschäfte eine zentrale Rolle spielen. Bald erkannte auch die Wiener spö (unter den Bürgermeistern Leopold Gratz und Helmut Zilk) die Wichtigkeit einer Trendwende. Nicht nur Boutiquen, Einkaufstempel und Nobelrestaurants schossen aus dem Boden, es entstand insbesondere eine lebendige und vielfältige Beisl- und Alternativ(kultur)szene. Zunächst konzentriert auf den i. Bezirk, erfasste diese bald Teile der Innenbezirke. Fußgängerzonen machten nicht nur die Innenstadt wieder attraktiv, Großausstellungen (wie »Traum und Wirklichkeit« 1985) richteten ihren Blick auf bislang wenig bekannte Aspekte und Facetten der Wiener Geschichte, Feste (Stadtfest 1978, Donauinselfest 1983) und diverse Großveranstaltungen belebten die Plätze Wiens. Als bedeutendste ökonomische Konsequenz dieser Entwicklung erlebte Wiens Fremdenverkehr zu Beginn der Achtzigerjahre einen kräftigen, v. a. von AusländerInnen getragenen Aufschwung. Im Trend der Bevölkerungsentwicklung trat nach einer langen Schrumpfungsphase in den Achtzigerjahren eine Umkehr ein. Die Einwohnerzahl erhöhte sich laut den Volkszählungen von 1.531.346 Personen (1981) zumindest geringfügig um 0,6 Prozent auf 1.539.848 Personen im Jahr 1991. Für das Jahr 1995 wies die amtliche Statistik einen Personenstand von 1.636.399 Menschen mit ordentlichem Wohnsitz in Wien und damit einen weit deutlicheren Zuwachs aus.118 Die städtische Bevölkerungsfortschreibung weicht allerdings etwas von den Volkszählungsergebnissen ab. Für 1991 gibt sie 1.591.398 Personen mit Wohnsitz in Wien an, somit um 51.550 mehr als die Volkszählung aus dem gleichen Jahr. Wien ist jedenfalls das erste Mal seit der Gründerzeit – abgesehen von den Kriegsjahren – wieder erheblich gewachsen, vor allem in den Jahren 1989 bis 1993. Danach ist der Zuwachs wieder weitgehend zum Stillstand gekommen, ehe er nach der Jahrtausendwende mit erhöhter Vehemenz erneut einsetzte. Während die Volkszählung 2001 sogar eine geringfügig niedrigere Anzahl von Personen mit Wiener Hauptwohnsitz als 1991 auswies, nahm die Bevölkerungszahl bis 2011 auf 1.713.957 Personen zu119 und die Prognosen gehen davon aus, dass in der ersten Hälfte der 2040er-Jahre die Zwei-Millionen-Marke überschritten wird.120 Wesentlicher Faktor des Bevölkerungswachstums war ein Zuwanderungsschub aus dem Ausland um 1990 – die Zahl der AusländerInnen aus (dem ehemaligen) Jugoslawien erhöhte sich von 1985 bis 1994 von 56.312 auf 126.584. Verglichen mit diesem Zuwachs hatte die Zuwanderung aus den Reformländern seit der Ostöffnung nur geringe Bedeutung. Die Anzahl der AusländerInnen aus Polen erhöhte sich von 1985 bis 1994 von 8.596 auf 19.537, jene von ZuwandererInnen aus der (ehemaligen) Tschechoslowakei wuchs von 1.509 auf 5.868 Personen an, und aus Ungarn befanden sich 1985 2.209 und 1994 5.858 Personen in Wien.121 Bei den InländerInnen überwog jedoch weiterhin die Abwanderung die Zuwanderung, auch wenn die Abwanderung per saldo im Jahrzehnt von 1981 bis 1991 gegenüber den 149
peter eigner · andreas resch Siebzigerjahren um beinahe ein Viertel auf 19.927 Personen zurückging. Ein weiterer Faktor des erneuten Bevölkerungswachstums war ein reduziertes Geburten defizit, das in den Achtzigerjahren beinahe wieder auf den niedrigen Stand der Sechzigerjahre zurückging.122 Nicht nur über die Stadtgrenzen hinaus, sondern auch innerhalb des Wiener Stadtgebietes war weiterhin eine Randwanderung – wenngleich deutlich gebremst – festzustellen. Die Wohnbevölkerung nahm in der Inneren Stadt von 1981 bis 1991 nur noch um 1.535 Personen (7,9 Prozent) auf 18.002 Einwohner und Einwohnerinnen ab, nachdem sie in den Siebzigern noch um mehr als 22 Prozent geschrumpft war. In den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) ging die Wohnbevölkerung nach einer Schrumpfung um 13,5 Prozent im Jahrzehnt zuvor im Zeitraum von 1981 bis 1991 lediglich um 2,2 Prozent (10.413 Personen) auf den Stand von 457.809 Personen zurück. In den äußeren Bezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) nahm die Zahl der Einwohner und Einwohnerinnen wieder geringfügig stärker zu. Sie wuchs im Jahrzehnt bis 1991 um 2,2 Prozent (20.450 Personen) auf 1.064.037 an. Seither verzeichnen sowohl die inneren wie die äußeren Bezirke leichte Bevölkerungszuwächse. Die gesamte Wiener Arbeitsbevölkerung wuchs von 1981 bis 1991 um 3,2 Prozent auf 842.412 Personen, stagnierte danach in den Neunzigerjahren, ehe nach der Jahrtausendwende eine beschleunigte Steigerung einsetzte.123 Der Gesamtzuwachs war somit ungefähr gleich groß wie im Jahrzehnt zuvor. Damit blieb Wien während der Achtzigerjahre erneut, wenngleich knapper, hinter dem gesamtösterreichischen Zuwachs zurück. Die regionalen Teilprozesse der Arbeitsplatzentwicklung wichen von den Verlaufsmustern in den Siebzigerjahren ab. Die Innere Stadt verlor wieder etwas stärker an Arbeitsbevölkerung und schrumpfte um 7,1 Prozent auf 112.770 Personen.124 Die inneren Bezirke um die City konnten hingegen nach der Schrumpfung in den Sechziger- und Siebzigerjahren in den Achtzigern erstmals wieder leicht zulegen. Hier nahm die Arbeitsbevölkerung um 0,9 Prozent auf 295.997 Personen zu. In den äußeren Bezirken setzte sich der Wachstumsprozess fort. 1991 zählte man hier eine Arbeitsbevölkerung von 433.645 Personen (+8,0 Prozent gegenüber 1981). Gemäß den Arbeitsstättenzählungen erhöhte sich die Gesamtzahl der unselbstständig Erwerbstätigen in Wien von 1981 bis 1991 um 5,5 Prozent auf 701.052.125 Im Gegensatz zur Erhöhung der Anzahl der Arbeitsstätten und der unselbstständig Beschäftigten in den Achtzigerjahren beschleunigte sich die Schrumpfung des Sachgüter produzierenden Sektors sogar noch. Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie ging von 1981 bis 1991 um 50.932 oder 28,0 Prozent auf 130.858 zurück, nachdem sie in den Siebzigerjahren um 19,4 Prozent geschrumpft war. Die Betriebsstättenzahl nahm etwas weniger ab ; um 26,6 Prozent auf 8.081. Das heißt, kleine und mittlere Unternehmen wiesen in der 150
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Sachgütererzeugung in den Achtzigerjahren in Wien ein etwas höheres Beharrungsvermögen auf als Großbetriebe – nicht zuletzt, weil die Randwanderung größerer Betriebe über die Stadtgrenzen hinaus im Rahmen der Stadtagglomeration anhielt. Besonders stark wirkte der Verdrängungsdruck in der City, wo die Zahl der in den Sachgüter produzierenden Wirtschaftsabteilungen unselbstständig Beschäftigten von 1981 bis 1991 um 62,0 Prozent auf nur noch 3.249 Personen zurückging. Hier schrumpfte auch die Gesamtanzahl der Arbeitsstätten, weil offenbar der Verdrängungsdruck auf den sekundären Sektor stärker war als die Zuwächse im Dienstleistungssektor, der in der Inneren Stadt an die Grenzen seiner Expansionsmöglichkeiten gestoßen war. Auch in den ehemaligen Gewerbevorstädten Margareten, Mariahilf und Neubau erreichte der Rückgang der Sachgüter produzierenden Betriebe zwischen 1981 und 1991 ein bisher noch nicht gekanntes Ausmaß. Hier schrumpfte die Anzahl der im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie unselbstständig Beschäftigten um rund die Hälfte (von 17.068 auf 8.753), und die Anzahl der einschlägigen Arbeitsstätten ging um ein Drittel auf 1.593 zurück. Und auch in Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals beschleunigte sich der Verdrängungsprozess der Sachgüterproduktion. Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie reduzierte sich um 31,9 Prozent auf 12.543, und die Betriebsstätten nahmen um 37,0 Prozent auf einen Stand von 1.443 ab. Einzig die traditionellen Stadterweiterungsbezirke mit ihren großzügigen Industrieansiedlungsgebieten konnten die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in der Sachgüterproduktion wenigstens stabil halten (Donaustadt126 bzw. Liesing) oder sogar steigern (Floridsdorf : Zunahme um 23 Prozent auf 17.233 Personen127). Weiterhin wirkte Wien als Wachstumskern über die Stadtgrenzen hinaus. Die Sachgüterproduktion entwickelte sich (u. a. auch aufgrund von Standortverlagerungen) im Umland recht dynamisch. Zum Beispiel war in Wien-Umgebung von 1983 bis 1992 ein durchschnittlicher jährlicher wertmäßiger Zuwachs von 11,0 Prozent, in Mödling von 6,3 Prozent zu verzeichnen. Auch die Bezirke Tulln und Korneuburg erfreuten sich einer dynamischen Wachstumsentwicklung.128 Dass in den Achtzigerjahren trotz massiver Beschäftigungseinbußen im sekundären Sektor insgesamt ein Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen war, war vor allem auf die Expansion der zwei Wirtschaftsabteilungen Geld- und Kreditwesen, Privatversicherungen, Wirtschaftsdienste und Persönliche, soziale und öffentliche Dienste zurückzuführen. Im Bereich Geld- und Kreditwesen sowie in den Privat versicherungen und Wirtschaftsdiensten erhöhte sich die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten von 1981 bis 1991 um 56,9 Prozent und überschritt mit 104.879 die Hunderttausender-Marke ; ausschlaggebend für diese Expansion dürfte das Wachstum der Wirtschaftsdienste gewesen sein. Die Anzahl der Arbeitsstätten nahm so151
peter eigner · andreas resch gar um 73,1 Prozent auf 12.925 zu, wobei sich neuerlich insbesondere die Zahl der Geschäftsstellen der Wirtschaftsdienste deutlich erhöht hatte. Die Innere Stadt, das traditionelle Dienstleistungszentrum Wiens, konnte diese Expansion hingegen nicht mehr in vollem Umfang mitvollziehen – hier waren offenbar bereits die Kapazitäts grenzen erreicht. Viele Unternehmen lagerten ihre personalintensiven Zentralen aus, sodass die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten in den genannten Wirtschaftsabteilungen in der City nur um 16,5 Prozent auf 31.774 anstieg, während sich die Zahl der Arbeitsstätten immerhin um 47,8 Prozent auf 1.927 erhöhte. Die höchsten absoluten Zuwächse waren, wie im Jahrzehnt zuvor, auf dem Alsergrund zu verzeichnen, mit einer Erhöhung der Zahl der einschlägig unselbstständig Beschäftigten um 6.064 (+111,3 Prozent) auf 11.512.129 Auch die an die Innenstadt angrenzenden Bezirke konnten vom Abwanderungsdruck aus der Inneren Stadt profitieren. Die äußeren Bezirke verzeichneten infolge einer besseren Versorgung mit Geschäftsstellen der Wirtschaftsdienste, teils auch der Versicherungsunternehmen und Bankfilialen ebenfalls enorme relative Zuwächse. Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten dieser Wirtschaftsabteilung überschritt aber mit Ausnahme Favoritens (4.256 Personen) in keinem Außenbezirk den Wert 3.000. Im Bereich der persönlichen, sozialen und öffentlichen Dienste herrschte vor allem in den Achtzigerjahren eine relativ großzügige Einstellungspolitik vor. Während sich die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in diesen Tätigkeitsfeldern von 1973 bis 1981 gemäß den Arbeitsstättenzählungen nur geringfügig erhöht hatte (+1,1 Prozent), stieg sie von 1981 bis 1991 um 20,2 Prozent auf 202.282 an. Auch hier waren kaum noch Zuwächse in der Inneren Stadt zu verzeichnen, dafür wuchsen die Beschäftigtenzahlen in der Leopoldstadt (Zunahme um 62,0 Prozent auf 9.855), in der Landstraße (Zunahme um 37,3 Prozent auf 19.337) und auf dem Alsergrund (Zuwachs um 23,0 Prozent auf 21.208) kräftig an. Bemerkenswert waren auch die Zuwachsraten in Floridsdorf und Donaustadt von jeweils mehr als achtzig Prozent, Folge der gezielten Verlagerung von öffentlichen Verwaltungs- und Serviceeinrichtungen. Die Aufwertung der Stadtrandbezirke gehörte bereits seit den späten Siebzigerjahren zu den zentralen Anliegen der Stadtplanung und begann langsam, Früchte zu tragen. Zum Beispiel entstand in Donaustadt das neue Donauspital (Sozialmedizinisches Zentrum Ost oder smz Ost), das auch hinsichtlich seiner Architektur im Vergleich zur erdrückenden Monumentalität und Gigantomanie des Neuen akh auf einen Lernprozess verweist. Die Stadtplaner und Wirtschaftspolitiker mussten sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren – teils zögerlich und unwillig, teils selbst als Träger des Wandels der politischen Kultur – auf geänderte Formen der Partizipation und der Politikstile einstellen. Wiederum auftretende Arbeitsmarktprobleme, ein zunehmendes Ökologiebewusstsein und neue Formen direkter Bürgermitsprache gingen einher mit 152
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien einem Schwinden des Wachstums- und Fortschrittsoptimismus der Sechzigerjahre, mit zunehmender Skepsis hinsichtlich der Planbarkeit gesellschaftlicher – somit auch städtischer – Entwicklungen und mit der Erosion des bis dahin bestehenden Systems fixer Bindungen der Bürgerinnen und Bürger an etablierte Parteien. Die Skepsis gegenüber den städtischen Instanzen wurde seit den Siebzigerjahren auch durch verschiedene Skandale geschürt, und diverse Bürgerinitiativen entstanden. Zum Beispiel war bereits 1976 bekannt geworden, dass der Bauring durch verfehlte Projekte in Arabien 1,4 Milliarden Schilling »in den Wüstensand« gesetzt hatte, 1978 wurden akute Finanzschwierigkeiten der wibeba bekannt, 1980 Missstände beim Bau des Radstadions im Prater, und ab Mai 1981 platzte der akh-Skandal mit der Verhaftung des Planungsdirektors Adolf Winter. Weiters wurden Kostenüber schreitungen beim Bau des Horr-Stadions auf die Stadt übergewälzt, und auch mit der Müllverbrennungsanlage am Rautenweg (»Rinter-Zelt«) traten gravierende Probleme auf. 1978 bildete sich eine »Notgemeinschaft« gegen den Durchzugsverkehr in der City, 1979 ein Prominentenkomitee gegen die projektierte Schnellstraße Flötzersteig in Hochlage, und 1981 fiel eine Volksbefragung über die Verbauung der Steinhofgründe nicht im Sinne der städtischen Planer aus.130 In einem Ton, der beinahe eine Entschuldigung dafür ausdrückte, dass überhaupt noch Stadtplanung betrieben wurde, stellte man um 1980 neue Ansätze der Öffentlichkeit vor. Zum Beispiel warb Walter Skopalik in der dem Rathaus nahe stehenden Zeitschrift »der aufbau« 1982 dafür, dass auch »in Zeiten wie diesen« Stadtplanung notwendig sei, obwohl man in »unsicheren Zeiten« lebe und »von Irrtümern überrascht« werden könne, weswegen die Planung immer wieder »angepaßt werden« müsse – dies vor dem Hintergrund wenig erfreulicher Tendenzen wie einer stagnativen Wirtschaftsentwicklung, abnehmender Bevölkerung, steigenden Energiepreisen und einem gebrochenen Fortschrittsglauben der Menschen.131 Bald trat die Stadtverwaltung jedoch wieder selbstbewusster auf, durchaus im Bewusstsein, sich den neuen Rahmenbedingungen angepasst zu haben. Man lernte, »neue Planungsinstrumente und eine neue Form der Planungskultur zu entwickeln«. Es sollten nun eine »generelle ›Offenheit der Planung‹ gegenüber gesellschaftlichen und sozialen Anliegen, neue Organisationsformen zur Förderung der Kommuni kation in Planungsprozessen, neue Managementinstrumente zur Qualitätssicherung im Städtebau sowie die rechtzeitige und umfassende Information und Einbeziehung der Beteiligten und Betroffenen« die Planung bestimmen. Die Weiterentwicklung »kooperativer und interdisziplinärer Arbeitsformen« galt nun als erstrebenswert. Neue inhaltliche Ausrichtungen wie eine frauen- bzw. behindertengerechte oder eine ökologische Stadtentwicklung wurden aufgegriffen.132 Zuweilen gerieten jedoch die Planer durch die ausgeweiteten plebiszitären Elemente in unerwartete Situationen. Zum Beispiel bedeutete die Ablehnung der für 153
peter eigner · andreas resch 1995 vorgesehenen Weltausstellung in Wien, der Expo, bei einer Volksbefragung im Jahr 1991 das Aus für dieses zentrale Leitprojekt für die Entwicklung Wiens. Auch die Politik hatte sich neuen, überregionalen Rahmenbedingungen zu stellen. Angesichts der global instabilen Wachstumsmuster seit den Siebzigerjahren, der fortschreitenden Liberalisierung der Weltmärkte und der Kapitalbewegungen, der Integration Österreichs in die Europäische Union und des politischen Systemwandels in den Ländern Ostmitteleuropas erwiesen sich etablierte Muster der (Wirtschafts-)Politik als immer weniger adäquat. Man musste sich, wie oben bereits skizziert, einem grundlegenden Wandel des regulatorischen Umfeldes anpassen. Dazu gehörten auch vermehrte Anstrengungen, eine Koordination der Regional entwicklung mit dem Wiener Umland zuwege zu bringen. Die Dichte der Stadt agglomeration über die Landes grenzen Wiens hinaus nahm weiter zu, und die europaweite Standortkonkurrenz verschärfte sich. Daher musste man trachten, die »Kirchturmpolitik« der beteiligten Gemeinden und Länder zu überwinden, um zu gemeinsamen Entwicklungsanstrengungen zu gelangen. Unkoordinierte Regional planung und konkurrierende Wirtschaftsförderung sollten von einem gemeinsamen Vorgehen abgelöst werden. Aufgrund der geltenden gesetzlichen Bestimmungen (Finanzausgleich, Landesund Gemeindegrenzen, Regionalabgaben von Unternehmen) befanden sich die Akteure jedoch in einer Situation, die man in der Spieltheorie als »prisoner’s dilemma« bezeichnet. Wenn sich die Akteure rational im Sinne der Nutzenoptimierung für die von ihnen vertretene Einheit (jeweilige Gemeinde, jeweiliges Land) verhalten wollen, so sind sie durch die gültigen Spielregeln gezwungen, nicht gemäß dem optimalen Nutzen für die Gesamtagglomeration zu agieren, in der sie sich befinden.133 So kann zum Beispiel für eine Umlandgemeinde, wenn sie die Errichtung einer für das Gesamtsystem notwendigen Straße oder Eisenbahnlinie auf eigenem Gemeindegebiet verhindert, möglicherweise der abgewendete Nachteil (weniger Verkehrsbelästigung) den für die Gemeinde resultierenden Schaden durch ein insgesamt schlechter funktionierendes Verkehrsnetz überwiegen, obwohl für die Gesamtagglomeration der Nutzen des Projektes die negativen Folgen bei Weitem übertreffen würde. Genauso kann es für eine Gemeinde nutzbringend sein, mit hohem Mitteleinsatz einen Betrieb anzuwerben, für den in der Struktur der gesamten Agglomeration anderweitig verträglichere und kostengünstigere Standorte vorhanden wären, weil bei einer Ansiedlung andernorts die regionalen Abgaben und die eventuell induzierte Bevölkerungszuwanderung (Finanzausgleich) einer anderen Gemeinde zugute kämen. Um dieses Dilemma wenigstens ansatzweise zu überwinden, riefen im Jahr 1978 die Länder Burgenland, Niederösterreich und Wien die Planungsgemeinschaft Ost (pgo) ins Leben ; die Wiener Stadtplanung versucht seither, die Entwicklung der gesamten Agglomeration mit zu berücksichtigen. Die Erfolge der grenzüberschrei 154
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien tenden Kooperation sind jedoch noch recht verhalten zu bilanzieren : »Obwohl es in der Koordination von Grundlagenarbeiten und projektorientierten Planungen Erfolge in der Zusammenarbeit gab, erweist sich allgemein die länder grenzen übergreifende Arbeit als schwierig.«134 Zentrale Dokumente der Stadtplanung, in die die Erfahrungen der Siebzigerund Achtzigerjahre einflossen, waren die Stadtentwicklungspläne 1984 (step 84) bzw. 1994 (step 94).135 Mit dem step 84 legte man erstmals seit 1961 wieder ein räumliches Leitbild für die Wiener Stadtentwicklung vor. Die Planung beruhte auf den in den Siebzigerjahren entwickelten Grundlagen, wie dem Konzept der axialen Entwicklung Wiens mit Grünkeilen dazwischen und einer polyzentrischen Gesamtstruktur. Im Gegensatz zu den Planungen aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit der Vorgabe der Entmischung städtischer Funktionszonen betonte man nunmehr, dass eine enge Verflechtung der städtischen Nutzungen im dicht bebauten Gebiet erhalten und auch außerhalb der dicht bebauten Gebiete eine dichte, eng verflochtene Nutzungsstruktur angestrebt werden sollte.136 Damit sollte Wien wieder an Urbanität gewinnen : »Ausgelöst durch wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt, durch rasche und billige Verkehrsmittel, haben sich in der Großstadt wichtige Lebensfunktionen des Menschen, wie Wohnen, Arbeiten, Bildung, Erholung oder Versorgung, räumlich immer mehr voneinander getrennt. Die inzwischen sichtbar gewordenen nachteiligen Folgen dieser Entwicklung, besonders die mangelnde urbane Atmosphäre und die zunehmenden Verkehrsprobleme, haben zu der Forderung nach überschaubaren Lebensbereichen und stärkerer räumlicher Mischung der Lebensfunktionen geführt.«137 Zum Leitbild »Stadterweiterung« trat ein neuer Schwerpunkt, die »Stadterneuerung«, deren Anfänge in die späten Siebzigerjahre zu datieren sind. Im step 94 wurde im Wesentlichen die Planungsphilosophie des step 84 beibe halten. Geringfügige Änderungen ergaben sich vor allem daraus, dass man 1984 noch von einer Stagnation oder Schrumpfung der Stadtbevölkerung ausgegangen war, während der step 94 in der Phase des unerwarteten neuen Stadtwachstums entstand. In beiden Planungen hatte die Stadtentwicklung im dicht bebauten Gebiet einen hohen Stellenwert. Der Schwerpunkt wurde dabei auf die »sanfte Stadter neuerung« gelegt. Angesichts der wiederum wachsenden Bevölkerungszahl wurde im step 94 die »innere Stadterweiterung« (Nutzung von innerstädtischen Baulücken und brachliegenden, ehemaligen Industriestandorten für den Wohnbau) forciert. Gleichzeitig betonte man nunmehr aber wiederum die »äußere Stadterweiterung«, die Erschließung neuen Baulands gemäß der Achsenkonzeption für den Wohn- und Betriebsbau. Im step 84 waren insgesamt nur 1.100 Hektar Erweiterungsflächen in den nordöstlichen und südlichen Stadtrandgebieten vorgesehen gewesen, von denen 350 Hektar für den Wohnbau, etwas größere Reserven hingegen 155
peter eigner · andreas resch (750 Hektar, v. a. im Nordosten Wiens) für Betriebe ausgewiesen worden waren. Insbesondere die Flächen für den Wohnbau waren in den frühen Neunzigerjahren schon weitgehend in Anspruch genommen, sodass man im step 94 nunmehr 1.700 Hektar auf »freiem Feld« vorsah (ohne Vorhaltegebiete), die bei einer 75-prozentigen Realisierung Raum für rund 50.000 Neubauwohnungen und 60.000 bis 90.000 Arbeitsplätze bieten sollten.138 Mitte der Neunzigerjahre mussten die Planer jedoch vorübergehend wieder einen Rückgang des Stadtwachstums zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren. Einige Erweiterungsvorhaben, etwa das ambitiöse Projekt »Marchegger Ast«, wurden damals vorläufig zurückgestellt. Die Wiener Wirtschaft stand seit den Achtzigerjahren vor der Herausforderung, ihre traditionelle Binnenmarktorientierung zu überwinden und sich im anspruchsvollen Marktsegment verstärkt der internationalen Konkurrenz zu stellen.139 Der Umbruch in Osteuropa eröffnete erfreuliche Perspektiven, zugleich trat jedoch zutage, dass Wien »mental und infrastrukturell nicht darauf vorbereitet war«.140 Erste Wellen von Einkaufstouristen aus Ostmitteleuropa erregten den Unmut der Wiener und Wienerinnen, und bald wurde die Freude über die Veränderungen und die neuen ökonomischen Chancen von einer Ablehnung der »Fremden« und Ängsten vor der neuen Konkurrenz überdeckt. Vor allem die für das nächste Jahrzehnt projektierte Osterweiterung der eu verstärkte die Befürchtungen der Wiener Bevölkerung vor verstärkter Zuwanderung, Lohndumping, etc. Die Politik auf Bundes- und Landesebene versuchte, sich »durchzulavieren« : Maßnahmen zur Restriktion der Folgen der »Ostöffnung« (vor allem gegen Zuwanderung) standen strategische Zielsetzungen gegenüber, denen zufolge sich Wien zu einem »überregionalen Transaktionszentrum«141 in Mitteleuropa entwickeln soll, angeblich auf der Grundlage traditioneller Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern in den Reformstaaten. Die Wirtschaftsförderung musste nach der »Förderungsexplosion« in den Siebzigerjahren ab den Achtzigern restrukturiert werden. Auf Bundesebene trachtete man ab 1985, das Förderungssystem effizienter und billiger zu gestalten, wobei die Erfolge dieser Bemühungen bis heute recht zwiespältig beurteilt werden.142 In Wien zentralisierte man das Förderungsangebot ; eine breite Palette von seit 1969 schrittweise ausgebauten Förderungsmaßnahmen wurde im 1982 gegründeten Wiener Wirtschaftsförderungsfonds zusammengefasst.143 Eine der wesentlichsten Aufgaben des Fonds war es, der Wiener Wirtschaft erschlossene, baureife Betriebsgründe zur Verfügung zu stellen. Bereits in den ersten drei Jahren seines Bestehens betreute der Fonds 81 Betriebsansiedlungen, darunter 18 Neuansiedlungen, 14 Betriebserweiterungen und 49 Verlagerungen innerhalb des Wiener Stadtgebietes.144 In den Neunzigerjahren trachtete man – im Einklang mit dem ewr bzw. eu-Recht –, einen Übergang vom »Gießkannenprinzip« und von strukturkonservierenden Beihilfen zu einer Förderungspraxis, die insbesondere Anreize für innovative Investitionen bieten 156
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien soll, einzuleiten. So weisen etwa die neu gegründeten Aktionen zur Förderung von Innovationen und Technologie sowie von Qualitätssicherungs- und Produktfindung definitionsgemäß eine deutliche innovationspolitische Zielsetzung auf.145 In den Jahren 1993 bis 1997 erfolgten 217 Betriebsansiedelungen durch den Wirtschaftsförderungsfonds, 78 im Bereich des produzierenden Gewerbes, 139 im Bereich von Handel und Dienstleistungen, wodurch über 10.700 Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.146 In der Wohnungswirtschaft spiegelten sich die wechselnden Bevölkerungsprogno sen wider. In den Achtzigerjahren konzentrierte sich die Wohnbaupolitik auf die Revitalisierung ganzer Stadtviertel und die Modernisierung von Altbauwohnungen und vernachlässigte den Wohnungsneubau. Der geförderte Wohnbau in Wien erreichte 1988 einen Tiefststand mit nur noch rund 3.000 neu errichteten Einheiten. Angesichts des einsetzenden Bevölkerungswachstums wurde die Neubautätigkeit um 1990 wieder erheblich erhöht. Die heutige Stadtplanung muss sich sehr rasch auf wechselnde Szenarien und Prognosen einstellen. Gemäß step 94 setzte man wieder auf »innere« und »äußere« Stadterweiterung. 1994 und 1995 entstanden jeweils etwa 10.000 geförderte Neubauwohnungen, ab 1996 wurde die Bauleistung wieder etwas zurückgenommen. Im Rahmen der Stadterneuerungs- und Stadterweiterungsprojekte kam dem 1984 gegründeten Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds (wbsf) eine Schlüsselfunktion zu. Seit seiner Gründung erfolgte die Vergabe der Wohnbauförderungsmittel unter Einbindung des Fonds bei der Grundstücksbeschaffung. Der wbsf beteiligt sich an Neubauprojekten durch die Anheimstellung von Gründen, Bodenan- und -verkauf, städtebauliche Entwicklung sowie durch Gutachterverfahren. Weiters obliegt ihm die Beratung, Koordination und Kontrolle der geförderten Wohnhaussanierung. Dabei kam vor allem das Modell der Sockelsanierung zum Tragen, das heißt die Erhaltung und Verbesserung bewohnter Häuser unter aktiver Einbeziehung der Mieter. Erstreckt sich die Sanierung auf gesamte Häuserblöcke und deren Wohnumfeld, so spricht man von »Blocksanierung«. Legt die Blocksanierung in erster Linie Wert auf die Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner, so dient sie heute ferner als Instrument, der zu großräumigen Entmischung von Wohnen und Arbeiten entgegenzuwirken.147 Unter der Sicherung von gemischten Nutzungen ist insbesondere die Sanierung alter Gewerbestandorte als Abwehr gegen einen weiteren Verdrängungsprozess zu verstehen. Im österreichischen Miet- und Förderungsrecht ist in den Achtziger- und Neunzigerjahren die »Vermarktwirtschaftlichung«148 des Wohnungswesens weiter vorangeschritten. Entscheidende Maßnahmen in diese Richtung waren zum Beispiel die weitgehende Freigabe des Mietzinses für neu vermietete Kategorie-A-Wohnungen149 in den Achtzigerjahren oder die Einführung von Richtwertmietzinsen in den 157
peter eigner · andreas resch Neunzigerjahren. Damit wurde es für Immobilienbesitzer ökonomisch attraktiver, den Standard ihres Wohnungsangebots zu verbessern, weil sie dadurch wesentlich höhere Mieten erzielen konnten. Insgesamt wurde somit bis zum Ende der Achtzigerjahre das Ausstattungsniveau der großen Anzahl gründerzeitlicher Wohnungen in Wien bedeutend angehoben. Während 1951 nur 14 Prozent der Wiener Wohnungen mit einem Bad ausgestattet waren, erhöhte sich dieser Anteil bis 1991 auf 81 Prozent. Der Anteil der Wohnungen ohne Wasserentnahme ist von 54,5 auf 3,7 Prozent zurückgegangen. Für einigermaßen zahlungskräftige Nachfrager hat sich in den vergangenen Jahren das Wohnungsangebot verbessert. Hingegen ist das ehemalige Billig-Segment schlecht ausgestatteter Wohnungen (Kategorie D) weitgehend vom Markt verschwunden, wodurch sich unter zahlungsschwachen Sozialgruppen, den Trägern der sogenannten »neuen Armut«, seit den Achtzigerjahren eine »neue Wohnungsnot«150 verbreitet hat. Diese Entwicklung spiegelt sich beispielsweise in der Zahl der in städtischen Asylen nächtigenden Personen wider, die von etwa 1.000 im Jahr 1980 auf rund 2.000 Mitte der Neunzigerjahre angestiegen ist.151 Auch die Inanspruchnahme anderer Einrichtungen für Wohnungslose (z. B. Herbergen der Heilsarmee) hat in einem vergleichbaren Ausmaß zugenommen. Kehrseite der urbanen Dynamisierung war der Abbau der bis dahin relativ starken sozialen Kohärenz und der Anstieg ökonomischer Disparitäten.152 In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre leben in Wien etwa 5.000 wohnungslose Personen, der überwiegende Teil in den genannten Unterbringungseinrichtungen oder deren sozialem Umfeld. Etwa tausend Menschen, andere Schätzungen gingen von höheren Zahlen aus, stand nicht einmal ein Bett in einem beheizbaren Raum zur Verfügung. Im Jahr 1998 arbeitete man im Rathaus an einem Stufenplan mit der Zielsetzung, »obdachlos gewordene Menschen wieder zu integrieren«, in der jüngeren Vergangenheit ist mit der Zuwanderung Wohnungsloser aus anderen eu-Staaten eine neue Gruppe Hilfsbedürftiger entstanden.153 Der Ausbau der technischen Infrastruktur hatte in den Achtziger- und Neunzigerjahren weiterhin einen hohen Stellenwert. 1980 und 1994 wurden neue Verkehrskonzepte für Wien erstellt. 1985 wurde der Verkehrsverbund Ostregion ins Leben gerufen. Auch im Bereich der Verkehrsplanung waren in den Neunzigerjahren Anpassungen an das neue Wachstum und an Szenarien erheblich zunehmenden Pendler- und Transitverkehrs erforderlich. Die Stadtplaner legten sich programmatisch fest, trotz dieser Herausforderungen eine Reduktion der Schadstoffemission und Lärmbelastungen, eine Erhöhung der Verkehrssicherheit und eine Rückgewinnung von öffentlichen Räumen erreichen zu wollen. Die Umsetzung dieser Ziele gelang jedoch nur teilweise. Der U-Bahn-Ausbau wurde konsequent fortgesetzt. Bis 1982 wurde das gesamte Grundnetz, bestehend aus den Linien U1, U2 und U4, fertig gestellt. Ab 1983 nahm man die zweite Ausbaustufe des U-Bahn-Netzes in Angriff 158
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien (U3, U6). Bis zur Jahrtausendwende war (wie bereits im step 84 geplant) ein UBahn-Netz mit rund 62 Kilometer Streckenlänge und 75 Stationen vorgesehen, das im frühen 21. Jahrhundert noch erheblich erweitert wurde. Nicht zuletzt infolge des U-Bahn-Baus trat eine deutliche Trendwende in der Entwicklung der Fahrgastzahlen der Wiener Verkehrsbetriebe ein. Diese stiegen nach der stagnativen Periode in den Siebzigerjahren von 443 Millionen (1980) um die Hälfte auf 669 Millionen im Jahr 1994 an.154 Die seit den Achtzigerjahren durchgeführten »Beschleunigungsprogramme« für Busse und Straßenbahnen erbrachten hingegen vielfach nicht die gewünschte Wirkung, da die dafür notwendigen Einschränkungen des Autoverkehrs nicht durchgesetzt wurden. Die Maßnahmen beschränkten sich oft eher darauf, einen einigermaßen regelmäßigen Fahrbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können.155 Die öbb nahmen im Jahr 1987 auf der Schnellbahnstrecke Heiligenstadt – Hütteldorf (Trasse der ehemaligen Vorortelinie) den Fahrbetrieb auf, und die Kapazitäten für überregionale Transportleistungen konnten durch den 1984 eröffneten Zentralverschiebebahnhof in Kledering ausgeweitet werden. Die lange diskutierten Pläne einer grundlegenden Restrukturierung des auf mehrere Kopfbahnhöfe ausgerichteten und daher schlecht miteinander verbundenen Eisenbahnverkehrs in Wien mussten wegen technischer, räumlicher und finanzieller Hindernisse aufgegeben werden. Die Entscheidung für die Errichtung eines neuen Zentralbahnhofs fällt nicht mehr in den Untersuchungszeitraum. Bereits davor wurden die Arbeiten an einem Tunnel auf dem Areal des Lainzer Tiergartens aufgenommen. Die Ostöffnung führte vor Augen, dass insbesondere eine Verbesserung der Verkehrseinbindung von Österreichs Nachbarn, der Tschechischen und der Slowakischen Republik sowie Ungarns, ein dringendes Desiderat darstellt. Im Bereich des Schnellbahnnetzes standen als vordringliche Projekte noch der Ausbau der S80 und eine attraktivere Gestaltung der S7 (Flughafenschnellbahn) auf dem Programm. Das hochrangige Straßennetz wurde nach und nach – überwiegend den aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammenden Planungen folgend – vervollständigt, allerdings deutlich langsamer als vorgesehen.156 Ab 1982 standen die Brigittenauer Brücke (von der böse Zungen behaupten, sie führe von Floridsdorf kommend ins Nichts, weil die entsprechenden Anschlüsse in der Brigittenau fehlen) und die Außenringautobahn Vösendorf – Steinhäusl dem Verkehr zur Verfügung, 1983 wurde die Ostautobahn (Südosttangente – Flughafen Schwechat) eröffnet, und bis 1989 wurde die Donauuferautobahn fertiggestellt. In den Neunzigerjahren folgten u. a. noch der Ausbau der äußeren Triester Straße sowie der Südosttangente ab Kaisermühlen und der Wiener Nordrandstraße. Aktuelle Straßenbauprojekte betrafen in den Neunzigerjahren zum Beispiel die Verbreiterung der A23 im Bereich des Praters und die Errichtung eines elektronischen Fahrstreifenmanagements. All diese Baumaßnahmen bedürfen intensiver Kooperation zwischen Wien, dem Land Niederös159
peter eigner · andreas resch terreich, den betroffenen Wiener Bezirken, niederösterreichischen Gemeinden und dem Bund. Die Verkehrsplaner stehen heute vor einem weiteren Dilemma : Verlangt der Verkehrskollaps auf einigen Straßen nach weiteren Straßenbauten, so weiß man heute, dass neue Straßen noch mehr Verkehr anziehen ; nicht anders ist es mit dem Problem der Parkplätze. Obwohl die Angebote des öffentlichen Nahverkehrs wiederum intensiver genutzt wurden, setzte sich der Zuwachs des Autoverkehrs unvermindert fort. Zusätzliche Maßnahmen zur Begrenzung der negativen Effekte dieser Entwicklung konnten nur in Ansätzen, zum Teil gegen großen Widerstand, umgesetzt werden. Man versuchte, wo möglich, die Verkehrsarten zu trennen. In diesem Zusammenhang sind die bereits erwähnten Beschleunigungsmaßnahmen für den öffentlichen Verkehr zu nennen, die häufig auf die Schaffung eigener Fahrspuren für Bus oder Straßenbahn abzielten. Zur Verkehrsberuhigung wurden Schwellen und sogenannte »Ohrwascheln« errichtet. Weiters erfolgte seit 1984 der Bau eines umfangreichen Radwegnetzes. In der Praxis mussten bei diesen Maßnahmen jedoch häufig für alle Beteiligte unbefriedigende Kompromisslösungen realisiert werden. 1987 schuf man die verkehrsberuhigte Zone Brigittaplatz, und ab 1989 begann die Stadt mit der Errichtung von Tempo-30-Zonen in Wohngebieten. 1992 wurde die erste Park & Ride-Anlage Wiens eröffnet (Erdberg), der eine Reihe weiterer Parkhäuser folgte. Der verheerenden Parkplatzsituation insbesondere in den Innenbezirken versuchte man mit den Mitteln der Parkraumbewirtschaftung, der Einführung des sogenannten »Parkpickerls«, entgegenzuwirken. Die Parkplatznot konnte für die Anrainer in vielen Fällen etwas gemildert werden. Eine Reihe von Faktoren, wie sich verschärfende Umweltprobleme und Kapazitätsengpässe in den Infrastrukturnetzen, nicht zuletzt die geänderten Rahmenbedingungen durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs, führten 1994 (Verkehrskonzept 1994) zu einer Neuorientierung der Wiener Verkehrspolitik, die sich v. a. eine spürbare Verringerung des Kfz-Verkehrs zum Ziel setzte.157 Die Konzeptionen der Ver- und Entsorgungseinrichtungen für die Stadt versuchte man dem rezenten Entwicklungsstand anzupassen. So war im step 94 nicht mehr von Müllabfuhr, sondern von »Abfallwirtschaft« die Rede. Der Schwerpunkt der Aufgabenstellung verschob sich von der Entsorgung zur Kreislaufwirtschaft mit getrennter Sammlung und nachfolgender Verwertung. Darunter fällt auch die »thermische Verwertung«, das heißt, dass die Abwärme von Müllverbrennungsanlagen nicht einfach verpufft, sondern einer Nutzung zugeführt wird. In diesem Sinne wurde die in den Sechzigerjahren errichtete Müllverbrennungsanlage Flötzersteig modernisiert und 1984 von der Stadt Wien an die Fernwärme GmbH übertragen. Die 1971 fertiggestellte Müllverbrennungsanlage Spittelau (mit angeschlossenem Fernheizwerk) ging bereits 1969 in den Besitz der Heizbetriebe Wien GmbH über. 160
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Nach einem Brand im Mai 1987 wurde sie grundlegend saniert und seither ihre technische Ausstattung weiter verbessert. Anfang der Neunzigerjahre erfolgte in umstrittener Weise die Neugestaltung ihres äußeren Erscheinungsbildes durch Friedensreich Hundertwasser. 1978 bis 1980 entstanden – insbesondere zur Beseitigung von Klärschlamm – die Entsorgungsbetriebe Simmering (EbS). Schlackenrückstände aus der Müllverbrennung sowie nichtbrennbare Bestandteile werden auf der Deponie Rautenweg gelagert. Bereits seit den Fünfzigerjahren laufen auch Versuche, Teile des Mülls zu verkompostieren. Als Nachfolgeeinrichtung für die bis 1981 bestehende »Biomüllanlage« entstand in den Achtzigerjahren das »Rinter-Zelt«, das sich jedoch weitgehend als Fehlschlag erwies.158 Die Abwärmenutzung wurde auch bei den thermischen Kraftwerken weiter ausgebaut. Zum Beispiel begann man 1980 mit der Fernwärmelieferung aus dem Simmeringer Kraftwerk in das Fernwärmenetz. 1992 wurde in Simmering der neue Kraftwerksblock iii fertiggestellt. Zur Verbesserung der Stromversorgung wurde das Leitungsnetz weiter ausgebaut. Um sich an der Nutzung der Energie des Donaustroms zu beteiligen, schloss die Wiener Elektrizitätswirtschaft im Jahr 1982 eine Vereinbarung mit der Verbundgesellschaft, betreffend eine Beteiligung an künftigen Donaukraftwerken. In den folgenden Jahren setzten Umweltaktivistinnen und -aktivisten durch, dass das Kraftwerk Hainburg in Niederösterreich nicht errichtet wurde. Seit 1992 wurde jedoch am – ebenfalls nicht unumstrittenen – Wiener Donaukraftwerk Freudenau gebaut, das ab Oktober 1997 sukzessive in Betrieb ging. Bereits 1990 wurde die Donauinsel mit zwei Donauarmen fertiggestellt, die neben ihrer Funktion als Hochwasserschutz schon seit den Achtzigerjahren auch der Nutzung als Freizeitareal diente. Die umfangreichen Baggerarbeiten dauerten bis in das Jahr 1987, erste Teile der Donauinsel konnten ab 1981 benützt werden, die Widmung als »Erholungsgebiet« erfolgte 1983. Weitere Erholungs- beziehungsweise Landschaftsschutzgebiete entstanden am Wienerberg sowie in Liesing, Döbling und im Prater. Bereits diskutiert wurden spektakuläre (Zukunfts-)Projekte wie die Verschönerung der Ufer des Donaukanals bzw. der Rückbau des zubetonierten Wienflusses zu einem Natur- und Freizeitareal.
5. Strukturwandel und Entwicklungstendenzen der Wiener Wirtschaft In einem weiteren Schritt wird nun der Versuch unternommen, vor dem Hintergrund der zuvor ausgeführten Entwicklungslinien den Veränderungen der Berufsund Beschäftigtenstruktur sowie einzelner Wirtschaftssektoren bzw. Branchen detaillierter nachzugehen. 161
peter eigner · andreas resch 5.1 Veränderungen der Berufs- und Beschäftigtenstruktur Parallel zu den Umschichtungen zwischen den Wirtschaftssektoren änderten sich die Berufs- bzw. die Beschäftigtenstruktur nach der sozialen Stellung, und zwar gravierend.159 Langfristig charakteristisch für die Wiener Wirtschaft und relativ deutlich auf ihren Strukturwandel verweisend, können folgende branchen- und sektorenübergreifende Tendenzen und Merkmale herausgestrichen werden : – geringfügiges Betriebsgrößenwachstum, – rückläufiger Selbstständigen- und stark steigender Angestelltenanteil, – Zunahme der Frauenerwerbsquote und – fast völliges Verschwinden der Heimarbeit. Beginnen wir beim letzten Punkt, weil sich in diesem Bereich seit den Neunzigerjahren wieder einige Änderungen abzuzeichnen scheinen. Während die traditionelle Heimarbeit, etwa im Bekleidungssektor, nach 1945 nahezu verschwunden ist, gewinnt durch die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt – und überhaupt erst durch die zunehmende Technisierung ermöglicht – eine neue Kategorie von Heimarbeitsplätzen an Bedeutung. Diese Heimarbeit wird in erster Linie von hoch qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor allem im Bereich der Bildschirmarbeit ausgeübt werden. Inwieweit diese Entwicklung auch auf Billiglohnbranchen übergreifen wird, lässt sich noch nicht absehen. Den Vorteilen einer freieren Zeiteinteilung und größeren Selbstbestimmung steht bei diesen Arbeitsplätzen der Verlust an sozialen Kontakten gegenüber. Das Strukturmerkmal Betriebsgrößenentwicklung zeigt deutlich, dass es sich bei der Wiener Stadtökonomie weiterhin um eine klein- und mittelbetrieblich strukturierte Wirtschaft handelt. Größere Anteilsverschiebungen konzentrierten sich auf die Arbeitsstätten mit bis zu 19 Beschäftigten. Kleinstbetriebe mit nur einer selbstständigen Person verzeichneten seit 1964 (dem frühestmöglichen Vergleichszeitpunkt) die größten Anteilsverluste, im letzten Jahrzehnt (1981–1991) wuchs dieses Segment – aufgrund der Forcierung der sogenannten »neuen Selbstständigen« – jedoch wieder kräftig an. Vergrößert haben sich zwischen 1964 und 1991 die Anteile der Arbeitsstätten mit 1–4 bzw. jene mit 5–19 unselbstständig Beschäftigten. Äußerst geringfügige Anteilsgewinne gegenüber dem Ausgangspunkt 1964 verzeichneten – mit Ausnahme der Wiener Großbetriebe über 500 Beschäftigte, deren Anteil gleich blieb – auch die anderen Kategorien. Sowohl der Dienstleistungssektor wie der industriell-gewerbliche Bereich erfuhren zwischen 1964 und 1973 eine deutliche Beschäftigtenkonzentration, bis 1981 war diese Bewegung wieder rückläufig, in den Achtzigerjahren zeigte sich eine neuerli162
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien che (leichte) Konzentrationstendenz. Aus dem Vergleich der Arbeitsstätten im Sekundärsektor zwischen 1964 und 1973 (die Arbeitsstätten gingen um ein Drittel, die Beschäftigtenzahlen um ein Viertel zurück) lässt sich vorsichtig der Schluss ziehen, dass der Deindustrialisierung ein Prozess der »Entgewerblichung« voranging.160 Die einzelnen Branchen/Wirtschaftsklassen zeigten dabei höchst unterschiedliche Verlaufsmuster. So war und ist die elektrotechnische Industrie vorwiegend großbetrieblich organisiert, die Bekleidungsindustrie wiederum ist das genaue Gegenteil, auch unter den Dienstleistungsbereichen differieren die durchschnittlichen Betriebsgrößen beträchtlich. Tabelle 4 : Größenstruktur der Wiener Arbeitsstätten 1964–1991 Arbeitsstätten Jahr
Beschäftigte
Davon mit … unselbstständig Beschäftigten
insge samt
0
1 bis 4
5 bis 19
20 bis 99
100 bis 499
500 u. mehr
insge samt
davon selbst ständig
unselbst ständig
1964
66.719
20.928
28.701
12.332
3.856
781
121
668.121
79.875
588.246
1973
66.958
16.364
31.041
13.907
4.514
980
152
769.225
56.489
712.736
1981
66.127
15.930
31.329
13.714
4.091
933
130
710.269
45.890
664.379
1991
70.979
18.301
32.795
14.522
4.293
926
142
744.449
43.443
701.006
Angaben in Prozent 1964
31,3
43,0
18,5
5,8
1,2
0,2
1973
24,4
46,4
20,8
6,7
1,5
0,2
1981
24,1
47,4
20,7
6,2
1,4
0,2
1991
25,8
46,2
20,5
6,0
1,3
0,2
Quelle : Statistik Austria, Arbeitsstättenzählungen.
Die Veränderungen in der Betriebsgrößenstruktur verweisen auf ein weiteres Merk mal des Strukturwandels, sie hängen eng mit der Verschiebung der Proportionen zwischen Selbstständigen und Unselbstständigen zusammen. Wie heftig der Wandel verlief, zeigt sich darin, dass sich zwischen 1951 und 1991 die Zahl der Selbststän digen von 110.824 auf 54.290 halbierte. Die Abnahme der Selbstständigenzahl war in erster Linie auf die Verdrängung zahlreicher kleiner Gewerbebetriebe (z. B.: Schneider, Schuster) und Kleinverkaufsstellen (z. B.: Greißler, Fleischhauer, Gemüsehändler) zurückzuführen. Die Kleinverkaufsstellen gingen zwischen 1964 und 1991 von 8.754 auf 3.972 zurück, wobei diesem Rückgang ein Anstieg der Einzelhandelsgeschäfte mit größeren Verkaufsflächen und mehr Beschäftigten gegenübersteht. Noch drastischer verlief die Schrumpfung der Kleinstbetriebe mit einem Selbstständigen im Gewerbe (1964 : 5.938 ; 1991 : 1.567). 163
peter eigner · andreas resch Eine weitere Strukturverschiebung zeichnete sich in der Proportion zwischen Arbeitern und Angestellten ab. Der enorme Zuwachs an Angestellten und Beamten ist einerseits eine Folge der Tertiärisierung der Gesellschaft, der durch den technisch-organisatorischen Wandel bedingten Verschiebung von Tätigkeiten in der Produktion hin zu Dienstleistungen. Andererseits war aufgrund der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen eine Tendenz etlicher Berufsgruppen zu beobachten, vom Arbeiterstatus in das Angestelltenverhältnis überzuwechseln. Die Zahl der Angestellten und Beamten hat sich seit 1948 kontinuierlich erhöht.161 1948 gab es noch annähernd doppelt so viele Arbeiter wie Angestellte und Beamte (397.000 gegenüber 206.800 – ohne Arbeitslose). Bis 1960 stiegen beide Kategorien an, die Arbeiterzahl erreichte mit über 421.000 1960 ihren Höhepunkt, die Zahl der Angestellten und Beamten verzeichnete ein noch schnelleres Wachstum und belief sich 1960 auf 339.600. In den Sechzigerjahren näherte sich die Zahl der Angestellten und Beamten der Arbeiterzahl an, um sie bis zum Ende des Jahrzehnts deutlich zu übertreffen. 1970 wurden 346.900 Arbeiter ermittelt, denen 384.4000 Angestellte und Beamte gegenüberstanden. Am Endpunkt war eine Umkehrung der Verhältnisse des Ausgangspunktes zu konstatieren, die Zahl der Angestellten und Beamten lag 1994 mit 524.069 doppelt so hoch wie jene der Arbeiter (263.975). In einem engen Zusammenhang mit diesem Wandel sind auch die Veränderungen in der Berufsstruktur zu sehen.162 Traditionelle Gewerbe- und Arbeiterberufe sind zahlenmäßig stark zurückgegangen, typische Angestellten- bzw. Beamtenberufe haben hingegen deutlich zugenommen. Die folgende Tabelle gibt nur einen kleinen Ausschnitt dieser Veränderungen wieder. Tabelle 5 : Ausgewählte Beispiele für die Veränderung der Berufsstruktur Beruf Schlosser
Anzahl 1991
1995
21.331
11.503
Tischler
12.935
6.750
Schneider
21.421
4.268
Bäcker
9.207
4.344
medizinische Fachkräfte
13.615
22.689
technisch-naturwissenschaftliche Fachkräfte
25.066
43.429
Lehrer/Erzieher
14.894
32.040
Quelle : Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 49.
Die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen einzelnen Berufen haben sich teilweise abgeschwächt, der gesellschaftliche Wandel wird aber eher langsam spürbar. Bei Berufen mit hohem Sozialprestige (z. B.: Richter, Rechts- und Staatsanwälte, 164
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Hochschulangestellte) ist der Frauenanteil gering, wenn auch im Anwachsen begriffen. Deutlichere Spuren eines Emanzipationsprozesses lassen sich im höheren Gesundheits- und Ausbildungswesen feststellen. Bei den Handwerksberufen hängt der Frauenanteil von der physischen Beanspruchung ab, die mit der Berufsausübung verknüpft ist. Während bei Maurern, Schlossern oder Kraftfahrzeugmechanikern der Prozentsatz von Frauen kaum angestiegen ist, hat der Frauenanteil zum Beispiel unter den UhrmacherInnen deutlich zugenommen. Relativ geringe Frauenanteile in technischen Berufen verweisen allerdings noch stark auf einen Aufholbedarf. Die Zunahme der Frauenerwerbsquote kann als ein weiteres Strukturmerkmal der Wiener Wirtschaft nach 1945 ausgemacht werden. Der deutliche Anstieg der Zahl der unselbstständig Beschäftigten in den Fünfzigerjahren verdankte sich vor allem der starken Zunahme der Berufstätigkeit der Frauen, die ihren Anteil an den Berufstätigen von 39,7 Prozent 1951 auf 44,3 Prozent 1961 zu steigern vermochten. Seit den Sechzigerjahren stieg die Berufstätigkeit der Frauen nur mehr geringfügig auf einen Anteil von 45,7 Prozent im Jahr 1991. Ihre Erwerbsquote betrug 49,1 Prozent. Mit zunehmender Anspannung des Arbeitsmarktes – Parallelität konjunkturbedingter Beschäftigungszunahme und stagnierender oder anwachsender Arbeitslosigkeit – zählen neben älteren Erwerbstätigen aber insbesondere Frauen zu den größten Risikogruppen. Arbeitslosigkeit wurde und wird von der österreichischen Bevölkerung in den meisten Meinungsumfragen als die größte Bedrohung angesehen. Etliche Experten gehen für die nächste Zukunft von einer Sockelarbeitslosigkeit aus, mit der nicht nur Stadtwirtschaften konfrontiert werden. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes zeigt, dass man es mit mehreren bedenklichen Segmentierungen zu tun hat. Eine Trennlinie verläuft zwischen jüngeren und älteren ArbeitnehmerInnen (unter bzw. über Vierzigjährige), eine weitere zwischen Frauen und Männern, auch AusländerInnen sind stärker von Arbeitslosigkeit bedroht als InländerInnen. Dazu kommt, dass die Arbeitslosigkeit der Altersgruppe über fünfzig Jahre erst seit den Neunzigerjahren so richtig zum Ausdruck kommt, da sie in den Achtzigerjahren durch die Möglichkeit der Frühpensionierung niedrig gehalten werden konnte. Im Gegensatz zu den Frauen verringerte sich die Erwerbsquote der Wiener Männer von 80,7 (1951) auf 69,6 Prozent (1991), eine Folge des immer früheren Pensionsantritts.163 Noch deutlicher wird diese Tendenz bei einer Gegenüberstellung der Erwerbsquoten der über sechzigjährigen Männer, die von 41,2 (1951) auf 6,6 Prozent (1991) gesunken ist. Eine relativ hoffnungslose Situation finden insbesondere Langzeitarbeitslose vor, auch weil sich unter ihnen ein immer höherer Anteil älterer Arbeitskräfte befindet. Hohe Arbeitslosenquoten finden sich vor allem in der Industrie und im Bauwesen, im Bereich der Dienstleistungen weist die Wirtschaftsabteilung Handel und Lagerung ein konstant hohes Arbeitslosenniveau auf, weiters auch das Beherbergungswesen. 165
peter eigner · andreas resch Zuletzt sei hier eine weitere Strukturveränderung innerhalb der Wiener Bevölkerung angeführt, die Verbesserung des Bildungsniveaus. Bessere Ausbildung und Qualifikation zählen unabdingbar zu jenen Faktoren, die für die Weiterentwicklung der Wiener Wirtschaft und des Arbeitsmarktes als von zentraler Bedeutung herausgestrichen werden. Die Reformen im Bildungsbereich haben seit den Siebziger- und Achtzigerjahren zu einer deutlichen Erhöhung des Bildungsniveaus beigetragen. Fast 23 Prozent der Wiener Wohnbevölkerung über 15 Jahre hatten 1991 als höchste abgeschlossene Ausbildung die Matura abgelegt (1971 : 13,6 Prozent), der Anteil der AbsolventInnen einer Hochschule bzw. verwandten Lehranstalt verdoppelte sich zwischen 1971 und 1991 von vier auf 8,1 Prozent.164 Über 42 Prozent verfügten 1991 über einen Fachschul- bzw. Lehrabschluss, der Anteil jener, die nach der Pflichtschule keine weitere Ausbildung absolvierten, lag 1991 bei rund 35 Prozent (1971 : 46,3 Prozent). Als Erfolg kann weiters gewertet werden, dass das Bildungsgefälle zwischen Frauen und Männern seit den Achtzigerjahren fast völlig abgebaut werden konnte. Bessere Ausbildung bedeutet allerdings nicht nur bessere schulische Bildung. Die Entwicklung der Arbeitsmarktsituation zeigt, dass insbesondere auf dem Sektor der Weiter- und Fortbildung sowie im Bereich der Umschulungen Maßnahmen gesetzt werden müssen, um einer steigenden Arbeitslosigkeit Einhalt zu gebieten.
5.2 Deindustrialisierung und Tertiärisierung : Zur Entwicklung der Sektoren und Branchen Ehe auf einzelne Wirtschaftsabteilungen und -klassen detaillierter eingegangen wird, sei anhand zweier Tabellen ein knapper Überblick über die Entwicklung der Gesamtstruktur der Wiener Wirtschaft gegeben. Zuerst erfolgt eine Angabe der Anteile einzelner Wirtschaftsabteilungen an der Gesamtheit der unselbstständig Beschäftigten im Zeitablauf : Tabelle 6 zeigt die Tertiärisierung der Wiener Wirtschaft, die in den Sechzigerjahren erstmals stark zum Tragen kam, sehr deutlich. Schrumpfenden Beschäf tigtenzahlen und Anteilen im produzierenden Sektor stehen deutliche Zuwächse unter den Dienstleistungen gegenüber, wobei einige Wirtschaftsabteilungen überproportional gewachsen sind. Laut den Arbeitsstättenzählungen hat sich der Anteil der unselbstständig Beschäftigten im Bereich Geld- und Kreditwesen, Privat versicherungen, Wirtschaftsdienste von 1959 bis 1991 nahezu verdreifacht und im Bereich der persönlichen und öffentlichen Dienste beinahe verdoppelt. Auch in der tabellarischen Zusammenschau der Anteile der einzelnen Wirtschafts zweige am Wiener Bruttoregionalprodukt kommt der Strukturwandel deutlich zum Ausdruck (Tabelle 7). 166
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien
Tabelle 6 : Unselbstständig Beschäftigte nach Wirtschaftsabteilungen (exklusive Landwirtschaft) 1959
1973
1981
1991
662.744
712.736
664.379
701.052
Bergbau, Steine und Erdengewinnung (1959 nur Bergbau)
939 (0,1 %)
2.288 (0,3 %)
2.690 (0,4 %)
10 (0,0 %)
Energie- und Wasserversorgung
7.383 (1,1 %)
7.094 (1,0 %)
7.885 (1,2 %)
4.957 (0,7 %)
288.949 (43,6 %)
225.525 (31,6 %)
181.790 (27,4 %)
130.858 (18,7 %)
58.425 (8,8 %)
49.203 (6,9 %)
44.948 (6,8 %)
47.195 (6,7 %)
112.455 (17,0 %)
130.861 (18,4 %)
122.316 (18,4 %)
126.509 (18,0 %)
Beherbergungs- und Gaststättenwesen
15.175 (2,3 %)
17.644 (2,5 %)
20.757 (3,1 %)
27.178 (3,9 %)
Verkehr, Nachrichtenübermittlung
41.682 (6,3 %)
59.122 (8,2 %)
50.291 (7,6 %)
57.184 (8,2 %)
Geld- und Kreditwesen, Privatversicherungen, Wirtschaftsdienste
36.472 (5,5 %)
55.914 (7,8 %)
66.855 (10,1 %)
104.879 (15,0 %)
101.264 (15,3 %)
165.085 (23,2 %)
166.847 (25,1 %)
202.282 (28,9 %)
Zusammen darunter :
Verarbeitendes Gewerbe, Industrie (1959 einschl. Steine- und Erdengewinnung) Bauwesen Handel, Lagerung (1959 Handel, Vermittlung, Werbewesen)
Persönliche und öffentliche Dienste, Haushaltung (1959 ohne Haushaltung)
Quelle : Arbeitsstättenzählungen 1959, 1973, 1981 und 1991.
Tabelle 7 : Das Wiener Bruttoregionalprodukt nach Wirtschaftszweigen (in Mio. Schilling zu laufenden Preisen) 1968
1980
1994
92.981
267.656
620.745
442 (0,5 %)
973 (0,4 %)
1.356 (0,2 %)
27.831 (29,9 %)
65.553 (24,5 %)
89.271 (14,4 %)
Energie- und Wasserversorgung
1.807 (1,9 %)
5.524 (2,1 %)
15.953 (2,6 %)
Bauwesen
6.887 (7,4 %)
19.367 (7,2 %)
37.171 (6,0 %)
20.898 (22,5 %)
54.848 (20,5 %)
112.584 (18,1 %)
6.128 (6,6 %9
16.555 (6,2 %)
34.463 (5,6 %)
Bruttoregionalprodukt (nominell) darunter : Land und Forstwirtschaft Bergbau, Industrie u. verarbeitendes Gewerbe
Handel, Beherbergungs- und Gaststättenwesen Verkehr u. Nachrichtenübermittlung
167
peter eigner · andreas resch
1968
1980
1994
Vermögensverwaltung u. sonstige Dienste (inkl. Kredit- u. Versicherungswesen, Realitätenwesen, …)
18.246 (19,6 %)
61.122 (22,8 %)
222.710 (35,9 %)
öffentliche Dienste
10.742 (11,6 %)
40.509 (15,1 %)
94.445 (15,2 %)
/
3.205 (1,2 %)
12.793 (2,1 %)
andere Wertschöpfung (1980 : »Sonstige Produzenten«, 1994 : Private Dienste ohne Erwerbscharakter)
Quelle : WIFO-Daten nach : Statistisches Jahrbuch der Gemeinde Wien 1975, 174 ; 1985, 201 und 1997, 171.
Aus der Tabelle geht das überproportionale Wachstum der wirtschaftsnahen Dienst leistungen hervor. Die einschlägigen Wirtschaftszweige konnten von 1968 bis 1994 ihren Anteil an der Wiener Bruttowertschöpfung um mehr als 16 Prozentpunkte auf 35,9 Prozent ausweiten, während Industrie, verarbeitendes Gewerbe (und Bergbau) um 15,5 Prozentpunkte auf nur noch 14,4 Prozent zurückfielen. Eine deutliche Bedeutungssteigerung weist ferner der öffentliche Dienst auf. Der landwirtschaftlichen Produktion kam – was in einer Großstadt nicht zu überraschen vermag – in quantitativer Hinsicht stets nur eine marginale Rolle zu. 5.2.1 Primärsektor In Wien entfällt – so wie in Stadtwirtschaften im Allgemeinen – nur ein sehr geringer Anteil der regionalen Wertschöpfung und Beschäftigung auf die Landwirtschaft. Trotzdem stellt sie in mancherlei Hinsicht doch eine Besonderheit dar. Jedes nur mögliche Stück Land nutzbar zu machen, um zu Essbarem zu gelangen, war die aus der Not geborene Überlebensstrategie der Wiener Bevölkerung nach 1945, die sich bereits 1918 hatte bewähren müssen. Doch selbst nach der Überwindung dieser Ausnahmesituation seit den Fünfzigerjahren wies Wien eine größere Ackerfläche als Vorarlberg auf. Unter den Ernteergebnissen ragte in der unmittelbaren Nachkriegs zeit vor allem der Anbau von Hackfrüchten, insbesondere von Kartoffeln, Zuckerbzw. Futterrüben, heraus. Bis in die Gegenwart haben nur Zuckerrüben diese dominante Position unter den Ernteergebnissen behaupten können. Heute sind vor allem der Gemüsebau, Glashäuser und der Weinbau von größerer Bedeutung. In den letzten Jahrzehnten – mit einer deutlichen Steigerung in den letzten Jahren – ist insbesondere der landwirtschaftliche Feldgemüseanbau intensiviert worden. Glas hausgurken, unter Glas und Folie gezüchtete Paradeiser und Häuptelsalat sind hier vorrangig zu nennen. Die Zahl der in Land- und Forstwirtschaft Berufstätigen Wiens belief sich 1951 auf über 11.200, ging bis 1981 kontinuierlich (auf rund 5.200) zurück und stieg bis 1991 wieder auf 6.400 Berufstätige an. Was die Größenstruktur der Wiener 168
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Land- und Forstwirtschaft (nach der Kulturfläche in Hektar) betrifft, kann von einer bemerkenswerten Kontinuität ausgegangen werden. Der Großteil der Betriebe verfügt(e) über weniger als fünf Hektar Kulturfläche. Bei der land- und forstwirtschaftlichen Betriebszählung des Jahres 1990 wurden 1.281 Betriebe ermittelt, 1.002 Betriebe verfügten über weniger als fünf Hektar Kulturfläche, 432 davon wiesen sogar weniger als einen Hektar Kulturfläche auf. Auf die Größenklassen hundert bis unter 200 bzw. 200 und mehr Hektar Kulturfläche entfielen je zwölf Betriebe. Unter den 1.237 Betrieben natürlicher Personen waren 43 Prozent Vollerwerbsbetriebe. 1995 ergab die land- und forstwirtschaftliche Betriebszählung 1.163 Betriebe, die eine Fläche von 29.450 Hektar bewirtschafteten.165 Eine über Wien hinausgehende Bedeutung weist der Weinbau auf. Die emotionale Beziehung Wiens und seiner BewohnerInnen zum Wein kommt beispielsweise in zahlreichen Wienerliedern zum Ausdruck. Dass sich auf Wiener Stadtgebiet Wein gärten befinden ist schon eine Rarität ; dass die Gemeinde über ein eigenes Weingut verfügt, dürfte einzigartig sein. Die Wiener Weinanbauflächen (rund 700 Hektar im Jahr 1996166) konzentrieren sich auf die Bezirke xviii, xix und xxi. In die vorwiegend kleinbetriebliche Struktur mischen sich zwei große Anbieter, die Klosterneuburger Chorherren und das Weingut der Stadt Wien. Unter den Rebsorten ragen die Weißweine hervor ; am wichtigsten, was die Anteile an der Wiener Rebfläche betrifft, ist der Grüne Veltliner, die typische Rebsorte Ostösterreichs, gefolgt von den Sorten Gemischter Satz, Rheinriesling und Weißburgunder. Die Ernte 1996 erbrachte 1.324.707 Liter Weißwein und 290.001 Liter Rotwein. Eine bessere Vermarktung (etwa unter der 1994 gegründeten Marke »Vienna Classic«), eine neue qualitäts bewusste Generation von KonsumentInnen und WinzerInnen, eine intensivierte Zusammenarbeit unter ihnen sowie generell der Trend zum guten Glas Wein kamen dem Wiener Wein zugute. Für große Teile der Wiener Bevölkerung, aber auch der Wien-Touristen gehört ein Besuch beim Heurigen zur Tradition. 1996 wurden 219 Buschenschankbetriebe gezählt. Die Heurigenorte, die mehr touristischen wie Grinzing, Neustift am Walde, Heiligenstadt oder Nußdorf und die eher unbekannten wie Stammersdorf oder Strebersdorf, die sich großteils ihren dörflichen Charakter bewahren konnten, zählen zu den beliebtesten Wiener Ausflugsgebieten. 5.2.2 Industrie und Ver arbeitendes Gewerbe Die Wiener Wirtschaftsstruktur hat nie der einer klassischen Industriestadt entspro chen, genauso falsch und irreführend wäre es jedoch, Wien ausschließlich als Dienstleistungszentrum und Hochburg des Kleingewerbes zu charakterisieren. Wien war als wichtigster Wirtschaftsraum Österreichs auch immer ein bedeutender Industriestandort. Die Hauptstadt- oder besser die zentralörtliche Funktion Wiens, die hohe 169
peter eigner · andreas resch Konsumkraft ihrer Bewohner und Bewohnerinnen können hier als Standortanreize geltend gemacht werden. Nichtsdestoweniger werden große Anstrengungen vonnöten sein, um dieser Funktion auch weiterhin gerecht werden zu können. Wien steht vor einer großen Herausforderung, denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache : Zwischen 1959 und 1991 ging die Zahl der unselbstständig Erwerbstätigen im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie um mehr als die Hälfte zurück. War dieser Bereich 1959 noch bei Weitem die größte Wirtschaftsabteilung mit 288.949 unselbstständig Erwerbstätigen (43,6 Prozent), entfiel 1991 nicht einmal mehr ein Fünftel aller unselbstständig Erwerbstätigen auf das verarbeitende Gewerbe und die Industrie (130.858 Personen). Gemäß den Volkszählungsergebnissen war die als Industrialisierungsphase Wiens ausgemachte Dekade von 1951 bis 1961 tatsächlich die einzige, in der sich die Zahl der Berufstätigen im Sekundärsektor, wenn auch nur geringfügig, erhöhte. Die Zahl der Menschen, die im verarbeitenden Gewerbe oder in der Industrie arbeiteten (unselbstständig oder selbstständig) und in Wien wohnten, erhöhte sich von 322.099 (1951) auf 333.225 (1961), bis 1991 ging sie auf 156.942 zurück. Trotz steigender Produktivität waren Industrie und produzierendes Gewerbe langfristig betrachtet von massiven Arbeitsplatzverlusten betroffen, als Ausnahmen kann auf einige wenige Wachstumsbranchen der Nachkriegszeit hingewiesen werden, vor allem die Elektroindustrie, wo sich aber ebenfalls erstmals in den Achtzigerjahren deutliche Beschäftigungsrückgänge abzuzeichnen begannen.
Industrie Die Grundstruktur der Wiener Industrie zeichnet sich durch eine erstaunlich hohe Kontinuität aus. Nimmt man die Bruttoproduktionswerte der Industriezweige als Maßstab für ihre Bedeutung innerhalb der Stadtwirtschaft, kristallisieren sich mehrere Industriezweige relativ eindeutig als Schlüsselbranchen Wiens heraus. Nach der wirtschaftlichen Konsolidierungsphase ergab sich um die Mitte der Fünfzigerjahre folgendes Bild : Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie führte die Rangliste an, gefolgt von der Elektroindustrie, der chemischen Industrie, der Maschinen-, Stahl- und Eisenbauindustrie, der Eisen- und Metallwarenindustrie und der Bekleidungsindustrie. Bis auf die zuletzt genannte Branche befanden sich alle weiteren fünf Industriezweige auch noch Mitte der Neunzigerjahre in dieser Rangliste der Schlüsselbranchen und haben nur ihre Positionen getauscht. So ist an die Stelle der Nahrungs- und Genussmittelindustrie als Industriezweig mit dem höchsten Brutto produktionswert die Elektroindustrie – allerdings erst in den Achtzigerjahren – getreten. Auf diese beiden Industriezweige entfiel Mitte der Neunzigerjahre fast die Hälfte des Bruttoproduktionswertes der Wiener Industrie, 1956 hingegen erst ein 170
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Drittel. Aus der Rangliste – erwartungsgemäß – herausgefallen ist die Bekleidungs industrie. Ihr Bedeutungsverlust ist in die Sechziger- und Siebzigerjahre zu datieren, jenen Zeitraum, in dem gleichzeitig der einzige neue große Industriezweig in der Rangliste der Schlüsselbranchen 1994, die Fahrzeugindustrie, stärkeres Gewicht erhielt. Elektro-, Nahrungs- und Genussmittel-, Maschinen-, Chemie- und Fahrzeug industrie waren (ergänzt um die Textil- und Bekleidungsindustrie) und sind auch die quantitativ bedeutendsten (und damit beschäftigungsstärksten) Industriebranchen. Tabelle 8 : (Brutto-)Produktionswerte der Wiener Industrie insgesamt und der bedeutendsten Branchen, 1956–1994
Branche Zusammen
1956
1976
1994
BPW
in %
BPW
in %
BPW
in %
18,095
100
61,232
100
143,829
100
darunter : Nahrungs- und Genussmittelindustrie
3,753
20,7
14,298
23,4
22,308
15,5
Elektroindustrie
2,230
12,3
12,310
20,1
43,662
30,4
Chemische Industrie
2,175
12,0
9,573
15,6
13,473
9,4
Maschinen-, Stahl- und Eisenbauindustrie
1,957
10,8
8,306
13,6
18,206
12,7
Eisen-/Metallwarenindustrie
1,515
8,4
4,003
6,5
4,187
2,9
Bekleidungsindustrie
1,403
7,8
2,374
3,9
1,541
1,1
Fahrzeugindustrie
0,609
3,4
2,850
4,7
16,299
11,3
Quelle : Statistische Jahrbücher der Stadt Wien, diverse Jahrgänge ; eigene Berechnungen.
Tabelle 9 : Beschäftigte in der Industrie insgesamt und nach ausgewählten Branchen 1976 und 1994 Branche
1976
1994
Nahrungs-/Genussmittelindustrie
19.525
10.040
Elektroindustrie
38.314
29.756
Chemische Industrie
16.041
8.848
Maschinen-, Stahl- und Eisenbauindustrie
20.057
11.318
Eisen-/Metallwarenindustrie
12.400
4.238
9.254
2.604
Bekleidungsindustrie Fahrzeugindustrie Insgesamt
10.538
8.088
153.387
87.212
Quelle : Statistische Jahrbücher der Stadt Wien, diverse Jahrgänge ; Beschäftigte nach Fachverbänden.
171
peter eigner · andreas resch Zwischen den Stichjahren 1976 und 1994 ist laut den hier herangezogenen Erhe bungen die Industriebeschäftigung von über 153.300 Beschäftigten um nahezu die Hälfte auf 87.200 zurückgegangen. Diese Entwicklung machte sich auch in den Wiener Schlüsselbranchen bemerkbar. Besonders dramatisch verliefen die Beschäf tigungsverluste nicht nur – erwartungsgemäß – in der Bekleidungsindustrie, sondern auch in der Eisen- und Metallwarenindustrie. Unterdurchschnittlich fielen die Verluste in den Wachstumsbereichen der Achtziger- und Neunzigerjahre, der Fahrzeug- und der Elektroindustrie, aus. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass 1994 mehr als ein Drittel aller Wiener Industriearbeitsplätze auf die Elektroindust rie konzentriert war – 1976 entfiel erst ein Viertel aller Industriearbeitsplätze auf diese Branche. Gewerbe Gerade im Zusammenhang mit der Geschichte des Wiener Gewerbes erscheint es unerlässlich, auf die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft zu verweisen.167 Mit der gewaltsamen Eliminierung der jüdischen Wirtschaftstreibenden aus dem Wiener Geschäftsleben (in Form der »Arisierungen«) wurden insbesondere Tausende Gewerbe-, aber auch Handelsbetriebe aufgelöst (zum Beispiel im Textil- und Bekleidungssektor), wobei während des Zweiten Weltkriegs auch mehrere »arische« mittelständische Betriebe – nunmehr aus Arbeitskräftemangel der Industrie – geschlossen wurden. Von den Auflösungen waren insbesondere Klein(st)betriebe betroffen, wodurch in der Nachkriegsstruktur der Anteil klein(st)er Betriebe reduziert werden konnte. Der Neuordnung des Kammerwesens im Jahr 1946 folgte als Ausdruck der Über windung der Kriegsfolgen und der wirtschaftlichen Erholung mit der Aufhebung des 1934 eingeführten Untersagungsgesetzes im Jahr 1952 ein deutlicher Schritt in Richtung Liberalisierung des Gewerbezugangs. Die Nachkriegsjahre brachten geradezu eine Gewerbegründungswelle mit sich, eine Reaktion auf den Gewerbe kahlschlag, der mit Beginn der Nazi-Herrschaft eingesetzt hatte. Zwischen 1946 und 1950 belief sich der Gewerbezuwachs auf mehr als 20.000. Zu Beginn der Fünfzigerjahre, 1952, begann eine gegenläufige Bewegung, wobei die hohe Zahl der Rücklegungen 1952 bis 1954 auf nachträglichen Löschungen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen basierte. Mit der Einführung der Pensionsversicherung für Gewerbetreibende im Jahr 1958 häuften sich die Gewerberücklegungen. Waren in der Zeit des Wiederaufbaus die Hinterhofgewerbe im dicht verbauten Stadtgebiet noch von größerer Bedeutung, so setzte in den späten Fünfziger- und Sechzigerjahren ein Prozess der Randwanderung und damit der Verdrängung der Gewerbe ein. Von wesentlicher, wenn auch insgesamt sinkender Bedeutung (mit 172
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien der höchsten Zahl an Rücklegungen unter den produzierenden Gewerben) in den Fünfzigerjahren war weiterhin das Bekleidungsgewerbe, relativ stark besetzt zeigte sich auch das Holz verarbeitende Gewerbe, das aber ebenfalls bereits eine stark rückläufige Entwicklung aufwies, eine Entwicklung, die nahezu ungebrochen bis in die Gegenwart anhielt. Größere Einbußen verzeichneten auch die Nahrungs- und Genussmittelbetriebe, der Bereich der Eisen- und Metallgewinnung bzw. -bearbeitung sowie die Handelsbetriebe. Zwischen 1953 und 1962 reduzierte sich in manchen Gewerben die Zahl der Betriebe um ein Viertel bis ein Drittel. Die Berufsfelder Hutmacher, Modisten und Schirmmacher, die Schuhmacher, die Mieder- und Wäschewarenerzeuger und die Kleidermacher wurden ebenso deutlich dezimiert wie die Fleischhauer, Bäcker, Lebensmittelhändler, Obst- und Gemüsehändler und Milchverschleißer.168 Einen steten, wenn auch eher geringfügigen Zuwachs verzeichnete die chemische Produktion. Langfristig betrachtet gerieten Handwerk und Gewerbe, insbesondere das für die Wiener Wirtschaft so Struktur bestimmende Kleingewerbe, durch die Durchsetzung der industriellen Massenproduktion in eine zunehmend bedrohliche Position. Nichts verdeutlicht dies eindrucksvoller als die Krisensymptome und letztlich dramatischen Rückgänge gerade bei den traditionell stärksten Gewerbegruppen wie Schneidern, Schuhmachern, Tischlern, Bäckern oder Fleischhauern seit den Sechzigerjahren, einer Periode, in der man es aufgrund der Stadterweiterung mit einem wachsenden Nahversorgungsbedarf zu tun hatte. Starke Betriebs- und Beschäftigtenverluste seit der Mitte der Sechzigerjahre charakterisierten ferner das Bekleidungs- und Textil gewerbe und die Lederverarbeitung, also Produktionszweige mit einem eher geringen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, für die das niedrigere Lohnniveau außerhalb Wiens ein wesentlicher Standortfaktor wurde, bzw. Bereiche, wo die kleingewerblichen Produktionsformen in den Sog industrieller Massenfertigung geraten waren. Auch im Bereich des Handels übertraf die Zahl der Gewerberücklegungen jene der Anmeldungen und Konzessionsverleihungen bei Weitem. Einige typisch großstädtische Branchen (Optiker, Zahntechniker, grafisches Gewerbe) konnten sich hingegen gut behaupten, was zum Teil auf der wachsenden Konsumkraft der Wiener Bevölkerung beruhte. Einen seit Ende der Sechzigerjahre expandierenden Bereich bildeten die Hotel-, Gast- und Schankgewerbe. Neue Entwicklungschancen eröffneten sich dann insbesondere durch die Expansion des Handels- und Dienstleistungssektors. Die Anschaffung von immer mehr Konsumgütern zog einen steigenden Bedarf an Service- und Reparaturleistungen nach sich und daher von Berufen wie Auto- und Elektromechanikern oder Installateuren. Seit der Mitte der Siebzigerjahre hielten sich Gewerbeanmeldungen und -rücklegungen etwa die Waage, z. B. im Handel, Zuwächse verzeichneten die Hotel-, Gast- und Schankgewerbe sowie die quantitativ insgesamt eher unbedeutenden Gruppen der grafischen Gewerbe und der chemi173
peter eigner · andreas resch schen Produktion. Die Gewerberücklegungen konzentrierten sich weiterhin auf die oben erwähnten Sparten Textilien und Bekleidung bzw. auf Nahrungs- und Genussmittelbetriebe. Zu Beginn der Achtziger setzte wieder ein wenn auch bescheidenes Wachstum im Gewerbe ein, das sich Mitte der Achtziger deutlich zu beschleunigen begann und sich ab diesem Zeitpunkt in erster Linie dem Zuwachs an Handelsbetrieben verdankte. Zwischen 1986 und 1990 übertraf die Zahl der Gewerbeanmeldungen und Konzes sionsverleihungen im Handel jene der Rücklegungen um rund 6.800. Die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe insgesamt wuchs von 35.847 im Jahr 1982 auf 47.648 Beschäftigte 1989 an. Dieser Trend hielt bis in die Neunzigerjahre an. Das Wachstum wurde nunmehr – neben dem Handel – von mehreren Bereichen getragen, von den Verkehrsgewerben, von den Gewerben im Bereich Reinigungs wesen und Körperpflege, von Hotel-, Gast- und Schankbetrieben, von Gewerben der Eisen- und Metallgewinnung und -bearbeitung und von grafischen Betrieben. Der vermehrte Einsatz von edv-Technologien hat dem Bedarf an Fachkräften für Serviceleistungen seit dem Ende der Achtzigerjahre einen weiteren Schub verliehen. Die jüngsten Entwicklungen lassen wiederum einen statistisch insignifikanten Trend zur maßgeschneiderten Handarbeit und zum exklusiven Handwerksprodukt (Schuhe, Bekleidung) erkennen. Die Zuwächse im Bereich Handel und Verkehr übertreffen allerdings jene im Bereich der Industrie und des produzierenden bzw. verarbeitenden Gewerbes bei Weitem. Bauwesen Der Bauwirtschaft kommt (ähnlich wie den Nicht-Marktdiensten) in Wien eine besondere Bedeutung zu, da sie zu jenen Sektoren gehört, die direkt oder indirekt von der öffentlichen Nachfrage abhängig sind. Die öffentliche Hand ist der herausragende Auftraggeber der Bauwirtschaft, wobei für die Vergabe von Bauaufträgen eine Reihe von Richtlinien (önormen, Bundes-, Landes- und Gemeindebestimmungen) Gültigkeit besitzen.169 Klare, gesetzlich verbindliche Regelungen des Vergabesystems fehlen jedoch weiterhin, und gerade daraus ergaben sich des Öfteren Angriffsflächen für Korruptions- oder Interventionsverdacht. Der Baumarkt stellt sich nicht als klassischer Konkurrenzmarkt mit einer großen Zahl von Nachfragern und Anbietern dar.170 Vielmehr stehen der öffentlichen Hand und einigen Bauträgern des sozialen Wohnbaus als wichtigste Auftraggeber neben einer Vielzahl von kleinen und mittleren Baugewerbebetrieben nur wenige große Bauindustriefirmen gegenüber, die enorme Kapitalmengen in umfangreiche Maschinenparks investiert haben und angesichts dieser Fixkapitalbindung auf eine kontinuierliche Auslastung angewiesen sind. Aus diesen strukturellen Gegebenheiten resultiert eine starke Neigung 174
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien zur Organisation des Marktes. Wenn dabei der Verdacht auf illegale Absprachen und Kartellvereinbarungen aufkommt, so ist die Öffentlichkeit rasch mit Schlagworten wie »Bauskandal« oder »Baumafia« zur Stelle. Die Entwicklung der Zahl der Berufstätigen im Bauwesen verlief in zwei, einander entgegengesetzten Phasen, über den Gesamtzeitraum konnte die Bauwirtschaft wesentlich besser als das produzierende Gewerbe und die Industrie ihren Stellen wert wahren. Bis in die Achtzigerjahre zeigten die Beschäftigtenzahlen eine sinkende Tendenz, danach machte sich eine Expansion bemerkbar, die 1991 in einer etwas höheren Beschäftigtenzahl als 1981 resultierte. Dem Bauwesen kam in der Wiederaufbauperiode in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu, als Konjunkturmotor, für die Beseitigung der Kriegsschäden und von der Beschäftigungsseite her. Neue legistische Grundlagen wie Wohnhaus-Wiederaufbaugesetz bzw. -fonds verlagerten das Schwergewicht der Bautätigkeit in den Fünfzigerjahren von der Infrastruktur auf den Wohnbau. Ende der Fünfzigerjahre spitzte sich die Situation in der Bauwirtschaft zu. Das Baugewerbe war voll ausgelastet, die Löhne waren in den letzten Jahren stark angestiegen, und nicht zuletzt war klar geworden, dass man die Wohnbaukapazitäten erhöhen musste, und dies schien nur mit der Anwendung neuer Technologien möglich. 1962 erfolgte die Gründung der Montagebau Wien ; mit der Einführung der Vorfabrikation bzw. Plattenbauweise war ein entscheidender Schritt in Richtung Industrialisierung des Bauens getan. Bis zur Einstellung des Fertigbauunternehmens 1984 wurden an die 20.000 Wohnungen, großteils von der Gemeinde, errichtet. Die in die Siebzigerjahre fallenden Großbauprojekte in Wien (U-Bahn-Bau, Donauinsel, uno-City, akh) wirkten sich auf die Entwicklung der Beschäftigtenzahl nicht so stark wie der Wohnbau aus, weil sie sehr kapitalintensiv durchgeführt wurden, am ehesten noch bei den Baunebengewerbe-Betrieben.171 Auch die in dieser Zeit wirksam werdende Hinwendung zu Stadterneuerung und Wohnungsverbesserung (1972 Beschluss des Wiener Altstadter haltungs gesetzes, 1974 Stadterneuerungsgesetz) verschaffte eher dem Baunebengewerbe Beschäftigung. Die expansive öffentliche Nachfrage nach Bauleistungen stützte allerdings die Bauwirtschaft, die sonst wahrscheinlich in den Sog der Rezession des Jahres 1975 gezogen worden wäre. Das Zusammenfallen des allgemeinen Konjunktureinbruchs zu Beginn der Achtzigerjahre mit dem allmählichen Auslaufen der Großprojekte bewirkte, dass die Bauwirtschaft zu Beginn der Achtzigerjahre in eine lange Rezession geriet. Die Beschäftigtenzahlen sanken in den Achtzigerjahren auf Werte zwischen 33.000 und 38.000, ehe sich ab etwa 1988 wieder ein Aufschwung in der Bauwirtschaft bemerkbar machte. Der Bauboom der frühen Neunzigerjahre schlug sich im Bauwesen in steigenden Beschäftigtenzahlen nieder, ohne allerdings an die Werte der Siebzigerjahre heranzukommen. Das Bauwesen weist witterungsbedingt seit jeher große saisonale Schwankungen auf, Dezember bis März sind die Monate mit den 175
peter eigner · andreas resch niedrigsten Beschäftigtenzahlen. Von 1971 bis 1994 hat sich der nominelle Bruttoproduktionswert der Bauwirtschaft nahezu versechsfacht. 5.2.3 Dienstleistungen In der Entwicklung der Wiener Wirtschaft vermischten sich Wien-spezifische Fakto ren mit einer Reihe von allgemein die Großstadtentwicklungen charakterisierenden Trends. Dies trifft auch auf den Dienstleistungssektor zu. Als Bundeshauptstadt nahm und nimmt Wien innerhalb Österreichs die Funktion eines Verwaltungs- und Dienstleistungszentrums ein. Diese Position kam und kommt in einer vergleichsweise hohen Dienstleistungsquote zum Ausdruck. Dazu trat in Österreich mit einer leichten Verzögerung eine generell zu beobachtende Tendenz der westeuropäischen Volks wirtschaften auf. Die Ausbildung einer reifen Konsumgesellschaft, gekenn zeichnet durch Massenproduktion und steigenden Massenkonsum, ermöglichte im Zusam menspiel mit dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zunächst eine Kompensation der Arbeitsplatzverluste in Industrie und Gewerbe durch den Ausbau des Tertiärsektors. Gemessen an der Zahl der Berufstätigen am Wohnort betrug die Dienstleistungsquote 1951 49,3 Prozent und stieg bis 1961 eher langsam auf 51,7 Prozent. In den Sechzigerjahren stieg der Anteil des Dienstleistungssektors rasch an, und die Dienstleistungsquote belief sich 1971 auf 57,3 Prozent. Der Bereich Geldwesen und Wirtschaftsdienste war in dieser Periode der einzige, der aufgrund des verstärkten Filialausbaus einen absoluten Beschäftigungszuwachs erzielte und angesichts ansonsten sinkender Beschäftigtenzahlen nicht nur seinen Anteil – wie die meisten anderen Dienstleistungsbereiche – zu steigern vermochte. In den Siebzigerjahren erlebte die Wiener Wirtschaft geradezu eine Tertiärisierungswelle. Die Stadt Wien profitierte dabei insbesondere von ihrer zentralörtlichen bzw. Hauptstadtfunktion, also ihrer Funktion als Regulierungs zentrum. Die Arbeitsplatzzuwächse konzen trierten sich dabei in erster Linie auf die sogenannten Nicht-Marktdienste, auf den öffentlichen Dienst (speziell im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, zurück zuführen auf die großen Reformen und den Ausbau in der Kreisky-Ära), auf die Interessenvertretungen und Gebietskörperschaften (Kammern und Gewerkschaften), ferner auf Unternehmensverwaltungen und Stützpunkte ausländischer Firmen, auf die Wirtschaftsdienste (Banken, Versicherungen, diverse Beratungseinrichtungen), auf den Handel sowie auf das Beherbergungs- und Gaststättenwesen. Die Beschäftigungsexpansion der zuletzt genannten Bereiche verweist weiters auf die gesteigerte Konsumkraft der Wiener Bevölkerung ; der sich Mitte der Siebzigerjahre ankündigende Wachstumsbruch im (Groß-)Handel stand bereits mit der Verlagerung von Kaufströmen über Wiens Stadtgrenzen hinaus in Zusammenhang, während der Wiener Einzelhandel in den Siebzigerjahren eine bedeutende Stärkung erlebte. 176
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Die Bedeutung des tertiären Sektors nahm kontinuierlich zu, die Achtzigerjahre brachten einen neuerlich kräftigen Tertiärisierungsschub mit sich, die Dienst leistungsquote unter den Berufstätigen am Wohnort stieg von 63,5 Prozent 1981 auf 71,3 Prozent 1991. Die größten Zuwächse (von rund 50.000 Berufstätigen zwischen 1981 und 1991) verzeichnete die Wirtschaftsabteilung persönliche, soziale, öffent liche Dienstleistungen bzw. Haushaltung, die auch quantitativ bei Weitem stärkste Gruppe. Beherbergungs- und Gaststättenwesen verzeichneten gar einen fünfzig prozentigen Zuwachs, der insbesondere den Auf schwung des Wien-Tourismus widerspiegelt. Auch die Wirtschaftsabteilung Geld- und Kredit-, Versicherungswesen bzw. Wirtschaftsdienste wies ein relativ markantes Wachstum auf, insbesondere der Bereich der Wirtschaftsdienste.172 Mit einer im internationalen Vergleich zeitlichen Verzögerung zeichnete sich ein Aufschwung der produktionsbezogenen Dienstleistungen ab, jener Branche, der vor dem Hintergrund sinkender Beschäftigung angesichts der allmählichen Wandlung der fordistischen Massenfertigung zunehmende Bedeutung zukommt. Es handelt sich dabei um der Produktion vor- bzw. nachgelagerte Beratungs- und Serviceleistungen, die sich aufgrund der Funktionen als Zentren der Wissensproduktion, des Wissenstransfers und der Kommunikation auf Großstädte konzentrieren. Wenn die Wiener Stadtwirtschaft heute in einzelnen Bereichen des Dienstleistungssektors noch Entwicklungsdefizite bzw. Unterbesetzungen aufweist, so trifft dies weiterhin in erster Linie auf jene Bereiche zu.173 Gerade der Ausbau des servo-industriellen Sektors und produktionsnaher Dienstleistungen ist bzw. wäre besonders für die Weiterentwicklung flexibel spezialisierter Fertigungsformen eine wichtige Voraussetzung. Dank der Lage Wiens an der Bruchstelle zwischen den etablierten westlichen Ökonomien und den Transformationsstaaten ergeben sich insbesondere auch Nachfragepotenziale aus dem hohen Informations- und Beratungsbedarf, den heimische und ausländische Unternehmen im Zusammenhang mit Kooperations- und Beteiligungsstrategien in den neuen Räumen entwickeln. In diesen Geschäftsbereichen ist aber nach wie vor die geringe durchschnittliche Größenstruktur der Anbieter von Unternehmensdiensten als Handicap für eine stärkere Profilierung anzusehen.174 Die Verschiebung zum Tertiärsektor über den Gesamtzeitraum ging ausschließlich zulasten des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie, da der Bereich der Land- und Forstwirtschaft stabile, wenn auch nur mehr marginale Beschäftigtenanteile aufweist. Ein Blick auf die zehn beschäftigungsstärksten Wirtschaftsklassen des Jahres 1991 belegt diese Entwicklungen nachdrücklich, es befinden sich darunter nur eine bzw. zwei (je nach Zuordnung des Bauwesens), die dem Produktionssektor zuzuordnen wären.
177
peter eigner · andreas resch
Tabelle 10 : Die zehn beschäftigungsstärksten Wirtschaftsklassen Wiens 1991 Wirtschaftsklasse
Beschäftigte
Gebietskörperschaften, Interessenvertretungen
71.846
Großhandel
71.181
Realitätenwesen, Rechts- und Wirtschaftsdienste
70.535
Einzelhandel
65.933
Gesundheits- und Fürsorgewesen
65.077
Bauwesen
48.573
Geld- und Kreditwesen, Versicherung
43.054
Unterrichts- und Forschungswesen
33.751
Beherbergungs- und Gaststättenwesen
30.659
Erzeugung von elektrotechnischen Einrichtungen
29.463
Quelle : Arbeitsstättenzählung 1991.
Größter Arbeitgeber der Stadt blieb weiterhin die Gemeinde Wien. Der städtische Personalstand (Magistrat und Landeslehrer) wuchs in den Achtzigerjahren durch schnittlich um 1,3 Prozent jährlich, in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre sogar um 2,4 Prozent p.a. auf 68.392 Bedienstete im Jahr 1995. Damit erhöhte sich der Anteil der städtischen Bediensteten an den unselbstständig Beschäftigten von 7,0 Prozent (1980) auf 8,0 Prozent (1990) und 8,8 Prozent (1995).175 1997 waren rund 61.000 Menschen beim Magistrat der Stadt Wien beschäftigt. Die größte Gruppe stellten die rund 26.000 im Gesundheitswesen Beschäftigten. Rund 9.600 Beschäftigte arbeiteten in Dienstleistungsbereichen wie Müllbeseitigung und Wasserwerksbetriebe. Weitere 7.800 Personen waren im Bereich der sozialen Wohlfahrt und Wohnbauförderung tätig. Rund 7.300 Beschäftigte arbeiteten in den Bereichen Unterricht, Erziehung, Sport und Wissenschaft. Ferner gehörten etwa 11.800 LandeslehrerInnen zum Personal der Stadt Wien sowie rund 15.000 Beschäftigte, die für die Wiener Stadtwerke (1949 aus dem Zusammenschluss der Städtischen Elektrizitäts- bzw. Gaswerke und Verkehrsbetriebe entstanden) arbeiten. Eine der Wirtschaftsabteilungen mit dem größten Beschäftigungszuwachs über den Gesamtzeitraum war die Abteilung Geld- und Kreditwesen, Privatversicherung und Wirtschaftsdienste. Die Zahl der Berufstätigen hat sich seit 1951 mehr als verdoppelt, wobei sich die Zuwächse in den Sechziger- und Siebzigerjahren in erster Linie dem Wachstum des Geld- und Kreditsektors verdankten. Dies war auf den Filialausbau und -zuwachs zurückzuführen, der sich – auch als Ausdruck verschärfter Konkurrenz und des Trends zum Universalbankengeschäft – in nahezu allen Sektoren des Geld- und Kreditwesens bemerkbar machte. Die Tendenz zum möglichst viele Berei178
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien che umfassenden Dienstleister erfasste in den letzten Jahren auch die Versicherungs branche. Banken und Versicherungen stehen sich heute in vielen Bereichen – auf grund ähnlicher oder identischer Produkte – als Konkurrenten gegenüber, obwohl sie kapitalmäßig oft eng miteinander verflochten sind. Der Bereich der Wirtschafts dienste weist hingegen erst in den letzten 15 Jahren überragende Zuwachsraten auf. Der Finanzplatz Wien hat nach 1945 zum zweiten Mal (nach 1931) an internationaler Bedeutung verloren, der österreichische Kapitalmarkt muss weiterhin als unterentwickelt bezeichnet werden, und auch der Wiener Börse war es nicht gelungen, ihre traditionelle Schwäche abzulegen. Auffällig am österreichischen Bankwesen, das seit jeher stark auf Wien konzentriert war, war einerseits die starke Verflechtung mit der Industrie, andererseits die durch die nach 1945 durchgeführte Verstaatlichung der drei Großbanken Creditanstalt, Länderbank und Österreichisches Creditinstitut enge Verbindung zum Bund. Der Ruf nach Privatisierung hat allerdings sowohl im Banken- wie Industriebereich deutlichen Widerhall gefunden, der staatliche Sektor an Gewicht verloren. Im letzten Jahrzehnt machte sich im Kreditsektor ein deutlicher Trend zur Konzentration und zu Fusionen bemerkbar, eine Tendenz, die von den beiden größten Wiener Sparkassen, der Zentralsparkasse und der Ersten Österreichischen Sparkasse, ausgegangen ist.176 Die Zentralsparkasse übernahm 1991 zunächst die Länderbank und wurde zur Bank Austria ag.177 1991 fusionierten Girozentrale und Österreichisches Creditinstitut zur GiroCredit, die über Umwege (1994 übernahm die azv der Bank Austria die Mehrheit an der GiroCredit) durch die Fusion zur Erste Bank an die Erste gelangte. Dieser Bankenkonzentrationsprozess war auch eine Folge des österreichischen Beitritts zur eu, der die heimischen Kreditinstitute mit einer Reihe von Anpassungsnotwendigkeiten, etwa im Bereich der legistischen Rahmenbedingungen, konfrontierte. Europareife zu erlangen, hieß das Gebot der Stunde. Ein Charakteristikum der österreichischen Banken ist bzw. war ihr hoher Nicht-Banken-Beteiligungsbesitz. Bank Austria und Creditanstalt verfügten beispielsweise über rund 400 Beteiligungen in allen Wirtschaftssektoren. Die österreichischen Großinstitute sind jedoch im europäischen Maßstab noch immer relativ unbedeutend und als eher kleine »player« weiterhin dem verschärften Wettbewerb ausgesetzt und mit erheblichen Anpassungsproblemen konfrontiert. Etliche Experten glauben demnach, dass die Restrukturierung der heimischen Bankenlandschaft noch nicht abgeschlossen ist und gehen mittel- bis langfristig von einer weiteren – länderübergreifenden – Konzentration aus, die nur mehr einige wenige Großbanken in Europa überleben lassen wird. Selbstverständlich sind auch die Auswirkungen der Ostöffnung im Kreditsektor deutlich spürbar geworden. Die meisten österreichischen Geldinstitute, aber auch Versicherungsgesellschaften streckten nach der »Wende« ihre Fühler in Richtung neuer Märkte aus. Bereits in der Zeit vor 1989 bildete Wien einen wesentlichen Schnittpunkt für den Ost-West-Handel und 179
peter eigner · andreas resch damit verbundene Bank- und Finanzierungstransaktionen, und seit der Ostöffnung haben sich die Wiener Institute »als potente ›regional Players‹ positioniert … und ein dichtes Bankennetz … aufgebaut«.178 Gerade in den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass beim Eingehen neuer Engagements höchste Vorsicht geboten ist, die Geschäfte mit den Ländern des früheren Ostblocks bergen eine Reihe von Risiken und Gefahren, da die politische und wirtschaftliche Lage zumeist noch zu instabil ist. So führten in den Neunzigern Geschäfte mit Russland zu höheren Verlusten. Eine sich langfristig positiv auswirkende Entwicklung für die Stadtwirtschaft nahm in den Sechzigerjahren ihren Anfang. Wiens Stellung im internationalen Städtegefüge konnte durch die Niederlassung einiger internationaler Organisationen gestärkt werden.179 Den Beginn setzte 1957/58 die Internationale Atomenergie-Organisation (iaes), es folgten die opec (1965) und die unido (1967). Die Errichtung der unoCity, mit der Wien nach New York und Genf zur dritten uno-Stadt wurde, und des – anfänglich äußerst umstrittenen – Konferenzzentrums unterstrichen die zunehmende internationale Bedeutung Wiens als Konferenz- bzw. Kongressort. Heute liegt Wien im Spitzenfeld internationaler Kongressdestinationen. Doch nicht nur das Image Wiens im Ausland besserte sich aufgrund dieser Maßnahmen, auch die wirtschaftlichen Auswirkungen erwiesen sich für die Stadt als günstig. KonferenzbesucherInnen gelten ohnehin als besonders konsumfreudig, und auch die hohen Einkommen der hier beschäftigten Mitglieder der internationalen Organisationen werden zu rund neunzig Prozent in Wien ausgegeben. Eine bedeutende Einnahmequelle der Stadt stellt die Tourismuswirtschaft dar. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hielt sich das Bedürfnis, Wien zu besuchen, erwar tungsgemäß noch in Grenzen. Der Wiener Fremdenverkehr erreichte erst gegen Ende der Fünfzigerjahre wieder die Nächtigungszahlen der Zwischenkriegszeit (um 1960 2,1 Millionen Nächtigungen).180 Bis in die Mitte der Siebzigerjahre stieg die Nächtigungszahl relativ kontinuierlich, aber langsam auf rund vier Millionen jährlich an. Ende der Siebzigerjahre zeichnete sich eine Trendwende ab. Wien erfreute sich zunehmender Beliebtheit als Ziel des Städtetourismus, hohe Wachstumsraten von jährlich an die zehn Prozent in den Achtzigerjahren ließen die Zahl der Nächtigun gen bis 1990 auf den Rekordwert von 7,5 Millionen anwachsen. In den Neunzigerjahren stagnierten die Nächtigungszahlen nach zwei Einbrüchen (1991 und 1993) bis 1995 bei rund sieben Millionen. Der Beitrag der Tourismus- und Gastgewerbe branche zur urbanen Bruttowertschöpfung, der nach einer langen Phase, wo er sich zwischen 1,5 und 1,8 Prozent bewegte, in den späten Achtzigerjahren auf etwa zwei Prozent angestiegen ist und 1995 2,3 Prozent betrug, zeigt eine leichte Aufwärtsbewegung, doch reicht die Bedeutung des Tourismus darüber hinaus. Schätzungen des insgesamt aus dem Tourismus resultierenden Umsatzes der Wiener Wirtschaft beliefen sich für das Jahr 1991 auf 4,5 Prozent des Bruttourbanproduktes. Der Wien180
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Tourismus wird vor allem von Ausländern getragen, Inländer machen rund zwölf bis 14 Prozent der Nächtigungen aus. Die bei Weitem größte Gruppe unter den ausländischen Besuchern bilden Gäste aus Deutschland, auch Italien und die usa stellten und stellen große Touristenkontingente. Blieb die Nachfragestruktur bis in die Siebzigerjahre zunächst relativ konstant, so zeichnen sich seither deutlichere Verschiebungen ab. Unter anderem dürfte die Ostöffnung größere Auswirkungen auf die Gästezahlen Wiens haben. Tabelle 11 : Entwicklung des Wiener Fremdenverkehrs (Übernachtungen) Jahr 1949/50* 1959/60*
Zusammen** 940.014*** 2.367.120
Ausland
Inland
Ohne Ang. d. Wohnsitzes
570.025
363.698
6.291
1.819.359
547.738
23
1969/70*
3.636.801
3.126.500
509.410
891
1980
4.578.618
4.011.847
566.771
0
1990
7.507.634
6.730.139
777.495
0
1991
7.007.084
6.129.523
877.561
0 0
1992
7.005.310
6.164.022
841.288
1993
6.614.362
5.727.385
886.977
0
1994
6.904.890
5.998.461
906.429
0
1995
7.049.710
6.094.034
955.676
0
* Saison von Oktober bis September. ** Einschl. Jugendherbergen und Campingplätze. *** Sowie 46.995 im Westbahnbunker. Dieser wurde am 16.7.1950 geschlossen. Quellen : Angaben der MA 66, Statistische Jahrbücher der Stadt Wien.
Die hohe Attraktivität Wiens für den Städtetourismus erklärt sich aus einer Reihe von Faktoren. Das vielseitige Kulturangebot, die Pflege der historischen Tradition, die große Sicherheit sowie die hohe Lebens- und Umweltqualität, etwa der vergleichs weise geringe Verkehr, dürften Grund dafür sein, dass Wien sich im internationalen Städtetourismus gut positionieren konnte.181 Der reichen historischen Tradition Wiens kam dabei einerseits ein Phänomen entgegen, das wohl am zutreffendsten mit dem Begriff »Habsburgernostalgie« umschrieben werden kann und dessen Symbole Kaiser Franz Joseph und Sissi sind, andererseits die zunehmende Beschäftigung mit den zahlreichen Facetten des Wiens der Jahrhundertwende (Psychoanalyse, Secession, Literatur und Kaffeehaus, etc.) bzw. des Roten Wiens der Zwanzigerjahre. Eine besondere Faszination üben diese Wien-Bilder auf die Italiener aus, wie den stark angewachsenen Besucherströmen deutlich zu entnehmen ist. Bezüglich der Umwelt181
peter eigner · andreas resch qualität lässt sich feststellen, dass Wien als Stadt mit einem relativ hohen Anteil an Grünflächen gilt. Hier sind es nicht nur die Parks und Gartenanlagen, die sich großer Beliebtheit unter In- und Ausländern erfreuen, sondern vor allem die Grün oasen Prater und Donauinsel. Die Donauinsel, ein von Anfang an eher umstrittenes Projekt, hat sich zu einer erstrangigen Wiener Attraktion und einem wichtigen Veranstaltungsort (z. B. Donauinselfest), zu einem Ort vielfältiger sportlicher Betäti gung und zu einem beliebten Erholungsgebiet entwickelt. Die »Copa Cagrana«, eine Ansammlung von Lokalen im Bereich der Reichsbrücke, brachte der Wiener Bevölkerung einen Hauch von Urlaubs- und Partystimmung bzw. Meer. Eine dominante Position bzw. Sonderstellung in Bezug auf den Wiener Fremden verkehr kommt der Inneren Stadt zu. Bis auf Schloss bzw. Tiergarten Schönbrunn, Riesenrad und Belvedere konzentrieren sich die meisten von den Besuchern frequentierten Wiener Sehenswürdigkeiten auf den Innenstadt- und Ringstraßenbereich. Dies gilt auch für die Beherbergungsbetriebe, die Hotels und Pensionen, und schlägt sich in einem überproportional hohen Anteil des ersten Bezirks an Ankunfts- und Nächtigungszahlen nieder. Die Dominanz der City wurde in den letzten Jahren durch eine Reihe neuer Luxus-Hotelbauten bzw. Adaptierungen und Umwidmungen bestehender zumeist an der Wiener Ringstraße gelegener Gebäude wie Plaza, sas-Hotel oder Marriott gestärkt. Die Wiener City ist ferner weiterhin das kulturelle Zentrum der Stadt, und Kultur stellt für die Wiener Fremdenverkehrswirtschaft einen bedeutenden Faktor der Anziehung dar : Ein Großteil der Ausstellungsräume und Spielstätten aus allen Bereichen von Kunst und Kultur konzentriert sich auf die Wiener Altstadt, deren herausragender kultureller Stellenwert auch in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass die Innere Stadt als einziger Wiener Gemeindebezirk zur Gänze eine bauliche Schutzzone darstellt. Rund ein Viertel aller Museen, zwei Drittel aller staatlichen Museen befinden sich im i. Bezirk. Zwei »Bühnen-Multis« dominieren Wiens Kulturlandschaft, die hundert Prozent in Staatsbesitz stehende Bundestheater-Holding (Staats- und Volksoper, Burg- und Akademietheater) und die Vereinigten Bühnen, der der Gemeinde Wien gehörende Musical-Konzern, dem das Theater an der Wien, das Raimundtheater und das Ronacher angehören. Es ist jedoch nicht nur das »alte« museale Wien, das hohe Attraktivität ausstrahlt ; die Stadt musste sich, um konkurrenzfähig zu bleiben, auch neuen Entwicklungen öffnen und neue Besuchergruppen erschließen. Die Palette an Freizeitangeboten hat sich in den letzten Jahren bedeutend erweitert. »Wien ist anders«, dieser neuerdings von der Fremdenverkehrswerbung vielfach verwendete Slogan lässt sich insbesondere auf die Entwicklung der Wiener Innenstadt beziehen. Hier ist tatsächlich einiges anders geworden – und zwar zum Positiven : Dem Bild einer nach Betriebs- bzw. Büroschluss schlafenden toten Innenstadt in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit unzureichenden Freizeit- und Unterhaltungsmöglichkeiten kann man das pulsie182
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien rende, lebendige »Night-life« heutiger Tage gegenüberstellen. Längst ist es nicht mehr nur das sogenannte »Bermuda-Dreieck« um die Judengasse, in dem die Gäste bis vier, fünf Uhr früh »verschwinden« (daher die Bezeichnung) können. Konzentrationen von Vergnügungslokalen aller Art finden sich entlang der Schönlaterngasse und Bäckerstraße, in den Seitenstraßen der Kärntner Straße usw. Ähnliche Entwicklungen und Konzentrationen von Unterhaltungsmöglichkeiten finden sich mittlerweile auch in einigen Wiener Innenbezirken, etwa im vii. oder viii. Bezirk, sowie in einigen Bereichen entlang des Gürtels, in denen in der jüngsten Vergangenheit sehr erfolgreiche Revitalisierungsprojekte gestartet wurden, die insbesondere auch der aktuellen Musikkultur eine Heimstätte bieten. Das von der eu geförderte »UrbanGürtel plus«-Projekt sieht nicht nur die Verbesserung dieser Wohngebiete hinsichtlich der Grünraumausstattung vor, sondern beinhaltet auch so originelle Ideen wie die Wiederbelebung der brachliegenden Stadtbahnbögen mit der Ansiedelung von Werkstätten, Kultur- und Sozialprojekten. Entlang des Gürtels soll eine Kulturmeile entstehen. Auf erste Ansätze kann bereits erfolgreich verwiesen werden. Schwieriger und insbesondere von Jugendlichen oft beklagt stellt sich die Situation in einigen Außenbezirken dar, insbesondere in den neueren Stadterweiterungsgebieten im xxi., xxii. und xxiii. Bezirk. Dort fehlen Freizeitangebote, während sich insgesamt das Unterhaltungsangebot kultureller und kulinarischer Natur vervielfacht hat, dies zeigt die Zahl der Musik- und Nachtlokale, der sogenannten Szenelokale, Diskotheken, Bars, Espressi, Kaffeehäuser und Restaurants. In wechselnder Abfolge etablierten sich zunächst die italienische und griechische Küche sowie jene des Balkans und der Türkei, was in einem engen Zusammenhang mit den Urlaubsgewohnheiten von Frau und Herrn Österreicher, der Eroberung von Meer, Sonne und Sand in den Sechzigerjahren, aber auch mit den Herkunfts ländern der Arbeitsmigranten zu sehen ist. Die stärkste Verbreitung erfuhren dann die chinesischen Restaurants. In den letzten Jahren vermischte sich eine neuerliche »Italo-Welle« mit einem neuen gastronomischen Modetrend : Der Wiener/die Wienerin hat die japanische Küche entdeckt. Neben Restaurants waren es vor allem die sogenannten In- oder Szenelokale, die zur nächtlichen Belebung der Innenstadt beigetragen haben. Ebenfalls weite Verbreitung erfuhren die Fast-Food-Ketten, die Amerikanisierung Europas oder der Welt hat auch vor Wien nicht haltgemacht, das Ende des Würstelstandes scheint damit jedoch nicht gekommen zu sein. Marktführer dieser Fast-Food-Anbieter ist McDonald’s, die eigentlich älteste Fast-FoodKette ist der Seafood-Anbieter Nordsee. Das jahrzehntelange »Beisl-Sterben«, von dem neben zahlreichen Gasthäusern in den Innen- und Außenbezirken auch einige Beisl-Relikte in der Inneren Stadt betroffen oder zumindest bedroht waren, hat einen Umdenkprozess eingeleitet, durch den einige traditionelle Wiener Gasthäuser vor dem Zusperren bewahrt werden konnten. Exorbitante Mietensteigerungen in 183
peter eigner · andreas resch den letzten Jahren haben allerdings das Gerede vom Zusperren nie verstummen lassen. Dies betrifft in letzter Zeit auch einige renommierte Kaffeehäuser. H andel – »Greißlersterben« und Supermarktboom Die Entwicklung des Handels in der Nachkriegszeit nach 1945 lässt sich vereinfacht mit einem Satz zusammenfassen : Die auffälligste Tendenz war die Verdrängung des Kleinhandels durch Handelsketten, Warenhäuser und Selbstbedienungs- bzw. Supermärkte, ab der Mitte der Siebzigerjahre durch immer größere Einkaufszentren, sogenannte »Shopping Citys«.182 Sie betraf beginnend in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zunächst in erster Linie den Bereich der Lebensmittel (»Greißlersterben«, aber auch Obst- und Gemüsegeschäfte, Bäckereien etc. wurden stark dezimiert)183, verbreitete sich aber durch die Sortimentausweitung der Supermärkte in der Folge auf nahezu alle Handelssparten. Sah man diese Entwicklung zunächst als notwendiges oder zumindest unaufhaltsames Zeichen der Zeit, so setzte in den Siebzigerjahren, verstärkt nach der Eröffnung der Shopping City Süd 1976 und ersten Untersuchungen über aufkommende Mängel im Bereich der Nahversorgung, ein Diskurs über die Nöte des innerstädtischen Detailhandels ein. Das rasche Wachstum der Industrieproduktion hatte die Ausweitung des Massenkonsums nach sich gezogen, woraus für den Handel ein Entwicklungs- und Expansionspotenzial erwuchs. Nutznießer dieser Entwicklung waren aber eben nicht die Klein- und Mittelbetriebe, sondern mehrheitlich Großunternehmen. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem Eindringen ausländischen Kapitals. Insbesondere im Lebensmittelhandel zeigt sich eine enorme Konzentrationstendenz, die drei größten Lebensmittel-Handelsgruppen (die unter deutschem Kapitaleinfluss stehende Rewe-Billa-Gruppe, Spar und a deg) verfügten in Österreich Mitte der Neunzigerjahre über rund drei Viertel des Marktanteils. Die Geschichte des Billa-Gründers Karl Wlaschek, sein kometenhafter Aufstieg in der Nachkriegszeit vom Barpianisten zum Großunternehmer, erinnert an die sprichwörtlich gewordenen Karrieren amerikanischer Millionäre, die als Tellerwäscher begonnen haben.184 Heute sind auch kleine Einzelhandelsgeschäfte anderer Bereiche, ob es sich um Buchhandlungen, um CD- bzw. Schallplattengeschäfte, um Fotozubehör, um Drogeriewaren handelt, bereits zur Rarität geworden. Mitte der Neunzigerjahre entbrannte im Drogerie- und Parfümeriehandel ein heftiger Kampf um Marktanteile. Die Ketten dm, Bipa und Schlecker waren dabei die größten Anbieter, und eine weitere deutsche Kette, Müller, versuchte, sich auf dem österreichischen und Wiener Markt zu etablieren. Nicht anders sieht es beim Elektro(nik)bedarf bzw. -handel aus, wo sich Ketten wie Saturn, Cosmos, Niedermeyer und Hartlauer den Markt weitgehend aufteilten. Überlebenschancen werden dem Einzelhandel nur bei der Konzentration auf spezialisierte Bereiche, zumeist sogenannte Nischenprodukte, zu184
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien gestanden, denn halten konnten sich in erster Linie beratungsintensive, eher zentral gelegene Spezialgeschäfte des oberen und Luxus-Preissegments, wogegen insbesondere die traditionellen Detailhändler vor allem in der Lebensmittel-, Textil- und Schuhbranche aufgrund der übermächtigen Konkurrenz in eine Existenzkrise gerieten. Aus der schlechten Handelsinfrastruktur resultierten in etlichen, auch relativ zentrumsnahen Stadtgebieten Defizite in der Nahversorgung, zu denen sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit Einkaufsmöglichkeiten von Haus aus schlecht ausgestattete Neubausiedlungen und -gebiete gesellten. Die Entwicklung verlief allerdings nicht so eindeutig, wie es die bisherigen Aus führungen nahelegen. Der Schrumpfungsprozess der Produktion hatte sich zunächst auf den Bereich des Großhandels unvorteilhaft ausgewirkt. Nach einer Phase abnehmender Beschäftigung in den Siebzigerjahren (um rund 5.000 Arbeitsplätze) begann der Großhandel in den Achtzigerjahren wieder zu expandieren (Anstieg der unselbstständig Beschäftigten von 45.175 im Jahr 1981 auf 57.673 im Jahr 1991). Beim Einzelhandel war es genau umgekehrt. Hier folgte auf eine Periode stark steigender Beschäftigung (die Zahl der unselbstständig Beschäftigten im Einzelhandel erhöhte sich zwischen 1971 und 1981 um über 23.700) eine Phase abnehmender Beschäftigtenzahlen (die Beschäftigung im Einzelhandel sank zwischen 1981 und 1991 von 88.907 auf 80.878). Noch eine weitere Nachkriegsentwicklung ist auffällig, die allerdings in einem engen Zusammenhang oder mehr noch in einer Wechselwirkung mit der Verdrängung des Kleinhandels steht. Noch in den Fünfzigerjahren ging man in die City und auf die Mariahilfer Straße bzw. auf die Geschäftsstraßen zumeist des Wohnoder Arbeitsbezirks einkaufen. Auf der Taborstraße, Thaliastraße oder Lerchenfelder Straße reihte sich Geschäft an Geschäft, das Warensortiment ließ nahezu keine Wünsche offen. Bis auf die Innenstadt und einige wenige Wiener Einkaufsstraßen, die ihre Position annähernd halten konnten, verlagerte sich das Schwergewicht des Handels auf die großen Einkaufszentren, die in den Außenbezirken oder knapp außerhalb Wiens entstanden. Und auch die Festigung der Innenstadt als umsatz stärkstes Einkaufs- und Geschäftszentrum verdankt sich der vom ökonomischen Strukturwandel ausgelösten »Renaissance der Innenstädte« in den Achtzigerjahren, während die Situation noch zehn Jahre zuvor eher trist ausgesehen hatte. Fußgängerzonen, Shopping-Citys, Warenh äuser In den Siebzigerjahren war die Stellung der Wiener City als höchstrangiges Ein kaufszentrum ins Wanken geraten. Die zunehmende Motorisierung hatte eine Steigerung der Mobilität großer Teile der Bevölkerung mit sich gebracht. Dies begünstigte die Entwicklung von Einkaufszentren185 am Stadtrand inner- und außerhalb 185
peter eigner · andreas resch Wiens (Shopping City Süd, Huma, Donauzentrum). In jüngster Zeit sind mit dem Aufkommen der Factory Outlets neue Konkurrenten hinzugekommen. Bessere Parkplatzmöglichkeiten sowie das riesige Sortiment strahlten zusätzliche Attraktivität aus. Dazu kam den Shopping Citys die Hausbau- und Einrichtungswelle zugute, Möbelhäuser wie Leiner-Kika, Möbel-Lutz oder ikea bzw. Bau(materialien)märkte wie BauMax, Bauhaus oder obi, die einen großen Platzbedarf haben und daher oft Standorte am Stadtrand wählten, zogen die Massen an. Daran änderten auch neu errichtete Parkgaragen in Zentrumsnähe nichts. Für Wien resultierte daraus nicht nur ein unerwünschter Kaufkraftabfluss, das gesteigerte Verkehrsaufkommen stellte auch die Stadtplanung vor neue Herausforderungen. Ein erster Versuch, dieser Entwicklung bewusst entgegenzusteuern, war das Projekt einer Fußgängerzone Kärntner Straße – Graben, wobei die Stadtplaner zwei Anliegen damit zu verknüpfen versuchten : 1. den Einzelhandel zu verstärken, ihm attraktivere Bedingungen zu bieten, und 2. mit dieser Maßnahme zugleich den Durchzugsverkehr von der Altstadt abzulenken. Es erscheint heute unvorstellbar, dass die Wiener Kärntner Straße zu Beginn der Siebzigerjahre von 75.000 Autos täglich befahren wurde. Das Planungsvorhaben stieß zunächst auf größeren Widerstand. Der Befürchtung einiger Geschäftsleute der Innenstadt, ihr exklusives Publikum zu verlieren, standen die – wie sich langfristig herausstellte realistischeren – Befürchtungen der Geschäftsleute anderer Bezirke gegenüber, die um ihre Kundschaft fürchteten. Die City behauptete sich tatsächlich – trotz einer anfänglichen Verringerung des Luxusangebots – als hochrangiges Einkaufszentrum Wiens, wozu sicherlich auch die Errichtung der Fußgängerzone beigetragen hat. In der Phase der Reurbanisierung konzentrierten sich etliche Anstrengungen auf eine Wiedergeburt der Innenstadt bzw. des dicht verbauten Stadtgebietes. Ferner hat auch das Aufblühen des Städtetourismus massiv zur Belebung der Innenstadt beigetragen. Die steigenden Umsatzzahlen der Innenstadt können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wahren Umsatzgewinner der letzten Jahrzehnte die großen Einkaufszentren am oder außerhalb des Stadtrandes sind. Deren Gewinne gingen jedoch in erster Linie auf Kosten der Wiener Geschäftsstraßen in den Innen- und Außenbezirken. Das Schicksal dieser Einkaufsstraßen ist dabei eng an Ausbaustand bzw. -pläne des öffentlichen Verkehrsnetzes geknüpft. Wie wichtig etwa eine UBahn-Verbindung ist, zeigt die Entwicklung der Mariahilfer Straße, der neben der Kärntner Straße lange Zeit wichtigsten Wiener Einkaufsmeile. Zuerst jahrelang von den Bauarbeiten betroffen und mit massiven Umsatzrückgängen konfrontiert, begehrt vor allem bei ungarischen und tschechoslowakischen Einkaufstouristen, blüht die Mariahilfer Straße seit Fertigstellung der U3 wieder auf. Etliche traditionsreiche Wiener Geschäfte mussten sich aber einer neuen Konkurrenz stellen, die hohen Mieten können sich in erster Linie große internationale Anbieter und 186
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Konzerne leisten. Die Einkaufsstraßen in den Metropolen und Großstädten Europas beginnen sich zu gleichen (Zara-, Mango-, H&M-, C&A-, Street One- oder New Yorker-Filialen reihen sich aneinander). Nicht viel anders ist es den traditionsreichen Wiener Kaufhäusern auf der Mariahilfer Straße ergangen, Gerngross, Herzmansky oder Stafa. Besitzwechsel nach langen Durststrecken ließen aus ihnen moderne, aber leicht verwechselbare Konsumtempel entstehen.186 Preismäßig teilweise mit den Shopping Citys am Stadtrand nicht ganz konkurrenzfähig, zeigt sich bei einigen Kaufhäusern eine Tendenz zum exklusiven und dementsprechend teuren Warenangebot. Zu Pionieren dieser Entwicklung wurden das neue Haas-Haus und der Kärntner Ring Hof. Neue Einkaufszentren entstanden aber nicht nur in der Innenstadt und am Stadtrand, Generali-Center, Lugner-City oder Galleria können hier als Beispiele angeführt werden. Das abschreckende Beispiel einer »toten« Einkaufsstraße wegen jahrelanger Bau arbeiten verkörperte für geraume Zeit die Landstraßer Hauptstraße, die jedoch nach einer langen Durststrecke, bedingt durch die U-Bahn-Bauarbeiten, in den letzten Jahren wieder an Beliebtheit und Attraktivität gewinnen konnte, ein weiterer Beleg für die Abhängigkeit der Umsatzentwicklung von einer guten Einbindung in den öffentlichen Verkehr. Diesen positiven Beispielen stehen jedoch weit mehr, oft sehr traditionsreiche Wiener Einkaufsstraßen gegenüber, deren Bedeutung stark gesunken ist (z. B. Prater- bzw. Taborstraße, Ottakringer Straße, Lerchenfelder Straße). Leerste hende und zum Verkauf angebotene Geschäftslokale mischen sich unter die Videoverleiher oder die oft nicht sehr vertrauenerweckenden Kaffeehäuser und neuerdings unter die immer zahlreicher werdenden Wettcafes. Nach Toto, Lotto, Automaten und Rubbellosen hat sich die Spielleidenschaft der Wiener Bevölkerung den Sportwetten zugewandt. Eine von den Ergebnissen her teils vergleichbare Entwicklung ist in der Wiener Kinolandschaft zu beobachten. Es ist zu einem wahren Kinosterben gekommen, einige Wiener Bezirke verfügen über kein einziges Kino mehr, etwa der vormals so traditionsreiche Kinobezirk Leopoldstadt. In großen Kinozentren mit mehreren bespielbaren Sälen und einem Platzangebot von 1.200 bis 4.000 Plätzen scheint die Zukunft zu liegen, sie verdrängen die alteingesessenen Kinobetriebe, wobei sich die großen Zentren, teils in Bau, teils erst in Planung, im Gegensatz zu den Shopping Citys über das Stadtgebiet verteilen. Die Nähe zu großen Einkaufszentren scheint allerdings doch auch ein wichtiger Standortfaktor zu sein. Eine neue Tendenz, die zu Erlebnis- und Freizeitparks, zeichnete sich in den letzten Jahren ab. Das Wiener Stadtgebiet eignet sich dafür nur bedingt.187 Aus den vorhergehenden Ausführungen wurde deutlich, dass der Wiener Innenstadt im Stadtganzen ökonomisch eine Schlüsselrolle oder Sonderstellung zukommt, insbesondere im Dienstleistungsbereich, und zwar auf mehreren Gebieten, etwa dem 187
peter eigner · andreas resch exklusiven Einzelhandel, dem Fremdenverkehr oder dem Gaststätten- und Beher bergungswesen. Zudem ist der erste Bezirk trotz sinkender Anteile weiterhin der größte Arbeitgeber Wiens geblieben. Exkurs : Entwicklungstendenzen in der Innensta dt Wien 1945 : Eines der wohl berühmtesten Bilder jener Zeit ist das des brennenden Stephansdoms, des Wahrzeichens der Stadt. Doch es waren nicht nur die großen Repräsentationsbauten, die am Ausgangspunkt unserer Untersuchung beschädigt oder zerstört waren, große Teile der Inneren Stadt waren von Kriegszerstörungen betroffen. Die baldige Sanierung des Zentrums von Wien wurde vorrangiges Ziel der Stadtplanung, die Wiederherstellung des Stephansdoms und die Eröffnung von Burgtheater und Staatsoper wurden zu Symbolen des Wiederaufbaus in Wien. Diese gesteigerte Bedeutung der Inneren Stadt im Stadtganzen, ihre Symbolkraft bzw. die ihrer Wahrzeichen für die regionale Identität der WienerInnen blieb bis in die Gegenwart bestehen. Bis heute sprechen die BewohnerInnen Wiens vom »in die Stadt fahren«, wenn sie sich in die Wiener Innenstadt begeben, Zeichen der noch immer höheren Wertigkeit dieses Stadtraumes, Zeichen vielleicht auch dafür, dass die Schaffung weiterer Zentren, ein mittlerweile altes Ziel der Stadtplanung, bislang nicht wirklich geglückt ist. Gewisse Fortschritte sind allerdings nicht zu leugnen : So entfiel 1961 noch ein Sechstel der Wiener Arbeitsbevölkerung auf den ersten Bezirk, bis 1991 ging der Anteil auf ein Achtel zurück. Von der 1991 ermittelten Arbeitsbevölkerung der Inneren Stadt von 112.770 Beschäftigten wohnten nur 7.961 im Bezirk.188 Dass die Innenstadt vor einem täglichen Verkehrschaos bewahrt werden konnte, zählt zu den Verdiensten der Stadtverwaltung, die den Autoverkehr großteils aus der Wiener Altstadt verbannt und für eine gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln gesorgt hat. Als noch immer stark auf den innerstädtischen Standort konzentriert erweisen sich die Vertreter der freien Berufe, Anwälte, Notare, Architekten oder Steuerberater. Hier kommt das mittlerweile alte Muster zum Tragen : Wer und was Rang und Namen hat, könnte man überspitzt formulieren, den zieht es in die Innenstadt, ob zum Wohnen oder Arbeiten. Zu den traditionell in der Innenstadt konzentrierten Dienstleistern Banken und Versicherungen sind in den letzten Jahrzehnten Vereine und offiziöse Institutionen getreten, zumeist im Grenzbereich zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung angesiedelt, deren Zentralstellen (Ministerien, Universität, etc.) großteils in der Innenstadt liegen. So entfielen 1991 über 24.000 Beschäftigte, 21,4 Prozent der Arbeitsbevölkerung des i. Bezirks und 26,4 Prozent der Arbeitsbevölkerung Gesamt-Wiens in diesem Bereich, auf Einrichtungen der Gebietskörperschaften, Sozialversicherungsträger und Interessenvertretun188
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien gen. Zugleich war aber eine Tendenz zur Dezentralisierung zu beobachten, bei einer Reihe staatlicher Behörden und Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung, aber auch bei Bürozentralen etlicher industrieller Großbetriebe. Als Gesamttendenz lässt sich im Beobachtungszeitraum und eigentlich über das gesamte 20. Jahrhundert im Altstadtbereich eine Abnahme der Wohnbevölkerung durch die Umwidmung von Wohnungen in Betriebs- und Geschäftsflächen bzw. eine Entflechtung der Wohn- und Betriebsfunktion feststellen. Die Zahl der Häuser mit gemischter Nutzung hat eindeutig zugunsten reiner Betriebs- bzw. Geschäftsbauten bzw. Häusern mit reiner oder vorwiegender Wohnfunktion abgenommen. Der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Citybildungsprozess dauert bis heute an. Wohnen in der Innenstadt ist teuer, bei Neuvermietungen nahezu unerschwinglich geworden. So weist die City einen hohen Anteil von Ausländern und Ausländerinnen als Wohn bevölkerung auf, es sind dies in erster Linie jedoch die Reichen und Superreichen, KünstlerInnen und sonstige Prominenz. Aufgabe der Wiener Wirtschaftspolitik und Stadtplanung müsste es zunächst sein, die Wohnraumgesamtfläche der Altstadt nicht noch weiter zu reduzieren, um die Innere Stadt nicht zu einer monofunktionalen Bürocity werden zu lassen. Als Folge der Entwicklungsdynamik der späten Fünfziger- und Sechzigerjahre hatten sich insbesondere die Arbeitsstätten des Großhandels und die Büros vermehrt. Unterschiedliche Miet- und Ablöseniveaus zwischen billigerer Altstadt und teurerer Ringstraßenzone resultierten in unterschiedlichen Verteilungsmustern. Eher stagnierende Branchen wie die Textilindustrie bevorzugten die Altstadt, während sich die Büros der Wachstumssektoren (Luftfahrtgesellschaften, Reisebüros, …) auf die Ringstraße konzentrierten. Generell verdeutlicht die Abfolge der neuen Geschäftssparten in der Inneren Stadt den raschen Wandel von Trends und Konsummustern. Neu waren zunächst die Fachgeschäfte für Fotoartikel und Schallplatten oder generell Hi-Fi-Bedarf, auf die in den späten Sechzigerund Siebzigerjahren eine Welle von Antiquitätengeschäften folgte. Rasante Verbreitung fanden weiters Reisebüros und Luftfahrtlinien. Die zunehmende Attraktivität Wiens für Städte- und Kongressreisen schlug sich in neu erbauten bzw. renovierten Hotels des Luxussegments, vor allem entlang der Ringstraße, nieder. Haushaltsgeräte aller Art oder Videoläden vermochten sich auf innerstädtischen Standorten nicht zu behaupten. Mit der Ausbreitung des Filialsystems in Branchen wie dem Schuhsektor, Parfümerien bzw. Drogerien ging eine Nivellierung des Angebots einher. Dieser Entwicklung versuchte man einerseits durch ein citymäßig aufgestocktes Angebot entgegenzuwirken, andererseits ging mit wachsendem Wohlstand wieder eine Tendenz zum teuren Qualitäts-, vielfach Handwerksprodukt einher, bei Beklei dungsartikeln, Schuhen usw. Als Standort der renommiertesten, der exklusivsten und daher auch teuersten Geschäfte war und blieb die Innenstadt immer begehrt, ob bei Juwelieren, Schneidern, Modeboutiquen, Design- oder Möbelgeschäften. Mit 189
peter eigner · andreas resch dem äußerst umstrittenen Neubau des Haas-Hauses wurde einem in Wien bislang unbekannten Typus des Warenhauses Rechnung getragen, dem Luxuswarenhaus. Dem Haas-Haus folgte der Kärntner Ring Hof. Die Luxusgeschäfte wiederum bevorzugten Graben und Kohlmarkt, während die Kärntner Straße ihre Exklusivität als Einkaufsstraße in den Neunzigern allmählich zu verlieren begann. Neben der nahezu unverändert großen Bedeutung als »Shoppingmeile« trugen vor allem unterschiedlichste Lokale und kulturelle Einrichtungen zur Attraktivierung der Altstadt als Freizeitraum bei. Die Reurbanisierung Wiens nahm räumlich in der Innenstadt ihren Ausgang. Doch selbst in der Innenstadt blieb der Kontrast auffällig zwischen neu belebten Vierteln, wie dem Bermuda-Dreieck, und Stadtteilen wie dem alten Textilviertel um die Gonzagagasse, dessen Bemühungen, »trendy« zu werden, nur bedingt erfolgreich waren. Die Wiener Innenstadt hat deutlich an Attraktivität gewonnen, ist lebendig und urbaner geworden. Was kritisch anzumerken wäre, ist eine gewisse Tendenz zur Musealisierung und Verkitschung der Wiener Innenstadt. Litfaßsäulen werden auf alt getrimmt, jeder zweite Fiakerfahrer lässt sich einen Franz-Josephs-Bart wachsen, und an jeder zweiten Ecke verteilt eine Mozart-Imitation Werbeprospekte – fehlen nur noch Walzer tanzende Paare auf den Straßen.
6. Ausblick und Perspektiven Eine Bilanz der Wiener Wirtschaftsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg muss etwas zwiespältig ausfallen. Zum einen ist Wien nach wie vor der wichtigste Wirtschaftsraum Österreichs mit überdurchschnittlich hohem Einkommens- und Produktivitätsniveau, zum anderen blieb die Stadt notorisch hinter dem gesamt österreichischen Wirtschaftswachstum zurück. Im Vergleich mit anderen (west-) europäischen Städten erzielte Wien bis 1989 eine eher unterdurchschnittliche Performance, seither wuchs die Wiener Stadtwirtschaft rascher als vergleichbare Agglomerationen in Europa. Für eine Gruppe von 36 europäischen Großstädten189 berechneten Ökonomen für den Zeitraum von 1975 bis 1989 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen, regionalen bip von 2,4 Prozent, während die Wiener Wirtschaft jährlich nur 2,1 Prozent zulegte. Von 1989 bis 1993 fiel dann die durchschnittliche Wachstumsrate des gesamten Samples auf 1,2 Prozent zurück, das Wiener Wirtschaftswachstum erhöhte sich hingegen auf 2,6 Prozent. Die Phase der guten Wirtschaftsentwicklung in der jüngsten Vergangenheit war auf der Ebene der »großen« historischen Einschnitte insbesondere von der Ostöffnung seit 1989 und dem Beitritt Österreichs zur eu gekennzeichnet. Damit ist die bereits skizzierte Veränderung des regulatorischen Umfeldes einhergegangen. Hinsichtlich der 190
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien sektoralen Struktur ist eine zunehmende Auflösung der traditionellen Abgrenzungen zu erkennen. Arbeitsbereiche, die früher im Rahmen Sachgüterproduzierender Betriebe selbst abgedeckt wurden, wie Produktentwicklung, Finanzwirtschaft, Buchhaltung etc., werden in zunehmendem Ausmaß in spezialisierte Dienstleistungsbetriebe ausgelagert, wodurch sich statistisch eine noch stärkere Schwerpunktverlagerung zum Dienstleistungssektor ergibt, als es der Struktur des Gesamtoutputs der Wirtschaft entspricht. Weiters gleicht sich die Logik der Arbeitsorganisation in den beiden Sektoren immer stärker an. Einerseits dringen in den Dienstleistungsbereich – insbesondere dank massiven edv-Einsatzes – arbeitsorganisatorische Prinzipien der Maschinisierung und Standardisierung ein, andererseits ermöglicht gerade auch der Einsatz modernster Technologie in der Sachgüterproduktion den Übergang zu Produktionsstrukturen, die günstige Stückkosten gewährleisten, ohne in unflexibler, spezialisierter Massenproduktion nur standardisierte Einheitsgüter erzeugen zu können. Die Betriebs- und Wirtschaftsstruktur in Wien ist seit den Neunzigerjahren in vielerlei Hinsicht von massiven Veränderungsprozessen gekennzeichnet, die zum Teil schmerzhafte Umstrukturierungen mit sich bringen sollten. Diese boten aber zugleich die Chance, Defizite, die aus dem spezifischen historischen Entwicklungspfad resultierten (Binnenmarktorientierung und geringe Innovationsneigung bei sehr stabilen Kunden-Lieferanten-Beziehungen und unter den Bedingungen eines großteils von »Ostblockstaaten« umgebenen Standortes) zu überwinden und die gegenwärtige Dynamik für eine dauerhafte Stärkung des Wirtschaftsstandortes zu nutzen. Aus den wirtschaftlichen Erfolgen seit 1989 kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sich für Wien mit dem Strukturwandel im ostmitteleuropäischen Umfeld und dem eu-Beitritt alle Wachstumsprobleme und strukturellen Defizite aus den Jahrzehnten zuvor gleichsam von selbst erledigt hätten. Vielmehr müssen die gegenwärtigen spezifischen Standortvorteile an der ökonomischen Bruchlinie zwischen den Reformstaaten und den westlichen Ökonomien genutzt werden. Optimistische Szenarien gehen davon aus, dass sich von Wien aus in zunehmendem Ausmaß moderne, grenzübergreifende Produktions netzwerke in flexibel spezialisierten Fertigungs ketten entwickeln können. Dabei ergeben sich aus den größeren Absatzmärkten Skaleneffekte und durch die noch bestehenden Faktorkostendifferenziale auch kompetitive Vorteile dieser Strukturen auf den Westmärkten. Durch die fortschreitende Entwicklung derartiger Netzwerke, die allmähliche Diffusion von Know-how und westlicher Technologie sollten sich im Gleichklang mit der schrittweise durchge führten eu-Integration auch die Teile der Netzwerke in den Reformländern zu wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstrukturen auf hohem Niveau entwickeln.190 Wien selbst bedarf in dieser Phase ausreichend hochwertiger Dienstleistungsanbieter, Unternehmensniederlassungen mit Zentralenfunktionen und technologie- bzw. innovationsintensiver Produktionscluster, sodass die Agglomeration insgesamt eine »kritische 191
peter eigner · andreas resch Masse« erreicht, die auch nach dem Auslaufen der zeitspezifischen Standortvorteile entsprechende Ballungsvorteile191 als geschaffene Standortqualitäten mit sich bringt. Während dieses Entwicklungsprozesses sollten die Diffusion von technischem und organisatorischem Wissen sowie die »Erziehungsfunktion«192 für die Wiener Zulieferindustrie von nachhaltigem volkswirtschaftlichem Nutzen sein. Den Vorteilen, die Wien aus der Ostöffnung erwachsen, steht gleichwohl auch eine Reihe sozialer und infrastruktureller Folgekosten und Probleme (z. B. Druck auf den Wiener Arbeitsmarkt, steigende Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur) gegenüber. Das vorläufig hohe Lohnkostendifferenziale zwischen Österreich und einigen seiner Nachbarn bedroht vor allem die »arbeitskostenorientierten Billiglohnindustrien«. In Wien sind dies Branchen wie Ledererzeugung, Bekleidung und Bettwaren, Textilwaren oder Schuherzeugung und -reparatur – Zweige mit einer hohen Bedeutung der Lohnkosten bei gleichzeitig geringem Lohnniveau. Doch fand gerade in diesen Bereichen bereits in den vergangenen Jahrzehnten ein kontinuierlicher Abwanderungs- und Ausleseprozess statt, sodass um die Mitte der Neunzigerjahre nur noch allerhöchstens fünf Prozent der Wiener Industrie- bzw. ein Prozent aller Wiener Arbeitsplätze von diesem Lohndruck betroffen waren.193 Als Anzeichen für die positiven Entwicklungen des Wirtschaftsstandortes Wien ist zu erkennen, dass sich von 1989 bis 1991 die jährlichen österreichischen Direkt investitionen in den Reformländern sprunghaft auf sechs Milliarden Schilling vergrößert haben und dass sie bis 1994 auf einen Stand von etwa 24 Milliarden Schilling angewachsen sind.194 Während österreichische Investoren – offenbar aufgrund der geografischen und traditionellen kulturellen Nähe zu diesen Regionen – in den ersten Jahren nach der Ostöffnung zu den wichtigsten ausländischen Investoren gehörten, haben sie seither an relativem Stellenwert gegenüber finanzkräftigeren Gruppen aus anderen Weststaaten verloren. In Wien war mit dem Wandel eine gewisse Aufwertung von hier situierten Osteuropazentralen internationaler Konzerne verbunden. Eine Umfrage des Wirtschaftsforschungsinstituts (wifo) im Jahr 1995 bei 87 Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen in Wien, von denen 63 als Ostzentralen bezeichnet werden können, ergab eine deutliche Ausweitung der Kompetenzen in den Bereichen Management/Verwaltung, Controlling/Rechnungs wesen, Marketing, Vertrieb und Kundenbetreuung, also Bereichen, in denen Markt nähe eine wichtige Erfolgsbedingung darstellt. In den längerfristig besonders entwicklungsrelevanten Bereichen strategische Planung, Produktionstätigkeit sowie Forschung und Entwicklung kam es allerdings vorerst nur zu relativ geringfügigen Kompetenzausweitungen der Wiener Konzernniederlassungen.195 Als positive Qualitäten des Standortes Wien wurden bei der wifo-Umfrage vor allem der Zugang zu den Ostmärkten, der hohe Ausbildungsstand der Arbeitskräfte in Wien und die guten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung über die Markt 192
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien regionen angeführt. Als eine große Schwäche des Wirtschaftsstandortes gelten die langwierigen bürokratischen Abläufe im Zusammenhang mit Unternehmens gründungen und Wirtschaftsaktivitäten. In diesem Zusammenhang zeichnen sich aber durch Reformen gewisse Verbesserungen ab. Weniger Optimismus war hinsichtlich des zweiten besonders häufig genannten großen Mangels des Wirtschaftsstandortes Wien angebracht, der seine Attraktivität für internationale »player« stark beeinträchtigt, nämlich hinsichtlich der gravierenden Restriktionen bei der Erteilung von Einreise- und Arbeitsgenehmigungen für Nicht-eu-Bürger. So waren enorme bürokratische Hürden zu überwinden, um für Konzernmitarbeiter aus den Reformstaaten Einreisegenehmigungen nach Österreich, selbst nur für kurze Besprechungen in Wien, zu erhalten. Noch viel schwieriger war es, Arbeitsgenehmigungen für diesen Personenkreis in Österreich zu erlangen, und selbst Arbeitsgenehmigungen für leitende Mitarbeiter aus Weststaaten, auch wenn diese als sogenannte Schlüsselkräfte kategorisiert wurden, deren Tätigkeit auch für Österreicher zusätzliche Arbeitsplätze schafft, waren nur mit großem bürokratischem Aufwand zu erhalten. Somit gefährdeten diese Restriktionen ernsthaft die vielfach apostrophierte Rolle Wiens als »Drehscheibe für den Osten«. Sie wurden offenbar von Ängsten hinsichtlich des regionalen Arbeitsmarktes, aber nicht zuletzt auch von populistischen Politzwängen diktiert. In diesem und diversen anderen Bereichen hatte die Wirtschaftspolitik die heikle Balance zwischen zum Teil widersprüchlichen Zielen zu wahren. Hindernisse, die einer dynamischen Entwicklung entgegenstanden, mussten beseitigt werden, ohne den sozialen Frieden, der eine besonders wichtige Standortqualität Wiens und Österreichs ist, zu gefährden. Mit den Stimmen der spö, övp und der Grünen beschloss der Wiener Landtag am 21. Oktober 1997 eine Deklaration »Wien und Europa«196. Darin begrüßte man unter anderem grundsätzlich die eu-Osterweiterung, wenngleich auch auf gewisse mit ihr verbundene Gefahren, insbesondere für den Arbeitsmarkt, hingewiesen wurde. Daher forderte man entsprechende eu-Förderungsprogramme, ferner, dass die Beitrittskandidaten die sozial-, arbeits- und umweltrechtlichen Standards der Union weitgehend erfüllen müssten, ehe eine volle Integration realisiert werden könnte. Aus einer Vielzahl von Studien197 ging einhellig hervor, dass zur nachhaltigen Nutzung der gegenwärtigen Wachstumschancen die regionale Kooperation (mit den Umlandgemeinden, den Bundesländern Niederösterreich und Burgenland, aber auch den benachbarten ausländischen Stadtregionen Bratislava sowie Prag und Budapest) intensiviert werden müsse. Weiters wurde als notwendig erachtet, zukunftsgerechte Infrastrukturinvestitionen (insbesondere Verkehrsmaßnahmen) zu tätigen, bürokratische Hindernisse abzubauen, durch adäquate Förderungsmaßnahmen die regionale 193
peter eigner · andreas resch Struktur produktionsnaher Dienstleistungen sowie technologieorientierter Cluster zu stärken und Wissensgenerierung und Wissenstransfer zwischen den örtlichen Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft zu verbessern. Derartige Ansätze sind in einer Vielzahl von Dokumenten zur Stadtentwicklung, wie dem step 94, sowie zuletzt in einem »Strategieplan für Wien« mit dem Titel »Qualität verpflichtet. Innovationen für Wien« (Entwurf vom Juni 1999) dokumentiert. Hinsichtlich der regionalen Kooperation notwendiger Entwicklungsplanungen bestanden Mitte der Neunziger nach wie vor insbesondere im engeren Bereich zwischen Wien und den Nachbargemeinden bzw. Nachbarbundesländern erhebliche Defizite, wenngleich zum Beispiel mit der Einrichtung der Planungsgemeinschaft Ost, dem Verkehrsverbund für den öffentlichen Personennahverkehr und der Einführung der Trademark »Vienna Region« erste Schritte getan wurden. Trotzdem müssen hinsichtlich der Verkehrsplanung, der Gefahr der Zersiedelung, der Realisierung von Großprojekten und der Präsentation der Region nach außen die Aktivitäten noch wesentlich besser abgestimmt werden. Nur durch ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen kann die Region im internationalen Standortwettbewerb erfolgreich sein. In einer Großregion Wien-Bratislava könnten sich durch den Ausbau überregionaler Handels- und Dienstleistungsfunktionen neue Wachstumsimpulse ergeben. Ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen wurde auch für die Erlangung einer strategisch günstigen Position im europäischen Verkehrsnetz gefordert.198 Unbestritten war, dass der Ost-West-Korridor Budapest–München–Stuttgart–Straßburg–Paris (die »Magistrale für Europa«) angesichts des zunehmenden Verkehrs auszubauen wäre. Wo an dieser Magistrale Knotenpunkte entstehen, die sich zu besonders attraktiven Wirtschaftsstandorten entwickeln, hängt vom Ausbau leistungsfähiger Nord-Süd-Verbindungen ab. Wien muss sich daher engagieren, um im Trans-Europäischen-Netzwerk (ten) eine möglichst prominente Position zu erlangen. In dieser Hinsicht bestehen bezüglich mancher Verkehrsstrecken durchaus gemeinsame Interessen – etwa mit den Nachbarbundesländern sowie mit Bratislava und Budapest (was den Ost-West-Korridor betrifft). Daneben zeichnen sich aber auch miteinander zum Teil konkurrierende Projekte hinsichtlich der Errichtung hochrangiger Nord-Süd-Verbindungen ab. Zum Beispiel gibt es einerseits Bestre bungen für den Ausbau einer Nord-Süd-Bahnverbindung Berlin – Prag – Brünn/ Warschau – Wien – Adria. Andererseits sind bereits Vorhaben für eine leistungsfähige Verbindung von Budapest nach Slowenien weit entwickelt. Sollten demgegenüber die Projekte für den Streckenausbau von Wien in den Süden, die bereits seit Jahren diskutiert werden, weiterhin kaum vorankommen, so droht sowohl der Region selbst als auch den südlich gelegenen Bundesländern Steiermark und Kärnten, dass sie relativ an Lagegunst einbüßen. Die Stadt bzw. die Region Wien muss in 194
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien diesem Sinne national und international Allianzen schließen, um eine hochrangige Knotenfunktion in einem zukünftigen leistungsfähigen europäischen Verkehrsnetzwerk sicherzustellen. Es erscheint plausibel, dass in diesem Bereich der Aufwand selbst von sehr erheblichen öffentlichen Mitteln gerechtfertigt ist. Damit Wien die Funktion eines leistungsfähigen Verkehrsknotens erfüllen kann, ohne im zusätzlichen Verkehrsaufkommen zu ersticken, soll, wo möglich, dem Schienen- vor dem Straßenverkehr der Vorzug gegeben werden (insbesondere im Güterverkehr und öffentlichen Personennahverkehr). Dafür müssen bestimmte Bahnlinien (Lainzer Tunnel, S80, Flughafenschnellbahn) sowie Bahnhöfe ausgebaut werden, leistungsfähige intermodale Schnittstellen zwischen Schienen-, Schiffs- und Straßenverkehr errichtet (gvz Inzersdorf, Hafen) und der Flughafen Schwechat erweitert werden. Zur Verknüpfung von Schiene und Straße muss der Knoten Inzersdorf ausgebaut werden, was den Bau der B 301 voraussetzt. Weiters soll eine koordinierte Entwicklung mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in Bratislava (Hafen, Flughafen, intermodaler Knoten) zur Stärkung der Gesamtregion angestrebt werden. Im Bereich der Energieversorgung und Telekommunikation war in den Neunzigern zu beobachten, wie ein staatlich kontrollierter Übergang zu weitgehend liberalisierten Strukturen zu einer Verbesserung des Angebots und Senkung der Preise führte und damit dem Wirtschaftsstandort Wien im internationalen Vergleich zusätzliche Attraktivität verlieh. Neben diesen infrastrukturellen Fortschritten müssen im Sinne der erstrebten Rolle Wiens auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für inländische Firmen und internationale Investoren optimiert werden. Im Sinne des »New Public Management« wurden beim Abbau von bürokratischen Hemmnissen bei Unternehmensund Betriebsgründungen bereits erkennbare Fortschritte erzielt. Verfahren wurden vereinfacht und zusammengelegt, Behörden agieren zusehends weniger als obrigkeitliche Machtinstanzen denn als Dienstleister für die Bürgerinnen und Bürger. Zur Entwicklung von »promising activities« in der Wirtschaft suchte man darüber hinaus vonseiten der öffentlichen Hand auch durch eine aktive Förderpolitik beizutragen. Die Wiener Wirtschaft kann angesichts der relativ hohen Lohn- und Produktionskosten auf Dauer nur florieren, wenn sie ihre nach wie vor zu geringe Forschungs- und Innovationstätigkeit ausweitet. Wie erwähnt, verlagerte sich schon seit den Achtzigerjahren der Schwerpunkt der Förderung (auf Bundes- wie auf Landesebene) von defensiven Subventionen zur Investitions- und Innovations förderung. Zunehmendes Gewicht fällt der Förderung von Investitionen in immaterielle Werte, wie Design, Generierung von Know-how etc. zu. Insbesondere kommen für die Förderungsaktivitäten jene oben genannten großen und kleinen Wiener Industriebranchen infrage, die bereits eine überdurchschnittliche Konzen tration und Produktivität erlangt haben, wie etwa die Biotechnologie, Medizin195
peter eigner · andreas resch technik und Pharmaindustrie oder diverse Zweige der Elektro- und Fahrzeugindustrie. Dabei bildet – in Übereinstimmung mit den eu-Richtlinien – auch die Gründungsförderung für innovative Klein- und Mittelbetriebe einen wichtigen Schwerpunkt. Mehrere aktuelle Leitprojekte sollten überdies der Verbesserung des Transfers zwischen Forschung und Unternehmungen dienen und auch das Image Wiens als Technologiestandort fördern. Zu nennen sind etwa das Biologiezentrum Dr. Bohr gasse sowie das im Mai 1999 gegründete Forschungszentrum Telekommunikation Wien (ftw), heute Teil des ambitiösen Technologieparks oder, mit einem Modewort, Clusters »Tech Gate Vienna« auf der Donauplatte, der eine enge Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft ermöglichen soll. Bei all diesen Vorhaben wirkten öffentliche Stellen und private Unternehmen zusammen. Im Falle des ftw fanden sich Kapsch, Ericsson, Nokia, Nortel sowie einige kleinere Unternehmen unter den privatwirtschaftlichen Partnern, für das Gesamtprojekt auf der Donauplatte haben die Stadt Wien, der Bund und die Wiener Städtische Versicherung gemeinsam die Tech Gate Gesellschaft gegründet.199 Dank des guten Angebots hoch qualifizierter Arbeitskräfte, des aktiven Engagements vieler Unternehmen im gegenwärtigen Entwicklungsprozess, der wissenschaftlichen Begleitung dieses Wandels durch eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen und der Bemühungen seitens der öffentlichen Hand, dafür gute Rahmenbedingungen zu schaffen, sind bereits erste Erfolge hinsichtlich des Entstehens von skill-intensiven Produktionsnetzwerken zu erkennen, wenngleich insbesondere hinsichtlich der Größenstruktur der kommerziellen, juristischen und produktionsnahen Dienstleistungsbetriebe und somit hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf überregionalen Märkten noch Defizite zu konstatieren sind. Ein weiteres Problem des Wirtschaftsstandortes Wien ist, dass sein Außenimage deutlich schlechter ist als die Einschätzung seiner Standortqualitäten durch Firmen, die hier bereits ansässig sind. Um diese Diskrepanz abzubauen und somit noch mehr möglichst hochrangige Headquarter internationaler Firmen nach Wien zu bringen, müssen die zeitgemäßen Möglichkeiten des internationalen Stadtmarketing ausgeschöpft werden. Der besseren Vermarktung des Wirtschaftsstandortes Wien, ausgerichtet insbesondere auf Märkte, wo die Wiener Wirtschaft unterrepräsentiert ist, wie etwa in Asien, diente die Schaffung des internationalen Markennamens »Wien Products«, die mit dem Slogan »take Vienna home« werben. Unter diesem Markennamen wird eine breite Palette qualitativ hochwertiger und technologieintensiver Produkte und Dienstleistungen zusammengefasst, gedacht ist in erster Linie an eine Beteiligung typischer Wiener Klein- und Mittelbetriebe, die auf diese Weise Exportaktivitäten entfalten sollen, die ihnen aus Kostengründen im Alleingang nicht möglich wären. 196
wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Als Entwicklungsschiene mit großer Außenwirkung bietet sich überdies an, an die große Tradition Wiens als Kongress- und Wissenschaftsstadt anzuknüpfen. Die Bemühungen, weitere hochrangige Institutionen globalen und europäischen Zuschnitts nach Wien zu holen, sollten begleitet sein von einer konsequenten Profilierung Wiens als Wissenschaftsstadt, wobei nicht allein vordergründig anwendungsorientierte Fächer berücksichtigt werden sollten. Experten des wifo 200 schlagen etwa als adäquaten Forschungsschwerpunkt für einen konzentrierten Mitteleinsatz den Bereich der internationalen Konfliktforschung vor, wo bereits an erhebliche bestehende Potentiale in diversen Disziplinen (z. B.: Sozial-, Politik-, Wirtschafts-, Rechts-, Geschichtswissenschaften) anzuknüpfen wäre.
A nmerkungen 1 Eine erste Fassung des vorliegenden Beitrages wurde für dieses Buchprojekt ursprünglich im Jahr 1999 fertig gestellt. Im Jahr 2003 erschien eine Textvariante mit erheblich erweitertem Betrachtungszeitraum unter : Peter Eigner, Andreas Resch, Die wirtschaftliche Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in : Franz Eder u. a. (Hg.), Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck u. a. 2003, 8–140. Für die hier vorliegende Publikation wurde punktuell seither erschienene Literatur eingearbeitet, einige Kapitel wurden weitergehend umformuliert. 2 Eine ausführliche Darstellung der ökonomischen Konsequenzen des EU-Beitritts und der »Osterweiterung« würde über den Betrachtungszeitraum dieses Beitrags hinausweisen. Als frühe Studie dazu vgl. etwa Peter Havlik, Peter Mayerhofer, Norbert Geldner, Wirtschaftliche Effekte einer EU-Osterweiterung auf den Raum Wien, Wien 1997. 3 Zur Analyse von Stadtentwicklungen anhand der demografischen und sektoralen Entwicklung siehe : Jürgen Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklung in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, Reinbek bei Hamburg 1978 ; ders. (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, Berlin, New York 1985. Das dem in diesen Büchern dargestellten Modell zugrunde liegende Schema der Entwicklung von der Agrargesellschaft über eine Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft geht zurück auf das Buch von Jean Fourastié, Die Große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln-Deutz 1954. 4 Vgl. dazu und im Folgenden auch Gerhard Meißl, Ökonomie und Urbanität. Zur wirtschafts- und sozial geschichtlichen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in : Peter Csendes, Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3 : Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar 2006, 652f. 5 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 653. 6 Geburtenbilanz : Differenz zwischen der Zahl der Lebendgeborenen und der Verstorbenen pro Jahr. 7 Zum Beispiel übertraf die Zahl der Zuwanderer jene der Abwanderer in den Jahren zwischen 1880 und 1910 um eine halbe Million. Zur Zuwanderung vgl. Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt, Wien 1990. Siehe auch den Beitrag von Andreas Weigl zum demografischen Wandel in diesem Band. 8 Gemäß der Verordnung über den »Einsatz jüdischen Vermögens« vom Dezember 1938, RGBl. I, S. 1709, konnte Inhabern jüdischer Gewerbebetriebe oder landwirtschaftlicher Güter aufgetragen werden, ihr Unternehmen binnen einer bestimmten Frist zu veräußern. Kam der jüdische Eigentümer dieser Aufforderung nicht nach, so wurde ihm ein »Abwickler« beigestellt, der die Liquidierung vornahm. Vgl. Jonny
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Moser, Die Apokalypse der Wiener Juden, in : Wien 1938, Historisches Museum der Stadt Wien, 110. Sonderausstellung, Wien 1988, 294, sowie die umfangreichen Ergebnisse der Historikerkommission der Republik Österreich, etwa Clemens Jabloner u. a., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen, Wien u. a. 2003, sowie 31 weitere Bände aus 2004. 9 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien, Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39, Buchloe 1988, 328ff. 10 Zur Abnahme der Erwerbstätigkeit in der Wiener Kreativwirtschaft von 1910 bis 1951 siehe Andreas Resch, Anmerkungen zur langfristigen Entwicklung der »Creative Industries« in Wien, in : Peter Mayerhofer, Andreas Resch, Philipp Peltz, »Creative Industries« in Wien. Dynamik, Arbeitsplätze, Akteure, Wien, Berlin 2008, 9–33, hier 19–31. 11 Gerhard Meißl, Industrie, in : Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 3, Wien 1994, 308. 12 Zur Schadensbilanz des Krieges siehe Gustav Bihl, Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte, in : Csendes, Opll (Hg.), Wien, Bd. 3, 545ff.; Franz Satzinger, Helga Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 3/95, 4. 13 Zum Alltag in Wien 1945 und danach vgl. Bihl, Wien 1945–2005, 551ff ; Ela Hornung, Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945 bis 1955, in : Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995, Wien 1995, 54ff ; Irene Bandhauer-Schöffmann, Ela Hornung, Von Mythen und Trümmern. Oral History-Interviews mit Frauen zum Alltag im Nachkriegs-Wien, Wien 1992. 14 USIA steht für »Uprawlenje Sowjetskim Imuschestwom w Awstrij« = Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich. 15 Der Anteil der USIA-Betriebe an der Industrie in Wien und Niederösterreich betrug dreißig Prozent. Andreas Weigl, Hinter den Kulissen des Wirtschaftswunders, Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 1/2011, 6. 16 European Recovery Program (ERP) = offizielle Bezeichnung für den Marshallplan. 17 Vgl. Hans Bobek, Elisabeth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Graz, Köln 1966, 165ff ; Karl Ausch, Wien und die Wirtschaft, in : Wiedergeburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965, Wien 1965, 117ff ; Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Wien 1979, 75 ff ; Günter Bischof, Dieter Stiefel (Hg.), 80 Dollar. 50 Jahre ERP-Fonds und Marshall-Plan in Österreich 1948–1998, Wien, Frankfurt 1999, darin u. a.: Dieter Stiefel, Coca-Cola kam nicht über die Enns : Die ökonomische Benachteiligung der sowjetischen Besatzungszone, 111ff ; Fritz Weber, Wiederaufbau zwischen Ost und West, in : Sieder/Steinert/Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995, 68ff. 18 Weigl, Hinter den Kulissen, 6. 19 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 677. 20 Dieser Wert wurde im gesamten zwanzigsten Jahrhundert nur während der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren mit jährlich rund sechs Geburten je tausend Einwohner unterschritten. 21 Moser, Apokalypse, 296. 22 Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Wien 1985, 119 ; ders., Österreichische Wirtschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar 2011, 299ff. 23 So stieg die Zahl der Schlosser, Werkzeugmacher, Mechaniker und Dreher zwischen 1934 und 1951 stark an, vgl. Weigl, Hinter den Kulissen, 7. 24 Klaus Schubert, Wien, in : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 490f. 25 Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, div. Jahrgänge. 26 Vgl. Peter Eigner, Ein Schritt nach vorne, zwei Schritte zurück – Die wechselhafte Geschichte des Fi-
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nanzplatzes Wien im 20. Jahrhundert, in : Oliver Rathkolb, Theodor Venus, Ulrike Zimmerl (Hg.), Bank Austria Creditanstalt. 150 Jahre österreichische Bankengeschichte im Zentrum Europas, Wien 2005, 482–501 ; Andreas Resch, Wien – die wechselvolle Entwicklung eines Finanzplatzes in Zentraleuropa, in : Europäische Finanzplätze im Wettbewerb (Bankhistorisches Archiv – Beiheft 45), Stuttgart 2006, 93–138 ; Andreas Resch, Dieter Stiefel, Vienna : The Eventful History of a Financial Center, in : Günter Bischof u. a. (Hg.), Global Austria. Austria’s Place in Europe and the World (Contemporary Austrian Studies XX), New Orleans, Innsbruck 2011, 117–146. 27 Meißl, Industrie, 308 ; Butschek, Österreichische Wirtschaftsgeschichte, 319ff. 28 Jens Dangschat, Jürgen Friedrichs, Klaus Kiehl, Klaus Schubert, Phasen der Landes- und Stadtent wicklung, in : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 1–148. 29 So lag das Wiener Volkseinkommen pro Kopf 1964 bereits um 42 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt. Weigl, Hinter den Kulissen, 7. 30 Andere Anteile werden bei Meißl, Ökonomie und Urbanität, 696 bzw. 700, angeführt : Zwischen 1972 und 1975 reduzierte sich der Anteil der Hauptstadt am BIP von 29,4 auf 27,1 Prozent, betrug 1981 nur mehr 26 Prozent und stieg bis 1990 auf 27,3 Prozent an. 31 Kurt Hübner, Birgit Mahnkopf, École de la Régulation. Eine kommentierte Literaturstudie, Berlin 1988 ; Robert Boyer, La Théorie de la Régulation : une analyse critique, Paris 1986 ; Gunther Maier, Franz Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2, Regionalentwicklung und Regionalpolitik (Springers Kurzlehr bücher der Wirtschaftswissenschaften), Wien, New York 1996. 32 Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2000, 48. 33 Vgl. Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Zweiten Republik, in : dies. (Hg.), Österreich 1945–1995, 9ff. 34 1974 verfügten 62 Prozent der Wiener Haushalte über einen Telefonanschluss, 91 Prozent über Kühlgeräte, 41 Prozent über Pkws, 39 Prozent über eine Waschmaschine und immerhin 14 Prozent über ein Farbfernsehgerät. Weigl, Hinter den Kulissen, 5. 35 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 679. 36 Wie von der Urbanistin Jane Jacobs bereits 1961 entdeckt, vgl. Meißl, Ökonomie und Urbanität, 687f. 37 Ausch, Wien und die Wirtschaft, 120. 38 Zur Sozialpartnerschaft siehe etwa Peter Gerlich, Edgar Grande, Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozial partnerschaft in der Krise, Wien 1985 ; Anton Pelinka, Sozialpartnerschaft und Interessenverbände, Wien 1986 ; Emmerich Tálos (Hg.), Sozialpartnerschaft. Kontinuität und Wandel eines Modells, Wien 1993 ; Günther Chaloupek, Entwicklung und Zukunft der österreichischen Sozialpartnerschaft (Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft, 59), Wien 1995. 39 Vgl. Boyer, La Théorie de la Régulation ; Hübner/Mahnkopf, École de la Régulation ; Maier/Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2 ; Renate Banik-Schweitzer, Die Großstädte im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in : Gerhard Melinz, Susan Zimmermann (Hg.), Wien – Prag – Budapest. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867– 1918), Wien 1996, 35ff. 40 Maier/Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2, 155. 41 Peter Pokay, Andreas Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995 : Grundzüge seiner Entwicklung in längerfristiger Perspektive, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 3/96 ; Felix Butschek, Der öster reichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. 42 Vgl. etwa : Karl Bachinger, »Ein paar Milliarden mehr Schulden sind weniger schlimm als ein paar hunderttausend Arbeitslose«. Ökonomie und Beschäftigung, in : Bruno Kreisky. Seine Zeit und mehr (Wissenschaftliche Begleitpublikation zur 240. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, hg. von der Stiftung Bruno Kreisky Archiv und dem Historischen Museum der Stadt Wien), Wien
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1998, 71–85 ; Kurt W. Rothschild, Austro-Keynesianism Reconsidered, in : Günter Bischof, Anton Pelinka (Hg.), The Kreisky Era in Austria (Contemporary Austrian Studies, 2), New Brunswick, London 1994 ; Hans Seidl, Social Partnership and Austro-Keynesianism, in : Günter Bischof, Anton Pelinka (Hg.), Austro-Corporatism. Past. Present. Future (Contemporary Austrian Studies, 4) New Brunswick, London 1996, 94–118 ; Fritz Weber, Theodor Venus (Hg.), Der Austro-Keynesianismus in Theorie und Praxis, Wien 1993. 43 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram), Wien 1995, 489. 44 Bachinger, Ein paar Milliarden Schulden, 82. 45 Angaben laut Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger nach Pokay/Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt, 4f. 46 Fallende Steuereinnahmen, höhere Aufwendungen für Arbeitslose sowie für industrielle und land wirtschaftliche Subventionen. 47 Vgl. Hannes Swoboda, Tendenzen und Probleme der Wiener Budgetpolitik (Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft, Nr. 27), Wien 1983 ; Bruno Roßmann, Die Haushaltsentwicklung der Stadt Wien 1980– 1989. Eine Strukturanalyse, in : Wirtschaft und Gesellschaft 1991, Heft 2, 157–197 ; Gerhard Lehner, Peter Mayerhofer, Josef Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets. Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1997. 48 Swoboda, Tendenzen und Probleme der Wiener Budgetpolitik, 24f. 49 Insbesondere die Wahl Felix Slaviks zum Wiener Bürgermeister 1970 wird als Ausdruck einer Wende für die Wiener Wirtschafts- und Stadtentwicklung bezeichnet. Bereits als Finanzstadtrat und Vizebürgermeister hatte Slavik wirtschaftlichen Belangen größeres Augenmerk geschenkt. Es kam zu vorsichtigen Ansätzen einer antizyklischen Budgetpolitik Wiens, z. B. zu Fördermaßnahmen wegen des Konjunktureinbruchs von 1971, »ohne dass von einem echten Keynesianismus in der kommunalen Wirtschaftspolitik gesprochen werden konnte«. Weigl, Hinter den Kulissen, 18. 50 Vgl. Michael J. Piore, Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion. Studien über die Requali fizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989 ; Karl Aiginger, Gunther Tichy, Die Größe der Kleinen. Die überraschenden Erfolge kleiner und mittlerer Unternehmen in den achtziger Jahren, Wien 1984. 51 Vgl. Werner Clement (Hg.), Die Tertiärisierung der Industrie, Wien 1988. 52 Alternative Berechnungen mit Daten des Arbeitsmarktservice Wien und Österreich ergeben bereits für die Jahre 1980 bis 1987 sowie auch für die Zeit ab 1991 eine geringfügig höhere Arbeitslosenquote für Wien als für Gesamtösterreich. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, Tafel VII, Tabelle 16.05 a, b. 53 Karl Aiginger, Von der Mitte aus, auf dem Weg nach vorne. Österreichs Wirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren, in : Sieder/Steinert/Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995, 272. 54 Einen Überblick über »Räumliche Basiskonzepte« der Stadtgeografie gibt : Elisabeth Lichtenberger, Stadtgeographie. Band 1, Begriffe, Konzepte, Modelle, Prozesse, 3. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Leipzig 1998, 102ff. 55 Vgl. Leo van den Berg u. a., Urban Europe. A Study of Growth and Decline, Oxford 1982 ; N. Vanhove, L.H. Klaassen, Regional Policy. A European Approach, Aldershot 1987 ; Gunther Maier, Franz Tödt ling, Regional- und Stadtökonomik, Standorttheorie und Raumstruktur, 2. verbesserte Auflage (Springers Kurzlehrbücher der Wirtschaftswissenschaften), Wien, New York 1995, 167ff ; Jürgen Friedrichs, Stadtsoziologie, Opladen 1995, 33ff. 56 Vgl. dazu : Jürgen Friedrichs, Robert Kecskes (Hg.), Gentrification. Theorie und Forschungsergebnisse, Opladen 1996. 57 Vgl. Peter Mayerhofer, Gerhard Palme, Wirtschaftsstandort Wien : Positionierung im europäischen Städ-
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tenetz (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bank Austria AG), Wien 1996, 32f. 58 Hellmut Ritter, Die Bevölkerung Wiens, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 3/93, 6 ; Satzinger/ Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 31. 59 Zum Beispiel entstanden im Zusammenhang mit dem während des Zweiten Weltkriegs gegründeten Ölhafen Lobau zwischen 1958 und 1961 in Schwechat eine Raffinerie und ein petrochemischer Großbetrieb. Bobek/Lichtenberger, Wien, 197. 60 Bobek/Lichtenberger, Wien, 166f. und 196ff. 61 Die Personenstands- und Betriebsaufnahme am 10. Oktober 1959 (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, Jg. 1960, Sonderheft Nr. 2), Wien 1960. 62 Laut Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger arbeiteten 1959 in Wien 744.567 unselbstständig Beschäftigte. Pokay/Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995, 4. 63 Darunter seien hier die Betriebsklassen 4 Steine-, Erdengewinnung und -bearbeitung, Glasproduktion, 6 Eisen- und Metallgewinnung und -bearbeitung, 7 Holzbearbeitung, 8 Ledererzeugung und -bear beitung, 9 Textilbetriebe, 10 Bekleidungsbetriebe, 11 Papiererzeugung und -bearbeitung, 12 Grafische Betriebe, 13 Chemische Produktion und 14 Nahrungs- und Genussmittelbetriebe subsumiert. Die durch die Addition der Werte dieser Betriebsklassen errechneten Zahlen sind nur bedingt mit den Werten für das verarbeitende Gewerbe und die Industrie der späteren Arbeitsstättenzählungen vergleichbar. Zum Beispiel wurde später die Steine- und Erdengewinnung dem Bergbau zugerechnet und nur noch die Verarbeitung der entsprechenden Rohstoffe dem verarbeitenden Gewerbe beziehungsweise der Industrie zugezählt. Die Steine- und Erdengewinnung war in Wien jedoch relativ bedeutungslos, sodass diese Unschärfe das Ergebnis kaum beeinflusst. 64 Vgl. Personenstands- und Betriebsaufnahme 1959, 49f. 65 Gerhard Meißl, Arbeitsort Wien. Die Entwicklung der Wiener Wirtschaft nach 1945 aus dem Blickwinkel der Betriebs- und Arbeitsstättenzählungen, in : Josef Schmee, Andreas Weigl (Hg.), Wiener Wirtschaft 1945–1998. Geschichte – Entwicklungslinien – Perspektiven, Frankfurt am Main 1999, 21. 66 Peter Eigner, Andreas Weigl unter Mitarbeit von Roland Löffler, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum. Wien im 20. Jahrhundert, in : Chronik der Wiener Wirtschaft, 2. überarbeitete Auflage, Wien o.J., 216. 67 Achtzig der 98 niederösterreichischen Gemeinden, die 1938 dem Wiener Gemeindegebiet eingegliedert worden waren, wurden 1954 wieder ausgemeindet. 68 Zur Entwicklung des Sozialen Wohnbaus in Wien nach 1945 vgl. Peter Eigner, Herbert Matis, Andreas Resch, Sozialer Wohnbau in Wien. Eine historische Bestandsaufnahme, in : Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 1999, 49–100, insb. 70ff. 69 Bobek/Lichtenberger, Wien, 167f. 70 Robert Stern (Hg.), Österreich, Land im Aufstieg, Wien 1955, 106, 132, 166 und 232. 71 Satzinger, Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 31 ; Hellmut Ritter, Andreas Weigl, Zeitreihen zu Bevölkerung, Gesundheitswesen und Umwelt in Wien 1945–2001, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien, Heft 2,3/2002, 5–51, hier 9–40. 72 Volkszählung 1961 und 1971 : Beschäftigte am Arbeitsort. 73 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 45. 74 Frauen im Alter zwischen 15 und sechzig Jahren und Männer im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 75 Die Anzahl der Bewohner und Bewohnerinnen im erwerbsfähigen Alter verminderte sich von 1.137.012 (1961) um 9,6 Prozent auf 1.028.354 (1971). Vgl. Volkszählungsergebnisse 1961 und 1971 ; Schubert, Wien, 493. 76 Andreas Weigl, Zeitreihen zur Wiener Wirtschaft 1945–2000, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien, Heft 2,3/2001, 28 ; Schubert, Wien, 491ff. 77 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Gemeinde Wien 1980, 25.
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78 Schubert, Wien, 498ff. 79 Volkszählungen 1961 und 1971 nach : Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, 1965 und 1975. 80 Die beschäftigte Wohnbevölkerung in der Inneren Stadt bestand im Jahr 1961 aus 16 808 Personen, 1971 hingegen aus nur noch 11 608 Personen. Statistisches Jahrbuch der Gemeinde Wien 1980, 25. 81 Schubert, Wien, 491. 82 Schubert, Wien, 505. 83 Vgl. dazu das Beispiel Gumpendorf ; Hans Hovorka, Leopold Redl, Ein Stadtviertel verändert sich, Wien 1987. 84 Die Arbeitsstättenzählung vom 10. Oktober 1973 in Wien, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1978. 85 Wirtschaftsabteilungen 3/4/5 gemäß der Betriebssystematik von 1968. 86 Meißl, Industrie, 308. 87 Eigner/Weigl, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum, 218. 88 Elisabeth Lichtenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City, Wien 1977, 323. 89 Eigner/Matis/Resch, Sozialer Wohnbau in Wien, 76f ; Bihl, Wien 1945–2005, 590ff. 90 Renate Banik-Schweitzer, Leopold Redl, Peter Wünschmann, Das lange Warten auf die kurze Reise. Der öffentliche Verkehr, in : Wien wirklich. Der Stadtführer, hg. von Renate Banik-Schweitzer u. a., Wien 1992, 64f. 91 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 31. 92 Volkszählungen 1971 und 1981 : Beschäftigte am Arbeitsort. 93 Vgl. Franz Köppl u. a., Arbeiten in Wien, Wien, o.J., 9ff. 94 Die Wiener Arbeitsstätten am 12. Mai 1981, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1985. Für quellenkritische Anmerkungen zu den Arbeitsstättenzählungen siehe Meißl, Arbeitsort Wien ; ders., Ökonomie und Urbanität, 693f. 95 Die Differenzen zwischen den Zahlenangaben zu den Beschäftigten laut Volkszählung bzw. Arbeitsstättenzählung werden vom statistischen Zentralamt mit folgenden Argumenten erklärt : 1. Die Volks zählungsbögen werden von den »Zensiten« selbst, die Bögen der Arbeitsstättenzählung hingegen von den Leitern der Arbeitsstätten ausgefüllt. 2. Manche Zensiten aus Niederösterreich gaben bei der Volks zählung den Wiener Hauptsitz ihres Arbeitgebers an, obwohl sich ihre Arbeitsstätte in Niederösterreich befand. 3. Bei der Arbeitsstättenzählung erfolgt die Angabe eher am Monatsanfang oder Monatsende, bei der Volkszählung eher im Zeitraum des Stichtages. 4. Im Rahmen der Arbeitsstättenzählung werden teilweise die Beschäftigten mit Werkvertrag sowie Konsulenten, Teilzeitbeschäftigte, vorübergehend im Ausland Beschäftigte und auch das fahrende Personal nur unvollständig angegeben. 5. Im Rahmen der Arbeitsstättenzählung werden vor allem im Bereich der gewerblichen Wirtschaft von Kiosk- und Tankstelleninhabern, Taxiunternehmern oder anderen selbstständig Tätigen sehr häufig keine Erhebungsunterlagen ausgefüllt. Weiters trat eine Untererfassung der Beschäftigten im Baugewerbe auf. 6. Eine gewisse Untererfassung war bei der Arbeitsstättenzählung auch im öffentlichen Sektor sowie im Bereich der diplomatischen Vertretungen festzustellen. (Vgl. Die Wiener Arbeitsstätten am 12. Mai 1981, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1985, Xff.) Daher sind all diese Zählungen mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren, wenngleich sie die grundlegenden Trends sicher richtig wiedergeben. 96 Satzinger, Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 52. 97 Vgl. Elfriede Lichtenberger, Industrieansiedlungen im Wiener Raum, Diplomarbeit WU Wien, Wien 1978, 68 und 80. 98 Herbert Binder, Räumliche Entwicklung der Arbeitsstätten, in : der aufbau 2/3 (1982), 86. 99 Schubert, Wien, 526.
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100 Vgl. der aufbau 2/3 (1982). 101 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 699 bzw. 701. 102 Binder, Räumliche Entwicklung, 84, 87. 103 Eigner/Weigl, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum, 232 ; Lichtenberger, Industrieansiedlungen, 84f. und 98ff. 104 Andreas Resch, BÜRGES Förderungsbank. 40 Jahre Förderung österreichischer Klein- und Mittel betriebe (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Band 1), Wien 1996, 23 ; Helmut Dorn, Eine Strukturanalyse des dreistufigen öffentlichen Haftungssystems, in : Österreichisches BankArchiv, 1974, Heft 3 ; Anton Schmoll, Das System der direkten Investitionsförderung im Gewerbe. Eine betriebswirtschaftliche Analyse (Österreichische Bankwissenschaftliche Gesellschaft, Schriftenreihe, Heft 62), Wien 1984, 36ff. 105 Lichtenberger, Industrieansiedlungen, 86. 106 Robert Wolfgring, Der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, in : der aufbau 1 (1983), 13. 107 Vgl. Peter Szopo, Karl Aiginger, Gerhard Lehner, Ziele, Instrumente und Effizienz der Investitions förderung in Österreich, Wien 1985, 202ff. 108 Lichtenberger, Industrieansiedlungen, 87f. 109 Wohnungszählungen 1961, 1971, 1981. 110 Walter Matznetter, Wohnbauträger zwischen Staat und Markt. Strukturen des Sozialen Wohnungsbaus in Wien, Frankfurt am Main, New York 1991, 201. 111 Robert Kretschmann, Revitalisierung Spittelberg, Wien 1983 ; Bernhard Kauntz, Wien 7, Spittelberg. Ein altes Vergnügungs- und Kulturviertel, Wien 2005 ; Julia Fellinger, Doris Jecel, Stefan Kammerer, Kunst findet Stadt. Die Entstehung des »Kunst- und Kulturviertels« im Stadtteil Spittelberg, in : Andrea Grisold, Elfie Miklautz, Andreas Resch (Hg.), Kreativ in Wien. Vierzehn Fallstudien im Spannungsfeld von Ökonomie und Kunst, Wien, Berlin 2011, 269–287. 112 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 53. 113 Schubert, Wien, 558. 114 Siegfried Mattl, Die lauen Jahre. Wien 1978–1985, in : Martin W. Drexler, Markus Eiblmayr, Franziska Maderthaner (Hg.), Idealzone Wien. Die schnellen Jahre (1978–1985), Wien 1998, 85. 115 Eigner/Weigl, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum, 224. 116 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 54. 117 Vgl. dazu Peter Eigner, Wie(n) neu ! Die urbane Renaissance Wiens 1975–2010, in : Peter Berger, Peter Eigner, Andreas Resch (Hg.), Die vielen Gesichter des wirtschaftlichen Wandels. Beiträge zur Innova tionsgeschichte. Festschrift für Dieter Stiefel, Wien 2011, 181–201 ; Mattl, Wien im 20. Jahrhundert, 83ff ; Meißl, Ökonomie und Urbanität, 710. 118 Daten für 1995 laut Bevölkerungsfortschreibung : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, 45. 119 http ://www.wien.gv.at/statistik/bevoelkerung/demographie/index.html. 120 Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2010 121 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 30f. 122 Die Geburtenrate lag 1985 bei 9,6, im Jahr 1990 bei 10,7, die Sterberate sank von 15,8 (1985) auf 13,7 (1990). Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1995, 49. Die Anzahl der Todesfälle überwog die Anzahl der Geburten in den Jahren 1961 bis 1971 um 76 127, im Jahrzehnt bis 1981 um 117.256 und von 1981 bis 1991 nur noch um 77.167. Ritter, Die Bevölkerung Wiens, 6. 123 Volkszählungen 1981, 1991 und 2001 : Beschäftigte am Arbeitsort. Für das Jahr 2009 erhob die Statistik Austria 964.400 in Wien aktive Erwerbstätige, was im Vergleich zum Ergebnis der Volkszählung 2001 (Arbeitsbevölkerung : 837.173) auf eine erhebliche Steigerung schließen lässt, wenngleich die Zahlen mit unterschiedlichen Methoden generiert wurden.
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124 Volkszählungen 1981 und 1991 : Beschäftigte am Arbeitsort. 125 Arbeitsstättenzählung in Wien vom 15. Mai 1991, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1995. 126 Z.B. 1982 Eröffnung eines General Motors Werks. 127 Z.B. sukzessiver Ausbau des Zentrums der Siemens AG Österreich. Vgl. Andreas Resch, Reinhold Hofer, Österreichische Innovationsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert, Innsbruck, Wien, Bozen 2010, 232f ; Julia Kleindienst, Siemens in Österreich, Wien 2004. 128 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 70. 129 Ein Teil dieser Zuwächse verdankte sich wie bereits Ende der siebziger Jahre der Überbauung des Franz Josefs-Bahnhofs und der Errichtung eines technischen Zentrums der Creditanstalt auf diesem Gelände. 130 Mattl, Die lauen Jahre, 85ff. 131 Walter Skopalik, Stadtentwicklungsplanung – auch in Zeiten wie diesen, in : der aufbau 2/3 (1982), 45. 132 Georg Kotyza, Stadtentwicklungsplan 1994 – Kurzfassung, in : Perspektiven 10 (1994). 133 Peter Mayerhofer, Gerhard Palme, Regionales Wirtschaftskonzept für die Agglomeration Wien (Wien und Umland) (Österreichische Raumordnungskonferenz [ÖROK], Schriftenreihe, Nr. 118), Wien 1994, 97. 134 Kotyza, Stadtentwicklungsplan 94, 15. 135 Vgl. dazu Gottfried Pirhofer, Kurt Stimmer, Pläne für Wien – Theorie und Praxis der Wiener Stadtplanung 1945 bis 2005. https ://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/grundlagen/planungsgeschichte.html (21.7.2011). 136 Arbeitskreis Stadtentwicklungsplan, in : der aufbau 2/3 1982, 53. 137 Stadtentwicklungsplan Wien (1984), Wien 1985, 48. 138 Kotyza, Stadtentwicklungsplan 94, 27f. 139 Aiginger, Von der Mitte aus. 140 Renate Banik-Schweitzer, Wien, wie es wurde, in : Wien wirklich, 28. 141 Kotyza, Stadtentwicklungsplan 94, 47. 142 Vgl. Karl Aiginger, Plädoyer für eine industriepolitische Vision, in : Die Presse, 17.10.1988 ; Resch, BÜRGES, 26ff ; Erich W. Streissler, Werner Neudeck, Wachstums- und Umweltpolitik, in : Ewald Nowotny, Georg Winckler (Hg.), Grundzüge der Wirtschaftspolitik in Österreich, Wien 1994, 192ff ; Peter Szopo, Direkte Wirtschaftsförderung in Österreich. Reformimpulse durch Budgetkonsolidierung und EG-Integration (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen), Wien 1990. 143 Robert Wolfgring, Der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, in : der aufbau 1 (1983), 12ff. 144 Robert Wolfgring, Drei Jahre Betriebsansiedlung durch den Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, in : der aufbau 3 (1985), 135ff. 145 Peter Mayerhofer, Wirtschaftsförderung in Wien (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien), Wien 1994 ; Lehner/Mayerhofer/Palme, Strukturanalyse des Wiener Budgets, 61ff. 146 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, Tab. 7.11, 153. 147 Hedwig Lutz, Michael Wagner, Gewerbebetriebe im dichtverbauten Gebiet, in : Perspektiven Jg. 45 (1990), 64f. 148 Matznetter, Wohnbauträger. 149 Wohnungen mit automatischer Heizung, Badezimmer und WC im Wohnungsverband. 150 Banik-Schweitzer, Wien, wie es wurde, 28. 151 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jahrgänge. 152 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 711. 153 Rathaus-Korrespondenz vom 26.11.1998. 154 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1996, 216.
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155 Banik-Schweitzer/Redl/Wünschmann, Das lange Warten auf die kurze Reise, 67 ; Arnold Klotz, Ein neues Verkehrskonzept für Wien, in : Perspektiven 8 (1994), 3ff. 156 Klotz, Ein neues Verkehrskonzept für Wien, 6. 157 Das Wiener Verkehrskonzept 1994 wurde 2003 im Rahmen eines neuen »Masterplan Verkehr« dem geänderten Bedarf angepasst. Für aktuelle Angaben zum Wiener Straßennetz siehe etwa http ://www.wien. gv.at/verkehr/strassen/fakten/ (15.5.2011). 158 Vgl. Brigitte Rigele, Müllabfuhr, in : Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 4, 312ff ; Gerhard Vogel, Wiens Strategien in der Abfallwirtschaft, in : Perspektiven 6/7 (1994), 44ff ; Perspektiven 1 (1995) ; Thomas Friedrich, Abfallwirtschaft in Wien – Analyse ihrer Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des wirtschaftlichen, politischen und technischen Wandels sowie der Stadtentwicklung seit dem 19. Jahrhundert, Dissertation WU Wien 2006. 159 Vgl. dazu und im Folgenden Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, Tab. 19, 46 bzw. 48f. 160 Meißl, Arbeitsort Wien, 26. 161 Zahlen nach Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger. 162 Dazu und im Folgenden Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 49. 163 Daten nach Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 47f. Generell zur Entwicklung des Wiener Arbeitsmarktes nach 1945 : Pokay/Weigl, Wiener Arbeitsmarkt. 164 Hellmut Ritter, Berufstätigkeit und Ausbildung der Wiener Bevölkerung, in : Statistische Mitteilungen 1/95, 9f. 165 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, Tab. 6.02, 126. 166 Daten für 1996 : Wien online, Magistrat der Stadt Wien. 167 Vgl. dazu und im Folgenden Gerhard Meißl, Gewerbe, in : Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 2, 529ff. 168 Ausch, Wien und die Wirtschaft, 119f. 169 Vgl. dazu Bernd Marin, Unternehmerorganisationen im Verbändestaat, Bd. I, Politik der Bauwirt schaft in Österreich, Wien 1986 ; Herbert Matis, Dieter Stiefel, »Mit der vereinigten Kraft des Capitals, des Credits und der Technik …«. Die Geschichte des österreichischen Bauwesens am Beispiel der Allgemeinen Baugesellschaft – A. Porr AG, Band II, Wien 1994, 103ff ; Peter Eigner, Andreas Resch, Stadtplanung und Bauwirtschaft, in : Amt, Macht, Stadt. Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt (Architektur Zentrum Wien), Wien 1999, 72ff ; Andreas Resch, Unternehmenskultur und Unterneh mensentwicklung im Konzern der Allgemeinen Baugesellschaft – A. Porr AG, in : Corporate Identity und Geschichtsbewußtsein, hg. von Alois Mosser (Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, 16), Wien 1994, 49ff. 170 Die Gemeinde Wien als der größte Bauherr Wiens verfügt(e) über eine Reihe von Unternehmungen (z. B. Vereinigte Baustoff- und Betonsteinwerke AG, Gesiba, Wibeba, Teerag AG), die es der Stadtver waltung ermöglichten, preisregulierend in der Bauwirtschaft zu wirken. 171 Dazu und im Folgenden Köppl u. a., Arbeiten in Wien, 17f, 127ff. 172 Vgl. dazu und im folgenden Meißl, Arbeitsort Wien, 14 ; Michael Mesch, Beschäftigungsentwicklung und -struktur im Raum Wien 1970–1989, in : Wirtschaft und Gesellschaft 1989, 361ff. 173 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 109ff. 174 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 114. 175 Lehner/Mayerhofer/Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets, Übersicht 28. 176 Vgl. dazu Peter Eigner, Konzentration, Privatisierung und Internationalisierung : Österreichs Banken seit den 1990er Jahren, in : Andreas Resch (Hg.), Kartelle in Österreich. Historische Entwicklungen, Wettbewerbspolitik und strukturelle Aspekte (Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Bd. 23), Wien 2003, 187–211.
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177 Wenige Jahre später (1997) erfolgte der Zusammenschluss mit der Creditanstalt zur BA/CA Gruppe (Fusion 2002), im Jahr 2000 erfolgte der Zusammenschluss mit der deutschen HypoVereinsbank. Ende 2005 wurde die Bank Austria Creditanstalt Mitglied der Uni Credit Group. 178 Reinhard Moser, Reiner Springer, Helmut Gaisbauer, Ostkompetenz Österreichs in der Europäischen Union. Studie im Auftrag der Deutschen Handelskammer in Österreich, Wien 1996, 29ff. 179 Liste der in Wien ansässigen UNO-Organisationen bzw. sonstiger internationaler Organisationen siehe Bihl, Wien 1945–2005, 645ff. 180 Vgl. dazu Andreas Weigl, Längerfristige Trends und Perspektiven des Wiener Tourismus, in : Schmee/ Weigl (Hg.), Wiener Wirtschaft 1945–1998. 181 Als Hauptmotive für den Wien-Besuch wurden im Sommer 1995 zu 84 Prozent die Sicherheit, zu 83 Prozent Kultur, zu 76 Prozent die traditionelle Wiener Küche genannt, weiters Umwelt (64 Prozent) und Lebensart (63 Protent), siehe Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1995, 237. 182 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Gerhard Meißl, Handel, in : Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 3, 43f. 183 Zwischen 1953 und 1962 sperrten rund 4200 von 16 500 Kleinverkaufsstellen für Lebensmittel zu, vgl. Ausch, Wien und die Wirtschaft, 120 ; zwischen den Arbeitsstättenzählungen 1964 und 1973 verringerte sich die Zahl der Lebensmittel-Einzelhandelsbetriebe um ein Drittel. Meißl, Ökonomie und Urbanität, 689. 184 Zeittafel zur Expansion des Billa-Konzerns vgl. Peter Eigner, (Detail)Handel und Konsum in Österreich im 20. Jahrhundert. Die Geschichte einer Wechselbeziehung. in : Susanne Breuss, Franz X. Eder (Hg.), Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 2006, 60. 185 Das erste Einkaufszentrum Wiens war 1957 das AEZ, es wurde noch in unmittelbarer Stadtnähe beim Bahnhof Wien-Mitte errichtet, 1964 folgte das EKAZENT Hietzing. 186 Das Kaufhaus Gerngross hat bis heute überlebt, Stafa wurde nach mehreren Besitzwechseln zum Einkaufszentrum »LaStafa«, das Warenhaus Herzmansky wurde 1997 geschlossen, seit 1998 befindet sich an seiner Stelle eine Filiale von Peek & Cloppenburg. 187 Verwirklicht wurde ein derartiges Projekt im Prater, auch über dem Bahnhof Wien-Mitte wird an die Errichtung eines Urban Entertainment Center gedacht, hier ist ein Mix aus begehrten Markengeschäften, Gastronomiebetrieben, Kinos und anderen Unterhaltungsstätten vorgesehen. 188 Daten nach Wiener Bezirksdaten, Band 1. Bezirk – Innere Stadt, hg. vom Wiener Magistrat, Magistratsdirektion – Koordinationsbüro und MA 66, Wien 1995. 189 In die Untersuchung wurden folgende Städte einbezogen : Amsterdam, Athen, Barcelona, Birmingham, Bologna, Bordeaux, Brüssel, Cardiff, Dublin, Düsseldorf, Edinburgh, Frankfurt, Glasgow, Hamburg, Helsinki, Köln, Kopenhagen, Lille, Lissabon, London, Lyon, Madrid, Mailand, Manchester, Marseille, München, Oslo, Paris, Rom, Rotterdam, Stockholm, Straßburg, Stuttgart, Turin, Utrecht, Wien. Vgl. Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 48ff. 190 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 115f, 125ff. 191 Derartige positive externe Effekte durch Zusammenballungen können der Häufung und Konzentration in einzelnen Branchen zuzurechnen sein (localization economies) oder überhaupt der Häufung wirtschaftlicher Aktivitäten in großstädtischen Regionen (urbanization economies). Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 86. 192 Jan Stankowsky, Yvonne Wolfmayr-Schnitzer, unter Mitarbeit von Irene Fröhlich und Ursula Glauninger, Österreich als Standort für Ostzentralen (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Angelegenheiten), Wien 1996, 127. 193 Peter Mayerhofer, Yvonne Wolfmayr-Schnitzer, Wiens »neue« Rolle im europäischen Städtenetz : Chancen als spezialisiertes Dienstleistungszentrum in Mitteleuropa ?, in : Wirtschaft und Gesellschaft 22 (1996), 521.
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wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien 194 Stankowsky/Wolfmayr-Schnitzer, Österreich als Standort für Ostzentralen, 119f. 195 Mayerhofer/Wolfmayr-Schnitzer, Wiens »neue« Rolle, 534ff. 196 Eva Gaßner, Thomas Weninger, Wien und Europa, in : Handbuch der Stadt Wien 1998, II/1‑II/17. 197 Vgl. etwa STEP 94 ; Qualität verpflichtet. Innovationen für Wien. Strategieplan für Wien. Eine Initiative der Wiener Stadtregierung, Entwurf vom 1. Juni 1999 ; Norbert Geldner, Peter Havlik, Peter Mayerhofer, Wirtschaftliche Effekte einer EU-Osterweiterung auf den Raum Wien (Stadtplanung, 15), Wien 1997 ; Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien ; Mayerhofer/Palme, Regionales Wirtschaftskonzept für die Agglomeration Wien (Wien und Umland) ; Mayerhofer/Wolfmayr-Schnitzer, Wiens neue Rolle ; Moser/Springer/Gaisbauer, Ostkompetenz Österreichs in der Europäischen Union ; Stankowsky/ Wolfmayr-Schnitzer, Österreich als Standort für Ostzentralen. 198 Vgl. etwa : Tätigkeitsbericht. Transeuropäische Verkehrsnetze am Schnittpunkt Ost-West. Fachtagung, 8. Oktober 1997, Wien 1997 ; Das Transeuropäische Verkehrsnetz – TEN (Stadtplanung 16), Wien 1997 ; Qualität verpflichtet, Anhang »Strategische Projekte« ; Gaßner/Weninger, Wien und Europa, II/9. 199 Vgl. Qualität verpflichtet, Darstellungen im Anhang »Strategische Projekte«. 200 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien.
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fr anz x. eder
Vom wirtschaftlichen Mangel zum Konsumismus Haushaltsbudgets und privater Konsum in Wien, 1918–1995*
»K
onsumgesellschaft« – kaum ein anderer Begriff kennzeichnet moderne westliche Gesellschaften besser als dieser. Über die Auslegung und Konnotation des Begriffs gibt es jedoch unterschiedliche Meinungen.1 Im Allgemeinen wird mit »Konsumgesellschaft« eine in der bisherigen Geschichte einzigartige, ökonomische, soziale und kulturelle Erfolgsstory gemeint : Ab den Fünfzigerjahren entwickelte sich ein überaus reichhaltiges Waren- und Dienstleistungsangebot, das aufgrund steigender Löhne und Einkommen von den Verbraucher/inne/n auch nachgefragt und massenhaft konsumiert wurde. Relativer Wohlstand eines Großteils der Bevölkerung war die Folge. Parallel dazu gewannen die Freizeit gegenüber der Arbeitszeit und der Konsum gegenüber der Produktion immer mehr an Bedeutung. Mit der rasch wachsenden Produktion und Konsumtion von Waren und Dienstleistungen entstand eine allumfassende »Konsumkultur«, in der Bilder, Symbole und Deutungen den Gebrauch und Verbrauch von Waren und Dienstleistungen vermittelten und die Akteure an deren Glücksversprechungen orientierten. Der Begriff »Konsumgesellschaft« meint aber auch, dass es – anders als in den Zeiten des Mangels, als für die meisten Menschen die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse im Mittelpunkt stand – nun vermehrt darum ging, das Verlangen und damit die Nachfrage nach immer neuen Waren zu stimulieren. Zur Propagierung von Waren und Werten bildeten sich eigene Professionen und Institutionen, wie Werbeagenturen und Konsumentenverbände. Sie machten die »Konsument/inn/en« glauben, als (wahl)freie Akteure handeln und entscheiden zu können.2 Eine kritische Sicht der »Konsumgesellschaft« hat hier ihre Wurzeln : Obwohl, oder besser, gerade weil man in der »Massenkonsumgesellschaft« die freie Wahl des Konsumgegenstandes postulierte, wurden die Konsument/inn/ en bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und der Konstruktion ihrer Wünsche von Medien, Werbung und Design, von Geschmack, Stil und Mode beeinflusst und unterlagen so (auch) den Regulativen und Zwängen von Nachahmung und Distinktion.3 »Konsumkritisch« verhielten sich von Beginn an die meisten traditionellen Sinnproduzenten, etwa Kirchen und politische Parteien. Sie sahen sich durch den um sich greifenden »Konsumismus« in ihrer führenden Rolle als Werte- und Ideologievermittler bedroht. Die Frage des Habens trat an die Stelle der Frage nach dem Sein. Zunehmend bestimmte der Konsum spezifischer Produkte – und nicht mehr nur die 209
franz x. eder berufliche Stellung oder die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei – den sozialen und kulturellen Ort des Einzelnen in der Gesellschaft.4 Kritiker/innen des Konsumismus weisen aber auch darauf hin, dass seit den Achtzigerjahren nur mehr zwei Drittel der sogenannten »Wohlstandsgesellschaft« in der Lage sind, zu konsumieren, was sie wünschen. Steigende Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlte (Teilzeit-)Arbeit reduzieren die Einkommen und Haushaltsbudgets etwa eines Drittels der Bevölkerung und machen es zu »Modernisierungsverlierern«. Der vorliegende Beitrag nimmt diese komplexe Sicht der modernen »Konsumgesellschaft« auf und zeigt am Beispiel Wien, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg Haushaltsbudgets und Einkommen, Massenkonsum und Konsumkultur entwickelten. Dabei wird unter »Konsum« nicht nur der ökonomische Ge- und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen verstanden, sondern auch der soziale und kulturelle Umgang mit ihnen. »Konsument/inn/en« werden nicht als passive »Verbraucher/innen«, sondern als Akteure im Schnittpunkt wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Anforderungen, Handlungsmöglichkeiten und Aneignungspraktiken gesehen.5 Ein ausführlicher Rückblick in die Erste Republik und die Jahre des Zweiten Weltkriegs verdeutlicht, dass der »Konsument« und vor allem die »Konsumentin« bereits hier konstruiert wurden. Die Erfahrung von Mangel und Not wie die neuen Konsumverheißungen prägten dann das »Konsumieren« ab den Fünfzigerjahren. Rein ökonomisch betrachtet, konnte sich die Konsumgesellschaft in Wien wie in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem aus zwei Gründen entwickeln : Erstens, weil die wachsenden Reallöhne und -einkommen zu wachsenden Haushaltseinkommen und einem disponierbaren Einkommensanteil führten (Abb. 1 u. 2). Dem hohen Anteil an Transfereinkommen und sozialstaatlichen Leistungen kam dabei – im Vergleich zu manchen anderen europäischen Ländern oder auch den usa – besonderes Gewicht zu. Zweitens, weil aufgrund der enormen Produktivitätssteigerung in der industriellen Massenproduktion und durch den Import ausländischer Waren die meisten Konsumgüter in großer Zahl und wachsender Vielfalt zur Verfügung standen. Großes Warenangebot und disponible Haushaltsbudgets führten zu einer radikalen Veränderung in der privaten Haushaltsökonomie : Wie in allen modernen Konsumgesellschaften ging auch in Wien und Österreich der Anteil der Ausgaben für Ernährung, Wohnungserhaltung und Kleidung zurück ; hingegen stieg der Anteil der Ausgaben für Haushalts- und Unterhaltungsgeräte, Bildung und Erholung, Sport und Reisen, Verkehr und Transport.6 Begleitet wurde dies durch eine »Amerikanisierung« bzw. »Verwestlichung« der Konsumkultur : Auch wenn seit den Fünfzigerjahren immer wieder zum Konsum »österreichischer« Waren und Dienstleistungen aufgerufen wurde, waren es doch international vermarktete Bilder, Fantasien und Symbole, die auch hierzulande die Durchsetzung der Konsumkultur vorantrieben. Die Konsumträume trugen zur Verbreitung der »fordistischen 210
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Arbeitsmoral« bei. Die Arbeitskräfte nahmen die Anforderungen an Leistung und Arbeitsdisziplin, veränderte Arbeitsbedingungen und -inhalte usw. in Kauf, wenn sie sich durch hohe und sichere Einkommen, durch mehr Freizeit und Urlaub und ein wachsendes Konsumpotential entschädigt fühlten. Hieß das Motto bis in die Zwischenkriegszeit »Lebe, um zu arbeiten«, so galt jetzt, »Arbeite, um zu konsumieren«.7 Die weltweite Rezession der Siebzigerjahre setzte, durch die Politik des »Austrokeynesianismus« in Wien hinausgeschoben, erst Anfang der Achtzigerjahre ein. Den weiterhin hohen Einkommens- und Konsumniveaus der Bevölkerungsmehrheit standen nun unsichere und schlechte Einkommens- und Konsumverhältnisse einer Minderheit gegenüber. Die »neue Armut« zeigte sich jetzt nicht mehr als Gefährdung des physischen Existenzminimums, sondern durch Ausgrenzung aus den Standards der Konsumgesellschaft. Nach der Konsumerhebung 1993/94 unterschritten rund 16 Prozent der Wiener Haushalte diese Schwelle.8
Armut, Mangel und die Verheißungen des Konsums (1918–1945) Armut und Mangel kennzeichneten viele Wiener Haushalte am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Nahrungsknappheit hatte Anfang 1919 ihren Höhepunkt erreicht, und angesichts der galoppierenden Inflation konnte die Lebensmittelversorgung nur mehr durch staatliche Subventionen gewährleistet werden. Glücklich schätzten sich in dieser Zeit all jene, die über einen Schrebergarten verfügten – im Jahr 1915 existierten in Wien 3.000, gegen Ende des Krieges 18.500 und im Dezember 1920 bereits 55.000 dieser Selbstversorgungseinrichtungen.9 Als Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit wurde im Jahr 1918 die Arbeitslosenunterstützung für alle Industriearbeiter und Angestellten eingeführt und 1920 in die Arbeitslosenversicherung umgewandelt. Weitere maßgebliche Verbesserungen für die soziale und arbeitsrechtliche Situation der Arbeitnehmer und ihrer Haushalte folgten : der 8-StundenTag bzw. die 48-Stunden-Woche, ein je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit einoder zweiwöchiger Urlaubsanspruch, die Regelung des Kollektivvertragsrechts, das (zahlreiche Privilegien enthaltende) Angestelltengesetz, das Mietrechtsgesetz mit Kündigungsschutz und der Regelung der Miethöhen, das Verbot der Nachtarbeit von Frauen und Kindern und die »Notstandaushilfe«. Die sozialen Reformen waren nicht nur Zeichen einer neuen Politik, sondern auch Ausdruck einer Wirtschaft, die durch den Krieg stärker gelitten hatte als in den meisten anderen europäischen Ländern. Die österreichische Volkswirtschaft konnte die Kriegsschäden, trotz eines realen Wachstums von durchschnittlich 4,8 Prozent (ausgenommen die Stabilisierungskrise 1922/23), bis zur Weltwirtschaftskrise nicht wieder gutmachen.10 Die durch die 211
franz x. eder Hyperinflation 1922 notwendig gewordene »Genfer Sanierung« trug ebenfalls zur Verschlechterung der Arbeitsmarktlage und der Einkommenssituation bei. Neben zahlreichen Steuer- und Tariferhöhungen kam es zur Reduktion des überdimensionalen Staatsapparates – rund ein Drittel der Staatsbeamten, nämlich 100 000 Personen, verloren in Österreich ihre Arbeitsplätze.11 Die Arbeitslosenrate stieg, nachdem sie von 1919 bis 1921 gesunken war, wieder an.12 In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre gingen in den österreichischen Betrieben weitere 150.000 Arbeitsplätze verloren. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen nahm stark zu.13 Positiv zu vermerken ist, dass der Verdienstzuwachs in diesem Zeitraum noch über der Inflationsrate lag.14 Die Weltwirtschaftskrise führte in Wien nur zu einer massiven Ausweitung der Arbeitslosigkeit. Ein Höchststand wurde 1933 erreicht, wobei rund die Hälfte der Arbeitslosen nun über einen längeren Zeitraum ohne Beschäftigung blieb. Dieser Wert verringerte sich bis 1937 nur langsam auf 21,7 Prozent.15 Ein massiver Verdienstrückgang lässt sich in dieser Zeit sowohl bei den Mindestlöhnen als auch bei den tatsächlich ausbezahlten Stundenverdiensten feststellen : So blieben etwa in der Wiener Metallindustrie die Löhne einzelner Berufsgruppen zu Beginn der Dreißigerjahre recht stabil bzw. erhöhten sich sogar leicht, fielen dann aber bis 1937 um zehn bis zwanzig Prozent.16 Die schlechte Einkommenssituation und die hohe Arbeitslosigkeit – die Statistiken verschweigen noch dazu die verdeckte Arbeitslosigkeit jener Jugendlichen, die überhaupt nie einen Arbeitsplatz fanden – hatten direkte Auswirkungen auf die Budgets der Privathaushalte. Aufgrund der in den Jahren 1925 bis 1934 von der Wiener Arbeiterkammer durchgeführten Erhebungen über den Lebensstandard der Wiener Arbeiter- und Angestelltenfamilien lassen sich Näherungswerte angeben17, zum einen über die Zusammensetzung der Haushaltseinkommen (Abb. 3.1) : In den untersuchten Haushalten von Arbeitern, Angestellten, Sozialrentnern und Arbeitslosen18 ging der Anteil des Arbeitseinkommens des Mannes, das noch in den Jahren 1926 bis 1931 zwischen 59 und 65 Prozent des Gesamteinkommens ausgemacht hatte, bis 1934 auf rund 54 Prozent zurück. Neben den Einkommen der Frauen und Kinder waren es Pensionen, Krankengeld, Arbeitslosengeld, Unterstützungen und Versicherungen, die im Gegenzug anstiegen. Bezeichnenderweise reduzierten sich in diesem Zeitraum auch die betrieblichen Vorschüsse und Warenkredite. Die Anteile des Männereinkommens konnten in unteren Einkommensgruppen noch wesentlich geringer ausfallen : 1929 brachten die sehr schlecht verdienenden Männer nur 15,6 Prozent, 1934 sogar nur 4,7 Prozent des gemeinsamen Einkommens ein. Der Beitrag der Frauen zum Haushaltsbudget war in diesen Gruppen relativ hoch, nämlich 25,0 (1929) und 21,4 Prozent (1934) ; den großen Rest machten Unterstützungen und Ähnliches aus. Nicht erfasst wurden in diesen Aufzeichnungen jene Naturaleinkünfte, die von einzelnen Haushaltsmitgliedern als Entgelt für häusliche oder außerhäusliche Arbeiten eingebracht wurden oder 212
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus gar durch das »Organisieren« von Nahrungsmitteln, Brennstoffen etc. dem Haushalt zugute kamen.19 Auch die Erträge von Schrebergärten wurden, wie das Beispiel der Familie von Engelbert R. zeigt, wieder zu einem zentralen Faktor : »Mein Großvater war 9 Jahre obdachlos und daher ausgesteuert, wie man es nannte, daher ohne Einkünfte. Da war es ein Glück, daß meine Großmutter eine kleine Invalidenpension, von der man natürlich nicht leben konnte, hatte. Auf der anderen Seite war der Schrebergarten unverzichtbar. Alle Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Gemüse und Erdbeeren und anderes Obst konnte man ernten. Die ersten Erdbeeren wurden verkauft und auch Frühgemüse sorgten für eine bescheidene Einnahme. Um gute Ernte zu erzielen brauchte man Dünger. Großvater machte sich in der Früh mit Besen, Schaufel und Leiterwagerl auf den Weg um Roßmist (Pferdemist) zu sammeln. (…) Auch die Hasenzucht im Schrebergarten besserte den Speisezettel damals auf.«20 Dass all diese Beiträge zum Überleben vieler Haushalte notwendig waren, zeigt die Ausgabenseite der Budgets. Wie bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg machte der Anteil der Nahrungsmittel 1925 über die Hälfte der Ausgaben (56 Prozent) aus, er ging bis 1931 auf 46,6 Prozent zurück und stieg Mitte der Dreißigerjahre wieder auf 48 bzw. 49 Prozent (Abb. 4). Auch in den Wiener Arbeitnehmerhaushalten beeinflussten die Einkommensänderungen die Struktur der Ausgaben : Bei Rückgang des Haushaltseinkommens erhöhten sie die Ernährungsanteile und umgekehrt. Auch innerhalb der Nahrungsmittelausgaben kam es zu Verschiebungen. Bis zum Jahr 1930 gingen jene Ernährungsausgaben, die für die Mangelökonomie typisch waren, leicht zurück, um mit der Verschlechterung der Wirtschaft und der steigenden Arbeitslosigkeit wieder anzusteigen (Tab. 1.1 u. 2.1). Getreideerzeugnisse wie Mehl und Brot, aber auch Kartoffeln, Filz und Speck, Zucker und Kaffee bestimmten in der Weltwirtschaftskrise den Speisezettel vieler Wiener und Wienerinnen. Umgekehrt ging der Anteil und Pro-Kopf-Verbrauch höherwertiger Nahrungs- und Genussmittel wie Fleisch, Milch, Eier oder Alkoholwaren zurück. Der Verbrauch von Bier halbierte sich sogar. Die Haushalte der Arbeitslosen zogen dabei das weitaus schlechteste Los : Bei höherwertigen Lebensmitteln wie Fleisch, Milchprodukten, Obst, Eiern etc. lag ihr Pro-Kopf-Verbrauch deutlich hinter dem der Haushalte von Beschäftigten, bei billigen Nahrungsmitteln wie Kartoffeln und Getreideerzeugnissen vor ihnen. Lebensgeschichtliche Untersuchungen haben gezeigt, dass von der Veränderung des Nahrungsmittelkonsums nicht alle Haushaltsmitglieder in gleicher Weise betroffen waren. Teurere Lebensmittel wie Fleisch, Genussmittel und der »Luxuskonsum« – und hier insbesondere der wöchentliche Wirtshausbesuch – blieben in den ärmeren Familien meist den Männern vorbehalten, billige Konsumgüter wie Brot, Erdäpfel oder auch (Ersatz-)Kaffee und Zucker waren die tägliche Nahrung von Frauen und Kindern.21 Käthe Leichter eruierte, dass fast die Hälfte der von ihr befragten Industriearbeiterinnen überhaupt kein Fleisch 213
franz x. eder konsumierte.22 Gerade in den von Mangel geprägten Haushalten kam dem Verzehr von Genussmitteln, wie etwa Süßigkeiten für die Kinder, eine besonders große Bedeutung zu. Im Vergleich zu bürgerlichen Konsummustern war das proletarische Konsumieren eingeschränkter und karger, gleichzeitig aber auch verausgabender und dies sowohl im Anteil der Genussmittel als auch beim Verbrauch geschmacksintensiver Produkte wie etwa billigen Fetten.23 Nach dem großen Posten »Nahrungsmittel« folgten die Wohnungsausgaben. Hier ist vor allem der gegenüber der Vorkriegszeit extrem niedrige Anteil der Wohnungsmieten und der Wohnungsinstandhaltung bemerkenswert (Abb. 4) : Mussten die Wiener Arbeitnehmer 1912/14 noch 14,2 Prozent ihrer Verbrauchsausgaben für diesen Posten verwenden, so reduzierte sich sein Anteil durch die gesetzliche Mietzinsregelung im Jahr 1925 auf 2,4 Prozent. Arbeitslosigkeit und Lohnverfall ließen den Mietaufwand in den Dreißigerjahren (1935 : 9,4 Prozent) wieder stärker ins Gewicht fallen. Für Bekleidung, für Bettzeug und Teppiche gab man in diesen Jahren immer weniger aus. Angesichts der zunehmenden Kosten von Nahrungsmitteln und Mieten war es unumgänglich, die meisten dieser Produkte selbst herzustellen. Die Einrichtung der Wohnung und die Anschaffung der Haushaltsgegenstände mussten – nach einem kurzen Anstieg dieser Ausgaben auf 4,5 Prozent – in der Mangelökonomie ebenfalls zurücktreten. Auch wenn das allgemeine Motto Sparen lautete, kam es in der Zwischenkriegszeit in vielen Haushalten auch zu bedeutenden Neuerungen. So wollte die Gemeinde Wien »In jeden Haushalt Gas und Strom« – so Titel der Energieversorgungsaktion – bringen. Für viele ließen sich die Verheißungen der neuen Zeit aber kaum realisieren. Karl Klein, der 1908 geborene Sohn eines Wiener Straßenbahners, erlebte die »limitierte« Technisierung des elterlichen Haushalts folgendermaßen : »Als wir 1923 die erste Fünfundzwanziger-Birne einschalteten, war dies eine Festbeleuchtung – nie mehr Petroleumlampen reinigen, nachfüllen, Docht schneiden. (…) Gleichzeitig kam auch das Gas in die Wohnung. Auf dem Herd wurden ein Rechaud und eine Gasbackröhre aufgestellt, vor allem für die Frauen eine ungeheure Entlastung ; keine Holzspandeln (Holzspäne), kein Kohleschleppen aus dem Keller, kein Ascheräumen, kein Staub und Ruß. Allmählich entwickelte sich eine Industrie für eine Vielfalt von Elektrogeräten und Hilfen für den Haushalt. Leider wurde die Arbeitslosigkeit größer, und man konnte die Geräte nicht kaufen.«24 Einige der neuen Haushaltsgeräte waren von so großem Nutzen, dass man sie, wenn irgendwie möglich, anschaffte. Ganz oben auf der Liste stand das elektrische Bügeleisen. Die Familie von Grete Witeschnik-Edlbacher konnte sich eines leisten, nachdem 1924 in den Häusern der Fasangasse der Strom eingeleitet wurde. Die Vorteile des elektrischen Bügelns lagen auf der Hand : »Nun gab es auch Steckdosen für das neue Bügeleisen. ›Elektra Bregenz‹ stand darauf. Schluß mit dem Heizen von Holzkohle, die im Sommer immer vor der Wohnungstüre auf dem Gang hin- und 214
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus hergeschwungen werden mußte, um sie in Glut zu bringen. Schluß mit dem hochglühenden Stahlstück, das im Winter mit dem Schürhaken aus der Ofenglut gezogen und mit großer Geschicklichkeit in den hohlen Leib eines Bügeleisens gesteckt wurde !«25 Viele der heute gängigen Haushaltsgeräte wie elektrische Kühlschränke oder Waschmaschinen blieben jedoch bis zum Beginn der Massenproduktion in den späten Fünfziger- und in den Sechzigerjahren Luxusartikel. Auch das Telefon fand sich bloß in recht wohlhabenden Haushalten und vor allem in Betrieben (von 1923 bis 1937 stieg die Zahl der Hauptanschlüsse immerhin von 90.000 auf 132.000).26 Personenkraftwagen, von denen 1936 rund 15.000 (inklusive Taxis) auf Wiens Straßen unterwegs waren, galten weiterhin als Inbegriff des Luxus. Motorräder, 1936 immerhin fast 17.000 Fahrzeuge, waren für die meisten Bewohner ebenfalls unerschwinglich. Das Wiener Massenverkehrsmittel blieb in der Zwischenkriegszeit neben der Straßenbahn weiterhin das Fahrrad (250.000 Stück).27 Der Mangel an allem und jedem ist ein zentrales Thema lebensgeschichtlicher Erzählungen zur Zwischenkriegszeit. Zu ihm gehört auch, dass die Verwaltung der geringen Mittel meist ungleich verteilt war. Die Männer lieferten wöchentlich das »Wirtschaftsgeld« ab, behielten ein »Taschengeld« zurück und delegierten so die Verantwortung für die Gestaltung der Ausgaben und für die Verwaltung des Mangels an ihre Frauen.28 Streitigkeiten über sparsames Einkaufen und sinnvolle Anschaffungen standen in ärmeren Familien auf der Tagesordnung. Die Frage, wie denn richtig einzukaufen und zu verbrauchen sei, kennzeichnete auch den öffentlichen Diskurs über die ideale Verbraucherin, die »Konsumentin«. Mit ihrer Konstruktion erfolgten bereits in der Zwischenkriegszeit eine »ideologische Be- und Umwerbung wie auch Vorbereitung ›auf bessere Zeiten‹« und eine Einstimmung auf die massenhafte Suche nach dem gekauften Glück.29 Auch wenn sich noch die wenigsten Konsumwünsche realisieren ließen, wurden in dieser Zeit die geschlechtertypischen Grundzüge der modernen Konsumkultur entworfen, wobei die »Konsumentin«, und um sie drehte sich die Diskussion hauptsächlich, als ambivalentes Geschöpf vorgestellt wurde : Zum einen sah man in ihr die (wahl)freie Verbrauchsspezialistin, ihre Konsumtätigkeit als eine gesellschaftliche und private (Arbeits-)Leistung und als Teil der Professionalisierung der Haushaltsführung. Proletarische wie bürgerliche Hausfrauen sollten durch gezielten Einkauf – die eine in der Konsumgenossenschaft,30 die andere beim Greißler – und durch disziplinierten und sparsamen Verbrauch einen persönlichen Beitrag zur Verbesserung der volkswirtschaftlichen Lage leisten. Die imaginierte Konsumspezialistin sollte auch und besonders in einer Mangelökonomie für die Stabilisierung von Familie und Heim sorgen, wobei die Bestimmung der proletarischen Frau primär im sicheren Umgang mit dem Haushaltsbudget gesehen wurde ; bürgerliche Frauen hingegen sollten sich auf die nichtmaterielle Reproduktion und auf die Kultivierung des häuslichen Glücks und der familiären Harmonie 215
franz x. eder konzentrieren.31 Bei bürgerlichen Haushalten setzte man als selbstverständlich voraus, dass ausreichend Güter und Dienstleistungen – wie die Arbeitsleistung von Dienstmädchen, repräsentative Einrichtungsgegenstände oder teure Mittel zur Körperpflege – vorhanden waren. Als modernste Variante der Professionalisierung galt die »rationelle Haushaltsführung«, die tayloristische Zurichtung von Küche und Heim. Auf der Ausstellung »Der neue Haushalt« (1925) wurden all jene Produkte vorgestellt, die die rationelle Inszenierung des Haushaltes ermöglichen sollten :32 Abwasch, Elektrobügeleisen, Eiskasten, »Vacuum Cleaner«, elektrische Heizung und Heißwasserspeicher sollten die Hausfrauen aber nicht bloß entlasten, sondern auch die Produktivität ihrer Arbeit – etwa im Bereich von Reinlichkeit und Hygiene – steigern. Selbst wenn sich der durchschnittliche Haushalt diese Geräte erst viel später leisten konnte, gehörten sie ab jetzt zum Kanon jener Dinge, die ein besseres Leben versprachen. Die bürgerliche und proletarische »Konsumentin« wurde jedoch nicht nur als professionelle Verbraucherin konstruiert, sondern auch als eine, die den Verführungen der Warenwelt mehr oder weniger ausgeliefert war. Die sexuell konnotierte Verführungsmetapher tauchte dabei in ganz unterschiedlichem Kontext auf :33 So konnte die »Konsumentin« dem Glanz der Passagen und Auslagen genauso erliegen wie dem Geflüster von Hausierern oder den Versprechungen der Werbung. Der Verdacht des Konsumhedonismus wurde zum fixen Bestandteil der allzu leicht verführbaren und unkontrollierbaren »Konsumentin«. Als die großen Verführer wurden die Medien, insbesondere Radio, Film und Illustrierte, angesehen. Tatsächlich rückte der »schöne Schein«, die in Tagträumen und Fantasien aufbereitete Welt der Dinge in dieser Zeit sowohl akustisch als auch bildlich in die Lebenswelten ein. Der offizielle Radiobetrieb wurde in Österreich 1924 aufgenommen und transportierte die Sehnsucht nach der Überschreitung der sozialen und räumlichen Grenzen in eine schnell wachsende Zahl von Haushalten. Im Jahr 1930 gab es in Wien 263.000, 1937 bereits 292.000 registrierte Radioempfänger.34 Auch illustrierte Magazine und andere Presseprodukte generierten Konsumvisionen nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern. Und der Stummfilm, bald auch der Tonfilm, verwandelte die phantasierten Bedürfnisse in lebensecht »laufende Bilder«. Mitte der Zwanzigerjahre gab es in Wien rund 170 Kinos, in denen die Eintrittspreise so niedrig waren, dass sich nicht zuletzt die ärmere Bevölkerung den Besuch eines Lichtspieltheaters leisten konnte.35 Während des Zweiten Weltkriegs und besonders in den letzten Kriegsjahren vergrößerte sich die Kluft zwischen den Verbrauchsmöglichkeiten und den Konsumvisionen noch weiter. Haushaltseinkommen und -budgets und privater Konsum und Konsumkultur sind bislang für die ns-Zeit in Wien und Österreich kaum erforscht. Skizzenhafte Ausführungen müssen auch hier vorerst genügen. Nach dem »Anschluss« kam es durch die Rüstungswirtschaft und vermehrte öffentliche Inves216
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus titionen, aber auch durch die »Arisierungen«, durch die Verdrängung der jüdischen Bevölkerung vom Arbeitsmarkt und (ab 1941) durch den Einsatz von Zwangsarbeiter/inne/n zu einem raschen Wirtschaftswachstum und niedrigen Arbeitslosenzahlen.36 Auch wenn sich im kollektiven Gedächtnis die »Beschäftigungserfolge« der ns-Politik tief eingegraben haben, steht nach der jüngsten Forschung fest, dass sich die Ernährungs- und Verbrauchslage der Bevölkerung weiter verschlechterte. Noch dazu blieben manche Bevölkerungsgruppen gänzlich vom staatlichen Rationierungssystem ausgeschlossen. Das Wiener Institut für Wirtschaftsforschung stellte bereits 1941 – in einer begreiflicherweise als »streng geheim« eingestuften Studie – fest, dass die Lebenshaltungskosten der Wiener Bevölkerung seit dem Jahr 1938 durch Preissteigerung, Rationierung und Qualitätseinbußen ständig zugenommen hatten. Bezogen auf eine vierköpfige Arbeiterfamilie erhöhten sie sich in diesem Zeitraum um 31 bis 38 Prozent, das Realeinkommen ging um 24 bis 28 Prozent zurück. Untere Einkommensgruppen und damit die Käufer billigerer Nahrungsmittel wurden von der Preissteigerung und Rationierung am härtesten getroffen. Nicht ausreichend vorhandene Lebensmittel und Produkte minderer Qualität verteuerten sich überproportional oder mussten durch teurere Produkte ersetzt werden. Typisches Beispiel dafür sind Speckfilz, Schmalz und Milch, die durch die teurere Butter subs tituiert wurden.37 Insgesamt zwang die Rationierung zu einer weiteren Umstellung der Ernährungsgewohnheiten : Der Verbrauch von Fetten und Fleisch ging zurück, der Verbrauch von Kohlehydraten stieg an. Durch die Bewirtschaftung blieb kaum Spielraum für eine flexible Verbrauchsgestaltung, als Alternative standen in Wien am ehesten noch Kartoffeln zur Verfügung. Über die mindere Qualität rationierter Lebensmittel schrieb die 25-jährige Erna M. im Jahr 1942 in ihr Tagebuch : »Nun beginnt man schon den Krieg zu spüren. Das Brot wird plötzlich sehr schlecht, es klebt noch nach fünf Tagen und verursacht schreckliche Blähungen. Es gibt überhaupt kein Gemüse, manchmal vertrocknete Orangen und das Mehl ist dunkel. Wenn man Konservengemüse damit einbrennt, sieht es aus, als wenn alles voll Staub und Sand wäre. Wenn wir essen, haben wir nach einer Stunde Hunger, weil kein Fett dabei ist. Kartoffel werden als ganze serviert, weil sie zerkleinert zu viel Fett brauchen würden.«38 Je nach Verbraucher- und Familientyp lag der Kaloriengehalt der zugeteilten Rationen 1941 zwischen fünf und 26 Prozent unter dem Kalorienverbrauch von 1938. Wurden 1937 in Österreich durchschnittlich 3.200 Kalorien pro Kopf und Tag verbraucht, so ging der Nährwert der zugeteilten Rationen bis 1944 auf 2.000 Kalorien zurück und machte 1945 nur mehr 800 Kalorien aus.39 Neben den Nahrungsmitteln verteuerten sich in Wien zwischen 1938 und 1941 auch die Bekleidungswaren um rund 36 Prozent, Schuhe sogar um dreißig bis fünfzig Prozent. Mit dem Fortgang des Kriegs und fehlenden Rohstoffen wurden auch hier zunehmend Substitutionspro217
franz x. eder dukte wie etwa Zellstoffanzüge oder Holzschuhe verwendet. Bei der Verwaltung der Mangelökonomie gab es klare Abstufungen. Wenn das Einkommen aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr ausreichte, reduzierte man zuerst die Ausgaben für Haushaltsartikel, Möbel, Wasch- und Putzmittel, Erziehung, Erholung usw., dann folgten die Ausgaben für Bekleidung, und erst zuletzt sparte man bei den Lebensmitteln.
Überleben und Hoffen auf ein besseres Leben (1945–1953/54) Obwohl das Lebensmittelkartensystem in Wien beinahe bis zum Kriegsende aufrechterhalten wurde, verschlimmerte sich in den letzten Kriegsmonaten die Versorgungslage der Stadt dramatisch, und die zugeteilten Rationen konnten nicht mehr ausgegeben werden. Ein Großteil der verbliebenen Vorräte wurde von Truppen der abziehenden Deutschen Wehrmacht beschlagnahmt, vernichtet oder an die Bevölkerung verteilt. Nach dem Ende der Kämpfe am 13. April 1945 verteilten oder beschlagnahmten die sowjetischen Truppen die verbliebenen Depots.40 Nach dem Zusammenbruch der Verwaltung und der Zerstörung der städtischen Kommunikations- und Transportwege wurde die Nahrungsversorgung zur Überlebensaufgabe der Wienerinnen und Wiener. Frauen und Mädchen machten zu Kriegsende zwei Drittel, Ende 1945 noch rund sechzig Prozent der Bevölkerung aus.41 Für jene, die nicht über Geldmittel verfügten, um sich am boomenden Schwarzmarkt versorgen zu können, wurde Plündern, Hamstern, Tauschen und Betteln zur Nahrungsquelle. Besonders die unsicheren Tage nach der Besetzung Wiens waren von Hunger und Not geprägt. Die meisten der noch in der Stadt befindlichen Menschen lebten in Kellern und Bunkern und kamen nur zum Organisieren von Nahrungsmitteln aus ihren Verstecken. Karl R., der sich in diesen Wochen im 10. Bezirk aufhielt, schildert die bedrohliche Lage : »Es gab kein Gas, kein Licht. Es gab kein Wasser, da die Wasserleitungen bombardiert waren und man mußte es an Wasserstellen holen. Dort standen aber Russen, die Männer gefangennahmen, um sie als Treiber nach Ungarn zu benützen. Ich konnte nicht mehr raus, um Wasser zu holen. Jeder, der etwas Brennbares besaß, brachte es in die Waschküche, wo der Waschküchenofen gemeinsam angeheizt wurde und wir uns mehr oder minder unser ›Essen‹ kochen konnten. Das war sowieso sehr frugal. Ich hatte nichts zu verbrennen als ›Mein Kampf‹ von Hitler, den wir anläßlich unserer Hochzeit bekommen hatten.«42 Kinder und Jugendliche, wie die 11-jährige Christine P., mussten ebenfalls bei der Essensbeschaffung helfen : »Ganze Käseräder (Kuffnergasse Käsefabrik) versuchte man wegzurollen, während andere daneben herrannten, um ein Stück runterzuschneiden. Man 218
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus ging mit Brecheisen ebenso ans Werk, wie mit anderen scharfen Gegenständen. Wir haben eine Schachtel Eckerlkäs ergattert – zu Matsch getreten, aber eßbar. Wir versuchten unser Glück in der inneren Stadt und landeten bei der Urania. Dort lag ein erschossenes Pferd, und man raufte um das Fleisch, das man in Fetzen aus dem Tier riß. Einige werkelten mit dem Messer und kamen schneller zu ihrem Stück. Berge von Schuhkartons lagen inmitten des Chaos und wir sahen neugierig hinein. Schöne hochhackige Schuhe lagen unbeschädigt in den vielen Schachteln, die wir öffneten, aber nirgends fanden wir Essen.«43 Anfang Mai erfolgte die erste Lebensmittelverteilung durch die Rote Armee. Im Zuge der sogenannten »Mai«- oder »Erbsenspende« erhielt jede Person 20 dkg Bohnen, 20 dkg Erbsen, 5 dkg Speiseöl, 15 dkg Fleisch und 1/8 kg Zucker. In der Erinnerung mancher Wiener und Wienerinnen ist diese Gabe nicht nur mit positiven Gefühlen besetzt : »Brot war Mangelware in diesen Tagen«, erinnert sich etwa die damals 26-jährige Erna F. »Die Bäcker hatten wenig oder gar kein Mehl, um die hungernde Bevölkerung zu versorgen. Aus den wenigen Lebensmitteln, die wir noch im Hause hatten und die meine Mutter wie einen Schatz hütete, kochte sie Einbrennsuppe ohne Fett, Haferflockenlaibchen und solche aus Erbsen (letztere als milde Gabe der Russen), die wir allerdings am Abend zuvor in Wasser einweichen mußten, um am folgenden Tag die Käferchen aus den einzelnen Kügelchen leichter entfernen zu können, die sich darin eingenistet hatten.«44 »In der zweiten Maihälfte wurden die Brotrationen von 500 Gramm pro Kopf und Woche auf 1 Kilo erhöht. Brot wie auch Milch waren in diesen Wochen nur äußerst schwer zu bekommen. Die Wiener Molkereien konnten aufgrund mangelnder Zulieferung und fehlender Transportmöglichkeiten im Mai nur rund 3.000 bis 5.000 Liter Milch pro Tag ausfahren, eine Menge, die nicht einmal für die Säuglingsversorgung (bei einer Ration von einem Viertel Liter pro Kopf) reichte.«45 Nicht alle Bezirke waren von der Krise auf dieselbe Art und Weise betroffen. Am Stadtrand und in stärker agrarischen Bezirken herrschten eindeutig bessere Zulieferbedingungen als in den innerstädtischen und dicht verbauten Gegenden. Auch die Selbstversorgung aus dem eigenen Garten klappte dort besser, und die Bauern der Umgebung waren leichter zu erreichen. Nach den Schätzungen des Instituts für Wirtschaftsforschung brachten die Wiener Haushalte 1945/46 durch Selbstversorgung und »Organisieren« rund zwei Drittel der benötigten Nahrungsmittel auf, nur ein Drittel stammte aus offiziellen Zuteilungen.46 Ab 1. Juni übernahm die Rote Armee die Versorgung der Stadt. Die vorgesehenen Kalorien – zwischen 833 Kalorien für Normalverbraucher und 1.620 Kalorien für Schwerarbeiter – konnten aber meist nicht vollständig ausgegeben werden, da bei Fleisch und Fett Engpässe auftraten. Statt dieser Lebensmittel kamen Hülsenfrüchte aus Armeebeständen zur Verteilung.47 Im Herbst 1945 wurde die Lebensmittelver219
franz x. eder sorgung zur Aufgabe aller Besatzungsmächte, wobei jedes Land für die Aufbringung in seiner eigenen Zone verantwortlich war. Dabei kam es trotz nominal gleicher Zuteilungsrationen zu recht unterschiedlichen Ausgabemengen. Besonders die Unterschiede zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Zone blieben vielen Wienern und Wienerinnen im Gedächtnis. Hatte die sowjetische Besatzungsmacht von September 1945 bis Jänner 1946 37 Prozent der Wiener Bevölkerung zu versorgen und die amerikanische 21 Prozent, so wich die Menge der aufgebrachten Nahrungsmittel beträchtlich von diesem Verhältnis ab.48 Empfanden manche Wiener und Wienerinnen schon die sowjetische »Erbsengabe« als Danaergeschenk, so sprach man nun offen vom »Unglück, in der Russenzone zu wohnen«.49 Angesichts der allseits herrschenden Not erhielten die ersten Zeichen des »American way of life« eine besonders positive Konnotation : Amerikanische Zigaretten, Nylonstrümpfe, CocaCola oder Kaugummi waren nicht nur begehrte Tausch- und Zahlungsmittel, sondern galten auch als Vorboten eines neuen, modernen Lebens westlicher Prägung. Selbst wenn man keine Lucky Strike als Ersatzgeld anzubieten hatte, konnte man wie Karl R. auch mit Restbeständen österreichischer oder deutscher Zigaretten im Resselpark, dem größten Schwarzmarkt Wiens, ins Geschäft kommen : »Man lebte damals von der Hand in den Mund. Was sollte ich tun ? Ich tat das, was alle anderen auch taten. Ich sah mich einmal im Resselpark um, wo der ganze Schleichhandel florierte. Ich hatte natürlich nichts zu verkaufen, schaute mich aber um, was am meisten gehandelt wurde. Am meisten ging es verhältnismäßig um Lebensmittel, die ich natürlich nicht hatte, die ich brauchte, und um Zigaretten. Zigaretten hatte ich noch einen bescheidenen Vorrat, auch Feuersteine waren sehr gefragt. Ich ging in unsere Trafik. Die Trafikantin hatte sich dummerweise in die Partei einschreiben lassen und hatte ihr Geschäft schließen müssen. Sie besaß noch verschiedene Vorräte, aber nichts zu essen. Ich bekam von ihr ein paar Pakete Feuersteine und Zigaretten. Damit ging ich in den Resselpark und machte ganz gutes Geschäft für sie. Es war natürlich nicht sehr viel, aber für sie war es genügend. Ich brachte ihr Brot, Schmalz, Mehl und noch andere Lebensmittel. Dafür gab sie mir immer ein paar Zigaretten oder eine Schachtel Feuersteine, sodaß auch ich mein Auslangen hatte.«50 Die Alliiertenhilfe sah im Herbst 1945 1.549 Kalorien für Normalverbraucher vor, dazu kamen Kartoffelzuteilungen und Milchlieferungen aus Niederösterreich und dem Burgenland. Im Winter 1945/46 wurde die Versorgung Wiens immer schwieriger, die Vorräte des Umlandes waren aufgebraucht, und die Lieferungen der Alliierten trafen nur schleppend ein. Zu Weihnachten 1945 brachte Bundeskanzler Leopold Figl die katastrophale Ernährungslage des Landes in einem berühmt gewordenen Satz auf den Punkt : »Ich kann euch nichts geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden.«51 Die Versorgung verschlechterte sich dramatisch : Im März 1946 mussten die Rationen um zehn Prozent, im Mai um 220
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus weitere 17 Prozent gekürzt werden. Noch drastischer fiel der Rückgang bei Brot aus, nämlich um 15 Prozent im März, vierzig Prozent im April und sogar fünfzig Prozent im Mai. Die erhofften Kartoffellieferungen aus den umliegenden Bundesländern blieben nun völlig aus. In der »Mai-Krise« des Jahres 1946 wurde mit 950 Kalorien der Tiefststand erreicht. Die Fleischversorgung Wiens brach völlig zusammen, statt Frischfleisch wurden Suppenpulver, Hülsenfrüchte, Trockenei und manchmal auch Gemüse-Fleisch-Konserven aus Beständen der englischen und amerikanischen Armeen ausgegeben.52 Die Versorgungsprobleme konnten nur mehr mit internatio naler Hilfe bewältigt werden. Die unrr a-Hilfe (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) wurde im August 1945 auf Österreich ausgedehnt, erste Lieferungen trafen aber erst – wie auch die ersten care-Pakete (Cooperative for American Remittances for Europe) – im März 1946 in Wien ein. Sowohl in den Hilfsprogrammen als auch in der Lebensmittelbewirtschaftung trachtete man, billige Nahrungsmittel mit hohem Kalorienertrag, also primär Getreideprodukte und Hülsenfrüchte, zu verteilen.53 Ab Dezember 1946 wurde die Zuteilung sowohl der im Inland produzierten wie auch von Hilfsorganisationen gelieferten Nahrungsmittel an die österreichische Regierung übergeben. Die österreichische Selbstaufbringung blieb jedoch im Vergleich zur ausländischen Hilfe, insbesondere der unrr a-Hilfe, äußerst gering. Von Juli 1946 bis Juni 1947 war Wien zu rund achtzig Prozent von ausländischer Ernährungshilfe abhängig.54 Die gesamtösterreichische Situation war nur wenig besser : Bei einem (angenommenen) Verbrauch von 2.550 Kalorien pro Tag konnte die Landwirtschaft und Ernährungsindustrie des Landes nur 26 Prozent der benötigten Nahrungsmittel herstellen. Wie bereits im Jahr zuvor verschärfte sich deshalb nach dem strengen Winter 1946/47 die Ernährungssituation erneut. In den ersten drei Nachkriegsjahren mussten die Wiener Arbeitnehmerhaushalte 50 bis 53 Prozent ihrer Haushaltsausgaben für Nahrungs- und Genussmittel verwenden. Davon entfielen zwischen 18 und 22 Prozent auf Getreideprodukte und ebenso viel auf Gemüse, und hier vor allem auf Kartoffeln und Hülsenfrüchte (Abb. 1.1 u. 2.1). Der Anteil von Milchprodukten, von Fleisch und Wurst und von Kaffee, Tee und Schokolade war äußerst gering. Fischkonserven und künstliche Süßstoffe (der größte Posten der Speisezutaten) nahmen dafür einen vergleichsweise prominenten Platz ein. Das gilt auch für Alkoholika und Tabakwaren, beides Produkte, die man hauptsächlich auf dem Schwarzmarkt und deshalb zu sehr hohen Preisen erstand. Durch die Rationierung war man in der Gestaltung der Ausgaben wenig flexibel, die verbrauchten Nahrungsmittelmengen hingen von den Zuteilungen ab : Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Getreideerzeugnissen erreichte 1946 bis 1948 mit 143 bis 185 Kilo absolute Höchstwerte – dies nicht nur im Vergleich mit den nachfolgenden Jahrzehnten, sondern auch mit der Ersten Republik. Ähnliches gilt für den Verzehr von Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Viele Wiener und Wienerinnen 221
franz x. eder machten in diesen Jahren zum ersten Mal intensivere Bekanntschaft mit importierter Konservennahrung. So wurde überdurchschnittlich viel konserviertes Fleisch gegessen, von den fünf bis zehn Kilo verzehrtem Fisch kam ebenfalls ein Großteil aus der Dose. Besonders niedrig hingegen war der Verbrauch von Fleisch und Wurst, Milch, Eiern, Zucker und Obst. Insgesamt zeichnete sich bei den meisten Lebensmitteln im Jahr 1948 eine bessere Versorgung und leichte Qualitätssteigerung ab. Ab diesem Jahr konnte auch die Lebensmittelbewirtschaftung Schritt für Schritt abgebaut werden. 1948 erhielt Österreich über 100 Millionen Dollar Kongress- und Interimshilfe und trat dem Marshallplan (erp – European Recovery Program) bei, wodurch fast 200 Millionen Dollar direkt oder indirekt ins Land flossen (bis 1955 betrug die erp-Leistung beinahe eine Milliarde Dollar). Aufgrund der strategischen und wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzung der usa kam den unter sowjetischem Einfluss stehenden östlichen Bundesländern allerdings nur ein unterproportionaler Anteil zugute.55 Doch auch in Ostösterreich setzte ab 1948 ein starkes Wirtschaftswachstum ein, der Konjunkturaufschwung blieb in Wien aber deutlich hinter dem in den anderen Bundesländern zurück.56 Der »Wiederaufbau«57 der Lebensmittelversorgung zeigt sich besonders deutlich im veränderten Gesamtverbrauch. Sowohl die Wiener Schlachthöfe als auch die Märkte und Milchlieferanten konnten große Zuwächse verzeichnen.58 Mit dem Verbrauchszuwachs ging ein rapider Ausbau der Verkaufsstellen einher.59 Im Jahr 1950 wurden die Wienerinnen und Wiener zum ersten Mal mit einem neuen Ladentyp konfrontiert, der die weitere Entwicklung des Konsumverhaltens ganz massiv beeinflussen sollte : Die »Konsumgenossenschaft« eröffnete in diesem Jahr den ersten »Selbstbedienungsladen« der Stadt. Die Lebensmittelpreise entwickelten sich in den Nachkriegsjahren nicht einheitlich, einem relativ kräftigen Preisanstieg bei tierischen Produkten (drastisch bei Fleisch oder Schmalz) standen geringere Preiserhöhungen bei pflanzlichen Lebensmitteln (besonders deutlich bei Hülsenfrüchten oder Margarine) gegenüber. Mit dem Ende der Subventionierung und Bewirtschaftung zogen allerdings auch dort die Preise recht deutlich an. Massive Teuerungen gab es allerdings nicht nur bei den meisten Nahrungsmitteln, sondern auch bei den sonstigen Verbrauchsgütern (Abb. 5.1). Die Preise stiegen zwischen 1946 und 1952 um das Achtfache (Preisbasis 1945) und erreichten damit einen vorläufigen Höchststand, der in den nächsten Jahren nur mehr langsam überschritten wurde. Am stärksten fielen die Zuwächse nach den fünf Lohn-Preis-Abkommen aus.60 Der Index der offiziellen Preise lässt allerdings außer Acht, dass sich gleichzeitig der Anteil der Schwarzmarktausgaben von zwanzig Prozent Anfang 1947 auf 15 Prozent Anfang 1948 und zehn Prozent Anfang 1949 reduzierte. Im Mai 1950 verloren Schwarzmarktkäufe für den durchschnittlichen Wiener Haushalt gänzlich an Bedeutung. Anders als der offizielle Verbraucherpreisindex ging deshalb der effektive Preisindex zwischen 1947 und 1950 beträcht222
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus lich zurück, nämlich von 923 Anfang 1947 auf 720 Anfang 1948 und weiter auf 436 Anfang 1949. Nach einer kurzen Erhöhung glich er sich 1950 dem Normalindex an. Neben den Nahrungsmittelpreisen waren die Wohnungsmieten von essenzieller Bedeutung für die Haushaltsbudgets. Bis 1951 blieben sie mit einem Wert von 264 weit unter dem Gesamtindex. Vor der Mietzinsregelung des Jahres 1951 lag der Index sogar noch niedriger, nämlich beim 1,8-fachen des Jahres 1945. Ebenfalls niedrig blieben die Preise im Bereich Bildung und Unterhaltung und bei den Verkehrsausgaben, beides Ausdruck der geringen Nachfrage nach diesen Gütern und Dienstleistungen. Überproportional nahmen hingegen die Preise für Wohnungseinrichtung, für Beheizung und Beleuchtung sowie für Bekleidung, Reinigung und Körperpflege zu, nämlich um das Acht- bis Neunfache. Angesichts dieser Teuerungsraten blieb die Verbesserung der Wohnungsausstattung für die meisten Wiener und Wienerinnen ein Wunsch, dessen Befriedigung man »auf bessere Zeiten« aufschieben musste. Der Ausgabenanteil für die Ausstattung des Haushalts stagnierte weiterhin auf dem niedrigen Vorkriegsniveau von zwei bis fünf Prozent. In einigen Haushalten wurde für neue Kleidung schon Ende der vierziger Jahre ein nicht unbedeutender Teil des Haushaltsbudgets verwendet. Der Anteil dieser Ausgaben stieg von fünf Prozent im Jahr 1946 auf 13 bis 15 Prozent um 1950.61 Bekleidungskäufe konnte man, wenn überhaupt, jedoch meist nur mittels Ratenzahlung realisieren. Doch auch wenn man über das nötige Geld verfügte, stand nicht fest, ob man das gewünschte Kleidungsstück auch tatsächlich in den Geschäften erhielt. Viele wichen, wie auch Erna F., auf Ersatzprodukte aus oder versuchten, das Vorhandene so gut es ging instand zu halten : »Es gab ja nichts zu kaufen. Noch im Jahre 1951 war es, was Kleidung betraf, nicht möglich, in ein Geschäft zu gehen und normal einzukaufen. Manchmal kamen uns Zweifel, ob das überhaupt jemals möglich sein werde. Während des Krieges und noch lange danach mußte man mit vier paar Strümpfen im Jahr (auf Kleiderkarte) sein Auslangen finden, was ein ewiges Stopfen zur Folge hatte. Das ging soweit, daß das Gestopfte immer wieder neu gestopft werden mußte. (…) Für den Sommer gab es Sandalen mit Holzsohlen. Diese Sohlen waren auf Grund der Beweglichkeit in drei Teile geschnitten. Ich muß gestehen, daß sie sich sehr gut tragen ließen. (…) Im Winter trugen wir Filzstiefel, die sehr warm waren und angenehm zu tragen waren. Schön und elegant haben sie zwar nicht ausgesehen, eher plump ! Aber was machte das aus in dieser Zeit, man mußte froh sein, wenn man sie bekam. Auf diese und andere Weise, etwa indem wir Altes zertrennten, den Stoff wendeten und ›Neues‹ daraus fabrizierten, haben wir uns so gut es ging durchgewurstelt. Immer in der Hoffnung, daß es einmal ja doch besser werden würde.«62 »Durchwursteln«, die schwierige Balance zwischen geringem Haushaltseinkommen, hohen Teuerungsraten und schlechter Versorgung, war mit ein Grund, warum auch in den Nachkriegsjahren die Konsumrolle der Hausfrau wieder verstärkt 223
franz x. eder diskutiert wurde. Ein zweiter Antrieb für die Debatte war die Neustrukturierung des Arbeitsmarktes, durch die weibliche Arbeitskräfte in die für Frauen vorgesehenen Bereiche verwiesen werden sollten. Zwischen 1945 und 1951 verschob sich die Geschlechterproportion der Beschäftigten von einem annähernden Gleichstand (je 220.000 beschäftigte Arbeiter/innen und Angestellte) zugunsten eines männlichen Beschäftigtenanteils von sechzig Prozent (bei gleichzeitiger Zunahme der Beschäftigtenzahl um achtzig Prozent).63 Aber auch 1951 stammte ein wichtiger Teil des monetären Haushaltseinkommens durchschnittlicher Arbeiter- und Angestelltenfamilien aus der Erwerbstätigkeit der Ehefrau (16 bzw. 14 Prozent). In diesen Zahlen nicht enthalten waren nach wie vor jene Leistungen, die Frauen noch immer beim »Organisieren« und durch Naturaleinkünfte beitrugen. Ebenfalls unberücksichtigt blieb die zwar volkswirtschaftlich relevante, aber bei der Berechnung der Haushaltseinkommen außer Acht gelassene unbezahlte Haushalts- und Familienarbeit. Aber auch die Einkünfte der Männer bestanden nicht bloß aus Geldlöhnen, sondern auch aus Naturalien, die die Betriebe eingetauscht hatten und als Lohnbestandteil weitergaben. Das System des Natural(ring)tauschs war mit ein Grund, warum das offizielle Warenangebot gering blieb. Gerade in den ersten Nachkriegsjahren ist die Bedeutung der Naturaleinkünfte für die Haushaltseinkommen nicht zu unterschätzen. Ähnliches gilt für den Einfluss des Schwarzmarkts auf die Reallöhne. Wie bereits dargestellt, blieben die Nominallöhne hinter den offiziellen Preisen zurück und ergaben eine Differenz, die nach den Lohn-Preis-Abkommen immer wieder zu Protesten und Streiks führte. Andererseits musste die Bevölkerung aufgrund der verbesserten Versorgungslage aber immer seltener auf Schwarzmarktprodukte ausweichen, die reale Lohn-Preis-Differenz wurde dadurch maßgeblich verringert. Das Ende des Schwarzmarktes im Jahr 1950 war auch ein Zeichen, dass die Versorgung Wiens wieder einigermaßen funktionierte. In diesem Jahr wurden nur mehr Zucker, Fett und Öl bewirtschaftet. In einzelnen Bereichen wie bei Brotgetreide und Milchprodukten, bei Fetten und Ölen kam es aber immer wieder zu Engpässen, und regulative Eingriffe wurden wieder notwendig. Ab 1951 konnte man von einer mehr oder weniger freien Konsumwahl sprechen. Aufgrund der Koreakrise und einer verfehlten Preispolitik kam es im selben Jahr wieder zu Problemen bei Fett- und Fleischlieferungen. Zwischen Juli 1951 und Juli 1952 mussten sogar zwei »fleischlose« Tage pro Woche eingeführt werden. Im Jahr 1953 stabilisierte sich die Nahrungsmittelversorgung endgültig. Am 1. Juli konnten die letzten Überreste der Bewirtschaftung und das Kartensystem abgeschafft werden. Obwohl nun die Phase der ärgsten Not überstanden war, wäre es verfehlt, von einer guten Ernährungslage, geschweige denn bereits von allgemeinem Wohlstand zu sprechen. Der Nahrungsmittelverbrauch zeigte noch die für eine verarmte Wirtschaft typische Gewichtung. Besonders bei den tierischen Nahrungsmitteln konnte der Verbrauch der Vorkriegs224
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus zeit nicht erreicht werden. Die Verbrauchszahlen der durch die langjährige Subventionierung billigeren pflanzlichen Produkte lagen schon über den Werten der Ersten Republik. 1954/55 zeigte die erste umfassende Konsumerhebung der Zweiten Republik, dass in Wien große, vom Haushaltseinkommen abhängige Verbrauchsdifferenzen existierten,64 wobei manche Lebensmittel nur geringe Einkommenselastizität aufwiesen, ihr Pro-Kopf-Verbrauch nahm mit steigendem Einkommen nur leicht zu, bei einigen Produkten sogar ab. Dazu gehörten Getreideerzeugnisse, Gemüse, Kartoffeln, Trinkmilch, Fette, Öle und Zucker. Mit steigendem Einkommen erhöhte sich der Konsum von Fleisch (am stärksten von Kalbfleisch und von Geflügel, weniger von Schweinefleisch), von Eiern, Butter und Käse. Die größten Konsumdifferenzen ergaben sich bei Obst, Südfrüchten, Rahm und Obers. Bier war weniger einkommenselastisch als Wein. Bei Ersatz- und Bohnenkaffee ließen sich gegenläufige Tendenzen feststellen : Wer mehr verdiente, konnte »echten« Bohnenkaffee trinken, bei niedrigerem Einkommen wurde weiterhin Ersatzkaffee verwendet. Insgesamt stiegen die Nahrungsmittelausgaben mit dem Einkommen stärker als die Verbrauchsmengen. Wer Mitte der Fünfzigerjahre über ein höheres Haushaltsbudget verfügte, konnte nicht nur mehr, sondern vor allem auch teurere und hochwertige Nahrungsmittel kaufen. Besonders krass kommt dieser Unterschied im Vergleich der drei untersten und obersten Einkommensgruppen zum Ausdruck. Obwohl der Anteil der Ernährungsausgaben der wohlhabenderen und reichen Haushalte Wiens mit dreißig bis 37 Prozent viel geringer war als der ärmeren Haushalte (58 bis sechzig Prozent), machten deren Lebensmittelausgaben 500 Schilling bis 570 Schilling pro Kopf und Monat aus ; Letztere hingegen hatten für Essen und Trinken nur 310 Schilling bis 360 Schilling zur Verfügung. Große einkommensabhängige Unterschiede existierten auch bei den übrigen Ausgaben der Wiener Haushalte. In den Haushalten mit geringen Budgets dominierten die Ausgaben für Ernährung, Miete und Beheizung (Abb. 6.1). Mit steigendem Haushaltseinkommen nahmen die Ernährungsausgaben zu, gleichzeitig spielte die Anschaffung von Kleidung und Schuhen eine immer wichtigere Rolle. Wohlhabende Haushalte konnten ihr Geld bereits für die Wohnungseinrichtung verwenden, zudem für Bildung, Erholung, Freizeit und Sport. Die Haushaltsmittel der höchsten Einkommensgruppe ermöglichten es, noch stärker in die Wohnungsausstattung zu investieren, aber auch Geld für ein eigenes Verkehrsmittel auszugeben. Die von der Einkommenssituation abhängige Ausgabenstruktur ist damit nicht nur ein Abbild der Verbrauchsgewohnheiten der frühen Fünfzigerjahre, sondern auch ein Ausblick auf künftige Entwicklungsphasen : Die Wienerinnen und Wiener waren zuerst bestrebt, die Ernährungslage zu sichern und dann die Qualität der Nahrungsmittel zu heben. In den folgenden Phasen kaufte man Kleidung, verbesserte die Wohnungsausstattung und gab, wenn auch in geringerem Ausmaß, Geld für eigene Verkehrsmittel 225
franz x. eder und für Freizeit und Erholung aus. Die Verbesserung der Ernährung setzte nach 1948 ein, Bekleidungs- und Möblierungskäufe folgten zu Beginn bzw. in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre, und nach einer Phase der Stagnation und der erhöhten Arbeitslosigkeit in den Jahren 1952 bis 1954 konnten immer mehr Haushalte in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre langlebige Konsumgüter wie einen Kühlschrank oder sogar ein Auto anschaffen. Jede dieser »Konsumwellen«65 hielt noch viele Jahre oder gar Jahrzehnte an, bis eine Sättigung erreicht wurde. Ein Ausgabenposten verlor in der Nachkriegszeit im Vergleich zu den Dreißigerjahren stark an Bedeutung : die Wohnungsmieten. Sie machten mit vier bis fünf Prozent nur mehr einen relativ geringen Teil des Haushaltsbudgets aus. Einzig bei den untersten Einkommensgruppen fielen sie mit fünf bis neun Prozent stärker ins Gewicht. Die niedrigen Wohnungsmieten resultierten aus der schlechten Wohnversorgung und Wohnungsqualität : Am Ende des Krieges gab es in Wien 86.000 ganz oder teilweise zerstörte Wohnungen, rund 270.000 Menschen hatten keine eigene Bleibe.66 1946 wurde die Zahl der fehlenden Wohnungen auf rund 57.000 geschätzt.67 Wegen der sonstigen Versorgungsschwierigkeiten trat bis zum Jahr 1950 keine wirkliche Entspannung der Wohnungsnot ein. Erst ab diesem Jahr wurden substanzielle Wohnbauprogramme, das sogenannte »Schnellbauprogramm der Gemeinde Wien«, ins Leben gerufen, die Schaffung neuer Wohnungen wurde zur zentralen kommunalen Aufgabe.68 Die Altwohnungen unterlagen dem Mietgesetz oder dem Zinsstoppgesetz, was zur Folge hatte, dass das Mietniveau vergleichsweise niedrig blieb. Nach der Wohnungs- und Häuserzählung von 1951 gab es unter den benutzbaren Wohnungen rund 71 Prozent Kleinwohnungen mit maximal eineinhalb Wohneinheiten oder sogenannte Zimmer-Kabinett-Wohnungen. Rund 86 Prozent der Wiener Haushalte verfügten über kein Badezimmer, sechzig Prozent hatten kein WC und 56 Prozent keinen Wasseranschluss innerhalb der Wohnung. Die neu errichteten Gemeindewohnungen waren ebenfalls Kleinwohnungen, boten aber durch Nebenräume und eigene Sanitäranlagen eine bessere Wohnqualität. Auch hier wurden die Mieten niedrig gehalten, Funktionalität und Sparsamkeit prägten den Baustil. Der »Emmentalerstil«69 der Gemeindebauten prolongierte zwar die Bildsprache des Austrofaschismus und der ns-Zeit, war aber gleichzeitig ein erster Schritt zur Reduktion, Nüchternheit und Funktionalität industrieller Fertigung. Funktionalität und niedrige Preise hießen auch die Zielsetzungen des 1952 von der Gemeinde Wien, der Handels- und Arbeiterkammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund initiierten Projekts »Soziale Wohnkultur«. Möbel für die Familie konnte man seit 1950 in der im Wiener Messepalast gezeigten Ausstellung »Die Frau und ihre Wohnung« bewundern, für den Ankauf derselben fehlte aber noch vielen das nötige Geld.70 Die Wohnsituation verbesserte sich damit bis in die frühen Fünfzigerjahre nur wenig. Zu kleine und schlecht ausgestattete Wohnungen beherbergten die Kriegs226
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus und Wiederaufbaugeneration. Die bedrohlichen letzten Kriegsmonate und ersten Nachkriegsjahre blieben unvergesslich. Viele mussten in dieser Zeit am eigenen Leibe erfahren, was es hieß, kein Dach über dem Kopf zu haben. Vor allem die ersten Wochen und Monate des Hungers wurden zu einer elementaren lebensgeschichtlichen Erfahrung. Auch wenn sich die Nahrungsmittelversorgung langsam besserte, mangelte es noch lange an diversen Gütern des täglichen Bedarfs. Wer miterlebt hatte, wie das Geld zweimal »verreckt« war, konnte nur langsam wieder Vertrauen in die Stabilität des Schillings finden. Unsichere Verhältnisse bestimmten auch den Arbeitsmarkt. Als 1953 die Arbeitslosenrate auf über neun Prozent stieg, war vielen noch die Massenarbeitslosigkeit Anfang der Dreißigerjahre in Erinnerung. »Durchkommen«, lautete das Motto bis Mitte der Fünfzigerjahre. In Anbetracht der Lebensumstände dominierte eine Konsumhaltung, die vorsichtiges Wirtschaften, Sparsamkeit und Verzicht in den Mittelpunkt stellte. Erzwungene, vielfach auch zwanghafte Bescheidenheit wurde zu einer Tugend, die manche auch nach dem Ende der Mangelökonomie nicht ablegen konnten. Die Hoffnung, dass es einmal doch besser werden würde, machte den Verzicht erträglicher. Doch wer mit knappen Mitteln eine Familie ernähren und an allen Ecken und Enden sparen musste, staute auch Konsumbedürfnisse auf. Seit den frühen Fünfzigerjahren wurden diese Bedürfnisse wieder durch die Produktwerbung vorangetrieben. Gerade weil die österreichische Wirtschaft bei der Herstellung von Konsumgütern nachhinkte, propagierte die Wirtschaftspolitik, dass eine moderne Volkswirtschaft vor allem von der wachsenden Nachfrage nach inländischen Erzeugnissen abhängig sei. »Österreichisch« zu konsumieren versprach kollektives Weiterkommen, war aber auch Ausdruck eines wiedererstarkten Nationalbewusstseins. Wer »A«(ustria)Zigaretten rauchte und nicht zu amerikanischen Marken griff, trug nicht nur zum Wiederaufbau bei, sondern demonstrierte auch Österreichbewusstsein – so wollte es zumindest die Tabak- und Österreichwerbung. Besonders der Landschaftskonsum wurde »österreichisch« aufgeladen : Konnte das Land angesichts der wirtschaftlichen Misere kaum Konsumangebote offerieren, so hatte es doch zumindest eine (fast) gratis konsumierbare »schöne Landschaft« anzubieten.71 Ähnliches galt für die »große Kultur«, auf die das kleine Land verweisen konnte. Die nationalistische Nachkriegsversion eines »besseren« Lebens konfligierte allerdings mit westlichen, primär amerikanischen (Vor-)Bildern. Jüngere Menschen empfanden die Diskrepanz zwischen gelebtem Mangel und imaginierten Konsumwelten besonders stark. Film und Musik waren jene Medien, die die Kluft zwischen Tagtraum und Alltag vertieften und die österreichischen und amerikanischen Konsumideologien kontrastierten. Dem Kino kam dabei als zentralem Kommunikationsort dieser Jahre größte Bedeutung zu : Hier konnten die Wiener und Wienerinnen der tristen Realität zumindest für eine Stunde entfliehen. Die Kinobegeisterung hielt bis 1956/57 (mit rund 47 227
franz x. eder Millionen Besucher/inne/n in diesem Jahr) an und nahm danach mit der Verbreitung des Fernsehens rapide ab.72 Die Amerikanisierung der Bilder und der Hoffnungen vom »besseren« Leben zeigt sich auch im Filmangebot : Rund die Hälfte der in Wien in den zehn Nachkriegsjahren gezeigten Filme stammte aus amerikanischer Produktion. Erst nach 1950 stand dieser kulturellen Übermacht eine größere Anzahl von »Heimat«-Filmen aus Deutschland und Österreich (ein Viertel bis ein Drittel der vorgeführten Filme) gegenüber.73
Vom »Ende der Bescheidenheit« zum Konsumwunder (1953/54–1982/83) Nach der Stabilisierungskrise 1952/53 setzte in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre ein weitgehend ungebremstes Wirtschaftswachstum ein (Abb. 1 u. 7). Zwischen 1955 und 1968 verdoppelte sich nach Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung das verfügbare persönliche Einkommen. Teilweise konnten jährliche Steigerungsraten von sechs bis zehn Prozent erreicht werden. In den Siebzigerjahren stieg das verfügbare Einkommen weiter, allerdings ›nur‹ mehr um drei bis sieben Prozent pro Jahr. Ab 1978 waren trotz »deficit spending« und Vollbeschäftigungspolitik auch in Österreich die Folgen der weltweiten Rezession immer stärker zu spüren. Die großen Einkommenszuwächse gehörten ab nun der Vergangenheit an. Bis 1983 betrug die Zunahme maximal 3,6 Prozent, in den meisten Jahren konnten überhaupt keine realen Einkommenssteigerungen mehr erreicht werden. Die Reallöhne der Wiener Arbeitnehmer/innen entwickelten sich dementsprechend : Zwischen 1955 und 1961 nahm das reale Bruttomedianeinkommen vorerst ›nur‹ um 7,9 Prozent zu.74 Bis in die erste Hälfte der Siebzigerjahre konnten dann sowohl die Arbeiter/innen als auch die Angestellten recht massive reale Einkommenszuwächse verzeichnen (Abb. 8). In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts näherte sich der Einkommensindex zusehends wieder dem Preisindex. Zwischen 1980 und 1984 erfolgten reale Lohneinbußen. Auch die Einkommensstreuung nahm zwischen den Fünfzigerund frühen Achtzigerjahren zu (Abb. 9). Bis 1952/53 blieben aufgrund der Inflation, der Lohn-Preis-Abkommen und der gewerkschaftlichen Lohnpolitik die Löhne relativ nivelliert.75 Zwischen 1953 und dem Anfang der Sechzigerjahre gewannen die höheren Einkommensgruppen gegenüber den niedrigeren und die Angestellten gegenüber den Arbeitern.76 Auch die Frauen- und Männereinkommen drifteten, nachdem sie sich 1945 bis 1953 angenähert hatten, wieder auseinander. Nach einer neuerlichen Nivellierungsphase in den Sechzigerjahren vergrößerten sich auch in den Siebzigerjahren die Einkommensunterschiede, wobei bei Männern und Frauen und Arbeitern und Angestellten gegenläufige Entwicklungen zu verzeichnen waren.77 228
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Die lebenszyklischen Einkommenschancen blieben ebenfalls ungleich verteilt.78 In den Siebzigerjahren erreichten Arbeiter/innen ihr Einkommensmaximum zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr und mussten in höherem Alter erhebliche Lohneinbußen hinnehmen. Bei den männlichen und weiblichen Angestellten hingegen gab es nach dem 30. Lebensjahr eine permanente, wenn auch nur leichte Zunahme des Einkommens, bei den Beamt/inn/en nahm das Gehalt proportional zum Alter zu. Dieser Einkommensentwicklung kam angesichts der langfristigen Umstrukturierung der Wiener Wirtschaft besondere Bedeutung zu. Zwischen 1955 und 1983 stieg zwar die Beschäftigtenzahl von 676.000 auf 734.000 – wobei 1977 mit 791.000 Personen ein Höchststand erreicht wurde – gleichzeitig erfolgte aber eine massive sektorale Umstrukturierung von der Sachgüterproduktion zum Dienstleistungsbereich. Waren 1956 noch 49 Prozent der Wiener Beschäftigten im sekundären Sektor tätig, fiel ihr Anteil bis 1983 auf 31 Prozent. Im Gegenzug erhöhte sich der Anteil der Dienstleistungen von fünfzig auf 69 Prozent.79 Die Tertiärisierung der Wirtschaft und der hohe Anteil der öffentlich Beschäftigten waren, im Zusammenspiel mit der expansiven Budgetpolitik und dem Vorrang der Vollbeschäftigung, der Grund, warum sich der Konjunktureinbruch der Siebzigerjahre in Wien verspätet auswirkte und die Einkommen eines Großteils der Wiener Haushalte bis in die frühen Achtzigerjahre vergleichsweise stabil blieben. Wie die Personaleinkommen vergrößerten sich auch die Haushaltseinkommen der Wiener Arbeiter/innen und Angestellten in recht unterschiedlichem Ausmaß. Noch 1951 verfügten die von der Arbeiterkammer untersuchten Angestelltenhaushalte über ein kaum höheres Jahresbruttoeinkommen (23.222 Schilling) als die Arbeiterhaushalte (22.700 Schilling). Die Angestellten konnten ihr Haushaltseinkommen bis 1955 jedoch wesentlich schneller vergrößern als die Arbeiter/innen, nämlich um rund 34 gegenüber 16 Prozent. Zwischen 1955 und 1965 holten Letztere deutlich auf (48 gegenüber 37 Prozent). In der Zeit zwischen 1965 und 1975 lagen wiederum die Angestelltenhaushalte – mit 54 Prozent Zuwachs gegenüber fünfzig Prozent bei den Arbeiter/inne/n – im Vorteil. Insgesamt waren die realen Bruttoeinkommen der Arbeiterhaushalte 1975 2,6 Mal höher als 1951 und 2,2 Mal höher als 1955, die der Angestellten 2,8 Mal höher als 1951 und 2,1 Mal höher als 1955. Nach dem Mikrozensus des Jahres 1983 machte das Netto-Haushaltseinkommen der Wiener Arbeiter/innen 13.210 Schilling aus, das der Angestellten 15.870 Schilling und der Beamten 16.860 Schilling.80 Mit der Zunahme der Realeinkommen verschob sich die Zusammensetzung der Haushaltseinkommen (Abb. 3.2. u. 3.3). Nach den Erhebungen der Arbeiterkammer stieg der Anteil des Arbeitseinkommens des Mannes bei den Arbeitern von 73 auf 78 Prozent und bei den Angestellten von 72 auf 76 Prozent. Im Gegenzug ging der Anteil, den Frauen zum Einkommen beisteuerten, von 1955 bis 1975 deutlich zurück, nämlich bei den Arbeiter/inne/n von elf auf vier 229
franz x. eder Prozent und bei den Angestellten von zwölf auf zwei Prozent. Da es sich bei den von der Arbeiterkammer untersuchten Haushalten aber um relativ gut verdienende Arbeiter- und Angestelltenhaushalte handelte, entsprechen diese Ergebnisse nicht dem allgemeinen Trend. Insgesamt erhöhte sich in Österreich in den Siebzigerjahren die weibliche Erwerbsquote vor allem bei Frauen im Alter von 35 bis 45 Jahren. Waren Frauen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nach der Heirat oder spätestens nach der Geburt eines Kindes für immer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, so folgten sie nun vermehrt dem sogenannten »Dreiphasenmodell« : Nach eigener Erwerbstätigkeit vor der Ehe und Haushaltsarbeit und Kindererziehung nach der Heirat traten sie primär bei niederem Einkommen des Mannes nach einer längeren Unterbrechung wieder in das Erwerbsleben ein und trugen so zur Verbesserung des Haushaltsbudgets bei.81 Von den übrigen Haushaltseinkünften verloren seit den Fünfzigerjahren die Einnahmen aus Untervermietung und aus Versicherungen (besonders aus der Arbeitslosenversicherung) an Bedeutung. Seit den späten Sechzigerjahren deutlich gestiegen waren hingegen die Zuwendungen und Unterstützungen durch Betriebe und durch die öffentliche Hand. Nun brauchte man für größere Anschaffungen auch kaum mehr Gehaltsvorschüsse und Warenkredite in Anspruch zu nehmen. Die meisten Wiener und Wienerinnen konnten jetzt auf eigene Sparguthaben zurückgreifen. Diese Abhebungen machten in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren bis zu fünf Prozent der Haushaltseinnahmen aus. Die langfristige Entwicklung der Sparquote und Spareinlagen zeigt, dass die Spartätigkeit bereits in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre einsetzte (Abb. 10). Zwischen 1955 und 1983 vergrößerten sich die inflationsbereinigten Sparguthaben der Österreicher und Österreicherinnen um das 21-fache. Nach Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erhöhte sich die Sparquote bis 1960 auf über acht Prozent (Abb. 11). Je nach Konjunkturlage konnten die jährlichen Sparrücklagen bis in die frühen Achtzigerjahre zwischen acht und zwölf Prozent des verfügbaren persönlichen Einkommens ausmachen. Die Spareinlagenquote (der Zuwachs der Spareinlagen gemessen am verfügbaren persönlichen Einkommen) stieg bis in die Siebzigerjahre und zeigt, dass bis in diese Zeit eine stabile Nachfrage nach Sparguthaben existierte. Nach einem Rückgang in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre legten die Österreicherinnen und Österreicher vor allem in den Jahren 1975 bis 1977 wieder mehr auf die Seite. Dabei reagierten sie jedoch noch nicht auf den Erdölschock und die weltweite Wirtschaftskrise, sondern machten vorerst nur die Inflationsverluste der vorangegangenen Jahre wett. Die hohen Spareinlagenquoten Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre resultierten dann aus den zunehmenden Arbeitsplatzsorgen und der Angst vor wirtschaftlicher Stagnation. Ob es sich hier um klassisches »Vorsichtssparen« handelte, ist noch nicht geklärt.82 Dass trotz durchschlagender Rezession nach der zweiten Ölkrise und den steigenden Arbeitslo230
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus senzahlen weithin ein Großteil der Bevölkerung konsumorientiert blieb, zeigt sich an der niedrigen Sparquote der ersten Hälfte der Achtzigerjahre. Frei verfügbare Sparguthaben und steigende Realeinkommen ermöglichten den Wohlstandskonsum. Damit alle Bevölkerungsgruppen konsumieren konnten, musste sich noch die Arbeitsmarktlage entspannen. Bereits 1962 konnte eine Arbeitslosenrate von unter zwei Prozent erreicht werden (Abb. 12). In Wien herrschte während der folgenden zwanzig Jahre »Vollbeschäftigung«.83 Die Arbeitsplatzsicherheit trug in hohem Maße zu einer expansions- und zukunftsorientierten Konsumhaltung bei. Konsumgeschichtlich von besonderer Bedeutung ist, dass in Wien die Vollbeschäftigung über den Konjunktureinbruch der späten Siebzigerjahre hinweg aufrechterhalten werden konnte und die Arbeitslosenrate erst 1981 wieder über die Zwei-Prozent-Marke stieg.84 In der Zeit des »Wirtschaftswunders« fanden nicht nur (fast) alle Menschen Arbeit, es wurde auch immer kürzer gearbeitet. Mit der Verkürzung der Arbeitszeit vergrößerte sich die »Freizeit« und damit jene Zeit, in der man konsumieren konnte. Mit der Reduktion der Arbeitszeit erfolgte jedoch eine Intensivierung und Beschleunigung der Arbeit, die Leistungsanforderungen nahmen beträchtlich zu. In kürzerer Zeit mehr zu leisten, aber auch mehr zu verdienen, lautete eine Maxime der fordistischen Produktionsweise. Eine andere hieß, für die hohen Anforderungen auch bessere Konsumchancen zu erhalten und durch den Massenkonsum die Nachfrage anzutreiben. Die Verlängerung der arbeitsfreien Zeit erfolgte schrittweise : Nach 1945 blieb infolge des Rechtsüberleitungsgesetzes vorerst die 60-Stunden-Woche aufrecht. Noch in den Fünfzigerjahren lag die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit bei über fünfzig Stunden. Im Jahr 1959 wurde sie von 48 auf 45 Stunden gesenkt, 1965 eine dritte Urlaubswoche eingeführt. Nach zwei kleineren Kürzungen 1970 und 1972 (43 bzw. 42 Arbeitsstunden) wurde ab 1975 schließlich nur mehr vierzig Stunden pro Woche gearbeitet. Allerdings dauerte es meist zwei bis drei Jahre, bis die beschlossenen Reduktionen in die effektive Arbeitszeit umgesetzt wurden.85 In den Sechzigerjahren trug die Arbeitszeitverkürzung zu einem verstärkten Arbeitskräftebedarf und zum Erreichen der Vollbeschäftigung bei. Zwischen 1965 und 1975 wurden aufgrund der nun herrschenden Arbeitskräfteknappheit zunehmend ausländische Arbeitskräfte angeworben. Aus der Arbeitszeitverkürzung des Jahres 1975 resultierte die 5-Tage-Woche und mit ihr ein weiterer »Konsumraum«, das »freie Wochenende«. Zuletzt folgte 1977 die Verlängerung des Urlaubsanspruches auf vier Wochen. Insgesamt gesehen entstand durch die Arbeitszeitverkürzung ein »privater Lebensstrang«,86 der nicht nur »freie« Zeit brachte, sondern auch neue Anforderungen an die Lebensgestaltung. Schon mit dem »kleinen« Wohlstand der Fünfzigerjahre wurde die Gestaltung und Sinngebung der arbeitsfreien Zeit wieder virulent. Wer es mit »Glück und Schmäh«87 geschafft hatte, den Krieg und die Jahre des Wiederaufbaus zu über231
franz x. eder stehen, der sollte die arbeitsfreie Zeit nun vor allem »im Kreise seiner Liebsten« verbringen. Häusliche und familiäre Konsumtion und Glücksproduktion waren das Thema dieser Jahre. Der Rückzug in die scheinbar apolitische Sphäre des Heimes und der Familie stellte eine Vielzahl neuer Ansprüche an die weibliche Konsumund Verbrauchsspezialistin. In einem Haushaltsratgeber der Fünfzigerjahre kommt die daraus resultierende Überforderung klar zutage : »Am Anfang des Hausfrauenglücks stehen Wünsche, Wünsche nach einer schönen und praktischen Wohnung, nach den kleinen Geräten und Maschinen, die das Leben der Hausfrau erleichtern, nach Möbeln und Teppichen und tausend anderen Dingen. Aber gerade dann, wenn die Wünsche besonders intensiv sind, fehlt gewöhnlich das zur Erfüllung notwendige Geld. Nun, das ist noch kein Grund, zu verzweifeln und das ganze Problem als unerfüllbar beiseite zu schieben. Mit ein bißchen Mut und Lebensfreude, mit Geschick und Phantasie ist nichts hoffnungslos, und zuletzt kann so manche kleinste Wohnung das werden, was so manche große und prunkvolle nicht ist : Raum, in dem sich in erster Linie der Besitzer, dann aber auch ein Gast wohlfühlt, kein unpersönliches Sortiment von Möbeln, sondern eben Raum, der mit dem Bewohner lebt und ihm so Erholung und Ruhe und damit auch die Kraft gibt, die er in seinem Beruf braucht.«88 Zur Gestaltung des »kleinen« Glücks sollte die Hausfrau eine Vielzahl von Fähigkeiten und Kenntnissen entwickeln : Hauswirtschaft und Kindererziehung, häusliche Krankenpflege und Gesundheitsvorsorge, Kenntnisse der Hausschneiderei, der Kleintierzucht, technische Grundkenntnisse der Haushaltsgeräte, Fähigkeiten zur Ausgestaltung der Wohnung und vieles andere mehr. Geht es nach dem zeitgenössischen Frauenbild, dann ist die Hausfrau der niemals ruhende Motor des »Heims« – und findet noch dazu Gefallen an dieser »lebenslänglichen« Aufgabe. Vergnügte und glückliche (Haus-)Frauen prägen seit den Fünfzigerjahren auch die Konsumbilder.89 Die »Herrscherin des Haushalts« würde durch ein größeres Warenangebot und niedrige Preise ebenso beglückt wie durch die neuesten Elektrogeräte. Als Gegenpol zur Hausfrau und Mutter und als Bedrohung der rationalen Hauswirtschaft und der stabilen »Kleinfamilie« wurde die (noch) nicht domestizierte, dem Luxuskonsum frönende Hedonistin definiert. Der deutschsprachige Film der Fünfzigerjahre führte vor, wie die Spannung zwischen diesen zwei Frauenbildern überwunden werden sollte : Höchst dramatisch wurden dort individuell konsumierende und begierdeorientierte Frauen in familienzentrierte Konsumrationalistinnen transformiert.90 Die Diskussion um das Frauenbild zeigte, dass auch bei steigendem Haushaltseinkommen und vermehrten Konsumangeboten die (Haus-)Frauen sowohl beim täglichen Einkauf als auch bei den größeren Haushaltsanschaffungen über die Verwendung des Haushaltsbudgets entscheiden sollten. Männer hingegen wurden für das Sparen und für die »großen« Entscheidungen bzw. für den Ankauf männlich konnotierter Gegenstände (wie Autos oder Motorrä232
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus der) zuständig erklärt. Werbung und Produktgestaltung waren deshalb stark auf die »Macht der Konsumentin« ausgerichtet. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren standen dabei jene Produkte im Mittelpunkt, die man bei steigendem Realeinkommen zuerst kaufen konnte bzw. wollte. Dazu gehörten einmal jene Nahrungsmittel, die während des Krieges und der Wiederaufbaujahre nicht oder nur wenig konsumiert wurden. Die realen Nahrungsmittelausgaben der Wiener Haushalte stiegen zwischen 1954 und 1964 um ein Viertel und stagnierten in der Folge bis in die Achtzigerjahre. Dieses Ergebnis wird jedoch durch eine Strukturverschiebung in den Wiener Haushalten verzerrt. Der Anteil der Einpersonenhaushalte stieg zwischen 1951 und 1981 von 24,3 auf 39,6 Prozent, jener der Haushalte mit zwei Personen ging von 37,2 auf 31,1 und der mit drei und mehr Personen sogar von 38,5 auf 29,3 Prozent zurück.91 Anders als die Haushaltsausgaben vergrößerten sich deshalb die Pro-Kopf-Ausgaben für Ernährung zwischen 1954 und 1964 um 27 Prozent und in weiteren Zehn-Jahres-Schritten um zwölf bzw. 22 Prozent. Anhand der zeitgenössischen Konsumerhebungen lässt sich eine umfassende Ernährungsumstellung beobachten : In Wien – wie insgesamt in Österreich – ging zuerst der Verbrauch all jener Nahrungsmittel zurück, die die Hungerjahre bestimmt hatten. Dies galt insbesondere für Schwarzbrot und Kartoffeln. Nach einem Höhepunkt in den späten Fünfzigerjahren reduzierte sich auch der Milchkonsum.92 Der Bedeutungsverlust dieser Nahrungsmittel ist ein Indiz dafür, dass in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre auch im Lebensmittelkonsum die »Bescheidenheit« zu Ende ging. Nachdem der »starre Ernährungsbedarf« befriedigt war, wurde die Ernährung zu einem elastischen Konsumbereich. Noch immer gilt der »wohlbeleibte« Herr Karl als Phänotypus der »Fresswelle« der Fünfziger- und Sechzigerjahre und die »Schnitzelkultur« als negatives Referenzmodell für die angeblich »gesündere« Ernährung späterer Jahrzehnte. Diese Bilder können nicht aufrechterhalten werden.93 Vor allem die kurzschlüssige Argumentation, dass nach der Mangelernährung der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu allererst sehr viel und extrem fett gegessen wurde, ist zu revidieren. Ab der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre ging der Ernährungstrend nicht nur in Richtung eines ausgiebigeren, sondern vor allem auch »besseren« oder »feineren« Essens. Dass dabei die Preisentwicklung eine wichtige Rolle spielte, lässt sich am Verbrauch vieler Lebensmittel ablesen (Tab. 3). So reduzierte sich beispielsweise zwischen 1954 und 1964 der Kalbfleischverbrauch. Gleichzeitig wurde das teure Kalbfleisch durch das ebenfalls als »fein« geltende, jedoch wesentlich billigere Hühnerfleisch ersetzt. Pflanzliche, geschmacksneutrale Fette wie Margarine und Speiseöl traten an die Stelle von tierischen, stark eigengeschmacklichen Billigprodukten wie Schmalz. Während Speck auf der Beliebtheitsskala sank, stiegen Geselchtes und Schinken in der Gunst der Verbraucher/innen. Butter wurde bis in die Sechzigerjahre etwas mehr, wegen 233
franz x. eder der Konkurrenz der billigen »Delikatessmargarine« in der Folge aber immer weniger gegessen. Während der Verbrauch von Roggenbrot stark zurückging, aß man nun etwas mehr Weißbrot. Rahm und Obers, Käse und Topfen gehörten zu jenen Produkten, die ebenfalls öfters konsumiert wurden. Die großen Zuwächse bei Südfrüchten und Frischobst, bei Bohnenkaffee, Schokoladewaren und nichtalkoholischen Getränken signalisieren in besonderem Maße den Wohlstandsgewinn. Bei Bier und Wein kam es nicht nur zu einem steigenden Verbrauch, man konsumierte Alkohol nun auch vermehrt im privaten Rahmen. Zusammengefasst brachte die Ernährungsumstellung der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre eine deutliche Erhöhung der eiweiß- und vitaminreichen Nahrung und einen Rückgang von Kohle hydraten. Gegen eine »Fress- und Fettwelle« spricht auch, dass trotz steigender Verbrauchsmengen bei Fleisch und Wurstwaren nie die Vorkriegswerte erreicht wurden. Das Wiener Schnitzel blieb in den Fünfzigerjahren eine kulinarische Besonderheit. Innerhalb des Fettverbrauches ist eine deutliche Verschiebung von tierischen zu pflanzlichen Fetten festzustellen.94 Die aufgezeigten Trends setzten sich bis in die Achtzigerjahre fort. Viele Produkte verloren dabei den Charakter eines außergewöhnlichen Nahrungsmittels, das man nur an Sonn- und Feiertagen oder zu speziellen Anlässen konsumieren konnte. Typische Beispiele dafür sind Kaffee, Fruchtsäfte oder auch Fleisch. Kuchen, Gebäck und Schokoladeerzeugnisse wurden ebenfalls zu alltäglichen Nahrungsmitteln. Ihre ehemalige dominante Stellung fast völlig eingebüßt hatten hingegen die meisten Getreideerzeugnisse, aber auch Kartoffeln und Milch. Weiter gestiegen war der Verzehr von Fleisch, wobei Schweinefleisch wegen der Überproduktion, dem sogenannten »Schweineberg«, und des dadurch ausgelösten Preisverfalls, die größten Zuwächse verzeichnen konnte. Aber auch viele Gemüseprodukte bereicherten nun den Speiseplan der Wienerinnen und Wiener. Zu einem nicht unbedeutenden Faktor des Haushaltsbudgets entwickelte sich der Posten »Verzehr außer Haus«, nämlich vorerst am Arbeitsplatz und in der Schule. Der Wandel des Nahrungsmittelverbrauchs ging mit massiven Veränderungen in den Essgewohnheiten und in der Ernährungskultur einher. Am Beispiel des Gebrauchs von Reis wird klar, dass sich nicht nur die Zubereitung, sondern auch die Bedeutung eines Nahrungsmittels ändern konnte : Bis in die Nachkriegsjahre fungierte Reis vor allem als Suppeneinlage. Danach verwendete man ihn als »Tafelreis« oder italienisch angehauchtes »Risibisi« und als eine im Vergleich zur Kartoffel delikatere Zuspeise. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden neue Zubereitungsformen wie Curry-Reis eingeführt, und der Reis avancierte, unter Beibehaltung der anderen Verwendungsmöglichkeiten, zu einer Hauptspeise.95 Ein anderes Beispiel für die veränderte Aneignung eines Nahrungsmittels ist Zucker. Seit den Fünfzigerjahren stieg der Zuckerkonsum – auch wenn die Verbrauchszahlen meist Gegenteiliges 234
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus angeben – vor allem deshalb, weil man ihn nun nicht mehr in direkter Form als Süßstoff, sondern synthetisiert, »verfeinert« und »versteckt« in Süßigkeiten, Schokoladen und anderen industriell gefertigten Lebensmitteln aufnahm. Industrielle Nahrungsmittel konnten dann leicht in die Geschmackskultur eindringen, wenn sie ästhetisiert und positiv konnotiert wurden. Kondensmilch, die seit den Nachkriegsjahren als Ersatzmilch galt, avancierte in den Sechziger- und Siebzigerjahren zum »Geschmacksverbesserer« für Kaffee. Konservierte Lebensmittel wurden als logische Reaktion auf die allgemeine Beschleunigung des Lebens präsentiert. Berufstätige Frauen wie auch gestresste Mütter und Hausfrauen würden mit ihnen die Mahlzeiten nicht nur schneller zubereiten können, man suggerierte ihnen auch, dass nun »immer etwas zu Hause« sei. In der Praxis kamen Konserven aber vor allem dann ins Spiel, wenn besondere oder »exotische« Nahrungsmittel zubereitet werden sollten. »Dosen-Ananas« brachten über Jahrzehnte hinweg einen Hauch von Südsee in das Sonntagessen der Wienerinnen und Wiener. Mit der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln und (Halb-)Fertigspeisen wurde der Wert der selbst zubereiteten Mahlzeit infrage gestellt. Dem veränderten Selbstverständnis der (Haus-)Frauen begegnete man mit der Neuauflage des Liebesparadigmas : Auch wenn synthetische Backmittel in den Gugelhupf kamen, am wichtigsten sei doch, dass die Speisen »mit Liebe« zubereitet würden. Dies implizierte auch, dass man das Essen nicht lieblos auf den Teller klatschte, sondern der Dekoration und Präsentation größeres Augenmerk schenkte. »Bei Mama schmeckt’s am besten«, dieser Satz signalisierte die Beseitigung des allgemeinen Ernährungsmangels und ein neues Hausfrauenbild. Er drückte aber auch die Konkurrenz von individueller Essenszubereitung und Massenproduktion in Industrie und Großküchen aus. Traditionelle Hausfrauenbilder konfligierten mit der industriellen Konservierung von Lebensmitteln. Durch die Konserven wurde die eigene Bevorratung überflüssig, aber auch das Bevorratungswissen, das früher als besondere Hausfrauenqualität gegolten hatte. Die Internationalisierung des Angebotes wirkte ebenfalls in diese Richtung. Durch die Intensivierung des weltweiten Handels ergab sich vor allem bei Obst und Gemüse eine immer größere Produktpalette, und viele inländische Früchte wurden auch außerhalb der Saison angeboten. Die Fülle des Angebots konnte nicht mehr in der Greißlerei ums Eck, sondern im Selbstbedienungsgeschäft und später im »Super«-Markt bestaunt und gekauft werden. In den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren wurden in den Selbstbedienungsläden Kühlvitrinen aufgestellt und enthielten Hühnchen, Fisch, Gemüse (besonders Spinat und Erbsen) und Speiseeis. Durch die Ausdifferenzierung des Angebots avancierte die Produktverpackung und -präsentation zu einem zentralen Verkaufsfaktor. Da bei der Selbstbedienung die Verkäufer/innen als Vermittlungsinstanz ausfielen, musste das Äußere der Waren für sich sprechen. Dem Lebensmittelhandel brachten fertig verpackte 235
franz x. eder Produkte ebenfalls große Vorteile bei Arbeitszeit und Personalkosten. »Rama« ist ein frühes und besonders gelungenes Beispiel für eine auffällige Verpackung (»golden«) und erfolgreiche Produktwerbung (»Delikatess-Margarine«, »naturfeiner Geschmack«, »mit Eigelb und Vitaminen«). Hier wurde ein Wohlstandsimage kreiert und »Rama« zu einem »vollwertigen« Produkt stilisiert.96 In einem wahren Verpackungsboom wurden ab Mitte der Sechzigerjahre Papier und Pappe immer mehr durch Kunststoffe ersetzt. Verpackungsmaterial, wie insgesamt die aus dem privaten Konsum stammenden Abfälle, führte in den Siebzigerjahren zur »Müll-Lawine« und zur Diskussion darüber, ob denn der Massenkonsum unsere Umwelt und unsere Lebensbedingungen gefährde. Nahrungsmittel konsumierte man in dieser Zeit auch vermehrt außerhalb des Haushaltes. Bei den Wiener Arbeitern und Angestellten verdoppelte sich zwischen Mitte der Sechziger- und Mitte der Siebzigerjahre der Anteil des »Verzehrs außer Haus«, nämlich von rund zehn auf zwanzig Prozent der Ernährungsausgaben. Bei Pensionist/inn/en fiel die Zunahme deutlich geringer aus (Tab. 1.2). Mit steigendem Einkommen und größeren Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz verlor auch das gemeinsame Mittagessen an Bedeutung, und viele nahmen ihre Mahlzeiten nun in der Kantine oder Gaststätte ein. SchnellimbissStände und Gaststätten mit standardisierten und mehr oder weniger vorgefertigten Speisen dienten der raschen Nahrungsaufnahme. Wer sonntags auswärts aß oder gar am Abend ein Speiselokal besuchte, demonstrierte zudem Wohlstand. Der Besuch einer »Pizzeria« galt nicht nur als Reminiszenz an den letzten Italienurlaub, sondern versprach eine, wenn auch nur begrenzte, Teilhabe am »Dolce Vita« und die Flucht vor den täglichen Arbeits- und Leistungsanforderungen. »Mach mal Pause, trink Coca-Cola«, lautete die Werbung für jenes braune Getränk, das die Ambivalenz der fordistischen Produktions- und Konsumweise in kondensierter Form repräsentierte. Coca-Cola stand nicht für den Wohlstand schlechthin, sondern für die amerikanische Version eines Wohlstands durch Konsum. Doch am »American way of life« sollte nur partizipieren, wer arbeitete und produzierte – so die versteckte Botschaft, und natürlich Pause machte, um ein Getränk zu konsumieren, das durch seine stimulierende Wirkung zu weiteren Arbeitsleistungen anspornte. Coca-Cola wurde in Österreich offiziell 1953 eingeführt und schaffte trotz konkurrierender Austro-Colas bis 1956 eine flächendeckende Verbreitung.97 Trotz steigender Realausgaben machten die Ausgaben für Nahrungsmittel einen immer geringeren Teil des Haushaltsbudgets aus. Verwendeten die Wiener Haushalte 1954/55 noch beinahe die Hälfte ihres Budgets für Essen und Trinken, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1984 auf 21,4 Prozent und damit auf einen Wert, der in der Folge nur mehr knapp unterschritten wurde. Im Gegenzug gewannen die Ausgaben für den Erhalt der Wohnung und die Wohnungsausstattung, für Bildung, Erholung, Freizeit und Sport und für Verkehr und Nachrichtenübermittlung im236
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus mer mehr an Bedeutung (Abb. 13). Insgesamt stiegen die Realausgaben der Wiener Haushalte von 1954/55 bis 1964 um 80 Prozent, von 1964 bis 1974 um 29 Prozent und von 1974 bis 1984 um weitere 11 Prozent. Betrachtet man die Entwicklung der realen Pro-Kopf-Ausgaben, so wird die dramatische Ausgabensteigerung noch deutlicher : Diese wuchsen zwischen 1954/55 und 1964 um 83 Prozent, zwischen 1964 und 1974 um 51 Prozent und zwischen 1974 und 1984 um 40 Prozent. Insgesamt nahmen von 1954/55 bis 1984 die realen Haushaltsausgaben um das 2,8-fache, die realen Pro-Kopf-Ausgaben sogar um das 3,3-fache zu. Die Ausgaben für Bekleidung und Wäsche stiegen dabei besonders in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren (Abb. 14 u. 15). Laut der Budgeterhebung der Arbeiterkammer schritten zuerst Angestelltenfamilien zum Ankauf dieser Waren und gaben dafür bereits in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre circa 15 Prozent mehr aus. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts konnten dann nicht nur die Angestellten (plus 42 Prozent Bekleidungsausgaben), sondern auch die Arbeiter/innen (+33 Prozent) immer öfter ihre diesbezüglichen Wünsche befriedigen. Nachdem in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre ein weiteres, wenn auch wesentlich geringeres Wachstum (Angestellte +6,6 Prozent, Arbeiter +12,4 Prozent) zu verzeichnen war, wurde in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts eine Sättigung erreicht. Der Gruppenindex der Verbraucherpreise zeigt, dass diese Konsumentwicklung Hand in Hand ging mit einer massiven Veränderung im Preisgefüge. Lag der Index der Bekleidungspreise bis 1952 deutlich über dem Gesamtindex, so unterschritt er diesen in den folgenden Jahren. Bereits in den Fünfzigerjahren konnte man beim Kleidungskauf also nicht mehr nur alte Kleidung ersetzen oder »notwendige« Stücke dazu kaufen und musste dabei vor allem auf den Gebrauchswert und die »Qualität« der Waren achten, sondern auch der Mode folgen. Besonders die Kleidung jüngerer Leute war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren immer stärker Modetrends ausgesetzt. Die 1951 geborene Eva W. erlebte diesen Wandel am eigenen Leib : »Ich bekam als Kind fast nur getragene Sachen, auch von der Mutter oder von Tanten Selbstgeschneidertes oder Gestricktes. Das fand ich normal, und es war mir ziemlich gleichgültig, was ich trug, auch, als ich älter war. Erwachsenenkleidung wurde umgeändert, – insgesamt war mein Aufzug so konservativ wie der alter Frauen.« Für den Teenager sah die Situation in den Sechzigerjahren allerdings anders aus : »Jeanshosen waren revolutionär und topmodisch, als ich sechzehn Jahre alt war, aber kaum jemand trug Markenware, die Dinger wurden oft nur mit blauen, festen Stoffen nachempfunden. Zu der Zeit hatte ich auch schon neue, modische Sachen, aber immer ›artig‹.« Die Elterngeneration hielt den bewahrenden Umgang mit Kleidung meist länger aufrecht. So auch Evas Mutter : »Nach irgendeinem ›letzten Schrei‹ war sie nie gekleidet, dazu waren meine Eltern zu sparsam. Dauerwellen waren allerdings ein Muß.«98 Egal ob modisch oder konservativ, der demonstrative Gebrauch von Kleidung diente nun wieder verstärkt der 237
franz x. eder sozialen Distinktion und Selbstdarstellung. Für diejenigen, die Krieg und ns-Zeit miterlebt hatten, erfüllte gerade diese demonstrative Form des Konsumierens auch »die Funktion von moralischer Reinigung, Verdrängung von Schuld und Linderung von schmerzlicher Erinnerung an Verlust, Hunger, Kälte, Demütigung und Not«.99 Die Überhöhung und Aufladung von Konsumgütern kam auch bei der Wohnungsausstattung verstärkt zum Tragen. Obwohl es hier vordergründig um die Gestaltung des Heimes und dessen Inszenierung für die Familie ging, bereitete man die Wohnung bewusst oder unbewusst auch für die potentielle Öffentlichkeit auf. Spar- und Funktionsmöbel, wie die ab 1954 im Handel erhältlichen und als einfach, billig, aber dennoch formschön angepriesenen »SW-Möbel«,100 wurden deshalb a la longue von Nierentisch, amerikanischer (Einbau-)Küche und vielen anderen, immer wieder »moderneren« Einrichtungsgegenständen verdrängt. Eine »modern« eingerichtete Gemeinde- oder Mietwohnung gehörte – wie die »Kleinfamilie« und »gutes« Essen – zu den kleinbürgerlichen Lebensidealen. H.C. Artmann hat diese Träume mit schwarzer Tinte zu Papier gebracht : ja – so a gemeindewonung miassast haum a schene brafe frau de wos de gean hod und jeden easchtrn in da frua die sichas en de qoschne haund ! des waa r amezii göö liawa freind ? owa leida leida : schnekn ! du wiasd nii in deim lem fon dea müch fon den zuka und fon de ziwem de wos a schene brafe frau en da neichn amereganeschn gredenz fon so ana gemeindewonung faschdegt hod owenoschn kena .. des dan aundare fia dii woarum was da floke !101 Wie das Institut für empirische Sozialforschung Anfang der Sechzigerjahre eruierte, standen eine eigene Wohnung und schöne Wohnungseinrichtung besonders bei 238
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus jungen Ehepaaren ganz oben auf der Wunschliste.102 Die Erhebung ergab jedoch auch, dass aufgrund der schlechten Wiener Wohnversorgung rund vierzig Prozent der jungen Eheleute über keine eigene Wohnung verfügten – und das, obwohl sie recht gut verdienten. Die Ehepaare wohnten bei den Eltern oder in Untermiete und hofften, in absehbarer Zeit eine Gemeindewohnung oder eine kleinere Altbauwohnung zu mieten. Bezeichnend für die mangelnde Wohnungsqualität war, dass 54 Prozent aller Jungverheirateten zum Duschen und Baden ins »Tröpferlbad« gehen mussten. Nach der Häuser- und Wohnungszählung des Jahres 1961 verfügten nur 66 Prozent der Wiener Wohnungen über einen eigenen Wasseranschluss und 55 Prozent über ein Klosett innerhalb des Wohnverbandes.103 Der Preisindex für die Wohnungsmiete und -instandhaltung lag in den Fünfzigerjahren noch deutlich unter dem Gesamtpreisindex, ab den Sechzigerjahren hingegen stiegen die Kosten für das Wohnen wesentlich stärker als für alle anderen Ausgabengruppen (Abb. 5.1 bis 5.4). Der monatliche Aufwand für Wiener Miet- und Eigentumswohnungen erhöhte sich zwischen 1974 und 1983 real um rund neunzig Prozent, wobei allerdings große Unterschiede zwischen den Belastungssteigerungen in Alt- und Neubauwohnungen bestanden.104 Wer eine eigene Wohnung hatte, ging an die Anschaffung moderner Haushaltsgeräte. Hier kam es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zu einer wahren Elektrifizierungsrevolution (Abb. 16). »Elektrisch leben heißt besser leben !«, lautete die Devise. Die Elektroindustrie animierte zum Kauf von Großgeräten wie Kühlschrank, Herd, Wasserspeicher oder Waschmaschine. Aber auch eine Unzahl kleinerer Maschinen sollte der Hausfrau »Arbeitserleichterung« und »Zeitersparnis« bringen und das Heim komfortabel machen. Tauchsieder, Expresskocher, Einzelkochplatte, Höhensonne, Haartrockner, Brotröster, Kaffeemühle, Kaffeemaschine, Teekanne, Wärmestrahler, Infrarotlampe, Staubsauger, Heizkissen, Bodenbürste, Reisebügeleisen, Trockenrasierer, Elektrouhr und Tischventilator waren nur einige der Elektrogeräte, die den Konsument/inn/en mittels Werbung zur Kenntnis gebracht wurden. Halbwegs gesicherte Daten über die tatsächliche Ausstattung der Wiener Haushalte existieren allerdings nur für wenige Geräte (Abb. 17). Zweifelsohne hielt der Kühlschrank am raschesten Einzug in die Haushalte. Waren 1952 nur circa zwei Prozent damit ausgestattet, so erhöhte sich der Anteil bis 1959 auf 18, bis 1970 auf 73, bis 1974 auf 91 und bis 1984 auf 96 Prozent. Der eigentliche Kühlschrankboom fand – wenn die gesamtösterreichische Entwicklung auch für Wien gilt – in der zweiten Hälfte der Fünfziger- und ersten Hälfte der Sechzigerjahre statt. Über elektrische Waschmaschinen verfügten in dieser Zeit noch sehr wenige Familien : 1952 hatten unter einem Prozent, 1959 zehn und 1970 dreizehn Prozent der Haushalte ein solches Gerät. Erst ab den Siebzigerjahren bekamen Handwäsche und Waschsalon größere Konkurrenz durch private Maschinen. 1974 hatten 39 Prozent der Haushalte 239
franz x. eder ein solches Gerät, 1984 65 Prozent (Abb. 18).105 Durch die Elektrogeräte wurde in den Siebzigerjahren die »Haushaltsarbeit, die vorher dank vergrößerter Wohnungen, hoher Reinlichkeitsstandards und vermehrter Güter, die es einzukaufen und zu warten galt, eher zugenommen hatte, (…) rationalisiert und zugleich auch eine Spur mehr von Männern übernommen«.106 Die wöchentliche Gesamtarbeitszeit, also die Summe der pro Woche für Berufsarbeit, Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung benötigten Zeit, reduzierte sich zwischen 1969 und 1981 bei Männern von rund 54 auf 51 Stunden, bei Frauen von rund achtzig Stunden auf 66 Stunden. Die Anschaffung von Haushaltsgeräten wurde vielfach erst durch die »moderne« Ratenzahlung möglich. Waschmaschine und Kühlschrank gehörten zu jenen Maschinen, die bereits in den Elektrogeräte-Aktionen der Fünfzigerjahre intensiv mit Kredit- und Rückzahlungserleichterungen umworben wurden. Durch den Preisverfall der Geräte – ein Kühlschrank von Bosch kostete 1960 nur mehr vierzig Prozent des Preises von 1951 – konnten diese auch bei geringen Einkommen erworben werden. Der Preisverfall resultierte nicht nur aus der gestiegenen Nachfrage, sondern auch aus der Öffnung des österreichischen Marktes für ausländische Produkte. Nachdem sich Österreich 1953 dem System des freien Außenhandels angeschlossen hatte, kam es bei vielen Konsumgütern zu einer deutlichen Vergrößerung des Angebots und zur Verbilligung der zuvor geschützten inländischen Produkte.107 Als im Jahr 1955 das österreichische Fernsehen in Betrieb ging, bedeutete dies ebenfalls einen massiven Produktionsanreiz für die österreichische Industrie. Zwischen 1955 und 1961 entfielen sechzig Prozent des Zuwachses der österreichischen Konsumgüterproduktion, die damit erstmals die Investitionsgüterproduktion überholte, allein auf Fernsehgeräte und Magnetophone.108 Die 1958 vergebenen 25.000 Wiener Fernsehanschlüsse waren allerdings meist in Gasthäusern und Elektrofachgeschäften installiert und wirkten dort als Publikumsmagneten.109 Wer sich, wie die Familie von Eva W., schon wenige Jahre nach der Einführung des Fernsehens ein privates Gerät anschaffen konnte, lieferte mit dem »Patschenkino« ebenfalls eine Sensation : »Einen Fernseher bekamen wir erst, als ich schon in die Volksschule ging. Wer noch keinen eigenen Apparat hatte, besuchte irgendwelche Bekannten mit so einem Gerät, und in großer Runde saß man dann vor populären Sendungen ! Aus den in die Küche getragenen Fauteuils blickten wir also in den Fernseher im Kabinett, – so konnte man mich wegschicken, wenn Schlafenszeit war, oder ich eine Sendung nicht sehen durfte.«110 In den Sechzigerjahren stieg die Ausstattung der Privathaushalte rasch an, 1968 wurde österreichweit die Millionenmarke überschritten. 1974 besaßen bereits 69 Prozent der Wiener Haushalte ein Schwarz-Weiß-Gerät, 14 Prozent sogar einen Farbfernseher. Bis 1984 verkehrte sich dieses Verhältnis (19 Prozent Schwarz-Weiß- und 61 Prozent Farbfernseher). Mit den im privaten Familienkreis konsumierten Fernsehsendungen wurde eine häusliche Unterhaltungs240
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus und Freizeitform kreiert, die die innerfamiliale Kommunikation massiv beeinflusste. Das Medium begünstigte »die Herausbildung und Standardisierung des familialen Innenraums als privilegierten Ort des privaten Konsums«.111 Nicht mehr im öffentlichen Raum, sondern mitten im Wohnbereich wurden nun durch das Fernsehen Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle produziert und ihre Befriedigung mit dem Geund Verbrauch von Gütern verbunden. Durch den Zugriff auf das »Private« trug das Fernsehen essenziell zur Kommerzialisierung des Lebens und zur Durchsetzung des Konsumismus bei. Mit der Flüchtigkeit seiner Bilder stimulierte es aber auch dazu, die Dinge nur einen – im wahrsten Sinn des Wortes – Augenblick zu besitzen. Visueller Konsum gewann jedoch nicht nur durch das Fernsehen an Bedeutung. Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren avancierte das »Bummeln« und »Auslagenschauen« zu einer beliebten Freizeitgestaltung der Wiener und Wienerinnen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde »shopping« modern. Neben dem Schauen, Angreifen und Kaufen spielte die Wunschproduktion eine immer zentralere Rolle. Flanieren, Bummeln und Shopping sind jene Formen des Konsumierens, bei denen der reale Ge- und Verbrauch von Waren durch Imagination und Tagtraum ersetzt wurden. Eine weitere Möglichkeit des Freizeitkonsums eröffnete sich mit der individuellen Motorisierung. In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre setzte eine »Autowelle« ein, die man in den Siebziger- und Achtzigerjahren zunehmend als »Verkehrslawine« zu beschwören begann (Abb. 19). Anfang der Fünfzigerjahre überstieg die Zahl der Personenkraftwagen (3,3 pro hundert Haushalte) nur knapp die der Motorräder oder Motorfahrräder. Im Gegensatz zu Letzteren nahm der Autobestand allerdings rasant zu : 1961 gab es bereits 22, 1971 47 und 1981 66 Pkw pro hundert Haushalte (Abb. 20). Besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde der Ankauf eines eigenen Autos als wichtiger Schritt in Richtung Wohlstand empfunden. So auch von Irene H., bei der 1956 ein Wagen ins Haus kam : »Es war schon eine besondere Sache, wenn man in den Fünfzigerjahren bereits ein eigenes Auto besaß. Wir hatten, wie viele andere zu jener Zeit, zuvor einige Jahre ein Motorrad benützt, eine Douglas, zweizylindrig, mit je 175 Kubikzentimeter Inhalt, gebaut 1925. Auf kurzen Strecken hatte sie sogar brav die ganze Familie befördert. (…) Als sich aber die Geburt unseres Sohnes ankündigte, mußte eine andere Lösung gefunden werden, und sie hieß : Opel Olympia, Baujahr 1952, eine Cabrio-Limousine. Wir waren überglücklich. Besonders das Stoffdach begeisterte uns sehr, wir öffneten es bei jeder sich bietenden Gelegenheit.«112 Das »eigene Auto« wurde zum Inbegriff von Mobilität und Freiheit, zum Kristallisationspunkt von Lebensentwürfen und Weltbildern, aber auch zur Chance, der durch die Vollmobilisierung an Lebensqualität verlierenden städtischen Umwelt zu entkommen.113 Anschaffung, Erhaltung und Betrieb des eigenen Fahrzeugs nahmen innerhalb der Haushaltsausgaben einen immer grö241
franz x. eder ßeren Platz ein. Besonders in der zweiten Hälfte der Sechziger- und ersten Hälfte der Siebzigerjahre vervielfachten sich die realen Mehrausgaben : Zwischen 1965 und 1970 stiegen sie auf rund das Dreifache, zwischen 1970 und 1975 um weitere dreißig bis fünfzig Prozent. Spätestens als die Benzinpreise infolge der Erdölkrise drastisch angehoben wurden und das Handelsministerium 1974 einen autofreien Tag pro Woche verordnete, zerplatzte der Traum vom problemfreien und grenzenlosen Individualverkehr.114 Die negativen Seiten der allgemeinen Mobilisierung wurden immer sichtbarer : Luftverschmutzung und Lärmbelästigung waren genauso wenig zu übersehen wie die Überlastung des Wiener Straßennetzes. Als Reaktion forderten die einen eine Einschränkung des Individualverkehrs zugunsten des öffentlichen Verkehrs, die anderen den weiteren Ausbau von Schnell- und Umfahrungsstraßen. Die Zunahme des Verkehrs resultierte jedoch nicht nur aus der wachsenden Zahl von Privatautos und aus dem zunehmenden Berufs- und Pendlerverkehr, sondern auch aus dem ab den Siebzigerjahren beschleunigten Wandel der Einkaufsmuster und dessen Folgen für die Wiener Geschäftslandschaft. 1973/74 erledigte noch der Großteil der Wiener und Wienerinnen den täglichen Einkauf in der unmittelbaren Umgebung der Wohnung und benützte dabei ungefähr zu gleichen Teilen Bedienungs- und Selbstbedienungsläden. Für Großeinkäufe von Lebensmitteln und insbesondere von Bekleidung, Möbel und Elektrogeräten fuhr man auch schon in den Supermarkt.115 Viele neue Supermärkte, die nicht nur mit Angebot und Preisen, sondern auch mit Gratis-Parkplätzen lockten, wurden an der Peripherie erbaut und waren nur mit dem Auto erreichbar. Der Boom der Supermärkte führte ab den Achtzigerjahren zur Verschlechterung der Nahversorgung und Ausdünnung der lokalen Fachgeschäfte. Die Errichtung der »Shopping City Süd« 1976 hatte zur Folge, dass Kaufkraft von Wien nach Niederösterreich gezogen wurde. Die rasch steigenden Besucher- und Umsatzzahlen der scs belegen, dass man hier die Konsumorientierung der mobilen Gesellschaft schon früh erkannt hatte. Das Erfolgsrezept lautete : »Einkaufen mit dem Auto, Einkaufen und Erlebnis und Freizeitspaß und Einkaufen für jede Bedarfsdeckung an einem Fleck.«116 Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren verwendete man den eigenen Wagen nicht nur für innerstädtische Fahrten, sondern auch bei Ausflügen und Urlaubsreisen. Zusammen mit »Unterricht, Erholung und Sport« machten die Urlaubsausgaben der Wiener Haushalte zwischen 1954/55 und 1984 einen immer größeren Posten aus (Abb. 13). Verwendeten die Haushalte 1954/55 nur 6,3 Prozent ihrer Ausgaben dafür, so stieg der entsprechende Wert bis 1964 auf 8, bis 1974 auf 11,6 und bis 1984 auf 15 Prozent. Die Erhebungen der Wiener Arbeiterkammer zeigen, dass die Realausgaben für Erholung und Urlaub nicht kontinuierlich, sondern in zwei Phasen, nämlich in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren und in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre, wuchsen. Arbeiter- und Angestelltenhaushalte realisierten 242
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus ihre Urlaubswünsche besonders in der ersten Phase zeitverschoben : Arbeiter/innen steigerten innerhalb kurzer Zeit, nämlich in der zweiten Hälfte der Fünfziger, ihre Urlaubs- und Erholungsausgaben um rund das Dreifache. Angestellte hingegen verfügten schon in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre und bis in die Mitte der Sechzigerjahre über ein kontinuierlich wachsendes Urlaubsbudget. In der zweiten Phase, ab Mitte der Siebzigerjahre, steigerten beide Gruppen ihre Urlaubsausgaben um achtzig bis neunzig Prozent. In beiden Phasen kam es zu grundlegenden Veränderungen beim Reisen und Urlauben der Wiener Bevölkerung. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren standen neben den Sonntagsausflügen in die nähere Umgebung vor allem österreichische Destinationen im Mittelpunkt. Angehörige der wohlhabenderen Schicht fuhren auch schon an die Adria und konnten damit einen vielbesungenen Traum realisieren. Mit steigenden Einkommen und verlängertem Urlaubsanspruch – 1965 wurde die dritte Urlaubswoche eingeführt – konnten sich immer mehr Personen auch Auslandsreisen leisten. Von den 44 Prozent der Wiener Haushalte, deren Mitglieder 1972 auf Urlaub gingen, fuhr bereits ein Drittel ins Ausland. Bei den Inlandszielen rangierte Niederösterreich (27 Prozent) vor der Steiermark (23 Prozent) und Kärnten (13 Prozent), im Ausland führte Italien (32 Prozent) vor Jugoslawien (26 Prozent) und Deutschland/Schweiz (zusammen 20 Prozent).117 Die meisten Reisen dauerten rund zwei Wochen (41 Prozent), eine recht große Zahl von Personen konnte aber auch schon drei Wochen auf Urlaub (34 Prozent) fahren. Das Reisen stellte für viele eine beträchtliche finanzielle Belastung dar, sodass sich nur 55 Prozent der Haushalte am Urlaubsort ausschließlich in Speiselokalen verköstigten, der Rest verpflegte sich mehr oder weniger selbst. Das Reise- und Urlaubsverhalten der Wiener Bevölkerung, wie der Österreicherinnen und Österreicher insgesamt, änderte sich ab Mitte der Siebzigerjahre in vielerlei Hinsicht.118 Wenn es das Einkommen erlaubte, trat man jetzt – auch wegen des vierwöchigen Urlaubsanspruchs und des »verlängerten Wochenendes« – Mehrfach- und Kurzurlaube an. Die Zahl der Auslandsurlaube und -reisen überstieg die Inlandsaufenthalte, wobei bei ersteren weiter entfernte Destinationen wie Griechenland, Spanien und die Türkei immer beliebter wurden. Im Inland avancierte das »sonnensichere« Kärnten zum bevorzugten Urlaubsziel. Inlandsreisen wurden immer seltener mit Eisenbahn oder Autobus durchgeführt und immer öfter mit dem eigenen Auto. Bei Auslandsreisen hingegen verlor das Auto deutlich gegenüber dem Flugzeug. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren galt die Freiheit auf zwei oder vier Rädern als Zeichen von Wohlstand und modernem Lebensstil, in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde die individuelle Mobilität zur Selbstverständlichkeit. »Mobil«, »modern«, »frei«, das sind nur einige der Schlagwörter, mit denen man in den Nachkriegsjahrzehnten die positiven Seiten der Konsumgesellschaft bezeichnete. Konsumkritiker hingegen agierten, egal, welche weltanschauliche Position sie ein243
franz x. eder nahmen, bis um 1970 im Stil der traditionellen westeuropäischen Luxuskritik. Massenkonsum wurde »als Quelle von moralischer Verderbnis, Dekadenz und Sinnkrise (…) oder als Ende der Bürgerlichkeit, als Entfremdung oder Verschleierung der Abhängigkeits- und Herrschaftsstrukturen in Kapitalismus und Industriegesellschaft«119 gesehen. Eingebettet in die Modernisierungskritik fand seit den späten vierziger Jahren ein Nationalisierungsdiskurs statt, in dem österreichische Konsumgüter bevorzugt behandelt und ausländische, insbesondere amerikanische, Waren abgewertet wurden. Den ersten wirklichen Höhepunkt erlebte die Diskussion um den Konsum in den späten Fünfzigerjahren. Ausgelöst wurde sie durch den Konsumhedonismus der »Halbstarken« oder, auf wienerisch, der »Eckensteher« : »Da Wüde auf seina Maschin«, Jeans und Lederjacken, schwingende Röcke und toupierte Frisuren galten diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Distinktionsmittel gegenüber den Verzichts- und Sparsamkeitsforderungen der Kriegsgeneration, aber auch als Absage an die Heimatseligkeit der österreichischen Hoch- und Populärkultur.120 Durch ausländische Konsumartikel, Halbstarkengehabe und sexuell konnotierten Rock’n’Roll zeigten sie eine Haltung, die nicht auf Familie und Akkumulation, sondern auf die individuelle Befriedigung im Hier und Jetzt abzielte.121 Mit ihrem demonstrativen Konsum distanzierten sich die aus der Arbeiterschaft stammenden jungen Leute aber auch von den traditionell asketischen Werten der Arbeiterbewegungskultur. Trotz begrenzter Geldmittel pflegten sie einen konsumorientierten Lebensstil und können deshalb als die Avantgarde des modernen Konsumismus gelten.122 Während der Sechzigerjahre konnten immer größere Teile der Bevölkerung am Wirtschafts- und Konsumwunder partizipieren. Mit wachsendem Wohlstand verringerte sich die Differenz zwischen den Konsummustern der einzelnen sozialen Schichten, und bürgerliche Konsumstandards breiteten sich immer mehr aus.123 Über die Jahrhunderte hinweg hatte man an Kleidung, Wohnen und Essen feststellen können, welcher sozialen Schicht eine Person angehörte. Nun wurde den Gütern und Dienstleistungen zunehmend die soziale Trennschärfe entzogen. Einheit in der Vielfalt, lautete das moderne Konsummuster, Verfeinerung der Unterschiede war seine Zielsetzung. Angebotsrevolution und zunehmende Unübersichtlichkeit hatten zur Folge, dass in den Sechzigerjahren Institutionen entstanden, die dem Massenkonsum zwar grundsätzlich positiv gegenüberstanden, ihn aber kritisch und professionell durchleuchten wollten. Konsumexperten und Konsumentenschützer traten mit dem Anspruch auf, die Beziehung zwischen Markt und Konsument/inn/en nach den »vier Grundrechten der Verbraucher« – Sicherheit, Information, Auswahl und Anhörung – zu durchleuchten.124 Als wichtigste diesbezügliche österreichische Institution wurde 1961 von den Sozialpartnern der »Verein für Konsumenteninformation« ins Leben gerufen.125 Konsumentenberatung und Werbeindustrie waren auch die Ins tanzen, die das aus der Zwischenkriegszeit stammende Subjekt der »Verbrauche244
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus rin« in den/die (un)mündige/n »Konsumenten/in« überführten. Diese Konstruktion wurde durch die zunehmende wissenschaftliche Erforschung des Konsumverhaltens beeinflusst.126 Bis zum Beginn der Sechzigerjahre fasste die Konsumforschung die grundlegenden Marktzusammenhänge und das ökonomische Gleichgewicht abstrakt-theoretisch und sah den »homo oeconomicus« als rationales, informiertes und vorausschauendes Konsumsubjekt. Mit zunehmendem Warenangebot, frei verfügbaren Einkommen und der besseren Ausstattung der Haushalte wurden die Grenzen dieses Modells immer deutlicher. Der Markt der Verkäufer verwandelte sich in den Sechzigerjahren in einen der Käufer, die abstrakten »Verbraucher/innen« wurden zu konkreten »Konsument/inn/en«. Angesichts dieser Entwicklung ging man an die empirische Erforschung des Konsumverhaltens und versuchte, soziologische und psychologische Erklärungen für das Handeln der Konsument/inn/en zu finden. Die Konsumentenforschung platzierte sich dabei zwischen zwei widersprüchlichen gesellschaftlichen Interessenlagen : einerseits den wirtschaftlichen Bestrebungen der Betriebe, die gerade bei Angebotsüberhang Informationen über die Verhaltensweisen und Wünsche der Käufer benötigten, um ihr Marketing zu justieren,127 andererseits bediente die Erforschung der psychischen und sozialen Regeln des Güter- und Dienstleistungskonsums auch kritisch-emanzipatorische Ansprüche. Erst wer die bewussten und unbewussten Regeln des Konsumierens kenne, sei keine Verbrauchsmarionette, sondern mündiger Konsument, propagierten die Konsumentenschützer. Den Zwängen der Konsumgesellschaft entkommen wollten die Hippies und ein Teil der Student/inn/en in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren. Im Gegensatz zu den Halbstarken lautete ihr Credo nicht Konsumhedonismus, sondern Konsumaskese. Mit der Frontstellung gegenüber der »Überflussgesellschaft« und der konsumistischen Lebenseinstellung distanzierten sie sich auch von den ökonomischen Errungenschaften ihrer Eltern und deren scheinbar apolitischem, auf wirtschaftliche Akkumulation fixiertem Lebensstil. Obwohl hier Bedürfnislosigkeit zur Schau getragen und bei Kleidung und Wohnen alle Konsumzwänge negiert wurden, reagierte die Wirtschaft rasch und flexibel auf die veränderte Nachfrage. Als neue Konsumtrends wurden zum Beispiel »Casual wear«, die unmodische Bekleidungsmode, und »Selbstbaumöbel«, die der automatisierten industriellen Massenfertigung entstammten, erfunden. Mit der »Rockmusik« und ihren Nachfolgestilen entstanden distinktive Ausdrucks- und Verständigungsformen junger Menschen und ein Jugendkult(ur)markt, der das anwachsende Konsumpotenzial dieser Generation bediente. Die konsumkritische Haltung sensibilisierte besonders jüngere Menschen in den Siebzigerjahren für die aus dem Massenkonsum und der industriellen Produktion resultierenden Schäden für Umwelt und Leben. Die »Grünbewegung« trug das »Umweltbewusstsein« und den Gedanken des »Umweltschutzes« in eine breite Öffentlichkeit. Seit 1985 nahm das Umweltbewusstsein deutlich zu.128 In den Acht245
franz x. eder ziger- und Neunzigerjahren wurde aber immer deutlicher, dass der Siegeszug des Konsumismus trotz steigendem Umweltbewusstsein und vermehrter Konsumkritik auch und gerade bei jüngeren Menschen nicht mehr aufzuhalten war.
»Neue Armut« und Konsumismus (1982/83–1995) Nach dem zweiten Erdölschock ging in Wien, wie in ganz Österreich, die Zeit der Vollbeschäftigung zu Ende. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern war es zwischen 1975 und 1982 durch »deficit spending«, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und nicht zuletzt durch die weitere Expansion des tertiären Sektors und hier besonders des öffentlichen Dienstes gelungen, die Auswirkungen der weltweiten Krise hintanzuhalten. 1982/1983 stieg die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen in Wien von 2,1 auf 3,3 Prozent und überschritt damit die Marke von drei Prozent, bis zu der von Vollbeschäftigung gesprochen wurde (Abb. 12).129 Ab diesem Zeitpunkt erhöhte sich die Arbeitslosenrate mehr oder weniger kontinuierlich auf 7,3 Prozent im Jahr 1995. Mit der Zahl der Arbeitslosen vergrößerte sich die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit : Zwischen 1980 und 1995 erhöhte sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen (sechs Monate und mehr ohne Beschäftigung) von 18,5 auf 43,6 Prozent.130 Im Gegensatz zu ihnen konnte die Gruppe der Beschäftigten zwischen 1983 und 1995 ihr Haushaltseinkommen vergrößern (Abb. 8), wobei nicht alle sozialen Schichten im selben Ausmaß zum Zug kamen. Das Netto einkommen der Wiener Arbeiter- und Angestelltenhaushalte nahm um rund 15 Prozent zu, das der öffentlich Bediensteten nur um sieben Prozent. Aufgrund der unterschiedlichen Haushaltsstruktur und Erwerbstätigkeit der Haushalte kommt diese Entwicklung bei den Pro-Kopf-Einkommen noch klarer zum Vorschein : Die Angestellten verdienten 1995 rund 26 Prozent mehr als 1983, die Arbeiter/innen und öffentlich Bediensteten hingegen nur 16 bzw. 18 Prozent.131 Im Jahr 1995 lag der Median des Netto-Haushaltseinkommens der Arbeiter/innen bei 89 Prozent des Einkommens der unselbstständig Erwerbstätigen, das Einkommen der öffentlich Bediensteten bei 105 Prozent und das der Angestellten bei 106 Prozent. Die Personaleinkommen streuten in noch größerem Ausmaß : Die Arbeiter/innen rangierten mit einem Netto-Pro-Kopf-Einkommen von 81 Prozent deutlich unter dem der öffentlich Bediensteten (104 Prozent des durchschnittlichen Personaleinkommens) und Angestellten (112 Prozent). In langfristiger Perspektive muss allerdings festgehalten werden, dass sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren, im Vergleich etwa mit den Fünfziger- und späten Siebzigerjahren, die Streuung der Einkommen der Beschäftigten nicht gravierend veränderte (Abb. 9). Bei einzelnen Berufsgruppen ist es in diesem Zeitraum dennoch zu größeren Einkommensunterschieden gekommen. 246
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Die Männer- und Fraueneinkommen näherten sich hingegen an : Laut Mikrozensuserhebungen reduzierte sich von 1981 bis 1995 der Vorsprung der nominellen Nettoeinkommen der Männer gegenüber dem der Frauen von 31 auf 19,5 Prozent.132 Die geschlechterspezifischen Einkommensdifferenzen zwischen den Berufsschichten variierten : 1993 verdienten bei den öffentlich Bediensteten Wiens die Männer um zwölf Prozent mehr als ihre Arbeitskolleginnen, die Arbeiter um 19 Prozent mehr als die Arbeiterinnen, bei den Angestellten hatten die Männer sogar ein um rund vierzig Prozent höheres Netto-Personeneinkommen. Das Ungleichgewicht der Männer- und Fraueneinkommen wie auch die unterschiedliche Berufskarrieren von Männern und Frauen zeigten sich auch an deren Anteil an den am schlechtesten und besten Verdienenden : 1993 verdienten rund sechs Prozent der unselbstständig beschäftigten Männer und 15 Prozent der Frauen unter 8400 Schilling und fielen so in das unterste Dezil der Einkommen. Im obersten Dezil hingegen war das Verhältnis umgekehrt : Zwanzig Prozent der Männer und neun Prozent der Frauen verdienten über 23.800 Schilling.133 Der gespaltene Arbeitsmarkt, die steigende Arbeitslosigkeit und die zunehmend unsicheren Arbeitsverhältnisse hatten zur Folge, dass sich auch die Konsumchancen polarisierten. Ärmere oder armutsgefährdete Haushalte konnten den Forderungen des Konsumismus in den Achtziger- und Neunzigerjahren nicht mehr folgen und mussten ihre Haushaltsausgaben den niedrigen und vor allem nicht mehr längerfristig prognostizierbaren Einkommen anpassen. Die Verlierer der postfordistischen, auf eine effektivere Nutzung der Arbeitskräfte abzielenden Produktionsweise waren vor allem die wenig qualifizierten und unflexiblen Arbeitskräfte.134 Sie wurden von der rasanten Entwicklung der Mikroelektronik, den steigenden Anforderungen an die Beschäftigten und dem gegen traditionelle Betriebsverbundenheit und lebenslange Arbeitsverhältnisse gerichteten Prinzip des »Hire and fire« am stärksten betroffen. In Wien machten die armutsgefährdeten Haushalte 1993/94 (ausgabenbezogen) rund 16 Prozent aller Haushalte aus. Nicht berücksichtigt wurden dabei Obdachund Wohnungslose oder in Anstalten lebende Personen. Der Anteil aller armen und armutsgefährdeten Haushalte lag damit noch einiges über dem angegebenen Wert. Armutsgefährdete Haushalte wiesen eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf :135 Ihre Hauptverdiener waren oft ungelernte Arbeiter/innen, Hilfsarbeiter/innen, niedrig qualifizierte Angestellte oder Arbeitslose. Häufiger als andere hatten diese Hauptverdiener eine geringe Schulbildung und keinen Lehrabschluss. Sie lebten in kleineren und älteren Substandardwohnungen und häufig mit mehreren Kindern. Alleinerziehende fanden sich überproportional oft in ihrer Gruppe. Im Konsumverhalten unterschieden sich Haushalte mit niedrigem Einkommen 1993/94 – verglichen mit den Jahren 1974 und 1984 – in mehrerer Hinsicht von den wohlhabenden und reichen Haushalten (Abb. 7.3 bis 7.5).136 In den unteren Ausgabengruppen nahmen 247
franz x. eder nun neben den Ernährungsausgaben die Wohnkosten einen fast gleich großen Anteil ein. Alle anderen Ausgaben blieben, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, weit zurück. Mit steigendem Haushaltseinkommen spielten neben den genannten Posten die Ausgaben für (private) Verkehrsmittel, für Bekleidung und vor allem auch für Erholung und Sport eine immer wichtigere Rolle. Bei den wohlhabenderen Haushalten lagen die Ausgaben für eigene Verkehrsmittel, Erholung und Sport 1993/94 ungefähr gleichauf mit denen für Ernährung und Wohnung (ohne Heizung). In einem (österreichweiten) Vergleich armutsgefährdeter und ausgabenstarker Erwerbstätigenhaushalte spitzt sich die Konsumdifferenz noch mehr zu : Für Ernährung und Wohnen verwendeten armutsgefährdete Haushalte pro Kopf rund 51 Prozent ihres Budgets (oder 3.280 Schilling), ausgabenstarke hingegen nur 24 Prozent (8.100 Schilling). Für Erholung, Sport, Freizeit und Verkehr konnten Letztere 38 Prozent (13.910 Schilling) ausgeben, Erstere nur 23 Prozent (1.476 Schilling).137 Insgesamt erhöhten sich zwischen 1984 und 1993/94 die realen Konsumausgaben der Wiener Haushalte um zehn Prozent, die Pro-Kopf-Ausgaben sogar um zwölf Prozent (Abb. 14 u. 15). Diese Zuwächse waren allerdings nicht gleichmäßig über die einzelnen Gruppen verteilt (Abb. 5.4 u. 5.5). Sie resultierten aus einer Ausgabensteigerung beim Wohnen (Miete und Instandhaltung, nicht aber Wohnungsausstattung), mit 17 Prozent pro Haushalt und zwanzig Prozent pro Kopf, weiters aus Mehrausgaben bei Bildung, Erholung, Freizeit und Sport (16 Prozent pro Haushalt und 18 Prozent pro Kopf). Den größten Anteil an der Ausgabensteigerung hatten allerdings die eigenen Verkehrsmittel (inkl. Nachrichtenübermittlung ; 32 Prozent pro Haushalt und 34 Prozent pro Kopf). Nicht alle Zuwächse lassen auf einen tatsächlichen Mehrkonsum schließen. Wie bereits in den Jahrzehnten davor hing die Ausgabensteigerung einzelner Konsumgruppen auch von der Preisentwicklung ab : Mehr oder weniger im Rahmen der Gesamtpreisentwicklung blieben die Preise der boomenden Konsumbereiche Erholung, Freizeit, Sport und Verkehr. Am stärksten stiegen die Preise für das Wohnen. Durch günstige Wohnungsverbesserungskredite für die Mieter, aber insbesondere durch Anreize zur Wohnungsrenovierung und -sanierung für die Hausbesitzer stieg das Ausstattungsniveau der Wiener Haushalte. Die Hebung der Wohnqualität hatte jedoch zur Folge, dass in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre kaum mehr billige Wohnungen auf dem Markt waren und einkommensschwache Familien in eine neue Wohnungsnot schlitterten. Anders als bei den Wohnungskosten kam es bei den Posten Ernährung, Kleidung und Haushaltsausstattung zu vergleichsweise geringen Preiserhöhungen. Die Verbreitung von Supermärkten und Ladenketten und vor allem von Billig- und Diskontfirmen hatte hier zur Folge, dass das Warenangebot ständig wuchs und die Preise niedrig blieben. Auch die weitere Ansiedlung von großen Handelsbetrieben an den Stadträndern verstärkte den Konkurrenzkampf.138 Das innerstädtische »Geschäftesterben« nahm weiter zu. 248
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Besonders immobile Personen bekamen nun die negativen Seiten dieses Strukturwandels zu spüren. Wer über ein eigenes Auto verfügte, machte Großeinkäufe schon allein wegen der »Sonderangebote« und der niedrigeren Preise in Super- oder Megamärkten. Dass dort das »Einkaufsvergnügen« schnell zur anstrengenden Arbeit ausarten konnte, demonstriert folgende Interviewpassage aus einer Studie zu den Praktiken des Einkaufens, Kochens, Essens und Trinkens. Frau Maria S. meint zum Thema »Großeinkauf« : »Ja, also so ein Rieseneinkauf wie im Metro is ma eher unsympatisch, weil ich, ich mag das Manövrieren dieser riesen Wägn nicht, ich mag die Riesenmengen nicht so sehr schleppen und heben, und außerdem hab is Gfühl, daß i dann sowieso mehr einkaufe als ich brauche und es nimmt ma zu viel Zeit. I habs Gfühl, i verschenk an halben Tag fürs Einkaufen. Es is natürlich Selbstbetrug, weu wenn ich zehn mal ins Pam Pam des gleiche einkaufen geh, verbrauch i wahrscheinlich mehr Zeit. Aber des is auch – des Pam Pam is heller und freundlicher und netter ois des so ein Riesen-Metro-Markt. Es is ma unsympathisch.«139 Um die Mühen des Einkaufens vergessen zu lassen, versuchte man, die Stimmung der Käufer/ innen positiv zu beeinflussen. Die Verkaufssituation wurde »psychologisch«, durch entspannende Hintergrundmusik, einladendes Interieur oder »Erlebnis«-Angebote aufbereitet. Kaufen sollte ein Konsum-»Erlebnis« werden. Trotz veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen blieb die Konsumorientierung in Österreich und Wien in den Achtziger- und Neunzigerjahren ungebrochen. Auch bei steigender Arbeitslosigkeit und wenig wirtschaftlichem Optimismus wurde nicht viel mehr gespart. Die österreichische Sparquote stieg erst mit dem Verfall der Energiepreise nach 1986 wieder an. (Die Realeinkommensgewinne wurden von den Konsument/inn/en zunächst nicht als dauerhaft eingeschätzt.) (Abb. 11). Auch die Zunahme im Jahr 1989 resultierte aus einkommensseitigen Zugewinnen, nämlich aus der Steuerreform und ihrer Entlastung der Haushaltsbudgets. Der nachfolgende Höhepunkt im Sparen dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit auf statistische Ursachen – die Umstellung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – zurückzuführen sein und nicht auf einen realen Sparboom. Nach 1991 ging die Sparquote der Österreicherinnen und Österreicher wieder merklich zurück. Berücksichtigt man die genannten Faktoren, kann für die gesamte Periode eine insgesamt geringe Sparneigung bei günstigem Konsumklima diagnostiziert werden.140 Anders als im relativ stabilen Konsumklima kam es bei der Einstellung zum Konsum in den Achtzigerund Neunzigerjahren zu einigen markanten Veränderungen :141 So fühlten sich die Konsument/inn/en im Jahr 1992 etwa durch das Marktangebot stärker überfordert als zehn Jahre zuvor und verlangten nach einfachen und problemlos zugängigen Produktinformationen. Werbung wurde als omnipräsent und als wichtiger Faktor im Kauf- und Konsumverhalten eingeschätzt. Gleichzeitig verringerte sich die kritische Haltung gegenüber der Werbung. Der symbolische Wert und die Prestigefunk249
franz x. eder tion von Konsumgütern wurden hoch eingeschätzt, das Produktdesign in Relation zum Gebrauchswert noch stärker hervorgekehrt. Im Zehnjahresvergleich nahm das Preisbewusstsein der Konsument/inn/en deutlich ab, detto ihre Ausgabenplanung und der Anspruch an die Langlebigkeit eines Produktes. Diese Einstellungsänderungen sind typisch für den Wohlstandskonsum von Haushalten mit mittleren und höheren Einkommen. Sie sind aber auch ein Hinweis auf eine Beschleunigung und Pluralisierung des Konsums und seine zunehmend sozialintegrative Funktion. Dies galt und gilt insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene. In ihrem Leben spielte die konsumvermittelte Kommunikation, Identitätsbildung und Distinktion eine immer größere Rolle. Die Kommerzialisierung der Freizeit schritt bei ihnen besonders rasch voran : So bejahten 1987 bereits 63 Prozent der Wiener Jugendlichen die Frage, ob Freizeit gleich Konsumwelt, mit »ja«.142 Gleichzeitig erhielt die Arbeit – und dies nicht nur bei jungen Erwachsenen – einen stärker instrumentellen Charakter. Nichtmaterielle Ansprüche an die Arbeitswelt verloren gegenüber der Geldorientierung deutlich an Gewicht. Möglichst viel zu verdienen, um möglichst viel zu konsumieren – das wurde die Zielsetzung der Gewinner der postfordistischen Arbeitsmoral. Die Konsummenge reichte dabei schon längst nicht mehr als Distinktionsmittel aus. Mit demonstrativer Markenpräferenz zeigte die Nike-Generation, welchem Lebensstil sie zuneigte. Konsumpluralismus und die Beschleunigung von Trends und Moden waren Zeichen eines allgemeinen sozialpsychologischen Wandels, mit dem passives Konsumieren und Verbrauchen zu einer dominanten Denk- und Handlungsweise wurde.143 Kinder und Jugendliche gaben dabei vielfach vor, was Erwachsene in ihrem »Jugendlich-Sein« konsumierten. Der Konsum fungierte immer mehr als Identitätshülse, Konsumieren avancierte zur maßgeblichen Form der Selbstkonstruktion. Solcherart gewendet, zielte die pluralistische Konsumgesellschaft auf eine nur auf den ersten Blick anachronistische Uniformität durch Konsumdifferenz. »Wer sich unterscheidet, der gehört dazu«, suggerierte die Werbung in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Im Marketing wurde folgerichtig nicht mehr die Kernfamilie, die als maßgebliche Lebensform gegenüber zeitlich begrenzten Partnerschaften, Rumpffamilien und Einpersonenhaushalten immer mehr an Terrain verlor, adressiert, sondern das Individuum. Viele Konsumtrends der Achtziger- und Neunzigerjahre können als Materialisierung der Differenzideologie gelesen werden. So verspricht zum Beispiel der »Erlebnis«-Konsum die massenhafte »Selbsterfahrung« und Abgrenzung des Ichs durch künstlich stimulierte Wahrnehmungen und »Erfahrungen«. Ähnlich auch die moderne Körperkonstruktion, bei der anders als im »oberflächlichen« Gebrauch von Kleidung und Autos die Differenz direkt in den Körper eingeschrieben wird. Gesundheits- und Schönheitspflege, aber auch sportliche Tätigkeiten sollen den Körper in eine Form bringen, die ein konzises und selbstbewusstes Ich verspricht 250
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus und seine/n Träger/in von anderen unterscheidbar macht. Der Differenzboom resultiert aus dem Niedergang traditioneller Sinnangebote und Weltanschauungen, aber auch aus dem Verlust der Identitätsstiftung durch Arbeit. Die postfordistische Produktionsweise beschleunigt die Arbeitsentfremdung durch maximale Er- und Ausschöpfung und zerstört lebenslange, durch den Beruf vermittelte Identitäten. Im Gegenzug verheißt sie ein Mehr an »eigentlichem« Leben, an arbeitsfreier Zeit und Konsum.
Anhang
251
franz x. eder
252
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
253
franz x. eder
254
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
Abbildung 5.1: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1946-1958 (1945=100)
1300
1100
Nahrungs- u. Genußmittel Wohnung
900
Beheizung u. Beleuchtung Bekleidung Haushaltsgegenstände
700
Reinigung u. Körperpflege Bildung u. Unterhaltung
500
Verkehr Gesamtindex
300
1958
1957
1956
1955
1954
1953
1952
1951
1950
1949
1948
1947
1946
100
Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten
Abbildung 5.2: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1959-1966 (1958=100)
145 140 Ernährung
135
Wohnung
130
Beheizung u. Beleuchtung
125
Bekleidung Hausrat
120
Körper- und Gesundheitspflege
115
Bildung, Unterricht, Erholung Verkehr
110
Gesamtindex
105
1966
1965
1964
1963
1962
1961
1960
1959
100
Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten
255
franz x. eder
Abbildung 5.3: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1967-1976 (1966=100)
300 280 260 Ernährung u. Getränke
240
Wohnung
220
Beheizung u. Beleuchtung Bekleidung
200
Hausrat
180
Körper- und Gesundheitspflege
160
Bildung, Unterricht, Erholung
140
Verkehr Gesamtindex
120
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
1969
1968
1967
100
Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten
Abbildung 5.4: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1977-1986 (1976=100)
200 190 180
Ernährung u. Getränke
170
Wohnung Beheizung u. Beleuchtung
160
Bekleidung
150
Hausrat
140
Körper- und Gesundheitspflege
130
Bildung, Unterricht, Erholung Verkehr
120
Gesamtindex
110
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
100
Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten
256
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
Abbildung 5.5: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1987-1995 (1986=100)
150 145 Ernährung u. Getränke
140
Wohnung
135
Beheizung u. Beleuchtung
130
Bekleidung Hausrat
125
Körper- und Gesundheitspflege
120
Bildung, Unterricht, Erholung Verkehr
115
Gesamtindex
110 105
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
100
Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten
257
franz x. eder
258
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
259
franz x. eder
260
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
261
franz x. eder
262
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
263
franz x. eder
264
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
265
franz x. eder
266
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
Getreide erzeugnisse
Milch aller Art
Käse
Fette
Fleisch u. Wurst
Fisch
Zucker(waren)
Eier
Gemüse u. Obst
Speisezutaten
Kaffe, Tee, Schokolade etc.
Alkohol. Getränke
1925
20,1
12,3
1,0
12,2
26,9
3,2
3,7
9,0
2,6
3,3
2,1
3,6
1930
14,6
12,4
1,3
10,0
26,1
1,1
3,7
4,0
10,7
2,1
4,0
3,7
6,3
1935
19,9
12,6
1,1
10,3
21,4
0,7
5,8
3,7
10,9
2,8
4,1
3,0
3,7
1946
21,9
3,0
0,3
13,8
7,5
2,0
4,7
1,8
22,1
7,0
1,7
5,6
8,6
1947
20,7
2,5
0,2
9,2
10,6
2,3
5,3
2,0
20,5
7,8
1,5
8,7
8,7
1948
17,8
3,3
0,4
11,7
14,1
3,4
6,7
3,4
19,1
3,0
3,0
6,9
7,2
1949
15,7
5,8
1,8
12,8
20,5
1,9
5,9
4,1
12,5
2,5
4,2
5,9
6,4
1950
15,6
8,5
1,5
11,8
25,0
1,1
5,5
3,6
10,9
2,2
4,0
5,0
5,3
Sonstiges
Jahr
Tabelle 1.1 : Verteilung der Nahrungs- und Genußmittelausgaben Wiener Haushalte, 1925–1950 (in Prozent) Arbeitnehmerhaushalte 1925–1950
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch der Arbeiterkammer
Fleisch u. Fischwaren
Fette
Milch, Milch produkte, Eier
Obst u. Gemüse
Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.freie Getränke etc.
Alkohol. Getränke
16,5
25,8
8,8
17,0
10,2
11,4
3,9
6,4
1955
15,9
24,4
7,1
18,4
11,5
11,4
3,9
7,4
Sonstiges
Getreide erzeugnisse
1951
Mahlzeiten u. Getränke außer Haus
Jahr
Tabelle 1.2 : Verteilung der Nahrungs- und Genußmittelausgaben Wiener Haushalte, 1951–1975 (in Prozent) Arbeiterhaushalte 1951–1975
1960
13,9
25,0
5,1
16,2
15,3
12,1
4,3
0,7
7,4
1965
13,1
24,7
4,2
16,2
16,1
11,3
5,0
1,2
8,2
1970
11,0
27,1
3,0
15,1
13,6
10,9
5,2
12,4
1,7
1975
9,8
25,2
2,8
13,0
11,4
10,8
5,4
19,5
2,1
267
franz x. eder
Getreide erzeugnisse
Fleisch u. Fischwaren
Fette
Milch, Milchprodukte, Eier
Obst u. Gemüse
Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.-freie Getränke etc.
Alkohol. Getränke
Mahlzeiten u. Getränke außer Haus
1951
17,3
23,2
8,3
17,8
10,8
11,2
3,4
8,0
1955
15,8
23,6
6,5
19,0
11,7
10,6
2,8
10,0
1960
13,0
24,4
4,6
16,2
16,2
11,1
3,8
0,8
9,9
1965
12,6
22,8
3,7
15,4
17,2
11,3
4,3
1,5
11,2
1970
11,0
26,0
3,0
15,0
13,6
10,9
5,9
12,5
2,1
1975
10,5
24,7
2,8
12,9
11,6
10,7
5,3
19,5
2,0
Sonstiges
Jahr
Angestelltenhaushalte 1951–1975
Getreide erzeugnisse
Fleisch u. Fischwaren
Fette
Milch, Milchprodukte, Eier
Obst u. Gemüse
Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.-freie Getränke etc.
Alkohol. Getränke
Mahlzeiten u. Getränke außer Haus
1951
17,8
29,4
7,9
15,4
9,9
11,0
4,4
4,1
1955
16,8
25,6
5,4
18,5
11,3
12,5
5,0
4,9
1960
13,7
28,6
4,3
15,9
13,4
12,5
4,7
0,2
6,7
1965
14,5
26,0
3,0
14,2
13,9
11,6
6,5
0,4
9,9
1970
14,3
26,9
3,1
15,1
13,6
11,3
6,7
0,5
8,5
1975
12,3
26,1
3,5
13,0
12,7
11,5
6,6
12,9
1,4
Sonstiges
Jahr
Pensionistenhaushalte 1951–1975
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch der Arbeiterkammer Erläuterungen : ab 1969 ohne Geschenke.
Fleisch u. Fischwaren
Fette
Milch, Milchprodukte, Eier
Obst u. Gemüse
Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.-freie Getränke etc.
Alkohol. Getränke
Mahlzeiten u. Getränke außer Haus
Sonstiges
1980
Getreide erzeugnisse
Jahr
Tabelle 1.3 : Verteilung der Nahrungs- und Genußmittelausgaben Wiener Haushalte, 1980–1990 (in Prozent); Arbeitnehmerhaushalte 1980–1990
10,1
21,7
3,8
11,7
10,5
10,1
5,1
22,9
4,0
1985
11,2
19,4
3,6
13,0
10,1
10,6
4,0
23,4
4,7
1990
12,7
17,9
2,5
11,8
10,1
10,5
3,6
25,2
5,7
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Taschenbuch der Arbeiterkammer
268
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
Tabelle 2.1 : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Arbeitnehmerhaushalte, 1912–1949 (für einen Mann über 20 Jahre ; in Prozent) Produkt Getreideprodukte Reis
1912/14
1925
1930
1935
1946
1947
1948
1949
157,3
169,6
138,4
141,5
142,9
185,0
181,1
155,3
14,8
19,6
15,1
25,6
3,4
4,8
4,9
5,9
1,5
4,8
Fette aller Art
16,1
21,3
12,4
11,2
5,7
11,9
Filz und Speck
12,8
15,2
1,3
0,5
1,0
1,0
Fleisch und Wurst
48,3
57,4
60,5
53,7
4,5
11,2
Konservenfleisch
6,7
5,6
6,1
3,9
Fisch frisch u. konserviert
0,8
**
3,4
2,0
6,4
9,9
4,7
4,7
Eier (Stück)
139,0
160,0
252,0
202,0
4,0
27,0
45,0
78,0
Milch aller Art (Liter)
198,3
158,6
195,7
168,8
32,3
41,5
54,9
104,8
Kondensmilch (Liter)
1,8
1,0
0,1
Topfen*
1,7
2,1
3,1
3,4
**
**
**
**
*
*
*
*
0,5
0,4
0,8
3,0
Gemüse
**
33,4
47,5
47,5
43,8
39,6
51,1
43,8
Erdäpfel
48,8
61,8
48,2
53,1
143,0
81,8
103,2
59,9
3,5
2,1
1,6
2,1
15,6
8,2
6,5
0,9
22,2
29,2
47,5
46,0
18,4
17,2
40,0
42,1
1,0
0,6
0,5
1,9
1,7
1,5 25,3
Käse*
Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade
19,4
23,6
27,7
25,7
7,0
8,8
19,0
Bohnenkaffee u. Ersatzkaffee
Zucker(waren)
5,2
6,0
5,7
2,0
1,3
2,6
2,7
Tee
0,1
0,1
0,1
0,1
0,1
Kakao
**
0,5
0,5
0,3
0,1
0,2
0,4
Schokolade Bier
**
0,6
1,8
0,9
0,2
0,1
0,3
1,2
69,9
11,4
21,6
10,4
13,1
9,7
12,3
15,4
Wein
8,5
1,7
3,8
4,9
4,3
5,8
5,1
3,9
Spirituosen
1,0
0,8
1,3
1,0
0,1
0,2
0,9
1,4
Salz
**
**
3,2
3,5
3,8
3,6
3,6
3,4
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch der Arbeiterkammer Erläuterung : * Topfen und Käse 1912–1935 in einer Gruppe ; ** mengenmäßig nicht erfasst
269
franz x. eder Tabelle 2.2 : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Arbeiterhaushalte, 1950– 1990 (für einen Mann über 20 Jahre ; in Prozent) Produkt
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
Getreideprodukte
156,3
136,8
119,1
104,2
90,9
75,1
76,9
75,4
89,8
6,4
6,2
5,1
5,2
4,2
4,1
3,1
4,1
5,1
Fette aller Art
18,2
21,3
19,1
21,1
14,0
11,5
12,3
12,8
13,5
Filz und Speck
6,0
5,7
5,1
3,9
3,1
2,3
2,2
1,6
1,7 59,9
Reis
43,4
41,0
48,6
49,7
55,4
57,5
56,3
55,6
Fisch frisch
Fleisch und Wurst
2,4
3,2
2,4
2,4
2,5
2,4
2,1
2,4
3,2
Fisch konserviert
0,4
0,8
1,3
1,6
1,1
1,1
1,2
1,5
1,5
Eier (Stück)
119,0
151,0
195,0
224,0
207,0
181,0
192,0
172,0
133,0
Milch div. (Liter)
167,5
169,4
182,5
176,7
145,9
126,5
101,7
101,4
113,2
0,1
0,0
0,1
0,3
1,0
1,6
0,9
1,8
0,7
*
*
*
*
4,9
4,0
3,8
2,5
2,0
3,7
4,9
5,7
7,4
7,8
6,7
6,6
6,3
8,0
Gemüse frisch u. konserviert
38,1
41,6
54,1
50,5
51,8
47,0
44,6
48,4
53,4
Erdäpfel
68,9
55,2
50,4
46,6
37,9
32,8
29,3
27,1
22,6
Kondensmilch (Liter) Butter Topfen u. Käse
Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade Zucker(waren)
1,7
1,5
0,9
0,9
0,6
0,3
0,5
0,3
0,3
48,8
48,0
80,8
69,5
65,5
56,0
56,1
54,3
66,8
0,8
0,7
1,7
4,4
5,3
5,3
4,7
4,9
5,4
24,9
28,9
29,1
28,2
21,6
15,9
15,3
13,5
9,9
Bohnenkaffee
0,4
0,9
1,5
2,0
2,4
3,1
3,4
3,8
3,8
Ersatz- u. Zusatzkaffee
2,5
1,8
1,4
1,3
0,7
0,4
0,4
0,2
0,2
Tee
0,1
0,1
0,1
0,1
0,1
0,2
0,4
0,4
0,6
Kakao
0,5
0,6
0,6
0,5
0,8
1,2
0,9
0,6
1,6
Schokolade Bier
1,2
1,5
3,3
3,9
2,7
3,1
4,1
3,8
4,5
14,5
13,0
22,4
32,1
34,8
42,1
42,7
43,1
38,2 11,2
Wein
4,8
6,5
6,6
9,4
11,0
11,7
16,5
14,9
Spirituosen
1,2
1,1
1,2
1,0
1,5
2,0
2,7
1,9
1,5
Salz
2,9
2,5
2,2
1,9
2,0
1,7
1,7
1,6
1,3
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch/Taschenbuch der Arbeiterkammer Erläuterung : ab 1969 ohne Geschenke ; * nicht als eigene Kategorie erhoben
270
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
Tabelle 2.3 : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Angestelltenhaushalte, 1950–1990 (für einen Mann über 20 Jahre ; in Prozent) Produkt
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
Getreideprodukte
139,5
126,9
111,3
98,6
83,0
76,2
73,2
81,3
81,2
Reis Fette aller Art Filz und Speck Fleisch und Wurst
5,9
5,9
5,3
5,0
4,4
3,8
4,4
3,9
3,5
19,8
21,0
20,8
20,4
13,4
12,2
11,9
12,3
11,3
4,6
5,7
4,5
4,3
3,0
2,4
1,8
1,5
0,9
39,1
40,1
47,2
45,9
49,4
56,4
52,9
50,6
46,7
Fisch frisch
3,0
3,2
2,8
2,9
2,5
2,3
2,2
2,2
2,3
Fisch konserviert
0,3
0,7
1,4
1,7
1,5
1,4
1,5
1,3
1,4
Eier (Stück)
125,0
144,0
209,0
228,0
211,0
186,0
167,0
185,0
144,0
Milch div. (Liter)
157,6
164,8
169,5
155,6
130,8
118,6
102,2
126,7
124,9
0,1
0,1
0,7
1,4
1,3
2,1
1,2
0,5
*
*
*
*
5,6
4,0
3,2
3,3
2,4
3,2
5,2
5,9
6,4
7,6
7,2
7,2
8,7
9,7
Gemüse frisch u. konserviert
43,0
39,9
56,7
53,6
48,8
46,4
45,1
47,8
50,4
Erdäpfel
75,7
66,1
56,5
48,7
37,3
30,7
29,0
23,6
17,1
1,6
1,4
0,8
0,8
0,5
0,2
0,3
0,4
0,2
39,6
47,6
87,0
78,1
62,9
69,0
60,0
61,5
59,9
0,9
1,0
2,5
6,0
5,2
7,6
5,8
4,8
6,0 10,1
Kondensmilch (Liter) Butter Topfen u. Käse
Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade Zucker(waren)
24,6
27,4
27,5
25,2
20,3
16,8
15,9
14,0
Bohnenkaffee
0,7
0,8
1,2
2,0
2,1
2,8
3,7
3,2
3,8
Ersatz- u. Zusatzkaffee
2,5
1,3
0,9
0,6
0,7
0,7
0,4
0,1
0,2
Tee
0,1
0,1
0,1
0,1
0,2
0,2
0,3
0,5
0,6
Kakao
0,4
0,5
0,5
0,7
0,8
1,2
1,1
1,3
1,5
Schokolade
1,2
1,6
3,2
3,8
2,7
3,3
4,1
5,5
4,7
Bier
13,3
88,8
13,3
21,9
30,7
35,2
42,4
29,4
32,5
Wein
5,9
4,0
7,9
9,5
13,3
10,9
13,5
12,6
11,2
Spirituosen
1,6
0,8
1,1
1,0
2,0
2,7
2,1
1,8
0,8
Salz
3,2
2,4
2,1
2,0
1,8
1,7
1,5
1,3
0,0
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch/Taschenbuch der Arbeiterkammer Erläuterung : ab 1969 ohne Geschenke ; * nicht als eigene Kategorie erhoben
271
franz x. eder
Tabelle 2.4 : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Pensionistenhaushalte, 1950–1990 (für einen Mann über 20 Jahre ; in Prozent) Produkt
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
Getreideprodukte
142,2
129,9
103,3
95,0
94,4
87,5
90,4
96,4
86,8
4,5
4,4
4,6
5,2
5,0
5,8
6,8
6,8
5,1
16,8
17,4
18,3
15,3
13,0
12,2
14,0
14,3
12,4
Reis Fette aller Art Filz und Speck Fleisch und Wurst
5,3
4,9
3,1
3,1
2,6
3,3
4,3
3,0
3,1
40,0
44,4
51,6
49,6
54,0
57,4
66,3
65,7
52,3
Fisch frisch
1,0
2,6
3,0
2,3
1,9
1,9
2,0
2,1
2,1
Fisch konserviert
0,1
0,7
0,9
1,4
0,5
0,6
1,2
1,4
1,4
Eier (Stück)
123,0
158,0
199,0
184,0
195,0
209,0
258,0
250,0
208,0
Milch div. (Liter)
128,1
183,7
163,2
153,4
121,2
104,1
109,8
127,2
110,9 1,2
Butter Kondensmilch (Liter) Topfen u. Käse
*
*
*
*
2,6
1,7
2,1
1,7
0,1
0,1
0,7
3,8
3,1
4,5
6,1
4,8
1,9
5,5
6,1
6,6
8,7
8,6
8,7
10,4
9,6
Gemüse frisch u. konserviert
44,6
45,9
56,9
45,0
51,5
50,9
31,8
70,1
62,5
Erdäpfel
64,3
49,6
38,0
32,6
46,7
40,7
38,4
41,3
36,1
1,2
1,2
0,6
0,6
0,4
0,7
0,5
0,3
0,2
41,8
54,6
63,9
66,8
67,0
61,6
83,8
82,6
71,1
0,1
0,2
0,7
1,7
1,8
5,7
5,3
5,6
4,7
Zucker(waren)
25,0
28,6
27,3
26,8
19,2
18,1
20,1
19,5
15,3
Bohnenkaffee
0,7
1,7
2,3
2,9
3,1
3,5
5,0
5,2
5,8
1,1
0,5
Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade
Ersatz- u. Zusatzkaffee
3,7
3,1
3,0
2,8
2,4
2,5
1,6
Tee
0,1
0,1
0,1
0,3
0,3
0,3
0,4
Kakao
0,2
0,5
0,1
0,1
0,2
0,2
0,4
0,6
0,4
Schokolade
0,7
1,2
2,4
3,1
1,7
2,7
3,6
4,0
3,9
Bier
13,6
13,6
16,1
21,3
34,4
31,3
33,0
18,3
27,4
Wein
5,9
10,1
9,0
17,5
1638,0
17,5
15,3
6,8
14,2
Spirituosen
1,1
1,1
1,2
1,2
1,4
2,8
2,8
2,2
2,9
Salz
3,2
2,3
2,4
1,5
1,9
2,2
2,4
2,5
2,0
Quelle : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch/Taschenbuch der Arbeiterkammer Erläuterung : ab 1969 ohne Geschenke ; * nicht als eigene Kategorie erhoben
272
vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus
Tabelle 3 : Jährlicher Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch in Wien, 1954–1974 1954
1964
Weißbrot u. a.
21,84
23,28
1974 *
Schwarzbrot
55,44
44,04
*
Mehl
23,88
17,64
*
Teigwaren
5,28
5,16
*
Reis
6,24
6,72
*
Rindfleisch
6,24
6,84
9,72
11,16
12,72
14,16
Kalbfleisch
3,12
2,16
1,68
Geselchtes u. Schinken
3,48
5,04
5,28
Speck
0,96
0,72 (bei Geselchtem)
Schweinefleisch
Wurstwaren
11,40
15,00
15,59
Konservenfleisch
0,72
0,48
0,48
Geflügel, Wild, Kaninchen
2,40
8,76
9,24
Faschiertes
2,40
3,00
3,72
Innereien
2,16
2,88
2,16
Knochen
4,32
2,88
*
Frische Fische
2,40
2,28
2,08
Fische konserviert
0,96
1,44
1,13 212,04
Schmalz
5,16
1,80
Speckfilz
4,20
3,00 (bei Margarine)
Margarine
3,60
5,40
Speiseöl Vollmilch
4,68
14,40
7,80 (bei Margarine)
127,68
110,04
80,04
Rahm u. Obers
1,56
3,24
1,80
Käse
2,40
3,72
4,92
Topfen
1,56
2,04
2,40
Butter
5,28
5,88
4,92 *
Eier
168,00
225,24
Frisch- u. Gefriergemüse
42,12
38,04
*
Kartoffel
65,64
49,08
30,96
Hülsenfrüchte Südfrüchte
1,68
1,80
*
10,56
25,92
*
anderes Frischobst
38,28
46,80
*
Zucker
24,24
24,96
18,24
273
franz x. eder
1954
1964
1974
Marmelade, Jam
1,08
1,20
*
Bohnenkaffe
0,96
3,12
*
Ersatzkaffee
2,40
1,44
*
Schokoladewaren
1,20
2,64
4,80
nichtalkoholische Getränke
3,12
18,24
58,81
Wein
7,20
15,24
18,00
Bier
17,04
34,08
34,80
Likör, Schnaps etc.
2,40
2,04
2,76
sonst. Alkohol. Getränke
0,60
1,08
1,20
Quelle : ÖSTAT, Konsumerhebungen Erläuterung : *nicht vergleichbar
A nmerkungen * Ich danke Reinhard Sieder für seine Anmerkungen und kritischen Kommentare. Eine erste Version dieses Artikels erschien als Franz X. Eder, Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert, in : ders., Peter Eigner, Andreas Resch u. Andreas Weigl, Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum. Wien im 20. Jahrhundert, Innsbruck, Wien u. München 2003, 201–285. 1 Zu den hier verwendeten Begriffen und ihren Konnotationen vgl. John Brewer u. Roy Porter, Introduction, in : dies. (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993, 1 ff.; John Brewer, Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen, in : Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble u. Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. u. New York 1997, 13 ff. 2 Zur verhaltens- und handlungsorientierten Konsumforschung siehe Gerold Behrens, Konsumentenverhalten. Entwicklung, Abhängigkeiten, Möglichkeiten, Heidelberg 2. Aufl. 1991, 16 ff. 3 Einen Überblick über die geschlechtergeschichtliche Forschung bringen Victoria de Grazia u. Ellen Furlough (Hg.), The Sex of Things. Gender and Consumption in Historical Perspective, Berkeley, Los Angeles u. London 1996. 4 Die Konsumkultur Jugendlicher ist diesbezüglich zweifelsohne am weitesten entwickelt. Siehe Richard Krisch, Konsumieren macht frei ? Die Barbie den Kindern, Reebok den Jugendlichen, Felix liebt Heinz, in : Karl Kollmann u. Hildegard Steger-Mauerhofer (Hg.), Verbraucher oder Verbrauchte. Wenn wir 30 Jahre älter sind, Wien 1994, 49 ff. 5 Diese Definition im Anschluss an Michael Wildt, Am Beginn der »Konsumgesellschaft«. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, 11 ff. 6 Zum europäischen Vergleich Hartmut Kaelble, Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950– 1990, in : Siegrist, Kaelble u. Kocka, Konsumgeschichte, 169 ff.; dort auch ein Überblick über die internationale Literatur. 7 Vgl. Inge Karazman-Morawetz, Arbeit, Konsum und Freizeit im Verhältnis von Arbeit und Reproduktion, in : Reinhard Sieder, Heinz Steinert u. Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, 417 ff.
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8 Ein Haushalt gilt gemäß dieser Definition als armutsgefährdet, wenn seine Ausgaben unter fünfzig Prozent des arithmetischen Mittels der Haushaltsausgaben je Erwachsenenäquivalent (= Pro-Kopf-Ausgaben) liegen. Vgl. Martin Bauer u. Christa Kronsteiner, Statistische Beiträge zu Armut, Armutsgefährdung und Sozialer Ausgrenzung, in : Statistische Nachrichten 52 NF (1997), H. 10, 850. 9 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 567, Anm. 39. 10 Vgl. Felix Butschek, Der österreichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Wien 1992, 71 f. 11 Vgl. Sandgruber, Ökonomie, 361 ff. 12 Allgemein zur Arbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit : Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938, Berlin 1979. 13 Im Jahr 1925 erhielten zum Beispiel nur 11,9 Prozent der arbeitslosen Angestellten Notstandshilfe. Bis 1929 stieg deren Anteil auf 55,7 Prozent. Bei den Metallarbeitern nahm er von 10,0 auf 32,5 Prozent zu, bei den Schuhmachern von 1,2 auf 35,2. Weniger Langzeitarbeitslose fanden sich bei den Bauarbeitern, den Friseuren und im Hotel- und Gastgewerbe. Vgl. Andreas Weigl, Gaststätten : Zur Ökonomie der Gesellschaft, in : Günther Chaloupek, Peter Eigner u. Michael Wagner (Hg.), Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, Bd 2., Wien 1991, 1102. 14 1925 erhöhte sich der Verbraucherpreisindex um 9,4 Prozent, der Brutto-Monatsverdienst um 9,6 Prozent ; 1926 war diese Relation 2,6/2,2 ; 1927 : 1,9/4,8 ; 1928 : 2,8/6,2 ; 1929 : 2,5/5,3. Vgl. Felix Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Die österreichische Wirtschaft seit der Industriellen Revolution, Wien 1998, Tab. 8.1 ; ders., Arbeitsmarkt, 489. 15 Zur Arbeitslosigkeit in Wien vgl. Hans Safrian, »Wir ham die Zeit der Orbeitslosigkeit schon richtig genossen auch«. Ein Versuch zur (Über-)Lebensweise von Arbeitslosen in Wien, in : Gerhard Botz u. Josef Weidenholzer (Hg.), Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung, Wien u. Köln 1984, 293 ff. 16 Der durchschnittliche Stundenlohn der in der Metallindustrie beschäftigten Werkzeugmacher machte im Jahr 1932 1,39 Schilling aus und fiel bis 1937 auf 1,35 Schilling ; im Akkord verdienten die Werkzeugmacher 1932 1,77, im Jahr 1937 nur mehr 1,57 Schilling. Der Lohn ungelernter Hilfsarbeiter ging im selben Zeitraum von 1,03 auf 0,97 Schilling und der Akkordlohn von 1,22 auf 1,20 Schilling zurück. Ungelernte Hilfsarbeiterinnen bekamen die Wirtschaftskrise besonders stark zu spüren, ihr Lohn wurde von 0,69 auf 0,55 Schilling und der Akkordsatz von 0,94 auf 0,72 Schilling gekürzt. Vgl. Arbeiterlöhne der Wiener Metallindustrie, in : Statistische Nachrichten 16 (1938), H. 3/4, 75. 17 Auch wenn die Repräsentativität dieser Erhebungen nicht immer gewährleistet ist, sind sie doch die detailliertesten, die über die Konsumgewohnheiten Wiener Haushalte in der Zwischenkriegszeit zur Verfügung stehen. Siehe in : Löhne und Lebenshaltung der Wiener Arbeiterschaft im Jahre 1925, Wien 1928 ; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch (hg. v. Arbeiterkammer Wien), Wien 1926 ff.; Benedikt Kautsky, Die Haushaltsstatistik der Wiener Arbeiterkammer 1925–1934, in : Supplement des International Review of Social History (1937) ; Der Lebensstandard von Wiener Arbeitnehmerfamilien im Lichte langfristiger Familienbudgetuntersuchungen, in : Arbeit und Wirtschaft (Dezember 1959), Beilage Nr. 8 ; Wolfgang Vyhnalek, Die Konsumgewohnheiten der Arbeiter in der Ersten Republik, Diplomarbeit Wien 1995 ; eine erste umfangreiche Erhebung des k.k. Statistischen Amtes erfolgte bereits in den Jahren 1912 bis 1914. Vgl. Wirtschaftsrechnungen und Lebensverhältnisse von Wiener Arbeiterfamilien in den Jahren 1912 bis 1914 (hg. v. k.k. Statistischen Amt), Wien 1916. Zu den frühen Haushaltsbudgeterhebungen in Wien und Österreich siehe auch Der Lebensstandard von Wiener Arbeitnehmerfamilien im Lichte langfristiger Familienbudgetuntersuchungen, in : Arbeit und Wirtschaft (Dezember 1959), Beilage Nr. 8, 6 ff. und Philipp Rieger, Änderungen in den Lebensverhältnissen und Verbrauchsgewohnheiten von Wiener Arbeitnehmerhaushalten 1952/57, Diss. Wien 1960, 7 ff.; sofern nicht anders angegeben, stammen die für diesen Beitrag
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verwendeten Daten aus der Haushaltsstatistik der Wiener Arbeiterkammer und diversen Statistiken des Österreichischen Statistischen Zentralamts (ÖSTAT) zu Haushaltseinkommen und Verbrauchsausgaben, zu Haushaltsausstattung und Einkaufsverhalten, zur Preisentwicklung, zur Bevölkerungs- und Haushaltsstruktur, zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und zur Ernährungsbilanz ; weiters die Lohnstufenstatistik der Wiener Gebietskrankenkasse. Vgl. auch die Quellenangaben zu den Tabellen. 18 Die Tatsache, dass die Erhebung nicht nur Arbeiterhaushalte umfasst, wird oft übersehen. Im Zehnjahresdurchschnitt wurden 36,6 Prozent der befragten Haushalte von qualifizierten Arbeitern, 13,6 Prozent von Hilfsarbeitern, 25,2 Prozent von Angestellten, 10,1 Prozent von Arbeitslosen und 14,5 Prozent von Sozialrentnern geleitet. Vgl. Kautsky, Haushaltsstatistik, 5. 19 Zu den unterschiedlichen Formen nicht-monetärer Einkünfte vgl. Maria Papathanassiou, Zwischen Arbeit, Spiel und Schule, Wien u. München 1999, u. Reinhard Sieder, Zur alltäglichen Praxis der Wiener Arbeiterschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Habil. Schrift, Wien 1988. 20 Engelbert R., 2 (Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien ; ab nun Doku). 21 Vgl. Roman Sandgruber, Das Essen der Arbeiterfrauen. Geschlechtsspezifische Konsumunterschiede in Arbeiterhaushalten, in : L’Homme 2 (1991), H. 1, 45 ff. und Sieder, Praxis, 174 ff. 22 Käthe Leichter, So leben wir. 1.320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben. Eine Erhebung, Wien 1931, 80. 23 Die Ernährungsausgaben bürgerlicher Haushalte dürften im ersten Drittel des Jahrhunderts zwischen 25 und 35 Prozent liegen. Einkommenssituation und Konsumgewohnheiten bürgerlicher Haushalte sind jedoch für Österreich kaum untersucht. Siehe Maria Wakounig, Konsumverhalten des Wiener Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, in : Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 44/45 (1989), 154 ff. Für Deutschland vgl. Wildt, Beginn, 24 ff. und die dort angeführte Literatur. 24 Viktoria Arnold (Hg.), Als das Licht kam. Erinnerungen an die Elektrifizierung, Wien, Köln u. Graz 1986, 59 f. 25 Ebd., 55. 26 Günther Chaloupek, Die Metropole als Hauptstadt der Republik Österreich, in : ders., Peter Eigner u. Michael Wagner (Hg.), Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, Bd 1., Wien 1991, 506. 27 Sandgruber, Ökonomie, 372. 28 Vgl. Reinhard Sieder, »Vata, derf i aufstehn ?« Kindheitserfahrungen in Wiener Arbeiterfamilien um 1900, in : Hubert Ch. Ehalt (Hg.), Glücklich ist, wer vergißt… ? Das andere Wien um 1900, Wien, Köln u. Graz 1986, 49 f. 29 Im Jahr 1937 hatten die 303 Wiener Filialen der Konsumgenossenschaften rund 97.000 Mitglieder. Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch (hg. v. der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien), Wien 1970, 702 ; zur Bedeutung der Konsumgenossenschaften Andrea Ellmeier, Das gekaufte Glück. Konsumentinnen, Konsumarbeit und Familienglück, in : Monika Bernold et al. (Hg.), Familie : Arbeitsplatz oder Ort des Glücks ? Historische Schnitte ins Private …, Wien 1990, 169. 30 Über den Beitrag der Konsumgenossenschaften zu dieser Konstruktion siehe dies., Handel mit der Zukunft. Zur Geschlechterpolitik der Konsumgenossenschaften, in : L’Homme 6 (1995), H. 1, 62 ff. 31 Vgl. Ela Hornung, »Sie sind das Glück, sie sind die Göttin«. Glück und Arbeit in bürgerlichen Hauswirtschaftsratgebern, in : Bernold et al., Familie, 109 ff. 32 Vgl. Sandgruber, Essen, 55. 33 Zur sexuellen Rahmenerzählung siehe Monika Bernold u. Andrea Ellmeier, Konsum, Politik und Geschlecht. Zur »Feminisierung« von Öffentlichkeit als Strategie und Paradoxon, in : Siegrist, Kaelble u. Kocka, Konsumgeschichte, 462. 34 Chaloupek, Metropole, 505.
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35 Zur Funktion des Kinos vgl. Monika Bernold, Kino. Über einen historischen Ort weiblichen Vergnügens und dessen Bewertung durch die sozialdemokratische Partei. Wien 1918–1934, Wien 1987. 36 Vgl. Butschek, Arbeitsmarkt, 109 ff u. Sandgruber, Ökonomie, 403 ff. 37 Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten und Löhne in Wien seit der Wiedervereinigung (hg. v. Wiener Institut für Wirtschaftsforschung), Wien 1941, IV ff. 38 Erna M., 12 (Doku). 39 Vgl. Sandgruber, Ökonomie, 436. 40 Ausführlich zur Versorgungslage 1945 siehe Irene Bandhauer-Schöffmann u. Ela Hornung, Von der Trümmerfrau auf der Erbse. Ernährungssicherung und Überlebensarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Wien, in : L’Homme 2 (1991), H. 1, 79 ff. 41 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1943–1945, Wien 1948, 9. 42 Karl R., 71 (Doku). 43 Christine P., 27 (Doku). 44 Erna F., 10 f. (Doku). 45 Helmut Kretschmer, Konfrontation amtlicher und privater Darstellungen bei der Beurteilung historischer Ereignisse. Dargestellt am Beispiel Wien 1945, in : Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 41 (1985), 168 ff. 46 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung (ab jetzt WIFO-Monatsberichte) 20 (1947), H. 1/3, 16. 47 WIFO-Monatsberichte 18 (1945), H. 1/2, 19. 48 Bei Mehl lieferte die Sowjetunion 25 Prozent des Wiener Gesamtaufkommens, die USA 36 Prozent, bei Fett und Öl war die Relation 14/36, bei Zucker 32/36, bei Hülsenfrüchten 37/33, bei Fleisch 62/11, bei Trockenei 1/65, bei Konservenfischen 0/55, bei Käse 0/100, bei Kartoffeln 100/0, bei Bohnenkaffee 0/44 und bei Ersatzkaffee 24/0 Prozent. WIFO-Monatsberichte 19 (1946), H. 1/6, 50. 49 Bandhauer-Schöffmann u. Hornung, Trümmerfrau, 90. 50 Karl R., 72 f. (Doku). 51 Zit. n. Sandgruber, Ökonomie, 449. 52 Die wirtschaftliche Lage Österreichs am Ende des ersten Nachkriegsjahres, 51 ff. 53 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann u. Ela Hornung, Von der Erbswurst zum Hawaiischnitzel. Geschlechtsspezifische Auswirkungen von Hungerkrise und »Freßwelle«, in : Thomas Albrich (Hg.), Österreich in den Fünfzigern, Innsbruck u. Wien 1995, 15 ff. 54 Mehl wurde zu sechs Prozent im Inland aufgebracht, zu 82 Prozent von der UNRRA geliefert, bei Fleisch waren die Relationen 23/68, bei Fett 13/77, bei Nährmittel 40/53, bei Hülsenfrüchten 9/58, bei Zucker 45/42 und bei Kartoffeln 85/15. Vgl. Die Ernährungsbilanz Österreichs im Wirtschaftsjahre 1946/47, in : WIFO-Monatsberichte 20 (1947), Beilage Nr. 4, 7 f. 55 Sandgruber, Ökonomie, 452 ff. 56 Vgl. Peter Pokay u. Andreas Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995. Grundzüge seiner Entwicklung in längerfristiger Perspektive, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien (1996), 3, 3. 57 Zum Bild des zyklischen »Wiederaufbaus« vgl. Wolfgang Kos, Zukunftsfroh und Muskelstark. Zum öffentlichen Menschenbild der Wiederaufbaujahre, in : ders., Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945, Wien 1994, 103 ff. 58 Konnten die Wiener Schlachthöfe im Jahr 1946 nur 13.919 Rinder, 1.524 Kälber, 7.348 Schweine, 1.824 Pferde und 13 Schafe schlachten, so stiegen die Schlachtungszahlen bis 1950 um ein Vielfaches, nämlich auf 76.665 Rinder, 9.719 Kälber, 293.003 Schweine, 15 049 Pferde und 3.445 Schafe. Nach Angaben des Wiener Marktamtes wurden den Märkten 1946 485 894 Zentner Gemüse, 1.805.060 Zentner Kartoffeln und 258.837 Zentner Obst zugeführt. 1950 erhöhte sich die Zufuhr von Gemüse auf 622.302 und von
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Obst auf 459.398 Zentner, die von Kartoffeln hingegen sank massiv, nämlich auf 497.311 Zentner. Die Wiener Molkereien konnten im Jahr 1946 nur 23,1 Millionen Liter Milch an die Kleinverteiler und Verbraucher abgeben, 1950 war diese Menge mit 188,1 Millionen Liter sechs Mal so hoch. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1946/47 bis 1950. 59 Die Zahl der Fleisch-, Geflügel- und Fischhändler nahm in diesem Zeitraum von 2.120 auf 3.098 zu, die der Gemischtwaren- und Lebensmittelhändler von 5.715 auf 6229, der Obst- und Gemüsehändler von 1.711 auf 2.190, der Milchgeschäfte von 1.042 auf 1.548 und der Bäcker von 727 auf 815. Zu Letzteren kamen nun auch die 117 Filialen der Brotfabriken. Vgl. ebd. 60 Roman Hruby, Die Kosten der Lebenshaltung 1945/1952. Systematik und Entwicklung, Wien 1953, 27 ff.; dort auch die Zahlen zum Schwarzmarkt und zu den effektiven Lebenshaltungskosten. 61 In dieser Gruppe wurden auch Decken, Teppiche und Vorhänge verzeichnet, die allerdings nicht mehr als einen Prozentpunkt ausmachen dürften. 62 Erna F., 27 (Doku). 63 Vgl. die Tabelle der bei der Wiener Gebietskrankenkasse versicherten Arbeiter und Angestellten in GroßWien, in : Die wirtschaftliche Lage Österreichs am Ende des ersten Nachkriegsjahres, 33 ; Franz Satzinger, Die Frau in Wien (2), in : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1976), H. 1, 5 (inklusive Beamte) ; auch Irene Bandhauer-Schöffmann, Weibliche Wiederaufbauszenarien, in : Wolfgang Kos u. Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, 217 ff. 64 Der Verbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1954/55 (= Konsumerhebung 1954/55), hg. vom Österreichischen Statistischen Zentralamt und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, Wien 1956, bes. 98 und Der Nahrungsmittelverbrauch der österreichischen Bevölkerung, in : WIFO-Monatsberichte 35 (1962), Beilage 70, 10 ff. 65 Grundsätzlich ist Skepsis gegenüber der hier oft verwendeten Wellenmetapher – z. B. der »Esswelle« – angebracht, suggeriert sie doch eine bestimmte Art des Ansteigens, des Höhepunkts und vor allem auch des Abklingens des Konsums. Siehe z. B. Roman Sandgruber, Vom Hunger zum Massenkonsum, in : Gerhard Jagschitz u. Klaus-Dieter Mulley (Hg.), Die »wilden« fünfziger Jahre. Gesellschaft, Formen und Gefühle eines Jahrzehnts in Österreich, St. Pölten u. Wien 1985, 118. 66 Karl Vocelka, Trümmerjahre Wien 1945–1949, Wien u. München o. J., 11 ff. 67 Hans Seidel, Der Wiener Wohnungsbedarf und die Wohnbaufinanzierung, in : WIFO-Monatsberichte 19 (1946), 3. Sonderheft, 17. 68 Vgl. Ela Hornung u. Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945–1955, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 64. 69 Irene Nierhaus, Vorgarten und Vorzimmer Nahtstellen von Privatem und Öffentlichem im Wiener Wohnbau nach 1945, in : ebd., 582. 70 Vgl. Bernold u. Ellmeier, Konsum, 465. 71 Wolfgang Kos, Imagereservoir Landschaft. Landschaftsmoden und ideologische Gemütslagen seit 1945, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 605 ff. und Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994, 93 ff. 72 Vgl. Sandgruber, Hunger, 122 ; zusammenfassend Susanne E. Rieser, Bonbonfarbene Leinwände. Filmische Strategien zur (Re)Konstruktion der österreichischen Nation in den fünfziger Jahren, in : Thomas Albrich (Hg.), Österreich in den Fünfzigern, Innsbruck u. Wien 1995, 120 ff. 73 Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher. Kino in Österreich 1946–1966, Wien 1987, 272. 74 Vgl. Andreas Weigl, Einkommensentwicklung und -verteilung in Wien 1945–1997, 7 (Manuskript, erscheint in : Josef Schmee u. Andreas Weigl, Wiener Wirtschaft 1945–1998. Geschichte – Entwicklungslinien – Perspektiven. Ich danke Andreas Weigl für die Überlassung des Manuskripts.) ; auch Butschek, Arbeitsmarkt, 139 f.
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75 Die langfristige Entwicklung von Löhnen und Gehältern in Wien. Eine Studie der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, Wien 1964, 25 ff. 76 Günther Chaloupek, Die Verteilung der Einkommen aus unselbständiger Arbeit in Österreich 1953 bis 1979, in : Hannes Suppanz u. Michael Wagner (Hg.), Einkommensverteilung in Österreich. Ein einführender Überblick, München u. Wien 1981, 100 ff. 77 Weigl, Einkommensentwicklung, 19 u. Tab. 2 u. Ewald Walterskirchen, Die Entwicklung der Lohnunterschiede in Österreich, in : WIFO-Monatsberichte 52 (1979), H. 1, 10 ff. 78 Michael Wagner, Einkommenschancen im Lebenszyklus. Befunde aus dem österreichischen Mikrozensus, in : Suppanz u. Wagner, Einkommensverteilung, 168 ff.; für Wien siehe auch Erwin Weissel, Lebensalter, Arbeitszeit und Lohn, Wien 1969. 79 Vgl. Gerhard Meißl, Arbeitsort Wien. Die Entwicklung der Wiener Wirtschaft nach 1945 aus dem Blickwinkel der Betriebs- und Arbeitsstättenzählung (Manuskript, erscheint in : Schmee u. Weigl, Wiener Wirtschaft). 80 Allerdings konnten Meister und Vorarbeiter (18.310 Schilling), Angestellte in führenden Tätigkeiten (27.690 Schilling) oder öffentlich Bedienstete mit leitenden Funktionen (22 760 Schilling) über ein wesentlich höheres Haushaltseinkommen als ihre jeweilige soziale Gruppe verfügen, Hilfsarbeiter (10.770 Schilling), Angestellte mit Hilfstätigkeiten (11.470 Schilling) und mit Hilfsarbeit beschäftigte öffentliche Bedienstete (13.320 Schilling) nur über ein viel niedrigeres (jeweils Medianwert). Vgl. Personen- und Haushaltseinkommen von unselbständig Beschäftigten. Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1983 (= Beiträge zur österreichischen Statistik 731), Wien 1984, 92. 81 Ebd., Tab. 2.11 f.; vgl. auch Eva Cyba, Modernisierung im Patriarchat ? Zur Situation der Frauen in Arbeit, Bildung und privater Sphäre, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 439 u. Gudrun Biffl, Der Wandel im Erwerbsverhalten in Österreich und im Ausland, in : WIFO-Monatsberichte 61 (1988), H. 1, 42 ff. Berücksichtigung finden sollte auch hier der unterschiedlich große unbezahlte Beitrag von Männern und Frauen zur Wertschöpfung des Haushalts. Aufgrund des Mikrozensus 1981 und unter Zugrundelegung des Kollektivvertraglohnes einer Haushaltshilfe erwirtschafteten zum Beispiel in Graz Frauen mit Haushaltsarbeit jährlich 254.840 Schilling, Männer hingegen nur 63.180 Schilling. Vgl. dies., Der Haushaltssektor. Der volkswirtschaftliche Wert der unbezahlten Arbeit, in : WIFO-Monatsberichte 62 (1989), H. 9, 574. 82 Dazu Wolfgang Pollan, Der Einfluß von Arbeitslosigkeit und Inflation auf die Entwicklung der Spareinlagen, in : WIFO-Monatsberichte 61 (1988), H. 10, 582 f. und Michael Wüger, Stabiler Konsum in der Rezension, in : WIFO-Monatsberichte 66 (1993), H. 11, 566 ff. 83 »Vollbeschäftigung« bezieht sich dabei vor allem auf die Beschäftigungslage der alleinverdienenden Männer. Vgl. Hedwig Lutz, Arbeitsverdienste von unselbständig Beschäftigten in Wien : Eine Kohortenbetrachtung für den Zeitraum 1972 bis 1997, 5 (Manuskript, erscheint in : Schmee u. Weigl, Wiener Wirtschaft). 84 Zur Beschäftigungspolitik vgl. Hans Eder, Die Politik der Ära Kreisky, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 193 ff. 85 Butschek, Arbeitsmarkt, 185 ff. 86 Karazman-Morawetz, Arbeit, 409. 87 Hornung u. Sturm, Stadtleben, 66. 88 Edith Lassmann, Wir wollen wohnen nicht bloß hausen, in : Mathilde Dutzi et al., Richtige Haushaltsführung. Aus Praxis und Erfahrung, Wien 1950, 13. 89 Kos, Zukunftsfroh, 128 ff. 90 Für Deutschland siehe Erica Carter, Deviant Pleasures ? Women, Melodrama, and Consumer Nationalism in West Germany, in : Victoria u. Furlough, Sex, 367 ff.
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91 Andreas Weigl, Die Wiener Bevölkerung in der zweiten Republik, in : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1984), H. 2, 7. 92 Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Getreideerzeugnissen betrug 1954 111,0 Kilo, 1964 104,4 Kilo und 1974 79,2 Kilo. In den von der AK untersuchten Haushalten fiel der Rückgang zwischen 1955 und 1975 noch massiver aus, nämlich von 136,8 Kilo auf 75,1 Kilo. Der Verbrauch von Kartoffeln wurde ebenfalls um rund die Hälfte eingeschränkt. Wurden 1960 noch über 180 Liter Milch pro Jahr getrunken und verkocht, waren dies 1980 nur mehr hundert Liter. Neben den Konsumerhebungen des ÖSTAT und der AK vgl. auch Ludwig Halász, Veränderte Konsumgewohnheiten der Wiener, in : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien (1987), H. 1, 14 ff. 93 Eine Revision der bisherigen Sicht der Ernährungsentwicklung in Deutschland bringt Wildt, Beginn, 76 ff.; für Österreich finden sich diesbezügliche Ansätze in Bandhauer-Schöffmann u. Hornung, Erbswurst, 23 ff. 94 Noch 1960/61 war der österreichische Nahrungsmittelverbrauch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern allerdings von billigeren und kalorienreicheren als von teureren und weniger hochwertigen Nahrungsmitteln gekennzeichnet. Vgl. Nahrungsmittelverbrauch, in : WIFO-Monatsberichte (1962), 8 f. 95 Der Reisverbrauch der Wiener Haushalte halbierte sich zwischen 1955 (6,2 Kilo) und 1980 (3,1 Kilo). 96 Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M. u. New York 1997, 68. 97 Irene Bandhauer-Schöffmann, Die Amerikanisierung des Geschmacks. Coca-Cola in Österreich, in : Historicum (Herbst 1994), 23. (Ich danke Georg Riegele für diesen Literaturhinweis.) 98 Eva W., 8 (Doku). 99 Hannes Siegrist, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in : Siegrist, Kaelble u. Kocka, Konsumgeschichte, 27. 100 Eva Hack, Abschied von der Bassena. Soziales Wohnen. Die Entwicklung einer Idee, in : Jagschitz u. Mulley, Fünfziger Jahre, 136–142. 101 H.C. Artmann, Med ana schwoazzn dintn, Salzburg 1958, 52. 102 Veröffentlicht in : Besser Wohnen (1965), H. 6, 2–3 u. H. 7, 4–5. 103 Zur Wohnsituation in Österreich. 2. Teil : Größe und Ausstattung der Wohnungen im Jahre 1961, in : Statistische Nachrichten 18 NF (1963), 343. 104 Albert Kaufmann u. Eva Bauer, Wohnsituation, Wohnungsaufwand und Haushaltseinkommen 1981 (Forschungsbericht des Instituts für Stadtforschung), Wien 1984, Tab. 3.3 und 3.4. 105 Berechnet nach den Schätzungen der Erzeugungs- u. Verbrauchsstatistik der Elektrizitätswirtschaft ; 1952 auf Basis der Volkszählung 1951 ; 1959 (1961) ; 1970 (1971) ; 1984 Mikrozensuserhebung zur Ausstattung mit dauerhaften Konsumgütern. 106 Marina Fischer-Kowalski, Sozialer Wandel in den 1970er Jahren, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich, 1945–1995, 204. 107 Butschek, Arbeitsmarkt, 139. 108 Die Entwicklung der österreichischen Elektroindustrie seit 1945, in : Austria electic. Österreichs internationales Elektrojournal (1963), H. 9, 14. 109 Monika Bernold, ein paar österreich. Von den »Leitners« zu »Wünsch dir was«. Mediale Bausteine der Zweiten Republik, in : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 7 (1996), H. 4, 522. 110 Eva W, 5 (Doku). 111 Monika Bernold, Austrovision und Telefamilie. Von den Anfängen einer »historischen Sendung«, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich, 1945–1995, 230.
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112 Irene H., Unser erstes Auto (Doku). 113 Vgl. Wolfgang Sachs, Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche, Reinbek 1990, 109. 114 Vgl. auch Ingrid Bayer, Entwicklung des Pkw-Bestandes in Wien 1971 bis 1978, in : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1979), H. 3, 3 ff. 115 Vgl. Reinhard Eichwalder, Einkäufe von Bekleidung, Elektrogeräten und Möbeln. Zusammenführung Konsumerhebung 1974 – Zusatzfragen des Mikrozensus, in : Statistische Nachrichten 33 NF (1978), H. 9, 390 ff.; Alois List, Die Einkaufsgewohnheiten der Wiener Wohnbevölkerung, in : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1976), H. 1 u. 2, 7 ff. und H. 2, 6 ff. 116 Vgl. Gernot Jung u. Brigitta Richter, Shopping City Süd. Im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Konfliktpotential, in : Raum und Ordnung (1999), Nr. 1, 13 (Ich danke Andrea Komlosy für diesen Literaturhinweis.) ; auch Gerhard Meißl, Arbeitsort Wien. Die Entwicklung der Wiener Wirtschaft nach 1945 aus dem Blickwinkel der Betriebs- und Arbeitsstättenzählungen, 14 (Manuskript, erscheint in : Schmee u. Weigl, Wiener Wirtschaft). 117 Ewald Bartunek, Haushaltsreisen. Ergebnisse des Mikrozensus Dezember 1972, in : Statistische Nachrichten 29 NF (1974), H. 11, 724 ff. 118 Siehe dazu Reisegewohnheiten der Österreicher im Jahre 1993. Haupturlaube – Kurzurlaube (= Beiträge zur österreichischen Statistik 1184), Wien 1995, 23 ff. 119 Siegrist, Konsum, 25. 120 Vgl. Kurt Luger, Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur von 1945 bis 1995, in : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 500. 121 Vgl. auch Uta G. Poiger, Rock ’n’ Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle over German Identities, in : Journal of Modern History 68 (September 1996), 591 f. 122 Diese Sicht bereits in Sieder, Steinert u. Tálos, Einleitung, 18. 123 Hornung, Glück, 113. 124 Vgl. Bernold u. Ellmeier, Konsum, 466. 125 Vgl. Karl Kollmann, Konsumentenschutzpolitik in Österreich, Wien 1986, 127. 126 Einen Überblick bringt Behrens, Konsumentenverhalten, 5 ff. 127 Diese Perspektive zum Beispiel in Karl Kollmann, Einführung in die Konsumökonomie. Konsumwirtschaftliche Warenlehre (= Schriftenreihe des Instituts für Technologie und Warenwirtschaftslehre der Wirtschaftsuniversität Wien), Wien 1993. 128 Vgl. GfK-Österreich, Umweltstudie Österreich 1990, Wien 1990. 129 Nach der Definition von Beveridge. Vgl. Butschek, Arbeitsmarkt, 315. 130 Pokay u. Weigl, Arbeitsmarkt, 14, Tab. 6. 131 Inflationsbereinigte Berechnungen aufgrund der jeweiligen Mikrozensuserhebungen. Vgl. auch Personen- und Haushaltseinkommen von unselbständig Beschäftigten. Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1983 (= Beiträge zur österreichischen Statistik 731), Wien 1984, 92 u. Kurt Pratscher, Regionale Verteilung der Einkommen unselbständig erwerbstätiger Personen. Ergebnisse des Mikrozensus September 1995, in : Statistische Nachrichten 53 NF (1998), H. 2, 123 ff. 132 Vgl. Weigl, Einkommensentwicklung, 18. 133 Siehe dazu auch Martin Bauer, Regionale Verteilung der Einkommen unselbständig Beschäftigter. Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1993, in : Statistische Nachrichten 50 NF (1995), H. 2, 91. 134 Zum Konzept des Postfordismus und seiner österreichischen Ausprägung vgl. Karazman-Morawetz, Arbeit, 420 ff. 135 Vgl. Bauer u. Kronsteiner, Beiträge, 847 ff. 136 Ausgabenbezogene Regionalergebnisse für die Erhebung 1993/94 waren zum Zeitpunkt der Abfassung
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franz x. eder dieses Beitrages noch nicht veröffentlicht. Statt der Wiener Daten wurden deshalb die österreichischen Daten verwendet. Die Wiener Regionalergebnisse 1984 haben wegen der geringen Fallzahlen in den einzelnen Verbrauchsgruppen durchwegs hohe Zufallsfehler und wurden nur Pro-Kopf ausgegeben. Auch wenn eine Vergleichbarkeit aufgrund der unterschiedlichen Struktur der Haushalte nur sehr bedingt möglich ist, wurden hier die sozialstatistischen Ergebnisse für das gesamte Bundesgebiet herangezogen. Vgl. für 1993/94 Martin Bauer u. Christa Kronsteiner, Konsumerhebung 1993/94 : Sozialstatistische Ergebnisse, 1. Teil, in : Statistische Nachrichten 52 NF (1997), H. 8, 627 ff.; 2. Teil, H. 8, 627 ff. 137 Armutsgefährdete Haushalte verfügen nach dieser Definition über maximal fünfzig Prozent des arithmetischen Mittels der Pro-Kopf-Ausgaben, ausgabenstarke Haushalte über mindestens 150 Prozent der Pro-Kopf-Ausgaben. Vgl. Bauer u. Kronsteiner, Beiträge, 849. 138 Vgl. Michael Mesch, Beschäftigungsentwicklung und -struktur im Raum Wien 1970 bis 1989, in : Wirtschaft und Gesellschaft. Wirtschaftspolitische Zeitschrift der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien 15 (1989), 111, 354. 139 Ulrike Döcker u. Reinhard Sieder, Einkaufen, Kochen, Essen und Trinken im praktischen Lebenszusammenhang. Transkripte der Interviews. Teilstudie des multidisziplinären Forschungsprojektes »Ernährungskultur in Österreich«, Bd. 4B, Wien 1994, 38. 140 Michael Wüger, Günstige Konsumentwicklung bei rückläufiger Sparneigung, in : WIFO-Monatsberichte 65 (1992), H. 11, 584 ff. 141 Karl Kollmann, Konsumenten ’92 (= AK Konsumentenpolitik – Marktforschung), Wien 1993, 79 ff.; vgl. auch ders. Konsumenten ’82. Einstellungen österreichischer Verbraucher zu aktuellen Konsumfragen, Wien 1983. 142 Anton Amann et al., Konsumverhalten Jugendlicher, Wien 1989, 50. 143 Vgl. Krisch, Konsumieren, 56.
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ulrike renner
Wienkultur 1945–1995
I. Von der Überquerung des Kulturozeans ! Eine Einleitung
D
ie Ringstraße umschließt den ersten Wiener Gemeindebezirk und somit die Wiener Innenstadt und repräsentiert gemeinsam mit den zahlreichen Gebäuden des Ringstraßenstils eines der wohl großzügigsten Kulturprojekte der Ära des schicksalsreichen Habsburgerkaisers Franz Joseph, der mit unvergesslichen österreichischen Mentalitäten und Klischees wie »Mia bleibt nix erspart«, einem staatsdienenden (ehemals unglaublich modernen) Beamtenapparat, Trachten-, Jagd- und Offiziersoutfit, Bad Ischler Sommerfrische, Lipizzanern, Wiener Walzerseligkeit, Schnitzlers »süßem Mädel« und definitiven Untergangsszenarios wie der Beendigung der österreichischen Monarchie durch das Finalereignis Erster Weltkrieg verbunden bleiben wird. Das Projekt, an dem die alle Kunstsparten umschließende (moderne) Künstlerschaft der Monarchie beteiligt war, war wohl das letzte gesamt heitlich ausgerichtete Kulturgroßereignis des europäischen Raumes, das letzte Gesamtkunstwerk großen Stils und Zeichen eines integrativen großherrschaftlich orientierten Multikulturbewusstseins. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts sollte erneut eine von den Vereinigten Staaten nach Europa gesamtkunstwerklich orientierte Kulturlandschaft importiert werden, Zeichen eines demokratisch, ökonomisch, international und global ausgerichteten Bewusstseins. Beides zweifellos von Macht und Herrschaftsansprüchen getragene Gesten : das alte Europa und das neue Amerika ; das alte differenzierte, sprachenreiche, traditionsreiche Kulturzentrum und das neue undifferenzierte, sprachenvereinheitlichte, traditionslose Barbarentum ; Multikultur contra Multikonzern. Tatsache bleibt : Jeder Untergang enthält in Anteilen die Dynamik neuer Perspektiven und jeder Neubeginn seine mögliche Verlangsamung durch Erstarrungstendenzen. Geht man vom Heldenplatz aus in Richtung des ehemaligen Messepalastes, wo das Projekt Museumsquartier der Stadt Wien verwirklicht wurde, überquert man die Ringstraße, fällt der Blick auf das Museumszwillingspaar, das Kunst- und das Naturhistorische Museum, zwischen denen ein Monument postiert ist, das die sitzende Kaiserin Maria Theresia darstellt (zweifellos ein frühes Beispiel von gender). Vorbei an sorgfältig gestutzten Büschen und Rasenanlagen führt ein asphaltierter, leicht ansteigender Weg zum Eingang des zur linken Hand liegenden Kunsthistorischen Museums. Geht der Besucher, die Besucherin weiter zur Kassa, dann in die 283
ulrike renner Eingangshalle des Museums, zur Linken und ebenerdig in die ägyptische Sammlung oder geradlinig Stufen hinauf und vorbei an einer Darstellung des italienischen Bildhauers Canova, die den Herakles im Kampf mit dem Kentauren zeigt, in die Bildergalerie, kann er/sie wählen zwischen einer Wechselausstellung und der ständigen Galerie, die Bilder von Künstlern offeriert, deren Herkunft in eine Nord-Süd-Achse unterteilt worden ist. Schwenkt der/die BesucherIn in die Galerie zur Rechten, so wird er/sie mit Malern konfrontiert, die vornehmlich dem südlichen Europa zuzuordnen sind, wendet sie/er sich zur Linken, mit Malern des nördlichen. Nähert man sich vor der Überquerung der Ringstraße vom Heldenplatz aus dem Museumszwillingspaar, schweift der Blick über den rundartig angelegten Platz, erfasst er ausschnittartig Anteile des Parlamentes, auf dessen Giebel seit Jahren bereits ein kleines Haus balanciert, das für Renovierungsarbeiten auf dem Dachgiebel errichtet wurde. Das Rathaus sieht der Rundumblick, auf seiner Spitze einen winzig anmutenden Rathausmann platziert, den Burggarten mit seinen zahllosen vielfarbigen duftenden Rosenstöcken und den Theseustempel, ausschnittartig angedeutet das Burgtheater, die Minoritenkirche mit dem abgeflachten Turm und die Hofburg, in der Nationalbibliothek und das Völkerkundemuseum untergebracht sind. Jede/r, der/die diesen Platz besucht, kann sich um die eigene Achse drehen, ohne seinen Rundumblick einzuengen. Der Platz atmet einen unglaublich weiten, großzügigen und anspruchsvollen Kulturhorizont. Der Blick fällt auf ein Sammelsurium teils nachgeahmter kunsthistorischer Stile. Er bleibt unbehindert und frei, keine steil aufragende Wand, die ihn hält. Trotz der Uneinheitlichkeit der an den Architekturen versinnbildlichten Stilrichtungen ist der Platz ein Ganzes, ein Gesamtkunstwerk, in dem sich die Vielfalt seiner Anteile zu einem Gesamten zusammentut. Selbst die Veränderung des Standortes auf diesem Platz zieht keine Veränderung des Ein druckes eines Gesamten nach sich. Der Platz bleibt ganz. Seine geschichtspolitische Belastung, die geknüpft ist an eine der vielen dunklen Nächte der Menschheitsgeschichte, ist unermüdlich kolportiert worden und unvergessen. Zahlreiche politisch ausgerichtete Demonstrationen, Lichtermeere, die sogenannten Donnerstagsdemonstrationen, die während der Zweiten Republik Österreichs stattfanden und eine Verbesserung der aktuellen Österreichpolitik forderten, haben ihn frisch beatmet. Dass sie auf diesem belasteten Platz stattgefunden haben, war ein mutiger, rehabilitierender Akt, zweifellos bedeutungshaft. Hat man das Kunsthistorische Museum betreten, die ersten Stufen bestiegen, die zu den Ausstellungen der Bildergalerie führen, fällt der Blick zuallererst von unten auf die Figurengruppe des Canova oben am Ende der Stufen, von wo aus diese sich nach rechts und links aufteilen und zu den Sälen weiterführen, die einen halben Stock höher liegen. Wohin sich der Blick wendet, nach oben und rundum schreitend, er 284
wienkultur 1945–1995 fällt auf Schönheit. Sei es die Ästhetik der Deckenbemalung, die großzügige Architektur des weiten und hohen, überkuppelten Raumes, der sich nach allen Richtungen hin offen zeigt und zur Besichtigung einlädt, seien es die zahlreichen Brüstungen, die die Gliederung des Raumes in überschaubare, begehbare Einheiten übernehmen und die Größe des Raumes dokumentieren, seien es die zahlreichen Gesten des Raumes, die seinen Willen zur Macht, zur barocken Fülle, die Verherrlichung seiner Talente repräsentieren. Der/die BesucherIn wird in dem Moment, in dem er/sie das Museum betritt, erhöht, seiner Alltäglichkeit beraubt, sie/er wird ein/e andere/r, legt sich eine neue, erweiterte Identität zu oder entwickelt Widerstand und Abscheu gegen all dies Große, das sie/ihn vorübergehend auflöst, verringert oder zumindest infrage stellt. Hier ist, symbolisch gesprochen, die Spitze der Darstellung von Schönheit im Dienste staatlicher Repräsentanz erreicht, vor der man sich zu verbeugen oder zu rebellieren hat. An diesem Ort nichts zu empfinden, nichts zu sehen, nichts wahrzunehmen, nichts zu erfahren, ist per se unmöglich, ausgenommen, man empfindet diesen Ort als Durchgangsposten, ohne anwesend zu sein.
schwenk Viele Jahre später. Soviel Schönheit verpflichtet. Zu Eigenem. Einfach ist das nicht. So viele erwachsende Ansprüche aus hohen Traditionen. Andrerseits : Die haben das Potenzial für Neues, sind dynamisch zu verwenden, entweder durch Bejahung oder Hinterfragung. Aus ihnen erwächst eine aktuelle, kulturelle Gegenwart. Ein politisch zuerst sich zerreißendes, dann wieder aus Katastrophen herauskatapultierendes, nach Identität suchendes und völlig neu findendes Österreich, dessen Hauptstadt Wien ist. Wien findet in der Zweiten Republik wieder, nur ganz anders, was es hatte und was Österreich als politisches Land definitiv, bis auf einige Modellfunktionen ausgenommen, verliert : importance. Diese Stadt ist Kulturstadt von Weltrang. Der Rundumblick auf dem Heldenplatz lässt sich, umgelegt auf den Wiener Kulturbereich 1945 bis 1995, in all seinen Facetten nicht einnehmen. Ich vermute, breite Zustimmung zu finden, wenn ich behaupte, Wien hält seine hohe kulturelle und künstlerische Vergangenheit aufrecht, kultiviert und präsentiert sie und kann sich über sie positiv identifizieren. Aber Selbstwerte müssen hinterfragt, dynamisiert und erweitert werden, um die Gegenwart zu beleben. Auch durch Widerspruch kann das geschehen. Die kulturellen Tätigkeiten der Nachkriegszeit sind durchaus spannungsgeladen, konfliktreich und stellenweise künstlerisch kreativ. Wer sind die Störenfriede, wer die Saubermänner ? Wien lässt es zu, dass sie sich offenlegen. Auf der anderen Seite gibt es institutionalisierte Kultur, die aber auf den ersten Blick auch nicht immer ganz brav ist. Wo schauen wir am besten hin ? 285
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II. Wienkultur 1945–1995 : Erben und Widerspruch Am 27. April 1945 hatte eine provisorische Regierung unter der Führung des sozial demokratischen Staatskanzlers Dr. Karl Renner die Wiederherstellung und Unabhängigkeit der Republik Österreich proklamiert, die bis zum 20. Dezember 1945 dauerte. Diese provisorische und als solche vorerst nur von der Sowjetunion akzeptierte Regierung wurde gebildet von den drei zugelassenen Parteien : der als Fortsetzung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei wieder gegründeten Sozialistischen Partei Österreichs (spö), der österreichischen bündisch organisierten Volkspartei (övp), Nachfolgepartei der Christlichsozialen, und der neugegründeten Kommunistischen Partei (kpö). Im März war die Rote Armee in Österreich einmarschiert, den Süden und Westen hatten die westlichen Alliierten besetzt, im mittleren Teil des Landes hatte sich die deutsche Armee eingefunden. Das Kriegsende war abzusehen. Am 1. Mai 1945 wurde die Verfassung des Jahres 1920 in der Fassung von 1929 in Kraft gesetzt, sechs Tage später war der Krieg tatsächlich zu Ende. Die Selbstverwaltung der Bundesländer, die aufgrund mangelnder Koordination zwischen Wien und den Bundesländern nicht funktionierte, wurde nur teilweise im Einvernehmen mit der Besatzung geführt. Ein Abkommen, das Österreich unter die Kontrolle der Besatzungsmächte brachte, sollte dieses Einvernehmen zur Staatsregierung sichern. Am 9. Juli wurde Österreich in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Nur Wien, die Bundeshauptstadt, wurde gleichermaßen von allen vier Besatzungsmächten verwaltet, da die alliierten Besatzungsmächte die Gebietserweiterungen und die bis 1938 bestehenden Bezirke der nationalsozialistischen Zeit nicht anerkannten. Die am 20. Oktober von den Besatzungsmächten bewilligte provisorische Regierung ermöglichte die ersten Nationalratswahlen nach elf Jahren. Eine unglaubliche Aufholarbeit setzte ein. Außenpolitisch mühte sich die neue Bundesregierung (85 Mandate övp, 76 Mandate spö, vier Mandate kpö) um Wiedererlangung des souveränen Status des Landes, innenpolitisch um das Beheben der unvorstellbaren Kriegsfolgen.1 In Wien wurde binnen weniger Tage nach dem Ende der Kämpfe noch im April 1945 eine provisorische Gemeindeverwaltung konstituiert. Die politischen Parteien entstanden neu. Die Lage der Stadt war trist, laut Homepage des Kulturamtes waren mehr als zwanzig Prozent des Hausbestandes ganz oder teilweise zerstört, beinahe 87.000 Wohnungen unbewohnbar. Mehr als 3.000 Bombentrichter wurden gezählt. Zahlreiche Brücken lagen in Trümmern. Kanäle, Gas- und Wasserleitungen hatten schwere Schäden erlitten. Ungeheure Anstrengung in Richtung Normalisierung musste unternommen werden. Ein wichtiger Schritt war die im November 1945 erfolgte Abhaltung der ersten Gemeinderatswahlen und damit die endgültige Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen. Die hundert Mandate des Wiener Gemeinderates teilten sich zu 58 auf die Sozialistische Partei (die spö verfügte fat immer seit 1945 286
wienkultur 1945–1995 immer über eine absolute Mandatsmehrheit im Landtag und Gemeinderat), zu 36 auf die Volkspartei und zu sechs auf die Kommunisten auf. Schwerpunkte der Tätigkeit der Stadtverwaltung waren zunächst vor allem Jugend- und Altersfürsorge, Instandsetzung der städtischen Unternehmen und Wiederaufbau. Die Wiener Gemeinde hatte die kulturpolitischen und volksbildnerischen Agenden bereits am 20. April 1945 einer herausragenden und vielschichtigen Persönlichkeit übertragen. Viktor Matejka war Journalist und Schriftsteller, Vorbildpazifist, Karl-Kraus-Verehrer, in der Zwischenkriegszeit Bildungsreferent der Wiener Arbeiterkammer und als solcher Organisator von Lesungen von Arbeiterschriftstellern im Arbeiterbad, Wiener Kulturstadtrat 1945–1949, langjähriges Mitglied und Aushängeschild des Zentralkomitees der Wiener kpö bis 1957. Er galt als Verfechter eines Antiamerikanismus und dezidierter Gegner verharmlosender Vergangenheitsbewältigung und war bereits zeitlebens Symbol für eine lebenslange Bemühung um Volksbildung und sein politisches, nicht jedoch ideologisch vereinnahmtes Credo »Widerstand ist alles«. 1938 war Matejka aufgrund von Denunziation verhaftet und mit dem »Prominententransport« in das kz Dachau transportiert worden, wo er, dem Dienst enthoben, die Lesebücherei und Mithäftlinge mit ausgesuchter, teils verbotener und heimlich eingeschleuster Literatur betreute und seine von ihm entworfenen, subversiven »Pickbücher«, im Oktavformat heimlich in der Häftlingsbücherei gebunden, an ausgesuchte Personen verteilte. Diese Pickbücher bestanden aus »gepickten«, das heißt aufgeklebten Zeitungsausschnitten aus Artikeln nach Themengruppen aus Kultur, Kunst, Philosophie und Politik geordnet. 1944 war Viktor Matejka aus der Haft entlassen worden und nach dem Einmarsch der Roten Armee in Wien am 10. April 1945 der kpö beigetreten. In seiner Funktion als Wiener Kulturstadtrat setzte er sich vielfältig für die Re-Aktivierung des Wiener Kulturlebens ein, wie für den Aufbau der Wiener Oper, die Gründung des Wiener Kulturfonds, den Aufbau der Wiener Volkshochschule und die Rückholung prominenter Wiener Intellektueller wie zum Beispiel Oskar Kokoschka aus dem Exil. Am 10. Oktober 1945 rief Stadtrat Viktor Matejka vom Amt für Kultur und Volksbildung in Wien in der Austro American Tribune »die österreichischen Künstler und Wissenschaftler in den usa« zur Mithilfe am kulturellen und wissenschaftlichen Wiederaufbau Österreichs auf.2 »Liebe Freunde Österreichs ! Es ist die erste Möglichkeit, die sich mir bietet, um euch herzlichst zu begrüßen, von einem neuen Österreich aus, das vor allem dadurch zustande gekommen ist, dass die alliierten Mächte den Kampf gegen den Faschismus im Allgemeinen und den Nationalsozialismus im Besonderen siegreich ausgetragen haben. Wir Österreicher, die wir uns bemüht haben, aktiv an diesem Kampf gegen den Faschismus und gegen die nationalsozialistische Eroberung Österreichs teilzunehmen, ha-
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ben uns in den letzten Monaten der Arbeit gewidmet, die dem Neuaufbau unseres Landes dient. […] Auf dem Gebiet des kulturellen Lebens in Wien ist es uns in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, alle verfügbaren Kulturinstitutionen wieder zu neuem Leben zu bringen. […] Die Leistungen der Künstlerschaft im Bereich der staatlichen Theaterkultur, aber auch auf dem Gebiet des privaten Theaterlebens sind bis zum Äußersten angespannt. […] Unsere ganze Tätigkeit auf dem Gebiet der Volksaufklärung und Volksbildung ist bestrebt und eifrig daran, die sieben Jahre Nationalsozialismus und noch mehr Jahre Faschismus in Mitteleuropa bis zur Wurzel auszutilgen. In unseren Volksbüchereien kommt dies im Besonderen dadurch zum Ausdruck, dass wir alle faschistische Literatur restlos beseitigt haben und nun in die entstandenen beträchtlichen Lücken gute österreichische, europäische und Weltliteratur hineinbringen. Freilich fehlt es uns noch an einer richtigen Buchproduktion. Es kann sogar länger dauern, bis wir hier infolge der Kriegseinwirkungen und Kriegsfolgen so weit sind, um mit Hilfe einer großzügigen und neuen Bücherproduktion den immensen Bedarf zu decken, der bei uns für neue österreichische und die uns durch Jahre hindurch vorenthaltene Weltliteratur vorhanden ist. Und da wenden wir uns daher an unsere Freunde der Kunst, Kultur und Wissenschaft Österreichs in der Welt und bitten sie, uns ihre Mithilfe bei diesem Aufbauwerk nicht zu versagen. Es ist klar, dass hier auch schon der geringste Beitrag, welcher Form immer, ein großer Vorteil ist, um den Weg zu dem angedeuteten Ziel erfolgreich zu beschreiten. Die Schulen aller Art, von den Volksschulen über die Mittelschulen zu den Hochschulen, sind bereits wieder in Betrieb genommen. Unser Bestreben war und ist es, das gesamte Schulwesen von allen faschistisch-nationalsozialistischen Einflüssen gänzlich freizumachen. Um aber die Schulen mit neuem und zeitgemäßem Lehr- und Lesematerial zu beliefern, dazu bedarf es auch der besonders großen Hilfe jener Freunde Österreichs, die in Amerika und in anderen Ländern Interesse und Sympathie für Österreichs Kultur, Kunst und Wissenschaft haben. Wir tun und werden alles tun, was in unserer eigenen Kraft und bei unserer eigenen Ini tiative liegt. Ich spreche das im Besonderen für jene Österreicher, die es durch Jahrzehnte hindurch und besonders in den letzten schweren Jahren unter Beweis gestellt haben, dass ihnen die Bekämpfung des Faschismus und des Nationalsozialismus zu ihrer Lebensaufgabe geworden ist, und dafür jederzeit die größten Opfer zu bringen bereit waren und sind. Ich erkläre das für alle jene aktivistischen Kämpfer für die Freiheit Österreichs, die lange Jahre in den deutschen Konzentrationslagern und Gefängnissen verbringen mussten und leider nur zum geringsten Teil übrig geblieben sind. Die Tausenden und Zehntausenden Opfer, die die faschistischen Konzentrationslager und Gefängnisse von uns österreichischen Freiheitskämpfern gefordert haben, versuchen durch mich in diesen Zeilen zu euch zu sprechen. Das ist unsere stärkste Kraft, mit der wir an all unsere Bemühungen zum Neubau unseres Landes herangehen.
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Ich wende mich an euch, ihr Freunde Österreichs in den Vereinigten Staaten, um auch Euch zu danken für alle bisherige Sympathie und Mithilfe für unseren Befreiungskampf. Ich weiß, dass ihr alle Interesse habt, uns Eure Mithilfe auch in Zukunft angedeihen zu lassen. Ich schreibe diesen Brief nicht zuletzt auch deshalb, weil es mir gelungen ist, nach 6 ½ Jahren Konzentrationslager Dachau wieder im öffentlichen Leben Wiens arbeiten zu können für den Wiederaufbau unseres kulturellen und volksbildnerischen Lebens.«3
Im Herbst 1945 war das erste Konzert der Wiener Philharmoniker aufgeführt und der Opernbetrieb aufgenommen worden. In seiner Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945 hatte Kanzler Leopold Figl Österreich als kleinen Staat mit großer Kultur bezeichnet. Dass Kulturinstitutionen wieder eröffnet wurden und fortbestanden, konnte als Wiederherstellungsversuch der Normalisierung gesellschaftlichen Lebens gewertet werden, und das zu einer Zeit des überall existierenden Essensmangels. Nicht verwundern wird in diesem Zusammenhang, dass ein kulturelles, das öster reichische Selbstbildnis förderndes Großereignis, die ersten Wiener Festwochen nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz der Zerstörung durch den Krieg und Besatzung lange vor Abschluss des Staatsvertrages, und zwar am 26. Mai 1951, eröffnet wurden. Mit diesen Festwochen würde Wien – als »Hauptstadt der Musik« wiederauferstanden – erneut der Welt präsentiert werden. Das Motto hieß passenderweise »Unsterbliches Wien«. Einerseits sollte das Bild vornehmlich österreichischer Hochkultur wiederbelebt werden : durch Mozart, Strauss, Mahler, Haydn, Beethoven (ein dem Selbstverständnis nach österreichischer Künstler), gespielt von den besten in- und ausländischen Orchestern, dirigiert von internationalen Stars wie Herbert von Karajan und Bruno Walter. Andrerseits war es als ein populäres, die gesamte Wiener Bevölkerung einbeziehendes Großereignis gedacht und wurde dementsprechend durch ein Eröffnungsfest eingeleitet, das die ganze Stadt umfassen sollte. Festwochenveranstaltungen der großen Bühnen wurden in Schulen und Betrieben wiederholt, Veranstaltungen im Schönbrunner Schlosshaus und im Arkadenhof des Wiener Rathauses für ein breites Publikum aufgeführt, informiert ein Internet-Beitrag der Homepage der Stadt Wien zur Geschichte der Wiener Festwochen. Die Presse sprach von einem »Evangelium der Kultur«. Kunst wurde als Mittel der Darstellung von Erhabenheit, der Selbstheilung durch Erfüllung des Bedürfnisses nach Selbstbestätigung, in den Dienst eines sinnstiftenden kulturpolitischen Ansatzes gestellt. Die Kultur sollte aber auch nah an die Wiener Bevölkerung gebracht werden, nicht ausgrenzen, stärken und bilden und darüber hinaus der Welt sagen, Wien (und damit Österreich) gibt es wieder. Kulturidole eignen sich zur Identitätsfindung besonders. Der Weg bis 1955, dem Jahr der Unterzeichnung des Staatsvertrages, war breit. Er kostete 14,3 Milliarden Schilling Reparationszahlungen an die sowjetische Be289
ulrike renner satzungsmacht und gab Österreich auf der Grundlage von Neutralität die völlige Souveränität zurück. Jede/r ÖsterreicherIn kennt das Foto vom Balkon des Schlosses Belvedere, auf dem Bundeskanzler Figl den unterzeichneten Staatsvertrag der jubelnden Menge präsentiert. Es war ein Identität stiftender Akt für ganz Österreich und er wurde naturgemäß in der Hauptstadt inszeniert.
2.1 Der K alte K rieg in der Kunst : der ungeliebte Österreicher Bert Brecht In den ersten Nachkriegsjahren erfüllten die Spielpläne »in hohem Maß die Erwartungen der um Ruhe und Ordnung und geistigen Wiederaufbau Besorgten. Sie werden von Klassikern und von Unterhaltungsware, die oft in die Zeit der Monarchie zurückführt, in die goldene, alte Zeit, dominiert. Die Werke der Zwischenkriegszeit mit ihrem Engagement, ihrem Mut zu neuer Sicht alter Probleme, mit dem Versuch, die traditionellen Mauern niederzureißen, werden ängstlich umgangen, die Wiedergutmachung findet im Wiederaufbau, so sie nicht überhaupt unterbleibt, nur zögernd statt. Aber auch der Gegenwart und der unmittelbaren Vergangenheit stellt man sich nur mit Vorbehalten.«4 Als Beispiel für diese Haltung galt die Eröffnung des Wiener Burgtheaters mit dem Stück Sappho, das einer der verdientesten RepräsentantInnen österreichischer Literatur, Franz Grillparzer, verfasst hatte. Bis in die frühen 60er-Jahre sollte das Theaterleben Österreichs religiös-ethische und konservative Werte, auch als deutliche Abgrenzung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus, zur kulturellen Selbstfindung anbieten. Das bürgerliche Theater galt nicht als Stätte der Provokation, des formalen und inhaltlichen Experimentierens. Diese Harmonisierungstendenz, die den Bogen spannen sollte zwischen einer noch heil gewesenen, kulturell hoch angesehenen österreichischen Kunst und der Abgrenzung zur Zeit des größten kulturellen und menschlichen Unverstandes, hielt viel Sprengstoff für künstlerische Alternativen bereit. In den Jahren 1945–1949 bestimmte, wie bereits erwähnt, eine vielschichtige Persönlichkeit die Kulturpolitik der Stadt Wien mit, der in Konzentrationslagern inhaftierte Schriftsteller und Kulturpolitiker Viktor Matejka, Kulturstadtrat und während dieses Zeitraumes Vertreter der kpö. 1946 präsentierte das Theater in der Josefstadt Der gute Mensch von Sezuan von Bert Brecht mit Paula Wessely in der Hauptrolle. Das Stück endete in einer dem Autor zuwiderlaufenden, nihilistischen Interpretation. Im selben Jahr brachte das Josefstädter Theater Mutter Courage in der historischen Fassung der Uraufführung des Jahres 1941 am Zürcher Schauspielhaus, inszeniert von Leopold Lindtberg, he 290
wienkultur 1945–1995 raus. Beiden Aufführungen folgte ein begeistertes Echo, obwohl oder gerade weil die Presserezeption, wie auch das Regiekonzept der Sezuan-Inszenierung klar erkennen ließen, dass die Beurteilungskriterien sich vornehmlich von der Dramatik des herkömmlichen Theaters ableiteten und den Intentionen Brechts, seiner Theatertheo rie und seinen spezifischen Inszenierungsformen, ahnungslos gegenüberstanden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 60er-Jahre wurden die Keller der Stadt auch als Bühnen für Cabarets, Theater und Musik genutzt. Das Theater der Courage, der Nachfolger der Wiener Kleinkunstbühne, der liebe Augustin, wurde in den Jahren 1945 bis 1947 von der ehemaligen Direktorin des Augustin, Stella Kadmon, die aus der Emigration zurückgekehrt war, wiederhergestellt. Es zeigte 1948 acht Szenen aus Furcht und Elend des Dritten Reiches unter dem Titel Schaut her ! Im selben Jahr präsentierte das von der kpö und der sowjetischen Besatzungsmacht geförderte Theater, die Scala, eine Matinée mit einem Querschnitt durch das Werk Brechts, sowie eine Neubearbeitung der Mutter Courage. Die Pressereaktionen zeigten im Vergleich zu denen der zwei Jahre zuvor produzierten Aufführungen eine inhaltliche Verschiebung. Sie waren bereits von den politischen Vorzeichen des Kalten Krieges geprägt. Ab 1948 bewertete die Presse Brechts Kunst tendenziell ablehnend und mit ihm das politische System, zu dem sich Brecht bekannte, ohne je Parteimitglied der kommunistischen Partei gewesen zu sein. Im Fall der Scala-Aufführung stand zusätzlich die Tatsache erschwerend dagegen, dass es sich um ein kp-Theater handelte. Peter Weigel agierte exemplarisch : Begeistert von der Aufführung 1946, meinte er bezüglich seines Meinungsumschwunges 1948 : »Man macht ja auch im Geschmack Wandlungen durch. Später, wie es dann wieder in Wien gespielt worden ist (1948), hab ich plötzlich gemerkt, dass da Dinge drinnen sind, die mir einfach nicht zusagen. Die Wendung ist eigentlich erst im Lauf der Zeit gekommen, als der Kalte Krieg begonnen hat und als die Allianz der Alliierten auseinander gebrochen ist.«5 Die Presseleute beanstandeten, in ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung orientiert am Pathos des traditionellen Theaters, den Mangel an »Herzblut«, an »elementarer Ergriffenheit«, es sei die Mutter Courage »mehr mit dem Hirn als mit dem Herzen« geschrieben worden.6 Die Kritiken liefen offensichtlich den Intentionen Bert Brechts zuwider, weil sie nicht erkannt wurden oder erkannt werden sollten. Auf jeden Fall reflektierten sie im Sinn einer Umkehrfunktion genau das, was Bert Brecht auf keinen Fall wollte, nämlich mit elementarem Pathos die Zuschauer ergreifen. Dass dies der konservative Teil der Presse nicht verstand oder nicht verstehen wollte, lag gemeinsam mit den konkreten politischen Verhältnissen am kritischen Ansatz der theatertheoretischen Position Brechts selbst. Seine neuen ästhetischen Prinzipien hatten sich von hauptsächlich formal-ästhetischen Überlegungen der frühen Stücke hin zu ethisch291
ulrike renner sozialen Beweggründen hinentwickelt, gründeten in einem neuen Zweck, einer revolutionären Pädagogik. Bert Brechts sozialistisch-marxistische Orientierung blieb Ansatzpunkt für eine Kritik, die vom Künstler die Vermittlung klassischer Ideale forderte. Brechts Theatermodell wollte jedoch in ständiger Auseinandersetzung mit den Werten der modernen Gesellschaft im Dienste des Klassenkampfes neue Sehweisen des Publikums bewirken. Seine Stücke, die Darstellung von an die Oberfläche gebrachten sozialen Konflikten, sollten auf möglichst unterhaltsame Weise, ohne Pathos und Suggestion, den Zuschauer zu kritischer Reflexion anregen. Anfang der 50er-Jahre bis 1963 gab es in Wien bloß zwei Theater, die sich an die Aufführung von Brechtstücken heranwagten : die Scala und das Wiener Volkstheater, wo 1952 Die Dreigroschenoper aufgeführt wurde. Bei aller inhaltlichen Entschärfung und dem hohen Publikumsinteresse gab sie trotzdem Anlass zur Weiterführung von Brechts Diffamierung : Die zeitlich nur kurz zurückliegende Staatsbürgerschaftsaffäre um Brecht war noch nicht vergessen.7 »Der Kalte Krieg bewirkte, dass Brecht in den meisten Blättern praktisch nur noch von einer gegen ihn gerichteten politischen Position des Antikommunismus beurteilt wurde. Das künstlerische Schaffen Brechts diente meist nur noch als Aufhänger für Polemiken gegen den Dichter, gegen die ddr oder den Sozialismus.«8
Zahlreiche Zeitungen polemisierten am Höhepunkt der Anti-Brecht-Kam pagne 1953, als der Künstler zu den heftigen Ausbrüchen der Berliner Arbeiterschaft differenziert in zwei Briefen an den Generalsekretär des Zentralkomitees der sed Stellung bezogen hatte und seine Äußerung bezüglich der Notwendigkeit von Verhandlungsgesprächen mit den demonstrierenden Bevölkerungsschichten in den österreichischen Zeitungsberichten unterschlagen worden war : »Österreicher Brecht huldigt sed«9, »Der Leichenschänder Bert Brecht«10. Die polemischen Tendenzen hatten zur Folge, dass in Wien jahrelang Brecht nicht zur Aufführung gebracht wurde. 1958/1959 erlangten zwei Brechtabende im Wiener Mozartsaal außerordentlichen Erfolg, der jedoch von der Presse totgeschwiegen wurde. Die Tatsache, dass der 1956 verstorbene Autor nicht mehr unmittelbar mit einer aktuellen, politischen Aktion in Verbindung gebracht werden konnte, die zu seinen Ungunsten interpretierbar war, und die Weltberühmtheit des Schriftstellers mit österreichischer Staatsbürgerschaft machten einen dauerhaften Boykott schwierig. Zudem mehrten sich die Stimmen für Brecht. Der Autor wurde erneut aufgeführt und blieb trotz allem einer der meistgespielten AutorInnen auf Österreichs Bühne.
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Abb. 1: Dr. Viktor Matejka mit Oskar Kokoschka vor der zerstörten Albertina Abb. 2: Dr. Karl Renner bei der Eröffnung einer Brücke in der sowjetischen Zone
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Abb. 3: Herbert von Karajan und Ernst Haeussermann Abb. 4: Paula Wessely
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wienkultur 1945–1995 2.2 Nachkriegsmoderne : die Wiener Gruppe Der Diskurs um die faschistische Vergangenheitsbewältigung, der in Deutschland längst eingesetzt hatte, war im Österreich der Nachkriegszeit ausgeblieben. Österreich verstand sich als Opfer des Faschismus. NachwuchskünstlerInnen sprachen von einem Klima des restaurativen Traditionalismus, gelenkt von den Bemühungen der Koalition, einen Kurs der Mitte einzuschlagen. Der Kunst würde vor allem dann Bedeutung beigemessen werden, wenn sie affirmativ wäre. Sie kritisierten den Bestand an provinziellem und ideologisch ausgerichtetem Gedankengut und vor allem die praktizierte Kunstförderung. Gefördert würden hauptsächlich verdiente Staatskünstler. Der meistgespielte österreichische Dramatiker war Fritz Hochwälder, der Repräsentationsdramen verfasste und subventioniert wurde. 1947 hatte Adolf Rott am Burgtheater Fritz Hochwälders Drama Das heilige Experiment packend und realistisch aufgeführt und damit den Weltruhm des in der Schweiz lebenden Österreichers begründet. Die Tatsache, dass der Exil dramatiker mit zahlreichen Dramen trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im deutschen Sprachraum Erfolg hatte, kann trotzdem durchaus als Ausnahmeerscheinung gewertet werden. Kritisierte der Literaturwissenschaftler Wendelin SchmidtDengler die Kunst Hochwälders »als Absage an das epische Theater«11, wurde von anderer Forschungsseite sein Verbleiben im Exilland als Distanz zur Nachkriegsentwicklung interpretiert.12 Fritz Hochwälders Erfolg blieb exemplarisch. Junge, radikalere AutorInnen waren hingegen meist gezwungen, sich ProduzentInnen im Ausland zu suchen. Einige unliebsame SchriftstellerInnen des In- und Auslandes wurden boykottiert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den bereits geschilderten Brechtboykott wie auch an die Tatsache, dass erst 1968 Ödön von Horváth wieder auf dem Spielplan österreichischer Bühnen und zwar auf dem des Volkstheaters erschien. Keller und Studentenbühnen steckten generell in einer finanziell tristen Lage.13 In den meist selbst adaptierten Kellertheatern fand die Avantgarde Wiens statt. Ihre Vorläufer waren die literarisch-politischen Kabarett-Theater der 30er-Jahre gewesen. Aktuelles Zeitkabarett, aber auch ein breit gefächertes Programmangebot, das von Hofmannsthal, Nestroy, Shakespeare, Curt Goetz, Goethe bis Cocteau, Weisenborn, Sternheim und Tagore reichte, bot das Studio der Wiener Hochschule, das von Dr. Friedrich Langer gegründet worden war. Der Spielplan des Theaters der Courage sah bis 1960 Zeitstücke vor, die aktuelle Gegenwartsprobleme aufgriffen. 1960/1961 übersiedelte das Theater der Courage aus dem Café Prückl in ein richtiges Theater am Franz-Josefs-Kai. 1949 wurde das Theater am Parkring mit dem Stück Warten auf Godot eröffnet, 1953/1954 die Tribüne im Keller des Café Landtmann neben dem Burgtheater. Hier 295
ulrike renner sollten vor allem Aufführungen österreichischer AutorInnen wie Raimund Berger, Hans Friedrich Kühnelt, Rudolf Bayr, Felix Braun, Franz Theodor Csokor sowie ausländische Gegenwartsdramatik geboten werden. 1960 wurde im Keller des Café Dobner eine Avantgardebühne, das Ateliertheater von Veit Relin, mit Ghelderodes Stück Schwarzer Kirmes eröffnet. Weitere neue Bühnen waren das Experiment am Lichtenwerd, das ein Programm der surrealen und absurden Dramatik proklamierte, das Theater am Belvedere und die Komödianten, die, von Conny Hannes Meyer geleitet, sich als eine echte Experimentierbühne offenbarten und vor allem das Werk Bert Brechts, sowie anderer links orientierter SchriftstellerInnen präsentierten. Eines der Wiener Kunstphänomene, das eine breitere Publikumsschicht erreichte und öffentlichen Beifall errang, war das Kabarett der Nachkriegszeit unter BronnerKehlmann-Kreisler-Merz-Qualtinger. Bereits in den 50er-Jahren hatte eine Protestbewegung einer künstlerischen Subkulturgruppe eingesetzt, die unter dem Namen Wiener Gruppe gegen herrschende Konventionen in Kunst und Kultur antrat und für kommende Schriftstellergenera tionen des In- und Auslandes zum künstlerischen Ideenreservoir wurde. Ihr kunstprogrammatischer Ausgangspunkt – formal-ästhetisches Experiment ohne gesellschaftspolitische Intention – war die Sprache, die als Machtinstrument einzusetzen und zu missbrauchen war. 1947 war der Art-Club gegründet worden, der ab 1951 im Strohkoffer, seinem ersten Vereinslokal, residierte und nach einer Phase, während der ausschließlich malerische Aktivitäten zugelassen worden waren, zum Treffpunkt aller Künste wurde. Der österreichische Schriftsteller H.C. Artmann stillte das Nachholbedürfnis nach moderner und unbekannt gebliebener Literatur, indem er unermüdlich Texte beschaffte, noch nicht übersetzte fremdsprachige Literatur las und davon Übersetzungen anfertigte. Er, Gerhard Rühm und Konrad Bayer lernten sich im strohkoffer kennen. Ihre Freundschaft wurde zum Ausgangspunkt für die Konstituierung der Wiener Gruppe. Gemeinsam mit dem neu dazugekommenen Oswald Wiener trafen sich die Künstler im Café Glory, wo experimentelle Literatur von Gertrude Stein, Stramm, Schwitters, Dada und Surrealismus aufgearbeitet wurde und vorerst die eigene literarische Arbeit in den Hintergrund drängte. Die literarische Erfindung der Wiener Gruppe war der »methodische inventionismus«, wobei mit mathematischen Permutationen eines willkürlich determinierten Wortvorrates experimentiert wurde : Es handelte sich um eine »art systematisierung der alogischen begriffsfolgen des radikalen surrealismus«.14 Die Wiener Gruppe unternahm den Versuch, die Sprache durch die Bloßlegung ihres Materials als manipulierten Gegenstand auszuweisen und durch die Synthese textlicher Teile einen 296
wienkultur 1945–1995 semantischen Schwebezustand zu schaffen, der der Sprachwirklichkeit ihre Manipuliertheit und damit Bedingtheit entgegenhalten sollte. Wiener lieferte den Anstoß, die sprachtheoretischen Bemühungen sprachphilosophisch zu erweitern, indem er die Diskussion über Wittgenstein, Sapir und Whorf anregte. Die Nähe zu nichtliterarischen Disziplinen verhinderte die Einseitigkeit innerhalb der künstlerischen Gruppenproduktion. »der kreis war jetzt wieder größer geworden : er umfasste dichter, maler und komponisten – dazu kamen noch architekten und filmavantgardisten, der enge kontakt, den die progressiven vertreter der verschiedenen künste zueinander hatten, wirkte sich fruchtbar aus und war für unseren wiener kreis speziell.«15
Ab 1956 nahm Artmann an den Gruppenveranstaltungen nicht mehr oft teil, war er doch der Erste, der literarischen und finanziellen Erfolg hatte. Artmann war Mitglied der »frühen« Wiener Gruppe gewesen. Die »spätere« Wiener Gruppe setzte sich aus Rühm, Bayer, Wiener und dem 1956 dazugekommenen Friedrich Achleitner zusammen. Die Montage wurde zum konstitutiven Element der Wiener Gruppe. »wenn daneben auch jeder für sich den erschlossenen möglichkeiten weiter nachging, war gerade die montage eine technik, die eine gemeinschaftsarbeit besonders begünstigte.«16
Ausgangspunkt jener Wort- und Textmontagen, deren Wirkung auf poetischer Verfremdung beruhte, war ein Lehrbuch der böhmischen Sprache von Terebelski gewesen. Satzteile wurden aus ihrem normalen Satzgefüge herausgenommen und neu geordnet. Aus dem Spannungsverhältnis benachbarter Sätze ergab sich eine Art neuer Wirklichkeit. Die angewandte Technik der Montage bezeichnete die Wiener Gruppe als Fortführung der Technik des Dadaisten Schwitters, der das Material als unwesentlich, das Formen hingegen als das Wesentliche des Kunstwerkes propagiert hatte. Das hieß, wenn sich Sprache und Bewusstsein wechselseitig beeinflussten, dann konnte eine Änderung der Sprache auch eine Änderung der Wirklichkeit nach sich ziehen. Sprache wurde so als Mittel der Herrschaft erkannt, das Verhalten und Bewusstsein steuerte bzw. bewirkte.17 Die sprachlich als dafür geeignet erscheinenden und verwendeten Mittel waren die Montage, das Zitat, die Collage, Permutation, Reduktion, Konstellation, Dialekt.18 Diese sprachskeptische Perspektive spiegelte sich in den literarischen Cabarets, in den gemeinsamen Aufführungen und den Gemeinschaftsarbeiten wider. Obwohl die Lage in Österreich von Gerhard Rühm in seinem Vorwort zum Gesamtwerk Konrad Bayers als isoliert und hoffnungslos beklemmend beschrieben 297
ulrike renner wurde, was die Publikation von Manuskripten betraf, staatliche Zuschüsse verweigert, von der Presse Veranstaltungen mit »hohngejaule« quittiert und offiziell die Künstler als Störenfriede, »entartmänner« bezeichnet wurden, wurde niemals ein »theatralisches Bündnis mit der politisierten Straße« eingegangen.19 Worum es hier ging, war eine Bestreikung der Konvention, die nur gelten ließ, was sich als bürgerliche Tradition über den Nationalsozialismus hatte hinwegretten können. Diese Gesinnung hatte unterschlagen, was an Avantgardekunst passiert war und von den begeisterungsfähigen jungen KünstlerInnen der Nachkriegszeit nun mit offenem Interesse aufgenommen wurde. Umfassend, keineswegs einseitig ausgerichtet, war die Beschäftigung mit allem Wissenswerten und das Interesse Fördernden, diente es doch einer beeindruckend vielseitig gestalteten Kunstproduktion. Es entstanden die ersten Wiener Dialektgedichte, die Erfindung des Inventionismus, die ersten Montageversuche, die Ausei nandersetzung mit dem Material Sprache, Monsterlesungen, Aufführungen kleiner Co-Arbeiten, Feste in den historischen Katakomben, die Aufführungen der literarischen Cabarets und nicht zuletzt die Ästhetisierung des eigenen Alltagslebens. Was die Wiener Gruppe darstellte, war eine radikale Manifestation gegen alles Spießbürgerliche. Meine Dissertation über dieses Wiener Kunstphänomen der späten 50er-Jahre hatte ich an die Arbeiten über avantgardehafte Kunst angegliedert. Zum einen bezog sie sich auf ein Kunstverständnis avantgardistischer Gruppen, »deren autonomer Anspruch sich in einer von herkömmlichen Kunstpraxen wohl unterschiedenen Produktions- und Darstellungsweise manifestiert. Als Tenor dieser Kunsthaltung, gleichzeitig einsehbarer Protest gegen überkonventionalisierte und -rationalisierte Lebens- und Denkformen, zeigen sich Maßnahmen, die mittels eigenwillig formulierter Selbstdarstellungen der Hoffnung wieder einkehrender Ganzheit Ausdruck verleihen sollen oder mit aller Radikalität dessen Misslingen dokumentieren. Zum anderen zeigt sich die Wiener Szene des zeitlichen Abschnittes 1950 bis 1960 (…) von der Kontinuität eines gewachsenen Kunstverständnisses, wie es die Avantgarde formuliert, abgeschnitten und isoliert. In regionaler Abwandlung, die ohne geschichtlichen Bezugsrahmen unverständlich bleiben muss, wird sozusagen der Anschluss an die bereits in Dokumentationen vorliegende Avantgarde gesucht. Ausschlaggebend dafür sind die konkrete politische Situation der österreichischen Nachkriegszeit, als auch eine Aufarbeitungstendenz, die sich zwecks geistiger Anregung auf die Nachbarländer richtet.«20 Die Wiener Gruppe war das Phänomen eines Grenzganges an den Rändern der theatralen/bildnerischen/literarischen Kunst und darüber hinaus ein komplexer Versuch, den getrennten Bereich von Kunst- und Lebenssphäre aufzuheben.21 Die avantgardistische Haltung, der Hang zur Selbstdarstellung, beinhaltete nicht zuletzt die Möglichkeit der Wiederherstellung einer gebrochenen Identität 298
wienkultur 1945–1995 durch extrem subjektive Erfahrungen innerhalb der literarischen/darstellenden/ gelebten Praxis. Diese versprachen Zugang zu einem Grenzbereich, der sich ratio naler Denk- und Lebensweise entzog und konventionelle Spiel- und Schaukunst überwand. Gerhard Rühm, einer der Autoren der Wiener Gruppe, schildert seinen subjektiven Wahrnehmungsbefund hinsichtlich der Reaktionen, die die künstlerisch vielfältigen, radikal progressiven und experimentellen Produktionen hervorriefen, so : »schnell wurde deutlich, dass die mehrheit der Österreicher der unmittelbaren Nachkriegszeit wohl vieles gegen die nazistische kriegspolitik, aber im grunde nichts gegen die ›gesunde‹ kulturpolitik einzuwenden gehabt hatte. jetzt, da man der ›entarteten kunst‹ wieder offen begegnen konnte, erregte sie die gemüter oft bis zu handgreiflichkeiten. schon wer für sie interesse zeigte, wurde für verrückt abwegig erklärt – erst recht die, die sie vertraten. in den folgenden jahren wurde es eher noch schlimmer, denn unmittelbar nach beseitigungen des naziregimes herrschte allgemeine verwirrung, unsicherheit und angst, sich durch irgendeine äußerung als nazi zu entlarven.«22 Konrad Bayer, die wohl schillerndste Persönlichkeit der Wiener Gruppe, kann zweifellos als Ideenreservoir für nachfolgende Kunstgenerationen bezeichnet werden. »So nimmt, laut Janetzki, Bayer den Pop-Art-Begriff vorweg, indem er einen Geldschein mit seinem Namen versieht, um ihn darauf durch diesen Akt zum Kunstwerk zu erklären. Wie Happenings wirken die Aktionen und Feste, die in der ›kleine(n) Schaubühne‹ aufgeführt wurden, die sich über den historischen Katakomben Wiens befindet und als erweiterter Bühnenraum benutzt wurde.«23 Eine radikal artistische Haltung bewegte die Gruppe. Sie, die meinten, dass sie von der Gesellschaft, von den »Herren im Nadelstreif« abgelehnt wurden, lehnten ihrerseits radikal subjektiv ab, ohne ihren Protest politisch auszuformulieren. Sie machten den Wirbel jener Zeit. Geachtet von einem kleinen Insiderkreis entwarfen sie radikal ästhetische, innovative Produkte, »als autonome, wiewohl schon an der äußersten geschichtlichen Grenze dieser Autonomie stehende(n) Gebilde verwirklichen sie den Traum der Freiheit und antizipieren jene Phantasie, die verlorenzugehen droht«.24 Die Wiener Gruppe als künstlerisches Phänomen der Wiener Nachkriegszeit hatte, trotz aller in Hinkunft erfolgter Eingemeindung, in ihrer Nachfolge nichts Vergleichbares und war, es kann nicht oft genug wiederholt werden, Ideenreservoir für nachfolgende Künstlergenerationen, denen der internationale Ruhm nicht verweigert wurde. Dass dieses Kunstphänomen in einer Extremsituation wie der Nachkriegszeit überhaupt entstehen und sich, nachdem es sich eigentlich bereits überlebt hatte, durchsetzen konnte, sprach trotz oder gerade wegen allen Protestes der Künstler der Wiener Gruppe, die sich gegen jeden Konsens in der Gesellschaft wie in der Kunst ausgesprochen hatten, für sich. Die Nachkriegszeit hatte diesen Appell eines 299
ulrike renner künstlerisch extrem radikalisierten Protestes hervorgerufen, zugespitzt und auf eine durchaus zu hinterfragende, gesellschaftlich aggressiv ablehnende Art zugelassen. Inwiefern die Wiener Gruppe ein vorrangig lokales, auf Wien konzentriertes und auf Wiens spezifische, auch sprachliche Bedingungen hin ausgerichtetes Phänomen und darüber hinaus ein exklusiv künstlerisches war, kann an dieser Stelle durchaus gefragt werden. Internationaler Ruhm kam spät, aber er kam.
2.3 Die späten 60er- und frühen 70er-Jahre : ein neues Kunstengagement. Ab Mitte der 60er-Jahre bis Anfang der 70er-Jahre ließ sich eine neue Entwicklung innerhalb der literarischen Künstlerschaft ablesen : Österreichische AutorInnen wie Peter Handke, Thomas Bernhard, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Barbara Frischmuth wurden vom Ausland als Literaturavantgarde, als KunstinnovateurInnen honoriert. Die anfängliche Regierungsform einer absoluten Mehrheit der »schwarzen« Partei, der eine »rote« Opposition der SozialistInnen gegenüberstand, hatte zur Folge, dass einige österreichische LiteratInnen eine betont kritische Haltung der Gesellschaft gegenüber ausdrückten. Die Kunstavantgarde der subkulturellen Phase der Nachkriegszeit in Wien wurde zum Ideenreservoir und Ausgangspunkt für eine Gruppe von SchriftstellerInnen, von denen jede/r eine eigene literarische Entwicklungsgeschichte und einen gemeinsamen thematischen Nenner aufwies : die zugespitzt präsentierten Alltagsprobleme des »kleinen«, auch die des proletarischen Mannes und seiner Umgebung. Unter Miteinbeziehung experimenteller Techniken wurden Bühnenkonventionen destruiert. Zu den AutorInnen gehörten Wolfgang Bauer, Peter Turrini, Herbert Berger, Harald Sommer und später, eine ähnliche Tradition fortsetzend, Elfriede Jelinek, Felix Mitterer und der frühe Peter Handke. Der Adressat, das »bürgerliche« Publikum, wurde gerade in den Jahren 1968 bis 1973 mit einem Schocktheater konfrontiert, das mit allen zu Gebote stehenden Mitteln an viele Tabus rührte und folgerichtig von vielen Theaterskandalen begleitet wurde. Als typisches Beispiel dafür galten Peter Turrinis rozznjogd, Wilhelm Pevnys Sprintorgasmik, die beide zusammen am 27. Jänner 1971 im Volkstheater im Sonderabonnement der »Konfrontationen« aufgeführt und vom Publikum wie von der Presse äußerst widersprüchlich aufgenommen wurden.25 Das Ziel dieser Dramen lag nicht in der Vorspiegelung von Versöhnlichkeit, sondern in dem Versuch, Gegensätze disharmonisch darzustellen und das Publikum direkt und hautnah, durch unmittelbare Konfrontation, anzugehen. 300
wienkultur 1945–1995 Nicht der/die BürgerIn wurde thematisiert, nein, vielmehr Minderheiten, Randgruppen der unteren Gesellschaftsschichten wurden zu HauptakteurInnen gemacht. Problematisch und ungelöst freilich blieb der künstlerische Anspruch, der in seiner Hinwendung und Ansprache an den/die ProletarierIn eben diese/n im bürgerlichen Theater nicht vorfand. Das klassische Bildungsbürgertum jedoch sollte mit den dramatischen Konflikten des Proletariers/der Proletarierin konfrontiert werden, dessen täglicher Überlebenskampf zum Hoffnungsschimmer für bessere, echtere Lebensverhältnisse geworden war. Die DramatikerInnen, mit der ihnen zugesprochenen Bezeichnung Schocktheater nur unzulänglich zufrieden, waren angesichts der erhofften Wirkung ihrer Werke oftmals desillusioniert. Manche der Stücke waren noch vor deren Aufführung von der Tagespresse skandalisiert worden. Einige AutorInnen schienen, zumindest dergestalt reflektiert in der Tagespresse, prädestiniert zu sein, Schock im Theater zu produzieren. Neu an dieser journalistischen Haltung der Skandalvorankündigung war die zunehmende Tendenz der Presse als auch die des Publikums, seine Erwartungshaltung, einen Schock tatsächlich präsentiert zu bekommen, eingelöst sehen zu wollen. Hieß das nicht, dass die ursprünglich intendierte Absicht zu provozieren, verflachte und der Schock im Allgemeinverständnis des/r Theaterkonsumenten/In institutionalisiert worden war ? Im Bereich der Subkultur waren in den späten 1960er- und den 1970er-Jahren neue Lebensformen diskutiert und ausprobiert worden, die eine Aufhebung der Trennung von Arbeit, Leben und Freizeit proklamierten und das Zusammenleben abseits des konventionellen Familienmusters forderten. Nicht mehr die Keller als Orte subkulturellen oder alternativen Geschehens schienen geeignet für die Realisierung solcher selbstbestimmter Lebens- und Kunstvorhaben, sondern Fabrikräume. Die bis heute existierenden und in dieser Zeit entstandenen, sich deutlich von der Hochkultur abgrenzenden Kulturinitiativen Arena und wuk sind Resultate einer Haltung, Kritik abseits des hoch subventionierten Kulturbereichs zu üben und stattdessen Sub- und Alternativkultur als Freiraum eines politisch unabhängigeren Kunstschaffens anzubieten. Ihren Ursprung und ihre sich davon ableitende Tradition fanden solche Kulturinitiativen im Widerstand gegenüber als rücksichtslos empfundenen, der Selbstbestimmung des Menschen zuwiderlaufenden Bauvorhaben. Das Resultat dieser Empörung endete in Raumaneignung durch Hausbesetzung. In einigen Fällen waren Repressalien in Form von Anzeigen, Verhaftungen oder Häuserabriss die Antwort der Herrschenden. In Sub- und Alternativkultur angesiedelte Projekte wie wuk und Arena zählten zu den Überlebenden eben jenes protestorientierten Zeitgeistes, ohne je den Förderstatus von etablierten und ökonomisch aussichtsreichen Kulturinstitutionen erreicht, ohne ihn vielleicht auch je intendiert zu haben. Auf jeden Fall waren solche Initiativen Ausdruck von Bestrebungen, den Raumbedarf einer alternativen Kultur301
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Abb. 5: Arena
szene als Herausforderung der Stadtentwicklung zu signalisieren. Sie standen als Ausdruck für alternative künstlerische und kulturelle Bedürfnisse und gleichzeitig als Möglichkeit, als innovativ künstlerischer Freiraum seitens der Stadtpolitik anerkannt zu werden.
2.4 Statussymbol des Kultur amtes der Sta dt Wien: die Wiener Festwochen 2.4.1 der auftakt : unsterbliches wien Die immense Bedeutung der Wiederherstellung kulturellen Selbstwertes in der kriegszermürbten und aufholbedürftigen Gesellschaft der Nachkriegszeit ist gewiss nicht in vollem Ausmaß nachzuvollziehen. Erahnen lässt sie sich, wenn man sich die vielen politischen Bekenntnisse vergegenwärtigt, die wieder zu erlangendes Gewicht und Größe dieses in allen Belangen dezimierten Landes beschwören. »Sollte Wiens Kultur, die Weltstadt der Musik, die Schatzkammer des Abendlandes, die Stadt des 302
wienkultur 1945–1995 sozialen Fortschritts, des Wohnbaues, der Schulreform nur deshalb in Anonymität versinken, weil sie von der freien Welt durch unüberschreitbare Demarkationslinien abgeschnitten war, nur deshalb verdorren, weil es den Glauben an sich selbst zu verlieren drohte ? Nein. Wien mußte sich selbst finden, sollte lernen, wieder an sich zu glauben, sollte, wie so oft in seiner tausendjährigen Geschichte beweisen, daß der Born der Lebenskraft aufbricht – wenn es nur will.«26 Eine der ersten kulturellen Hochleistungen der Nachkriegszeit in Wien, symbolträchtiger Schritt eines die Normalisierung anstrebenden Lebensgefühls inmitten einer nach wie vor von Essensmangel heimgesuchten Lebenswirklichkeit, war demnach die Wiedereröffnung der Wiener Festwochen, initiiert von Stadtrat Hans Mandl von der spö. Die bombengeschädigte Staatsoper und das Burgtheater waren allerdings noch nicht bespielbar, es wurde in die Volksoper, in das Theater an der Wien und ins Ronacher ausgewichen. Die Vorgeschichte zu diesem Event reicht in die Zwischenkriegszeit zurück. 1920 und die meisten folgenden Jahre darauf hatte die Stadt Wien bereits ein Musikfest mit der Staatsoper und den besten MusikerInnen Wiens veranstaltet. 1927 hieß die Veranstaltung zum ersten Mal »Wiener Festwochen«, 1929 »Festwochen in Wien«. Ab 1930 mussten ähnliche Veranstaltungen wegen der schlechten finanziellen Lage jedoch eingestellt werden. don giovanni Der künstlerische Höhepunkt der ersten Wiener Festwochen der Nachkriegszeit 1951 war die Inszenierung von Mozarts Don Giovanni unter Oskar Fritz Schuh und der musikalischen Leitung des Stardirigenten Karl Böhm. Musik war das Hauptanliegen dieser Wiener Festwochen (und auch das der kommenden Jahre). Der schwebende Barockengel auf dem Folder der Festwochen Wien vom 26. Mai bis 17. Juni 1951 kündete ein »Unsterbliches Wien« an. Es hieß darin : »Nach jahrelanger Unterbrechung und Überwindung tragischer Nöte begeht Wien zum erstenmal wieder seine Festwochen. Es feiert damit den Weiterbestand seiner Mauern, noch mehr aber seine aus einem Jahrtausend erwachsene und sich weiterhin erneuernde Bedeutung als europäisches Kulturzentrum. (…) In seinen historischen und modernen Sammlungen, seinen Baudenkmälern und Weihestätten großer Erinnerung ist es Träger unsterblicher Werte. Auch sein Kunstgewerbe, sein Modeschaffen und sein Handwerk genießen, wie seine sportliche Kraft und Anmut nicht anders, die Achtung der Welt.«27 Das breit gespannte Programmangebot reichte von Schauspiel im Burg-, Akademie- und Volkstheater sowie Theater in der Josefstadt, von Oper und Tanz im Theater an der Wien, Operette in der Volksoper, dem Bürger- und Marionettenthea 303
ulrike renner ter, Kongressen für Gewerbe, Dentisten, Handelsagenten, Sozialwissenschaftlern, Geologen und Botanikern, einer Österreichischen Gewerbeausstellung (der Preis der Besucherkarte lag bei vier Schilling, die Jugendkarte bei 1,50 Schilling) bis hin zu sonstigen Veranstaltungen, worunter Film-Matineen im Forumkino im ersten Wiener Gemeindebezirk gezählt wurden. Zu sehen waren Filme wie Der Engel mit der Posaune, Eroica, Hofrat Geiger, Operette, Schrammeln, Wen die Götter lieben, Wiener Blut, Wiener G’schichten in österreichischer Starbesetzung. Die österreichische Gewerbeausstellung hegte den ehrgeizigen Anspruch, eine Zeit zu präsentieren, »in der die Meister des Handwerks bereits eineinhalb Jahrhunderte vor der Entdeckung Amerikas Organisationen gebildet haben, aus denen die Innungen der Gegenwart erwachsen sind. In früheren Jahrhunderten waren die Leistungen des österreichischen Gewerbefleißes weit über die Grenzen unseres Landes bekannt, und so soll es auch in Zukunft bleiben. Der Sinn dieser einmaligen Leistungsschau ist es, die besondere Bedeutung und Funktion des Gewerbes im Rahmen der österreichischen Gesamtwirtschaft zur Darstellung zu bringen, für neuen Absatz und Exportmöglichkeiten zu werben und beim Gewerbe selbst den Gedanken der Rationalisierung, der Notwendigkeit zum Export und einer gründlichen Berufsausbildung weiteren Auftrieb zu verleihen. Vor allem soll auch das Interesse der Jugend für die handwerklichen Berufe aufs neue geweckt werden.«28 Um zum Besuch der Wiener Festwochen zu motivieren, wurden Fahrpreisermäßigungen für die Österreichischen Bundesbahnen in ganz Österreich, für private und öffentliche Autobuslinien, die Seilbahn auf die Rax und freier Eintritt in die staatlichen und städtischen Museen und Sammlungen in Wien angeboten. kr äfte der gegenwart Auch 1952 wurde gleichermaßen auf das große Kulturerbe Wiens und die »Kräfte der Gegenwart« verwiesen. »Der aus den Nöten der Geschichte erstandene humane Geist, der in Wien mit wahrer Weltbürgerlichkeit beheimatet erscheint, will jene Lebensfestlichkeit mitbestimmen, die immer wieder auch zur Überwindung schwerer Schicksalszeiten entscheidend mitgeholfen hat. Diesen Sinn seiner Festwochen wünscht Wien vornehmlich zu verwirklichen. Selbst im Brennpunkt sorgenvoller Weltfragen gelegen, will es auch mit seinen Feiern zu einem guten Wandel der Dinge beitragen, nicht durch Macht, wohl aber im Geist Mozarts und dieser Menschenbrüderlichkeit, die allein eine bessere Zukunft verbürgt.«29
Herbert von Karajan, Bruno Walter, Richard Strauss, Paul Hindemith, Arnold Schönberg, Arthur Honegger, Dietrich Fischer-Dieskau, Paul Badura-Skoda, die 304
wienkultur 1945–1995 Wiener Philharmoniker und Symphoniker waren die Musikerstars, die im Musikvereinsgebäude und Konzerthaus dirigierten und aufgeführt wurden. Parallel zu den musikalischen Ereignissen gab es einen Internationalen Musikkongress und mit ihm drei öffentliche Rundfunkkonzerte in Wien und je ein Symphoniekonzert in Graz, Linz und Salzburg. Zahlreiche Theateraufführungen, Ausstellungen wie zum Beispiel über das Wiener Schulwesen, das »edle Weidwerk«, die Donau, bäuerliches Siedlungs- und Hauswesen, Sportevents sowie Veranstaltungen an historischen Stätten fanden statt : eine Mozartserenade im Hof des Deutschen Ritterordenshauses, eine historische Serenade auf der Burg Kreuzenstein, eine Schubertiade. Kartenbestellungen und Reisearrangements konnten bei den Vertretungen der Österreichischen Verkehrswerbung in Ägypten, Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Holland, Italien, Schweden, Norwegen, Finnland, Schweiz und den usa getätigt werden. Ein erster Schritt in Richtung Kommerzialisierung der Wiener Festwochen war somit getan. Wie im Vorjahr wurden Ermäßigungen für die Teilnahme an den verschiedenen Events angeboten. ein großsta dtfestival mit sozialem touch Schon ab 1953 war eine die künftige Gestaltung der Wiener Festwochen prägende und sich von anderen Ereignissen ähnlicher Art unterscheidende Struktur abzulesen. Ganz Wien, auch die sozial Schwachen der Arbeiterbezirke, sollten in die Festivitäten im Rahmen selbstständig organisierter Bezirksfestwochen einer sich besonders prächtig präsentierenden Stadt miteinbezogen werden. Ein Großstadtfestival sollte es sein, noch nicht in die Hauptsaison fallen und zahlreiche TouristInnen zur Teilnahme motivieren. 1953, das unter dem Motto »Festliches Wien« stand, wurden Festwochen-Arrangements beworben : drei volle Tage Wien vom Abendessen des ersten bis zum Frühstück des fünften Tages einschließlich Transfers, Stadtrundfahrten in sehr guten Hotels (800/670 Schilling), Touristenhotels (550 Schilling) sowie ein billiges Arrangement für bescheidene Ansprüche ohne Transfers und Stadtrundfahrten (260 Schilling). Franz Schubert und Hugo Wolf, »zwei Großmeister des deutschen Liedes«, wurden im Rahmen einer Schubertiade in Schuberts Geburtshaus, eines Gesangabends durch die Wiener Sängerknaben und einer »Pilgerfahrt zu Hugo Wolf nach Perchtoldsdorf« gefeiert. Eine beachtliche Liste an musikalischen Stars wie Yehudi Menuhin, Wolfgang Schneiderhan, Jörg Demus, Clara Haskil, Irmgard Seefried fand sich auf dem Programm. Ein internationaler Musikwettbewerb, der erste wieder nach dem Krieg, an dem alle Staaten teilnahmeberechtigte MusikerInnen unter dreißig Jahren stellen durften, und ein internationales Musikfest hoben die besondere Bedeutung der Musik hervor. Aber auch Sport, Wissenschaft und 305
ulrike renner bildende Kunst sowie die Ausdehnung und Miteinbeziehung aller Bezirke wurden mitgedacht. In allen Bezirken Wiens fanden kulturelle, gesellschaftliche und volkstümliche Veranstaltungen statt. Waren die Festwochen des Jahres 1951, eröffnet auf dem Rathausplatz mit einer eigens dafür komponierten Fanfare, noch in erster Linie ein den WienerInnen zugedachtes, sie miteinbeziehendes Großereignis, veränderte sich naturgemäß in den Folgejahren das Selbstverständnis, sollten der Empfängerkreis und der kulturelle und mit ihm der wirtschaftliche Anspruch erweitert werden. Ab 1956 hob langsam die bis dahin ausbleibende Internationalisierung des Theaterbereichs an. Auch Staatsoper und Burgtheater waren wieder bespielbar. Es begann mit Gastspielen der Mailänder Scala in der Staatsoper, Giorgio Strehler im Akademietheater, dem Berliner SchillerTheater und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Ab 1958 wurden die jährlichen Europagespräche organisiert, bei denen europäische PolitikerInnen Fragen der europäischen Integration diskutierten.30 Bis Ende der 50er-Jahre wurden die Wiener Festwochen vom Kulturamt der Stadt Wien, und zwar von seinem Veranstaltungsreferat der Magistratsabteilung 7, kurz MA 7 genannt, organisiert. Mit wachsender Veranstaltungsgröße wurde der Einsatz einer planenden und strukturierenden Instanz nötig. Nach einem kurzen Intermezzo von Rudolf Gamsjäger folgte 1960 Egon Hilbert als erster wirklicher Intendant, der die Planung der ersten Wiener Festwochen 1951 bereits als Leiter der Bundestheaterverwaltung miterlebt und gemeinsam mit Kulturstadtrat Viktor Matejka 1946 Bert Brecht nach Wien eingeladen hatte. Hilbert, von der Leitung des neu gegründeten Kulturinstituts in Rom nach Wien zurückgekehrt, initiierte ein neues Festwochenkonzept, das er durch ein gemeinsames Motto vereinheitlichte und die dafür notwendigen, daran beteiligten Institutionen und deren Veranstaltungen koordinierte. Beachtenswertes Großereignis war 1962 das revitalisierte, im Rahmen der Festwochen feierlich eröffnete und zum eigenen Festspielhaus und Zentrum erklärte Theater an der Wien. 1964 wurden an diesem Ort Die letzten Tage der Menschheit von dem österreichischen Sprachgenie Karl Kraus unter der Regie von Leopold Lindtberg welturaufgeführt, das bis dato mit seinen 220 unterschiedlichsten Szenen des Ersten Weltkriegs, unzähligen Zitaten, Dialekten und Auftretenden als unspielbar gegolten hatte.31 Das Festprogramm des 8. Internationalen Musikfestes 1957 der Wiener Konzerthausgesellschaft, das im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand, las sich, selbst aus heutiger Sicht gesehen, wie ein musikalischer Bestseller. Erstaufführungen von Kurt Weill, Rolf Liebermann, Gottfried von Einem, Max Reger, Carl Orff, Paul Angerer, Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Paul Hindemith wurden gespielt. Letztgenannter sah anlässlich seiner zitierten Antrittsrede zur Professur an der Universität Zürich 1951 den Künstler als Visionär, als »Anreger zum Guten«. »All die 306
wienkultur 1945–1995 ethische Kraft (…) soll er freimachen.«, als »echter« Komponist »ein Besiegen niedriger Kräfte und ein Hinneigen zu geistiger Souveränität« erwirken, hieß es im 1957 erschienenen Festprogramm. Glenn Gould interpretierte Werke von Bach, Beethoven, Webern und Alban Berg, Claudio Arrau solche von Mozart, Beethoven, Schumann, Schönberg und Francis Poulenc. Das Eröffnungskonzert im großen Konzerthaussaal – die 1. Symphonie in D-Dur von Gustav Mahler und Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky – spielten die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Lorin Maazel. Der internationale Anspruch wurde über die Präsenz international renommierter MusikerInnen des In- und Auslandes wie zum Beispiel des Cleveland Symphony Orchestra erfüllt, musikalische Erstaufführungen mit der Präsentation klassischer Werke von Richard Strauss, Bartók, Manuel de Falla, Claudio Monteverdi, Berlioz abgewechselt. Nikolaus Harnoncourt, der als Cellist bei den Wiener Symphonikern bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren bei den Wiener Festwochen mitwirkte und MusikerkollegInnen zur inspirierten, privaten Erforschung und Präsentation alter Musik im Concentus musicus zusammenfasste, erinnerte sich : »Die Symphoniker haben ja zur Festwochen-Eröffnung immer auf dem Rathausplatz musiziert. Wir fanden das wunderbar, daß da ganz Wien mit einbezogen war, auch mit den Bezirksfestwochen. Wir hatten den Eindruck, das sind die einzigen Festspiele mit breiter Programmpalette. Das Programm war sehr interessant, enthielt auch viel Neues. Und die Symphoniker haben eben auch unheimlich viel gespielt, darunter sehr viel zeitgenössische Musik. Ich war bei Lulu unter Karl Böhm dabei, und dann gab es Die schwarze Spinne von Josef Matthias Hauer. Richard Bonynge hat mit den Symphonikern im Theater an der Wien die Haydn-Oper gemacht, damals unter dem Titel Orfeo ed Euridice, da hat Joan Sutherland beide Frauenrollen gesungen. Vom Theater an der Wien hatte mir schon mein Vater erzählt, der dort Lehár-Aufführungen gesehen hat. Die Garderoben und alle Nebenräume waren damals schrecklich, aber der Orchestergraben und der Theaterraum waren begeisternd ! Man hat von der Bühne sehr gut gehört, und wir haben uns gegenseitig sehr gut gehört. Was meine eigenen Aufführungen betrifft, sehe ich mich in dieser Zeit vor allem als Bittsteller. Für den Concentus musicus war es ja außerordentlich wichtig, während der Festwochen ins Programmheft zu kommen, mit unseren Konzerten im Palais Schwarzenberg. Ich war der Meinung, daß wir etwas Wertvolles bieten. Aber da hatte ich Mühe. Ich war mehrmals bei Egon Hilbert, der mir erklärt hat, daß Wien im Schlamm versinkt und daß nichts zu machen sei. Eine zusätzliche Schwierigkeit waren ja immer die personellen Wechsel im Kulturamt und bei den Intendanten, daß man jeden wieder neu kennenlernen und überzeugen mußte. Da hatte ich Hilbert überzeugt, daß wir gemeinsam Wien aus dem Schlamm ziehen, und dann kam Ulrich Baumgartner. Wir wollten im Theater an der Wien
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unbedingt Ulisse aufführen. Der Concentus ist ja eigentlich schon 1954 mit Monteverdi aufgetreten. Paul Hindemith hat damals zu den Festwochen im Konzerthaus L’Orfeo gemacht, da habe ich nicht nur alle Instrumente beschafft, sondern auch die Spieler gestellt ; das war das inoffizielle Debüt des Concentus musicus. Und dann wollten wir Ulisse im Theater an der Wien aufführen. Ich denke, daß Baumgartner das auch wollte, es gab auch Zusagen, aber man mußte trotzdem unheimlich dahinter sein. Er war ein guter Gesprächspartner, aber wenn man Nägel mit Köpfen machen will, muß man lang vorausplanen. Ich habe ihn sicher vier Jahre bearbeitet, bis es soweit war ; Federik Mirdita (der Regisseur ; Anm. d. Red.) hat mir dabei sehr geholfen. Das Ergebnis war sehr gut, auch wenn die Kritiker damals der Meinung waren, ich sollte doch lieber die Finger von der Oper lassen. Wir hatten das Bühnenbild, das wir wollten, und wir hatten die Besetzung, die wir wollten. Es war unheimlich aufregend für mich. Wir haben in unserer Wohnung geprobt, und unser jüngster Sohn Franzi hat beim Regal die Bälge gezogen ; er war der einzige, der das gut gemacht hat, so daß die Luft ganz gleichmäßig austritt. Er konnte das ganze Stück auswendig und hat alle bei ihren Einsätzen immer gestupst. (…) Und daß es diese Kontinuität im Theater an der Wien gegeben hat, war natürlich toll. Das ist für mich auch ein Lichtblick für die Zukunft. Es ist das schönste Theater von allen, in denen ich je gearbeitet habe. Mit diesem Haus kann man mich immer locken. Aber jetzt ist die Situation halt umgekehrt. Jetzt müßte man mich vier Jahre berennen.«32
2.4.2 »ein split ter aus meiner erinnerung beginnt zu stechen« »1964 war es. Die Menschen haben wie jedes Jahr am Ende der Festwochen-Eröffnung am Rathausplatz den Donauwalzer getanzt. Frauen mit Männern. Männern mit Männern. Frauen mit Frauen. Kinder mit Erwachsenen und Kinder mit Kindern. Ich war siebzehn und drehte mich mit der Elfi Schlosser, wie ich es Freitag für Freitag im Anfängerkurs beim Elmayer lernen mußte. ›Willst du für heute und immer mein Rathausmann sein‹, hat sie plötzlich gefragt. Lange sah ich sie an : das Gesicht mit dem Hauch von Asta Nielsen, der Bubikopffrisur, den Sommersprossen und dem unvorsichtigen Lachen, das den Blick auf kurze Mauszähne lenkte. Dann hab ich geantwortet : ›Nein, Elfi. Ich muß zuerst aus mir einen Menschen nach meiner Façon machen.‹ – ›Du bestehst aus nichts als Flausen‹, hat sie gemeint, und wir drehten uns stumm bis zum Ende der Musik.«33
1964 wurde Egon Hilbert, der den Versuch gestartet hatte, im Rahmen der Wiener Festwochen Kritisches und Zeitgenössisches mit einzubinden, Staatsoperndirektor, und Ulrich Baumgartner folgte als Intendant nach. Er erweiterte das Festwochenprogramm als Fortsetzung eines ohnehin immer besser funktionierenden 308
wienkultur 1945–1995 Kulturbetriebes um den Anspruch der Vielfalt, des künstlerischen, durchaus nicht widerspruchsfreien Experimentes und aktueller, gegenwartsbezogener Strömungen bei Beibehaltung existierender Kulturtradition von hoher Qualität. Die Festwochen signalisierten somit eigenes Potenzial, initiativ tätig und Ansporn für künstlerische Alternativen im hauseigenen Betrieb Wiens auch außerhalb der Festwochenzeit zu sein.34 ein jubiläum Ein Jahr später verkündete der Festwochenbericht zwanzig Jahre nach der Befreiung Österreichs und zehn Jahre nach Abschluss des Staatsvertrages, die Festwochen unter dem politischen Leitgedanken »Kunst in Freiheit« zu präsentieren, mit dem auch »die künstlerischen Sendboten der vier Nationen, die mit Österreich durch Befreiung und Staatsvertrag historisch verbunden sind«, eingeladen waren.35 Großbritannien führte Werke von Händel, Benjamin Britten und die Londoner Symphonie von Haydn auf, der Concentus musicus unter Harnoncourt englische Musik von Purcell und Gibbons. Auf dem Programm standen die russischen Komponisten Tschaikowsky, Rachmaninoff, Skrjabin und Schostakowitsch, von den russischen Musikern wurde Joseph Haydn gespielt. Der Wiener Festwochenbericht 1965 resümierte, dass der Express am 3. Juni 1965 die russischen Beiträge durch Aussagen wie »unglaubliche Vitalität«, »musikantisches Temperament« und »gediegene Technik« würdigte und Neues Österreich meinte, »unter der inspirierten Leitung (…) spielen sie Musik ihrer Heimat mit starker seelischer Beteiligung, höchster Präzision und Begeisterung«.36 Der legendäre Ruf des gastierenden Bolschojballetts spiegelte sich im Kartenvorverkauf. »In der geheim blühenden Agiotage wurden Eintrittskarten bis zur Höhe von mehr als 1.000 Schilling gehandelt.«37 Dem Leitgedanken von der Freiheit der Kunst und dem Jubiläumsanlass entsprechend waren in das Programm der Wiener Sprechtheater Autoren der ehemaligen Alliierten aufgenommen worden. Das Theater an der Wien eröffnete mit einer Eigenproduktion von Nestroys Das Haus der Temperamente auf einer viergeteilten Bühne, um aus aktuellem Anlass die vier Nationen in das Spiel mit einzubeziehen. Le mariage de Figaro von Beaumarchais in einer Inszenierung des legendären JeanLouis Barrault wurde zu einem »wahren Triumph«, wohingegen sich das Publikum bei der Produktion von Die Nashörner von Ionesco zu interessiertem Verständnis aufraffen musste und das Monodrama Oh ! Les beaux jours von Samuel Beckett vor allem wegen der darstellerischen Leistung von Madeleine Renaud würdigte. Die amerikanische Kunstleistung in Form von The Amen Corner von James Baldwin, das erstaunlicherweise »nichts mit dem Rassenproblem zu tun« hatte, obwohl es sich um 309
ulrike renner ein Volksstück aus dem »Negro-Milieu von Harlem« handelte, riss das Publikum zu Beifallsstürmen hin.38 Der Autor wurde im Rahmen einer stark besuchten Pressekonferenz als »geistig äußerst geschmeidiger und sympathischer Gesprächspartner« empfunden.39 Am Eröffnungsakt der Wiener Festwochen hatten der dänische Ministerpräsident Krag sowie die Bürgermeister von Washington, Moskau, London, Beirut, Athen, Luzern, Genua und VertreterInnen von westdeutschen Städten teilgenommen. Bürgermeister Jonas gedachte des friedensstiftenden und -erhaltenden Aspekts der Kunst, Unterrichtsminister Piffl-Perčević des kulturellen Wiederaufbaus seit 1945 und Bundeskanzler Klaus des Freiheitsgedankens der Kunst, der freilich in dem ethischen Grundgedanken der Bewahrung der Freiheit vor den »Niederungen der Zügellosigkeit« durch die Kunst betoniert war.40 Die Zeitung Neues Österreich und die Arbeiterzeitung attestierten am 16. Juni den Festwochen einen musikalisch geglückten Höhepunkt durch die österreichischen Genies Schönberg und Cerha. Doch gab es im gleichem Maße widersprechende Kritikerstimmen. Eine Zusammenstellung von Veranstaltungs- und Publikumszahlen ergab, dass insgesamt 1.049 Vorstellungen 1.014.354 BesucherInnen gehabt hatten, wobei bei 54 Ausstellungen in Museen, Galerien, Schauräumen und Bibliotheken beachtliche 398.764 und bei 471 Bezirksveranstaltungen inklusive 13 Ausstellungen 142.349 BesucherInnen gezählt worden waren. Im Vergleich dazu gab es bei 426 Theatervorstellungen 320.386 und bei 72 Konzerten 60.473 BesucherInnen. Das Theater an der Wien verzeichnete mit seinem Österreichbeitrag die meisten Besucherzahlen (Nestroy und Schönberg), dann folgten der Amerikabeitrag (Baldwin), der Russlandbeitrag (Bolschojtheater), der Englandbeitrag (Peter Grimes, Iolanthe) und als letztes der Frankreichbeitrag (Beaumarchais, Ionesco, Beckett). Die Direktion der Wiener Festwochen hatte laut ihrem Bericht besonderes Augenmerk auf die Programmqualität der Bezirksveranstaltungen gelegt. Die Bezirke hatten selbst, wie auch in den Vorjahren, eigene Veranstaltungen, Dichterlesungen, Kammermusik und Liederabende präsentiert. Stolz wurde seitens des Festwochenpressebüros vermerkt, dass 231 JournalistInnen aus 37 Ländern den Fortgang der Wiener Festwochen verfolgt hatten. Im Vergleich dazu waren es im Vorjahr nur 159 gewesen. Der Tourismus verzeichnete 120.766 BesucherInnen mit 364.748 Übernachtungen. Ein Programmvergleich der Wiener Festwochen der Nachkriegszeit legte die kulturellen und künstlerischen Hauptschienen bloß, die sich bei allen unterschiedlichen Jahresmottos als geeignet zeigten, um den hochgesteckten, hauptsächlich auf den künstlerischen Leistungen der Hochkultur bauenden Ansprüchen einer zerbombten und sich wieder konstituierenden und konsolidierenden Kultur- und Landeshauptstadt entgegenzukommen und vor allem ein künstlerisches wie auch in den Folgejah310
wienkultur 1945–1995 ren ökonomisch ausgerichtetes Steigerungspotenzial zu gewährleisten. Es ließ sich der Trend ablesen, oftmals auf die existierende, hohe musikalische, literarische und bildnerische Qualität von traditionellen Kunst- und Kulturproduktionen zu greifen, sie neu zu interpretieren oder sie anlassbezogen zu kreieren. Gleichfalls wurde nicht der Anspruch gescheut, mithilfe existierender Hochkultur den internationalen Vergleich mit anderen Kulturhauptstädten zu wagen. In den ersten Jahren fiel dieser Vergleich aufgrund eingeschränkter Bedingungen weh aus und bezog sein Selbstverständnis hauptsächlich aus kurz oder lang vergangener Hochkultur. Die repräsentativen Namen sind auszugsweise bereits genannt worden – Berg, Schönberg, Webern, Hindemith, von Einem, Mahler, Strauss, Strauß, Nestroy, Grillparzer, Karajan, Böhm, Harnoncourt, Sezession, Wiener Fin de Siècle, Haydn, Mozart, Wiener Symphoniker, Wiener Philharmoniker, um einige repräsentativ für eine unglaubliche Vielzahl zu nennen. Wohin man auch schaut, der Blick fällt auf große Namen. Worauf jedoch auch seitens der Kulturpolitik geachtet wurde, war der unterschiedlich realisierte Anspruch, ganz Wien in all seinen unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten in das Festival einzubinden und den verschiedenen Grätzeln die Möglichkeit zu kulturellen Eigenleistungen zu gewähren. Der Bildungsanspruch und mit ihm die Selbstdarstellung existierender Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit wurden nicht aufgegeben. Dass mit wachsendem wirtschaftlichem Aufschwung die Tendenz einherging, die Wiener Festwochen zu einem Gesamtereignis zu gestalten, das gemeinsam mit dem künstlerischen Angebot die Nachfrage nach touristisch ausgefeilten Eigenleistungen und differenzierten Bewerbungsmaßnahmen steigerte und rückkoppelnd zu Leistungssteigerung im Kunst- und Kulturbereich motivierte, war Folge eines immer feingliedriger werdenden Arbeitsprozesses und eines sich ändernden Kulturanspruches. Rolf Schwendter kritisierte die kulturelle Provinzialität Wiens in den 60er-Jahren durch Lähmung eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der Subkultur verfemte und radikal auszuschließen versuchte. Nicht zuletzt vertrat diese Haltung auch die Wiener Gruppe selbst. Der 1970 ernannte Bundeskanzler Bruno Kreisky sollte hingegen die Radikalität der Kulturpolitik einfordern. Es zeichnete sich die Tendenz eines widersprüchlichen und damit die Kulturpolitik dynamisierenden Prozesses ab. Und so schrieb 1972 der langjährige, diesen Widerspruch forcierende Festwochenintendant Ulrich Baumgartner im Programmvorwort von dem Paradox der Tatsache, dass die Festwochen ihr eigenes Antifestival organisierten und jenseits des übermäßig konventionalisierten Kulturbetriebes experimentierten.
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ulrike renner nachtstudio Ein Schwerpunk hieß Nachtstudio. Bereits seit 1966 wurde im Theater an der Wien ab 23 Uhr die heimische alternative Szene präsentiert : Lesungen österreichischer AutorInnen wie zum Beispiel des jungen Thomas Bernhard, Jazz, Tanz und zeitgenössisches Musiktheater. Gastspiele erweiterten den künstlerischen Avantgardehorizont. arena /schweineh alle st. marx Ein weiterer Schwerpunkt war die Initiative Arena, 1970 im Museum des 20. Jahrhunderts, 1974 im Theater im Künstlerhaus und ab 1975 im aufgelassenen Auslandsschlachthof St. Marx (als Festwochenprogrammort Schweinehalle St. Marx genannt) stationiert, eine durchschlagende progressive Alternative jenseits des gutbürgerlichen Kulturanspruchs, jung, intellektuell, widersprüchlich. Schwerpunkt war zuerst die Wiener Produktion. Dieter Haspel, späterer Leiter des Ensembletheaters, inszenierte Stoned Vienna (Text von Armin Thurnher und Heinz R. Unger), die Popmusiker Ambros, Tauchen und Prokopetz initiierten mit ihrer Popoper Fäustling eine Popopernserie, die Politrockgruppe Schmetterlinge die Proletenpassion. Es gab in der Folge internationale Gastspiele des La Mama Theatre aus New York oder Grand Magic Circus von Jérôme Savary, weiters dem Schauspielhaus Bochum. Darüber hinaus war die Arena, als 1976 die Schließung beschlossen wurde, lange ein gut gehütetes Symbol für Besetzung des alternativen Wien und Ausdruck für den Wunsch eines autonom verwalteten Kulturbereiches. Jedoch der ursprüngliche Bereich der Arena wurde geschleift und die Arena selbst in das viel kleinere Gelände des Inlandsschlachthofes verlegt.41 Enthusiastisch bezeichnete Armin Thurnher die Ereignisse rund um die Arena als manifestierten kulturpolitischen Bruch mit der repräsentations- und restaurationssüchtigen Kulturpolitik der Nachkriegszeit und eine Leistung des Intendanten Baumgartner.42 Angesichts dieses dynamischen Kulturprozesses – eine junge, österreichische Alternativszene, ausländische Avantgarde, junge, internationale Hochkultur, Präsentation vernachlässigter Kunstformen – kann gesagt werden, dass er trotz Einschränkungen das Entstehen innovativer Kunstproduktionen animierte und auch realisierte, wenn man an die vielen Erstaufführungen der verschiedenen Kunstsparten im Rahmen der Wiener Festwochen denkt und an jene durchaus widersprüchlich aufgenommenen Kunstproduktionen, die ihrerseits sich langsam in den Folgejahren zu vielgefeierten Kunststandards innerhalb und außerhalb ihres Entstehungsortes Wiener Festwochen weiterentwickelten und beinahe Garanten für künstlerische, international anerkannte Hochleistungen wurden. Der Anspruch war gestiegen. 312
wienkultur 1945–1995 2.4.3 linker drive Die Schwerpunkte des Programms 1976 waren beeindruckend symptomatisch für die kulturpolitisch hochrangigen Ansprüche der Wiener Festwochen. Vier Uraufführungen österreichischer Autoren und Musiker wurden geboten : Die Berühmten von Thomas Bernhard im Theater an der Wien, Das kleine Gomorra von Heinz Karl Gruber und Richard Bletschacher, Die Proletenpassion von Heinz Unger, Musik von der Gruppe Die Schmetterlinge, Schabernack II von Alf Kraulitz und Eduard Neversal mit der Musik von Arthur Lauber. Anlässlich des Jubiläums 220 Jahre Burgtheater wurden international berühmte Regiestars wie Peter Brook, Jean-Louis Barrault und seine Compagnie, Jérôme Savary und sein Le Grand Magic Circus in der Arena aufgeführt. Claus Peymann und Terry Hands mit der Royal Shakespeare Company wurden eingeladen. Eine selten gespielte und nicht zu Recht missachtete opera seria nach italienisch-barockem Muster von Wolfgang Amadeus Mozart, La Clemenza di Tito mit Teresa Berganza und Werner Hollweg, wurde im Theater an der Wien auf Basis neuester musikhistorischer Mozartforschungen, landläufige Interpretationen widerlegend, als modernste seria, fernab von traditioneller Typengebundenheit behauptet und neuinszeniert. Die Martha Graham Dance Company, vielgefeierte Repräsentantin der amerikanischen Kunstszene, feierte am selben Ort ihr fünfzigjähriges Bestehen. Leonard Bernstein dirigierte die New Yorker Philharmoniker in der Wiener Stadthalle. Wie jedes Jahr erstellte die Gesellschaft der Musikfreunde ein Programm, 1976 unter dem Motto »19. Jahrhundert« stehend, das von den Wiener Symphonikern und Philharmonikern, den Leningrader Symphonikern und den Kammermusikvereinigungen der Wiener Philharmoniker bespielt wurde. Noch einmal wurde die Arena, künstlerisch progressive, politisch links orientierte Alternativszene, am Gelände des Schlachthofes St. Marx als Spielort eingesetzt. Kabarett galt als Schwerpunkt der Wiener Festwochen und wie jedes Jahr die Bespielung aller Wiener Bezirke. Selbstbewusst präsentierte jeder Bezirk sein eigenes Programm. In der Josefstadt, dem 8. Wiener Gemeindebezirk, gab es Jugendsingen, Lieder- und Hausmusik abende, alte Tänze österreichischer Meister, Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts, Festwochen-Straßentheater, italienische Barockmusik und einen Ausflug in den Jazz. Das Programm in Favoriten, dem 10. Bezirk, bot im eigenen Folder zum Beispiel Bezirksjugendsingen von Favoritner Volks-, Haupt- und MittelschülerInnen in der Arena und Schulhöfen, festliches Konzertieren der musikfreudigen Jugend in einem Favoritner Arbeiterheim, die Ausstellungen Das älteste Baudenkmal Favoritens in der Zentralsparkasse und die Topografia Romantica in der Volkshochschule, einen 313
ulrike renner Opernabend im Pensionistenheim Favorita, eine Autorenlesung für Kinder in der Städtischen Bücherei, einen Hausmusikabend im Trauungssaal des Standesamtes Favoriten und ein Festkonzert der Musikkapelle der Wiener Verkehrsbetriebe mit der Musiksektion des Bahnhofes Favoriten. Die Programmplanung reflektierte deutlich den Versuch der Kulturpolitik, durchaus vielschichtigen Ansprüchen gerecht zu werden, die von der Präsentation Wiens als Kulturzentrum und dessen Verankerung innerhalb der internationalen Kunst- und Kulturszene der Hoch- sowie der Alternativ- und Subkultur bis hin zu dem Anspruch reichten, das spezifisch Wienerische zu liefern, in dem sich die Stadt gut aufgehoben und wiedergegeben fühlte, als Hauptstadt Österreichs, internationale Metropole und gleichermaßen als eine traditionell sozialistisch orientierte Gemeinde mit all seinen Bezirken und Randzonen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Dass Kultur auch als Wirtschaftsfaktor angesehen und ausgebaut werden sollte und Wien sich in einem Wettbewerbsverhältnis zu anderen gleichbedeutenden Kulturstädten befand, wurde zunehmend mit den steigenden ökonomischen Verhältnissen und dem gelebten Wohlstand deutlich und gefordert. Dass dieser Umstand inmitten der Konzeptgestaltung, die einen Bogen vom Subversionspotenzial bis hin zur Friedenssicherungskapazität der Kunst schlagen wollte, der zuletzt laut ausgesprochene ist, machte ihn nicht weniger bedeutsam. proletenpassion Als vielbeachtetes, hausgemachtes, einen zweijährigen Arbeitsprozess erforderndes Festwochenprodukt galt die uraufgeführte, inzwischen zur Legende avancierte Proletenpassion, hauptsächlich von Heinz Rudolf Unger getextet und der Wiener Politrock-Band Schmetterlinge musikalisch umgesetzt. Zwei Bandmitglieder, Willi Resetarits und Georg, genannt »Schurli«, Hernstadt, vertonten den Text, der mit dem Blick auf die Geschichte von unten im Sinne marxistischer Geschichtsauffassung revolutionäre (Arbeiter-)Bewegungen von den Bauernkriegen nach der lutherischen Reformation bis hin zu den 1970ern der politischen Linken der internationalen Szene thematisierte. Inhaltlich integriert in den durch Quellenstudium fundierten und durch widersprüchliche Diskussionen belebten Arbeitsprozess waren Studenten- und Historikerarbeitsgruppen. Historische Originalzitate, satirisch überspitzte Texte wurden in kleine szenische, teils kabarettistische, teils ernsthafte oder an die ZuschauerInnen Appelle richtende Einlagen eingebaut. Die Lieder selbst waren kurz gehalten und dauerten etwa zwei Minuten. Die musikalische Gestaltung setzte sich aus Elementen populärer Musik der jeweiligen geschichtlich dargestellten Epochen, Folk und Rock, Klassik, Volks- und Weltmusik zusammen. 314
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Abb. 6: Schmetterlinge, »Proletenpassion« 1976
»Rebellisch« lautete im Wiener Festwochenprogrammheft das Manifest des BandKollektivs, das unterschiedlich von Klassik, Jazz und Rock herstammte und in seiner Funktion als Politrockgruppe eine eigene Form der künstlerischen Produktion des Kabarett- und Politrock mit beeinflusste und darin mentalitätsbildend wirkte : »Wir wollen… Die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mit süßen Worten verklären, sondern sie begreifen helfen. Dabei vermeiden wir, uns in einsame Höhen unverstandener Geschwätzigkeit aufzuschwingen, um uns im exklusiven Kreise zu versichern, wie klug wir sind.«43
Weiters bewertet das Wiener Festwochenprogramm die Kooperation der Schmetterlinge mit dem österreichischen Autor so : »In Zusammenarbeit mit Unger entstanden anspruchsvolle Texte, denen die plumpe politische Aufdringlichkeit lyrisch genommen wird. Da werden die gesellschaftlichen Verhältnisse thematisiert, die bürgerliche Moral karikiert, da wird die Ideologie der Sozialpartnerschaft entschleiert. Den Wölfen des »Friedens« werden die faulen Zähne gezogen und kleinbürgerliche Träumer aufgeschreckt. 315
ulrike renner Der Name des von ihnen gefundenen Stils, Madrigal-Rock, weist auf barocke Liedformen hin. Die Rock-Elemente verlieren durch bestechenden fünfstimmigen Satzgesang an Vulgarität und vermitteln eine musikalische Ästhetik, der man sich nur schwer entziehen kann. Die Arrangements verzichten bei allem musikalischen Gehalt auf überflüssige Effekte, die dazu verführen, an den Texten vorbeizuhören. Hintergründige Plaudereien, ironische Ausflüge in heimatliche Gefilde urtümlicher Volksmusik und verblüffende Pop-Einlagen machen den Auftritt zu einer vielschichtigen Einheit, der das Geheimnis des (noch) fehlenden internationalen Erfolges nicht zu lüften vermag.«44 Dieser Erfolg stellte sich spätestens ab dem Moment der Politisierung und Skandalisierung der Kunst der Schmetterlinge ein. Die Zeitschrift Rennbahnexpress kündigte im Dezember 1978 an : »Erstmals Auftrittsverbot für Österreichs populärste und beste Polit-Rockgruppe, die Schmetterlinge, im eigenen Land.«45 Der Tiroler Landeshauptmannstellvertreter Salcher hatte aus politischen Erwägungen einige Tage vor der Volksabstimmung zum Atomkraftwerk Zwentendorf einen Auftritt der Musikgruppe in Innsbruck verboten. Der Auftritt wurde kurzerhand in einem kleinen Jugendklub improvisiert. Weiters resümierte der in seiner Haltung zwischen Bewunderung und Entsetzen zwiegespaltene Rennbahnexpress Dezember 1978 »In Deutschland haben die Schmetterlinge bereits ein de-facto-Auftrittsverbot vom Gewerkschaftsbund. Wenn dieses Beispiel bei uns Schule macht – gute Nacht«,46 wohingegen die Arbeiterzeitung vom 13. Dezember 1978 unverhohlenes Lob zollte : »›Schmetterlinge‹, die Wiener Liedergruppe mit Politeinschlag, übten sich während ihrer vergangenen Deutschlandtournee ganz in Solidarität. Bei drei Konzerten im Ruhrgebiet spendeten sie jeweils 1.000 D-Mark ihrer Gage für den Unterstützungsfonds der streikenden Metallarbeiter.«47 Es folgten bis in die 1980er-Jahre Auftritte mit diesem Programm im deutschsprachigen Raum, wobei sich herausragende JournalistInnen, wie etwa Hilde Spiel, überaus wohlwollend zeigten. Die Festwochenproduktion hatte eine künstlerisch nachhaltige Wirkung, indem sie ähnlich gesinnte Musikgruppen des deutschen Sprachraumes beeinflusste, ihren durchaus klassenkämpferisch angelegten Bildungs- und Unterhaltungsauftrag gezielt bei Publikum und auch in einem erweiterten Rahmen bei gewerkschaftlicher Bildungsarbeit von Lehrlingen auslebte. Überdies war nach der Uraufführung der Proletenpassion bei den Wiener Festwochen ein eigenes Tonstudio, das Schmetter Sound Studio, eingerichtet worden, das den Schmetterlingen und auch anderen unkonventionellen Musikergruppen, um deren Unabhängigkeit von etablierter Unterhaltungsindustrie zu sichern, die Tonband- und Plattenaufnahme ermöglichte. Das wohl bekannteste Musikstück der Proletenpassion ist das Jalavalied : 316
wienkultur 1945–1995 Von Sonn und Kessel schwarzgebrannt, und auch vom scharfen Wind, steht Jalava am Führerstand, wo Dampf und Flammen sind. Sein neuer Heizer ist dabei, der ihm das Feuer nährt, auf der Lokomotive zwei-neun-drei, die heut nach Russland fährt. Ein kleiner Mann von schmalem Bau, der werkt dort auf der Brücke, Ruß im Gesicht, das Haar ist grau, es war eine Perücke. Refrain : Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du gegen den Wind ? Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind, und weil wir weiter kamen, und weil die Welt sich dreht, und weil mein Heizer von Flammen und von Dampfkesseln was versteht. Sie dampfen ein in Beloostrow, wo Schocks von Offizieren die Züge auf dem Grenzbahnhof penibel kontrollieren. Sie prüfen jegliches Gesicht bei ihrer Inspizierung, doch sehen sie am Kessel nicht den Staatsfeind der Regierung. Jalava weiß, worum es geht, und langsam dampft vorbei am letzten Posten, der dort steht, die Lokomotive zwei-neun-drei. Refrain : Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du gegen den Wind ? Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind, und weil wir weiter kamen, und weil die Welt sich dreht, und weil mein Heizer von Flammen und von Dampfkesseln was versteht. Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa-a-a Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, hoi ! hoi ! hoi ! Da saust die Grenzstation vorbei, die Birken stehen nackt, die Lokomotive zwei-neun-drei schnauft in erhöhtem Takt. Und Jalava lacht in den Wind, in den Oktoberregen. Heizer, wenn wir drüben sind, dann wird sich was bewegen. Jetzt schneidet der Oktoberwind die letzten Äpfel an, die an den kahlen Bäumen sind an der finnischen Eisenbahn. Refrain : Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du gegen den Wind ? 317
ulrike renner Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind, und weil die Fahrt in den Bahnhof hinter die Grenze führt, und Wladimir Iljitsch Uljanow, mein Heizer, die Flammen schürt. Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa-a-a Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, hoi ! hoi ! hoi !
2.4.4 tik-tak durch flic-flac Der nächste Intendant Gerhard Freund riskierte 1978 mit seinem Konzept eines streng thematisch strukturierten, mehrjährig orientierten Gesamtrahmens einer einfachen Mischung aus Mainstream und Traditionellem einen Schritt nach rückwärts. Jäh starb er. Der inzwischen eingesetzte Kulturstadtrat Helmut Zilk betrieb hingegen eine unkonventionelle Kulturpolitik, die mit dem Begriff Stadtkultur zahlreiche infrastrukturelle Maßnahmen initiierte und neue Kulturorganisationen entstehen ließ. Antikultur wurde eingemeindet.48 1980 änderte Zilk die Struktur der Festwochen durch ein beinahe sozialpartnerschaftlich organisiertes Programmdirektorium mit ihm als Vorsitzendem. Die deklarierten Höhepunkte der Wiener Festwochen 1982 waren das Festival der Clowns auf der Jesuitenwiese im Prater, ein Goethe-Symposion, eine Lesung von Goethes Faust in der Halle von Waagner-Biró, drei Musikevents und ein Tanz event mit Werken von Haydn, eine Ausstellung mit dem Thema »Paris 1960–1980«, die Bezirksfestwochen, die Alternativszene Vom anderen Theater und Flic-Flac, ein Festival der Heiterkeit von André Heller. Das Organigramm der Wiener Festwochen, Mitglied der Association Européenne des Festivals de Musique, war hochgradig, den arbeitsteiligen Anforderungen entsprechend, strukturiert und betraf die Administration, Bezirkskoordination, die Organisation vom Anderen Theater/ Von der anderen Musik und die technische Direktion. Der Präsident der Wiener Festwochen war der spätere Wiener Bürgermeister Dr. Helmut Zilk, Stadtrat für Kultur und Bürgerdienst. Dem Direktorium gehörten Generalintendant Gerd Bacher, Sir Rudolf Bing (N.Y.), Prof. Ulrich Baumgartner, Prof. Georg Eisler, Generalsekretär Robert Jungbluth, GS Dr. Hans Landesmann, Stadtrat Dr. Jörg Mauthe, GS Prof. Albert Moser, Gemeinderat Franz Mrkvicka, Christine Nöstlinger, Dr. Ursula Pasterk, Dir. HR Prof. Dr. Egon Seefehlner, Manès Sperber (Paris) und Stadtrat Dr. Zilk an.
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Abb. 7: »Flic-Flac« 1982
flic-flac 1982 wurde Flic-Flac als eines der hausgemachten Hauptereignisse der Wiener Festwochen, ein poetisches Varieté von André Heller, als zweite, revidierte Ausgabe aufgeführt. »Als Elfjähriger führte ich das bisher einzige Mal Tagebuch. Die erste Notiz lautete : Unter allem, das ich bisher auf der Welt gesehen habe, war nichts so, wie ich es mir wünsche und wie es zu mir passt. Dieses Gefühl meiner Heimatlosigkeit innerhalb der äußeren Landschaften, meiner Asynchronität innerhalb der Bewegungen um mich und meiner Fremdheit innerhalb der Sentimentalitäten von Familie, Klasse und Religion, verlor ich damals lediglich für wenige, selige Augenblicke bei : Mozarts Zauberflöte, Raimunds Gefesselte(r) Phantasie, Shakespeares Sommernachtstraum, dem Zirkus Rebernigg, Feigls Praterschau, dem Chinesischen Frühstückszimmer mit dem versenkbaren Tisch im Schloß Schönbrunn, dem Besuch der DonKosaken-Reiter am Sportplatz von St. Gilgen, der Triumphprozession der neugegossenen großen Stephansdomglocke Pummerin, Alice im Wunderland, Buster Keatons General,
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Harald Kreutzbergs Tänzen, den Wasserkünsten im Salzburger Park von Hellbrunn, dem Ronacher Varieté, und dem Absturz einer brennenden Propellermaschine am Kunstflugtag 1956 in Berchtesgaden. Die schönen Katastrophen, die Equilibristik, die Unwahrscheinlichkeitstheorien, die Zauberakademien und sogenannten Wahnsinnigen blieben mir auch bis heute selbstverständlicher und vertrauter als beispielsweise die liebende Fürsorge meiner Frau Mutter, die gepriesenen Freuden eines Spazierganges durch schneebedeckten Wald oder genüßliches Betrachten eines Fußballspiels. Man kann meine Erziehung keinesfalls beschuldigen, nicht alles Menschenmögliche unternommen zu haben, um mich auf den Weg des Allgemeinen und Unauffälligen zu zwingen. Jahre in strengsten Internaten, Wochen im Karzer, tagelanges Sprechverbot sollte mir die Hingabe an das Phantastische austreiben, und es war weniger die Gnade der Standhaftigkeit als die völlige Unfähigkeit, in einer anderen als meiner organischen Gegenwelt überleben zu können, die mich in der Verweigerung der Banalität beharrlich machte. Unter diesem Gesichtspunkt sind sämtliche meiner Ergebnisse, die gelungenen wie die gescheiterten, zu sehen, wobei es mich immer wieder amüsiert, wie häufig von Gegnern gerade meine gefestigten Ansichten als unglaubwürdig angegriffen werden. (Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich die Ordnungsrufer und Normenwächter das tatsächliche Vorhandensein von Offenbarungen, die ich als tiefste Ursache aller mich wahrhaft interessierenden Kunst weiß, nicht einmal vorzustellen imstande sind.) Das Varieté Flic-Flac ist die Realisation des zweiten Teils der möglichen Wunder, deren Beginn das Zirkusspektakel Roncalli im Jahre 1976 darstellte, und die in dem einstündigen Feuerwerksstück Maraviglia ehebaldigst ihren Abschluß finden soll. Die poetische Erneuerung dieser alten Massenpublikumskünste interessiert mich unter anderem wegen ihres hohen Gehalts an Irrationalem, an Traumnähe, an unverheimlichter Angst, an prachtvollen Geschmacklosigkeiten und bizarren Hysterien. Zirkus, Varieté und Feuerwerk sind in meiner Forderung Feste zu Ehren unserer Sinnlichkeit, erotische Wallfahrten zum Allerheiligsten der Phantasie.«49
Die Presse äußerte sich durchwegs enthusiastisch über die künstlerische Leistung von André Heller : Wien wurde aufgrund des poetischen und triumphal vom Publikum aufgenommenen Varieté Weltstadtniveau zugesprochen, Flic-Flac als anspruchsvollstes, meisterlich präsentiertes Spektakel, Theaterzauber ersten Ranges, Ort der möglichen Wunder, Werk von Spitzenprofis, als explosive Paradoxie, Sieg des Phantastischen über die Realität, barockes Welttheater aus dem Kopf seines Erschaffers Heller, Show der absoluten Superlative, lediglich von Sigrid Löffler als größte Chuzpe der Festwochen bezeichnet. Karin Cerny hob zwar die organisatorische Leistung des Kulturpolitikers Zilk hervor, kritisierte jedoch den dominanten, weitgespannten Einfluss des Kulturstadt320
wienkultur 1945–1995 rates, dass wie in den 50er-Jahren Politik und Kunst zu nahe beieinander standen und unter dem Anspruch Zilks, Kultur für alle zu produzieren, letztendlich die Kultur retardiert, regionalisiert, ein Sammelsurium wurde und ihren internationalen Anspruch aufgab. Die Festwochen drohten wegen der zu beliebig ausgewählten wienerischen Alternativschiene und der zahlreichen Spektakelfestivals wie eben Flic-Flac, dem Festival der Clowns, aufgrund seines Programmmischmasch von Anti-akw-, Lehrlings theater bis hin zu Super-Acht-Filmern und einem die Stadt befahrenden Printbus zu einem Regionalereignis zu verkommen.50 Wechselte man jedoch die Perspektive, war die Tatsache mitzudenken, dass Wien in seiner Hauptstadtfunktion zum ersten Mal in der Zeit der Zweiten Republik durch Bundeskanzler Bruno Kreisky an internationaler Politik in einer vergleichsweise aktiven Rolle teilnahm. Wie groß musste das (kultur)politische Selbstbewusstsein gewesen sein, dass es das Risiko einging, sich nicht über international angekaufte Produktionen aus dem Ausland zu identifizieren, sondern über die Geste des selbstgemachten, international exportierten, lustvoll imaginierten und ebenso rezipierten Großspektakels, in dessen Sog viele kleine österreichische alternativ gedachte Produktionen die Möglichkeit bekamen, mit entdeckt zu werden. Der künstlerische Mehrwert war selbstproduziert, künstlerisches Experimentieren erlaubt, sein Scheitern gleichfalls. Wien leistete es sich, mitzuspielen. 1983 avancierte Helmut Zilk zum Unterrichtsminister, ein Jahr später zum Wiener Bürgermeister, und die Wiener Festwochen waren damit neu zu vergeben.
2.4.5 meine ganz persönliche künstlerische erfahrung mit dem anderen theater 1982 projektierten die Wiener Festwochen neue Schwerpunkte vom anderen theater (mai/juni 1982) , vom anderen klang (Oktober/November 1982) und vom anderen kino (geplant Jänner 1983). Die neu gesetzten Schwerpunkte lösten somit das »80er Haus – Wiener Festwochen alternativ« ab. Zum ersten Mal boten die Wiener Festwochen, wie es im Katalog Vom Anderen Theater hieß, dem Wiener Publikum auch eine Herbstsaison an (eine Initiative, die so nicht beibehalten wurde). Für den Veranstalter der Wiener Festwochen, der Wien Kultur, bot dieser Termin »die lang erwünschte Möglichkeit, mit dem anderen großen österreichischen zeitgenössischen Festival, dem ›steirischen herbst‹, produktiv zusammenzuarbeiten«.51 Der Wiener Festwochenpräsident und Stadtrat für Kultur und Bürgerdienst, Helmut Zilk, erklärte gesellschaftsbewusste Kulturpolitik zum Ziel. Zum einen sollten, resultierend aus dem Verständnis der Arbeiterkulturvereine aus dem 19. Jahrhun321
ulrike renner dert, kulturelle und künstlerische »Spitzenleistungen« möglichst allgemeinverständlich immer mehr Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden und »das Finden der Identität durch die kulturellen ›roots‹ erleichtern«.52 Zum anderen, beides voneinander nicht getrennt vorstellbar, sollte die Auseinandersetzung »mit den im Zeitgeist oder gegen den Zeitgeist entstehenden Ausdruckformen, mit der Vielfalt künstlerischen Schaffens in bekannten und neuen Disziplinen«, gefördert werden.53 Der tendenziell linksorientierte kulturpolitische Auftrag zeigte sich solidarisch und als »Mutmacher« für jene, deren Produkte »zeitgenössisches Schaffen« beinhalten oder die solches bewusst machen wollen. Obwohl der Kulturstadtrat aufrief, »Konfliktfähigkeit ist der erste Schritt zu einer emanzipierten Gesellschaft«, entschuldigte er sich vorwegnehmend für die Möglichkeit, dass nicht alle Kunst, die neue Wege beschreiten will, als Avantgarde schreitet, sondern »in die Sackgasse der ›Avant-Garage‹ mündet«.54 So wird für ein sich progressiv gebendes Kulturverständnis, das eine neue und alternative Wiener Festwochengestaltung anpeilt, um Verständnis bei den BesucherInnen geworben und im Vorfeld zum potenziellen Feld künstlerischen Scheiterns erklärt. Freilich steht das Zitat von der »Sackgasse der Avant-Garage« auf linken Beinen, hat es doch die alternative Zeitschrift Falter verfasst. Hätte die Zeitschrift Falter die Möglichkeit gehabt, sich zu einem Phänomen wie der Wiener Gruppe zur Zeit ihrer Entstehung zu äußern, wo noch nicht klar definiert vorlag, ob es sich um »Entartmänner« oder um durchaus ernstzunehmende, die Kunstszene erschütternde Künstler handelte, bleibt zu fragen : Auf welche Seite hätte sich die Zeitschrift im Vorfeld, ohne vom Ausgang der zukünftigen Akzeptanz zu wissen, wohl geschlagen ? Hoffentlich auf die richtige. Das Andere Theater im Rahmen der Wiener Festwochen 1982 sah eine breite Palette an bemerkenswerten internationalen und österreichischen VertreterInnen der Theater- und Kunstszene wie Eugenio Barba, P.P. Pasolini, Heiner Müller, Elfriede Gerstl, Dario Fo u. a. vor. Neben den großteils politisch linksorientierten oder progressiv eine alternative Kunst einfordernden KünstlerInnen mit internationalem Status wurde auch einigen jungen österreichischen NachwuchskünstlerInnen die Möglichkeit zur Aufführung gegeben. der kopf des vitus bering Ich hatte, als Studentin der theaterwissenschaftlichen Fakultät Wien, 1981 im Anschluss an eine bereits realisierte Performance des Textes kasperl am elektrischen stuhl in der Galerie Grita Insam ein Multimediaprojekt zum Text der kopf des vitus bering von Konrad Bayer entworfen und es beim Wiener Festwochenbüro für das kommende Jahr eingereicht. Konrad Bayer begegnete mir bereits zu Beginn meines theaterwissenschaftlichen Studiums als eine mysteriöse, beinahe legendäre Kunst322
wienkultur 1945–1995 figur und Insidertipp durch das von Gerhard Rühm herausgegebene Gesamtwerk, als Sonderangebot bei Donauland um 63 Schilling zu kaufen. Die Lektüre seiner Schreibversuche, ich bezeichnete sie als fragmentarische Extremzustände, bereitete mir Mühe und Beunruhigung. Ich konnte nicht umhin, mich mit ihm und seinem Werk künstlerisch (1981 eine Performance, 1982 ein Multimediaprojekt, 1983 ein Film mit Texten von Bayer) und theoretisch in der Dissertation »Das Inszenierte im Werk des Konrad Bayer. Des Avantgardekasperls ergötzliche Reise aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk in die Herzen der Damen mit gar schröcklichem End und zur Auflösung der Kunst gedacht : echter und einziger Infant zur imaginierten Durchmessung des Himmelsraumes« (1988) – beides voneinander nicht getrennt vorstellbar – auseinanderzusetzen. In der Folge interviewte ich Künstler und Personen, die Konrad Bayer mehr oder weniger gut gekannt hatten. Er schien in jedem Fall eine Sonderposition eingenommen zu haben. Das Interesse eines Insiderpublikums an der Performance »kasperl am elektrischen stuhl« war beachtlich gewesen. Auch das Wiener Festwochenbüro zeigte sich an einer Konrad-Bayer-Erweckung interessiert. meine persönlichen erfahrungen Für das Jahr 1982 sah der Wiener Festwochenbetrieb einen künstlerischen Bereich vor, der mit der begriffserweiternden Bezeichnung »Anderes Theater« in gegenseitiger Unterstützung seitens der dafür vorgesehenen Theater und ihren Studios Thea terexperimente auszustellen bereit war, die einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Der Vertrag mit den Wiener Festwochen, der nach einem kommissionellen Entscheid geschlossen wurde – einige österreichische Kleingruppen waren nach Einreichung von Inszenierungsvorschlägen als unterstützungswürdig betrachtet worden –, finanzierte im Falle von der kopf des vitus bering eine Aufführung, die im vt-Studio an den Tagen 16., 17., 18. Mai 1982 stattfinden sollte. Das geforderte Bühnenbild wurde in den Werkstätten des Volkstheaters neu gebaut, sowie sämtliche Requisiten aus dem Fundus zur Verfügung gestellt. Zwei Wochen lang konnte im Messepalast (größtenteils sogar mit dem fertiggestellten Bühnenkäfig) geprobt werden, drei Tage vor der Erstaufführung verlegten wir die Beleuchtungs- und Regieproben in das vt-Studio. Nebst theoretischen Überlegungen, die bereits bei der Aufführung »kasperl am elektrischen stuhl« eingesetzt hatten, wurde ein vorläufiges Ablaufskonzept erstellt, das schriftlich und in Skizzen die Bewegungsabläufe der vier im Käfig/Fernsehapparat befindlichen Personen, die Handhabung der in Bewegung gebrachten Gegenstände als auch die Lichtkonstellationen vorschlug. Dieses Bewegungsprotokoll wurde in erweiternder Zusammenarbeit mit den an der Aufführung Beteiligten überprüft, korrigiert und umgeändert. 323
ulrike renner Bei diesem vorläufigen Stützpunkt angelangt, setzte ein sich vielfältig gestaltender Prozess ein : Die Textstellen, die durch das Tonband vermittelt werden sollten, die Darstellung des Vitus Bering ausgenommen, wurden ausgewählt und ihre stimmlich und grammatisch verfremdete Interpretation unter Miteinbeziehung der technischen Aufnahmemöglichkeiten ausprobiert. Am 11. 4. 1982 lässt sich nachlesen : »Das Konzept ist vorläufig fertig, eigentlich sehr realistisch und bedacht. Jetzt geht es um die Ausstattung, d. h. Kontraste setzen. Die Beziehung des scheinbar Normalen zum scheinbar Anormalen, das Sichtbarmachen der Relationen. Die verkehrte Welt gibt sich natürlich und frei, der Echte unter ihnen verhält sich wie ein verstümmelter Schauspieler.«55
2.4.6 der internationale standar d Eine Frau sollte die Arbeit an den Wiener Festwochen fortsetzen. Ursula Pasterk, seit 1979 kulturpolitische Beraterin von Helmut Zilk und 1985 Festwochenintendantin, baute zielorientiert und erfolgreich auf dem Hauptaspekt der Internationalisierung der Kunst auf. Wichtige Regisseure wie George Tabori und Johann Kresnik wurden nach Wien geholt. big beat big motion Neue Räume entstanden : der skandalisierte Kunsthallencontainer am Karlsplatz, der Messepalast, gleichermaßen Ort für internationale Stars und junge engagierte Kunst, so 1987 das Popfestival Big Beat, 1989 das experimentelle Theater Big Motion. Allerdings wurde die neue Intendantin am 9. Dezember 1987 Kulturstadträtin. In dieser Funktion und damit gleichzeitig zur Präsidentin der Wiener Festwochen bestellt, sollte sie eine Intendanz einsetzen, was sie erst, bis dahin gleichzeitig als geschäftsführende Intendantin, Präsidentin und Kulturstadträtin tätig, nach heftiger Kritik 1991 realisierte. Klaus Bachler, seit 1987 künstlerischer Direktor am SchillerTheater, und eben ab 1991 neuer Intendant, setzte den mit Pasterk begonnenen und in aller Konsequenz beschrittenen Weg der Internationalisierung fort : Ariane Mnouchkine mit ihrem bereits als legendär zu bezeichnenden Le Théâtre du Soleil, Patrice Chéreau, bespielten Wien, um nur zwei zu nennen. Klaus Bachler musste sich, wie auch seine Vorgängerin, nun allerdings den Vorwurf gefallen lassen, inwieweit sich Wien noch mit eigener künstlerischer und kultureller Identität, mit seiner 324
wienkultur 1945–1995 eigenen Alternativszene innerhalb der Festwochen vertreten sah oder im Rahmen internationaler Kunststandards zu einem austauschbaren Modell mutiert war. Auf der einen Seite stand die Kritik der Erfolglosigkeit der Wienszene zur Diskussion, die verständlicherweise am beträchtlichen Budget und der internationalen Aufmerksamkeit der Wiener Festwochen partizipieren wollte. Andrerseits wurde moniert, warum die Festwochen als Platzhalter für österreichische Kunstproduktionen herhalten mussten, die das Jahr über unbeachtet geblieben waren. Bereits 1987 war im Auftrag von Ursula Pasterk das Festival Heftiger Herbst organisiert worden, das im Zeitraum von mehreren Monaten die Outputs der freien Gruppen Wiens präsentierte.56 Die Kritik der Alternativszene, dass es sich bei diesem Auftrag um eine Alibihandlung gehandelt hatte, lag nahe, zumal die heimische Szene auch in Hinkunft bei den Festwochen nur mit exemplarisch erfolgversprechenden Kunstproduktionen vertreten war, was damit begründet wurde, dass viele KünstlerInnen der Alternativszene Subventionen, in manchen Fällen fixe Aufführungsstätten bekommen hatten. auseinandersetzung mit der gegenwart/neubewertung der tr a dition 1991 war ein Jahr, das mehrere Jubiläumsangebote beinhaltete. Ursula Pasterk, Kulturstadträtin und Präsidentin der Wiener Festwochen, erinnerte sich in einem wahrhaft elaborierten Beitrag über die Anliegen und Schwerpunkte des Kulturfestivals vierzig Jahre später an die ursprüngliche Intention, von Wien die kulturelle Isolation angesichts des »Eisernen Vorhangs« abzuwenden und dies auch nachhaltig geschafft zu haben. Der programmatische Kontrapunkt zwischen »Auseinandersetzung mit der Gegenwart« und »Neubewertung der Tradition« durch zeitgemäße Interpretationen von Weltrang blieb Pasterk ein Anliegen, gleich wie die Integration von Schauplätzen und Kulturschaffenden Wiens. Das »Fest um Mozart«, anlässlich seines 200. Todestages als Auftakt und als Fortsetzung des 1989 eröffneten Mozartzyklus geplant, wurde von den drei Opern Le nozze di Figaro (inszeniert von dem Briten Jonathan Miller), Don Giovanni (dirigiert von Claudio Abbado und inszeniert von Luc Bondy, einem späteren Intendanten der Wiener Festwochen) und Die Zauberflöte (inszeniert von Achim Freyer) begleitet.57 jugendstiltheater Kontrastreich zu diesen Aufführungen von internationalem Rang stand das verrückteste Opernhaus Wiens, das 1989 gegründete Ensemble Jugendstiltheater unter der Leitung von Olivier Tambosi und seine am Kampfverhalten zwischen Mann und Frau ausgerichtete Interpretation der Zauberflöte, dessen hoch gesellschaftskriti325
ulrike renner sches Anliegen in der Demontage 200 Jahre alter Klischees lag. Gleichfalls im Theater am Steinhof wurden der von den Engländern Tony Britten und Nick Broadhurst in die 60er-Jahre transferierte Überraschungshit des Figaro und der im Yuppiemilieu angesiedelte Don Giovanni präsentiert. neue heimaten – neue fremde An den Schwerpunkt des Vorjahres, der mit dem Thema »Offene Grenzen« die Migration der Nachbarländer reflektierte, schloss das Thema »Neue Heimaten – Neue Fremde« an. Konfrontiert mit dem Demokratisierungsprozess der östlich gelegenen Nachbarländer und ihrer europäischen Perspektive sowie im Hinblick auf den eigenen, abzusehenden österreichischen eu-Beitritt wurde der Blick in Richtung international ausgerichteter politischer Prozesse geworfen : »Um den langen Prozeß der geographischen und sozialen Beheimatung fremder Menschen in Österreich zu beschleunigen und zu erleichtern, müssen Kommunikationsformen der kulturellen Annäherung geschaffen werden. Der Mensch, der sich selbst entfremdet ist, der sich häufig ein Leben lang selber fremd bleibt und danach trachtet, in einer vertrauenerweckenden Umgebung doch eine neue Heimat zu finden : dieser Mensch steht im Zentrum bei der Auswahl der Aufführungen zu diesem Themenschwerpunkt.«58 In Beziehung zu diesem Konflikt der Heimatlosigkeit, der sozialen Exklusion und Isolation standen das Spätwerk Der jüngste Tag des österreichischen Schriftstellers Ödön von Horváth, eine Koproduktion mit dem Kölner Schauspiel in einer Inszenierung von Günter Krämer, und der neue Fremde Amphitryon von Heinrich von Kleist, inszeniert von Klaus Michael Grüber von der Schaubühne Berlin. Im Messepalast wurden zu diesem Thema das musikdramatische Werk über die Entführung eines Passagiers auf dem Kreuzfahrtschiff Achille Lauro durch Terroristen The Death of Klinghoffer (John Adams), inszeniert von Peter Sellars, und La Tempête (William Shakespeare) in der Regie von Peter Brook, dargestellt von seiner interkulturellen Theatergruppe, aufgeführt. Weiters präsentiert wurden Penthesilea (Heinrich von Kleist) von Wolfgang Engel und dem Dresdner Staatsschauspiel, Kaspar (Peter Handke) von Roberto Ciuli und seinem Mülheimer Theater an der Ruhr, Das trunkene Schiff (Paul Zech) von Frank Castorf inszeniert und aufgeführt. »Vier Theaterabende – eine Koproduktion und drei Eigenproduktionen – sowie ein Symposion präsentiert die Reihe ›Zeit/Schnitte‹ im heurigen Jahr. Zwei wichtige österreichische Autorinnen akzentuieren mit ihren Texten entscheidend das Projekt : Elfriede Jelinek am Anfang und Friederike Mayröcker als Abschluß. Der Versuch des Vorjahrs wird damit fortgesetzt, Literatur und Theater so in Verbindung zu setzen, daß Autor und Text den
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Vorrang und somit der literarische Anspruch die Dominanz über das Bühnenmedium beanspruchen können.«59
Ein Work-in-Progress zwischen New York City und Wien, die Skinshow, verarbeitete den kleinbürgerlich illusionistischen Heimatbegriff und gliederte sich gleichfalls in den thematischen Schwerpunkt ein. Die internationale Großausstellung Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität, betreut von den Kuratoren Peter Weibel und Wolfgang Drechsler, präsentierte die radikale, durch die technische Globalisierung hervorgerufene Entwicklung durch die Entfernung des Gegenstandes aus dem Bild in der Malerei seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Vorwort des Festwochenkatalogs hieß es seitens der Kulturstadträtin : »Regisseure, die von der bildenden Kunst herkommen, sind heute die radikalsten Infragesteller des zeitgenössischen Theaters. Ihre Theaterarbeiten sind Herausforderung und Abrechnung gleichermaßen, sie sind – möglicherweise – der gültigste szenische Kommentar zur Gegenwart.«60 In Beziehung zur belgischen Theateravantgarde setzte sie Jan Fabre, der mit drei Premieren vertreten war, die Wooster Group mit Brace Up !, basierend auf einer radikalen Übersetzung von Tschechows Drei Schwestern, Jan Lauwers und seine Need Company und die schwedische Gruppe Remote Control Prod. »Damit empfehlen sich Ihnen die Wiener Festwochen als Begegnungsort internationaler Kunstströmungen, als Vergnügen und Nachdenklichkeit provozierender Schnittpunkt verschiedener Zeitachsen, die neuerdings, durch viele geöffnete Grenzen mehr, auch mehr denn je durch Ungleichzeitigkeiten bestimmt sind. Und was gäbe es Sinnvolleres zur Messung und zum wägenden Ausgleich von Ungleichzeitigkeiten als – Kunst ?«61 innovation und impuls 1993 zementierte Bürgermeister Dr. Helmut Zilk den »Rang der Wiener Festwochen im internationalen Festivalgeschehen« ein und behauptete Wiens Stellung als »europäische Metropole« in traditionellem, aktuellem und zukunftsorientiertem Sinn mit Blick auf den eu-Beitritt Österreichs.62 Der Innovations- und Impulscharakter für die Wien- und Kulturszene, die Wiener Bevölkerung insgesamt, wurden hervorgehoben und als ein Gradmesser der Offenheit für fremde Kulturen ausgestellt. Diesen Tenor einer kulturellen Grenzöffnung unterstützend und klare Grenzen gegenüber Borniertheit und Intoleranz ziehend, realisierte Kulturstadträtin Pasterk durch ihre konkret politische, oszillierende Gedankenwelt. »Mit der Bewegung in der Geschichte kehren auch alte Vorurteile und Spukgestalten nicht einer Post-, sondern einer Vormoderne wieder, die man schon 327
ulrike renner lange überwunden geglaubt hat. Das ist der Kontext der Kunst heute, und das ist der ›Zeitschnitt‹, den auch diese Festwochen mit den Mitteln der Kunst bearbeiten werden. Provokant und mit dem Mut zu jenem Risiko, das die Kunst der Gegenwart für diese Gegenwart mehr als ›Einschaltquote‹ und Umwegrentabilitäten rentabel macht. Durch diese oft kompromißlose Einstellung sind von den Wiener Festwochen immer wieder dauerhafte Impulse ausgegangen : Für die Künstler der Stadt, die mit den Festwochen ein Forum der internationalen Präsentation und Diskussion gewonnen haben und als Dynamo für die experimentelle Erschließung neuer Räume und Orte für die Kunst. (…) Die Kunsthalle Wien vereinigt nicht zuletzt in einer Art kostensparendem Recyclingverfahren architektonische Elemente früherer Festwochenausstellungen und ist heuer erstmals Schauplatz eines Festwochenereignisses von europäischer Dimension.«63 Gemeint war die Veranstaltung Der zerbrochene Spiegel. Die Bezirkswochen unterstützten den multikulturellen und multiethnischen Auftrag durch »kurdische Märchenerzähler, orientalische Tänzer, arabische Musiker, Jongleure, tschechische, böhmische, slowakische ›Commedia dell’arte-Gruppen‹, das Gemeindehoftheater mit Didi Macher, Erni Mangold, der Wiener Tschuschenkapelle durch eine Commedia und österreichische Erstaufführung Herz und Leber, Hund und Schwein«.64 Auch 1994 waren die Wiener Festwochen, ihrem Bürgermeister entsprechend, ein europäisches Festival und als organisch integrierter Bestandteil des ganzjährig dichten Wiener Kulturlebens von innovativer Bedeutung. Zum ersten Mal war die Donauinsel als Festspielort mit einem spektakulären Pferdetheater mit einbezogen. Kulturstadträtin Pasterk warnte vor der ästhetischen Bedrohung durch die Werbeindustrie, »die auf Corporate Identity pocht und den Diskurs auf das Niveau des Slogans herunterzuholen versucht«.65 Der Kunst wurde die Aufgabe übertragen, Ort zu sein »des gedanklichen Austausches und der Meinungsbildung, der sich vulgären Zumutungen eines beschleunigten Warenumschlages entzieht«.66 Kunst war Hoffnungsträger und zugleich auch eine Art exklusiv gebliebener Raum, der es sich leisten sollte, »seismographisch auf mentale Strömungen und Befindlichkeiten zu reagieren, über die kulturelle Spiegelung politische und gesellschaftliche Entwicklungen der Zeit zu erfassen«.67 1995 : jubiläum, eu-beitrit t, forum für konstruktive dissonanzen 1995, im Jahr des fünfzigjährigen Gedenkens an die Beendigung des Krieges und wiedererlangte Freiheiten und, ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, im Jahr des Beitrittes Österreichs zur eu, verwies Intendant Klaus Bachler in entsprechender Nachfolge seiner Vorgängerin auf die aktuelle, diversifizierende Rolle der Wiener 328
wienkultur 1945–1995 Festwochen. Er erinnerte an ihre Identität stiftende Wirkung, ihre kulturelle, ständig infrage gestellte Beweglichkeit als Reibestein der österreichischen Künstlerschaft durch internationale Begegnung, »klein, beweglich und wach geblieben«.68 Er warnte vor dem aktuellen Ungeist der »Demagogen«, den Schatten der Vergangenheit und verwies damit indirekt auf populistisch geschürte Ausländerfeindlichkeit. »50 Jahre danach, da der Schatten der Vergangenheit beängstigend größer, die Demagogen dreister, Materialisten und Technokraten hybrider werden, ist es gut, sich dieser Anfänge zu entsinnen, sich zu erinnern und zu fragen, wo uns diese 50 Jahre hingeführt haben. Dieses Programm hält keinen Gedenktag, sondern ist der Versuch einer Standortbestimmung mit den Möglichkeiten des Theaters, ist Ausdruck unserer Haltung zur Jetztzeit. Es bedarf mehr des geistigen Umweltschutzes als des Entertainments, es bedarf mehr der Wahrheit als des Glamours, es bedarf mehr der Liebe als der Verführung.«69 Auch Bürgermeister Häupl beschwor, trotz der primär innovativ ausgerichteten Zielformulierung der Festwochen, Gradmesser der Offenheit fremden Kulturen gegenüber zu sein, den Geist der Erinnerung, »mitten in einem Gedenkjahr« zu erwecken. Er sprach sich »für die kulturelle Durchflutung der ganzen Stadt, für die Einbeziehung aller WienerInnen in das kulturelle Geschehen« aus.70 Politisch eindeutiger und pointiert reflektiert war der Ton der Kulturstadträtin, die über ein Zitat von Botho Strauß »liberal-libertäre Selbstbezogenheit« und damit verführenden antidemokratischen Populismus kritisierte : »Mit klammheimlicher Freude erklärt man das Projekt der Aufklärung als gescheitert und denunziert die Ideale von Freiheit und Gleichheit als eine die Heilsgeschichte parodierende Phantasie. Noch ist dieser Diskurs nicht mehrheitsfähig, doch er spricht immer mehr Leute an, die – gelangweilt von den komplexen Entscheidungsstrukturen der Demokratie – nach einfachen, durchschlagenden kräftigen Lösungen verlangen. Doch solche Lösungen sind schlechterdings nicht zu haben : Wer offen Institutionen, Korporationen und Gremien eines entwickelten Gemeinwesens auf dem Altar des Irrationalismus opfern will, läuft Gefahr, in ein vorpolitisches Stadium der Opfer- und Entbehrungskulte zurück(zu)fallen.«71 Die Wiener Festwochen, laut Ursula Pasterk das »führende Wiener Kulturfestival«, repräsentierten nicht den Hort der eitlen Harmonie, sondern ein »Forum für konstruktive Dissonanzen«. Die Wiener Kulturszene wurde aufgefordert, angesichts des internationalen Qualitätsaufgebots die eigenen künstlerischen Maßstäbe zu messen und zu überprüfen. Auch die einheimische Kunstszene sollte jenseits von allzu simplen Tugendthesen sich dem »Spannungsfeld der gesellschaftlichen Konfliktzonen im vollen Umfang« stellen. Kunst als komplexe Aussage eines vielgestaltigen Prozesses sollte vor allem die Irritation als gestalterisches Prinzip in ihren Produktionen zulassen. »Wenn der sogenannte ›zivilisierte Mitbürger‹ am Kunstwerk erlebt, daß das existentielle Sicherheitsnetz reißen und das Haus der 329
ulrike renner Utopien brennen kann, dann schult er seine gesellschaftspolitische Wachsamkeit und intellektuelle Widerstandskraft.«72 Das waren unglaublich deutliche Worte, denen ebenso deutliche kulturelle Taten folgten. A Survivor from Warsaw op. 46 von Arnold Schönberg griff die politische Botschaft als Brückenschlag zwischen selbst erlebter Vergangenheit und aktuell abzuwehrender Gefahr vor Wiederholungstäterschaft auf, die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven kündete vom wohl edelsten Postulat des Kunstvermögens, von der großen Freiheit. An Bert Brecht, den angefeindeten Künstler der Nachkriegszeit, die in derselben Zeit mit Unverstand rezipierten Autoren Jean Genet und Eugène Ionesco, wurde erinnert, an Kriegszerstörung Hiroshima – The seven Streams of the River Ota, an Erinnerungsszenarios La ville parjure ou Le réveil des Érinyes, die Besatzungsländer, an die Unheimlichkeit des vielgestaltigen und nicht immer glatt zu verstehenden Lebens HOplla, wir leben, A Story of Infamy, Hell Bent und den Völkerfreundschaftsmambo. Die Zeit/Schnitte 1995 erinnerten sich deutlich ausgesprochen an die lange unangesprochene Zeit mit dem Symposium Der Nationalsozialismus als politische Religion, Lesungen wie Im Krieg sind alle Väter Soldaten und die Ausstellung Das grausame Spiel – Surrealismus in Spanien 1924–1939. Die Bezirksfestwochen mit ihrem Motto hoffentlich standen als höchstgegriffenes Mahnmal der Möglichkeit in der Kunst, durch »Bewusstseinsbildung, Kommunikationsförderung und Gemeinschaftsorientierung« Friedenssicherung für die Zukunft zu gewährleisten und Weltkrieg zu verhindern. Projekte über Jüdische Kultur, Zigeunerkultur, mit Künstlern aus Mexiko (als dem einzigen Land, das gegen die Annexion Österreichs protestiert hatte) wurden präsentiert und das Fo-Theater unter der Leitung von Didi Macher in den Gemeindehöfen durch ein antifaschistisches Stück des Wiener Literaturrevolutionärs Jura Soyfer fortgeführt. Aufführungsstätten dafür waren das Gasthaus Schwindl, das Volksheim in Stammersdorf, die Firmen Unilever und Waagner-Biró, der Theseustempel im Volksgarten und Gemeindewohnbauten wie der Karl-Seitz-Hof, der Karl-Marx-Hof, der Gemeindehof im 22. Bezirk. Das Wiener Festwochenprogramm war wirksames Resultat einer mehr als gut vorgelebten Kulturpolitik. Avantgarde wird eingemeindet. Dies ist Teil eines dynamischen Kulturprozesses und kein spezifisch österreichisches oder Wiener Schicksal. Die kulturellen Schocks, die kulturell und künstlerisch in Wien seit der Nachkriegszeit stattgefunden haben, sind verständlich geworden oder zumindest reizfrei. Die großen »Störenfriede« Österreichs sind auf dem internationalen Kunstparkett zu Hause und geben Anlass zu theoretischer Aufarbeitung. Inwieweit heute in Wien noch von Kunstavantgarde gesprochen werden darf, könnte Anlass zu weiterer Auseinandersetzung sein. Wenn man sich darüber geeinigt hat, dass Avantgarde Grenzverletzung und -übertretung, durch künstlerische Akte bewusstseinsbildende, revolutionierende Veränderungen 330
wienkultur 1945–1995 der Gesellschaft anstrebt, dann setzt diese Tatsache voraus, dass gesellschaftliche, traditionsorientierte Territorien einen starken Abgrenzungsbedarf haben, sich verletzbar fühlen, gleichzeitig in großem Maße durch Widerspruch ansprechbar sind und mit Gegenmaßnahmen wie Unverstand, Inakzeptanz, Ablehnung, Drohung bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen reagieren. Die immer wieder aufgestellte Behauptung, Hochkultur besäße im Gegensatz zur Avantgarde kein Sprengpotenzial, sehe ich als zu kurz gegriffen. Zeigen doch die jeweiligen zeitbezogenen, unterschiedlich gewachsenen Intentionen der Wiener Festwochen, wie viel Kraft durch bewusstes Hinterfragen, künstlerische Neubewertung und Neugestaltung den Produktionen einer Alternativ- als auch Hochkultur innewohnen kann. Der Anspruch der aktuellen Wiener Festwochenprogrammatik besagte, dass das breit gefächerte, hoch qualifizierte Spielangebot der Wiener Festwochen ein Kunstideenreservoir für die Wiener KünstlerInnen zu sein hatte, wo die gesamte Bandbreite des gegenwärtigen, internationalen Kunstmarktes sowie der internationalen Alternativkunst nahegebracht wurde. Im weitesten Sinn erfüllte damit das Festwochenprogramm durchaus einen ausgeweiteten Bildungsanspruch, der Publikum wie KünstlerInnen mit einschloss.
III : Was k ann die Kunst können ? Ein Nachklang Ohne radikale, alternative, ästhetische und nicht ästhetische Kunst, ohne Schönheit und ihr Gegenteil, ohne den Überfluss der Kunst würde des Menschen Bewusstsein verarmen und also seine Fähigkeit, Prozesse zu erfinden und zu gestalten, retardieren, ja vielleicht sogar stagnieren. Der Überfluss eines Kunstobjektes könnte darin bestehen, keinen Anspruch auf eine wie auch immer geartete Ausgerichtetheit, auf einen Zweck hin zu beanspruchen. In vollkommener Anti/Kunst existierend, als radikal subjektiv formuliertes Postulat, als progressive Kunsttheorie, sich selbst und also diesem Anspruch genügend, könnte als Überfluss gelten. Der künstlerische Überfluss könnte Extremfall sein, Rand- und Grenzsituation, Forschungs- und Produktionslage für neues Wissen, eine neue Kunst, neue Schönheit. Aus dem Potenzial der Kreation würde die Kreation selbst, ungebunden und frei als autonomes Ergebnis, von sich sprechen. Im künstlerischen Produkt verwirklichte sich die Optik des Überflusses am sinnfälligsten. Die wiederholte Forderung von KünstlerInnen, der Kunst eine Existenz um ihrer selbst willen zuzugestehen, der Überflusssituation gesellschaftlichen Status zuzuerkennen, hatte oftmals den programmatischen Hintergrund der Kunstproduk331
ulrike renner tion dargestellt. Gerade dort, wo der Kunstmarkt sich einer unmittelbar sozialen, einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entzogen hatte, Kunst in gesellschaftliche Prozesse, ausgenommen in repräsentative, zu integrieren, wurde von KünstlerInnen radikal der Selbstwert der Kunstproduktion und seines Produktionsprozesses, seiner Methoden und Produktionsverfahren behauptet. Andererseits schien es unter den Menschen und ihrer Kulturproduktivität eine eigenartige Verbundenheit zu geben, sodass sie zur selben Zeit etwas Gleiches oder zumindest Ähnliches produzierten und lebten. Es schien also ein kollektives Bewusstsein zu existieren, das Menschen über Kontinente hinweg weltweit und weltumspannend miteinander verband und ähnliche Sachen erfinden ließ. Das hieß, dass die Menschen ein gemeinsames, sich weiter entwickelndes Bewusstsein verband, an dem alle mehr oder weniger miteinander teilhatten, das sie einte. Es existierte ein kollektives Bewusstsein, aufgrund dessen zum Beispiel im kulturellen Bereich ähnliche Objekte und Formen geschaffen, ähnliche Rituale praktiziert wurden, andrerseits schienen Gesellschaften unterschiedlichsten Niveaus gleichzeitig nebeneinander zu existieren. Die Jetztwelt ist als eine Zeit anzusehen, die von überaus komplexen Mechanismen, durch eine gegenseitige Durchdringung, einen Austausch und eine Ergänzung völlig unterschiedlicher Erfahrungswelten geprägt ist. Der Austausch, die ständig bewusst oder unbewusst anvisierte Integration existierender Lebens- und Kulturwelten aller Kontinente ist ein bereits gelebtes Faktum, das sich im Bewusstsein vieler Gesellschaftsschichten angesiedelt hat. Es gibt ein kollektives Gedächtnis ganz bestimmter Regionen, Länder, Dörfer, Städte, das über Sprache, Kulturlandschaften, Kunstprodukte sprechend, schreibend, kommunizierend, lebend, weitergegeben wird und für bestimmte Selbstgefühle von kollektiven Einheiten verantwortlich ist. Das sind wir. Wir beziehen unsere Identität, unsere Selbstwertgefühle, auch Ab- und Ausgrenzungsmechanismen sind inkludiert, über Zugehörigkeiten dieses gemeinsamen Gedächtnisses. Aber gleichzeitig existieren Lebenswirklichkeiten, die von solchen kollektiven Gedächtnissen formuliert wurden und werden, in einem dynamischen Austausch. Sie bewegen sich und Anderes. Sie erweitern sich, begegnen existierenden traditionellen Kollektivwelten, tauschen sich aus. Sie verändern sich durch Integration neuartiger Elemente. Fremdes wird zu Eigenem. Kunst und Kultur können das.
A nmerkungen 1 Hannes Androsch und Helmut H. Haschek (Hg.), Österreich. Geschichte und Gegenwart, Wien 1987. 2 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, N.Y.C., November 1945, DÖW Bibliothek 3002, Wien.
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wienkultur 1945–1995
3 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Österreicher im Exil. usa 1938–1945. Eine Dokumentation, Bd. 2, Wien 1995, S. 712 ff. 4 Wolfgang Greisenegger, »Das Theaterleben nach 1945.«, in : Literatur der Nachkriegszeit der fünfziger Jahre in Österreich, Wien 1984, S. 223–240. 5 Ulrike Renner, Des österreichischen Theaters Konfliktsituationen von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, unveröffentlichtes Manuskript, Wien 1992, S. 4. 6 Ebd., S. 4. 7 Ebd., S. 5. 8 Ebd., S. 5. 9 Kurier, Wien, 24. Juni 1953. 10 Arbeiterzeitung, Wien, 6. Juli 1953. 11 Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien 1995, S. 40. 12 Peter Roessler, Studien zur Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg im österreichischen Drama der Nachkriegszeit und der 50er Jahre, Köln 1987, S 187. 13 Des österreichischen Theaters Konfliktsituationen, S. 8. 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd., S. 11. 16 Ebd., S. 12. 17 Ulrike Rao-Renner, Das Inszenierte im Werk des Konrad Bayer, Wien 1988, S. 30. 18 Ebd., S. 30. 19 Ebd., S. 15. 20 Ebd., S. 10. 21 Ebd., S. 11. 22 Ebd., S. 11. 23 Ebd., S. 27/28. 24 Ebd., S. 34. 25 Des österreichischen Theaters Konfliktsituationen, S. 20. 26 Karin Cerny, Bitte liebt die Wiener Festwochen ! Zwischen Donauwalzer und Schlingensief : 50 Jahre Wiener Festwochen. Intendanten, Programme und Entwicklungslinien, in : Wiener Festwochen_1951– 2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 19. 27 Folder der Festwochen Wien vom 26. Mai bis 17. Juni 1951, Wien 1951, o. S. 28 Vorprogramm zu den Wiener Festwochen 1951, Wien 1951, o. S. 29 Vorprogramm zu den Wiener Festwochen 1952, Wien 1952, o. S. 30 Karin Cerny, Bitte liebt die Wiener Festwochen ! Zwischen Donauwalzer und Schlingensief : 50 Jahre Wiener Festwochen. Intendanten, Programme und Entwicklungslinien, in : Wiener Festwochen_1951– 2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 20. 31 Ebd. S. 22. 32 »Das schönste Theater von allen«. Ein Gespräch mit Nikolaus Harnoncourt, aufgezeichnet und redigiert von Monika Mertl, in : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 86–90. 33 André Heller, Ein Splitter aus meiner Erinnerung, in : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 15. 34 Karin Cerny, Bitte liebt die Wiener Festwochen ! Zwischen Donauwalzer und Schlingensief : 50 Jahre Wiener Festwochen. Intendanten, Programme und Entwicklungslinien, in : Wiener Festwochen_1951– 2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 22.
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ulrike renner 35 Bericht über die Wiener Festwochen 1965, Wien 1965. 36 Ebd., S. 22. 37 Ebd., S. 5. 38 Ebd., S. 8. 39 Ebd., S. 8. 40 Ebd., S. 2. 41 Wolfgang Kralicek, Szenen ohne Szene. Die Wiener Festwochen und die Stadt : eine komplizierte Beziehung, in : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 217. 42 Armin Thurnher, Ach, Kulturpolitik ! Die Wiener Festwochen, kulturpolitisch betrachtet. Ein sehr subjektiver Rückblick von Armin Thurnher, in : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 238. 43 Wiener Festwochenprogrammheft 1976, Wien 1976. 44 Ebd. 45 Rennbahnexpress, Wien, Dezember 1978. 46 Ebd. 47 Arbeiterzeitung, Wien, 13. Dezember 1978. 48 Karin Czerny, S. 28. 49 Wiener Festwochen 1982. 9. Mai –13. Juni, Wien 1982, S. 53–54. 50 Karin Czerny, S. 34. 51 Vom Anderen Theater, Wien 1982, S. 2. 52 Ebd., S. 24. 53 Ebd., S. 24. 54 Ebd., S. 24. 55 Ulrike Rao-Renner, Das Inszenierte im Werk des Konrad Bayer, Wien 1988, S. 154–155. 56 Wolfgang Kralicek, Szenen ohne Szene. Die Wiener Festwochen und die Stadt : eine komplizierte Beziehung, in : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 218. 57 Ursula Pasterk, in : Wiener Festwochen 1991. 11. Mai –16. Juni, Wien 1991, S. 6. 58 Ebd., S. 8. 59 Ebd., S. 11. 60 Ebd., S. 13. 61 Ebd., S. 13. 62 Katalog der Wiener Festwochen 1993, Wien 1993, S. 6. 63 Ebd., S. 6. 64 Ebd., S. 12. 65 Katalog der Wiener Festwochen 1994, Wien 1994, S. 4. 66 Ebd., S. 4. 67 Ebd., S. 4. 68 Katalog der Wiener Festwochen 1995, Wien 1995, S. 5. 69 Ebd., S. 5. 70 Ebd., S. 4. 71 Ebd., S. 4. 72 Ebd., S. 4.
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günther fleck
Die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der Stadt Wien seit Ende des Zweiten Weltkrieges
1. Vorbemerkung
A
ls an mich die Einladung erging, zum Thema Bildung und Wissenschaft in Wien ab 1945 einen Beitrag zu verfassen, hatte ich den ehrgeizigen Plan, mithilfe von Statistiken und historischen Rekonstruktionen der universitären Institutionen in Wien ein umfassendes Bild zu entwerfen. Das von mir zusammengetragene Material hat sich jedoch als derart umfangreich herausgestellt, dass ich mich gezwungen sah, von diesem ursprünglichen Vorhaben abzugehen. Es stellte sich für mich die Frage nach einem alternativen Zugang. Ich habe mich daher nach reiflicher Überlegung entschlossen, den vorliegenden Beitrag aus einer sehr persönlichen Sicht zu verfassen. Selbst Student an der Universität Wien in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts und später als externer Lektor an derselben tätig, habe ich den radikalen Wandel der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft hautnah miterlebt. Es werden, beginnend mit der Erörterung des Doktoratsstudiums nach der »Philosophischen Rigorosenordnung«, die Studienmöglichkeiten und akademischen Laufbahnen als auch die Art und Weise des Studierens erörtert sowie deren gravierende Veränderungen durch den Einfluss der Studienreformen bis in die Gegenwart nachgezeichnet.
2. Das freie wissenschaftliche Studium Ich immatrikulierte im Sommersemester 1973 an der Universität Wien und inskribierte die Fächer Psychologie und (zunächst) Philosophie. Bereits bei meinem ersten Betreten des Hauptgebäudes der Universität Wien sah ich mich mit mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten Parolen von Studentengruppen, vornehmlich linkspolitischer Provenienz, konfrontiert. Es hieß »Wehrt Euch !« oder »Ihr müsst Euch wehren !«. Nun stellte sich mir die Frage, wogegen sollte ich mich wehren. Bald fand ich heraus, dass es sich um die Einführung des Diplomstudiums handelte, das ab sofort dem (ebenso neu zu regelnden) Doktoratsstudium vorausging. Nun begann ich mich für diese Thematik näher zu interessieren und konnte erfahren, dass ich mich zu jenen Glücklichen zählen konnte, die noch nach der alten Studien335
günther fleck ordnung ihr Studium betreiben durften. Was aber war nun das Besondere am alten Doktoratsstudium, auch als freies wissenschaftliches Studium bezeichnet ? Zur Vorgeschichte : Mit der Eroberung Wiens durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 kam auch der Studienbetrieb an der Uni Wien und den anderen Hochschulen vorübergehend zum Erliegen. Doch schon sehr rasch ging die damalige Provisorische Staatsregierung Renner dazu über, für das Wintersemester 1945/46 die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Studienbetriebs herzustellen. Hierzu zählte auch die Schaffung von neuen rechtlichen Grundlagen. So wurden bereits im September 1945 folgende Verordnungen erlassen : 164. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung. 165. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die philosophische Rigorosenordnung. 166. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten im Einvernehmen mit dem Staatsamt für soziale Verwaltung vom 3. September 1945 über die pharmazeutische Studienund Prüfungsordnung. 167. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen.1 Die philosophische Rigorosenordnung2 war die Grundlage für das Studium für einen großen Teil der Studierenden ab 1945 bis Ende der Siebzigerjahre. Aufgrund einer sehr großzügigen Übergangsregelung konnten auch nach Einführung des Diplomstudiums etliche Studierende, die ihr Studium gemäß Rigorosenordnung begonnen hatten, noch bis in die frühen Neunzigerjahre ihren Dr. phil. alter Art erwerben. Das freie wissenschaftliche Studium hatte sowohl Sonnen- als auch Schattenseiten. Von den einen hoch gelobt und aus heutiger rückblickender Sicht vielfach verklärt, von den anderen, vor allem jenen, die scheiterten, verteufelt und desavouiert. Einerseits bot es den Studierenden einen heute kaum mehr nachvollziehbaren Freiraum. Dies erforderte allerdings ein sehr hohes Ausmaß an Selbstdisziplin. Die Studierenden waren selbst dafür verantwortlich, wie sie ihr Studium organisierten und gestalteten. Es lag in der Hand des Einzelnen, wie gut er sich auf die Dissertation vorbereitete und wie viel Hintergrundwissen hierzu erworben wurde. Die Gefahr, sich dabei zu verzetteln, war immer mehr oder weniger präsent. Schließlich gab es 336
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien ja keine Kontrollen, und was man dieses Semester nicht erledigte, konnte man sehr leicht auf das nächste oder gar übernächste verlegen. Wenn man einmal vom Begabtenstipendium absieht, gab es keine Aufforderung zu einem Leistungsnachweis. Es waren vielleicht höchstens die Eltern, die gelegentlich nach dem Studienerfolg fragten. Hatte man sich einmal für seine Fächerkombination (Hauptfach und Nebenfach) entschieden, so konnte man in weitgehend beliebiger und sehr freier Form sein Studium gestalten. Im Prinzip waren ja nur acht inskribierte Semester, die Vorlage einer Dissertation und die Ablegung der Rigorosen erforderlich. Pflichtkolloquien u.ä.m. gab es zwar, doch diese hielten sich in geringer Anzahl. Streng genommen waren sie in der Rigorosenordnung auch gar nicht vorgesehen. Viele Institute hatten jedoch gewisse interne Regelungen, wann jemand als Kandidat für eine Dissertation akzeptiert wurde bzw. in das Dissertantenstadium eintreten konnte. So hielten manche Professoren eine sogenannte Dissertantenprüfung ab, die einem den Status »cand. phil.« zuerkannte. Alle Studierenden, die in der Lage waren, den unglaublich großen Freiraum zu nützen und diesen auch zu schätzen wussten, konnten für ihr persönliches Wachstum auf eine Fülle von Ressourcen zurückgreifen. Dazu gehörte u. a. auch der Besuch von Lehrveranstaltungen, die mit den eigenen Fächern kaum etwas zu tun hatten. So berichtet zum Beispiel der bekannte Wiener Meeresbiologe, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker Rupert Riedl (2004) über die Gewinnung einer wichtigen Einsicht in einer Vorlesung der Ägyptologie : »Ich kann aus meiner eigenen Studien erfahrung hinzufügen, dass ich das Wesentlichste, das ich zum Verständnis komplexer Organismen später gebraucht habe, in wenigen Vorlesungen der Ägyptologie gelernt habe : den zweiseitigen oder rekursiven Vorgang bei der Schriftentzifferung. Vorlesungen, die damals in meinem ›philosophischen Studienbuch‹ noch mit den Kollegs für Biologie aufsummiert wurden.« (S. 38). So etwas ist heute kaum möglich und, falls es vorkommt, eine extreme Rarität. Weitere Ressourcen waren die vielen Diskussionen, die zwischen den Vorlesungen in den Wiener Kaffeehäusern geführt wurden. Meistens waren die Studierenden unter sich, mitunter gesellte sich aber auch Lehrpersonal der Universität hinzu. Zu jener Zeit hatte man sich das meiste Wissen selbst aus den Fachbüchern erarbeitet ; die Vorlesungen und Seminare dienten lediglich als Rahmen hierzu. Das ausgiebige Selbststudium der Fachliteratur war ein wesentliches Element des freien wissenschaftlichen Studiums ; man nahm sich aber hierfür auch die notwendige Zeit und die entsprechende Muße. Muße ist etwas, das m. E. der heutigen Bildung und Wissenschaft wesensfremd geworden ist. Mit diesem Phänomen hat sich u. a. auch der Soziologe Peter Atteslander (2007) auseinandergesetzt und bemerkt hierzu : »Es ist nicht leicht, Musse3 befriedigend zu definieren. Leichter lässt sich sagen, was Musse nicht sein kann : Hektik, Zwang oder zeitliche Begrenzung. Musse ist ein Innehalten, ein Ausbrechen aus dem Zeit337
günther fleck diktat. Musse ist der Versuch einer auf sich selbst bezogenen geistigen Orientierung, verbunden mit einer Lösung aus allerlei äusseren, oft selbst verordneten Zwängen. Wenn wir gelöst und spielerisch über Zeit nachdenken, für uns Wichtiges von Unwichtigem trennen, wenn es uns gelingt, genügend Ruhe auch vor uns selbst zu finden, kann dies zu Musse führen. Sie allein vermag einen für uns sinnvollen Umgang mit der Zeit ermöglichen.« (S. 68f.). Die große Problematik, die mit dem freien wissenschaftlichen Studium verbunden war, lag in der Möglichkeit des Scheiterns im Dissertantenstadium. Für viele Studierende war es schon sehr schwierig, ein geeignetes Dissertationsthema zu finden und folglich die Arbeit entsprechend zu konzipieren. Manche waren heilfroh, wenn ihnen jemand ein Dissertationsthema anbot. Für andere hingegen war es wiederum undenkbar, sich die Freiheit, selbst ein Thema zu kreieren und zu realisieren, von jemandem nehmen zu lassen. Tatsache ist jedoch, dass viele im Dissertantenstadium hängen geblieben waren und folglich ihr Studium irgendwann abbrachen. Die Folge war oft sehr tragisch, da man eine Menge Zeit und Arbeit investiert hatte und dann vor dem Nichts stand. Es gab ja nur entweder Doktorat oder nichts. Dies war u. a. auch ein Grund für die Einführung des Diplomstudiums. Auch die individuelle Betreuung der Dissertation durch einen (meist) frei gewählten Doktorvater hatte viele Gesichter. Der Erfolg des Studiums hing u. a. auch von der Zuverlässigkeit und dem Wohlwollen des Betreuers ab. Manche Studierenden hatten sehr großes Glück, andere wieder ausgesprochenes Pech. War man mit seinem Doktorvater, aus welchen Gründen auch immer, unzufrieden, konnte man sich in der Regel jemand anderen suchen, falls so eine Person zur Verfügung stand. Persönlich sind mir im Hinblick des Scheiterns im Dissertantenstadium einige im gewissen Sinn tragische Schicksale bekannt.
3. Die Studienreformen Die Studienreformen werden aus rechtlicher Sicht hier nur gestreift, das Hauptaugenmerk gilt wieder den Praxisbedingungen der Studierenden und Lehrenden. Vermutlich irgendwann in den späten Fünfziger- oder frühen Sechzigerjahren begann die Diskussion für Studienreformen, da die alten Studienordnungen aus verschiedenen Gründen als nicht mehr zeitgemäß erachtet wurden. Es können im Hinblick auf den zeitlichen Verlauf zwei große Reformzyklen abgegrenzt werden, die die akademische Landschaft nachhaltig und sehr unterschiedlich geprägt haben. Der erste Zyklus beinhaltete im Wesentlichen die Verabschiedung des Studienbeihilfegesetzes im Jahr 1963, des Allgemeinen Hochschulstudiengesetzes (AHStG) im Jahr 1966 sowie mehrerer Bundesgesetze zur Neuregelung verschiedener Studienrichtungen 338
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien zu Beginn der Siebzigerjahre. Beispielhaft sei hier das Bundesgesetz vom 30. Juni 1971 über geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Studienrichtungen erwähnt.4 Es schuf die Basis für das neu einzuführende Diplomstudium, das jedoch erst mit dem Universitätsorganisationsgesetz aus dem Jahr 1975 (uog 75) in die Praxis umgesetzt werden konnte. Aber auch diese Umsetzung bedurfte der Schaffung von Studienplänen für die einzelnen Studienrichtungen, die im Detail die Struktur der Lehrinhalte, genaue Regelung der ersten und zweiten Diplomprüfung etc. festlegten. Aus diesen Gründen dauerte es noch eine gewisse Zeit, bis tatsächlich in allen Studienrichtungen das Diplomstudium realisiert werden konnte. Der zweite Reformzyklus fand in der Zeit zwischen 1993 und 2002 statt und beinhaltete im Wesentlichen die Einführung des Bologna-Modells sowie die Transformation der alten Universität, der Alma Mater, in eine unternehmerische Universität (s. Abschnitt 4, Wandel der akademischen Einrichtungen).5
3.1 Einführung des Diplomstudiums Die Studierenden sahen sich nun mit einer neuen Studienordnung konfrontiert, die sich in vielen Belangen von der alten Doktoratsstudienordnung sehr unterschied. Da gab es zunächst die Teilung in einen ersten und zweiten Studienabschnitt. Der erste Abschnitt diente vorwiegend der Vermittlung von Basiswissen, der zweite hingegen einer gewissen Spezialisierung. Sowohl der erste als auch der zweite Studienabschnitt mussten mit einer Diplomprüfung abgeschlossen werden (1. Diplomprüfung, in der Regel nach vier Semestern ; 2. Diplomprüfung, in der Regel nach vier weiteren Semestern). Um zur 2. Diplomprüfung antreten zu können, musste neben der Absolvierung der vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen zusätzlich noch eine Diplomarbeit verfasst werden. Erst nach deren Approbation wurde man zur Ablegung der Diplomprüfung zugelassen. Für einige Jahre waren mit Ausnahme des Psychologiestudiums alle Studienrichtungen kombinationspflichtig (z. B. Politikwissenschaft als primäres Fach, in dem man auch seine Diplomarbeit verfasste, kombiniert mit Soziologie). Das hatte m. E. den Vorteil, dass man über den Tellerrand des eigenen Faches zwangsläufig hinausschauen musste, sowie die Einräumung der Möglichkeit, ein Doktoratsstudium bei Interesse auch im Kombinationsfach anschließen zu können. Diese Regelung fand nach einigen Jahren ein Ende, die Kombinationspflicht wurde aufgehoben. Was bedeutete nun aus der Sicht der Studierenden die Einführung des Diplomstudiums ? Es waren im Wesentlichen gewisse Verschärfungen der Studienbedingungen (z. B. Einführung von Anwesenheitspflicht bei diversen Lehrveranstaltungen, be339
günther fleck schränkter Zugang zu gewissen Lehrveranstaltungen, genaue Vorschreibung der Reihenfolge der zu absolvierenden Lehrveranstaltungen) als auch der Vorwurf der Verschulung des Studiums, der die Gemüter erhitzte. Dies führte zu massiven Protestbewegungen seitens der Studierenden. Umgekehrt konnte die Anzahl erfolgreicher Studienabschlüsse erhöht werden. Neu war auch die Einführung der akademischen Grade Magister der Philosophie (Mag. phil.) und Magister der Naturwissenschaften (Mag. rer. nat.). Dies führte zunächst in der breiten Öffentlichkeit zu einer gewissen Verwirrung, da dieser akademische Grad bisher als jener der Pharmazeuten und Pharmazeutinnen galt. Es war damals nicht ungewöhnlich, wenn sich jemand mit dem Magistertitel vorstellte und als Antwort erhielt : Sie sind also ein Apotheker. Die Gewöhnung an den neuen Magister erfolgte jedoch relativ rasch. Eine Ausnahme bildete die damalige Hochschule für Welthandel, die seit dem Wintersemester 1967/68 die Diplomstudienordnung umzusetzen begonnen hatte und deren Studierende nach Studiumsabschluss den akademischen Grad eines Magisters der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Mag. rer. soc. oec.) erhielten, der die älteren Grade wie z. B. Diplomkaufmann oder Diplomvolkswirt ersetzten. Für Studierende der technischen Studienrichtungen wurde zum Abschluss des Diplomstudiums der akademische Grad Diplomingenieur (Dipl.-Ing.) und zum Abschluss eines daran sich anschließenden Doktoratsstudiums der akademische Grad Doktor der technischen Wissenschaften (Dr. techn.) verliehen. Studierende früherer Jahrgänge erhielten bei ihrem Studiumsabschluss vielfach keinen akademischen Grad. Dies betraf vorwiegend alle Studierenden, die sich für ein Lehramtsstudium entschieden hatten, als auch z. B. Studierende der Rechtswissenschaften, die bislang – im Falle der Nicht ablegung der Rigorosen – lediglich die Bezeichnung abs. jur. führen durften (analoge Regelungen gab es auch in anderen Studienrichtungen). Der Magistergrad wurde im Nachhinein an alle Absolventen und Absolventinnen verliehen, die aufgrund ihrer zeitlich bedingten früheren Studienabschlüsse keinen akademischen Grad verliehen bekommen hatten und deren Studium einem Diplomstudium entsprach. Parallel zur Einführung des Diplomstudiums begann sich von Semester zu Semester die Anzahl der Studierenden zu erhöhen, die Massenuniversität mit all ihren unerfreulichen Entwicklungen stand vor der Tür. Die Hoffnung, mit der Einführung von verschärften Studienbedingungen den Massenansturm eindämmen zu können, erfüllte sich nicht. Auch für die Lehrenden spitzte sich die Lage zu, stellte sich doch die von Studienjahr zu Studienjahr deutliche Zunahme der Studierenden als wachsendes Problem dar. Es war nicht mehr alles so »locker« wie früher. Mit der Einführung des Diplomstudiums wurde auch das Doktoratsstudium neu geregelt. Ab diesem Zeitpunkt konnte ein Doktoratsstudium, das ursprünglich mit einer Mindestdauer von zwei Semestern, später mit vier und zuletzt mit sechs Se340
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien mestern festgelegt wurde, erst nach Abschluss eines Diplomstudiums begonnen werden. Das Doktoratsstudium nach der philosophischen Rigorosenordnung war im Auslaufen. Für die Praxis bedeutete dies, dass nunmehr die meisten Studierenden nach Abschluss ihres Diplomstudiums in die Berufswelt eintraten und nur ein kleiner Prozentsatz ein Doktoratsstudium nach der neuen Regelung anschloss. Der Titel Doktor begann damit deutlich rarer zu werden.
3.2 Einführung des Bachelor-, Master- und PhD-Studiums – der Bologna-Prozess Im Jahr 1999 trafen sich in Bologna 29 europäische Bildungsminister zur Unterzeichnung der sogenannten Bologna-Erklärung. Es handelt sich dabei um ein politisches Vorhaben, das die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens bis zum Jahr 2010 zum Ziel hatte, das völkerrechtlich nicht bindend ist. Gründe für die Einführung waren Kritik am althergebrachten Humboldt’schen Bildungsideal (z. B. Einheit von Forschung und Lehre, zweckfreie Forschung), das als nicht mehr zeitgemäß erachtet wurde. Weiters wurden die durchschnittlich zu langen Studienzeiten der europäischen Studierenden (das Studium sollte kurz, effektiv und berufsorientiert sein) beklagt. Die Studienabschlüsse sollten europaweit vergleichbar sein und folglich vereinheitlicht werden und die Mobilität der Studierenden sollte erhöht werden. Die Folgen sind weitgehend bekannt : Man zauderte nicht lange und begann – ohne dass hierfür notwendige und ausreichend fundierte sachliche Diskurse geführt wurden – europaweit das angloamerikanische Studiendesign zu implementieren. Wenn auch mit gewissen Unterschieden zum angloamerikanischen Modell, besteht doch eine weitgehende Analogie, was die Studienabschnitte betrifft. Demnach ist das Studium in drei Teile gegliedert : in ein Grundstudium, das drei Jahre umfasst und mit dem akademischen Grad des Bachelor abschließt ; in ein Erweiterungsstudium, das in der Regel zwei Jahre dauert und mit dem akademischen Grad eines Master beendet wird, und in ein Doktoratsstudium, für das mindestens drei Jahre vorgesehen sind. Es muss hier hervorgehoben werden, dass das Masterstudium nicht für alle Absolventen des Grundstudiums gedacht ist. Es gibt bestimmte Kriterien (z. B. Notendurchschnitt beim Grundstudium, vorhandene Studienplätze), die für eine Zulassung des Erweiterungsstudiums maßgebend sind. Hat sich jemand bis zum Master durchgeschlagen, so kann eventuell noch ein Doktoratsstudium angepeilt werden. Dieses ist terminologisch weitgehend in der Kurzform als »PhD-Studium« bekannt und meint den Erwerb des akademischen Grades Philosophiae Doctor nach 341
günther fleck angloamerikanischem Vorbild. Es umfasst eine Vielzahl von Studienrichtungen und ist vor allem für jene gedacht, die eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben. Entsprechend streng werden die Voraussetzungen für die Zulassung gehandhabt. Da gemäß den Bologna-Kriterien das PhD-Studium als wesentlich höher bewertet wird als die älteren Doktoratsstudien unterschiedlichster Provenienz, ist in Deutschland eine hitzige Diskussion entstanden, ob es nicht aufgrund dieser besonderen Qualifikation die Habilitation ersetzen könnte. Das vorläufige Ergebnis dieser Diskussion ist bislang zugunsten der Beibehaltung der Habilitation ausgegangen. In Österreich und damit auch in Wien hat diese Diskussion (außer in sehr kleinen informellen Kreisen) bislang nicht stattgefunden. Heute ist bis auf wenige Ausnahmen der Bologna-Prozess abgeschlossen, so auch in Wien. Die Disputation über die Sinnhaftigkeit des Prozesses hält unvermindert an, wurden doch viele der vorgenommenen Ziele bei Weitem nicht erreicht (z. B. mangelt es nach wie vor an der Mobilität der Studierenden ; die Studienzeiten sind nicht wirklich kürzer geworden ; der Bachelor reicht vielfach nicht aus, um einen entsprechenden Job zu bekommen). Für die Studierenden hat die Einführung des Bologna-Modells eine Vielzahl von Problemen gebracht. Zunächst ist die vorgeschriebene und angepeilte Studienzeit für den Bachelor nicht ausreichend, da viele Studierende nebenbei arbeiten. Der sehr dichte Lehrplan lässt in vielen Fällen nicht viel oder keine freie Zeit zu. Durch laufende Erfolgskontrollen, durch Lehrveranstaltungen mit prüfungsimmanentem Charakter etc., sehen sich sehr viele Studierende einem großen Zeitdruck ausgesetzt, der mitunter als sehr belastend erlebt wird. Man büffelt vor sich hin und hat kaum Zeit, die Lehrinhalte kritisch reflektierend zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang sei ein sehr interessantes psychologisches Phänomen erwähnt, von dem mir einige Universitätslehrer berichteten. Die heute Studierenden haben offensichtlich die fast unglaubliche Fähigkeit entwickelt, in kurzer Zeit eine Fülle von Informatio nen aufzunehmen, die uns älteren Generationen völlig fremd ist. Dies dürfte e inen Bewältigungsmechanismus darstellen, der den Studierenden eine Vielzahl von Prüfungen in kurzer Zeit positiv zu absolvieren erlaubt. Leider ist das gesammelte Wissen bald wieder vergessen. Ein weiteres Problem bringen die in gewissen Studienrichtungen völlig überfüllten Lehrsäle mit sich. Das Verhältnis Lehrende zu Studierenden wird aufgrund rigoroser Sparmaßnahmen zunehmend schlechter. In den letzten Jahren wurden viele Lehraufträge reduziert, die Tendenz ist anhaltend. Insbesondere für die Betreuung von Bachelor- und Master-Arbeiten steht in vielen Studienrichtungen zu wenig wissenschaftliches Lehrpersonal zur Verfügung. Die Studierenden haben gelernt, sich den Bedingungen des Bachelor- und Masterstudiums auf eine ganz besondere Art anzupassen. Der deutsche Wissenschaftler 342
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien Jochen Hörisch (2006) beschreibt im Hinblick auf die Einführung des Bologna-Modells das Auftreten eines neuen Studierenden-Typus, der aus meiner eigenen Erfahrung als externer Lektor an der Universität Wien nun auch hierzulande anzutreffen ist : »Mit diesem nun wirklich neuen Studiendesign geht denn auch ein gleichermaßen neuer Studierenden-Typus konform, von dem sich die wenigen noch romantisch disponierten Studenten um so befremdlicher abheben. Die klassischen Almer-materStudenten mußten, ob sie wollten oder nicht, eine ›extreme Risikobereitschaft‹ entwickeln. Die deutsche Tradition akademischer Freiheit – als Komplementarität von Lehre und Lernfreiheit gedacht – mutet mindestens bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts Studenten rücksichtslos Selbständigkeit zu, und die in der Unterstellung, daß nur eine solche Situation des völlig Auf-sich-selbst-gestellt-Seins Freiheit respektiert und geistige Freiheit erzeugt. Hingegen ist der rundumerneuerte, dem Bologna-Prozeß entsprechende Studierende schon in jungen Jahren pragmatisch abgeklärt und auf Effizienz, konkret auf das Einsammeln von absolvierten Modul- und ects-Punkten getrimmt. Nichts ist ihm suspekter als das Überflüssige bzw. überflüssig Scheinende. Brauche ich das später, ist das klausurrelevant, kommt das in der Prüfung vor, fördert das meine nachweisbaren Schlüsselfunktionen – so lauten seine Fragen, wenn er mißtrauisch und desillusioniert, bevor er je Illusionen hatte, in einem Seminar oder einer Vorlesung über kulturelles Gedächtnis, Kleists Novellen, Platons Ideenlehre oder Syntax-Theorie sitzt. Sein Verhältnis zur Hochschule ist das eines Kunden zu einem Dienstleistungsbetrieb. Daß er seit geraumer Zeit für überzählig belegte Semester und bald für sein gesamtes Studium eine wenn auch vergleichsweise moderate Gebühr zahlen muß, macht ihn schon heute zum kritischen Verbraucher, der prüft, ob sich die angebotene Ware in der gegenwärtigen und kurzfristig absehbaren Ökonomie mit Gewinn weiterverkaufen läßt.« (S. 51f.). Enthusiastische Befürworter des Bologna-Modells sowie deren Gegner liefern sich nach wie vor heiße Auseinandersetzungen (s. z. B. Eckardt, 2005 ; Schrittesser, 2009 ; Lohmannn et al., 2011 ; Liesner & Lomann, 2009 : Schultheis et al., 2008). Dabei ist zu bedenken, dass jeder Händler seine Ware lobt. Für Jochen Hörisch ist der Bologna-Prozess »… eine exquisite und riskante Bezeichnung für das, was in den letzten Jahren die europäischen Universitäten ergreift und tief umgestaltet. Denn die europäischen Wissenschaftsminister trafen sich, um die Studiengänge und Studienabschlüsse ihrer Länder einander anzugleichen, zu vereinheitlichen und zu verschulen, so als wollten sie ein Muster an Symbolpolitik vor Augen führen, an den emblematisch herausgehobenen ›Erinnerungsorten der Universitätsgeschichte‹ : 1998 an der Sorbonne, 1999 in Bologna, 2001 in Prag und 2003 in Berlin, wo im Jahr 2010, dann also, wenn der Bologna-Prozeß europaweit ›implementiert‹ sein wird, das zweihundertjährige Jubiläum der Humboldt’schen Universitätsreform ansteht. Mit dem, was diese legendären Universitätsnamen suggerieren : nämlich akademi343
günther fleck sches Selbstbewußtsein, informelle Studienstrukturen, Abwehr von Verschulungstendenzen, Unabhängigkeit der Forschung von Geldgebern, Selbststeuerung der Forschungsprozesse, selbständige Studienplanung und Entkoppelung von direkten Praxisbezügen – mit alldem räumt ausgerechnet der Prozeß gründlich auf, der nach der selbstbewußten und altehrwürdigen Alma mater Bologna benannt ist. Zielt er doch auf eine Modularisierung der Studiengänge, auf kontinuierliche Leistungskon trolle, auf eine weitgehende Verschulung des Studiums bis zum sechsten Semester, nach dem der Studierende seinen BA/Bachelor-Abschluß erhält.« (S. 48f.).
4. Wandel der ak ademischen Einrichtungen Studierende, die erstmals im Wintersemester 1945/46 ihr Studium aufnahmen, sahen sich mit den gleichen akademischen Institutionen konfrontiert, die auch vor und während des Zweiten Weltkrieges bestanden. Die Universität Wien war damals im Raum Wien die einzige Universität, alle übrigen waren Hochschulen und Akademien. Im Einzelnen existierten neben der Universität Wien (gegründet 1365 als Alma Mater Rudolphina Vindobonensis) die Technische Hochschule (gegründet 1815 als k. k. Polytechnisches Institut, heute Technische Universität Wien), die Hochschule für Welthandel (gegründet 1898 als k. k. Exportakademie, heute Wirtschaftsuniversität Wien), die Hochschule für Bodenkultur (gegründet 1872 als Hochschule für Bodenkultur, heute Universität für Bodenkultur Wien), die Tierärztliche Hochschule (gegründet 1767 als k. k. Pferde-Curen- und Operationsschule, heute Veterinärmedizinische Universität Wien), die Akademie der bildenden Künste (gegründet 1772 als Akademie der bildenden Künste, heute Akademie der bildenden Künste Wien), die Akademie für angewandte Kunst (gegründet 1867 als Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, heute Universität für angewandte Kunst Wien) und die Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien (gegründet 1817 als Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, heute Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Die Transformation der Wiener Hochschulen in Universitäten erfolgte circa ab 1975 im Rahmen des uog 75. Eine Ausnahme im Hinblick auf die Bezeichnung Universität bildet die Akademie der bildenden Künste Wien ; sie hat ihren Namen beibehalten, jedoch Universitätsstatus. Die Herauslösung der medizinischen Fakultät der Universität Wien und Transformation derselben zur Medizinischen Universität erfolgte erst später (1. Jänner 2004).6 Eine Sonderstellung nimmt die Akademie der Wissenschaften Österreichs (öaw) ein, die ihren Sitz in Wien, im Gebäude der alten Universität, hat. Sie ist die führende Trägerin außeruniversitärer Forschung in Österreich. Sie verfügt über 344
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien mehr als 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Aufgabenspektrum der wissenschaftlichen Forschung ist sehr breit angelegt und beinhaltet Themen aus den Naturwissenschaften, Formalwissenschaften, Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften und der Medizin. Die öaw ist sowohl für etablierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eine hervorragende Forschungsstätte als auch für Doktoranden und Doktorandinnen. Hier werden u. a. auch die Grundbausteine für eine weitere akademische Laufbahn gelegt. Ich selbst verfüge über keine Erfahrung mit jungem oder etabliertem Personal der öaw und kann daher über dessen Lebenswelt keine Auskunft geben.7 Die Transformation der Wiener Hochschulen in Universitäten brachte eine Reihe von gravierenden Veränderungen mit sich, insbesondere im Rahmen des 2. Reformzyklus (dieser beinhaltet das uog 93, das UniStG 97, den Bologna-Prozess 1999, die Einführung von Studiengebühren 2001 und das ug 02). Aus der Fülle der mitunter radikalen Veränderungen sei hier der Wandel der Alma Mater zum gewinnbringenden universitären Unternehmen herausgegriffen. Zunächst sei ein Rückblick gestattet, der die tiefe Kluft von einst und jetzt sehr dramatisch vor Augen führt. In seiner Monografie aus dem Jahr 1968 »Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universität« hob der Grazer Philosoph Ernst Topitsch hervor, dass »… die politische Funktion, welche die Universität als Pflege wertfreier Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft ausüben kann, deutlich erkennbar (wird) – nämlich als Raum institutionell geschützter Freiheit empirisch-rationaler Wahrheitsfindung, wo sowohl die Ideologien der an der Herrschaft Sitzenden wie die der nach der Herrschaft Strebenden gleichermaßen der Kritik ausgesetzt sind, die sie ihrer angemaßten Absolutheitsansprüche entkleidet. Es gibt hier keine ›privilegierten‹ Wahrheiten, die einer Kontrolle durch logische Analyse und erfahrungsmäßige Überprüfung entzogen wären. Ebensowenig gibt es hier – und damit geht die moderne Wissenschaftstheorie über Max Weber hinaus – unkritisierbare Wertungen, vor allem keine mit unbedingter Gültigkeit. Dadurch wird den um die Führung in der Gesellschaft ringenden Gruppen zu Bewußtsein gebracht, daß die in ihren Ideologien enthaltenen Tatsachenbehauptungen nicht endgültig, sondern jederzeit revidierbar sind, und in diese Ideologien eingegangenen Lebensansprüche keinen prinzipiellen Vorrang vor konkurrierenden Lebensansprüchen besitzen. So wird ihnen eine politische Haltung nahegelegt, die eine Lösung der unvermeidlichen sozialen Interessenkonflikte im Rahmen einer für alle Beteiligten annehmbaren und von ihnen anerkannten Friedensordnung sucht.« (S. 50) Man wird im Hinblick auf die gegenwärtige Situation unserer (Wiener) Universitäten sehr leicht an die Verantwortlichkeit der Intellektuellen erinnert, wie sie von Noam Chomsky (1971) propagiert wurde. Demnach haben die Intellektuellen die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken. Was aber, wenn 345
günther fleck diese Form der Intellektualität ausgetrocknet wird bzw. explizit als unerwünscht erklärt wird ? Was, wenn Nützlichkeitsdenken und Profitmaximierung selbst die Universitäten beherrschen ? Dann existiert die Universität im Sinne der Alma Mater nicht mehr ! Bildung und Wissenschaft wird zur Ware, was auch einen gänzlich anderen Charakter der Forschung mit sich bringt (vgl. Krautz, 2009).
5. Wandel der wissenschaftlichen Forschung Mit dem Wandel der alten Universität, der Alma Mater, zur unternehmerischen Universität, die Bildung (falls noch vorhanden) und Ausbildung als Ware behandelt, hat auch die Forschung eine radikale Änderung erfahren. Während früher die Wissenschaftler bei der Generierung von Forschungsfragen und Forschungsprojekten im Sinne der Freiheit von Forschung und Lehre weitgehende Entfaltungsmöglichkeiten hatten, da die Forschungskosten ja von der öffentlichen Hand getragen wurden, steht heute die Drittmittelfinanzierung im Zentrum. Die Fähigkeit zur Drittmitteleinwerbung stellt heute ein zentrales Kriterium für die Aufnahme als Wissenschaftler an einer Universität dar, da sich diese doch nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten finanziell so weit wie möglich selbst erhalten und auch Gewinne erwirtschaften soll. Hierzu bemerkt Jochen Hörisch auf Deutschland bezogen : »Die Drittmittel-Einwerbung als einziges besoldungsrechtliches Erfolgskriterium für Professoren – das ist auch universitätsgeschichtlich buchenswert. Die vergleichende und umfassende Geschichte der universitären Einwerbung von Forschungsmitteln ist noch nicht geschrieben. Aber auch anekdotische Hinweise vermögen das damit verbundene Problem anzuzeigen. Weder Hans-Georg Gadamer noch Hans Blumenberg noch Niklas Luhmann haben je Drittmittel bei großen Forschungs-Institutionen eingeworben. Bemerkenswerte Werke haben sie wohl nicht dennoch, sondern deshalb hinterlassen : sie verfügten über Zeit, Konzentration und eben durchaus auch eine freundliche Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen selbst- und fremdgesetzten Zwängen, denen schon der Begriff ›Drittmittel‹ zum Ausdruck verhilft. Daß der Umkehrschluß – wer erfolgreich Forschungsgelder einwirbt, kann kein bedeutendes Werk hinterlassen – unzulässig wäre, zeigt übrigens ein Blick auf die Frankfurter Schule. Horkheimer und Adorno hatten in Zeiten, als dieser Begriff noch nicht kurrent war, bemerkenswert große Erfolge bei der Einwerbung von Drittmitteln. Wer allerdings, um bei diesem Beispiel zu bleiben, den bösen Blick nicht scheut, wird bald feststellen, daß sich die beiden scharfen Kritiker szientistischer Arbeitsteilung ergänzten, indem sie ebendiese Arbeitsteilung virtuos praktizierten. Horkheimer war der frühe und erfolgreiche Wissenschaftsmanager, Adorno derjenige, der ein wirkliches Werk hinterließ.« (S. 58f.). 346
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien In der Tat wird bei Stellenausschreibungen für wissenschaftliche Positionen an den (Wiener) Universitäten die Fähigkeit des Kandidaten oder der Kandidatin im Hinblick auf die Drittmittel-Einwerbung als wichtiges Kriterium explizit gefordert. Ein etwas zynischer Kollege meinte einmal, dass es günstig wäre, wenn man bereits vor der Bewerbung für eine wissenschaftliche Position eine eigene gut gehende Firma zur Verfügung hätte, die man dann gleichsam als Mitbringsel zur Institutsfinanzierung einsetzen kann.
6. Die Fachhochschulen Mit der Gründung von Fachhochschulen (FH) und Fachhochschulstudiengängen in den Neunzigerjahren wurde eine gänzlich neue Ära akademischer Ausbildung ins Leben gerufen. Die Stadt Wien verfügt derzeit über drei Fachhochschulen : die Fachhochschule bfi Wien GmbH, die Fachhochschule Campus Wien und die Fachhochschule Technikum Wien. Sie dienen einer akademischen Berufsausbildung auf hohem Niveau mit einem Schwerpunkt auf der Verbindung von beruflicher Praxis und angewandter Forschung. Die akademischen Grade, die erworben werden können, sind der Bachelor und der Master. Die Fachhochschulen haben kein Promotion- und Habilitationsrecht. Für den Erwerb des Doktorates muss daher nach wie vor eine Universität besucht werden.8 Die Fachhochschulen stellen zweifelsohne eine große Bereicherung der Bildungslandschaft nicht nur in Wien dar. Bedenkenswert ist allerdings eine gewisse, sich abzeichnende Angleichung der Fachhochschulen und der Universitäten. So werden z. B. die Fachhochschulen in englischer Übersetzung bereits als »Applied Universities« gehandelt. Es ist nicht auszuschließen, dass in naher Zukunft unsere Fachhochschulen zu Universitäten transformiert werden. Ob eine Gleichmachung zweier bislang bewährter akademischer Einrichtungen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen eine sinnvolle Entwicklung mit sich bringen wird, ist sehr fraglich. Die FHStudierenden (Wiens) haben aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Lektor auf einem Fachhochschulstudiengang im Prinzip mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie die Studierenden an den Universitäten (Wiens).
7. Der zweite Bildungsweg und die Bedeutung der (Wiener) Volkshochschulen Viele Menschen hatten und haben aus welchen Gründen auch immer keine Möglichkeit, die Reifeprüfung in der üblichen Zeit abzulegen und ein Universitätsstudium 347
günther fleck zu beginnen. Glücklicherweise hat hier die Provisorische Regierung Renner knapp nach Kriegsende mit der Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen einen rechtlichen Rahmen geschaffen.9 Den Zweck der Ablegung der Berufsreifeprüfung charakterisiert die genannte Verordnung wie folgt : »Zweck der Berufsreifeprüfung ist es, Personen, die an der Ablegung der Reifeprüfung für Mittelschulen oder einer anderen zum Hochschulstudium berechtigenden Prüfung verhindert waren, aber in reiferem Alter und auf Grund ihrer beruflichen Bewährung oder einer in ernsten Studien betriebenen Beschäftigung mit einem bestimmten Fachgebiete ein Hochschulstudium in dieser Richtung durchführen wollen, die Möglichkeit zu geben, ihre Befähigung und Vorbereitung für dieses bestimmte Studium zu erweisen.« (vgl. Anm. 9) Man konnte mit Ablegung der Berufsreifeprüfung den Zugang für ein bestimmtes Studium erlangen, nicht jedoch einen generellen Zugang, wie er mit der Matura erworben wird. In den Folgejahren wurden die gesetzlichen Grundlagen immer wieder überarbeitet. Heute stellt die Möglichkeit der Ablegung der Berufsreifeprüfung einen nicht mehr wegzudenkenden Weg zu einer höheren Bildung dar. Eine weitaus jüngere Errungenschaft betrifft die Möglichkeit, die Lehre mit dem Abschluss einer Matura (Berufsmatura) zu kombinieren. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Novellierungen bzw. Neufassungen der gesetzlichen Regelungen für den Erwerb der Berufsreifeprüfung und der Berufsmatura. In diesem Zusammenhang spielen die (Wiener) Volkshochschulen eine bedeutende Rolle. (Auf die anderen Ausbildungseinrichtungen wie z. B. bfi und wifi sei hier nur hingewiesen.) Die Stadt Wien verfügt derzeit über 23 Volkshochschulen. Die älteste davon ist die Volkshochschule Ottakring. Es kann die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Erwachsenenbildung nicht hoch genug hervorgehoben werden.10
8. Abschließende kritische Bemerkungen zur Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der Stadt Wien in der Gegenwart Die Diskussionen über den Zustand der Bildungslandschaft in Europa einschließlich Österreichs demonstrieren, dass sich ein Bildungsverlust in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung abzuzeichnen beginnt bzw. zum Teil bereits eingetreten ist. Davon ist auch die Stadt Wien nicht ausgenommen. Dies scheint insofern katastrophal zu sein, als für die Wirtschaft Europas in Zukunft die Fähigkeit zur Er348
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien zeugung hochintelligenter Produkte, für die ein großes Ausmaß an Kreativität und Erfindergeist vonnöten ist, von entscheidender Bedeutung sein wird. Ohne derartige Produktionsleistungen wird sich Europa auf dem internationalen Markt nicht behaupten können. Als Hauptursache wird hierfür die wissenschaftspolitische Linie des Neoliberalismus verantwortlich gemacht, der folgend seiner Maxime der Profitmaximierung fälschlicherweise ein sehr einseitiges und kurzsichtiges Ausbildungskonzept vor allem auf universitärer Ebene favorisiert. So wird seit geraumer Zeit eine Krise der europäischen Universitäten von unterschiedlichsten Seiten konstatiert und die Gefahr des Zusammenbruchs der Universitäten heraufbeschworen. Die Profitmaximierung scheint dem klassischen Bildungsideal, wie es vor allem durch die Humboldt-Universität Jahrzehnte hindurch repräsentiert wurde, zu Leibe zu rücken. In einer Zeit, wo maximaler finanzieller Gewinn unter größtmöglicher Einsparung alles »Unnötigen« zum dominierenden Motiv der westlichen Wirtschaftskultur avanciert, bleibt für Dinge, die nichts abwerfen, bestenfalls ein müdes Lächeln, schlimmstenfalls nur mehr deren Liquidierung übrig. Dies führt zum ersten Kardinalfehler der Wissenschaftspolitik des Neoliberalismus. Was passiert mit jenen Wissenschaften, die für die Wirtschaft und Industrie im Sinne der Profitmaximierung so gut wie nichts beitragen können ? Folgt man der Zweckrationalität des Neoliberalismus, dann ist letztlich ein Niedergang bzw. Verschwinden dieser Wissenschaften nicht mehr aufzuhalten. Disziplinen wie Sprachwissenschaft, Ägyptologie, Literaturwissenschaft etc. braucht man dann nicht mehr, so meint man. Sie sind unnütz geworden. Dementsprechend geraten die Universitäten durch Kommerzialisierung bzw. Privatisierung unter den Druck der Wissenschaftspolitik (besser : Ausbildungspolitik) des Neoliberalismus. Dieser setzt seinen Schwerpunkt auf praxisnahe Berufsausbildung unter Eliminierung unnützen Beiwerks. So sollen die Studien kürzer und effizienter sein als früher, die jungen Hochschul- und UniversitätsabsolventInnen nach ihrem Abschluss optimal in die Wirtschaftsmaschinerie eingepasst werden. Funktionale Tüchtigkeit im Sinne der Zweckrationalität wird vehement gefordert. Der zweite Kardinalfehler der Wissenschaftspolitik des Neoliberalismus besteht in der Forcierung von Kurzstudien und der Verschulung der Universitäten. Zu viele Wissensinhalte in zu kurzer Zeit machen eine vertiefende und vor allem kritische Auseinandersetzung mit den Lerninhalten unmöglich. Das Ergebnis ist fragmentierte Vielwisserei, gleichzeitig mangelt es an einem tieferen Verstehen der Sachverhalte und Sinnzusammenhänge. Mit anderen Worten : Die Wissensinhalte werden vielfach nicht wirklich verstanden. Nun steht außer Zweifel, dass derartige Ausbildungskonzepte im Hinblick auf bestimmte berufliche Anforderungsprofile durchaus eine gewisse Berechtigung haben, 349
günther fleck wenn auch eingeschränkt, und auch einen sinnvollen Beitrag in der akademischen Berufsausbildung zu leisten vermögen. Bedenklich hingegen erscheint die einseitige Zentrierung auf rein funktionelles Anwendungswissen, dem jede Art selbstkritischen Hinterfragens fremd ist. In diesem Zusammenhang kommt es zur Verflüchtigung des Bildungsbegriffs ; was bleibt, ist reine Ausbildung. Hier ist insbesondere aus wissenspsychologischer Sicht die Gefahr einer sehr einseitigen Ausprägung intellektueller Fähigkeiten zu verorten, die sich langfristig als katastrophal erweisen wird. Bestimmte Fähigkeiten werden im Rahmen funktionsbezogener Ausbildung nicht mehr oder nur sehr mangelhaft entwickelt, die Aneignung eines persönlichen Bildungsniveaus im Sinne eines integrativen Orientierungsrahmens bleibt aus. Es wird dabei verkannt, dass sich der Neoliberalismus selbst das Wasser abgräbt, wenn bei der Ausbildung die Bildung ausgeklammert wird. Die Gefahr, dass Europas kostbarstes Erbe, sein hohes Bildungswesen, verspielt wird, hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Europa kann jedoch wirtschaftlich in Zukunft nur durch die Entwicklung intelligenter Produkte bestehen. Die Frage, die sich stellt, ist : Wie wird es wohl weitergehen ? Der Bologna-Prozess ist laut Meinung einer sehr großen Anzahl von Experten (vornehmlich von Befürwortern) nicht mehr rückgängig machbar, und vermutlich ist dies auch nicht sinnvoll. Es gilt, das Beste daraus zu machen und solche Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein zeitgemäßes Bildungsideal wieder salonfähig werden lassen. Welche konkrete Gestalt dieses annehmen wird können, wird noch lange Zeit Gegenstand erhitzter, wenn nicht gar polemischer, Auseinandersetzungen sein.
9. Ausblick Ich habe aus der Sicht meiner persönlichen Erfahrungen sowohl als Studierender als auch als externer Lektor der Universität Wien versucht, den radikalen Wandel der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft ebengenannter Universität nachzuzeichnen. Die Fragen, die sich nun aufdrängen, zielen auf den Entwurf von Szenarien möglicher Weiterentwicklungen. Ist die Zeit, die Bildung als Wert an sich gewürdigt hat, endgültig vorbei, oder wird es zu einer Rückbesinnung auf ältere Bildungsideale (unter Ausschluss negativer Charakteristika der Humboldt-Universität) kommen und eine m. E. notwendige Korrektur der totalen Ökonomisierung der Bildung als dringlich erkannt ? Werden wissenschaftliche Arbeiten, die nicht von Drittmitteln finanziert worden sind, wieder eine entsprechende Geltung bekommen ? Wird man den wichtigen Stellenwert der sogenannten Orchideenwissenschaften, die von der Industrie und Privatwirtschaft als unwirtschaftlich und daher unnütz 350
die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien gesehen werden, für die Kreativität wissenschaftlichen Arbeitens wieder würdigen und folglich nicht eliminieren ? Wird es gelingen, den Wissensdurst der Studierenden der Gegenwart (und Zukunft), der für viele ältere akademische Generationen so charakteristisch war, wieder ins Leben zu rufen ? Wird das sich zunehmend ausbreitende, rein pragmatisch orientierte und vielfach freudlose Studieren den Weg in ein spannendes und erfüllendes zurückfinden ? Die eben aufgeworfenen Fragen könnten ohne Probleme fortgesetzt werden ; dies mag dem Leser und der Leserin erspart bleiben. Für eine Rückbesinnung, eingebettet in die sehr umfangreiche und differenzierte universitäre Landschaft Wiens, sind derzeit »noch« zumindest teilweise die materiellen Ressourcen vorhanden. Ob die geistigen Ressourcen, die in den Köpfen und Herzen der Studierenden und Lehrenden zu verorten sind, noch vorzufinden sind, wage ich nicht zu beantworten. Betritt man das neue Institutsgebäude der Universität Wien, vielerorts Tausenden von Studierenden und Lehrenden einfach als nig geläufig, seitens der Universitätsstraße (Haupteingang) und schreitet die Stufen zum ersten Stock empor, kommt man nicht umhin (bevor man sich zum Weitergehen für links oder rechts entscheiden muss), das berühmte Staatsgrundgesetz aus dem Jahre 1867 zu lesen : »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.«11 Es bleibt zu hoffen, dass dieses für die Bildung und Wissenschaft nicht nur in Wien sondern für die gesamte universitäre Landschaft Österreichs äußerst wichtige Verfassungsgesetz nicht weiter ausgedünnt wird und folglich bei zukünftigen Studierenden gleichsam als sinnentleerte Phrase nur noch Verwirrung zu stiften vermag.
A nmerkungen 1 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1945. Ausgegeben am 26. September 1945. 41. Stück Verordnungen 164 bis 167. 2 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1945. Ausgegeben am 26. September 1945. 41. Stück 165. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die philosophische Rigorosenordnung. Auf Grund des § 1, B, Punkt 2 und 3, des Hochschulermächtigungsgesetzes, B. G. Bl. Nr. 266/1935, wird verordnet : § 1. (1) Zur Erlangung des Doktorgrades an der philosophischen Fakultät einer österreichischen Universität ist die Vorlage einer wissenschaftlichen Abhandlung und die Ablegung zweier strenger Prüfungen (Rigorosen) erforderlich. (2) Zweck dieser Prüfungen ist, festzustellen, ob und in welchem Grade eine Befähigung zur wissenschaftlichen Forschung erreicht wurde. (3) Die Zulassung hiezu ist von dem Nachweise abhängig, daß der Kandidat eine in- oder ausländische philosophische Fakultät als ordentlicher Hörer durch vier Jahre besucht habe. (4) Die ausnahmsweise Zulassung solcher Kandidaten, welche diesen Nachweis nicht zu liefern vermögen, kann auf Antrag des betreffenden Professorenkollegiums vom Staats-
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amte für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten erteilt werden. (5) Desgleichen kann in rücksichtswürdigen Fällen das Professorenkollegium die Genehmigung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten zur Vornahme der Begutachtung der wissenschaftlichen Abhandlung bereits im Laufe des letzten Semesters einholen. § 2. (1) Die geschriebene oder gedruckte Abhandlung hat eine wissenschaftliche Untersuchung über ein frei gewähltes Thema aus einem der dem Bereiche der philosophischen Fakultät angehörigen und mindestens durch eine Lehrkanzel vertretenen Fächer zu enthalten. (2) Ausnahmsweise kann das Professorenkollegium auch eine wissenschaftliche Untersuchung über ein Thema aus einem nicht durch eine Lehrkanzel vertretenen Fach zulassen, wenn dieses eine selbständige, in einem nicht schon durch eine Lehrkanzel vertretenen Fache ganz oder zum überwiegenden Teile enthaltene Disziplin darstellt. § 3. (1) Die vorgelegte Abhandlung wird von dem Dekane zwei Referenten zur Begutachtung zugewiesen, und zwar den ordentlichen Professoren und in deren Ermanglung den außerordentlichen Professoren des betreffenden Faches. (2) Eventuell kann der zweite Referent ein ordentlicher oder auch ein außerordentlicher Professor jenes Faches sein, dem die Abhandlung nach ihrem Inhalt zunächst steht. (3) Sind mehr als zwei ordentliche Professoren des betreffenden Faches vorhanden, so wechseln sie in der Begutachtung ab. (4) Der Dekan bestimmt für die Prüfung des wissenschaftlichen Wertes der Abhandlung einen entsprechenden Zeitraum. § 4. (1) Die zur Prüfung der Abhandlung berufenen Professoren erstatten ein begründetes schriftliches Gutachten über dieselbe und sprechen aus, ob der Kandidat zu den strengen Prüfungen zuzulassen sei oder nicht. (2) Stimmen beide Referenten in ihrem Urteil überein, so verkündet der Dekan ihren Ausspruch dem Kandidaten ; widersprechen sie sich aber in ihrem Urteil, so ist der Ausspruch über die Zulassung des Kandidaten dem Professorenkollegium vorbehalten. (3) Die Zurückweisung einer Dissertation hat die gleiche Wirkung wie eine nicht bestandene strenge Prüfung (§ 9). § 5. (1) Das mündliche Rigorosum besteht aus zwei strengen Prüfungen, und zwar einer zweistündigen und einer einstündigen. (2) Gegenstand der zweistündigen Prüfung ist : a) ein der philosophisch-historischen Gruppe angehöriges, durch eine Lehrkanzel vertretenes Fach mit einem anderen Fach dieser Gruppe oder b) ein der mathematisch-naturhistorischen Gruppe angehöriges, durch eine Lehrkanzel vertretenes Fach mit einem anderen Fach dieser Gruppe. (3) Die Wahl des zweiten Faches hat mit Rücksicht auf den Inhalt der schriftlichen Abhandlung der Dekan im Einvernehmen mit den Referenten zu bestimmen. Dem Kandidaten steht es frei, in seinem Gesuche das zweite Fach namhaft zu machen. (4) Gegenstand der einstündigen Prüfung ist die Philosophie. Bei dieser Prüfung hat der Kandidat die Kenntnis eines genügend großen, dem Fache, welchem die wissenschaftliche Abhandlung angehört oder angehören soll, naheliegenden Teilgebietes der Philosophie zu erweisen sowie eine angemessene Beherrschung der Gesamtgliederung der Philosophie nach den Hauptproblemen ihrer Teilgebiete und deren bedeutendsten Lösungsversuchen darzutun. (5) Für Kandidaten, deren wissenschaftliche Abhandlung das Gebiet der Philosophie betrifft, ist der Gegenstand der zweistündigen strengen Prüfung die Philosophie, Gegenstand der einstündigen strengen Prüfung ein Fach der philologisch-historischen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Gruppe. Für Kandidaten, deren wissenschaftliche Abhandlung ein Gebiet betrifft, welches, wie zum Beispiel Geographie, zu den Fächern der einen oder anderen Gruppe in Beziehung steht, kann das zweite Fach der einen oder anderen Gruppe angehören. § 6. (1) Der Dekan führt in der Prüfungskommission den Vorsitz. Im Verhinderungsfalle wird er von dem Prodekan vertreten. (2) Die Prüfungskommission besteht außer dem Vorsitzenden : a) für die strenge zweistündige Prüfung mindestens aus den beiden Referenten der Abhandlung, im höchsten Falle aus diesem und zwei weiteren, also im ganzen aus vier Examinatoren, b) für die einstündige strenge Prüfung aus zwei Examinatoren. (3) Die Examinatoren müssen in der Regel ordentliche Professoren der zu prüfenden Fächer sein. Im Bedarfsfalle sind außerordentliche Professoren der zu prüfenden Fächer und, wenn es
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die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien
an solchen mangelt, Professoren der nächst verwandten Fächer beizuziehen. (4) Der Vorsitzende ist als solcher zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, zu prüfen. § 7. (1) Die strengen Prüfungen sind öffentlich abzuhalten ; der Entscheidung über den Erfolg der Prüfung geht eine Besprechung über ihr Ergebnis voraus. (2) Die Beurteilung der Leistung bei den einzelnen Prüfern erfolgt durch die Bezeichnung »ausgezeichnet«, »gut«, »genügend« oder »ungenügend«. (3) Wird keine Teilleistung für ungenügend befunden, so entscheidet die Stimmenmehrheit, ob das Gesamtergebnis der Prüfung »ausgezeichnet«, »gut« oder »genügend« ist, wobei ein »genügend« die Zuerkennung der Auszeichnung ausschließt, jedoch mit einem »ausgezeichnet« zusammen auf zwei »gut« ausgeglichen wird. (4) Stimmt nur ein Prüfer für »ungenügend«, so ist die Prüfung nur bei diesem Prüfer zu wiederholen. Eine Reprobation bei dieser Wiederholungsprüfung durch einen Einzelprüfer bedarf der Zustimmung des Dekans. Der Dekan ist berechtigt, sich bei dieser Prüfung durch einen Professor vertreten zu lassen. Bei der Wiederholung der Prüfung vor einem Einzelprüfer ist die Hälfte der vorgeschriebenen Taxe zu entrichten. (5) Wenn sich mindestens zwei Stimmen für »ungenügend« aussprechen, ist die ganze Prüfung zu wiederholen. § 8. (1) Die strengen Prüfungen können in beliebiger Reihenfolge, müssen aber beide an derselben Universität, an welcher die (geschriebene oder gedruckte) Abhandlung eingereicht wurde, abgelegt werden. (2) Hievon kann nur in besonders rücksichtswürdigen Fällen das Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten nach Einvernehmen der betreffenden Professorenkollegien Ausnahmen gestatten. § 9. (1) Die Bestimmung der Intervalle zwischen den beiden strengen Prüfungen ist dem Kandidaten freigestellt. (2) Wird jedoch ein Kandidat bei einer strengen Prüfung reprobiert, so hat ihm die Prüfungskommission den Termin zur Wiederholung dieser Prüfung auf nicht weniger als drei Monate zu bestimmen. (3) Wird er hiebei abermals reprobiert, so ist nur noch eine Wiederholung, und zwar nicht vor Ablauf eines Jahres, zulässig. Wird der Kandidat jedoch nur bei einem Prüfer zum zweiten Male reprobiert, so kann die Wiederholung der Prüfung schon nach Ablauf eines halben Jahres erfolgen. (4) Bei nochmaliger (dritter) Reprobation ist der Kandidat von der Erlangung des philosophischen Doktorates an einer österreichischen Universität wie auch von der Nostrifikation eines im Auslande erworbenen Doktordiploms für immer ausgeschlossen. § 10. Hat der Kandidat die beiden strengen Prüfungen bestanden, so erfolgt die Promotion unter dem Vorsitze des Rektors und im Beisein des Dekans durch einen ordentlichen Professor als Promotor in der Form der herkömmlichen des Dekans durch einen ordentlichen Professor als Promotor in der Form der herkömmlichen Sponsionen, sofern hiegegen kein Hindernis gemäß § 3 der Verordnung vom 9. Juli 1945, St. G. Bl. Nr. 78, obwaltet. Übergangsbestimmungen. § 11. Studierende, die sich für das Rigorosum zur Erwerbung des Grades eines Dr. rer. nat. durch das Studium eines Hauptfaches der mathematisch-naturwissenschaftlichen Gruppe und zweier Nebenfächer derselben Gruppe oder eines Nebenfaches der mathematisch-naturwissenschaftlichen und eines der philosophisch-historischen Gruppe (aber nicht der Philosophie) vorbereitet haben, können, wenn sie ihre Dissertation bis spätestens Ende des Wintersemesters 1945/46 einreichen, das Rigorosum noch mit dieser Fächerkombination ablegen. Sie erhalten aber auch den Grad eines Dr. phil. § 12. Diese Verordnung tritt sofort in Kraft. Gleichzeitig wird die philosophische Rigorosenordnung vom 16. März 1899, R. G. Bl. Nr. 56, in der Fassung der Novellen B. G. Bl. II Nr. 53/1934 und B. G Bl. Nr. 180/1937 aufgehoben. Fischer 3 In diesem Originalzitat wird Musse mit doppeltem »ss« geschrieben, da in der Schweizer Rechtschreibung kein scharfes »ß« vorkommt.
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günther fleck 4 Bundesgesetz vom 30. Juni 1971 über geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Studienrichtungen. In : Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1971, Ausgegeben am 17. August 1971, 91. Stück, Nr. 326. 5 Quelle : Hans Pechar : Österreichische Bildungspolitik seit den 1990er Jahren. IFF, Universität Klagenfurt. Onlinequelle : Demokratiezentrum Wien – www.demokratiezentrum.org 6 Quelle : Studium in Österreich. Herausgegeben von der Österreichischen Hochschülerschaft und vom Österreichischen Auslandsstudentendienst. (o. J., ca. 1971) sowie die Webseiten der einzelnen Universitäten Wiens. 7 Für weitere Details siehe http ://www.oeaw.ac.at/ 8 Für weitere Details siehe http ://www.fachhochschulen.at/ sowie http ://www.bmwf.gv.at/startseite/hochschulen/ 9 Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen. In : Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1945, ausgegeben am 26. September 1945 41. Stück, Nr. 167. 10 Für weitere Details siehe http ://www.vhs.at/ 11 Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. Artikel 17. Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. StF : RGBL. Nr. 142/1867. Durch Art. 149 Abs. 1 B-VG im Verfassungsrang.
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Filmgeschichte als Sozialgeschichte der Stadt Wien nach 19451
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m Jahr 1960 begleitete der legendäre russische Kameramann und Regisseur Roman Karmen Nikita Chruschtschow auf seinem Staatsbesuch in Wien und der anschließenden Tour durch Österreich. Sein Film »Österreich begrüßt den Botschafter des Friedens«2 dokumentierte das Ereignis, dem im Jahr darauf das Wiener Treffen des sowjetischen Ministerpräsidenten mit dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy folgte. Wien kehrte damit, wenige Jahre nach Ansiedlung der Internationalen Atom-Energie-Behörde (1957), definitiv in die Reihe der Städte von transnationaler Bedeutung zurück. Nur fünf Jahre lagen zurück, seit auch der letzte sowjetische Besatzungssoldat Österreich verlassen und das Land seine immerwährende Neutralität verkündet hatte. Chruschtschows Besuch in Wien gab sich als Wirtschafts- und Freundschaftsbesuch, doch er diente einem klaren taktischen Ziel : Wien, die zur Grenzstadt zwischen den Blöcken gewordene Hauptstadt des neutralen Österreich, sollte für einen diplomatischen Kraftakt als Bühne dienen. Langsam, vorsichtig nähert sich Karmens Film der entscheidenden Passage in diesem Unternehmen an : Ein stets gut aufgelegter, scherzender sowjetischer Premier, der vor österreichischen Industriellen ein ebenso umgängliches und warmherziges Gehabe vorstellt wie bei seinen spontanen, die polizeilichen Sicherungsmaßnahmen düpierenden Kontaktaufnahmen mit der einfachen Bevölkerung, hebt, nachdem er die Herzen der WienerInnen und ÖsterreicherInnen erobert hat, am Ende des Filmes zu einer Drohrede an. Ihr Ziel ist der deutsche Kanzler Konrad Adenauer. Chruschtschow vergleicht ihn mit Hitler, bezichtigt ihn der Kriegshetze und diktatorischer Gelüste, und stellt in Aussicht : »… wenn er nur einen Finger gegen die sozialistischen Länder krümmt, vernichten wir ihn !«3 Ein solches Ende ist unerwartet. Doch es ist nicht unvorbereitet. Karmen baut seinen Film in der für ihn und den sowjetischen Avantgardefilm der 1920er- und 1930er-Jahre signifikanten Technik der Oppositionsmontage auf. Auf stimmungsvolle Sequenzen eines touristischen Wien folgen Erinnerungsbilder an die militärische Befreiung der Stadt im April 1945 durch die Rote Armee ; Einstellungen auf lebensfreudig genießende Menschen in Straßencafés wechseln mit Aufnahmen von Spuren des Kampfes um Wien, mit verblassenden Aufschriften an Häuserecken in zyrillischer Schrift, die noch nach 15 Jahren verkünden : Wohnblock überprüft, Ge355
siegfried mattl bäude von Minen geräumt. Die Beschaulichkeit, die aufkommt, wenn Karmens Kamera Wienerwald-Wanderer in Dirndl und Lederhose erfasst, bricht sich an Sprachfetzen, die von erregten Passantendiskussionen herandrängen und den Streit über Erinnern und Vergessen gegenüber der so kurz zurückliegenden Zeit des Faschismus tragen. Der sentimentale Tonfall des Kommentars aus dem Off – kurze, oft lyrische Passagen, manchmal erläuternde Kommentare, dann wieder das Bild überschreitende Assoziationen – hält sich durch den Film durch. Doch mit Verlauf des Films kontrastieren immer stärker Rückblenden auf Krieg und (deutschen) Nationalsozialismus, die im Besuch der Gedenkstätte Mauthausen kulminieren, die Hommage an ein an Kultur, Tradition, Landschaft und aufrecht gesinnten Menschen reiches Land und dessen Hauptstadt. Chruschtschow ist der Botschafter des Friedens, ein gewaltbereiter Botschafter, wie wir am Ende erfahren, aber einer, dessen ehrlicher Absicht man vertrauen kann, weil seine Authentizität in den Straßen, den Kulturbauten und Fabriken von den österreichischen Eliten wie der einfachen Bevölkerung vor der Kamera bezeugt wird. Ist »Der Botschafter des Friedens« deshalb zuvorderst das propagandistische Porträt eines Staatsmannes, dem die Kamera stets auf Augenhöhe begegnet, um ihn populär, menschlich zu machen – oder doch das Porträt einer besonderen Stadt und ihres Umfeldes ? Die für Karmens dokumentarischen Stil typische Kameraarbeit lässt so eine einfache Entscheidung nicht zu. Der bevorzugte Einsatz der Handkamera und die travelling shots rücken uns so nahe ans Geschehen, dass die klassische dramaturgische Dichotomie zwischen dem Protagonisten und der Masse aufgehoben wird. Affektive Bilder – eine junge Frau mit Baby, die von der Fensterbank aus gelangweilt dem Auflauf und den Debatten auf der Straße zusieht, ein Leierkastenmann in der Kärntnerstraße, Bauarbeiter mit nacktem Oberkörper an einer der Wiener Ausfallsstraßen beim Graben von Künetten – unterbrechen die Handlungskontinuität eines Staatsbesuches, Close-ups geben der in den Wochenschauen üblicherweise zur konturlosen Staffage degradierten Bevölkerung mannigfaltige Gesichter, Interviews zeigen individuelle Meinungen, und Orte, bekannte und weniger bekannte, erzählen Geschichten, die nicht auf einen einfachen Plot hin geordnet werden können. »Wir gehen nicht in der chronologischen Reihenfolge vor«, warnt der Kommentar aus dem Off bei Beginn von Chruschtschows Reise durch das Land im eigens für den sowjetischen Staatsgast adaptierten Postautobus. Nachhaltiger als diese lapidare Ankündigung der vermeintlichen Störung einer traditionellen Reportage verrät, ordnet Karmen die Zeit dem Raum unter. Architekturen, Denkmäler, akustische und visuelle Zeichen der Vergangenheit und der Gegenwart bilden eine einzige Textur, die vom poetischen Kommentar strukturiert wird. Ein Pastiche des kollektiven Gedächtnisses tritt darin hervor, das sich aus urbanen Topoi, Panoramen, StadtMythen, erzählten Erinnerungen und Dokumenten zusammensetzt, sich aber stets 356
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt am Aktuellen nährt, am Anstoß durch Handlungen oder Zeichen, die es reizen und in Bewegung bringen, beispielsweise die Plakate, mit denen die katholische Kirche die WienerInnen zum Boykott des Staatsbesuchs aufruft. Solcherart wird »Der Botschafter des Friedens« ein Stadtporträt von Wien, oder doch präziser : ein dokumentarisches Filmporträt von Wien und den WienerInnen, dessen Singularität in der ständigen Überschreitung der Grenzen zwischen Geschichte und Soziologie, Topos und Nicht-Ort4, Beharrendem und Ephemerem, Spur und Präsenz besteht. Immer wieder kokettiert Karmen mit den redundanten Werbefilmen der Wiener Tourismusindustrie : Die Adelspalais der Innenstadt, St. Stephan, gemächlich trabende Fiaker, das Heurigenlokal, Praterszenen. Doch statt der Fügung unter das etablierte Narrativ eines Reisetages durch »lovely Vienna« sprengt Karmens dialektische Montage die Szenografie der barock-folkloristischen Touristenstadt. Karmens Kameraführung trägt dazu maßgeblich bei. Der point-of-view bricht an entscheidenden Stellen mit der Konvention, nämlich wenn es gilt, das soziale Geschehen zu erfassen. Dann sucht Karmen mit leicht gesenkter Kameraposition den filmgeschichtlich verpönten Gegenblick der Menschen, um die Intensität des Ausdrucks zu steigern. Oder er verharrt im Fragment, wenn er dingliche Zeichen des sozialen Lebens aufnimmt, ohne in die Totale zurückzukehren, die panoptisches Wissen suggeriert. Als Ergebnis stellt sich ein anderer Raum ein, ein vielfach gekerbter und politisch-ästhetisch umstrittener Raum, wie ihn die übliche Perspektivierung der Architekturen nicht hervorbringen kann.
Neue methodische Ansprüche in der Sozialgeschichte Nach fünfzig Jahren muss ein filmisches Dokument sich zum Monument verdoppeln, müssen zwischenzeitlich verschwundene Alltagsphänomene fremd und rätselhaft und erklärungsbedürftig erscheinen. Und so trägt Karmens Film für den heutigen Betrachter einen »Überschuss« in sich über die Intentionen seines Produzenten hinaus. »Der Botschafter des Friedens« ist (auch) ein Film über Wiener Habitusformen, die sich unter anderem in vestimentären Codes manifestieren, beispielsweise in Kopftüchern und Dirndln. Diese sind omnipräsent, selbst in den eleganten Einkaufsstraßen der City. Sie führen auf eine Alltagspraxis hin, die für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg medial nicht überliefert ist und die sich zwischenzeitlich verflüchtigt hat, nämlich auf die Annäherung an die ländliche Folklore, womit der neue Österreich-Patriotismus unter Beweis gestellt und die Selbstrückstufung einer Metropole auf den Status der Hauptstadt eines Kleinstaates zum Ausdruck gebracht wird ; in der Popularität der ländlichen Trachten zeigt sich aber auch eine Selbstbeschränkung, eine Konformität an, verglichen mit dem Stellenwert, den großstädti357
siegfried mattl sche Mode für Wien ehedem gehabt hatte, wenn diese auch durch die demonstrative Sachlichkeit der »neuen Frauen« der Zwischenkriegszeit herausgefordert worden war. Umgekehrt klingt in den Bildern der kommunistischen Jugendlichen, die in ihren Blauhemden und roten Halstüchern eine Ehrenformation bei Chruschtschows Kranzniederlegung am Heldendenkmal der Roten Armee bilden, eine inzwischen verschwundene Reminiszenz an die Inszenierung des öffentlichen Raumes durch politisch-soziale Formationen an : Es gab eine Zeit, in der »Jugend« in Wien öffentlich dominant als uniformierte, organisierte und disziplinierte, durch politische und berufliche Instanzen markierte, in Übergangsrituale eingebundene Generation sichtbar wurde.5 »Der Botschafter des Friedens« ist aber auch ein sozialtopografischer Film, der über den engeren Raum einer internationalisierten Bürgerlichkeit spricht : über den Glanz und die mondäne Opernpassage, über eine Jeunesse dorée, die mit dem chromblitzenden Cadillac ins italienische Espresso nahe der Albertina fährt, und über das distinguierte Publikum des Terrassencafés am Cobenzl ; über die Fabrikarbeiterschaft in Floridsdorf und über die Alten, die in den Kommunalbauten besondere Rücksichtnahme finden ; ein Film, der aus einer spezifischen Perspektive her, derjenigen eines kosmopolitischen Russen, Jahrgang 1906, Wien neben Paris als international tonangebend für die Ästhetik im alltäglichen Leben betrachtet, ein Film aber auch, der versucht, die Stadt als politisches Gemeinwesen zu erfassen.6 Die Verortung des filmischen Dokumentes in einer Sozialgeschichte der Stadt erfordert die Klärung der Bedingungen, unter denen aktuell Historiografie produziert wird. Obgleich die paradigmatischen Auseinandersetzungen der 1980er- und 1990er, die vor allem durch den transdisziplinären »linguistic turn« ausgelöst worden sind, in der institutionellen Praxis zu einer Öffnung der unterschiedlichen historischen Fächer und Spezialdisziplinen gegenüber text- und kulturwissenschaftlichen Methoden und Theorien geführt haben, fehlt es an einem übergreifenden Konzept. Nach wie vor können wir von einer Krise oder einem Zustand der Transformation im Selbstverständnis dominanter historiografischer Programme ausgehen, die einer unsicher gewordenen Kohärenz von Gegenstand und Beschreibung geschuldet ist. Die Konstituierung scheinbar objektiv-realer historiografischer Untersuchungseinheiten durch Sprache und Diskurse steht ebenso zur Disposition wie umgekehrt die Integration vergangener kollektiver Denkweisen und Gefühlswelten in die Rekonst ruktion historischer Wirklichkeiten.7 Selbst Hans-Ulrich Wehler, Vertreter der als »Historische Sozialwissenschaft« am meisten avancierten Sozialgeschichte,8 hat eingeräumt, dass die bislang dominierende Orientierung an überpersonellen ökonomischen Prozessen und auf diesen aufbauenden sozialen Konfigurationen unzulänglich sei. Er diagnostizierte den »theoretischen und methodischen Schwachpunkt« der Neuen Sozialgeschichte in der Ignorierung der Kultur im Sinne der Sozialanthro358
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt pologie bzw. der Vernachlässigung jener praktischen – Wehler spricht von »nicht sachlogischen« – Sinnkonstruktionen, die Strukturen und Prozesse interpretieren, in singuläre Handlungen übersetzen und damit modifizieren und mitgestalten. In anderen Worten : »(D)ie doppelte Konstituierung der Realität : zum einen durch die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selber, wurde [in der Sozialgeschichte] nicht ernst genommen.«9 Deutet sich darin für die Sozialgeschichte, die sich als Oppositionswissenschaft gegen die historistische Tradition entfaltet hat, immerhin die Möglichkeit an, durch die Erweiterung ihrer Fragestellungen und Forschungsfelder selbstreferenziell vorzugehen, so hat sich die Stadtgeschichte mit einer weitgehenden eigenen Neuerfindung auseinanderzusetzen. Richard Rogers hat dafür in seiner Einleitung zu »Theory, Practice and European Urban History« (1993)10 den Begriff der »analytischen Stadtgeschichte« in Vorschlag gebracht. Diese soll die »urbane Dimension« als eine unabhängige Variable gesellschaftlicher Veränderungsprozesse hervorheben, die vor allem aus der genuinen Interaktionsform in den Städten hervorgeht – Interaktionen zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen, Dingen und (aus sozialen Aktivitäten hervorgegangenen) Wissensbeständen. Damit unterscheidet sich diese neue Konzeption von Stadtgeschichte sowohl von der lokalen narrativen Stadtbiografie wie von der städtischen Sozialgeschichte, die generalisierte Kategorien (wie Demografie, Migration, Hausbesitz u. a. m.) im lokalen Rahmen anwendet.11 Nicht zuletzt unter dem Einfluss des »spatial turn«12 hat sich das Konzept der Stadtgeschichte aus seiner territorialen und topografischen Fundierung gelöst und den sozialen Praktiken zugewandt. Stadt wird dabei als Handlungsraum wie als Konstrukt eines sozialen und kulturellen Ensembles oder Akteurs aufgefasst. Der Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Deutschen Gesellschaft für Stadtgeschichte schlägt deshalb vor : »Die neue Stadtgeschichtsschreibung basiert auf der Erkenntnis, dass sie es mit der Analyse einer permanenten ökonomischen, sozialen und kulturellen Produktion von Räumen zu tun hat, die in ihrer Historizität zu erforschen ist. Gefragt wird danach, wie Aneignungen im und in Bezug auf Räume vor sich gingen und Identitäten durch Geschlecht, Ethnizität sowie Schichten- und Klassenzugehörigkeit räumlich konstituiert und codiert wurden. Räume sind außerdem als wirtschaftlich, sozial und kulturell umkämpfte Arenen zu begreifen, in denen um Einfluss und soziale Positionierung gerungen wurde. Ihre Bebauung, Gestaltung und ihre Institutionen symbolisierten soziale Ungleichheiten, Herrschaft, Emanzipation, Konflikt und Akkulturation in früheren und gegenwärtigen Epochen.«13 Aus der Öffnung der Sozialgeschichte hin zur Kultur und der Wendung der Stadtgeschichte zum Sozialen lässt sich allerdings noch keine Synthese gewinnen, die eine neue regulative Idee in der Historiografie der Stadt begründen würde. Dies wird ins359
siegfried mattl besondere an der Fragestellung deutlich, ob Städten eine »Eigenlogik« zugeschrieben werden kann. Der Begriff der »Eigenlogik«, wie ihn jüngst Helmut Berking und Martina Löw14 zur Diskussion gestellt haben, macht nochmals die partikularen Funktionen von je einzelnen Städten (oder ihrer Eigennamen) innerhalb eines globalen Raumes der Zirkulation von Informationen, Menschen und Gütern stark und hebt die Perspektive über diejenige des lokalen Handlungsraumes der neuen Stadtgeschichte wie die des empirischen Raumes der neuen Sozialgeschichte hinaus, ohne diese zu verwerfen. Hier würde es sich um die Definition jener Schnittstelle handeln, an der einerseits Urbanität als Bedingung des Sozialen betrachtet wird, wie sie andrerseits selbst, mit der Sedimentierung oder Kristallisierung ihres sozialen, politischen und kulturellen Gewebes, als Subjekt oder Akteur in einem anderen Raum auftreten kann. Dieser notwendige Hinweis15 soll allerdings an dieser Stelle nur dazu herangezogen werden, das Forschungsprogramm offen zu halten für die Registrierung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Geschichte der Stadt bzw. für die Ko-Präsenz unterschiedlicher sozialer Formationen ; selbst unter Einschluss von Anachronismen, oder auch der »lost causes«16, die in einer am Paradigma der »Modernisierung« orientierten Sozialgeschichte ebenso vom Vergessen bedroht sind wie in einer auf Macht- und Identitätskonstellationen fokussierten urban history. Welcher Stellenwert kann in diesem Spannungsfeld der sozialen Geschichte der Stadt (bzw. deren Historiografie) nun dem filmischen Dokument zukommen ? Resümieren wir die zuvor präsentierten Problemzonen, so kommt dem Film – zunächst am Idealtyp des fiktionalen Films bemessen – eine kardinale Stelle innerhalb der Analyse von Urbanität zu. Der Film kann sogar zu den intrinsischen Elementen von Urbanität gezählt werden, wenn ein »System Stadt« unterstellt wird. Er generiert in Form des Kinos nicht nur neue Orte, die in die materielle und symbolische Textur der Stadt eingreifen, sondern konstruiert urbane Wirklichkeit auf mehreren Niveaus entscheidend mit. Hier wäre die Hervorbringung einer genuin städtischen Wahrnehmung durch das rein optische Bild zu nennen, das, als bewegtes Bild, die Zirkulation von oberflächlichen Zeichen und die Kombinatorik heterogener Eindrücke organisiert. Seine Fähigkeit, gleichzeitig sensorische und symbolische Bilder zu produzieren, d. h. konkrete Orte mit abstrakten Eigenschaften zu verknüpfen, macht den Film auf anonymer und kollektiver Ebene zu einem essenziellen Träger des oben genannten praktischen Sinns, der Strukturen, Prozesse und Räume interpretiert. Schließlich rückt der (narrative) Film mit seinen dramaturgischen Verknüpfungen von Personen, Handlungen und Räumen in den Rang einer komplexen Kartografie auf, die das Allgemeine einer bestimmten Stadt mit ihren Singularitäten amalgamiert und ein zugleich kognitives wie emotionales »Bild« der Stadt produziert.17
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filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt
Visual History Aus der Verwobenheit von Bildmedien mit Weltwahrnehmung und -interpretation, als Gegenstand von Kommunikation, aber auch aus ihrer Speicherungsfunktion vergangener Lebenswelten und Handlungen heraus hat kürzlich Gerhard Paul sein Plädoyer für eine »visual history« gehalten – »visual history« als historiografische Konzeption, die sich darum bemüht, »Bilder über ihre zeichenhafte Abbildbarkeit hinaus als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren. Visual history … umfasst das ganze Feld der visuellen Praxis der Selbstdarstellung, der Inszenierung und Aneignung der Welt, sowie schließlich die visuelle Medialität von Erfahrung und Geschichte.«18 In diesem Programm ist jedoch dem Film bzw. den »fotomechanischen Medien« (Siegfried Kracauer) ein besonderer Platz einzuräumen. Unter den verschiedenen Bildmedien unterhalten sie eine einzigartige Beziehung zur Welt, insofern sie dieser, techno-ontologisch gesehen, ohne kulturelle Codierungen entgegentreten. Wenn die (idealtypisch supponierten) a-signifikanten fotomechanischen Bilder auch einer nachträglichen kulturellen Lektüre offen stehen und im Regelfall auch dafür intendiert sind, so erhalten sich in ihnen Wirklichkeitsbestände, die im Gegensatz zu ästhetisch konzipierten Bildgattungen nicht Notwendiges und unter dem Gesichtspunkt von Zweck und Funktion Überflüssiges enthalten. Siegfried Kracauer spricht davon als vom »Abfall« der Geschichte, vom zur Zeit seiner Aufnahme a-Signifikanten, das indes retrospektiv Bedeutung erlangen kann – als Spur einer Potenzialität, die von der Kontingenz der äußeren (wie der sozialen) Wirklichkeit zeugen kann. Als solche wird der zunächst scheinbar bedeutungslose Rest für eine Historiografie der »Mikrohistoire«, wie Kracauer sie ins Auge fasst, überaus relevant : Geschult an der im fotomechanischen Bild festgehaltenen Virtua lität der Vergangenheit will sie die Schemata der Allgemeingeschichte und deren Interesse an idealtypischen Fällen ebenso hinter sich lassen, wie die alle generalisierende Deutung vermeidende archivalische Historiografie.19 Wenn wir zuvor die volle Entfaltung des Wechselverhältnisses von Stadt und Film im Erzählfilm bestimmt haben, so gilt es mit Bezug auf das Verhältnis des Films zur Stadt- und Sozialgeschichte eine Einschränkung zu wiederholen, die Kracauer bereits vollzogen hat. Der Spielfilm als Untersuchungsgegenstand gibt Aufschlüsse über das kulturelle »mapping« einer Stadt und ihres sozialen Raumes, doch tut er dies aufgrund einer ästhetischen Methode, die prinzipiell totale Kontrolle über das Bild voraussetzt. Kracauer hingegen insistiert bei seinen Überlegungen gerade in Abgrenzung davon auf einem Bild, das von seiner Aufnahme und/oder Stellung in einem einzelnen Filmwerk her sich der lückenlosen Sinnschließung, auf die das 361
siegfried mattl Kunstwerk im Regelfall zielt, verweigert. Dieser von Kracauer geforderte »Realismus«, der nicht mit naturnaher »Abbildung« verwechselt werden darf, muss auch in Anwendung gebracht werden, wenn (neue) Stadt- und Sozialgeschichte und Film als vielleicht ungleiche, aber gleichwertige, weil prinzipiell (zur Wirklichkeit und deren Registrierung) »offene« Erkundungsverfahren behandelt werden sollen. Deshalb setzt dieser Beitrag auch an einem Korpus von nicht-fiktionalen Filmen (Dokumentarfilme, Gebrauchsfilme, Auftragsfilme, experimentelle Filme)20 als Analysegegenstand an bzw. wählt daraus filmwissenschaftlich evaluierte Analyseeinheiten wie Einstellung, Sequenz und Episode. Wir werden die Filme weder ausschließlich als neuen Typus von Quelle noch als durch einen ihnen äußerlichen Diskurs vorstrukturiert und auch nicht als Indikatoren einer Geschichte des Mediums selbst behandeln, wenngleich all dies ebenso wie die Frage nach den Effekten und der Ikonizität einzelner Einstellungen uns immer wieder beschäftigen wird. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die visuelle Präsenz von Menschen und Handlungen in den Filmdokumenten eine unmittelbare Verbindung zu Kräfteverteilungen im sozialen und politischen Raum unterhält. Mit Jacques Rancière stellen wir eine »Aufteilung des Sinnlichen« an den Beginn unseres Arbeitsprogramms, d. h. die Annahme, dass die ästhetisch festgelegten wie eröffneten Möglichkeiten des Erscheinens oder Auftretens im öffentlichen Raum und die Formen, in denen sich diese Präsenz Ausdruck verschafft, eine prekäre Grenze bilden.21 Die Verteilung von Akteursrollen und deren Zuteilung an legitime Orte bildet den Inhalt der zum jeweiligen Zeitpunkt gegebenen gesellschaftlichen Ordnung, die gleichzeitig immer schon infrage gestellt oder herausgefordert wird durch permissive Praktiken ; nicht zuletzt durch die Praktiken jenes von Kracauer identifizierten Filmbildes, das sichtbar zugänglich macht, was den Registraturen der etablierten Ordnung notwendigerweise entgehen muss : den »Ruhm des Beliebigen«, in Jacques Rancières Worten.22 Nach wie vor ist der Status des Films in der Historiografie nicht gesichert, und die unterschiedlichen Niveaus, an denen eine »visual history« als Quellen-, Medienkultur- oder Gedächtnisgeschichte ansetzt, weisen auch nicht in Richtung einer bald zu erwartenden kohärenten Subdisziplin der Geschichtswissenschaft. Mit dem schon in den 1970er-Jahren formulierten Begriff des französischen Sozialhistorikers Marc Ferro wird der Wert der historischen Auseinandersetzung mit Film deshalb zunächst immer noch im Potenzial bestimmt werden, Stoff einer »Gegenanalyse« zu sein – einer Gegenanalyse zu etablierten historiografischen Diskursen.23
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filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt
Eine »fertige« Stadt Die noch kaum begonnene und stark fragmentierte Stadt- und/als Sozialgeschichte Wiens nach 1945 nimmt meist die Tätigkeiten und Planungen der Stadtregierung und der Gemeindeverwaltung zum Ausgangspunkt. Beide gemeinsam bilden den zentralen Akteur, aus dessen Perspektive die Stadtentwicklung kohärent rekonstruiert werden kann und auf dessen Position hin auch Gegenbewegungen, selbsttätiges Alltagshandeln, soziale Strukturen sinnvoll bezogen werden können. Aus einer logisch begründbaren Konzeption heraus behandeln die meisten Gesamt- und Überblicksdarstellungen den Zeitraum nach 1945 nicht als genuines neues Stadtregime, sondern beziehen sich explizit oder implizit auf eine historische Matrix, die auf die Zeit Wiens als Haupt- und Residenzstadt der Habsburgermonarchie zurückführt. In der »longue durée« der Großstadt Wien firmieren die Jahre nach 1945 denn auch als »Wiederaufbau« – ein zunächst im materiellen Sinn gemeinter Begriff für die Beseitigung der Kriegsschäden und der Versorgungsnot, der allerdings zur Allegorie geworden ist, um heute ein Ensemble politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller und nicht zuletzt mentaler Verhältnisse zu bezeichnen.24 Diesem Ensemble eine kohärente Form zu setzen, war erst- und letztmals dem Kunsthistoriker Hans Tietze gelungen. In »Wien. Kultur/Kunst/Geschichte« (1931) war es ihm mit der zwischenzeitlich diskreditierten Methode der Kultur- oder Humangeografie gelungen, ein aus »völkischen« Eigenarten einer autochthonen »bairischen« Bevölkerung, katholischem Universalismus, fürstlichem Kunst-Kosmopolitanismus und der von seiner geografischen Lage her vorgezeichneten Funktion einer Handels-Transitstadt das »Wesen« der Stadt, eine durch Zeiten und Wandel beharrende Individualität Wiens zu konstruieren.25 Für das volle semantische Register des Begriffs »Wiederaufbau« bleibt von Tietzes Schau seine überraschende Erkenntnis relevant, wonach Wien am Ende der Habsburger-Herrschaft eine »fertige Stadt« geworden sei – unfähig, und dies in Tietzes Sicht mit gutem Grund und zu ihrem Besten, zur weiteren territorialen Expansion, zur Erfindung neuer urbaner Praktiken, zur Umarbeitung der Bedürfnisse und Nachfrage seiner (nunmehr provinziellen) Umwelt zu neuen künstlerischen und intellektuellen Lösungen ; erschöpft auch hinsichtlich des Wachstums seiner Bevölkerung. Diese ans Ende ihrer Entwicklung gekommene Stadt konnte sich aber noch vollenden, und für Tietze war sie das auch im Begriffe zu tun – nämlich durch den Kommunalen Wohnbau und die ihm angeschlossene Fürsorge- und Sozialpolitik des »Roten Wien«. Tietzes Urteil, dem sich wohl die meisten seiner Zeitgenossen anschließen konnten, wurde erst von den nationalsozialistischen Machthabern radikal revidiert, die eine massive Gebietserweiterung zur Schaffung von »Groß-Wien« anordneten ; sie entwickelten als erste ein »Leitbild«, das Wien zur expandierenden Zentralstadt 363
siegfried mattl für Südosteuropa führen sollte.26 Tietzes Resümee, das indes mehr Tiefenstruktur aufwies, implizierte jedoch eine völlig neue und paradoxe kollektive Mentalität. Es repräsentierte eine Umkehr im Zeitbewusstsein, wodurch anstelle der Zukunft die Vergangenheit als Handlungsraum bestimmt wurde. Mit dem Begriff des »Wiederaufbaus« korrespondiert dieses Zeitbewusstsein in mehreren Hinsichten. Zum einen wurde die Wiederherstellung der Repräsentationsräume historischer Kulturen hauptsächlicher Zeichenträger der Wiederkehr städtischer Normalität. Zum anderen sedimentierten die mannigfaltigen gesellschaftlichen Tätigkeiten im »Roten Wien«, die zivilgesellschaftlichen Praktiken der Mitglieder und Funktionäre von Berufs-, Freizeit-, Bildungs- und sozialpolitischen Vereinen wie informellen Gruppen und die mannigfaltigen Ideen, die sie motiviert hatten, zum administrativen Überbau und zur verwaltenden Norm. Die Überführung der sozialen Experimente des »Roten Wien« in eine weitere, vorerst letzte historische Schichtung der Stadt ermöglichte es auch, die gravierenden Veränderungen zu überblenden, die sich im »Wiederaufbau« vollzogen ; sie begünstigte auch die Verdrängung des nationalsozialistischen Regimes und seiner massiven Einwirkungen auf das gesellschaftliche Netzwerk der Stadt. Die Verfolgungen im Nationalsozialismus, an erster Stelle die Vertreibung der rund 200.000 (wie problematisch auch immer diese »Identifizierung« ist) Juden, weiters der forcierte Assimilierungsdruck auf die Wiener Tschechen, hatten die ethnische, die ethno-kulturelle und die ethno-ökonomische Zusammensetzung Wiens und damit eine der hauptsächlichen Quellen ihres Metropolen-Status zerstört.27 Die im »Wiederaufbau« – exakt : im öffentlich dominanten Diskurs des »Wiederaufbaus« – erfolgende Selbst-Historisierung Wiens, die Monumentalisierung der sozialen Geschichte in den »historisch wertvollen« Architekturen und früheren künstlerischwissenschaftlichen Werken verknüpfte sich auf friktionsfreie Weise mit der unspektakulären Transformation der sozialräumlichen Struktur : Mit dem »Wiederaufbau« setzte die Auflösung des traditionellen, sozial und kulturell heterogenen gründerzeitlichen Gefüges von verdichteten Wohn-, Versorgungs- und Arbeitsquartieren zugunsten einer Trennung nach Funktionen ein. Die systematisch angestrebte, wenngleich nur bedingt erfolgreiche Umwandlung des für divergente Alltagspraktiken offenen Straßenraums in eindimensionale Verkehrsadern reduzierte die mit dem Begriff »Urbanität« verbundene Vielzahl an intendierten und spontanen sozialen Interaktionen und förderte die Homogenisierung des sozialen Lebens, genauer gesagt : Sie schloss die feinteilige Differenzierung der Bevölkerung nicht aus, aber sie schränkte die Möglichkeiten ein, die Unterschiede zu erleben und auszuverhandeln. In der Sprache der modernen Stadtplanung lautete das Ideal »die aufgelockerte Stadt«. Sozialhygienische und demokratische Argumente flossen hier ineinander. Sie hatten der in den 1920er-Jahren forcierten Reformpolitik ein ambivalentes Gepräge verliehen. Das Vokabular und die Methodiken des beginnenden »social enginee364
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt ring« führten ein biopolitisches Potenzial mit sich, das sich grundsätzlich gegen die Diversität des urbanen Lebens richtete. (Es fand sein erstes kompaktes, ins Totalitäre gewendetes Programm in der nationalsozialistischen Stadt- und Regionalplanung, die ständische Raumgliederungen mit der Politik der »ethnischen Säuberung« verknüpfte.) Modellhaft formuliert : Die Elementarisierung der Lebensbereiche und ihre Organisierung in präzise definierten Räumen -– Siedlungen, Industriezonen, Verwaltungs- und Dienstleistungsviertel, Kulturbezirke, Erholungslandschaften – eröffneten ein größeres Maß an Kontrolle über die Bevölkerung und die Verwandlung von Politik in technokratische Planung. Verbunden damit war der Wunsch nach einer sozialen und kulturellen Konformität, die an die statistischen Typen heranführen konnte, wie sie großmaßstäblicher Planung zugrunde liegen.28
Soziale Dystopien und »Weltstadt« Der im Auftrag der Stadtverwaltung 1952 gedreht Film »Stadt am Morgen«29 legt allerdings nahe, dass dies nicht ohne radikalen Eingriff in das imaginäre Bild der Stadt geschehen konnte. In einer bemerkenswerten Einstellung zu Beginn des Films konfrontiert uns die Kamera mit Bildern, die aus den Slums von »Dritte-WeltStädten« stammen könnten. Eine halbbekleidete Frau geht, einen Wassereimer in der Hand, durch eine Zeile von Holzbaracken. Frauen mit Kindern auf dem Arm schlendern müde den staubigen Weg durch eine wilde Gras- und Hügellandschaft entlang, Männer sitzen untätig am Wegrand. Wäsche flattert auf einer Wäscheleine, ein streunender Hund läuft durchs Bild. Im Hintergrund scheint eine alleinstehende graue Mietkaserne auf. Rauchende Schlote und ein Fabrikgelände kommen in den Blick. Mit zwei, drei Schnitten und langsamen Schwenks, die einer Plansequenz angenähert sind, wird dieses Bild zu einer chaotischen Industrielandschaft verdichtet : ein vielfach überbautes Gebäudegewirr, dessen rauchende Kamine die Sonne verdunkeln. Dieses wild gewachsene, exotische Stadtviertel, so macht der Kommentar aus dem Off klar, ist entstanden, weil hier Planung fehlte und soziale Einsicht – es ist ein Stadtviertel wilder Siedler, die mit der Zerstörung des Grünraums nicht nur sich selbst schaden, sondern auch der Stadt, da sie ihr das »natürliche« Wachstumsgebiet rauben. Das Wien von »Stadt am Morgen« droht, von Dystopien infiziert und zersetzt zu werden. »Stadt am Morgen« hat mit dem Wien von Roman Karmens »Botschafter« wenig gemein. Hier treffen wir auf eine Stadtfigur, die auf das Äußerste reduziert ist : auf das Wohnen und auf den Verkehr. Beides sind Probleme, die künftig zu lösen die Aufgabe der Protagonisten des Films ist – der Stadtplaner, der Planungs-Ingenieure, die in einsamer Büroarbeit am Reißbrett die effektivsten Straßen und die optimalen 365
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Abb. 1: Stadt am Morgen
Abb. 2: Stadt am Morgen
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Abb. 3: Wien 1963
Abb. 4: Wien 1963
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Abb. 5: Wien 1963
Lagen für neue Siedlungen entwerfen. Stilistische Anleihen bei der britischen Dokumentarfilmtradition der Grierson-Schule, beim italienischen Neorealismus wie beim film noir – die stummen körperlichen Gesten, das Spiel mit Licht und Dunkel – unterstützen die Tendenz des Films, die Menschen der Stadt auf das Kreatürliche und die bloße leibliche Existenz zu reduzieren. Das großstädtische Leben der Einkaufsstraßen, der Cafés, der Kultur- und Vergnügungs-Etablissements ist ausgelöscht, es findet nur noch als ferner Abglanz in den gemeindeeigenen »Häusern der Begegnung« statt, die immerhin vom Charme amateurhaft gestalteter Auslagen Zeugnis ablegen. Etwas Gespenstisches liegt über diesem Wien, das schon von der Tonspur ausgeht : ein unsichtbarer, alles wissender Sprecher, der Metamorphosen durchwandert und zur klagenden Stadt selbst wird. Die anonymen Frauen aus der wilden Siedlung, die in ihren Bewegungen mehr Schatten gleichen als lebendigen Menschen, finden ein merkwürdiges Pendant in den Bewohnern der neuen lichtund luftdurchfluteten Siedlungen, aus denen das neue Wien bestehen soll. Auf ihren Balkonen im Liegestuhl, isoliert von anderen Menschen und von jeglichem sozialem Geschehen, gleichen sie Robotern. Oder Gefangenen. Nur die Kinder beim Spiel 368
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt im Kindergarten und die Alten beim Kartenspiel in den Lauben des Gemeindebaus erwecken den Eindruck von Lebendigkeit, wenngleich in einem durch Zäune und Mauern eingehegten Raum. »Stadt am Morgen« zählte zu einer Serie von Filmen, die den gemeinsamen Arbeitstitel »Sozialer Wohnbau« trugen. Auf eine paradoxe Art und Weise zielten diese Filmbilder aber weder auf die Visualisierung schichten- und klassenspezifischer Ungleichheit, wie dies dem Bildprogramm des »Roten Wien« zugrunde gelegen hatte, sondern auf die Eliminierung jeder Idee von partikularen Gemeinschaften, ja von Gemeinschaft überhaupt. Es hat den Anschein, als sollte auch noch jede Reminiszenz an die Kollektivität getilgt werden, die den Gemeindebau des »Roten Wien« gestützt hatte, nicht anders wie die Erinnerung an die metropolitane Tradition verbannt wurde. Selbst die tief verwurzelten Zeichen historischer Identität, die als Arenen vergangener Auseinandersetzungen um Macht und Repräsentation angesprochen werden konnten, wurden umgangen. So vermeidet der Film, während er die eben fertiggestellten Rolltreppen bei der Opernkreuzung unter dem planerischen Gesichtspunkt der Beschleunigung und Effizienzsteigerung des Straßenverkehrs präsentiert, auf exemplarische und signifikante Weise das soziale Geschehen und die sonst obligatorische repräsentative Kadrierung des Opernhauses. Die Vergangenheit Wiens und deren Schichtung wird exklusive als Bürde eines anonymen Geschehens erfasst, nämlich als lichtloser, stickiger Hinterhof, auf dessen schmutzigem Grund Kinder ihre Spiele treiben müssen. Nur der eingangs vollzogene und am Ende des Films wiederholte Schwenk über die Dachlandschaften der Innenstadt spielt nochmals mit der Lokalität und der Individualität Wiens, ohne ihr allerdings einen Eigenwert zuzuerkennen. In seiner Grundaussage stellte der Film eine Stadt ohne Eigenschaften vor. Das neue Stadtregime, das sich nach 1945 – transnational – im modernen Stadtplanungsdiskurs und den Stadtentwicklungsstrategien abbildete, schien mit der zuvor genannten Selbst-Historisierung Wiens durchaus kompatibel zu sein. Mit Ende des »Wiederaufbaus« trat eine neue Formel auf, die das Moment der Rückkehr wie selbstverständlich stark machte : »Wien wird wieder [sic !] Weltstadt«. Das Textdokument, das diese nachfolgend auch in Werbekampagnen umgesetzte Parole präsentierte, kann mit gutem Grund als neues Leitbild angesprochen werden. Es fasste wirtschaftliche, demografische, kulturelle und geografische Aspekte zu einem Maßnahmenkatalog zusammen, der die Investitionspolitik der Stadt in die verschiedenen Formen ihres »Kapitals« steuern sollte. Der Kerngedanke dieses Leitbildes kann folgendermaßen umrissen werden : Wien sollte im Verbund mit der Linzer und obersteirischen Hüttenindustrie eine eisenverarbeitende Industriestadt werden, die sich zentral auf den zum europäischen Zentralhafen auszubauenden Wiener Hafen stützen würde. Als drittes Fundament sollte die Energiewirtschaft – Donaukraftwerke und Erdölindust369
siegfried mattl rie – forciert werden. Neben den Industriezonen an der Donau sollte die Entwicklung der Stadt vorwiegend im Süden zur »Stadtlandschaft« vorangetrieben werden, die das gewerbliche und industrielle Potenzial im Umkreis der »Ergänzungsstädte« Bruck a. d. Leitha, St. Pölten und Wiener Neustadt zu erschließen gehabt hätte. Das wichtigste Projekt der auf das Gesamtvorhaben berechneten Verkehrsinfrastruktur sollte die Errichtung eines Flug-Großhafens im Marchfeld sein. Die Planungsphilosophie hinter »Wien wird wieder Weltstadt« führte teils das nationalsozialistische Leitbild weiter, insbesondere was die Konzentration auf den Wiener Hafen als Träger der Stadtökonomie und der Industrialisierung anlangte. Teils reagierte sie auch auf die Industriegründungen nach 1938 wie etwa auf den Ausbau des »Industriehorstes Liesing« im Zuge der Gründung der »Flugmotorenwerke Ostmark« und die als Torso hinterlassenen Großvorhaben Donau-Oder-Kanal und Reichsautobahn. Auch die geopolitische Fundamentierung der Funktionsbestimmung Wiens als »zentraler Ort« für Südosteuropa wurde von der nationalsozialistischen Großraum-Politik übernommen ; freilich reichten die einzelnen Bausteine dieses Konzeptes in die Zeit weit vor der ns-Machtübernahme zurück. Allerdings unterschied sich die Prioritätensetzung von »Wien wird wieder Weltstadt« von der nationalsozialistischen Planung entschieden dadurch, dass sie die Industrialisierung der Stadt forcieren wollte. Die Nationalsozialisten beabsichtigten, ehe der Kriegsverlauf zur Verlagerung der Rüstungsindustrie in den Wiener Raum führte, den Ausbau der »Funktion« Wiens als Handels-, Handwerks- und Dienstleistungsstadt. Sie begründeten dies mit der Berufs- und Betriebsstättenstruktur, dem hohen Anteil qualitativ hochstehender, indes kleinbetrieblich produzierender Unternehmen, die gehobene Konsumgüter herstellten. Gerade vor rivalisierenden Wien-Konzeptionen der ns-Zeit – Mode-, Messe- oder Kultur-Stadt – tritt hervor, dass die »Weltstadt Wien« 1955 als außenwirtschaftlich orientierte Ökonomie basierend auf transnational tätigen Industriekonzernen gedacht worden ist. Der Rückbezug auf den Nationalsozialismus soll keine vordergründige Kontinui tät suggerieren. Die Weltstadt-Konzepte aus 1955 könnten ebenso als – allerdings nicht-reflexive – Bruchlinie analysiert werden, mit der auf die vergangene ns-Herrschaft reagiert wurde. Gerhard Meißl hat in einem Essay zur sozioökonomischen Entwicklung Wiens eindrucksvoll beschrieben, wie nach 1945 das us-amerikanische Modell des »Fordismus«, mit seinem Herzstück der großindustriellen Massen- und Massenkonsumgüter-Produktion, als demokratische Alternative zur ns-Kriegswirtschaft verstanden worden ist.30 Weiters sind aktuelle Problemzonen zu beachten, die zu den Überlegungen beigetragen haben müssen. Die Besatzungszeit und die alliierte Zonen-Bildung hatten zu einer drastischen Abwanderung der Industrien aus dem Osten Österreichs in den Westen geführt, während mit Abschluss des Staatsvertrages die sowjetisch kontrollierten Betriebe in und um Wien – und hier insbe370
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt sondere die Erdölindustrie – übernommen und reorganisiert werden mussten.31 Im neuen, nach »Blöcken« geteilten Europa und durch die Begründung der kommunistischen Zentralwirtschaftssysteme war die Option unrealistisch geworden, zentraler Finanz- und Dienstleistungsplatz für Südosteuropa zu bleiben ; ebenso schwand aber auch die Chance, zentraler Standort für die Verarbeitung südosteuropäischer Agrarprodukte zu werden, wie dies die ns-Planungen für das Gebiet um den Handelshafen vorgesehen hatten. Insofern konnte die grundlegende Umorientierung durchaus vorteilhaft sein, Wien in die regionale Ökonomie einzubauen, statt an der Vision eines imperialen Zentrums festzuhalten. Bedeutsam, um auf die oben genannte Sedimentierung sozialer Aktivitäten in administrative Normen zurückzukommen, ist aber die (zunächst theoretische) Einbettung der Bevölkerungspolitik in dieses Konzept. Als erstes berührt dies den der demografischen Situation zugewiesenen Stellenwert. »(D)ie bevölkerungsbiologische Struktur Wiens«, so hieß es in einer nach den Gräuel der nationalsozialistischen Rasse-Politik befremdenden Sprache, »ist gegenwärtig durchaus ungünstig und es bedarf ernsthaftester grundsätzlicher Anstrengungen, um ein weiteres Abgleiten des Bevölkerungsgefüges von Wien zu verhindern. Wenn den so ausgezeichneten geopolitischen Möglichkeiten des Wiener Raumes eine so geschwächte bevölkerungsbiologische Entwicklung gegenübergestellt ist, so wird dieser Umstand weitgehend alle Planungs- und Entwicklungsüberlegungen für das Wien von morgen beeinflussen müssen.« Und weiter : »Die Geschichte lehrt, dass dort, wo ein bevölkerungsbiologisches Vakuum eintritt, mit atomarer Kraft andere Bevölkerungskreise einsickern [sic !], die die wirtschaftlich nicht ausgenützten Möglichkeiten von sich aus wahrnehmen. Sollen die Wiener zusehen, wie sie aus ihrem ureigenen Lebensraum durch biologisch kräftigere Bevölkerung verdrängt werden ?«32 Dieses in einem denkbar ungünstigen Verhältnis zum Anspruch auf »Weltstadt« stehende Argument bereitete in einem Syllogismus die kardinale Interessenpolitik der Stadtverwaltung auf : Schuld tragend an der diagnostizierten ungünstigen demografischen Entwicklung sei die schlechte Wohnstruktur und -substanz, die ein Erbe der Gründerzeit sei. Eine »gesunde, natürlich gefügte, wohlproportionierte Gesellschaft« könne nur aus der Beseitigung der bestehenden zu dichten und schlechten Verbauung im geschlossenen Stadtgebiet und dem Wohnbau auf Grünland in offener Bauweise hervorgehen. Der 1958 zum Planungsstadtrat ernannte prominente Architekt Roland Rainer gab dieser Willensbekundung eine Form. Sein »Städtebauliches Grundkonzept für Wien«33 sah die Umsiedlung von Industrie- und Gewerbebetrieben aus den Stadtlagen in Industriezonen im Süden und Osten, die in verdichteter Flachbauweise zu entwickelnde »Bandstadt« entlang der Südachse, den Abbruch von Gründerzeit-Strukturen zur Erzielung von Grünzungen im Stadtgebiet und die Errichtung von Nebenzentren mit »City«-Aufgaben in den Bezirken 371
siegfried mattl vor ; Stadtautobahnen, Schnellstraßen und Untergrundstraßenbahnen sollten die Verkehrswege effizienter machen und die Stadterweiterung begleiten. Zu den traditionsreichen Ensembles, die diesem Umbau zum Opfer fallen sollten, hätte auch der Wiener Naschmarkt gezählt, der einer Autobahn durch das Wiental weichen sollte. Das demografische Argument wurde so zur eigentlichen Triebkraft hinter dem Projekt, eine Stadt nach den Regeln des Fordismus zu entwickeln. Die mitunter spektakulär anmutenden Umgestaltungspläne dürfen nicht vergessen machen, dass es sich dabei um nichts mehr und nichts anderes als einen Diskurs gehandelt hat. Die Auseinandersetzung mit Diskursen setzt allerdings dort an, wo ihre Macht bestimmt werden soll, über das Sichtbare und das Sagbare zu entscheiden, eine scheinbare »Evidenz« davon zu erzeugen, welche räumlichen Verteilungen von Menschen und Tätigkeiten Sinn haben, und welche nicht. In besonderem Maße werden damit die visuellen und akustischen Programme relevant, die uns Wien sozusagen in unterschiedlichen Aggregatszuständen und aus verschiedenen mentalen Perspektiven her zeigen.
Asyle und Avantgarden Besonders bedeutend wird vor diesem Hintergrund ein Korpus von Wien-Filmen, das im Auftrag der Gemeinde Wien zwischen 1952 und 1964 entstanden ist.34 Diese Gebrauchsfilme präsentierten meist in Reportagestil die sozialen und kulturellen Einrichtungen der Stadt Wien (Kindergärten, Tagesheime, Altenheime, Museen, Theater an der Wien), städtische Unternehmen und Betriebe (Feuerwehr, Müllverbrennungsanlage, Straßenbeleuchtung), Verkehrsbauten und Verkehrsinfrastruktur (Unterführungen, Fußgänger-Übergänge), Neubauten (Ringturm, Stadthalle) und Parkanlagen. Das »moderne« Wien dieser Filme ist das Werk einer im Bild zumeist abwesenden Stadtverwaltung. Maßgebend ist die Sichtbarkeit einer effizienten Organisation großmaßstäblicher öffentlicher Versorgungs- und Dienstleistungen, die für eine unspezifische »Allgemeinheit« erbracht werden. Die für den Gebrauchsfilm nicht unbedingt überraschende Fokussierung auf Handlungen und Situationen, die im urbanen Alltag als Selbstverständlichkeit der Wahrnehmung entzogen sind, stellen sozialhistorisch gesehen dennoch auf drei signifikante Phänomene ab. Zum einen stellen sie den Gedanken der räumlichen Ordnung als polizeiliche Logik35 aus. Sie sprechen von einem massenpädagogischen Programm, das zur Beachtung von Vorschriften und Regeln im öffentlichen Raum insbesondere unter der Prämisse der Interesseneinheit von städtischen Institutionen und Bevölkerung auffordert. Zum Zweiten konzentrieren sie sich, sobald soziale Subjekte ins Spiel kommen, auf zwei demografische Großgruppen, auf Kinder und alte Menschen. Beide Gruppen sind 372
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt in sich weniger differenziert als andere vergleichbare Kohorten und durch eine gehemmte Aktionsfähigkeit gekennzeichnet. Sie sind damit in besonderem Maße dazu geeignet, sowohl die Fürsorglichkeit der Verwaltung als auch den Anspruch sinnfällig zu machen, eine »soziale Stadt« zu sein ; sozial freilich im Sinne des Versorgungsstaates. Der Asylcharakter von Heimen und Schulen36 schafft einen organischen Übergang zur friktionsfreien Visualisierung einer nach Funktionen geordneten Stadt. Zum dritten integriert das Bildprogramm dieser »sponsored films« die in symbolische Architekturen gebannte Moderne in die Tradition. Neubauten wie Ringturm und Stadthalle werden nicht zuletzt durch die Präsentation als baukünstlerische Solitäre in die Reihe der landmarks aufgenommen, während ihr Verweisungsgehalt auf damit einhergehende zeitgenössische Veränderungen (Dienstleistungsgesellschaft, Konsumkonzentration, Büroarbeit von Frauen) verdrängt wird.37 Ein solches Bildprogramm, das »Moderne« von Wandel abspaltet, bildet sozusagen die Kehrseite zur Bannung der historischen Tiefenschichten und ihrer Erinnerungsfunktion, die man anhand von »Stadt am Morgen« beobachten konnte. Zwei Werbefilm-Serien brechen allerdings aus dieser dem Muster des klassischen Kulturfilms folgenden Reihe von Filmen aus, auch wenn sie innerhalb des zuvor umrissenen Themenfeldes bleiben. In beiden Fällen handelt es sich um zwei- bis dreiminütige Humoresken, die rund um das Figurenrepertoire populärer Rundfunk- und Fernsehstars organisiert waren. Heinz Conrads mimte in 15 Sketches von »Du und deine Stadt« (1958) den mündigen, denkenden und vernünftigen Wiener Bürger, der die keineswegs leichte Aufgabe übernahm, sein ständig unzufriedenes und im Umgang mit den Leistungen der Gemeinde verantwortungsloses Gegenüber (den Kabarettisten Fritz Heller) zu belehren. In der zweiten Serie »Und das alles für mein Geld« (1961) spielte Hugo Gottschlich den grantigen Wiener, der keine der Maßnahmen der Gemeinde (die Pflege der Parkanlagen, die Sicherheitseinrichtungen der zuvor bereits genannten Fußgänger-Übergänge, die Benutzungsvorschriften der Straßenbahn) gelten lassen will, auch wenn seine Dummheit immer wieder bestraft wird. (Der Spot zu neuen Verkehrsampeln brachte nochmals drastisch die Asymmetrie zwischen zwei Akteuren – vernünftige Verwaltung und stereotyp unvernünftiger Wiener Bürger – zum Ausdruck, in diesem Fall die hartnäckige Resistenz des traditionalistischen Bürgers gegen die Einführung »moderner« Regeln (automatische Ampelschaltung), die in Renitenz übergeht : die Beschwerde, dass die Neuerungen auch noch durch Steuern finanziert wurden.38 Beide Serien, denen noch eine Werbefilmstaffel mit Heinz Conrads unter der Regie von Kurt Steinwender folgte39, schlossen an den spätestens 1873, zur Zeit der Weltausstellung, bereits gut etablierten Topos der »Wiener Typen« an. Obgleich zunächst an bestimmte, vom Verschwinden bedrohte Berufsgruppen (wie die Fiakerfahrer und die Blumenverkäuferin) angelehnt, repräsentierten die »Typen« ein für 373
siegfried mattl Modifizierungen und Aktualisierungen offenes Rollenrepertoire einer imaginären urbanen Folklore. Sie sind deshalb von den sogenannten »Wiener Originalen« zu unterscheiden – vor allem, wie wir später noch sehen werden, wo es dem Dokumentar- und Experimentalfilm um eine exakte Aufnahme des sozialen Raumes gegangen ist. Eingebettet in die »sponsored films« der 1950er- und frühen 1960er-Jahre weist der Auftritt der »Wiener Typen« aber auf die Ambivalenz der Modernisierung und des propagierten Fortschritts hin. Die intendierte Homogenisierung der Bevölkerung wie die Neuordnung des urbanen Raumes nach fordistischen Parametern löst jedenfalls auf der Ebene der visuellen Repräsentation ein Identitätsproblem aus oder lässt eine Lücke sichtbar werden. Auch geht der Entwurf und Plan des »neuen Wien«, der sich auf die Stadtperipherie an der Donau und im weiteren Bereich des Wienerberges erstreckt, nicht ungeteilt in die Alltagserfahrung über. Im engeren Stadtgebiet, d. h. innerhalb des historischen Stadtgebietes und der Gründerzeitviertel, ist die Mobilität gering und sind die sozialen Nahbeziehungen (einschließlich der Diversität, die sie immer schon gekennzeichnet hat) noch stark.40 In singulärer Weise kommt diese Ambivalenz in Edwin Zboneks Film »Wien 1963« zum Ausdruck. Das »neue« Wien setzt sich dramaturgisch gleich mit Beginn des Films vom Bild einer Stadt ab, das von Mumifizierung spricht. Ein letztes Mal wird das Inventar der Postkartenmotive der Ringstraßen-Ära aufgerufen : Oper, Burgtheater, Rathaus, Stephansdom als urbanes »Herbarium«, als Kultstätte des touristischen Blicks. Diesem ironischen Prolog folgt eine zehnminütige fulminante sensomotorische Bildmontage durch eine Stadt, deren einzige Eigenschaft die ist, modern zu sein – oder besser : modern (im Sinne von »zeitgemäß«) zu werden. Die Ringpassagen, die Tramway und die Schnellbahn, Baukräne und Fertigteilfabriken, Verkehrskreuzungen, der Ringturm, die Wohnhochhäuser und die Stadthalle sind die wahren Protagonisten Wiens fernab von den imperialen Zeugnissen. Der internationale Stil – ornamentlose Scheiben- und Plattenbauten mit Loggien und durchgehenden Fensterbändern – dominiert den kommunalen Wohnbau und bringt im visuellen Bezug zu zeitgenössischen Projekten wie dem Hotel »Interkontinental« am Stadtpark und dem aez am Eingang der Landstraße einen neuen Stilwillen zum Ausdruck. Der Theater- und Filmregisseur (und spätere Leiter des Filmfestivals »Viennale«) Edwin Zbonek zeigt ein hyperaktives Wien, das sich selbst aus translokalen Funktionen und Regeln aufbaut ; eine Maschine Le Corbusier’schen Zuschnitts, die permanente und ungestörte Bewegung zwischen funktionalen Orten zu garantieren hat. In dieser internationalen Stadt kann der Film endlich zu sich selbst kommen. Er ist der neue Sinnesapparat, der die Flüsse und Ströme von Menschen, Dingen und Ideen erfassen und gestalten kann. »Wien 1963« beendet die Gewohnheit, die Stadt nach markanten und fixen Orientierungspunkten zu ordnen. Modern sein heißt hier neu sehen lernen. Die Wahrnehmung wird durch rasche rhythmische Schnitte und 374
filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt phantome rides auf das Spektakuläre des scheinbar trivialen Stadtalltags orientiert. Der von Carl de Groof komponierte Filmscore unterstützt mit Jazzparaphrasen und grazilen, tänzelnden Motiven zeitgenössischer Klassik das Vorwärtsdrängen der Filmbilder. Geradezu diabolisch nehmen sich in diesem forcierten Bewegungsbild jedoch Sequenzen aus, die einen Riss markieren – einen Bruch im Rhythmus wie in der Tonspur. Etwa zur Mitte unterbricht der Film seine Richtung und führt in den Blindengarten im Wertheimsteinpark. Die eintretende Stille verstärkt den Eindruck, der von den tastenden Händen der blinden Parkbesucher ausgeht. Sie sind von den genuinen visuellen Freuden an der neuen Stadt ausgeschlossen, die durch das sensomotorische Band zwischen filmischem Apparat und Bewegungsflüssen hergestellt werden. Doch das Bild oszilliert. Die haptische Sinnlichkeit der Blinden, die Blumen und Sträucher berühren und ihren Duft einatmen, die mit ihren Stöcken die unterschiedliche Beschaffenheit der Wege und Wiesen ertasten, die sich zu gemeinsamen Spielen zusammenfinden oder auch nur in Sonnenstühlen die Wärme genießen : Verweisen ihre Handlungen nicht auch auf den Verlust von Erfahrungsmöglichkeiten und auf den Rückzug der voll entfalteten menschlichen Sensibilität in Refugien und Asyle ? In jedem Fall sind die Blinden (neben den Kindern, die gleichfalls eingeschlossen sind41) die einzig wirklich aktiven Menschen, sowohl in der Aneignung des Raumes als auch in ihrem gemeinschaftlichen Leben. Die anderen sind nicht mehr als Passanten, die sich an die materiellen Prozesse und Strukturen der modernen Stadt zu adaptieren haben, bestenfalls Konsumenten städtischer Dienstleistungen. In die radikale Monotonie und reine Gegenwart des fordistischen Stadtprojekts von »Wien 1963« stürzt ein Jahrzehnt später Ernst Schmidt jr.’s »Wienfilm 1896– 1976« geradezu herein.42 Der Filmkritiker Bert Rebhandl kommentiert : »Die Stadt, die Ernst Sc