Wien seit 1945 - die Metamorphose einer Stadt 9783205789970, 9783205987857

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Wien seit 1945 - die Metamorphose einer Stadt
 9783205789970, 9783205987857

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geschichte der österreichischen bundesländer seit 1945 Herausgegeben von Herbert Dachs · Ernst Hanisch · Robert Kriechbaumer

Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, herausgegeben von Robert Kriechbaumer, Franz Schausberger, Hubert Weinberger Band 6/9

Michael Dippelreiter (Hg.)

W ien Die Metamorphose einer Stadt

2013 böhlau verlag wien · köln · weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Bundesministerium für Wissenschaft Forschung in Wien

MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: Von links nach rechts: Kriegsschäden (© Wien-Bibliothek, Nachlass Viktor Matejka), Weihnachtsfeier im BKA 1945 (© Karl von Vogelsang-Institut), Straßenbahner, Museumsquartier (© WStLA [Wiener Stadtund Landesarchiv], Fotosammlung, media wien).

© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Corinna Salomon Umschlaggestaltung: Tino Erben, Cornelia Steinborn Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: UAB Balto Print, 08217 Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-205-98785-7

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Dippelreiter: Wien in der ersten Hälfte des Jahres 1945 . . . . . . .

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ii

Martin Dolezal: Die politische Entwicklung Wiens . . . . . . . . . . . . .

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iii

Peter Eigner · Andreas Resch: Wirtschaft und Stadt : Ökonomische Entwicklungsprozesse in Wien von 1945 bis 1995. . . . . .

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Franz X. Eder: Vom wirtschaftlichen Mangel zum Konsumismus. Haushaltsbudgets und privater Konsum in Wien, 1918–1995 . . . . . . .

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v

Ulrike Renner: Wienkultur 1945–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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vi

Günther Fleck: Die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der Stadt Wien seit Ende des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . .

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Siegfried Mattl: Filmgeschichte als Sozialgeschichte der Stadt Wien nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

viii Andreas Weigl: Demografischer Wandel in Wien von 1945 bis in das ausgehende 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Rigele: Mehr, mehr, mehr. Energie und Verkehr in Wien 1945–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

445

Irene Bandhauer-Schöffmann: Ernährungsverhalten und Kochkultur in Wien. Essen, Kochen, Lebensmittelnahversorgung und Gaststättenwesen in der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Irene Etzersdorfer: Die Wiener jüdische Gemeinde nach 1945 – eine heterogene Schicksalsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

593

Ulrike Steiner: Architektur in Wien nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . .

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iv

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ix

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xi

xii

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inhaltsverzeichnis xiii Matthias Marschik: Eine (Miss-)Erfolgsgeschichte. Fußball in Wien/Sport in Österreich, 1945 bis 1995 . . . . . . . . . . . . .

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Elisabeth Ponocny-Seliger: Benennung öffentlicher Verkehrsflächen seit 1945. Wiens Frauen im Schatten berühmter Männer . . . . . . . . . .

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Erwin A. Schmidl: Wien als internationales Zentrum . . . . . . . . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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xv

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Einleitung

M

itte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts entstand die Idee, in der HaslauerBibliothek ein großangelegtes mehrbändiges Werk über die »Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945« in Angriff zu nehmen. Geplant waren neun Bücher über die einzelnen Bundesländer sowie zwei Zusatzbände. Herausgeber waren rasch gefunden, diese konzipierten ihre Bände und suchten geeignete Autorinnen und Autoren. Relativ schnell erschienen die ersten Bände und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts lagen sieben Bundesländer- und die beiden Zusatzbände vor. Beim Wiener Band »spießte« es sich etwas  : Die Herausgeber hatten sich ein hohes und ambitioniertes Ziel gesetzt, welches letztlich nicht erfüllt werden konnte. Die Gesamtherausgeber der Reihe fragten schließlich den jetzigen Herausgeber, ob er sich vorstellen könne, den Band »Wien« neu zu konzipieren und die Herausgeberschaft zu übernehmen. Nach einer längeren Überlegungsphase wurde zugesagt, eine ungefähre Themenauswahl vorgenommen und mit möglichen Autorinnen und Autoren Kontakt aufgenommen. Einige wenige Artikel des ursprünglichen Konzepts konnten nach einer Überarbeitung übernommen werden, die meisten Beiträge wurden aber völlig neu erarbeitet. Im Sinne der Fairness gegenüber den übrigen Herausgebern bzw. Verfasserinnen und Verfassern der bereits erschienenen Bände wurde vereinbart, die Themen nur bis zum Jahr 1995 ausführlich zu behandeln, für die Zeit danach jedoch einen Ausblick zu bringen. Das relativ enge Zeitkorsett, welches für den Herausgeber und die Autorinnen und Autoren vorgegeben war, ermöglichte zwar die Erforschung neuer Themenbereiche, konn����������������������������������������������������������� te aber nicht den nötigen Zeiteinsatz für intensive Archivarbeit ermöglichen. Durch Krankheitsfälle und familiär bedingte Schwierigkeiten einzelner Autorinnen und Autoren war es nötig, für einzelne Bereiche neue Bearbeiterinnen und Bearbeiter zu suchen und finden, welche dann natürlich unter noch größerem Zeitdruck agierten. Zwei Artikel konnten wegen des beruflichen Drucks eines vorgesehenen Autors nicht abgeschlossen werden  ; ein längeres Zuwarten wäre aber nicht mehr zu verantworten gewesen. Alles in allem ist ein umfangreicher Band entstanden, in dem sich Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Fachbereichen (Geschichte, Politologie, Psychologie) in den verschiedensten Herangehensweisen ihren Themen nähern. Der Herausgeber beschreibt in seinem Beitrag die (Lebens-)Verhältnisse in Wien im ersten Halbjahr 1945  ; sowohl auf den nationalsozialistischen Terror als auch auf den Widerstand in der Bevölkerung wird eingegangen. Bislang unbekannte persönliche Zeitzeugendokumente werden zitiert und der – in politischer, wirtschaft7

einleitung licher, aber auch privater Hinsicht – schwierige Neuanfang der Stadt wird eingefangen. Der Politologe Martin Dolezal beschreibt die politische Entwicklung Wiens auf eindrucksvolle Weise  : Er analysiert, ausgehend von der Landes- und Gemeindeverfassung, die politischen Prozesse und untermauert seine Ergebnisse durch zahlreiche Tabellen und Diagramme. Die Einzigartigkeit der Stellung Wiens innerhalb Österreichs als Bundesland und als Gemeinde erklärt er überzeugend. Aber auch die politischen Entscheidungsmuster bis auf Bezirksebene werden dargestellt und anhand von Beispielen erklärt. Das scheinbare Fehlen einiger erläuternder Tabellen und Darstellungen erklärt sich dadurch, dass ursprünglich ein zweiter, ergänzender Artikel zur Politik vorgesehen war, der aber nicht zustandegekommen ist. Die beiden Wirtschaftshistoriker Peter Eigner und Andreas Resch überarbeiteten einen Artikel, der bereits für das erste Konzept vorgesehen gewesen war. In akribischer Weise wird die Wirtschaftsentwicklung der Bundeshauptstadt dargestellt und in ihren Auswirkungen analysiert. Dieser Beitrag ist in seinem Umfang ein wenig überlastig gegenüber den anderen Artikeln, wegen seiner Substanz kam eine Kürzung jedoch nicht infrage. Auch der Beitrag von Franz X. Eder war schon für das erste Konzept erstellt worden. Eder schildert das Konsumverhalten in der Stadt, vom wirtschaftlichen Mangel bis zum heutigen Überfluss. Er beschreibt die Veränderung der Lebensgewohnheiten, die mit den geänderten Konsummöglichkeiten korrelieren. Die Theaterwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Ulrike Renner nimmt sich der Kultur in Wien an und erläutert am Thema »Festwochen« ausgehend von sehr persönlichen Erfahrungen deren Werdegang und Erfolg – als Beispiel der »Erfolgsgeschichte« der Kultur in Wien insgesamt. Auch der Psychologe Günther Fleck wählt einen sehr persönlichen Zugang, um die Entwicklung des tertiären Bildungssystems in Wien nachzuzeichnen. Dabei beschreibt er die Universität nach dem Humboldt’schen Bildungsideal bis Ende der 60er-Jahre ebenso wie die Änderungen durch mehrere Universitätsreformen bis zum heutigen »Bologna-System«. Auf die Entstehung der Fachhochschulen vergisst er ebenso wenig wie auf die Skizzierung einiger außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, deren Niedergang er wahrzunehmen glaubt. Einen besonderen Beitrag hat Siegfried Mattl gestaltet  : Er skizziert eine kurze Sozialgeschichte anhand von Filmen  ; dafür untersucht er Filme, die im Auftrag der Stadt Wien oder des Fremdenverkehrsamtes entstanden, auf deren Bilder und Klischees und zieht daraus seine Schlüsse – ein Ansatz, der nachahmenswert erscheint. Andreas Weigl beschreibt in seinem Aufsatz die demografische Entwicklung der Bundeshauptstadt. Durch umfangreiche statistische Materialien unterstützt, zeichnet er den Weg von Bevölkerungsstagnation – ja sogar Rückgang – nach bis zum 8

einleitung leichten Wachstum, welches hauptsächlich durch Zuzug von Gastarbeitern und Flüchtlingen erklärbar ist. Den Bereich »Energie und Verkehr« deckt Georg Rigele durch seinen Aufsatz ab. Der Autor ist der Spezialist für dieses Thema und hat in seinem Beitrag umfangreiches Material zusammengetragen, welches auch den kundigen Leser immer wieder in Erstaunen versetzt. Die Zeithistorikerin Irene Bandhauer-Schöffmann untersucht in ihrem Artikel (auch aus dem ersten Konzept) »Ernährung und Kochen« in Wien. Die Entwicklung des Gaststättenwesens wird dabei ebenso untersucht wie die Lebensmittelnahversorgung oder die Kochgewohnheiten der – hauptsächlich – Wienerinnen. Irene Etzersdorfer versucht in ihrem Beitrag, den schwierigen Neubeginn der Wiener jüdischen Gemeinde nach 1945 nachzuzeichnen. Ausgehend von den komplizierten Verhandlungen über die Vermögensfrage, den Rückerstattungen, bis hin zu den psychischen Belastungen der Überlebenden des Holocaust, werden verschiedene grundlegende Probleme der jüdischen Gemeinde und auch der Kultusgemeinde angesprochen. Einen großartigen Beitrag über die Entwicklung der Architektur liefert die Kunsthistorikerin Ulrike Steiner. Der Überblick über Architekten und deren Bauwerke in Wien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bringt eine Sicht auf die Bemühungen der Künstler, aber auch der Bauherren, Wien einen modernen Touch zu verleihen. Als »wichtigste Nebensache der Welt« wird der Sport angesehen. Matthias Marschik nimmt den Fußballsport als Beispiel und vergleicht ihn österreichweit mit anderen Sportarten, vor allem mit dem Skisport. Die Psychologin Elisabeth Ponocny-Seliger kümmert sich in ihrem Beitrag um die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum. Sie hat die Benennung von Straßen und Plätzen nach Frauen im besagten Zeitraum untersucht und dabei langsame Fortschritte für die Gleichstellung beobachten können. Der letzte Artikel, gestaltet von Erwin Schmidl, befasst sich schließlich mit der Stellung Wiens als Sitz internationaler Organisationen. Schmidl beschreibt den Werdegang Wiens als Treffpunkt der internationalen Diplomatie bis hin zum institutionalisierten Sitz der verschiedensten internationalen Organisationen. Das vorliegende Werk versteht sich ausdrücklich nicht als eine »Geschichte der Bundeshauptstadt Wien seit 1945«. Vielmehr will das Buch zum Nachdenken anregen und Lust auf weitere Forschungen machen. Ein Themenfeld wie dieses kann nur in Teilaspekten erörtert werden, und auch diese können niemals den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Autorinnen und Autoren und natürlich auch der Herausgeber haben bewusst Lücken in Kauf genommen in der Hoffnung, dass junge Fachkolleginnen und -kollegen daraus Anregungen schöpfen und neue Themen be9

einleitung handeln werden. Ebenso hoffen wir, dass öffentliche Stellen solche weiterführenden Forschungen fördern können und wollen, damit weitere Prozesse der Geschichtsaufarbeitung unserer schönen Stadt möglich sind. Abschließend soll noch der Haslauer-Bibliothek gedankt werden für die Idee des Gesamtwerkes und die Bemühung um die Finanzierung sowie dem Böhlau-Verlag für die – wie immer – hervorragende Herstellung des Bandes. Größte Anerkennung gebührt jedoch den Autorinnen und Autoren, die unter erschwerten Bedingungen ihre Beiträge in kurzer Zeit fertigstellen mussten  : Sie und ihre KorrekturleserInnen haben hervorragende Arbeit geleistet und große Geduld bewiesen  ! Wien, im September 2012

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mich ael dippelreiter

Wien in der ersten Hälfte des Jahres 19451

Z

u Beginn des Jahres 1945 zeichnete sich die Niederlage der deutschen Armee immer deutlicher ab. Trotz Durchhalteparolen der nationalsozialistischen Machthaber war wohl jedermann klar, dass sich das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft abzeichnete. Doch stellte die immer stärker werdende Bombardierung der alliierten Luftstreitkräfte eine große Bedrohung der Zivilbevölkerung dar. »Mit Jahresbeginn 1945 versuchten die Amerikaner von den Russen Flugplätze in den durch die Rote Armee besetzten Staaten Osteuropas zu bekommen. Das Ansinnen wurde im Zusammenhang damit gestellt, dass Wien nunmehr einem ununterbrochenen Bombardement unterzogen werden müsste und dafür zu weit von den süditalienischen Basen entfernt sei.«2 Die Bombenangriffe, die seit Herbst 1944 fast täglich gegen verschiedene Ziele in Wien gerichtet waren, sorgten für Angst und Verzweiflung bei der Bevölkerung. Die Behörden informierten die Bevölkerung über das »richtige Verhalten« bei Luftangriffen, sowohl durch Plakate als auch in den Zeitungen. Die Luftangriffe wurden als »Terrorangriffe« gegen die zivile Bevölkerung klassifiziert. Wie sehr diese Terminologie auch bei den Menschen gegriffen hat, zeigt ein Brief der in Wien verbliebenen jüdischen Krankenschwester Mignon Langnas vom 18. Jänner 1945 an ihre Schwester  : »Am 15. d. M. hatten wir einen greulichen Terrorangriff, dessen Ziele nur Privathäuser waren + dessen ›Erfolg‹ Verzweiflung + Verarmung der Zivilbevölkerung ist …«3 Mittlerweile rückten die alliierten Truppen immer näher an die österreichischen Grenzen heran. Zur Beruhigung der Menschen setzten die politischen Funktionäre Zeichen, welche ihre Entschlossenheit zur Abwehr der Feinde dokumentieren sollten. So konnte man unter der Überschrift »Einsatz zum Schutz der Heimat. Politische Leiter beim Schanzen« unter anderem lesen  : »Es sind 34 Politische Leiter aus allen Kreisen des Gaues Wien, die in zwei Klassenräumen einer Schule ihr Quartier bezogen haben. Aus den ausgeräumten Zimmern machten sich die Männer anheimelnde Stuben.« Und weiter  : »Um halb vier Uhr früh ist Aufstehzeit für die Kolonnenführer. Sie übernehmen die Wallarbeiter in ihren Quartieren und bringen sie zur Abfahrtstelle. Der Marsch zur Baustelle wird zu Fuß zurückgelegt. Der Aufsichtsdienst an den Gräben ist durchlaufend, bei jedem Wetter, ob Regen, ob Schnee, ob Wind. Menagiert wird im Freien. Trecks bringen die Kanister von den Großküchen.«4 Die Tatsache, dass diese Parteibonzen Arbeitstrupps beaufsichtigten, die hauptsächlich aus Kindern und alten Männern, aus kz-Häftlingen, aus verschleppten Zwangsarbeitern und Juden bestanden, wurde nicht erwähnt. 11

michael dippelreiter »Der Entschluss Wien unter allen Umständen zu verteidigen, wurde schon im Spätherbst 1944 gefasst. Hitler verlangte dies sowohl von der Wehrmacht als auch von der Parteiführung und der Gauverwaltung.«5 Die uneingeschränkte Lufthoheit der alliierten Flugzeuge ab Februar 1945 und der Fehlschlag der Entlastungsoffensive der Deutschen Wehrmacht in Westungarn machten die bedrohte Lage Wiens immer deutlicher. Die Befehlshaber in Wien erkannten die aussichtslose Lage recht bald, bei den Besprechungen in Berlin wurde Optimismus vorgetäuscht, welcher auch nach außen gezeigt wurde. So ermunterte der Reichsstatthalter von Wien, Baldur von Schirach, eine Gruppe von kriegsfreiwilligen Hitler-Jungen am 10. März 1945  : »Erst vor wenigen Tagen habe ich bei einem Besuch beim Führer wieder das Wunder der Persönlichkeit erlebt. Adolf Hitler hat sich nicht verändert. … Seine erste Frage galt Wien, den Menschen und der Stadt, die er so liebt. Seine Frage galt vor allem auch der Jugend  : Wird sie sich bewähren, wird sie tapfer sein, das Schwerste auf sich nehmen  ? Ich weiß ihr werdet den Führer nicht enttäuschen  !«6 Am 15. Jänner 1945 flogen 400 Bomber einen Angriff gegen Wien. Bomben fielen auf fast alle Bezirke, brachten Häuser zum Einsturz und lösten Brände aus. Im Jänner gab es noch zwei größere Luftangriffe mit zahlreichen Beschädigungen in den verschiedenen Bezirken  ; vor allem die Gegend um den Westbahnhof wurde arg demoliert. Im Februar fanden durchschnittlich jeden zweiten Tag Bombardierungen von Wien statt, wobei der Angriff vom 13. Februar den zahlenmäßig größten darstellte. Über das Leben mit den Luftangriffen schreibt Mignon Langnas unter anderem  : »Neues Elend, neues Leid  ! Man braucht sich also keine Vorwürfe zu machen, dass man nicht zur Zeit im Keller war, – Bomben finden auch dorthin. … Ich höre, dass Leute nach dem heutigen Alarm im 10. Bezirk – geschrien haben, sie wollen endlich Frieden.« Und weiter  : »Mir ist so bang + alles ist so unfassbar schwer. Täglich Alarm, – täglich stundenlang im Keller – das ganze Leben wird schon so darauf eingerichtet, die Unsicherheit, das stete Bedrohtsein, lastet wie ein Alp + man wird ganz hoffnungslos.«7

Der Widerstand formiert sich Nach dem Scheitern des Attentates auf Hitler und den darauffolgenden Massenverhaftungen wurden die Widerstandsaktionen geringer. Erst im Herbst 1944 kam es zur Bildung neuer Gruppierungen, welchen einige der ehemaligen führenden Widerständler angehörten. So konnte der inzwischen zum Major beförderte Carl Szokoll seine Verbindungen zu den Organisatoren des Hitlerattentates geheim halten und recht rasch wieder eine Zelle aufbauen. Erstmals wurde versucht, verschiedene Gruppierungen des militärischen und zivilen Widerstands unter einem Dach zu 12

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 vereinigen. Mitte November 1944 wurde von militanten zivilen Gruppen der sogenannte Siebener-Ausschuss eingerichtet, welcher hauptsächlich zur gegenseitigen Information und Koordination diente. Kurz darauf kam es zur Bildung des »Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees (poen)«, welches bis knapp vor dem Ende des nationalsozialistischen Regimes in Wien eine große Rolle spielen sollte. Mitglieder des poen waren der ehemalige Wirtschaftsrat Otto Spitz, der Monarchist Dr. Josef Graf Ezdorf, der Jurist Prof. Dr. Alfred Verdroß-Droßberg, der ehemalige Propagandaleiter der Vaterländischen Front Dr. Hans Becker, als Vertreterin der Sozialdemokratie Berta Lemberger, der Journalist Dr. Ernst Molden mit seiner Gattin Paula von Preradović und Alfons Stillfried, der in der Militärzensurstelle Wien Dienst verrichtete. Der Sohn von Ernst Molden, Fritz, konnte Beziehungen zu den Westalliierten herstellen und reiste in deren Auftrag mehrmals nach Wien, um die Kontakte zu den Widerstandsgruppen zu pflegen. »Im Rahmen einer weiteren Reise Fritz Moldens, diesmal nach einem Aufenthalt in Paris mit Verbindungsaufnahme zu allen europäischen militärischen Vertretern der Anti-Hitler-Koalition, erfolgte am 25. Februar 1945 die erste Unterredung mit dem Rechtsanwalt Dr. Adolf Schärf. Der Vertrauensmann der sozialdemokratischen Emigration und französische Offizier Erich Lemberger (Nom de guerre  : Lambert) hatte diesen persönlich mit Molden zusammengeführt. Am 27. Februar 1945 kam es zu einem Treffen von poenVertretern mit Schärf und dessen Beitritt in jene Vereinigung. Um diese Zeit wurden linksliberale oder linkssozialistische oder kommunistische Persönlichkeiten gesucht und es wurden Kontakte mit Dr. Norbert Bischoff (Diplomat) sowie Dr. Viktor Matejka (Volksbildner) hergestellt«.8 Schon am 25. Februar kam es auch zu einer Besprechung zwischen Vertretern der poen und Mitgliedern des militärischen Widerstandes im Haus von Major Stillfried am Saarplatz im 19. Wiener Gemeindebezirk. Diese Besprechung muss verraten worden sein, denn die Gestapo versuchte, die Teilnehmer zu verhaften  ; die Versammlung war aber durch vertraute Soldaten des Major Biedermann, der ein enger Freund Stillfrieds war, gesichert worden, und so konnten die Verschwörer – zumindest vorerst – entkommen. »Am 2. März begann eine Verhaftungswelle der Gestapo, der eine Anzahl der poen-Mitglieder (Ernst Molden mit Paula v. Preradović, Ezdorf, Stillfried, Becker) zum Opfer fielen, unter teilweise dramatischen Umständen mit Schusswechseln und Fluchtversuchen. Die Verhafteten wurden nach scharfen Verhören in Sammeltransporten um den 1. April nach Mauthausen gebracht. Andere wie Berta Lemberger oder Spitz gingen in den Untergrund.«9 Um Stillfried zusätzlich unter Druck zu setzen, wurde auch dessen Frau Aly verhafte und im Beisein Stillfrieds gefoltert. Dennoch hatte Stillfried Glück  : Er wurde nicht im Sammeltransport nach Mauthausen gebracht und er erlebte die Befreiung als Gefangener in der Elisabethpromenade. Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass ein hoher Bonze im 13

michael dippelreiter Gefängnis Stillfrieds Schulkamerad gewesen war und diesen zwar auf die Liste des Transportes gesetzt, ihn aber danach unter einem anderen Namen versteckt hatte.

Die Alltagsmühen werden stärker Das Leben der Bevölkerung war durch den »totalen Krieg« ohnehin schon stark eingeschränkt. Das ständige Bombardement der alliierten Luftwaffe mit den darauffolgenden Zerstörungen zehrte nicht nur an den Nerven der Wiener Bevölkerung, es machte den Kampf ums tägliche Überleben zu einer Herausforderung. Die (wenigen) Zeitungen brachten Rezepte für Mahlzeiten aus den wenigen noch vorhandenen Lebensmitteln und gaben Tipps zum Thema »Einfach haushalten – aber wie  ? Turmkochen  : Dadurch, dass wir Töpfe übereinanderstellen, haben wir die Möglichkeit den Inhalt zweier Töpfe auf einmal zu kochen, auf einer Wärmequelle gar. Der Inhalt des oberen Topfes muss vorher kurz angekocht werden. Wenn nichts anders, so kann man sich auf diese Weise Wasser wärmen. Zum Reinigen von Geschirr wird gebrauchtes Geschirr sogleich mit Wasser gefüllt, damit die Speisereste nicht antrocknen und das Abwaschen erschweren.« Und  : »Man spart Spinnstoffe, indem man das Geschirrtuch schont und dafür ein altes Tuch in heißem Wasser fest auswindet und mit diesem noch heißem Tuch das saubere Geschirr abtrocknet. Das Tuch muss während des Trocknens häufiger in heißes Wasser getaucht werden.«10 Die Zeitungen versuchten, den Menschen Mut zu machen, indem sie immer wieder den Fleiß und die Opferbereitschaft der Bevölkerung durch Beispiele hervorhoben, in einem wesentlich größeren Rahmen, als über die militärische Lage und die Schäden der Luftangriffe berichtet wurde. Andererseits wurde ebenso ausführlich über Personen geschrieben, die sich als »Volksschädlinge« erwiesen hatten, indem sie u. a. Diebstähle und Plünderungen nach Bombenangriffen unternahmen, Feindsender abhörten oder defätistische Meinungen abgaben. Diese Vergehen wurden äußerst brutal geahndet, oftmals mit der Todesstrafe, wobei die Strafen immer wieder als Garant für den »Volkswillen« gesehen wurden. Anders sieht dies ein Beamter in seinen Tagebuchaufzeichnungen, die Rebhann teilweise abgedruckt hat  : »Montag, 19. Februar  : Heute war ich in H. Kerzen holen. Während dessen wurde Alarm gegeben und ich ging in den Keller des Ottakringer Bräu. Diesmal löste sich der Penzinger Frachtenbahnhof in Rauch auf, eine Bombe zerstörte die Winkler Apotheke neben dem ss-Lokal … Donnerstag, 22. Februar  : Versuche bei Schleichhändlern etwas Essen gegen meine alten Schuhe zu tauschen. Mittags war ein Großangriff, wir sind lange am Boden des Kellers gelegen. Nachher 12 Kilometer zwischen gräßlichen Zerstörungen zu Verwandten gelaufen … Freitag, 23. Februar  : Ein Tag ohne Alarm, aber alle Verkehrsmittel stehen still. Am Abend gibt 14

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 es endlich Licht und daher Gelegenheit, mit dem Radio ausländische Sender abzuhören … Sonntag, 25. Februar  : Kein Alarm, doch auch kein Wasser, kein Gas und kein Licht. Seit Tagen keine Post mehr … Montag, 26. Februar  : Furchtbare Stürme, aber kein amerikanischer Einflug … Wir haben kaum etwas zu essen, dafür aber vor Sorgen keinen Hunger. Wir beten viel und frieren trotz des wärmenden Wetters …«11 Auch Mignon Langnas beschreibt in ihrem Tagebuch am 8. März 1945 die Not und auch die Sehnsüchte, die sich einstellten  : »Ich habe mir in der Kleiderkammer Blusen + Kleidchen geholt + höre, dass Franzi Rittberg + noch einige aus Wien in der Schweiz sind. Wie schön  ! Du guter Gott – wie tröstend schön  ! Aber was ist aus den anderen geworden  ? Quälende Gedanken – Und das Brot ist sosehr gekürzt + es ist verdammt, dass man gerade jetzt so gern Brot isst + dass es einem ganz unfassbar erscheint, dass man einfach in den Laden ging + Brot kaufte + obwohl man doch nicht reich war – Brot + Butter konnte man sich leisten. Ja, liebe Mignon – auch damals + immer hat es Menschen gegeben – für die Brot und Butter eine wunderbare Sache waren …«12

Die Luftangriffe werden verstärkt Nach einer Pause von fast drei Wochen, in denen alliierte Angriffe hauptsächlich auf Ziele in Kärnten, Tirol und der Steiermark geflogen wurden, kam es am 12. März 1945 zu einem der größten Luftangriffe auf Wien. »Es war der Angriff, bei dem so viele Repräsentativbauten im Zentrum Wiens getroffen und vernichtet wurden. Der markanteste davon die Staatsoper. Ihre Decke stürzte ein, Zuschauerraum und Bühne brannten aus. Gleich hinter der Oper, im Philipphof, schlugen mehrere Bomben ein, und im Schutt des in sich zusammenstürzenden Gebäudes wurden Hunderte Menschen, die sich im Luftschutzkeller befanden, begraben. Es gelang auch nach Tagen nicht, sie zu bergen. Schließlich gab man die Rettungsversuche auf.«13 Aber auch anderswo im Stadtgebiet kam es zu schweren Beschädigungen  : Das Burgtheater, der Stephansdom, die Hofburg und das Kunsthistorische Museum wurden getroffen, das Gebäude der Albertina wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Beiderseits des Donaukanals sorgten zahlreiche Bombentreffer ebenfalls für große Zerstörungen, so etwa am Hauptquartier der Gestapo, dem ehemaligen Hotel Met­ ropol. Mignon Langnas vertraut ihr Entsetzen, die schwere psychische Belastung am 14. März ihrem Tagebuch an  : »… Die Feindflieger kommen näher + näher und schon eilen wir in den Keller der K. G. (Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse) – Greterl ist schon dort und alle vertrauten Gesichter. Ich stehe eine Weile im Vorraum bei der Lilly, aber ich bin nervös, – mir ist heute besonders unheimlich, ich habe furchtbare Angst. Eine Welle nach der anderen überfliegt uns + das Abwerfen 15

michael dippelreiter der Bomben ganz in der Nähe lässt Wände + Boden erzittern + plötzlich  ! Schlägt es dröhnend ein – das alte Lied, die alte Melodie  : finster – unheimlich, keine Luft, keine Luft  ! Doch ich lebe – ja ich lebe … Verschüttet  ? Werden wir hinauskönnen  ? Was ist zwei Schritte von uns geschehen  ? Es ist finster + ein wüstes Durcheinander + keine Luft  ! Und nach unheimlicher Zeit wissen wir, dass wir hinauskönnen + fühlen + ahnen, dass Entsetzliches geschehen ist … Da laufen wir und was wir sehen, ist entsetzlich – denn alle diese einstürzenden, brennenden Häuser sind nicht aus Stein  : in ihnen spielen sich Tragödien ab, die allen Jammer der Erde bergen  ! Ist die Welt aus den Fugen  ? … Und die Oper brennt + das Volkstheater + die Ringstr. verwüstet + überall Entsetzen + Leid + Not …«14

Der K ampf um die Stadt Der Beschluss, Wien unter allen Umständen zu verteidigen, war ja schon im Herbst 1944 gefasst worden. Nun, Ende März 1945, sah die Sache ganz anders aus. Die sowjetische Armee hatte bereits die Grenze zum ehemaligen Österreich überschritten und befand sich auf dem Vormarsch in Richtung Wien. »Am 30. März 1945 erlässt der ›Reichsverteidigungs-Kommissar für den Reichsverteidigungsbezirk Wien‹, Baldur von Schirach, eine Anordnung, mit der die ›Standgerichtsbarkeit mit sofortiger Wirksamkeit im Reichsgau Wien eingeführt wird‹. Wortwörtlich heißt es dann weiter  : ›Die Härte des Ringens um den Bestand des Reiches erfordert von jedem Deutschen Kampfentschlossenheit und Hingabe bis zum Äußersten. Wer versucht, sich seiner Pflichten gegen die Allgemeinheit zu entziehen, insbesondere, wer dies aus Feigheit oder Eigennutz tut, muss sofort mit der notwendigen Härte zur Rechenschaft gezogen werden, damit nicht aus dem Versagen eines Einzelnen dem Reich Schaden erwächst. Ich gebe mich der Erwartung hin, dass auch ohne solche Strafandrohung jeder Volksgenosse die Pflichten erfüllt, die die Schwere der Lage des Vaterlandes ihm auferlegen.‹«15 Sowjetische Flieger warfen über Wien Flugzettel ab, auf denen die Bevölkerung aufgerufen wurde, aktiv an der Befreiung vom nationalsozialistischen Joch mitzuwirken. Sorge bereiteten den Machthabern die große Anzahl südosteuropäischer, insbesondere jugoslawischer Fremdarbeiter, deren Verhalten während der zu erwartenden Kämpfe einen Unsicherheitsfaktor darstellte. Am 2. April 1945 wurde Wien zum Verteidigungsbereich erklärt, den Frauen und Kindern anempfohlen, die Stadt zu verlassen, worauf der Westbahnhof geradezu umlagert wurde. Kontrollen wurden durchgeführt, nur Frauen und Kindern die Benutzung der Züge erlaubt, männlichen Einzelpersonen nur mit besonderen Marschbefehlen. Männer, die im Verdacht standen, sich dem Volkssturm zu entziehen, wurden unverzüglich den Standgerichten zugeführt. 16

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 »Womit jedoch die Verteidiger Wiens nicht rechneten, war die Existenz einer aktiven österreichischen (militärischen) Widerstandsbewegung, die trotz des abschreckenden Beispiels der Tragödie vom 20. Juli 1944 bereit war, das Risiko eines offenen Mitwirkens bei den zu erwartenden Kämpfen auf sich zu nehmen.«16 Wie schon oben ausgeführt, hatten sich zahlreiche Widerstandsgruppen untereinander verständigt und unter das gemeinsame Dach der poen begeben, deren Leitung teilweise verhaftet wurde, teilweise aus dem Untergrund heraus agierte. Der militärische Widerstand wurde von Major Szokoll geplant, der die Unterstellung des zivilen Widerstandes unter den militärischen erreichte. Bei einer Besprechung Ende März 1945 wurde bereits das Palais Auersperg als mögliches Zentrum des Widerstandes genannt. Verschiedene Möglichkeiten, Wien mit Hilfe österreichtreuer Truppen zu befreien, wurden erörtert. »Erst nach dem Zusammenbruch der deutschen Front in Ungarn, erst bei einer Besprechung am 2. April – man muss annehmen  : nachdem ›Caserta‹ per Funk eine entsprechende Mitteilung gemacht hatte – teilte Szokoll vor versammelten Offizieren und Unteroffizieren laut einem Augenzeugen mit  : Die österreichischen Truppen sind zu schwach…um Wien vor der Vernichtung zu bewahren. Der Kampf würde nur noch mehr Blut kosten. Wir müssen daher – die Amerikaner stehen erst in Bayern, die Engländer noch in Italien – mit den Russen in Verbindung treten. Ihnen gegen die Erfüllung unserer Forderungen die Übergabe der Stadt anbieten, die Schlacht um Wien zu vermeiden  ! Wer von Ihnen, meine Herren ist bereit, den Auftrag zu übernehmen und die Verhandlungen mit dem russischen Oberkommando zu führen.«17 Der damalige Oberfeldwebel Ferdinand Käs brach mit seinem Motorradfahrer, Obergefreiter Johann Reif – beide hatten sich freiwillig gemeldet – ins südliche Niederösterreich auf, um in Verhandlungen mit der Roten Armee zu treten. Sie überschritten in der Nacht vom 2. zum 3. April die Kampflinie und wurden ins Hauptquartier der Roten Armee gebracht, welches sich damals in Hochwolkersdorf befand  ; der Kommandant der 9. Gardearmee fand sich zu Verhandlungen mit Käs bereit. »Szokolls Bitten, die Wasserversorgung Wiens zu ermöglichen und auch die Westalliierten zu veranlassen, die Bombenangriffe auf Wien einzustellen, wurden zustimmend aufgenommen, und es wurde schließlich auch für deren Erfüllung gesorgt … Außerdem informierte Käs die Russen anhand von Skizzen auf einem Meldeblock über die Verteidigungsmaßnahmen Wiens und gab … Informationen und Empfehlungen ab … Schließlich wurden die Russen über die Absichten der Widerstandseinheiten informiert, etwa über das Verbringen widerstandsfreundlicher Einheiten von Stockerau nach Wien.«18 Schließlich wurde über verschiedene Erkennungszeichen und Losungsworte gesprochen. Käs und Reif wurden von den sowjetischen Soldaten an die Front gebracht, und am 4. April kamen sie wieder zurück nach Wien und meldeten sich bei 17

michael dippelreiter Szokoll. Vorher erfuhren sie noch, dass der ehemalige Kanzler Dr. Renner auf dem Weg ins Hauptquartier der 3. Ukrainischen Front sei. Es wurde nach Beratungen beschlossen19, dass nach dem Zeichen der Roten Armee, welches den Angriff auf Wien signalisieren sollte, auch die militärischen Aktionen der Widerständler beginnen sollten. Allen voran wollte man den Festungskommandanten samt seinen Offizieren verhaften  ; außerdem war geplant, sich des Senders Bisamberg zu versichern, von wo aus die Bevölkerung über die Ereignisse verständigt werden sollte  ; diese Aufgabe fiel dem Kommandanten der Heeresstreife Groß-Wien, Major Karl Biedermann, zu. Das erwartete Signal der Roten Armee kam am 6. April um 1 Uhr nachts und wurde von den Leuten des Widerstandes erwidert. Der Angriff der Roten Armee begann dann um 6.30 Uhr. Der Plan Szokolls, die Widerstandsgruppen gezielt einzusetzen, brach aber gleich zu Beginn zusammen. Unter den ausgewählten Personen für die Übernahme des Senders Bisamberg befand sich ein Mann, der sich an seinen vorgesetzten Führungsoffizier wandte  ; dieser wiederum verständigte den Stadtkommandanten und den Gauleiter sowie den zufällig anwesenden Sepp Dietrich als höchsten anwesenden Offizier und Kommandant der 6. Panzerarmee. Der Stadtkommandant Bünau zitierte Biedermann zu sich und ordnete seine Vernehmung an. Nach Folter und Gegenüberstellung mit ebenso verhafteten Mitverschworenen legte Biedermann ein Geständnis ab und verriet auch das Losungswort »Radetzky«.20 Die militärischen Machthaber ergriffen sofort Gegenmaßnahmen  ; vor allem setzte eine Verhaftungswelle ein, Standgerichte tagten in Permanenz. Höhepunkt der Grausamkeiten war die Hinrichtung der Offiziere Karl Biedermann, Rudolf Raschke und Alfred Huth am Floridsdorfer Spitz unter den unwürdigsten und erniedrigendsten Umständen. »Sie starben als Männer, mit der Parole auf den Lippen  : ›Für Gott und Österreich‹.«21 Andere führende Persönlichkeiten wie Major Szokoll, Leutnant Igler oder Oberfeldwebel Käs konnten entkommen und untertauchen  ; der organisierte Widerstand gegen das Naziregime war jedoch zusammengebrochen.

Die Sowjets dringen in die Innenstadt vor Im Gegensatz zum »Völkischen Beobachter« brachte das »Neue Wiener Tagblatt« zahlreiche Berichte von den Kämpfen rund um Wien. Auch die »Tagespost« aus der Steiermark widmete den Kämpfen um Wien großen Raum. Die Aktionen der Widerstandskämpfer fand man allerdings in keiner der Gazetten  ; im Gegensatz dazu aber Berichte über Verurteilungen einzelner »Volksverräter«, welche sich Verstöße u. a. wegen Schwarzschlachtens, Hören von Feindsendern oder Verbreitung falscher Nachrichten zuschulden kommen gelassen hatten. Durch die Kämpfe wurden auch 18

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 die Zeitungen eingestellt  ; die letzten gedruckten Nachrichten des Naziregimes erschienen in Wien am 7. April 1945. Am 8. April erschien noch eine Gemeinschaftsausgabe der Wiener Zeitungen22, in der auf zwei Seiten über Kampfhandlungen berichtet und an den Mut und das Verantwortungsbewusstsein aller Wiener appelliert wurde. Die Kämpfe wurden heftiger, sowjetische Truppen rückten – vom Westen kommend – bis in die Außenbezirke vor. Auch im Süden Wiens setzten sie sich in Favoriten fest. Von dort begannen Straßenkämpfe, teils Haus um Haus. Die Spitzen von Partei und nationalsozialistischer Verwaltung begannen sich abzusetzen. Gleichzeitig wurde versucht, wichtiges Gerät von Feuerwehr und Rettung zu sichern. »Der Wiener Feuerschutzpolizei … wurde mit einem vom 6. April 1945 datierten Befehl der örtlichen Luftschutzleitung eine Absetzbewegung verordnet. Die Autos mussten in der Nacht zum 7. April am Prater vorbei über die Reichsbrücke nach Kagran hinüberfahren. Die Mannschaften, die durch Festnahmen und Hinrichtungen – darunter eine Massenexekution vor dem angetretenen Personal im Herbst 1944 – eingeschüchtert worden waren, wurden beim Abrücken aufs heftigste zurechtgewiesen. Trotzdem desertierten bald darauf einige Dutzend Männer mit Gerät.«23 Am 9. April wurde bereits überall im Stadtinneren gekämpft, deutsche Truppen versuchten, die eindringenden Trupps der Roten Armee zurückzudrängen, standen aber auf verlorenem Posten. »Um diese Zeit brachen in Wien zahlreiche Brände aus. Teils verursacht durch Bombenabwürfe der Tiefflieger, teils legten Plünderer Feuer in den Geschäften und Warenhäusern, um ihre Spuren zu verwischen, aber auch in so manchen Wohnungen sind die Öfen der hastig in sie hineingestopften nsLiteratur nicht gewachsen. Bald brennt es an allen Ecken und Enden der Stadt.«24 Die wenigen Feuerwehrleute, die den Abzugsbefehl verweigert hatten, standen auf verlorenem Posten  ; die Brände weiteten sich aus. Die Deutsche Wehrmacht begann, die Brücken über den Donaukanal, die nicht zu halten waren, zu sprengen  ; die Verbindung zwischen den einzelnen Einheiten wurde immer schwieriger. »Stunde um Stunde wuchsen die Schäden Wiens, da die Russen ihre Vorstöße in das Straßenlabyrinth mit Vorliebe durch Panzer- und Artil­ leriefeuer einzuleiten pflegten. … Im Belvederepark bezog ein Gardeartillerieregiment Stellung und nahm die Innenstadt, insbesondere die Umgebung der Oper, unter konzentriertes Feuer.«25 Die oberste Führung bei der Verteidigung Wiens wurde am 6. April 1945 dem Generaloberst Rendulić, einem ehemaligen k. u. k. Offizier, übertragen. Dieser versuchte zwar, die Kampfhandlungen in Wien zu reduzieren, die militärische Situa­ tion im östlichen Weinviertel zwang ihn aber dazu, weiterhin Kampfhandlungen zu forcieren. Während die Sowjetarmee versuchte, den Donaukanal zu überqueren, entstanden durch unausgesetzten Artilleriebeschuss zahlreiche Feuer in der Innen19

michael dippelreiter stadt, welche mangels Löschwasser nicht beendet werden konnten  ; auf diese Weise brannte auch das Wahrzeichen Wiens, der Stephansdom, fast gänzlich aus. Die Zivilbevölkerung verbrachte fast die ganzen Tage in den Kellern  ; selten wagte sich jemand hinaus, um die Lage zu sondieren. Im Gefängnis des Landesgerichtes wurden durch den Gefängnisleiter die Gefangenen freigelassen  ; unter ihnen waren der spätere Bundeskanzler Dipl.-Ing. Leopold Figl, der Volksschauspieler Paul Hörbiger oder auch der Widerständler Alfons Stillfried. Andererseits kam es selbst zu dieser Zeit noch zu Massakern durch ns-Organe  : Am 11. April 1945 verübten ssSchergen ein Massaker an neun Juden in der Förstergasse im 2. Bezirk  ; sie wurden in den Abendstunden durch Genickschüsse ermordet. Nur einige Stunden später, um ca. 3.30 Uhr des 12. April, erreichten sowjetische Soldaten die Förstergasse. Als Beispiel für das (Über-)Leben der Zivilbevölkerung sei nochmal aus dem Tagebuch der Mignon Langnas zitiert, und zwar vom 12. April und vom 16. April, wo auch die Ereignisse vom 13. April festgehalten wurden. »Die Nacht über war es ganz ruhig. Was ist also geschehen  ? Was geht draußen vor  ? … Draußen Schritte. Ich wage mich ans Fenster  : die Straßen menschenleer, der Himmel brennt von allen Seiten – ein altes Mutterl mit einer Kann Wasser…Wir stellen uns um Wasser an, – ein ss-Mann schleicht lauernd im Hof herum, ein junger, bleicher Bub. Wo ist seine Mutter, wird sie ihn je wiedersehen  ? … Ja, also am nächsten Tag war Freitag, der 13.  ! Warum aber habe ich gewartet mit dem Niederschreiben dieser Zeilen  ? Diese Stunden sind so eindrucksvoll, dass ein Erleben das andere nur ablöst + das frühere nur verblasst – Und doch werde ich diesen Augenblick im Leben nicht vergessen, – ich glaubte zu träumen – und es war so ergreifend, dass alles Leid dieser schrecklichen 7 Jahre gelohnt haben – um dieses Augenblicks der Befreiung. … Aber um ½ 6 kommt Herr Lenhom mit Wasser zurück und schwört bei allen Himmeln, dass er zwei Russen gesehen hat, und dass er mit ihnen gesprochen hat  !  !  ! Und ich bin nicht zu halten + stürze vors Tor – und langsam auf Wagen + langsam gegangen kommen Russen. … Und Russen sind ringsum + schenken mir Zigaretten + sind lieb + lachen + schauen harmlos drein wie Kinder.«26 Aber sie beschreibt auch die andere Seite. In derselben Tagebucheintragung heißt es auch  : »… Dieser Weg  ! Ein Zivilist erschossen im Kaipark + Frau zertrümmert im Weg – ermordete Pferde – + wir, wir Menschen gehen an dieser zertrümmerten Welt ruhig vorbei. … Ich gehe allein zurück- Mir ist einsam + weh + ich fühle nichts von dem was ich empfinden müsste in einer Stunde solcher Befreiung. … Die Nacht vergeht, Sonntag der 15. … Und heute – in der Stunde der Befreiung  : die Haustüre darf man nicht öffnen, mit Revolvern kommen die Russen + plündern + schänden – Mich schützt meine Schwesterntracht – vor dem Roten Kreuz machen sie noch Halt. …«27 Während die Rote Armee den Übergang über den Donaukanal erzwang, konnten sich bis 13. April die letzten deutschen Soldaten jenseits der Donau zurückziehen. 20

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 Nachdem bereits die Eisenbahnbrücken zerstört worden waren, wurde nun auch die Floridsdorferbrücke gesprengt. Auch die Reichsbrücke hätte gesprengt werden sollen, aber aus welchen Gründen auch immer  : Die Sprengung unterblieb, und die Reichsbrücke blieb als einziger Donauübergang bestehen und war – bis zum Wiederaufbau der anderen Brücken – einziger Verbindungspunkt der nördlichen Bezirke mit dem übrigen Wien. Am 13. April wurde in Moskau die Einnahme Wiens durch Salutschüsse verkündet. Armeekommandant Tolbuchin setzte General Alexej Blagodatow als ersten Stadtkommandanten ein. »Und so kam ich nach Wien. Und als ich da war, sah ich die Leichen der Menschen und die Kadaver der Pferde auf den Straßen. Heftige Brände tobten in der Stadt. Die Zerstörungen waren bedeutend. Da wusste ich, welche Aufgaben auf den ›Hausherren‹ warteten. Die Brände mussten bekämpft werden, aber es gab keine Feuerwehren, wir mussten mit eigenen Kräften eingreifen. Die Toten waren zu bestatten, die Kadaver zu beseitigen. Wir stellten die Ordnung von Bezirk zu Bezirk wieder her.«28 Aber Wien stand weiter unter Kriegsrecht, waren doch die Truppen der Deutschen Wehrmacht noch nicht weit genug entfernt und noch immer ein militärischer Faktor.

Wien ist frei Wien war zwar vom nationalsozialistischen Terrorregime befreit, aber noch lange nicht frei. Vor allem gab es keine politischen Strukturen, auf die man aufbauen konnte. Wie schon oben erwähnt, mussten die Soldaten der Roten Armee alle jenen Sicherungs- und Löscharbeiten übernehmen, für welche keine geeigneten Personen und auch kein Material vorhanden waren. Die im Palais Auersperg tätigen Mitglieder der Widerstandsorganisationen traten bald in Kontakt mit entlassenen politischen Häftlingen aus allen politischen Richtungen  ; sie hatten gehofft, dass sie beim Neubeginn eines österreichischen Staates wichtige Positionen einnehmen würden, wurden jedoch bald eines Besseren belehrt  : Die politische Führung in Moskau hatte ganz andere Pläne. Außerdem waren die Leute des Widerstandes zwar mutig, integer und voller großer Pläne, hatten aber keine politische Erfahrung. Dennoch machten sie sich auf, um das Rathaus zu übernehmen. Da war ihnen jedoch schon jemand zuvorgekommen  : Im Büro des Bürgermeisters war bereits am 12. April 1945 ein Mann namens Rudolf Prikryl erschienen, der angeblich Kommunist war und behauptete, mit dem Amt des Bürgermeisters betraut worden zu sein.29 Prikryl schien sehr tatkräftig zu sein. Gemeinsam mit einer Sekretärin und mehreren Stempeln empfing er Bittsteller, vergab Betriebe, stellte Bescheinigungen aus. Wie schon Hugo Portisch belegte, nahm Prikryl weder Geld noch sonstige Sachleis21

michael dippelreiter tungen für seine Dienste  ; nur gelegentlich kamen Russen, die Konserven ablieferten.30 Einer der ersten, dem Prikryl zu einem Amt verhalf, war Viktor Matejka, der spätere kommunistische Stadtrat für Kultur, der eine Vollmacht erhielt, die lautete  : »ist verantwortlich für die ganze Kultur in Österreich«.31 Aber bereits am 18. April musste Prikryl sein Amt abgeben. Auch die Männer des Widerstandes kamen nicht zum Zug  : Die Sowjets fanden einen verdienten Soldaten der ehemaligen k. u. k. Armee, den späteren Politiker der Sozialdemokraten und General Theodor Körner. Verschiedene Männer der Sozialdemokratie der Ersten Republik, wie etwa Dr. Adolf Schärf oder Paul Speiser, hatten den Roten Salon im Rathaus besetzt und stellten den Anspruch auf die Macht im Rathaus. Es wurde ihnen allerdings nicht leicht gemacht, denn in den Höfen des Rathauses lagerten Soldaten der Roten Armee, und jeder, der zu den Sozialdemokraten vordringen wollte, musste die Soldatenketten passieren. Schnell hatte sich diese Situation herumgesprochen, und ebenso schnell versammelten sich ehemalige Funktionäre, welche bereits am 14. April die Sozialistische Partei Österreichs gründeten. Als Kandidat für die Position des Wiener Bürgermeisters wurde General Körner vorgeschlagen. Die Macht lag beim sowjetischen Stadtkommandanten, aber für die Verwaltung der Stadt musste ein Verantwortlicher gefunden werden. Der Stadtkommandant Blagodatow erzählt, wie es zu der Bestellung Körners kam. »Mir war klar, dass wir eventuelle Schildbürgerstreiche unserer eigenen Leute in allen kommunalen Angelegenheiten verhindern mussten. Sie wussten doch nichts von dieser Stadt. Und so lud ich, als ich die Parteien befragte, Johann Koplenig, den Vorsitzenden der kpö ein. Koplenig erklärte mir  : ›Wir haben da einen guten Kandidaten, den ehemaligen Armeegeneral Körner. Er ist zwar ein Sozialdemokrat, aber ein rechtschaffener, anständiger Mensch und hat auch eine gewisse Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung‹. So lud ich Körner zu mir ein, und schlug ihm vor, der Bürgermeister zu werden. Körner dachte ein wenig nach und sagte dann zu mir auf Russisch, dass er einverstanden sei.«32 Am 15. April bereits war eine Zeitung der Sowjets für Österreich herausgekommen. Darin stand auf der Titelseite eine Erklärung der Sowjetregierung an die Bevölkerung Österreichs. Auf Seite zwei fanden sich bereits Stimmungsberichte aus dem befreiten Wien  : »Noch waren die Kämpfe im Gange, aber die Bewohner Wiens kamen in hellen Scharen, um die Rote Armee zu begrüßen. Weit über 90 % der Wiener waren entgegen den Nazibefehlen, Wien zu verlassen, geblieben. … In der Goebbelspropaganda wurde die Rote Armee als eine schreckliche Horde hingestellt, die in der schönen Wienerstadt keinen Stein auf dem anderen lassen werde. Doch die Tatsachen zeigen, dass dieses Märchen der Goebbelspropaganda bei ihnen nicht verfangen habe. Die Wiener wissen sehr gut, dass die Rote Armee als Befreierin nach Wien gekommen ist.«33 22

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 In derselben Zeitung vom 21. April erzählt der Stadtkommandant über die größten Probleme in der Stadt  : »Unsere erste Sorge nach dem Einmarsch in die Stadt galt dem Löschen der zahlreichen Brände. Denn die Deutschen beschossen noch im letzten Augenblick die repräsentativsten Gebäude mit Brandgranaten. Jetzt sind die Wiener dabei, Straßen und Plätze von Schmutz und Schutt zu säubern. Gleichzeitig begannen wir das Brotproblem und andere Fragen zu lösen. Auch Licht und Wasser wird es in wenigen Tagen wieder geben. Das Kraftwerk ist unbeschädigt, nur das Netz ist an vielen Stellen unterbrochen und wird bereits ausgebessert. Auch die Wasserleitung wird bereits repariert. …«34 Aber auch vom Wiedererstehen des Wiener Kulturlebens kann man lesen, etwa vom Plan des Burgtheaters, so rasch wie möglich in einem Ausweichquartier zu spielen, oder von einem geplanten Konzert der Wiener Philharmoniker im Konzerthaus, weil das Gebäude des Musikvereins zu stark beschädigt war. Wie war das Leben der Bevölkerung in jenen dramatischen Tagen verlaufen  ? Der ehemalige Beamte des Österreichischen Verkehrsministeriums, später der Reichsbahn, danach wieder Österreichische Bundesbahn, schließlich Kabinettsdirektor bei den Bundespräsidenten Körner und Schärf, Dr. Alexander Toldt, hat seine Lebenserinnerungen nach Tagebuchaufzeichnungen niedergeschrieben. Dort heißt es  : »Am ersten Abend nach dem Einmarsch der Russen besuchten uns einige junge Soldaten im Keller und unterhielten sich mit den Hausgenossen in ausgesprochen netter Weise. Wir alle waren angenehmst enttäuscht, da sich die Burschen, die einer im Arenbergpark aufgefahrenen Artillerieeinheit angehörten sehr freundlich zeigten, und sich vor allem den Frauen gegenüber korrekt benahmen. Die beruhigenden Erfahrungen der ersten Nacht bestimmten mich, am nächsten Vormittag einige Bekannte, die in der Nähe wohnten, aufzusuchen, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Die Berichte lauteten zum Teil nicht ungünstig, zum anderen Teil erfuhr man recht beängstigende Dinge.«35 Wie schon oben erwähnt, erwiesen sich die Träume der Widerstandskämpfer, Teil der künftigen Machtstrukturen zu werden, als Illusion  ; außer dem späteren Unterstaatssekretär Raoul Bumballa wurde niemand eingeladen, an den Strukturen des neuen Staates mitzuarbeiten. Major Szokoll wurde zwar vom sowjetischen Stadtkommandanten am 13. April als Kommandant einer Hilfspolizei eingesetzt, aber bereits drei Tage später wieder enthoben. »Am 16. 4. den Quellen nach wurde Szokoll von der russischen Militärpolizei verhaftet, verschleppt und wochenlang verhört. … Szokoll wurde irgendwann im Mai von der Anklage, ›amerikanischer Spion‹ zu sein, freigesprochen, aber sofort neuerlich inhaftiert, nunmehr als Kriegsgefangener, und in ein Offizierslager in Kaiser-Ebersdorf transportiert. Er konnte von dort während einer Außenarbeit entfliehen.«36 Auch andere Personen, die das Ende des Naziregimes herbeigesehnt hatten, konnten sich über die Befreiung nicht wirklich freuen, 23

michael dippelreiter so etwa der Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde, Joseph Löwenherz, der von den Sowjets verhaftet und wegen angeblicher Kollaboration angeklagt wurde.

Neues Leben in Wien Der Berufsdiplomat Dr. Norbert Bischoff, der während der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften tätig war, und während der letzten Tage des Regimes, als sich die meisten nationalsozialistischen Funktionäre abgesetzt hatten, sogar mit der Leitung der Geschäfte und der Vertretung nach außen beauftragt wurde,37 verbrachte die Tage der Kämpfe um Wien bei Verwandten in Sievering. Zusammen mit seinem Sohn machte er sich am 12. April in die Innenstadt auf, die wenige Stunden zuvor noch umkämpft gewesen war. Gemeinsam brachten sie Einladungen an in Wien verbliebene Kollegen zu einer ersten Besprechung am 13. April. Diese Besprechung sollte in den Räumlichkeiten des Bundeskanzleramtes am Ballhausplatz stattfinden. Um dies auch zu gewährleisten, brachten Bischoff und sein Sohn einen Zettel an der Tür an, auf dem mit rotem Bleistift geschrieben stand  : ›Requiriert von der Österreichischen Widerstandsbewegung‹, und dies auf Deutsch und Russisch. Der Zettel war mit einem Rundstempel versehen, welcher vom Schwiegersohn Bischoffs eigenhändig hergestellt worden war. Die Sitzung fand statt, die Weichen für die Wiederaufnahme der Tätigkeiten eines Österreichischen Außenministeriums wurden gestellt, die Politische Abteilung wurde Dr. Norbert Bischoff anvertraut.38 Auch Dr. Alexander Toldt begab sich recht rasch nach der Befreiung in sein Amt. So schreibt er  : »Am 16. April begab ich mich zum ersten Mal nach der Befreiung – in Räuberzivil, der damals üblichen Bekleidung in mein Büro im Trattnerhof, um zu erkunden, was nun zu geschehen hat. Dort sah es wohl recht triste aus. Abgesehen davon, dass es bei den Kampfhandlungen im Trattnerhof gebrannt hatte, wodurch ein Teil unserer im IV. Stock gelegenen Büroräume stark gelitten hatte, waren fast alle Fensterscheiben zerbrochen, Aktenmaterial und Amtsbehelfe sowie sonstige Dinge lagen verstreut auf dem Boden und überall trat man auf Glasscherben. Außer mir waren noch einige weibliche und männliche Bedienstete, darunter selbstverständlich unser gewissenhafter Chef Ministerialrat Dr. Sauter zum ersten Mal wieder im Büro erschienen. Ausnahmslos legten alle Hand an und besorgten zunächst die unbedingt notwendigen Aufräumearbeiten. Erstaunlich war der Fleiß dieser ausgehungerten Menschen, die in beinahe froher Stimmung dabei waren, die Ordnung wieder herzustellen.«39

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Abb. 1  : Das stark beschädigte Bundeskanzleramt

Die Verwaltung formiert sich Mit dem Befehl Nr. 3 bestellte General Blagodatow General Körner zum Bürgermeister von Wien, Karl Steinhardt und Leopold Kunschak zu dessen Stellvertretern. Damit hatten die Sowjets in Wien die Vorherrschaft der Sozialisten anerkannt und ebenso der Volkspartei eine gleichstarke Stellung gegenüber den Kommunisten erlangt. In der neuen Zeitung »Neues Oesterreich«, welche unter der Herausgeberschaft von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Leopold Arzt, Ernst Czeija, Leopold Figl, Ernst Fischer, Jakob Fried, Paul Hörbiger, Franz Schumy und Paul Speiser erschien, heißt es in der ersten Ausgabe unter anderem  : »In der Wiener Stadtverwaltung haben sich Vertreter aller demokratischen Parteien zu einer verheißungsvollen Arbeitsgemeinschaft zusammengefunden. … So sollen und müssen alle Schichten und Richtungen unseres österreichischen Volkes zusammenstehen, um auf gemeinsamen Wege und in gemeinsamen Bemühungen zu dem zu gelangen, was der Name dieser Zeitung besagt, zu einem neuen Österreich.«40 Die Verwaltung wurde in elf Verwaltungsgruppen organisiert, deren jede einzelne einem Stadtrat (oder Vizebürgermeister) zugeordnet wurde. Diese Gruppen waren  : 25

michael dippelreiter Finanzen unter Karl Honay, Gesundheitswesen unter Prof. Dr. Wilhelm Kerl, Wohnungs- und Siedlungswesen unter Felix Slavik, Technische Angelegenheiten unter Anton Weber und Ernährung unter Franz Fritsch. Für wirtschaftliche Angelegenheiten war Dr. Ludwig Herberth, für allgemeine Verwaltung Josef Afritsch, für Schulwesen Leopold Kunschak, für Unternehmungen Paul Speiser, für Wohlfahrtswesen Karl Steinhardt und für Kultur und Bildungswesen Dr. Viktor Matejka zuständig. Viele Beamte, die anlässlich der nationalsozialistischen Machtübernahme frühzeitig pensioniert oder entlassen worden waren, meldeten sich zum Dienst, sodass die Verwaltung mit unbelasteten, aber sachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an ihre Aufgaben herangehen konnte.

Das Kulturleben beginnt wieder Schon am 23. April wurden Vertreter des Theaters, des Films, der Literatur und der Presse im Kleinen Festsaal des Rathauses versammelt, um vonseiten der Stadtregierung die Maßnahmen erklärt zu bekommen, die den Wiederaufbau des Kulturlebens ermöglichen sollten. Stadtrat Matejka stellte die Pläne der großen Theater vor, welche allerdings erst mögliche Theaterhäuser finden mussten. Die Staatsoper, welche als Ausweichquartier die Wiener Volksoper benützen sollte41, bereitete bereits »Die Hochzeit des Figaro« vor, und die Wiener Philharmoniker probten schon fleißig. Die Musik sollte überhaupt eine positive Erweiterung erfahren  : »Gefallen sind die durch lächerliche Vorurteile nationaler oder rassischer Art geschaffenen Grenzen, die ganze Kunstgebiete wegen ›angeblicher Unerwünschtheit‹ oder ›Untragbarkeit‹ abschließen wollten. Nicht mehr werden die Werke der russischen Meister fehlen, nicht mehr bleiben Mendelssohns Sommernachtstraummusik oder sein schon längst klassisch gewordenes Violinkonzert verbannt, nicht mehr werden die Inbrunst der Mahler-Symphonien verboten sein, nicht mehr wird man auf das Schaffen wirklicher Bahnbrecher moderner Musik wie Alban Berg, Schönberg oder Hindemith verzichten müssen.«42 Am 27. April konzertierten erstmals wieder die Wiener Philharmoniker mit Schubert und Tschaikowsky unter Clemens Krauss, am 1. Mai spielten sie Werke von Johann Strauß  ; das Publikum war gerührt und feierte die Künstler. Am 30. April nahm das Burgtheater wieder den Betrieb auf  ; da das Gebäude am Ring stark beschädigt war, spielte man im Ronacher. Als Eröffnungsstück wurde das Jugendwerk Franz Grillparzers, »Sappho«, mit Maria Eis als Hauptdarstellerin ausgewählt. Die Vorstellung fand, wie auch alle übrigen Kulturveranstaltungen, am späten Nachmittag statt, da es ab 20 Uhr eine nächtliche Ausgangssperre gab, die unbedingt einzuhalten war. Am 1. Mai begann auch die Staatsoper ihren Spielplan im Ausweichquartier an 26

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Abb. 2  : Blick vom Bundeskanzleramt zur Amalienburg

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michael dippelreiter der Wien mit Mozarts »Hochzeit des Figaro«. Dirigent war Josef Krips, es sangen u. a. Hilde Konetzni, Irmgard Seefried, Elisabeth Höndgen, und den Cherubino gab die junge Sena Jurinac. Als weiteres Werk war für 9. Mai eine Aufführung von Puccinis »La Bohème« vorgesehen, mit Anton Dermota und Irmgard Seefried in den Hauptrollen. Aber auch die anderen Bühnen probten fleißig für die Wiederaufnahme ihrer Spielpläne. Die Volksoper eröffnete am 15. Mai mit Lortzings »Waffenschmied« und spielte danach den »Zigeunerbaron« von Johann Strauß. Auch das Theater in der Josefstadt, das Volkstheater und das Akademietheater hatten bereits ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen oder standen kurz davor. Alle kulturellen Veranstaltungen waren gut besucht, sie sollten »den Menschen Freude machen«, wie der Volksschauspieler Paul Hörbiger in einem Interview erklärte.43 Aber auch andere Bereiche der Kunst und Wissenschaft begannen, wieder (fast) im Normalbetrieb zu arbeiten. Auf die Wiederaufnahme des Unterrichts an den Universitäten und Kunsthochschulen kann hier nicht eingegangen werden. Die Öster­reichische Nationalbibliothek, die glücklicherweise nur wenige Schäden davongetragen hatte, konnte bereits Anfang Mai wieder eröffnet werden. Vor allem die wertvollsten Bestände, welche die Kriegshandlungen in den Depots der Nationalbibliothek überstanden haben, waren gänzlich unversehrt. Aber auch an der Universitäts- und an der Wiener Stadt- und Landesbibliothek wurde emsig gearbeitet. Bei der letzteren waren die Beschädigungen doch so groß, dass sich die Wiedereröffnung noch einige Monate hinzog.

R adio Wien Die abziehenden deutschen Truppen hatten die Senderanlagen am Bisamberg gesprengt, auch die Antennen am Rundfunkhaus in der Argentinierstraße waren total unbrauchbar geworden. Findige Techniker der ehemaligen r avag, die nach der Befreiung sofort das Rundfunkhaus aufgesucht hatten, machten sich daran, eine Notantenne zu basteln und die Sendeanlage notdürftig zu reparieren. Nun fehlte nur noch Strom, um wieder auf Sendung zu gehen, aber dieses Problem konnte schließlich auch gelöst werden. »Am 29. April, das ist der Tag, an dem die österreichische Regierung im Parlament die Unabhängigkeitsproklamation verkündet, meldet sich Radio Wien zum ersten Mal im neuen Österreich. Und Radio Wien berichtet über die Geburtsstunde der Zweiten Republik, verliest die Unabhängigkeitserklärung, verkündet das Programm der neuen Regierung Renner.«44 Schon zwei Tage später meldete sich der Sender dreimal täglich mit Nachrichten, Musik und Wortsendungen. Über das Programm gibt ein Verantwortlicher, Dr. Guggenberger, Auskunft  : 28

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 »Unsere Aufgabe sehen wir darin, Radio Wien wieder die hervorragende, angesehene Stellung zu geben, die es einmal im Rundfunkwesen der ganzen Welt eingenommen hat. Unser Programm soll wienerisch, österreichisch und sozial betont sein, mit einem Blick auf die Weltliteratur. Wir Österreicher haben ja viel versäumt in den sieben Jahren Naziherrschaft. … Ferner sehen wir eine unserer Hauptaufgaben darin, historische Vorträge zu bringen, damit die österreichische Jugend, die faktisch durch die sieben Jahre Naziherrschaft gar keine oder eine falsche Vorstellung von der Weltgeschichte hat, wieder ein richtiges Bild bekommt. … Auch all die anderen Programmpunkte, die unsere Hörer so lieben, wie Sprachkurse, Schulfunk, Kinderstunde, sollen wieder aufgenommen werden. Nicht vergessen werden soll auch ein guter und lebendiger Nachrichtendienst und neben dem belehrenden auch ein unterhaltsamer Teil.«45

Aufbau eines Polizeidienstes Ein großes Problem Wiens war die immer stärker um sich greifende Unsicherheit der Bevölkerung. Plünderer, marodierende Soldaten, selbsternannte Polizisten waren überall anzutreffen. Der sowjetische Stadtkommandant Blagodatow hatte bereits einen »polizeilichen Hilfsdienst der sowjetischen Kommandantur« gegründet, welcher bis Mitte Mai ca. 7.200 Personen umfasste. Diese erhielten nun den ausdrücklichen Befehl, die Plünderungen und Vergewaltigungen abzustellen  ; dafür wurden auch reguläre Soldaten zur Verfügung gestellt. Diese Hilfspolizei wurde auch als »politische« Polizei eingesetzt, und zwar bei mehreren Verhaftungswellen an ehemaligen Nationalsozialisten, bei denen mehr als 5.500 Personen festgenommen und verschiedentlich behandelt wurden  : von Aufräumarbeiten über tägliche Arbeitseinsätze, dem Tragen von Hakenkreuzbinden analog den Judensternen bis zu de­ monstra­­tiven Häftlingszügen in Richtung Landesgericht. Eine gesetzliche Grundlage für diese Festnahmen gab es nicht. »Die neue Stadtverwaltung unter Bürgermeister Körner versuchte nun, neben dem Polizeilichen Hilfsdienst der Kommandantur eine zweite Polizei aufzubauen, die den österreichischen Behörden untersteht. Uniformen gibt es weder für die Einen noch für die Anderen. Die Polizei unter sowjetischem Befehl trägt Zivil mit rotweißroten Armbinden  ; die nun entstehende österreichische Polizei trägt Zivil mit weißen Armbinden und der Aufschrift ›Polizei‹ auf Deutsch und auf Russisch.«46 Die österreichische Polizei richtete einen Aufruf an die Bevölkerung, es mögen sich alle Polizisten aus der Zeit vor 1938, aber auch Schutzpolizisten oder Luftschutzpolizisten wieder zum Dienst melden  ; der Erfolg war groß. Belastete wurden nicht genommen, aber es waren genügend Leute da, um auch alle Bezirke mit ver29

michael dippelreiter trauenswürdigem Personal zu versorgen. Nur langsam kam der gesamte Polizeiappa­ rat unter die Aufsicht der österreichischen Behörden.

Kernprobleme der Verwaltung Die Verwaltung begann langsam, aber sicher zu funktionieren. Zwar waren die meisten Amtsräume noch schwer beschädigt, zwar gab es in der Wasser- und Stromversorgung noch die größten Probleme, dennoch konnte die tägliche Arbeit von routinierten Männern und Frauen getan werden. Zahlreiche Beamte, die 1938/39 wegen »politischer Unzuverlässigkeit« den Dienst verlassen mussten, meldeten sich wieder und konnten ihre Kenntnisse zum Wohl der Bevölkerung einsetzen. Eine wichtige Aufgabe war auch die Beseitigung der nationalsozialistischen Spuren, etwa Benennungen im öffentlichen Raum. So wurden durch Verfügung des Bürgermeisters zahlreiche Straßen und Plätze umbenannt. So etwa  : »i. Adolf-Hitler-Platz nunmehr wieder Rathausplatz. i. Joseph-Bürckel-Ring – Dr. Ignaz-Seipel-Ring. ii. Schöne­ rerstraße – Heinestraße. iii. Schredtgasse – Neulinggasse. iv. Anton-Lehner-Platz – Berta-Suttner-Platz. ix. Sennhofergasse – Hahngasse. x. Horst-Wessel-Platz – Viktor-Adler-Platz. xviii. Planetta-Platz – Parhamerplatz. xx. Feikestraße – Stromstraße. xxi. Mestrozzigasse – Mendelssohngasse« und noch einige mehr. Angefügt wurde jenem Zeitungsartikel die Nachricht  : »Wie wir hierzu ergänzend feststellen können, hat die Wiener Bevölkerung diese Rückbenennungen teilweise schon vorweggenommen, die nazistischen Straßentafeln aus eigener Initiative entfernt und durch Aufschriften an den Haustoren ersetzt.«47 Die größte politische Aufgabe bestand für die Stadtverwaltung in der Aufteilung für die geplanten Zonen der (längst nicht mehr im Gleichschritt marschierenden) alliierten Truppen. Da die meisten öffentlichen Stellen ihren Sitz in der Inneren Stadt hatten, konnte jene Macht, welche diesen Bezirk unter Kontrolle hatte, einen erheblichen Einfluss auf die politischen und verwaltungsmäßigen Entscheidungsträger Österreichs ausüben. Eine eigene Kommission wurde gebildet, Vertreter der anderen drei Alliierten kamen erstmals nach Wien und verhandelten über die Aufteilung der Stadt mit den Sowjets. Portisch beschreibt eindrucksvoll die Ergebnisse der Verhandlungen, welche umsichtig und verantwortungsvoll von den Vertretern der vier Mächte abgeschlossen wurden. »Während Renner noch den Kontakt zur Vienna Mission sucht, schließt diese nun ihre Verhandlungen mit den Sowjets in Wien ab. Man einigt sich über die Zoneneinteilung in Wien. Wien wird in den Stadtgrenzen von 1937 aufgeteilt. Der sowjetische Standpunkt hat sich durchgesetzt.«48 Die Bezirke wurden den einzelnen Alliierten zugeordnet, ebenso Gebäude, die als Verwaltungssitze dienen konnten, und 30

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Abb. 3  : Bundeskanzler Figl bei der Weihnachtsansprache im BKA

große Hotels. Besonders wichtig war die Einigung über die Flugplätze. Der Flugplatz Langenlebarn wurde den Amerikanern zugeteilt, während die Briten und die Franzosen gemeinsam den Flugplatz Schwechat nützen konnten. Die Sowjets hatten ja den Flugplatz in Vöslau. Von größter Bedeutung aber war das Versprechen der Sowjets über die ungehinderte Erreichbarkeit der Flugplätze, da sich die drei Westalliierten ja über Gebiet bewegen mussten, das von den Sowjets kontrolliert wurde. Die vielleicht bedeutendste Übereinkunft beschreibt Portisch wie folgt  : »Eine der wichtigsten Entscheidungen – noch wichtiger als die über die Flugplätze – ist die Übereinkunft zwischen den Westalliierten und den Sowjets, den ersten Bezirk, die Innere Stadt, mit ihren Regierungsgebäuden und Verwaltungszentren zu einem interalliierten Sektor zu erklären. Eine Forderung der Briten, der aber auch die Sowjets zustimmten. Die Innere Stadt wird allen vier Alliierten gleichermaßen unterstellt. Das Oberkommando soll jeden Monat von einer anderen alliierten Macht ausgeübt werden.«49 Hugo Portisch schließt richtig, dass diese Internationalisierung der Inneren Stadt entscheidend zur Stabilisierung der Verhältnisse in Wien und damit auch in Österreich beigetragen hat. Er schreibt  : »Sie gab der österreichischen Regierung, allen 31

michael dippelreiter Ministerien und zentralen Verwaltungsstellen ein hohes Maß an Sicherheit und ließ sie daher um so mutiger und zielbewusster auftreten. Die gemeinsame Verwaltung der Inneren Stadt zwang die vier Alliierten zu einer Zusammenarbeit, die sich kaum aufkündigen und nur schwer durch Bruch beenden ließ. Und die Viermächteverwaltung der Inneren Stadt gab Wien ein internationales Flair schon und gerade zu einer Zeit, als es noch darniederlag, und legte damit wohl auch einen Grundstein für Wiens heutigen Anspruch als internationales Zentrum.«50 Diese Ergebnisse wurden im »Abkommen betreffend die Besatzungszonen und die Verwaltung der Stadt Wien« am 9. Juli 1945 von den vier Alliierten unterschrieben und dienten zusammen mit dem (später erneuerten) »Kontrollabkommen für Österreich« vom 4. Juli 1945 als Grundlage für die Zusammenarbeit der vier alliierten Mächte mit der österreichischen Bundesregierung.

Das Leben wird langsam wieder normal Trotz größter Behinderungen im alltäglichen Leben, sei es Stromversorgung, sei es der öffentliche Verkehr, und natürlich auch die katastrophale Ernährungslage, freuten sich die Menschen doch auf die Rückkehr einer gewissen Normalität. Alexander Toldt schildert die Stimmung in seinem Amt  : »Der Geist, von dem das Personal in den Wochen nach der Befreiung beseelt war, war nach all dem Erlebten unwahrscheinlich gut. Trotz der beinahe katastrophalen Ernährungslage und des Fehlens von Beförderungsmitteln – es gab damals keine Tramway – erschienen die Leute ohne Zwang pünktlich zum Dienst, ganz gleichgültig, ob sie nahe oder weit entfernt von ihrer Arbeitsstätte wohnten. So kam z. B. ein höherrangiger Beamter zu Fuß aus Mödling, einige mutige Leute benützen das Fahrrad und riskierten bei jeder Fahrt, dass ihnen ihr Fahrzeug von eigenmächtig handelnden Soldaten ›beschlagnahmt‹ wird, andere wieder nützen jede sich bietende Gelegenheit, um etwa auf Streifenwagen oder einem der wenigen Lastwagen zumindest ein Stück mitgenommen zu werden. Manche schließlich, die weit außerhalb Wiens wohnten, quartierten sich vorübergehend bei Freunden in Wien ein, nahmen dabei alle Schwierigkeiten, die mit der Verpflegung verbunden waren auf sich und begnügten sich damit, sich über Samstag/Sonntag nach Hause zu ihren Angehörigen zu begeben.«51 Am 12. Mai meldete die »Oesterreichische Zeitung« die Wiederaufnahme des Post- und Telegrafendienstes in Wien  : Die Post werde wieder befördert, der Telegraf arbeite wieder  ; einzig das Telefonnetz sei zu stark beschädigt, sodass die gänz­ liche Wiederherstellung noch einige Zeit in Anspruch nehmen werde. Da die alliierten Truppen die Wasserversorgung Wiens nicht direkt angegriffen hatten, war diese – wenn auch mit Schwierigkeiten – gegeben. Anders sah es mit 32

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Abb. 4  : Bedienstete des BKA bei der Weihnachtsfeier 1945

der Stromversorgung aus. Der zuständige Stadtrat gab bekannt  : »Die derzeitige Stromabgabe liegt bei 42 % der durchschnittlichen Normalleistung. … Im Kraftwerk Engerthstraße des Elektrizitätswerkes gab es schwerwiegende Schäden. Sie sind behoben, das Kraftwerk arbeitet vom 15. Mai an im beschränkten Ausmaß. Die Wasserkraftwerke versorgen im Frieden die halbe Stadt Wien mit Strom. An der Fernleitung Wien-Süd Ebenfurt sind verhältnismäßig wenig Schäden, an der Fernleitung Süd Ternitz schwere Schäden. Wo die Leitungen zugänglich sind, wird mit aller Kraft repariert.«52 Dieselbe Zeitung vermeldet am 27. Mai als Schlagzeile  : »Licht und Strom für ganz Wien. Ab 3. Juni bessere Versorgung mit Elektrizität.« Ab diesem Tag sollten alle Betriebe und Wohnungen, deren Zuleitungen nicht noch zerstört waren, mit Strom versorgt werden, da eine zusätzliche Leitung aus der Steiermark Stromlieferungen durchführen könne. Auch das schulische Leben normalisierte sich langsam. Nachdem die Winterferien durch Mangel an Heizmaterial auf zwei Monate verlängert worden waren und sich dann die unmittelbaren Kampfhandlungen auf den Unterricht auswirkten, waren durch Bombenabwürfe und Brände zahlreiche Schulen unbenützbar geworden. Dazu heißt es in der »Oesterreichischen Zeitung«  : »Vor den Stadtbehörden stehen große 33

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Abb. 5  : Weihnachtsfeier 1945 im BKA

Aufgaben, um den Unterricht in allen Schulen zu beginnen und in normale Geleise zu bahnen. … In den letzten zwei Wochen ist es ihnen gelungen, in ca. 90 Schulen den Unterricht aufs neue zu beginnen. … Ab Montag, den 14. Mai, sollen noch ca. 70 Schulen den unterbrochenen Unterricht wieder aufnehmen. Das Schulamt und der Stadtschulrat arbeiten energisch daran, möglichst schnell die Schulgebäude zu renovieren, das entsprechende Lehrpersonal ausfindig zu machen, und die Schüler mit Lehrmittel zu versorgen und alle schulpflichtigen Kinder zur Schule zurückzubringen.«53 Eine große Erleichterung für die Wiener Bevölkerung, aber auch für die Wirtschaft, war der Erlass des Stadtkommandanten Blagodatow, den zivilen Personenverkehr bis 22 Uhr zuzulassen. Daraufhin verlängerte die Verwaltung den Straßenbahnverkehr bis 21.30 Uhr. Die Verfügung ermöglichte es aber auch, dass in den Büros, Werkstätten und Fabriken und nicht zuletzt auch in den Schrebergärten länger gearbeitet werden konnte. Gleichzeitig dazu wurde angekündigt, dass der Reparatur der Straßenbeleuchtung verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde. 34

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Abb. 6  : Weihnachtsfeier 1945 im BKA

Das schwierigste Problem, mit dem sich die sowjetische Militärverwaltung, die neugegründete Republik Österreich und die Wiener Stadtregierung konfrontiert sahen, war die Beschaffung der nötigen Lebensmittel. Für die Bevölkerung ging es ums blanke Überleben. Portisch schreibt  : »Die Menschen auf den Straßen sind ständig auf Nahrungssuche. Denn mit dem Kriegsende ist auch die Versorgung am Ende. An den mit Brettern vernagelten Schaufenstern hängt die Anordnung des Bürgermeisters, die Geschäfte wieder zu öffnen. Aber es gibt fast nichts zu verkaufen. Wird irgendwo etwas angeboten, stellen sich die Menschen sofort in Schlangen an, und sei es nur, um einen Schluck Sodawasser zu erstehen. Auch Leitungswasser ist bei den vielen Leitungsschäden (ursprünglich) keine Selbstverständlichkeit.«54 »Bis zur Aufteilung der Stadt auf vier Besatzungszonen im Herbst 1945 oblag die Bewältigung der Ernährungsprobleme der Roten Armee. Wien war auf fremde Hilfe angewiesen, waren doch große Teile der Vorräte beim Abzug der deutschen Truppen vernichtet oder durch Plünderungen, im Zuge derer noch Unmengen an Nahrungs35

michael dippelreiter mitteln unbrauchbar gemacht wurden, entwendet worden. Zunächst gab es keine geregelte Lebensmittelversorgung.«55 In dieser allergrößten Not kam es zur ersten Lebensmittelspende Stalins an die Wiener Bevölkerung. Am 1. Mai 1945 wurden der Stadtregierung hauptsächlich Trockenerbsen, aber auch Mehl und Getreide übergeben. Zum ersten Mal seit Beendigung der Kampfhandlungen konnten die Bäckereien wieder Brot backen, auch die renommierte Ankerbrot-Fabrik nahm den Betrieb wieder auf. In Ermangelung von Lebensmittelkarten erfolgte die Verteilung nach dem Prinzip  : ein Laib Brot für eine Familie. Noch im Mai kam es zu einer zweiten Lebensmittelspende für die hungernde Wiener Bevölkerung. Die Verteilung der Lebensmittel wurde nun schon professioneller durchgeführt. Als Folge dieser zweiten Lebensmittelspende wurden von der Wiener Gemeindeverwaltung die Lebensmittelrationen erhöht, und zwar mit Wirksamkeit vom 1. Juli. Es kam zur Ausgabe von Lebensmittelkarten  : Die verschiedenen Bereiche wie Fleisch, Fett, Zucker und Grütze wurden dreimal monatlich ausgegeben, Brot konnte täglich oder aber auch für zwei Tage im Voraus gekauft werden. »Ab Samstag, 16. Juni, wird in den vom Österreichischen Milch- und Fettwirtschaftsverband I. Wipplingerstraße 30, durch besonderen Aushang gekennzeichneten Milchsondergeschäften auf die Zusatzkarte klst für Kleinstkinder vom vollendeten 1. bis zum vollendeten 3. Lebensjahr ein Achtelliter Vollmilch ausgegeben.«56 Die Zeitung berichtet weiter, es sei den Verantwortlichen bewusst, dass diese Menge kaum ausreiche. Dennoch habe man die Hoffnung, die Milchliefer- und Ausgabemenge in den nächsten Monaten zu steigern. Obwohl es in der Nahrungsmittelversorgung kleine Fortschritte gab, war die Lage weiter sehr kritisch. Im Abkommen für die Aufteilung Wiens in verschiedene Zonen wollten die Sowjets die Versorgung den einzelnen Staaten übertragen  ; dies konnte jedoch durch einen Einspruch der anderen drei Alliierten verhindert werden  ; die Versorgung für die gesamte Stadt wurde auch künftig zentral durchgeführt. Für jeden einzelnen Wiener war der Überlebenskampf beschwerlich und auch psychisch anstrengend. Auch Mignon Langnas, die als jüdische Krankenschwester die sieben Jahre Naziterror überlebte, hatte durch die Befreiung nicht nur schöne Erlebnisse. In einer Tagebucheintragung am 16. Mai schreibt sie  : »Aus dem Dienst weg ein Sprüngerl zur Hanny Zimmer. Ich finde sie in ihrer neuen Wohnung + sie erzählt, dass Rudi aus dem Dienst entlassen wurde + dass man den ehemaligen Mitgliedern der naz. Partei Tafeln umhängte + sie so zur Arbeit durch die Straßen führte  : ›Ich war auch ein Nazischwein  !‹ Ist das richtig  ? Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal in der Heinestraße eine jüdische Frau die Straße habe reinigen gesehen. – alles ist scheußlich.« Und am 21. Mai 1945 vermerkt sie unter anderem  : »Lieber Gott, hilf mir, hilf mir  ! Ich bin so voll Sehnsucht + Unruhe – jeder Tag scheint 36

wien in der ersten hälfte des jahres 1945 einer Ewigkeit gleich. Und diese Zeit ist kaum zu ertragen. Wo ist die Freude  ? Wo ist der Friede  ?«57 So wie ihr ging es wohl vielen Wienerinnen und Wienern. Mit der Zeit wurde das Überleben wohl ein wenig leichter, bis zu einem normalen Leben dauerte es aber noch sehr lange.

A nmerkungen  1 Die im Artikel abgebildeten, großteils bisher nicht publizierten Fotos stammen aus dem Dezember 1945. Verwendung mit freundlicher Genehmigung von MR Doz. Dr. Helmut Wohnout, Karl von VogelsangInstitut, Wien.  2 Rebhann, Fritz M.: Finale in Wien. Eine Gaustadt in Scherben. Wien 1969. S. 139.  3 Fraller, Elisabeth/Langnas, George (Hg.)  : Mignon. Briefe und Tagebücher einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938–1945. Innsbruck 2010. S. 269.  4 Völkischer Beobachter vom 4.1.1945. S. 2.  5 Gosztony, Peter  : Endkampf an der Donau 1944/55. 2. Aufl. Wien 1969. S. 256.  6 Völkischer Beobachter vom 11.3.1945. S. 2.  7 Fraller/Langnas a.a.O. S. 281, 282.  8 Broucek, Peter  : Der Kampf um Wien 1945 und der österreichische militärische Widerstand. In  : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie. 51. Jg. 2007, Heft 4–5. S. 236.  9 Broucek a.a.O. S. 237. 10 Völkischer Beobachter vom 25.1.1945. S. 4. 11 Rebhann a.a.O. S. 149, 150. 12 Fraller/Langnas a.a.O. S. 288. 13 Portisch, Hugo  : Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates. Wien 1985. S. 44, 45. 14 Fraller/Langnas a.a.O. S. 291, 292. 15 Portisch a.a.O. S. 78. 16 Gosztony a.a.O. S. 259. 17 Broucek a.a.O. S. 240. 18 Broucek a.a.O. S. 243, 244. 19 Vgl. dazu Broucek a.a.O. S. 247. 20 Hier kommt Broucek zu einem völlig anderen Ergebnis. Bisher herrschte in der Literatur die Meinung vor, dass ein Telefonat Biedermanns von einem nazibegeisterten Offizier mitgehört und verraten wurde. 21 Gosztony a.a.O. S. 261. 22 Wiener Presse. Gemeinschaftsausgabe der amtlichen Nachrichten. Sonntag, 8. April 1945. 23 Rebhann a.a.O. S. 205. 24 Portisch a.a.O. S. 96. 25 Gosztony a.a.O. S. 262. 26 Fraller/Langnas a.a.O. S. 309, 310. 27 Fraller/Langnas a.a.O. S. 311, 312. 28 Zitiert in Portisch a.a.O. S. 115. 29 Vgl. dazu den Artikel von Martin Dolezal, Anmerkung 137. 30 Vgl. Portisch a.a.O. S. 130

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michael dippelreiter 31 Zit. in Portisch a.a.O. S. 130. 32 Portisch a.a.O. S. 146. 33 Österreichische Zeitung. Frontzeitung für die Bevölkerung Österreichs. 15.4.1945. S. 2. 34 Österreichische Zeitung a.a.O. 21. April 1945. S. 3. 35 Alexander Toldt, Vom E.F. Kanonier zum Kabinettsdirektor zweier Bundespräsidenten. Lebenserinnerungen. Unveröff. Manus. Maschinschr. S. 166. Freundlicherweise dem Autor zur Verfügung gestellt von Dr. Felix Wilcek, dem Enkel von A. Toldt. 36 Broucek a.a.O. S. 253. 37 Brief des mit der Leitung der Akademie der Wissenschaften beauftragten Rektors der Universität Wien vom 31. März 1945. Dem Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Florian Gerhardus. 38 Brief von Dr. Norbert Bischoff an seine Mutter vom 16.4.1945. Dem Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Florian Gerhardus. 39 Toldt a.a.O. S. 168, 169. 40 Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung. Montag, 23. April 1945. S. 1. 41 Vier Tage später wurde aber das Theater an der Wien als Ausweichquartier der Staatsoper genannt, welches es auch bis zur Wiedereröffnung 1955 blieb. 42 Neues Oesterreich a.a.O. 24. April 1945. S. 3. 43 Neues Oesterreich a.a.O. 29. April 1945. S. 4. 44 Portisch a.a.O. S. 302. 45 Oesterreichische Zeitung a.a.O. 6. Mai 1945. S. 3. 46 Portisch a.a.O. S. 315. 47 Neues Oesterreich 29. April 1945. S. 4. 48 Portisch a.a.O. S. 370. 49 Portisch a.a.O. S. 370. 50 Portisch a.a.O. S. 371. 51 Toldt a.a.O. S. 180. 52 Neues Oesterreich 15. Mai 1945. S. 3. 53 Oesterreichische Zeitung 12. Mai 1945. S. 3. 54 Portisch a.a.O. S. 303. 55 Bihl, Gustav  : Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte. In  : Csendes, Peter/Opll, Ferdinand  : Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 3. Wien 2006. S. 560, 561. 56 Neues Oesterreich a.a.O. 15. Juni 1945. S. 3. 57 Fraller/Langnas a.a.O. S. 324, 325.

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martin dolezal

Die politische Entwicklung Wiens

1. Einleitung 1

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ie Darstellung der politischen Entwicklung eines Bundeslandes wie Wien kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Sie kann sich an den »großen Männern« – und Frauen – orientieren, die zentrale politische Ämter wie das des Landeshauptmanns ausübten. Sie kann die Entwicklung an politischen Ereignissen, die für Aufsehen sorgten, festmachen. Und schließlich kann eine solche Überblicksdarstellung in systematischer Weise die Rahmenbedingungen und Institutionen erläutern, welche die Basis für die politische Entwicklung eines Gemeinwesens bilden. Das vorliegende Kapitel orientiert sich in erster Linie an der letztgenannten Herangehensweise, will dabei aber auch einzelne Ereignisse und für die politische Entwicklung der Nachkriegszeit bestimmende Personen berücksichtigen. Der zeitliche Rahmen des Kapitels bezieht sich in erster Linie naturgemäß auf jene Periode, welcher der vorliegende Band insgesamt gewidmet ist, das heißt auf die Jahre von 1945 bis 1995. Alle Grafiken und Tabellen, die verschiedene Aspekte der politischen Entwicklung Wiens im Zeitverlauf vermitteln, und auch kurze Hinweise im Text selbst behandeln jedoch zusätzlich die Jahre bis einschließlich 2010. Zunächst erfolgt ein Blick auf die Rahmenbedingungen der politischen Entwicklung (Abschnitt 2). Dazu zählen die politischen Konsequenzen der Doppelfunktion Wiens als Stadt und Bundesland, die Dominanz der Wiener spö, die bis 1989 häufig als stärkste sozialistische Partei der westlichen Welt bezeichnet wurde, sowie verschiedene Aspekte der politischen Kultur  : von den Einstellungen der Stadtbewohner bis zur Rolle der Massenmedien. Anschließend wird in den Abschnitten 3 und 4 auf den Gemeinderat/Landtag (Legislative) beziehungsweise den Stadtsenat/die Landesregierung (Exekutive) eingegangen. In beiden Bereichen ist auch der Darstellung der rechtlichen Bestimmungen ein wenig Raum gewidmet, im Vordergrund soll aber stets die politische Praxis, also das Handeln der Akteure und deren unterschiedliche Standpunkte, stehen, wenngleich in der vorhandenen Literatur über manche Aspekte nur wenige Informationen vorliegen. Der darauffolgende fünfte Abschnitt geht auf die Rolle der 23 Bezirke ein, die eine eigenständige politische Ebene unterhalb der Landespolitik bilden. Abschließend befasst sich das Kapitel mit Formen der politischen Beteiligung jenseits der Wahlen  : Abschnitt 6 geht dabei kurz auf verschiedene Formen des politischen Protests ein, vor allem aber auf den seit den Siebzigerjahren in Wien relativ wichtigen Bereich der direkten Demokratie. 39

martin dolezal Gerade der zuletzt behandelte Aspekt der politischen Entwicklung Wiens wird zeigen, dass die Hegemonie der spö, die bei den Wahlen als unbezwingbar erschien, zumindest manchmal an ihre Grenzen stieß. An der grundsätzlichen Dominanz der Sozialdemokratie im »Roten Wien« hat sich seit 1945 aber dennoch nur sehr wenig geändert. Trotz der weitreichenden Veränderungen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit Beginn der Zweiten Republik – und auch trotz mancher Skandale im Umfeld der Stadtregierung – ist es immer noch die spö, die die politische Entwicklung der Bundeshauptstadt bestimmt.

2. R ahmenbedingungen Die politische Entwicklung einer Großstadt wie Wien ist von zahlreichen Faktoren geprägt. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen etwa die wirtschaftliche Entwicklung, die Struktur der Bevölkerung, das Verhältnis der Stadt- zur Bundespolitik, aber auch Auswirkungen der Europäisierung und Globalisierung. Gerade die »Ausländerfrage« ist als Folge der Migrationsbewegungen seit den Achtzigerjahren nicht nur bei den Wahlen eines der wichtigsten und zugleich umstrittensten Themen der Stadtpolitik.2 Vielen solchen möglichen Einflussfaktoren ist im vorliegenden Band ein eigener Beitrag gewidmet, weshalb in diesem Kapitel nicht weiter darauf eingegangen wird. Im vorliegenden Kapitel wird daher zunächst allein auf die historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen eingegangen, welche die politische Entwicklung bestimmen, konkret auf den eigentümlichen Doppelstatus Wiens als Stadt und Bundesland. Der Bedeutung und dem Charakter des »Roten Wiens«, der hegemonialen Stellung der spö, ist der zweite Unterabschnitt gewidmet. In weiterer Folge wird ein kurzer Blick auf die politische Kultur der Bevölkerung sowie auf die Rolle der Medien geworfen. Gerade Letztere erwiesen sich in manchen Episoden der Stadtpolitik, etwa in den frühen Siebzigerjahren, als die eigentliche »Opposition« zur regierenden spö, wogegen es den tatsächlichen Oppositionsparteien övp, fpö und seit den Achtzigerjahren den Grünen nur selten gelang, die Dominanz der Wiener spö entscheidend herauszufordern.

2.1 Wien als Sta dt und Bundesland Die Doppelfunktion als Stadt (bzw. Gemeinde) und Bundesland verleiht Wien eine Sonderrolle in der österreichischen Politik, doch sind ähnliche Konstellationen auch in anderen föderalen Staaten vorhanden  : In Deutschland kommt etwa den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen eine ähnliche Rolle zu. Im Alltagsverständnis der 40

die politische entwicklung wiens Wiener Bevölkerung dominiert eindeutig der Charakter Wiens als Stadt, wogegen die Bundesländer traditionell mit der Provinz, keinesfalls mit der Metropole gleichgesetzt werden. »Kaum ein Wiener«, formulierte der frühere Wiener övp-Chef Erhard Busek etwas überspitzt, »vermutet im Bürgermeister der Stadt Wien den Landeshauptmann und im Gemeinderat den Landtag.«3 Die historische Ursache für diese Sonderrolle Wiens liegt in der zu Beginn der Ersten Republik vollzogenen politischen Trennung von Niederösterreich, das die Stadt vollständig umschließt. Einerseits vermied man im neugeschaffenen Kleinstaat auf diesem Weg die Existenz eines übergroßen Bundeslandes, in dem rund die Hälfte der österreichischen Bevölkerung gelebt hätte. Andererseits schufen sich Sozialdemokraten und Christlichsoziale je eine sichere Hochburg für ihre politischen Bewegungen. Zunächst waren es jedoch die Christlichsozialen sowie vor allem die westlichen Bundesländer, die aus machtpolitischen Gründen für eine Trennung Wiens von Niederösterreich eintraten. Den Sozialdemokraten erschien eine solche Aufteilung weniger dringend, schließlich hatten sie bei der niederösterreichischen Landtagswahl im Mai 1919 eine absolute Mandatsmehrheit gewonnen4 und stellten mit Albert Sever auch den Landeshauptmann. In weiterer Folge sahen jedoch auch die (Wiener) Sozialdemokraten Vorteile in der größeren Autonomie eines Bundeslandes Wien und unterstützten daher den Trennungsplan, der am 1. Jänner 1922 schließlich umgesetzt wurde.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frage des Verhältnisses Wiens zu seinem Umland erneut aktuell. Zwar stand der Status als eigenes Bundesland nicht mehr zur Diskussion, doch war die Grenzziehung zu Niederösterreich 1945 zunächst offen. In der ns-Zeit war – unter teilweisem Rückgriff auf bereits in den Zwanzigerjahren formulierte Überlegungen – der Reichsgau »Groß-Wien« geschaffen worden. Die Fläche der Stadt wurde dadurch auf 1.215 Quadratkilometer verfünffacht. Wien hatte nun mehr als zwei Millionen Einwohner, und die Anzahl der Bezirke wuchs auf 26.6 Generell bestand 1945 die Absicht, österreichweit zu den alten Ländergrenzen zurückzukehren, weshalb die (provisorischen) Landesregierungen Wiens und Niederösterreichs rasch mit entsprechenden Verhandlungen begannen.7 Staatskanzler Karl Renner teilte die dabei erfolgte Einigung, nach der 80 von 97 in der ns-Zeit eingegliederte Gemeinden von Wien zu Niederösterreich zurückkehren sollten, im Oktober 1945 den Alliierten mit der Bitte um Zustimmung mit. Diese wurde jedoch nicht gewährt, da die vier Besatzungsmächte ihr Zonenabkommen, das sich an den vorhandenen Ländergrenzen orientierte, erneuern hätten müssen. So wären etwa bei einer Übernahme der neuen Grenzen Wiens zu Niederösterreich alle Flugplätze an die sowjetische Besatzungsmacht gegangen.8 Erst am 11. Juni 1954 stimmte der Alliierte Rat den 1946 auf Basis der erzielten Verhandlungsergebnisse beschlossenen Verfassungsgesetzen Wiens und Nie41

martin dolezal derösterreichs zur Grenzziehung schließlich zu. Diese Gesetze traten daraufhin am 1. September 1954 in Kraft.9 Neben der Einbeziehung der kpö in die ersten beiden Stadtregierungen (siehe Abschnitt 4) sowie dem Ausschluss ehemaliger National­ sozialisten von den Wahlberechtigten und der Nichtzulassung nationaler Parteien bei der ersten Wahl – all dies erfolgte auch auf Bundesebene – war die Grenzfrage das vielleicht sichtbarste Beispiel für die Einschränkung der Souveränität bis zum Staatsvertrag von 1955. Während durch das Zweite Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 einfache Gesetze ohne Veto der Alliierten nach 31 Tagen automatisch in Kraft traten, erforderten Verfassungsgesetze, darunter etwa die Grenzfrage, eine einhellige Bestätigung.10 Der Konflikt um die Grenze blieb jedoch eine Ausnahme und war keineswegs typisch für die Beziehung zwischen den Alliierten und der Stadtregierung. Generell ging der faktische Einfluss der Besatzungsmächte auf die Tagesgeschäfte der Kommunalpolitik bereits ab 1947 stark zurück.11 Wien schrumpfte 1954 infolge der Gebietsabtretungen auf 416 Quadratkilometer, verlor aber aufgrund des weitgehend ländlichen Charakters der abgetretenen Gebiete nur rund 150.000 Einwohner – und war immer noch deutlich größer als vor 1938. Nach der erfolgten Grenzziehung zu Niederösterreich konnten auch die Binnengrenzen endgültig festgelegt werden, zum Beispiel jene des 1954 neu geschaffenen xxiii. Bezirks Liesing. Dem bis zuletzt geäußerten Wunsch mehrerer Gemeinden, bei Wien zu bleiben, wurde von den beiden Landesregierungen nicht entsprochen.12 In einigen Randgemeinden hatte es auch Bestrebungen gegeben, die Frage der Zugehörigkeit mittels Volksabstimmungen zu entscheiden, doch waren die dafür notwendigen Instrumente – und vor allem der politische Wille der beiden Landesregierungen – nicht vorhanden.13 Den rechtlichen Rahmen der politischen Entwicklung definiert die Wiener Stadtverfassung (WStV). Sie wurde am 10. Juli 1945 durch das von der provisorischen Staatsregierung erlassene Wiener Verfassungsüberleitungsgesetz in der Fassung von 1931 wieder wirksam,14 ist seit damals aber häufig novelliert worden. Eigentlich ist sie eine Gemeindeverfassung, da die überwiegende Mehrheit ihrer Paragrafen (aktuell 112 von 139) Wien als Stadt gewidmet ist, Wien als Land tritt dagegen deutlich in den Hintergrund. In mehrfacher Hinsicht ist Wien »demnach Gemeinde und fungiert (auch) als Land«  :15 Rein rechtlich gesehen wird etwa nur der Gemeinderat gewählt, der dann – personalident – auch als Landtag tätig ist. Ferner wählt nicht der Landtag den Landeshauptmann, sondern der Gemeinderat wählt den Bürgermeister, der dann zugleich als Landeshauptmann amtiert. Dies gilt auch für die Landesregierung, deren Mitglieder zusammen den Stadtsenat bilden. Politisch relevant ist der Sonderstatus Wiens vor allem deshalb, weil er der Mehrheitspartei, das heißt bis heute stets der spö, einige wesentliche Vorteile verschafft. 42

die politische entwicklung wiens

Abb. 1: Wiener Rathaus

Aufgrund der Vorgaben der Bundesverfassung haben grundsätzlich alle Parteien das Recht – aber keinesfalls die Pflicht –, gemäß ihrer Mandatsstärke an der Regierung beteiligt zu werden. Wien ist neben einem Bundesland eben auch eine Gemeinde, und auf dieser politischen Ebene ist das System der Proporzregierung vorgeschrieben.16 1965 wurde im Rahmen einer Novellierung der Stadtverfassung die Anzahl der Stadträte mit mindestens neun und maximal 15 festgelegt.17 Da die Größe der Regierung innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens vom Gemeinderat auch ohne qualifizierte (Zweidrittel-)Mehrheit stets neu bestimmt werden kann, hat eine mit absoluter Mehrheit ausgestattete Partei – konkret die spö – großen Einfluss auf die Frage, welche Parteien in den Stadtsenat aufgenommen werden müssen  : Je geringer die Anzahl der Stadträte ist, desto eher besteht die Möglichkeit, kleinen Parteien den Zugang zu verwehren. Kritische Beobachter sehen in dieser Regelung deshalb eine »gewisse Möglichkeit der Manipulation«.18 Der entscheidende machtpolitische Hebel liegt aber nicht in der Festlegung der Anzahl der Stadträte, sondern in ihrer spezifischen Differenzierung in solche mit und ohne Ressort. Allein amtsführende Stadträte leiten Geschäftsgruppen des Magistrats. Den Stadträten, die in den Medien und der politischen Auseinandersetzung häufig 43

martin dolezal »nichtamtsführende Stadträte« genannt werden, kommt hingegen nur eine schwach ausgestattete Kontrollfunktion zu. Sie verfügen über keine Anfrage- oder Antragsrechte und unterliegen zudem der Amtsverschwiegenheit.19 Allerdings haben sie das Recht, jederzeit Einblick in alle Dienststücke der Stadt- beziehungsweise der Landesregierung zu nehmen.20 Der Gemeinderat legt die Ressortzuteilung auf Vorschlag des Stadtsenats fest  ; im Falle einer absoluten Mandatsmehrheit kann eine Partei dies allein bestimmen. Wien ist somit das einzige österreichische Bundesland mit Landesregierungsmitgliedern ohne eigenes Ressort.21 Die Oppositionsparteien haben diese von Welan als »Anomalie«22 bezeichnete Einrichtung immer schon kritisiert. 1992 versuchten övp und fpö, diese Regelung auf dem Rechtsweg zu kippen, und beantragten deshalb eine Prüfung auf Verfassungswidrigkeit. Der von den beiden Parteien angerufene Verfassungsgerichtshof entschied jedoch, dass die Notwendigkeit der proportionalen Vertretung nur für den Stadtsenat insgesamt gelte, nicht für die amtsführenden Stadträte.23 Trotz der geringen Kompetenzen und der bis auf wenige Ausnahmen fehlenden öffentlichen Sichtbarkeit und auch Bekanntheit der Stadträte ohne Ressort hat bislang noch keine Partei auf ein solches Amt verzichtet. Noch ein weiteres Element der Rahmenbedingungen erschwert die Rolle der kleineren Parteien in der Regierung. Laut Stadtverfassung ist es möglich, dass »gleichartige, häufig vorkommende Angelegenheiten und Gegenstände von geringerer Bedeutung«24 einzelnen Regierungsmitgliedern oder dem Amt der Landesregierung überlassen werden. Tatsächlich listet die Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung eine Vielzahl an »Geschäften« auf, die dem Amt der Wiener Landesregierung überlassen werden.25 Das Kollegialorgan Landesregierung/Stadtsenat beschränkt sich daher letztlich »auf die Wahrnehmung jener Aufgaben, die ihm bundesverfassungsrechtlich explizit übertragen sind«.26 Schließlich hat die Mehrheitspartei – konkret die spö – einen weiteren Vorteil  : Aufgrund der doppelten Funktion Wiens als Gemeinde und Land können wichtige (materielle bzw. faktische) Verfassungsbestimmungen im Rahmen der Gemeindeordnung ohne qualifizierte Mehrheit entschieden werden27– so etwa auch das Wahlrecht. Und nicht zuletzt fehlt in Wien auch das in allen anderen österreichischen Bundesländern vorhandene politische Gegengewicht der Städte und Gemeinden, deren parteipolitische Ausrichtung sich von jener der Landesebene unterscheiden kann. Die Doppelfunktion Wiens als Gemeinde und Land führt somit zu einem politischen System, das einer mit Mehrheit ausgestatteten Partei mehr Einflussmöglichkeiten gibt als in allen anderen Bundesländern. Die Trennung von Niederösterreich hat sich für die Wiener spö somit zumindest machtpolitisch durchaus bezahlt gemacht.

44

die politische entwicklung wiens 2.2 Das »Rote Wien« Die politische Entwicklung Wiens ist seit dem Zusammenbruch der Monarchie ohne Zweifel von der hegemonialen Stellung der spö – bis 1934 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (sdap) – geprägt. Seit 1919, als mit dem neu geschaffenen Frauenwahlrecht erstmals tatsächlich allgemeine Wahlen zum Gemeinderat durchgeführt wurden und die Sozialdemokraten mit 54,2 Prozent der Stimmen hundert von damals noch 165 Sitzen erhielten,28 hat die spö letztlich alle Wahlen gewonnen. Bis 1996 war sie dank einer absoluten Mandatsmehrheit auch stets in der Lage, wichtige Weichenstellungen allein vorzunehmen. In der Ersten Republik wurde dies in zum Teil feindlicher, in der Zweiten Republik, vor allem während der Oppositionsjahre (1966–1970 und 2000–2006), in kritischer Abgrenzung von der konservativ dominierten Bundespolitik vollzogen. Der Verlust des Bürgermeisterpostens oder gar das Ausscheiden aus der Stadt­ regierung ist aus Sicht der Wiener spö unter demokratischen Rahmenbedingungen ausgeschlossen. Schon der 1996 erstmals erfolgte Verlust der absoluten Mandatsmehrheit und die damit verbundene Notwendigkeit, eine Koalitionsregierung (mit der övp) zu bilden, wurden daher als entscheidende Einschnitte empfunden. Der Rückgewinn der verlorenen Mehrheit bei der darauffolgenden Wahl (2001) stellte deshalb – so die aufschlussreiche Einschätzung des früheren Bürgermeisters Leopold Gratz – »die natürliche Ordnung der Dinge«29 wieder her. Ein symbolträchtiger, gegen die spö gerichteter Mehrheitsbeschluss des Gemeinderats wurde nach 2001 jedoch nicht mehr revidiert  : Am 26. 11. 1997 hatten die drei Oppositionsparteien (fpö, Grüne und lif) gemeinsam mit der övp, dem Koalitionspartner der spö, die halbtägige Sperre des öffentlichen Verkehrs am 1. Mai beendet. Diese von der spö bis zuletzt mit Hinweisen auf eine gewachsene Tradition erbittert verteidigte Regelung sollte es den Bediensteten der städtischen Verkehrsbetriebe ermöglichen, an der traditionellen spö-Großkundgebung am Rathausplatz teilzunehmen. Die übrigen Parteien sahen darin jedoch weniger ein gewachsenes Recht der Arbeiterbewegung als eine unzumutbare Belastung der Benützer öffentlicher Verkehrsmittel. Für die spö ist Wien somit mehr als eine wahlpolitische Hochburg, das »Rote Wien« ist für die österreichische Sozialdemokratie ihr zentraler Bezugspunkt und der Ort, wo die Praxis sozialdemokratischer Politik einem Modell gleich umgesetzt werden kann.30 Wahlkampfreden stilisierten die Wiener Stadtpolitik deshalb gar zum »Vorbild für die ganze Welt«31 und zumindest bis in die Siebzigerjahre wurde auch regelmäßig auf die historischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit verwiesen  : »In Wien«, so der amtsführende Stadtrat Heinz Nittel in einem 1978 erschienenen Buch über die Wiener spö, »haben die Sozialisten während der schweren Jahre der Ersten Republik ein Beispiel gegeben, wie sie ihre Ziele und Vorstellungen verwirklichen, 45

martin dolezal wenn sie dazu stark genug sind«.32 Die erwähnte Praxis der Kommunalpolitik wurde dabei vor allem durch drei Bereiche bestimmt  : durch die kommunale Fürsorgepolitik, den städtischen Wohnbau sowie die Kultur- und Bildungspolitik.33 Der kommunale Wohnbau ist dabei das sichtbarste Ergebnis, bestimmt er doch in einem großen Ausmaß das Wiener Stadtbild – zumindest abseits der klassischen Touristenpfade. Bereits 1933 lebten rund 200.000 Wiener in insgesamt 53.667 Gemeindewohnungen und 5.257 gemeindeeigenen Siedlungshäusern.34 Mit einer Frontlänge von 1.200 Metern ist der 1930 eröffnete Karl-Marx-Hof zwar nur die drittgrößte in Wien errichtete Anlage, gilt aber auch international als das herausragende Symbol des kommunalen Wohnbaus.35 Die nach dem Krieg wieder aufgenommene Errichtung von Gemeindebauten war lange Zeit das wichtigste politische Ziel der Stadtregierung, dem viele andere Infrastrukturmaßnahmen untergeordnet wurden. Im Jahr 2010 lebten rund 500.000 Wiener36, das heißt rund dreißig Prozent der Stadtbevölkerung, in Gemeindewohnungen. Die Errichtung der Gemeindebauten diente nach beiden Weltkriegen in erster Linie natürlich der Bekämpfung der Wohnungsnot, die gerade in der zweiten Hälfte der Vierziger- und in den Fünfzigerjahren auch eine direkte Folge der Kriegsschäden war  : 86.875 Wohnungen, das waren 12,3 Prozent des Gesamtbestands, waren infolge der alliierten Bombardierungen und der Kampfhandlungen bei der Befreiung Wiens durch die Rote Armee zerstört worden. Rund 270.000 Menschen hatten dabei ihre Wohnung verloren.37 Mit dem kommunalen Wohnbau waren aber auch stets gesellschaftspolitische Konzepte verknüpft, »in deren Mittelpunkt die Schaffung eines ›neuen Menschen‹ stand«.38 Diese politische Orientierung und das in der Nachkriegszeit nicht nur für die Sozialdemokratie bestimmende Leitbild der Modernisierung rückten alternative Ziele wie die Sanierung alter Stadtviertel lange Zeit in den Hintergrund  : Erst Mitte der Siebzigerjahre erfolgten etwa am Spittelberg, einem auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Wohnviertel, die ersten großen Sanierungsmaßnahmen.39 Basis dafür war das im Jänner 1972 beschlossene Gesetz zur Altstadterhaltung,40 das die lange Periode des »bedingungslosen Neubaus«41 und der primären Orientierung an der Stadterweiterung beendete. Und auch Möglichkeiten zur Partizipation waren in den Jahren des Wiederaufbaus zumeist hintangestellt worden  : Erst 1976 kam es zur ersten umfassenden Mitbestimmung bei der Planung eines Wiener Gemeindebaus.42 Ihre hegemoniale Stellung in der Stadtpolitik gab der spö großen Einfluss auf die privaten Lebensentwürfe vieler Wiener.43 Der Vorwurf der Patronage, der »Parteibuchwirtschaft« bei der Vergabe von Wohnungen und Posten im öffentlichen Bereich, war deshalb lange Zeit ein Hauptangriffspunkt der Oppositionsparteien und der Medien, gerade auch in den Wahlkämpfen.44 Umfragen zeigten jedoch, dass die Österreicher – und wohl auch die Wiener – zumindest bis in die späten Sechziger46

die politische entwicklung wiens jahre persönliche Vorteile durch die Mitgliedschaft bei einer Partei befürworteten oder zumindest als »übliche« Begleiterscheinung akzeptierten.45 Erst in den Siebzigerjahren verlor das Modell einer umfassenden Parteipolitisierung seine grundlegende Akzeptanz in der Bevölkerung, wenngleich seine Folgen sichtbar blieben  : So wohnten etwa 1987 mehr als vierzig Prozent der Wiener spö-Wähler in einer Gemeindewohnung. Von den övp-Wählern, die sich jedoch sozialstrukturell von den Sozialdemokraten unterscheiden, waren es nur zehn Prozent.46 Durch den verstärkten Gebrauch objektivierender Verfahren bei der Vergabe der Sozialwohnungen ist der Parteieneinfluss seit den Achtzigerjahren deutlich gemildert worden. Hauptangriffspunkt der Opposition, konkret der fpö, war in den letzten Jahren daher eher die 2001 begonnene Vergabe von Wohnungen an Migranten. Und insgesamt ging der Wohnbau durch die Gemeinde auch stark zurück  : Im Jahr 1996 betrug ihr Anteil an den neu errichteten Wohnungen nur mehr rund zwölf Prozent. Aufgrund der Dominanz gemeinnütziger Bauträger blieb der Anteil der Privaten mit rund neun Prozent jedoch weiterhin sehr gering.47 Nach der Jahrtausendwende wurde der Bau von Gemeindewohnungen schließlich stark zurückgefahren  ; insgesamt – einschließlich der Bauten aus der Ersten Republik – beträgt der Bestand nun rund 220.000 Wohnungen.48 Auch im Bereich der Vergabe von Posten im öffentlichen Sektor ist der Höhepunkt der »Parteibuchwirtschaft« wohl überschritten. Das Ausmaß der spö-Nähe der Landesbeamten lässt sich jedoch – indirekt – immer noch anhand der Ergebnisse bei den Wiener Personalvertretungs- und Gewerkschaftswahlen ermessen  : In den Jahren von 1950 bis 2010 gewannen die spö-Gewerkschafter dabei immer mehr als drei Viertel der Stimmen, wobei auch Ergebnisse jenseits der achtzig und sogar neunzig Prozent erreicht wurden.49 Der öffentliche Dienst wurde daher zu einer zentralen Wählerbasis der Wiener spö.

2.3 Politische Kultur & M assenmedien Über die politische Kultur Wiens, das heißt die spezifischen Einstellungen der Bevölkerung und der »Eliten« gegenüber generellen Fragen der politischen Ordnung, ist in vergleichender Perspektive vor allem für die ersten Jahre der Zweiten Republik nahezu nichts bekannt. Inwieweit es hier spezifische Unterschiede zu den übrigen Bundesländern gab, kann daher bloß spekuliert werden. Mitte der Neunzigerjahre, also am Ende der in diesem Buch behandelten Epoche, zeigten sich jedoch einige deutliche, auch einen längerfristigen Charakter aufweisende Abweichungen von den übrigen Ländern  : So positionieren sich die Wiener am weitesten auf der politischen Linken und sind die am deutlichsten säkular 47

martin dolezal orientierten Österreicher. Die für ein großstädtisches Milieu nicht überraschende Tendenz zur Säkularisierung kann auch am Anteil der Katholiken unter den Stadtbewohnern abgelesen werden. Dieser war immer schon deutlich geringer als in den anderen Bundesländern. Zuletzt, 2001, sank er erstmals unter fünfzig Prozent, wobei er bei den österreichischen Staatsbürgern noch 55,3 Prozent betrug.50 Stärker als die Einwohner der übrigen Bundesländer sehen sich die Wiener in erster Linie als »Österreicher«, weshalb sie auch – nach den Burgenländern – die geringste (hypothetische) Neigung zeigen, eine spezifische Regionalpartei zu wählen.51 Ähnliche Ergebnisse zeigten schon Umfragen in den Achtzigerjahren.52 Das Ausmaß der Partizipation, der Beteiligung am politischen Geschehen, ist im Bereich der Wahlen unterdurchschnittlich ausgeprägt (vgl. Abschnitt 3), im Rahmen »unkonventioneller« politischer Partizipationsformen wie Petitionen und Demonst­ rationen (vgl. Abschnitt 6) nehmen die Wiener jedoch österreichweit den Spitzenplatz ein.53 Auch hier kann von einer relativ starken Kontinuität ausgegangen werden, da ähnliche Befunde bereits in den frühen Achtzigerjahren vorlagen.54 Stärker als in anderen Bundesländern ist auch die Mitgliedschaft in einer Partei verbreitet, das heißt natürlich vor allem in der spö.55 Auf die damit zum Teil verbundenen Konsequenzen der »Parteibuchwirtschaft« wurde bereits verwiesen. In Bezug auf die politischen Einstellungen der Bevölkerung kann neben der bereits erwähnten generellen »Linksorientierung« von einer weit verbreiteten Akzeptanz der Politik der spö ausgegangen werden – anders wäre ihre ununterbrochene Dominanz wohl nicht erklärbar. Gerade der Bereich der unkonventionellen politischen Partizipation, auf den im vorliegenden Beitrag noch ausführlich eingegangen werden wird, zeigte der spö jedoch mehrfach die Grenzen dieser Zustimmung auf. Bereits in den Sechzigerjahren, als die Parteien damit begannen, die Einstellungen der Wähler systematisch zu erforschen, waren erste Bruchlinien sichtbar  : So sprach sich etwa in einer spö-Umfrage vor der Gemeinderatswahl 1964 eine Mehrheit für die Sanierung alter Stadtviertel aus – wogegen die spö-Politik lange Zeit den Neubau und die Stadterweiterung propagierte.56 Den Handlungsspielraum der spö-Politik beeinflussen auch die Massen­medien, denen daher ebenso eine zentrale Rolle im Bereich der politischen Rahmenbedingungen zukommt. Bei den Tageszeitungen muss zunächst auf die besondere Situation des Wiener Zeitungsmarktes verwiesen werden, konkret auf das Fehlen einer typischen Regionalzeitung. Wien bildet mit Niederösterreich und dem Burgenland einen »Medienraum«57, in dem keine spezifischen (relevanten) Ländermedien vorhanden sind. Angesichts der oft mehr oder weniger deutlichen Orientierung regionaler Leitmedien an der jeweiligen Landeshauptmannpartei führte dies für die Wiener spö zu einer schwierigeren Situation als etwa für die övp in einigen ­ihrer regionalen Hochburgen. Weitere Charakteristika des Zeitungsmarktes stellen jedoch keine Wiener 48

die politische entwicklung wiens Spezifika dar, sondern widerspiegeln die gesamtösterreichische Entwicklung seit 1945  : Im Zeitverlauf muss dabei zunächst auf die Phase der Besatzungszeit verwiesen werden, als die Massenmedien, das heißt die Zeitungen und das Radio, zunächst unter alliierter Kontrolle standen.58 Abgesehen vom Verschwinden der Zeitungen der Besatzungsmächte beziehungsweise deren Übernahme durch österreichische Verleger kam es in weiterer Folge – wie in den meisten anderen Bundesländern auch – zum langsamen Ende der Parteizeitungen und als jüngste Entwicklung der Zweitausenderjahre vor allem in Wien zum Aufkommen von Gratiszeitungen. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Wiener Zeitungslandschaft seit 1965, als zum ersten Mal die Media-Analyse durchgeführt wurde. Deren Ergebnisse zeigen vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine überragende Stellung der Kronenzeitung und eine zurückgehende Bedeutung des Kuriers. Beide Zeitungen standen der Wiener spö nicht immer nur wohlwollend gegenüber. Tabelle 1: Reichweiten ausgewählter Tageszeitungen in Wien seit 1965 (Prozentwerte) Kronenzeitung

Kurier

Die Presse

Der Standard

Express

Neues Öster­ reich

1965–1970

23,9

33,0

5,6



22,4

1970er Jahre

52,9

42,2

7,0





1980er Jahre

52,5

37,7

7,7



1991–1995

42,8

31,0

8,6

Vergleich  : 20101

35,6

16,5

8,2

Arbeiterzeitung (SPÖ)

Volksblatt (ÖVP)

3,7

8,2

3,7



6,5







5,5



11,3









11,8









Quelle  : ARGE Media-Analyse  ; Durchschnittswerte der jährlichen Reichweiten in den angegebenen Jahrfünften und Jahrzehnten. Anmerkung  : 1 weitere Titel (u. a.)  : Heute 37,6 %  ; Österreich 22,0 %.

Nicht nur im Bereich der Tageszeitungen, gerade auch auf dem Magazinsektor geriet die spö häufig unter Beschuss. Vor allem das neu gegründete Nachrichtenmagazin profil 59 schrieb seit den frühen Siebzigerjahren mit zum Teil großer Schärfe gegen die Wiener spö beziehungsweise die damals amtierenden Bürgermeister Felix Slavik und Leopold Gratz60 an. Insgesamt wurde der Wiener Stadtpolitik – einschließlich zum Teil bundespolitischer Themen wie dem Bau des Konferenzzentrums und dem akh 61 (Allgemeines Krankenhaus) – damals sehr viel Platz in der Berichterstattung des profil eingeräumt  : Eine Durchsicht der Titelgeschichten ergab für die Jahre von 1970 bis 1979 einen Anteil von etwa acht Prozent. 49

martin dolezal

Abb. 2: Das profil kritisierte die Amtsführung von Leopold Gratz (1975).

Abb. 3: Der Einsturz der Reichsbrücke am 1. August 1976 (profil).

Die gerade in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren gegen die spö gerichteten Vorwürfe bezogen sich vor allem auf die nach jahrzehntelanger Regierungstätigkeit enge Verflechtung von Partei, Behörden und gemeindeeigenen Unternehmungen62 und eine damit verbundene mangelnde Kontrolltätigkeit  : etwa beim Bauringskandal, als gemeindeeigene Wohnbaugesellschaften bei dubiosen Projekten im arabischen Raum einen Verlust von 1,4 Milliarden Schilling (rund hundert Millionen Euro) verbuchten, oder beim akh-Skandal. Die dominante Position der spö konnten diese Skandale aber letztlich nicht gefährden. Allein Bürgermeister Slavik, der lange mit Vorwürfen des Amtsmissbrauchs – wenngleich nicht der persönlichen Bereicherung – konfrontiert wurde,63 trat 1973 zurück. Das auslösende Moment dafür waren aber weniger die medialen Vorwürfe als die verlorene Volksbefragung um den geplanten Bau eines Universitätsinstituts im Sternwartepark (vgl. Abschnitt 6). In Parteiorganen wurde die Kritik der Medien stets zurückgewiesen, die spö demonstrierte bei diesen Anlässen stets ihre traditionelle Geschlossenheit nach außen64  : Am Beispiel der erwähnten Volksbefragung schrieb etwa Chefredakteur Karl Czernetz im parteieigenen Theorieorgan Die Zukunft, dass es »der Boulevardpresse überhaupt nicht um die Bäume und nicht um das Grünland gegangen ist, sondern 50

die politische entwicklung wiens nur darum, den Sozialisten eins auszuwischen.«65 Im Jahr zuvor war dem profil sogar vorgeworfen worden, Subventionen politischer Gegner als Gegenleistung für die – aus Sicht der spö – »Kampagne gegen Wiens Bürgermeister Slavik« zu erhalten. Die in der Arbeiterzeitung66 veröffentlichten »Beweise« erwiesen sich jedoch als Fälschung, weshalb der Vorwurf zurückgenommen werden musste.67 Zum wohl sichtbarsten Symbol für die von den Medien angeprangerten Verfehlungen der Stadtpolitik wurde schließlich der Einsturz der Reichsbrücke am 1. August 1976.68 Allein der Zeitpunkt des Einsturzes an einem Sonntag kurz vor fünf Uhr früh verhinderte eine Katastrophe, wenngleich ein Todesopfer zu beklagen war. Aufgrund des Vorwurfs der mangelnden Kontrolle durch die Behörden trat der zuständige amtsführende Stadtrat Fritz Hofmann zurück, und auch die Position von Bürgermeister Gratz schien zunächst gefährdet. Sein Rücktrittsangebot nahm die spö jedoch nicht an.69 Ironischerweise war es nicht der Regierungschef, sondern der Chef der Opposition, övp-Landesparteiobmann Franz Bauer, der nach dem Brückeneinsturz zurücktreten musste. Innerparteiliche Gegner hatten ihm vorgeworfen, zu wenig politisches Kapital aus dem Unglück geschlagen zu haben.70 Nachdem ihn ein abschließender Bericht über die Unglücksursache rehabilitiert hatte, kehrte der amtsführende Stadtrat Hofmann 1981 in die Regierung zurück. »Komfortabler« als das Verhältnis zu den Printmedien ist die Beziehung der Wiener spö wohl zum orf. Zwar wurde in Wien auf die traditionelle Radio-Ansprache des Landeshauptmanns bereits in den Achtzigerjahren verzichtet,71 doch ist die Präsenz der spö-Politiker, vor allem des Bürgermeisters, in den regionalen tv-Sendungen stark. Hierbei unterscheidet sich die Situation in Wien jedoch höchstens im Ausmaß, aber nicht grundsätzlich von der in den übrigen Bundesländern.72

3. Der Gemeinder at  : Wahl und Stellung im politischen System Der Gemeinderat/Landtag nimmt im politischen System Wiens zumindest formal die zentrale Rolle ein, ist er doch die direkt gewählte Vertretung der Wiener Bevölkerung. Der vorliegende Abschnitt behandelt zunächst die Ergebnisse der Gemeinderatswahlen in einem Längsschnitt von 1945 bis 2010, danach erfolgt ein Blick auf die zum Teil konfliktreiche Entwicklung des Wahlrechts, das die hegemoniale Position der spö auch nach dem Rückgang bei den Wählerstimmen stützte. Anschließend wird auf die Organisation und die Funktionen des »Stadtparlaments« sowie auf seine faktische Stellung in der Wiener Politik eingegangen. 51

martin dolezal 3.1 Die Ergebnisse der Gemeinder atswahlen Die Gemeinderatswahlen sind die zentralen, regelmäßig stattfindenden Ereignisse in der politischen Entwicklung Wiens. Über die Themen der einzelnen Wahlkämpfe und die sonstigen Strategien der Parteien zur Wählermobilisierung kann im vorliegenden Kapitel nicht eingegangen werden, doch liegt dazu für den Zeitraum von 1945 bis 1969 eine Studie des Autors vor.73 Der folgende Abschnitt beschränkt sich auf eine kurze Darstellung der Ergebnisse im Längsschnitt. Die Vorherrschaft der spö war in ihrer Hochburg Wien bei den Gemeinderatswahlen letztlich nie gefährdet, wenngleich die Sozialdemokraten, wie Grafik 1 verdeutlicht, von 1973 bis 1996 bei jeder Wahl an Stimmen verloren. Nach einem Rückschlag bei der Wahl von 1949, als mit dem VdU (Verband der Unabhängigen) eine vierte relevante Partei antreten durfte, waren die Fünfziger- und Sechzigerjahre hingegen von einem stetigen Zuwachs an Wählerstimmen geprägt. Diese Phase kulminierte 1973 – trotz der Krise um den Rücktritt von Bürgermeister Slavik – im Spitzenergebnis von 60,2 Prozent. Nach dem bisherigen Tiefpunkt von 1996, als die spö mit 39,2 Prozent erstmals unter die Vierzig-Prozent-Marke fiel, hat sich die spö zuletzt bei rund 45 Prozent stabilisiert. Die Chance auf eine absolute Mandatsmehrheit und eine damit verbundene Alleinregierung war für die spö daher auch bei den jüngsten Wahlen stets vorhanden. Die Entwicklung der övp war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, das heißt in der Phase der Koalition mit der spö (vgl. Abschnitt 4), von einem schleichenden Rückgang bei den Wähleranteilen geprägt. Der Abstand zur dominierenden Regierungspartei spö wurde von Wahl zu Wahl größer. Unter der Führung von Erhard Busek, der ab 1976 einen neuen oppositionellen Kurs mit einem Team parteiloser Kandidaten – den »bunten Vögeln« – einschlug,74 konnte sie in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren wieder zulegen. Dies blieb jedoch nur eine kurze Episode, nach der die övp dramatisch verlor und in den Neunzigerjahren von der fpö auf den dritten Platz verdrängt wurde. Zuletzt musste sie diesen gegen die erstarkten Grünen verteidigen. Die fpö spielte bis in die späten Achtzigerjahre eine vernachlässigbare Rolle in der Stadtpolitik. 1954 scheiterte die Vorgängerpartei VdU sogar am Wiedereinzug in den Gemeinderat, da mit der fsö (Freiheitliche Sammlung Österreichs) ein Konkurrent auftrat, der das »dritte Lager« spaltete. Länger als in der Bundespolitik konnte die kpö ihre Position halten, bis sie 1969 – zehn Jahre nach dem Nationalrat – auch aus dem Gemeinderat ausschied. Seit 1991, im internationalen Vergleich somit sehr spät, sind die Grünen im Stadtparlament vertreten. Die beiden ersten Kandidaturen, 1983 noch über die Vorgängerpartei »Alternative Liste Wien«, waren an der Prozenthürde (siehe Unterpunkt 3.2) gescheitert. Die beiden übrigen nach 1945 52

die politische entwicklung wiens im Gemeinderat vertretenen Parteien – die Demokratische Fortschrittliche Partei (dfp) des ehemaligen spö-Politikers Franz Olah und das von der fpö abgespaltene Liberale Forum (lif) – waren nur je einmal vertreten  : die dfp von 1969 bis 1973, das lif von 1996 bis 2001. Ferner kann noch das bzö – eine weitere Abspaltung von der fpö – erwähnt werden. Es verpasste jedoch bei beiden bisherigen Versuchen (2005 und 2010) klar den Einzug in den Gemeinderat. Grafik 1: Gemeinderatswahlen  : Anteile der Parteien und Wahlbeteiligung, 1945–2010 (Prozentwerte) 100 90 80 70

Wahlbeteiligung

60

SPÖ

50

ÖVP

40

FPÖ

30

KPÖ

20

Grüne

2010

2005

2001

1996

1991

1987

1983

1978

1973

1969

1964

1959

1954

1949

0

1945

10

 

Quelle  : Stadtwahlbehörde (vgl. http  ://www.wien.gv.at/politik/wahlen/grbv/index.html  ; aufgerufen am 25.7.2011)  ; für Detailinformationen der Wahlen von 1945 bis 1987 siehe auch Josef Rauchenberger, Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. Anmerkungen  : FPÖ 1949 und 1954  : Verband der Unabhängigen (VdU)  ; Grüne 1983  : Alternative Liste Wien (ALW)  ; KPÖ 1949  : Kommunistische Partei Österreichs und Linkssozialisten (Linksblock), 1954  : Wahlgemeinschaft Österreichische Volksopposition (VO), 1959 und 1964  : Kommunisten und Linkssozialisten (KLS), 1996  : Bewegung Rotes Wien (BRW).

In Bezug auf die Wahlbeteiligung zeigt Grafik 1 einen stetigen Rückgang bis in die späten Achtzigerjahre, als Politologen Wien bereits zur »Stadt der Nichtwähler«75 erklärten. Der singuläre Zuwachs in der Wahlbeteiligung von 1983 war der gleichzeitig abgehaltenen Nationalratswahl zu verdanken. Seit den Neunzigerjahren hat sich die Beteiligungsrate jedoch stabilisiert und lag stets über sechzig Prozent, ein für Großstädte im internationalen Vergleich durchaus akzeptabler Wert. 53

martin dolezal 3.2 Der Dauerstreit um das Wahlrecht Fragen des Wahlrechts gelten gemeinhin als abstrakte, ja sogar langweilige Angelegenheit, doch müssen sie bei näherer Hinsicht als Machtfrage gesehen werden. In Wien wurde dies seit den Neunzigerjahren besonders deutlich, da die spö ihre absolute Stimmenmehrheit verloren hatte, aber dennoch – eben aufgrund der spezifischen Gestaltung des Wahlrechts – ihre faktische Alleinregierung bis 1996 verlängern und danach auch zweimal erneuern konnte. Bei der Festlegung des Wahlrechts ist die Wiener Politik an die Vorgaben der Bundesverfassung gebunden  : Die Landtage müssen »auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes […] nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt« werden.76 Spezifische Regelungen der Länder sind möglich, doch dürfen die Bedingungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit nicht enger gezogen werden als auf Bundesebene.77 Nach 1945 waren in Wien folgende Aspekte des Wahlrechts umstritten  : vor allem die Frage der »Gerechtigkeit« des Wahlsystems, also das Prinzip der Mandatsaufteilung auf Basis der Stimmenanteile  ; die Personalisierung des Wahlrechts, das heißt die größere Einflussnahme der Wähler auf die Auswahl der Mandatare  ; sowie die Möglichkeit der Briefwahl. Der vierte zentrale Streitpunkt ist nun die Frage des Ausländerwahlrechts, doch setzte diese Debatte erst in den Neunzigerjahren ein. Seit dem 1995 erfolgten Beitritt Österreichs zur eu sind Unionsbürger bei Bezirksvertretungswahlen (vgl. Abschnitt 5) wahlberechtigt. Ein 2003 von spö und Grünen beschlossenes Landesgesetz, das auch Migranten ohne Unionsbürgerschaft nach fünfjährigem Aufenthalt das Wahlrecht auf Bezirksebene gewährt hätte, wurde nach einem Einspruch der Bundesregierung, das heißt der damaligen övp-fpö-Koalition, vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben.78 Tabelle 2 gibt einen Überblick über die – politisch relevanten – Änderungen des Wiener Wahlrechts seit 1945. Die Jahresangaben beziehen sich dabei nicht auf die Beschlussfassung, sondern auf die erstmalige Umsetzung einer Wahlrechtsänderung. Bei der Anzahl der Wahlkreise wirkte 1945 und 1949 die zu dieser Zeit noch offene Frage der Grenzziehung zu Niederösterreich nach, weshalb die sieben bei den Nationalratswahlen damals geltenden Wiener Wahlkreise auch bei den Gemeinderatswahlen verwendet wurden. 1954 wurden in Anlehnung an die Regelungen der Zwischenkriegszeit wieder die Bezirke als Wahlkreise bestimmt. Aufgrund der Existenz mehrerer kleiner Stadtviertel führte diese Regelung zu einer klaren Benachteiligung der damaligen Kleinparteien fpö (bzw. VdU) und kpö  : Je geringer die Anzahl der zu vergebenden Mandate in einem Wahlkreis ist, desto schwieriger wird es für kleine Parteien, ihre Stimmen- in entsprechende Mandatsanteile umzusetzen. Seit einer 1978 durchgeführten Wahlrechtsreform werden die kleinen, innerstädtischen Be54

die politische entwicklung wiens

Tabelle 2: Änderungen des Wahlrechts, 1945–2010 erstmalige An­wendung

Anzahl der Wahlkreise

1945

 7

Qualifikation für Mandatsvergabe (zweites Ermittlungsverfahren) Grundmandat

1949 1954

2005

2010

Persönlichkeitswahl/ Vorzugsstimmen

Briefwahl

21

29





20

26









Grundmandat oder 5 %

1969 1978

passiv

23

1959

1996

Wahlalter aktiv









19

25 19





18

18

auf Wahlkreis- und Stadtebene je eine Stimme



auf Wahlkreis­ ebene eine, auf Stadtebene zwei Stimmen



18

16

mittels Wahlkarte

Quelle  : Landesgesetzblatt für Wien (z.T. online unter http  ://www.wien.gv.at/recht/landesrecht-wien/landesgesetzblatt/index.htm  ; aufgerufen am 25.7.2011).

zirke nun in zwei Wahlkreisen zusammengefasst, was deren Anzahl auf insgesamt 18 reduziert. Bis einschließlich 1954 galt die Grundmandatshürde als Voraussetzung für die Beteiligung an der Vergabe der Mandate im zweiten Ermittlungsverfahren (Qualifikation für Mandatsvergabe). Ab 1959 wurde die Beteiligung an der Verteilung dieser restlichen Mandate durch eine alternativ wirksame Fünf-Prozent-Hürde ermöglicht. Dies war eine direkte Folge des Abschneidens des VdU, der 1954 den Wiedereinzug in den Gemeinderat verpasst hatte. Eine alleinige Vertretung des »bürgerlichen Lagers« durch die övp wollte die spö damit verhindern und nahm das mittelfristige Überleben der kpö in Kauf.79 Beide Kleinparteien – fpö und kpö – verdankten bei den kommenden Wahlen ihre parlamentarische Existenz allein der Prozenthürde, da sie in keinem Wahlkreis ein Grundmandat erreichten. Den Einfluss der bislang erwähnten Wahlrechtsaspekte zeigt ein Vergleich von Stimmen- und Mandatsprozenten  : Über alle Wahlen nach 1945 hinweg erreichte die spö hier ein Plus von 4,9 Prozentpunkten. Im Schnitt errang sie also fünf Sitze mehr, als ihr Stimmenanteil bei einer perfekten Verhältniswahl ergeben hätte. Bei der övp liegt dieser Wert im Mittel bei +0,7. In den letzten zwanzig Jahren war er aufgrund der Stimmenverluste aber stets im negativen Bereich. Deutlicher sind die Unterschiede bei der fpö, die im Schnitt bei –1,9 Prozentpunkten liegt. Erst 55

martin dolezal seit den Neunzigerjahren (außer 2005) erreichte die fpö hier immer einen positiven Wert, wogegen die Grünen und die kpö verglichen mit ihren Stimmenanteilen stets einen relativ geringeren Sitzanteil erwarben. Besonders auffällig werden die Abweichungen jedoch dann, wenn sie aus relativen absolute Mehrheiten erzeugen. Bei immerhin vier von 15 seit 1945 abgehaltenen Gemeinderatswahlen profitierte die spö von solchen »künstlichen Mehrheiten«  : 1949, 1991, 2001 und 2005. Abgesehen von 1949, als die spö eine Koalition mit der övp einging, wurden diese Mehrheiten auch zur Bildung von (faktischen) Alleinregierungen genützt. Die übrigen Parteien sprechen sich daher seit Längerem für eine Reform des Wahlrechts aus. Anfang 2010 verpflichteten sich övp, fpö und Grüne sogar per »Notariatsakt«, gemeinsam eine Reform des Wahlrechts zu initiieren80 – unabhängig von ihrer künftigen Rolle als Oppositionspartei oder (möglicher) Koalitionspartner der spö. Im Bereich des aktiven und des passiven Wahlalters folgte Wien zunächst der Entwicklung auf der Bundesebene, doch wurde das passive Wahlalter bereits bei der Gemeinderatswahl 1978 auf 19 Jahre gesenkt. 1981 wurde das aktive mit dem passiven Alter gleichgesetzt,81 weshalb seit 1996, nach einer Senkung des aktiven Wahlalters, nun auch Achtzehnjährige in den Gemeinderat gewählt werden können. Mit der 2005 erstmals angewandten Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre wurde diese Parallelität wieder aufgegeben. Die Schaffung eines Persönlichkeitswahlrechts, also die Möglichkeit, nicht nur Parteien, sondern auch einzelne Kandidaten zu wählen, war in Wien – wie auf der Bundesebene – stets ein besonderes Anliegen der övp. Doch noch bei der Wahlrechtsreform von 1978 wurde das reine Listenwahlrecht beibehalten, obwohl der damalige Bürgermeister Gratz in den Sechzigerjahren zu den Proponenten einer personalisierten Verhältniswahl auf Bundesebene gezählt hatte.82 Erst seit 1996 können die Wähler Kandidaten auf Ebene der Wahlkreise sowie des Stadtwahlvorschlags (das heißt bei der Verteilung der Restmandate) präferieren. Die Hürden für die Wähler sind hier aber höher gesetzt als bei Nationalratswahlen, da auf beiden Ebenen die Namen der Kandidaten auf den Stimmzettel geschrieben werden müssen und nicht angekreuzt werden können. Bislang hat es daher nur ein einziger Kandidat geschafft, von einem hinteren Listenplatz aus mittels Vorzugsstimmen einen Sitz im Stadtparlament zu gewinnen  : Der auf diesem Weg bei der Gemeinderatswahl 2010 gewählte Kandidat der Grünen, Alexander Van der Bellen, nahm sein Mandat jedoch nicht an.83 Die Briefwahl, eine weitere jahrzehntelange Forderung der övp,84 wurde 2010 erstmals umgesetzt. Keine Konflikte gab es um die Länge der Legislaturperiode, die in Wien stets – wie in allen übrigen Bundesländern (außer Oberösterreich) – fünf Jahre betrug. Eine Wahlpflicht bestand im Gegensatz zu anderen Ländern nie. Restriktiver als die Bundesländer Niederösterreich und Burgenland definiert das Wiener Wahlrecht schließlich den Kreis der Wahlberechtigten  : Nur »Gemeindemitglieder«, das heißt 56

die politische entwicklung wiens österreichische Staatsbürger mit einem Hauptwohnsitz in Wien, sind wahlberechtigt. Wie in den sechs übrigen Bundesländern ist ein Zweitwohnsitz dafür nicht ausreichend.85

3.3 Funktionen und Rollen des »Sta dtparlaments« Zwar sollte dem von den Wienern direkt gewählten Gemeinderat/Landtag eine zent­ rale Rolle im politischen System der Bundeshauptstadt zukommen, doch wurde sein tatsächlicher Einfluss häufig als minimal eingestuft. Die Dominanz der spö-geführten Regierung und die lange Zeit fehlenden Minderheitenrechte reduzierten den parlamentarischen Charakter der Wiener Politik, so die sehr kritische Einschätzung etwa von Heinrich und Wiatr, »zur reinen Fassade«.86 Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass nur sehr wenige Publikationen87 über die Praxis der parlamentarischen Arbeit in Wien vorliegen, weshalb diese hier auch nur sehr kursorisch dargestellt werden kann. Da über die Tätigkeit der einzelnen Parlamentarier letztlich keine (aktuellen) Informationen vorhanden sind, müssen sich die folgenden Ausführungen auf organisatorische Aspekte sowie auf eine Diskussion der verschiedenen Rollen des Stadtparlaments beschränken. Hierbei können unterschiedliche »Funktionen« differenziert werden, welche Parlamente generell ausüben  : vor allem die Gesetzgebungsfunktion, die Wahlfunktion und die Kontrollfunktion. Die im Falle Wiens zu klärende Frage lautet dann, welche Bedeutung den einzelnen Funktionen beziehungsweise Aufgabengebieten generell zukommt und welche Unterschiede zwischen Gemeinderat und Landtag in diesem Zusammenhang bestehen. Zunächst ist es auch für interessierte Beobachter der Wiener Politik schwierig, zwischen den Tätigkeiten des Gemeinderats und des Landtags zu unterscheiden. Der Gemeinderat, der personalident als Landtag arbeitet, zählt seit 1945 durchgängig hundert Sitze und ist damit deutlich größer als die Vertretungskörper der übrigen Bundesländer, die aktuell 36 oder 56 Sitze aufweisen. Neben der personellen Identität seiner »Mitglieder« (Gemeinderat) beziehungsweise »Abgeordneten« (Landtag) wird auch in vielen organisatorischen Belangen nicht zwischen den beiden Gremien differenziert  : So sind die Klubs des Gemeinderats auch die Klubs des Landtags. Die Klubs verfügen erst seit 1973 über eigene Räumlichkeiten und öffentlich finanziertes Personal. Seit 1978 sind sie auch rechtlich, das heißt in der Geschäftsordnung, verankert, wobei für die Klubbildung zunächst drei Mandate vorgeschrieben waren. Um der fpö den Klubstatus nach 1983 zu sichern, wurde diese Hürde auf zwei Mandatare gesenkt,88 2001 aber wiederum auf drei erhöht.89 Angesichts der Größe des Stadtparlaments ist die Hürde für die Klubbildung dennoch sehr niedrig geblieben und deutlich minderheitenfreundlicher gestaltet als in allen anderen 57

martin dolezal Landtagen, wo zu Beginn der Zweitausenderjahre zwischen 3,5 (Oberösterreich) und 11,1 Prozent der Mandate (Kärnten) für die Klubbildung erforderlich waren.90 Da kleine Parteien im Normalfall über die Prozenthürde in das Stadtparlament einziehen, gab es in Wien noch keinen Fall, bei dem Abgeordnete einer wahlwerbenden Partei aufgrund einer zu geringen Anzahl keinen Klub bilden konnten. Gewisse Differenzen zwischen dem Gemeinderat und dem Landtag bestehen bei der Organisation der Führungsgremien, die sich in Bezug auf die Anzahl der Mitglieder sowie die Bestimmungen zur Wählbarkeit unterscheiden. Laut Wiener Stadtverfassung können im Gemeinderat zwischen drei und sechs Vorsitzende bestellt werden.91 Von 1945 bis 1996 gab es stets die maximale Anzahl von sechs Vorsitzenden, seit damals nur vier. Das Präsidium des Landtags bestand hingegen immer aus drei Personen. Während im Falle des Landtags – ähnlich wie im Nationalrat – durchgehend eine nominelle Hierarchie der Präsidenten bestand, wurden die Vorsitzenden des Gemeinderats bis 1973 in keiner Rangordnung gewählt. Im Falle des Landtags sind Regierungsmitglieder – sofern sie parallel überhaupt ein Mandat ausüben (siehe Abschnitt 4) – von der Wahl in das Präsidium ausgeschlossen. Bei den Vorsitzenden des Gemeinderats gilt diese Regelung nur für amtsführende Stadträte, weshalb bis in die Siebzigerjahre immer die amtierenden Bürgermeister unter den Vorsitzenden aufschienen. Auch der erste als »Erster Vorsitzender« gewählte Mandatar war 1973 mit Leopold Gratz der damalige Bürgermeister. Grundsätzlich können die Führungspositionen in den beiden Gremien auch gleichzeitig ausgeübt werden. Auf Basis von Recherchen92 konnten 13 Personen identifiziert werden, die bis Ende 2010 sowohl Gemeinderatsvorsitzende als auch Landtagspräsidenten waren, wovon die Hälfte ihre Ämter zumindest teilweise auch parallel führte. Tabelle 3 listet die Ersten Vorsitzenden des Gemeinderats seit 1973 und die Ersten Präsidenten des Landtags seit 1945 auf. Da grundsätzlich die stärkste Partei den Ersten Vorsitzenden beziehungsweise Präsidenten stellt, waren es generell Vertreter der spö, die diese Spitzenpositionen im Stadtparlament einnahmen. Nur im Rahmen der 1996 zwischen spö und övp eingegangenen Koalition (siehe Abschnitt 4) wurde vereinbart, dass die övp den Vorsitz im Landtag führt. Die durchschnittliche Amtszeit der Ersten Vorsitzenden (des Gemeinderats) ist mit 3,7 Jahren etwa ein Jahr kürzer als jene der Ersten Präsidenten (des Landtags), die im Schnitt bisher 4,8 Jahre lang amtierten, das heißt nahezu eine volle nominelle Legislaturperiode. Im Bereich der Gemeinderatsvorsitzenden ist der Durchschnittswert jedoch wenig aussagekräftig, da er von der sehr langen Amtszeit Rudolf Hundstorfers (1995–2007) verzerrt wird. Mehrere Erste Vorsitzende waren hingegen nur sehr kurz im Amt, doch waren sie meist länger Teil des Vorsitzendengremiums, in dem sie auch während einer Legislaturperiode mehrfach innerhalb der verschiedenen Plätze wechselten – wenngleich immer nur in Richtung »höherer Ränge«. Während bei insgesamt zehn Ersten Vor58

die politische entwicklung wiens sitzenden mit Eveline Andrlik bislang nur eine einzige Frau den Gemeinderat führte, besetzten im Landtag weibliche Abgeordnete fünf von 14 Spitzenpositionen. Tabelle 3: Die Ersten Vorsitzenden des Gemeinderats (1973–2010)1 und die Ersten Präsidenten des Landtags (1945–2010)

Amtsdauer (Jahre)

Johann Neubauer

SPÖ

13.12.1945

05.12.1949

 4,0

Leopold Mayrhofer

SPÖ

13.11.1978

19.01.1985

 6,2

Bruno Marek

SPÖ

05.12.1949

10.06.1965

15,5

Leopold Wiesinger

SPÖ

25.01.1985

08.03.1986

 1,1

Wilhelm Stemmer

SPÖ

10.06.1965

23.11.1973

8,5

 1,7

Maria Hlawka

SPÖ

23.11.1973

13.11.1978

5,0

 0,9

Reinhold Suttner

SPÖ

13.11.1978

13.02.1979

0,3

 1,0

Hubert Pfoch

SPÖ

14.02.1979

28.09.1984

5,6

 1,2

Günther Sallaberger

SPÖ

28.09.1984

09.12.1987

3,2

 4,0

Fritz Hofmann

SPÖ

09.12.1987

28.02.1991

3,2

11,9

Eveline Andrlik

SPÖ

01.03.1991

09.12.1991

0,8

(3,9)2

Christine Schirmer

SPÖ

09.12.1991

07.11.1994

2,9

Ingrid Smejkal

SPÖ

07.11.1994

29.11.1996

2,1

Maria HampelFuchs

ÖVP

29.11.1996

27.04.2001

4,4

Johann Hatzl

SPÖ

27.04.2001

29.10.2008

7,5

Harry Kopietz

SPÖ

29.10.2008



(2,2)2

Gerhard Lustig Eveline Andrlik Ernst Outolny Herbert Dinhof Rudolf Hundstorfer Godwin Schuster

SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ SPÖ

14.03.1986 09.12.1987 16.12.1988 15.12.1989 01.03.1991 17.03.1995 25.01.2007

08.12.1987 18.11.1988 15.12.1989 01.03.1991 17.03.1995 25.01.2007 —

bis

 5,0

von

12.11.1978

Partei

23.11.1973

bis

Partei SPÖ

von

Name Leopold Gratz

Otto Hirsch

Name

Landtag Amtsdauer (Jahre)

Gemeinderat

Quelle  : Internetauftritt der Stadt Wien, vgl. http  ://www.wien.gv.at/kultur/archiv/politik/chronologisch. html#jahr2005, aufgerufen am 30.8.2011  ; Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Wiener Gemeinderat, Wiener Landtag, Register zu den Sitzungen der Funktionsperiode, Teil 2 Personenregister. Wien (diverse Jahrgänge)  ; zusätzliche Recherchen über Meldungen der Rathauskorrespondenz sowie Wolfgang Solt, Biographien der Gemeinderäte, Abgeordneten und Bezirksvorsteher 1918–2003 (Loseblattsammlung), Wien 2003. Anmerkung en : 1 Erst seit 1973 werden die Vorsitzenden in einer Rangordnung gewählt. – 2 Stichtag  : 31.12.2010.

59

martin dolezal

Grafik 2: Tätigkeitsprofil des Landtags (LT) und des Gemeinderats (GR)  : Sitzungshäufigkeit (Linien) und Gesetzesbeschlüsse (Säulen), 1946–2010 70 60 50 Gesetze (LT)

40

GR-Sitzungen

30

LT-Sitzungen

20

GR-Sitzungstage

2006

2001

1996

1991

1986

1981

1976

1971

1966

1961

1956

1951

0

1946

10

Quellen  : Gesetzesbeschlüsse 1945–2004 laut Landesgesetzblatt für Wien  ; Sitzungshäufigkeit 1945–1997 laut Amtsblatt der Stadt Wien (Jahresinhaltsverzeichnisse). Sitzungshäufigkeit ab 1998 laut Gemeinde Wien, Geschäftsstelle Landtag, Gemeinderat, Landesregierung und Stadtsenat (vgl. http  ://www.wien.gv.at/politikverwaltung/land-gemeinde.html  ; aufgerufen am 29.7.2011), Gesetzesbeschlüsse ab 2005 laut Gemeinde Wien, Presse- und Informationsdienst (vgl. http  ://www.wien.gv.at/recht/landesrecht-wien/landesgesetzblatt/index.htm  ; aufgerufen am 29.7.2011). Anmerkung  : Fest- und Trauerakte sowie Gedenksitzungen wurden in die Sitzungsstatistik nicht aufgenommen.

Das eigentliche Tätigkeitsprofil des Stadtparlaments kann zunächst anhand der Sitzungshäufigkeit des Gemeinderats und des Landtags sowie der Anzahl der (stets im Landtag) beschlossenen Gesetze erfasst werden. Beim Recht zur Einberufung der Sitzungen enthält die Stadtverfassung unterschiedliche Bestimmungen  : Beide Gremien treten zusammen, »sooft es die Geschäfte erfordern«, wobei die Stadtverfassung für den Landtag grundsätzlich eine zweimonatige Sommerpause vom 15. Juli bis zum 15. September vorsieht.93 Während Sitzungen des Gemeinderats im Allgemeinen vom Bürgermeister einberufen werden, ist für Sitzungen des Landtags dessen Erster Präsident zuständig.94 In beiden Gremien besteht jedoch für ein Viertel der Mandatare oder einen Klub die Möglichkeit, eine Einberufung innerhalb von drei Wochen zu erzwingen. Allerdings ist jeder Mandatar beziehungsweise Klub dazu nur einmal pro Jahr berechtigt.95 Grafik 2 zeigt die Häufigkeit der Sitzungen und die Anzahl der Gesetzesbeschlüsse für den Zeitraum von 1946 bis 2010. Im Jahr 1945 gab es eine Sitzung des Landtags, ferner wurden zwei Landesgesetze beschlos60

 

die politische entwicklung wiens sen. Letztere wurden jedoch vom provisorischen Stadtsenat, der vorübergehend auch als Gesetzgeber fungierte, entschieden, weshalb diese Daten nicht in die Grafik aufgenommen wurden. In Bezug auf die Sitzungshäufigkeit zeigt der Längsschnitt von 1946 bis 2010, dass der Charakter der Gemeindeversammlung wichtiger ist als jener des Landesparlaments.96 Vor allem in den ersten Jahren gab es auch deshalb deutlich mehr Sitzungen des Gemeinderats, da es regelmäßig zu besonderen, »nicht öffentlichen Sitzungen« kam, die zusätzlich abgehalten wurden. Solche Sitzungen gab es später nur mehr sehr selten  ; die Verhandlungen im Plenum werden – wie in Parlamenten generell üblich – bis auf wenige Ausnahmen97 grundsätzlich öffentlich geführt. Die intensivere Tätigkeit der Mandatare als Gemeindevertreter wird aber vor allem dann sichtbar, wenn zusätzlich die Länge der Sitzungen berücksichtigt wird, da diese zum Teil über mehrere Tage verliefen. Lange Zeit war es ferner Usus, die Landtagssitzungen bloß im direkten Anschluss an Gemeinderatssitzungen einzuberufen, die dann regelmäßig bis spät in die Nacht andauerten. Erst nach 1996 ist man davon abgegangen.98 Während das Budget im Gemeinderat beschlossen wird, obliegt die Gesetzgebungsfunktion allein dem Landtag. Im Bereich der Gesetzesproduktion ist im Zeitverlauf insgesamt ein Anstieg erkennbar. Dies gilt auch ohne den einmaligen Spitzenwert von 2001, für den zum Teil die im darauffolgenden Jahr eingeführte neue europäische Währung verantwortlich war, da in einigen Gesetzen Geldbeträge in Schilling durch solche in Euro ersetzt werden mussten. Einen Bedeutungsverlust des Landtags hinsichtlich dieses naturgemäß rein formalen Aspekts zeigen die Daten daher nicht. Bei der Frage, wer für den Inhalt der Gesetze sorgt, kann wie im Nationalrat auf deren unterschiedliche Herkunft verwiesen werden  : Leider sind diesbezüglich keine Informationen für einen Längsschnitt vorhanden. In der von 1996 bis 2001 laufenden Gesetzgebungsperiode basierten jedoch alle im Wiener Landtag beschlossenen Gesetze auf Regierungsvorlagen und kein einziges auf einem Initiativantrag der Abgeordneten.99 Der faktische Einfluss der Landtagsabgeordneten auf die Gesetzgebung kann daher als gering eingeschätzt werden. Auch die Kontrollfunktion des Gemeinderats/Landtags war lange Zeit sehr schwach ausgeprägt. Erst seit 1978 besteht die Einrichtung einer Fragestunde, bei der die Mandatare ihre Anfragen an den Bürgermeister beziehungsweise die amtsführenden Stadträte direkt richten können. Zuvor waren nur schriftliche Anfragen möglich.100 Weitergehende Kontrollmöglichkeiten wurden im Jänner 2001 beschlossen, wobei die damals geschaffene Möglichkeit der Einrichtung von Untersuchungskommissio­ nen (Gemeinderat) und Untersuchungsausschüssen (Landtag) – im Gegensatz zum Nationalrat – als Minderheitenrecht etabliert wurde. Bereits dreißig Mitglieder beziehungsweise Abgeordnete können ein solches Kontrollgremium einsetzen.101 61

martin dolezal Über die Öffentlichkeitsfunktion des Stadtparlaments liegen keine Studien vor, doch besteht für einen Beobachter der politischen Szene Wiens wohl kein Zweifel daran, dass die öffentliche Auseinandersetzung über Streitfragen der Kommunalpolitik primär in den Medien ausgetragen wird. Abgesehen von der seit Mai 1988 täglich ausgestrahlten regionalen tv-Sendung Wien heute wird in elektronischen oder Printmedien nur sehr selten aus dem Stadtparlament berichtet. Ferner wird bei Beiträgen über politische Streitfragen oder Entscheidungen der Landespolitik dieses Gremium nur selten erwähnt und, wenn überhaupt, dann kaum als zentrale Arena der Wiener Politik. Bereits seit Juni 2000102 besteht für Interessierte jedoch die Möglichkeit, die Sitzungen via Internet als Livestream zu verfolgen.103 Bei der Wahlfunktion des Stadtparlaments ist eindeutig der Gemeinderat das dominante Gremium, da vor allem der Bürgermeister, die amtsführenden Stadträte sowie die Stadträte ohne Ressort von ihm gewählt werden. Dem Landtag obliegt hingegen die Wahl der Wiener Mitglieder des Bundesrats. Im Gegensatz zum Nationalrat wird die zweite Parlamentskammer auf Bundesebene nicht direkt gewählt, sondern von den neun Landtagen – und daher auch dem Wiener Landtag – beschickt. Anders als zur alltäglichen Arbeit der Mandatare liegen über Aspekte der sozialen Repräsentativität der Abgeordneten einige Studien vor. So lag etwa der Frauenanteil erst seit 1987 über zwanzig Prozent,104 doch ist er höher als in den anderen Bundesländern. Mitte der Neunzigerjahre lag Wien hier auf Platz 1.105 Der sozialstrukturelle Hintergrund der Abgeordneten, ein weiterer Faktor ihrer demografischen Repräsentativität, widerspiegelt weitgehend die gesamtgesellschaftliche Entwicklung  : So ging etwa der Anteil der (Fach-)Arbeiter über die Jahrzehnte zurück, während der Akademikeranteil von anfänglich einem Fünftel bis in die späten Neunzigerjahre auf rund ein Drittel anwuchs.106 Die im Zeitverlauf gesunkene Verweildauer im Gemeinderat/Landtag von etwa zehn auf rund fünf Jahre107 – also auf nur eine einzige Wahlperiode – deutet an, dass das Amt für viele Abgeordnete nur einen Zwischenschritt in ihrer politischen Karriere darstellt. Auch dieser Umstand schwächt die Position des Stadtparlaments, da mit dem Ausscheiden erfahrener Mandatare das Parlament nicht mehr auf deren Expertise zurückgreifen kann.

4. Bürgermeister und Stadtr äte  : Die Regierung In allen modernen Demokratien gilt die Regierung als das eigentliche Zentrum der politischen Macht  : Die Parlamente geraten dabei aufgrund ihrer schlechteren Ausstattung und des damit verbundenen geringeren Know-hows in den Hintergrund. Auch die in größeren Gremien automatisch langsamer ablaufenden Entscheidungsprozesse stehen häufig in einem Konflikt zu den immer schneller ablaufenden politi62

die politische entwicklung wiens schen Vorgängen. Die Wiener Regierung, der Stadtsenat, besteht aus den Stadträten und dem Bürgermeister, die beide vom Gemeinderat gewählt werden und gleichzeitig die Funktion der Landesregierung beziehungsweise des Landeshauptmanns ausüben. Verglichen mit dem Gemeinderat/Landtag sind die amtsführenden Stadträte und vor allem der Bürgermeister ohne Zweifel die zentralen Akteure der Wiener Politik.

4.1 Der Sta dtsenat Die Mitglieder des Stadtsenats werden vom Gemeinderat zu Beginn einer neuen Legislaturperiode beziehungsweise nach Ausscheiden eines Amtsträgers gewählt. Sie müssen nicht dem Gemeinderat angehören, aber zu ihm wählbar sein. Lange Zeit war eine Ämterkumulierung von Gemeinderatssitz und Regierungssitz jedoch die Regel  : Drei Viertel der in den Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahren (erstmals) in die Regierung eingetretenen Politiker hatten parallel dazu einen Sitz im Stadtparlament  ; von den in den Siebzigerjahren angetretenen Regierungsmitgliedern jedoch nur mehr ein Drittel.108 Seit den Achtzigerjahren wurde von der Ämterkumulierung schließlich nahezu vollständig abgegangen109 und eine klarere Trennung zwischen Legislative (Gesetzgebung) und Exekutive (Regierung) geschaffen. Dies ist in einem parlamentarischen Regierungssystem jedoch nicht grundsätzlich notwendig, da der eigentliche Gegensatz nicht zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien besteht. Für die klarere Trennung der »Gewalten« spricht aber auch ein pragmatischer Grund  : Sie ermöglicht es den Wiener Parteien, mehr Personen mit öffentlichen Ämtern auszustatten.110 Zwei der gewählten Stadträte werden in einem eigenen Wahlgang als Vizebürgermeister bestellt. Während die stärkste Partei ein Vorschlagsrecht für einen der Vizebürgermeister hat, kommt der zweitstärksten Partei dieses Recht dann zu, wenn sie zumindest ein Drittel der Gemeinderatsmandate gewonnen hat.111 Bei Koalitions­ regierungen (siehe unten) war es in den letzten Jahren jedoch üblich, dass der kleinere Partner (der spö) auch dann einen Vizebürgermeister stellt, wenn er weniger als ein Drittel der Mandate kontrolliert. Beide Koalitionspartner der spö – övp und Grüne – lagen in den letzten Jahren sehr deutlich unter diesem Anteil. Andererseits gibt es die Konstellation, in der eine Oppositionspartei aufgrund ihrer Mandatsstärke den Vize-Regierungschef stellen kann  : Von 1978 bis 1987 war övp-Stadtrat Busek deshalb auch Vizebürgermeister und Landeshauptmann-Stellvertreter – aber kein amtsführender Stadtrat. Über die Interna der Regierung sind in der Literatur nur spärliche Hinweise vorhanden.112 Seit 1998 können jedoch Berichte über die in der Regel wöchentlich ab63

martin dolezal gehaltenen Sitzungen von der Website der Stadt Wien bezogen werden.113 Inwieweit etwa alltägliche, in erster Linie administrative oder auch substanzielle Entscheidungen der Regierung im Konsens mit den Stadträten ohne Ressort oder mit Mehrheit (der spö) getroffen werden, könnte auf diesem Weg systematisch erfasst werden. Tabelle 4 gibt einen Überblick über die Zusammensetzung der Wiener Regierungen seit 1945. Diese Darstellung orientiert sich an dem politikwissenschaftlichen Begriff des »Kabinetts«. Im Gegensatz zu den »Amtsperioden«, der formal korrekten Bezeichnung für die Identifikation der einzelnen Regierungen, werden die Kabinette nach dem Regierungschef, das heißt nach dem Bürgermeister, benannt. Zu einem Wechsel des Kabinetts kommt es immer dann, wenn zumindest eine der drei folgenden Bedingungen erfüllt ist  :114 bei einer Veränderung in der Parteienzusammensetzung des Stadtsenats, bei einem Wechsel in der Besetzung des Bürgermeisteramts und nach jeder Gemeinderatswahl. Die nach dieser Definition bisher – bis Ende 2010 – 22 Kabinette weisen konstante und variable Merkmale auf  : Konstant ist vor allem die Dominanz der spö, die alle Bürgermeister stellte (siehe Abschnitt 4.2). Die spö regierte jedoch nicht immer allein, sondern in wechselnden Formen der Zusammenarbeit mit bis heute insgesamt drei anderen Parteien  : der övp, der kpö und den Grünen. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1945 bis 1949, stellten alle drei damals bestehenden Parteien (spö, övp und kpö) – analog zur Bundesregierung – amtsführende Stadträte in den Kabinetten Körner i und ii. Zunächst war diese Allparteienregierung im April 1945 provisorisch vom sowjetischen Stadtkommandanten mit nachfolgender Billigung durch die westlichen Alliierten (und die provisorische Staatsregierung) eingesetzt worden. Die kpö hatte dabei ursprünglich gleich viele Regierungssitze wie die spö gefordert, akzeptierte dann aber die Dominanz der spö und begnügte sich wie die övp mit einem Viertel der Sitze.115 Mit der im November 1945 erfolgten ersten Gemeinderatswahl der Zweiten Republik wurde diese Machtverteilung demokratisch legitimiert. Die kpö, die auf Basis des für sie überraschend schlechten Wahlergebnisses von acht Prozent und sechs von hundert Mandaten nun keinen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung gehabt hätte, erhielt im Hinblick auf die Beziehung zur sowjetischen Besatzungsmacht aber erneut einen Sitz.116 Nach dem Ausscheiden der kpö aus der Stadtregierung folgten von 1949 (Kabinett Körner iii) bis 1973 (Gratz i) Koalitionsregierungen von SPÖ und ÖVP. Historisch ging diese Zusammenarbeit auf eine Vereinbarung im Bund zurück, da die Parteien in ihren Koalitionsverträgen zunächst auch die Zusammenarbeit in den Ländern festlegten.117 Aus Sicht der spö erfolgte diese Zusammenarbeit in Wien freiwillig, verfügte sie doch durchgängig über eine absolute (Mandats-)Mehrheit. Die Arbeitsübereinkommen legten fest, dass die övp amtsführende Stadträte stellte, doch waren Mehrheitsentscheidungen gegen sie immer möglich, da die spö – im 64

die politische entwicklung wiens Gegensatz zum Konsensprinzip in der Bundesregierung – der övp kein absolutes Veto zubilligte.118 Von 1973 (Gratz ii) bis 1996 (Häupl i) regierte die spö de facto allein, da nur sie amtsführende Stadträte stellte. Die Zusammenarbeit mit der övp war bereits länger von Konflikten geprägt gewesen. Zuletzt, in den Jahren von 1969 bis 1973, hatten sich die Parteien nicht mehr auf ein gemeinsames (schriftliches) Arbeitsübereinkommen verständigen können. Die Wahl von Gratz zum Bürgermeister während der laufenden Legislaturperiode wurde von den övp-Mandataren – im Gegensatz zur Bestellung Slaviks – nicht mehr unterstützt. Nach der Gemeinderatswahl von 1973 scheiterten Koalitionsverhandlungen dann an einem Konflikt über Tarif- und Gebührenerhöhungen, da die spö eine fixe Zusage der övp einforderte, sowie an zwei großen und umstrittenen Bauvorhaben der Siebziger- und Achtzigerjahre  : der Errichtung der uno-City, bei der die spö für eine »große Lösung«, das heißt für ein eigenes Konferenzzentrum, eintrat, und der Neugestaltung des Donaugebiets.119 Im Rahmen der Maßnahmen zum Schutz Wiens vor Hochwasser trat die spö auch hier für eine »große Lösung« ein, die den Bau der späteren Donauinsel, einer zwanzig Kilometer langen, künstlich angelegten Insel zwischen einem neu geschaffenen Entlastungsgerinne (der Neuen Donau) und dem Hauptstrom, inkludierte. Bereits 1969 hatte sich die övp im Gemeinderat gegen dieses erstmals 1958120 öffentlich präsentierte Projekt ausgesprochen und unterstützte daraufhin den Protest von Bürgerinitiativen, die sich für weniger weitreichende Baumaßnahmen aussprachen.121 Das Ausscheiden aus der Regierung war 1973 innerhalb der övp aber nicht unumstritten  : So sprach sich etwa die amtsführende Stadträtin Maria Schaumayer für den Verbleib aus, wogegen gerade die Junge Volkspartei für die Oppositionsrolle plädierte.122 Wahltaktisch, so die weitverbreitete Meinung in der övp, hatte sich die Koalition schlichtweg nicht ausgezahlt  : Vor allem die Wechselwähler, so die Einschätzung eines Kenners der Partei, »nahmen der övp die Mitbestimmung kaum ab, belasteten sie aber mit der Mitverantwortung«.123 Aufgrund der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Proporzregierung wurden nun erstmals seit der Ersten Republik auch Stadträte ohne Ressort bestellt. Zunächst stellte nur die övp solche Regierungsmitglieder, später auch die fpö (seit 1987) und die Grünen (seit 1991). Nach dem Verlust der absoluten Mandatsmehrheit bei der Gemeinderatswahl von 1996 kam es im Kabinett Häupl ii – dem Muster der Bundespolitik folgend – erneut zu einer Koalition von spö und övp. Nach dem Rückgewinn der Mehrheit waren die nachfolgenden Kabinette Häupl iii und iv wieder Alleinregierungen der spö  ; 2010 führte der erneute Verlust der absoluten Mehrheit zu einer Koalition mit den Grünen (Häupl v). Seit 1945 hat die spö somit mit drei der vier übrigen, längerfristig im Gemeinderat vertretenen Parteien koaliert. Allein die fpö blieb stets in der (faktischen) Oppositionsrolle. 65

martin dolezal Tabelle 4 enthält ferner Angaben zur Dauer der Regierungsbildung, der Amtsdauer der einzelnen Kabinette sowie zum Wahlergebnis des Bürgermeisters bei seiner Bestellung durch den Gemeinderat. Bei der Dauer der Regierungsbildung zeigen die Daten den naheliegenden Zusammenhang zwischen der Regierungsform und der Länge der Verhandlungen. Bei den Alleinregierungen der spö erfolgte die Amtseinführung im Durchschnitt bereits 32 Tage nach der Gemeinderatswahl, bei den Koalitionen mit der övp beziehungsweise den Grünen dauerte es mit durchschnittlich 49 Tagen rund zwei Wochen länger. Die Amtsdauer der Kabinette könnte grundsätzlich als Maß für deren Stabilität herangezogen werden, doch kam es aufgrund der Wechsel der Bürgermeister und aus taktischen Gründen vorgezogener Neuwahlen recht häufig zu einer Verkürzung der Amtszeit, weshalb nur vier Kabinette die maximale Periode von fünf Jahren ausnutzten. Die Wahlergebnisse der Bürgermeister können schließlich als Gradmesser für das generelle Konfliktniveau innerhalb des Gemeinderats beziehungsweise zwischen den Parteien herangezogen werden und sind auch ein Maßstab für den Zusammenhalt einer Regierung. In der Phase der Koalitionen von spö und övp erhielt der Bürgermeister nur ein einziges Mal das volle Ausmaß an Unterstützung aus den eigenen Reihen (Körner iii), doch muss einschränkend angemerkt werden, dass der extrem hohe gemeinsame Mandatsanteil von spö und övp dazu führen konnte, dass Abgeordnete es etwa aus gesundheitlichen Gründen eher in Erwägung zogen, der Abstimmung fernzubleiben  : Die Wahl des Bürgermeisters war auf keinen Fall gefährdet. Extrem niedrig war die Zustimmung schließlich bei der ersten Wahl von Gratz, der nur 62 von 93 möglichen Koalitionsstimmen erhielt und anscheinend – die Wahlen finden stets geheim statt – nur von der eigenen Partei unterstützt wurde, die damals 63 Mandate hatte. Ein Mandatar der spö war krankgemeldet.124 Seit den Achtzigerjahren erhielt der Bürgermeister jedoch fast immer eine höhere Zustimmung, als aufgrund der Regierungsstärke zu erwarten gewesen wäre. Dieser Indikator deutet somit keineswegs eine gewachsene Konfliktintensität der Wiener Politik an. Über die Rekrutierung der Wiener Regierungsmitglieder liegen in der Literatur keine systematischen Informationen vor. Eine vergleichende Untersuchung der Landesregierungen Salzburgs, der Steiermark und Vorarlbergs zeigte, dass etwa die Landtage »keine vorrangigen Personalreservoirs«125 für die Regierungen darstellen. Im Falle des Wiener Stadtsenats zeigt sich jedoch ein anderes Bild  : Insgesamt waren 125 Personen in den Kabinetten Körner I bis Häupl V Stadträte, amtsführende Stadträte oder Bürgermeister. Knapp sechzig Prozent aller Regierungsmitglieder waren zuvor im Gemeinderat/Landtag tätig, der somit im Falle Wiens eine wichtige Rekrutierungsbasis darstellt. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Vierzigerjahre steigt dieser Wert für die seit 1951 erstmals amtierenden Regierungsmitglieder sogar auf 65 Prozent. Und diese traditionelle Karriereschiene 66

Körner III

09.10.1949

Jonas IV

25.10.1964

Zilk III

10.11.1991

Häupl III

Häupl IV

Häupl V

25.03.2001

23.10.2005

10.10.2010

46

26

33

47

29

31

33

25.11.2010

18.11.2005

27.04.2001

29.11.1996

07.11.1994

09.12.1991

09.12.1987

10.09.1984

27.05.1983

(aktiv)

5,0

4,6

4,4

2,1

2,9

4,0

3,3

1,3

4,5

5,0

0,4

2,5

1,5

4,0

0,5

5,0

5,0

3,5

1,6

3,8

0,8

Amtsdauer (Jahre)

Koalition

Alleinregierung

Alleinregierung

Koalition

Alleinregierung

Alleinregierung

Alleinregierung

Alleinregierung

Alleinregierung

Alleinregierung

Alleinregierung

Koalition

Koalition

Koalition

Koalition

Koalition

Koalition

Koalition

Koalition

Koalition

Allparteienregierung

Allparteienregierung

(faktische) Regierungsform

SPÖ-Grüne

SPÖ

SPÖ

SPÖ-ÖVP

SPÖ

SPÖ

SPÖ

SPÖ

SPÖ

SPÖ

SPÖ

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP

SPÖ-ÖVP-KPÖ

SPÖ-ÖVP-KPÖ

Regierungsparteien (amtsführende Stadträte)

7

8

8

6

8

8

9

9

9

10

8

10

10

10

8

8

8

8

7

7

7

6

SPÖ

(1)

(2)

(2)

2

(2)

(2)

(4)

(5)

(5)

(5)

(3)

4

4

4

4

4

4

4

4

4

4

3

ÖVP

(3)

(1)

(3)

(4)

(3)

(3)

(1)

0

0

0

0

0

0

0





























0

0

0 0

0

0

0

0

1

3

KPÖ2

0



0

0





FPÖ2

1

(2)

(1)

(1)

(1)

(1)

































Grüne

amtsführende Stadträte (Stadträte ohne Ressort) ∑

12

13

14

13

14

14

14

14

14

15

11

14

14

14

12

12

12

12

11

11

12

12

60

55

52

58

52

52

62

61

61

62

66

93

93

93

95

95

93

94

87

87

100

Stärke der Regierung (% der Sitze im Gemeinderat)

65

64

59

65

61

52

70

62

61

61

68

62

88

89

91

913

90

92

76

95

96

Wahlergebnis des Bürgermeisters (Stimmen)

Quelle  : Rathauskorrespondenz (seit 1995 online unter http  ://www.wien.gv.at/rk/online  ; aufgerufen am 1.8.2011). Anmerkungen  : 1 Zur Definition eines »Kabinetts« vgl. den Haupttext. 2 Vgl. die Angaben bei Grafik 1. 3 Die Wahl des Bürgermeisters erfolgte bereits am 11.12.1964. 4 Im Zuge einer neuen Geschäftseinteilung veränderte sich im September 1976 die Zusammensetzung des Stadtsenats. Die SPÖ stellte nun zehn amtsführende Stadträte, die oppositionelle ÖVP vier Stadträte ohne Ressort. Auf Basis der im Haupttext erwähnten Definition handelt es sich dabei aber um kein neues Kabinett. Notation  : – (Partei ist im Gemeinderat nicht vertreten)  ; 0 (Partei ist im Gemeinderat vertreten, aber nicht im Stadtsenat).

Häupl II

13.10.1996

Häupl I

Zilk II

08.11.1987

Zilk I

Gratz IV

24.04.1983

13.11.1978

Gratz III

08.10.1978

36

23.11.1973

Gratz II4

21.10.1973

33

05.07.1973

Gratz I

06.06.1969

10.06.1965

19.12.1964

11.12.1959

10.12.1954

22.06.1951

05.12.1949

14.02.1946

17.04.1945

Antritt

21.12.1970

40

55

47

54

57

82

Dauer der Regierungsbildung (Tage)

Slavik

Marek II

Marek I

Jonas III

25.10.1959

27.04.1969

Jonas II

17.10.1954

Jonas I

Körner II

Körner I

Kabinett1

25.11.1945

Gemeinderatswahl

Tabelle 4: Zusammensetzung des Stadtsenats, 1945–2010

die politische entwicklung wiens

67

martin dolezal hat im Zeitverlauf keineswegs an Bedeutung verloren  : Von den Mitgliedern des Stadtsenats, die ihr Amt in den vergangenen beiden Jahrzehnten angetreten haben, waren 60 (Neunzigerjahre) beziehungsweise 74 Prozent (Zweitausenderjahre) zuvor im Stadtparlament tätig. Etwas länger als die Mandatare im Gemeinderat/Landtag verbleiben die Regie­ rungsmitglieder im Amt. Lässt man die Bürgermeister beziehungsweise die Amtszeiten als Bürgermeister weg, übten die Regierungsmitglieder ihre Ämter im Schnitt sieben Jahre lang aus. Wie zu erwarten, waren die amtsführenden Stadträte länger tätig als jene, die (in ihrer gesamten Karriere) kein Ressort leiteten  : Die Durchschnittsdauer beträgt 7,6 beziehungsweise 5,4 Jahre. Die Rekordhalter mit den längsten Amtszeiten sind bei den amtsführenden Stadträten Hans Mayr (spö) mit knapp 21 Jahren, bei den Stadträten ohne Ressort Wilhelm Neusser (övp) mit knapp über 18 Jahren. Bis in die Siebzigerjahre waren nur wenige Frauen im Stadtsenat vertreten  ; Maria Jacobi, amtsführende Stadträtin der spö von 1959 bis 1973, war die erste. Seit den Neunzigerjahren und vor allem nach der Jahrtausendwende hat sich das Bild jedoch stark zugunsten eines höheren Frauenanteils geändert. Über den gesamten Zeitraum von 1945 bis 2010 hielten jedoch nur 25 Frauen (20 Prozent) einen Regierungssitz.

4.2 Die Bürgermeister Nach der Befreiung Wiens von der ns-Herrschaft begannen die Parteien bereits am 14. April 1945 mit ersten Gesprächen über ihre Zusammenarbeit und einigten sich schließlich auf Theodor Körner als provisorischen Bürgermeister, der vom sowjetischen Stadtkommandanten General Alexej Blagodatow am 17. April anerkannt wurde. Körner hatte innerhalb der Sozialdemokratie Rückhalt bei beiden großen Strömungen – der alten Partei sowie den Revolutionären Sozialisten –, und auch seine Russischkenntnisse sprachen für den im Ersten Weltkrieg aktiven ehemaligen General. Der letzte amtierende Bürgermeister der demokratischen Periode, Karl Seitz, lebte zu diesem Zeitpunkt, nachdem er kurz zuvor aus dem Konzentrations­ lager Ravensbrück entlassen worden war, als »Verbannter« im damals noch nationalsozialistischen Thüringen und kam somit für das Amt nicht infrage, da die Parteien eine rasche Lösung anstrebten.126 Als Stellvertreter Körners wurden für die övp Leo­ pold Kunschak und für die kpö Karl Steinhardt bestimmt. Seit der Wiederaufnahme regulärer demokratischer Verfahren wird der Bürgermeister gemäß den Vorgaben der Wiener Stadtverfassung vom Gemeinderat auf die Dauer seiner Wahlperiode gewählt, wobei der Kandidat dem Gemeinderat nicht 68

die politische entwicklung wiens angehören, aber zu ihm wählbar sein muss.127 In der Praxis wird der Bürgermeister – wie die (amtsführenden) Stadträte – unmittelbar nach einer Wahl im Rahmen der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats bestellt. Vor allem die spö hat die Gemeinderatswahl bereits zu einer »Bürgermeisterwahl«128 transformiert, da sie ihren Spitzenkandidaten in das Zentrum des Wahlkampfs stellt und als Kandidaten für das höchste Amt propagiert.129 Ob eine tatsächliche Direktwahl des Bürgermeisters rechtlich möglich wäre, ist unter Verfassungsrechtlern umstritten,130 in der ­ politischen Auseinandersetzung war sie aber ohnehin noch kein relevantes Thema. Der gewählte Bürgermeister spricht vor dem Gemeinderat ein Ge- Abb. 4: Theodor Körner löbnis, gemäß einer Konvention erfolgt im weiteren Verlauf der konstituierenden Sitzung eine Regierungserklärung. Aufgrund seiner Doppelfunktion muss der Bürgermeister schließlich ein zweites Gelöbnis abgeben  : diesmal vor dem Bundespräsidenten, der ihn zum Landeshauptmann angelobt.131 Das Amt des Wiener Bürgermeisters ist nicht nur das älteste des österreichischen Verfassungsrechts, wird es doch seit über sieben Jahrhunderten ausgeübt, es gilt auch als das »mächtigste«.132 Der Bürgermeister, der im Gegensatz zu allen anderen österreichischen Landeshauptleuten keinen eigenen Geschäftsbereich (Ressort) führt, leitet die Sitzungen des Stadtsenats beziehungsweise der Landesregierung, die er auch einberuft. Bei Entscheidungen des Stadtsenats hat der Bürgermeister ein suspensives Veto und kann bei einem erneuten Beschluss der Regierung gegen seinen Willen den Gemeinderat mit der Beschlussfassung betrauen.133 Auch im Rahmen der Landesregierung besitzt der Regierungschef ein höheres Stimmgewicht, da bei Stimmengleichstand seine Präferenz entscheidet.134 Besonders stark ausgeprägt ist überdies sein Weisungsrecht, das die amtsführenden Stadträte, die Bezirksvorsteher sowie sämtliche Beamte und Angestellte der Gemeinde umfasst. Welan bezeichnet das politische System Wiens daher gar als »Präsidentschaftsrepublik«.135 Wie stark die Rolle des Bürgermeisters in der Sicht der Bevölkerung ist, verdeutlicht etwa folgende Zahl  : Anfang der Neunzigerjahre erhielt der Wiener Regierungschef 69

martin dolezal

Abb. 5: Franz Jonas (Bildmitte) bei der 1.-Mai-Feier 1958 auf dem Rathausplatz.

– das heißt der damalige Bürgermeister Helmut Zilk – jährlich bis zu 200.000 (Bitt-) Briefe.136 Tabelle 5 listet die sieben137 Wiener Bürgermeister seit 1945 auf  ; alle wurden von der spö gestellt und alle waren Männer. Letzteres widerspiegelt weitgehend die Situation in den übrigen Bundesländern, da bislang nur zwei Frauen das höchste Regierungsamt auf Landesebene ausübten  : Waltraud Klasnic (övp, Steiermark  : 1996– 2005) und Gabriele »Gabi« Burgstaller (spö, Salzburg  : seit 2004). Auf Basis ihrer sozialen Herkunft können die sieben Bürgermeister verschiedenen Typen zugeordnet werden  : Theodor Körner, dessen Erscheinung viele Zeitgenossen an Kaiser Franz Joseph erinnerte138, ist natürlich als Sonderfall einzustufen. Vor allem Franz Jonas, ein gelernter Schriftsetzer, und Felix Slavik, ein Feinmechaniker, verkörperten hingegen das »Idealbild« eines sozialdemokratischen Politikers mit starken Wurzeln im Arbeitermilieu.139 Bruno Marek, der vor seiner politischen Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter, etwa als Leiter der Wiener Messe ag, tätig war, entsprach diesem Bild weniger. In seiner eigenen Partei wurde er vielmehr als »Grandseigneur« wahrgenommen und war etwa für seine ausgeprägte Jagdleidenschaft bekannt.140 Die 70

die politische entwicklung wiens Bürgermeister seit den Siebzigerjahren waren durchwegs als typische Vertreter der neuen Mittelschicht einzuordnen und verfügten im Gegensatz zu ihren Amtsvorgängern auch über eine akademische Ausbildung als Jurist (Leopold Gratz), Lehrer (Helmut Zilk) und Biologe (Michael Häupl). Tabelle 5: Die Bürgermeister seit 1945

Name

von

bis

vorheriges Amt

Vorsitzender/Obmann der SPÖ Wien1

Rücktrittsgrund

Alter bei Alter bei Antritt Abgang

Amtsdauer (Jahre)

Theodor Körner

17.4.1945 (provisorisch) 14.2.1946 (gewählt)

20.6.1951

Bundesrat (bis 1934)

nein

Wahl zum Bundespräsidenten

72

78

 6,2

Franz Jonas

22.6.1951

1.6.1965

amtsführender Stadtrat

1949–1964

Wahl zum Bundespräsidenten

51

66

14,0

Bruno Marek

10.6.1965

17.12.1970

Landtagspräsident

nein

innerparteiliches Alters­ limit

65

71

 5,5

Felix Slavik

21.12.1970

5.7.1973

amtsführender Stadtrat

1964–1970

innerparteiliche Kritik

59

61

 2,5

Leopold Gratz

5.7.1973

10.9.1984

Nationalratsabgeordneter

1976–1988

Ernennung zum Außenminister

44

55

11,2

Helmut Zilk

10.9.1984

7.11.1994

Bundes­ minister

nein

innerparteiliches Alters­ limit

57

67

10,2

Michael Häupl

7.11.1994



amtsführender Stadtrat

seit 1993



45



(16,2)2

Quellen  : Internetauftritt der Stadt Wien (http  ://www.wien.gv.at/kultur/archiv/politik/bgmleit.html  ; aufgerufen am 25.7.2011), Rathauskorrespondenz. Anmerkungen  : 1 Aufgrund der Datenlage können hier nur die Jahre angeführt werden. Tagesgenaue Angaben waren bis für die Siebzigerjahre weder in Parteipublikationen (z. B. Heinz Nittel, SPÖ Wien 1945– 1975. Programme, Daten, Fakten. Wien, Sozialistische Partei Österreichs, Landesorganisation Wien 1978  ; Günther Sallaberger, SPÖ Wien 1945–1985. Daten, Programme, Fakten. Wien, Sozialistische Partei Österreichs, Landesorganisation Wien 1985) noch über die Wiener SPÖ selbst eruierbar. 2 Stichtag  : 31.12.2010.

Auf Basis des vorher ausgeübten Amtes wird deutlich, dass kein Wiener Bürgermeister als »Quereinsteiger« bezeichnet werden kann. Ganz im Gegenteil, waren sie doch alle vor ihrem Amtsantritt in relativ hohen politischen Ämtern tä71

martin dolezal tig  : Im Falle Körners gilt dies für die demokratische Periode Österreichs bis 1933/1934. Die überwiegende Mehrzahl der Bürgermeister war zuvor auch in der Wiener Kommunalpolitik aktiv. Zählt man Zilk, der vor seiner Zeit als Unterrichtsminister amtsführender Stadtrat war, dazu, gilt dies für fünf von sieben Amtsträgern. Körners fehlender kommunalpolitischer Hintergrund war aufgrund der Umstände seiner Bestellung kein großes Thema. Im Falle von Gratz, der ebenfalls über keine einschlägige Erfahrung verfügte, stand der Wunsch der spö nach einem klaren Neubeginn im Vordergrund, weshalb nach dem Rücktritt Slaviks niemand aus dem Rathausteam, sondern Abb. 6: Bruno Marek bei der Grundsteinlegung eines ein »Troubleshooter«141 von außerhalb Pensionistenheims (1967). nominiert wurde. Überdies galt Gratz als Wunschkandidat von Bundeskanzler Bruno Kreisky.142 Weniger einheitlich ist das Bild in Bezug auf den »Parteiencharakter« des Amtes. Die Position des Bürgermeisters innerhalb seiner Partei, konkret der Wiener spö, ist natürlich von vielen Faktoren geprägt, ein wichtiger Indikator ist jedoch die Frage, ob er auch Parteivorsitzender ist. Vier der sieben Bürgermeister waren Vorsitzende ihrer Partei  ; Körner, Marek und Zilk hatten diese Funktion nicht. Ferner übte Slavik das Parteiamt vor seinem Bürgermeisteramt aus, nicht parallel, da die spö 1965 entschieden hatte, bei der Nachfolge von Franz Jonas die Ämter des Bürgermeisters (Bruno Marek) und Parteichefs (Felix Slavik) zu trennen. Als Slavik Marek im Bürgermeisteramt nachfolgte, übernahm Otto Probst die Parteiführung.143 Diese Ämtertrennung wurde jedoch bei Gratz wieder aufgegeben. Besonders gering ausgeprägt war der Parteiencharakter des Amtes dann bei Zilk, der sich vor der Nominierung durch die spö in einer internen Kampfabstimmung gegen den Vizevorsitzenden der Landespartei, Erwin Lanc, durchsetzen musste.144 Diese Parteiferne des Wiener Bürgermeisters blieb aber eine Episode. Häupl, der beide Ämter seit nunmehr zwei Jahrzehnten in seiner Person vereinigt, wird eine sehr starke Position in der spö nachgesagt, die ihn auch zu einem relevanten Mitspieler in der Bundespolitik macht. 72

die politische entwicklung wiens

Abb. 7: Felix Slavik (im Bild rechts) spricht bei der 1.-Mai-Feier 1972 auf dem Rathausplatz.

Die Amtsdauer der Bürgermeister variiert relativ stark  : Der glücklos agierende Slavik kam nur auf zweieinhalb Jahre, wogegen der aktuelle Bürgermeister Häupl seit November 1994 an der Macht ist. Verglichen mit den Landeshauptleuten der anderen Bundesländer sind die Amtsjahre der Wiener Bürgermeister im Mittel als durchschnittlich einzustufen.145 Der in der Tabelle 5 angeführte (offizielle) Rücktrittsgrund zeigt, dass das Ausscheiden der Bürgermeister aus ihrem Amt in fünf von sechs Fällen letztlich ohne (größeren) innerparteilichen Konflikt und niemals als Konsequenz einer Niederlage bei Gemeinderatswahlen erfolgte  : Die Wahl beziehungsweise Ernennung in zumindest formal höhere Ämter (vor allem Körner und Jonas, vielleicht auch Gratz) ist für österreichische Landeshauptleute eher als Ausnahmefall zu bewerten, da dieses Amt – abgesehen vor allem von Bundeskanzler Josef Klaus (övp), der zunächst Salzburger Landeshauptmann war – generell als Höheund daher auch Endpunkt einer politischen Karriere gilt.146 Auch das Ausscheiden aufgrund des erreichten Alters (Marek und Zilk) muss prinzipiell als »freiwilliger« Rücktritt eingeschätzt werden. Das Alterslimit ist naturgemäß keine verfassungs73

martin dolezal

Abb. 8: Leopold Gratz auf dem Parteitag der SPÖ 1978.

Abb. 9: Helmut Zilk in seiner früheren Rolle als Moderator im ORF-Fernsehen. Abb. 10: Michael Häupl

74

die politische entwicklung wiens rechtliche Bestimmung, sondern eine innerparteiliche Regelung der spö. Um eine ständige Erneuerung der spö-Mandatare zu gewährleisten, gab es seit 1959 in der Bundespartei die Empfehlung, wonach Nationalratskandidaten höchstens 65 Jahre alt sein sollten. 1968 wurde dies fix in den Statuten verankert, wenngleich dem Bundesparteivorstand die Möglichkeit eingeräumt wurde, Ausnahmen zu gewähren.147 Im aktuellen Statut der Bundespartei (Stand  : 12. Juni 2010) ist eine solche Regelung nicht mehr vorhanden, doch existiert sie weiterhin in der Wiener spö und gilt für alle öffentlichen Mandate.148 Der gegenwärtige Bürgermeister Häupl (Jahrgang 1949) dürfte demnach bei der kommenden, regulär 2015 stattfindenden Gemeinderatswahl nicht mehr kandidieren, doch kann das zuständige Parteiorgan bei geheimer Wahl und mit Zweidrittelmehrheit eine Ausnahme bewilligen.

5. Die Bezirke Die Darstellung der politischen Entwicklung Wiens seit 1945 bliebe ohne einen Blick auf die Gemeindebezirke unvollständig. Verglichen mit der Situation in den übrigen Bundesländern könnten sie als »lokale« Ebene des politischen Systems Wiens bezeichnet werden. Rein rechtlich betrachtet sind die seit 1954 nun 23 Bezirke jedoch wenig relevante Einheiten. Wien ist eine einzige Gebietskörperschaft, die Gemeindebezirke sind daher bloß administrative Gliederungen ohne Rechtspersönlichkeit, und auch mit »Bezirken« im Sinne der Bundesverfassung haben sie nichts zu tun.149 Die Funktionen der Bezirke sind allein von der Gemeinde Wien übertragen, doch wurden sie im Zuge mehrerer Dezentralisierungsschritte 1979, 1988 und 1997 deutlich ausgeweitet. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören dabei die Erhaltung der Straßen – abgesehen von den Bundesstraßen – sowie der öffentlichen Kindergärten und Pflichtschulen. Zu den konfliktreichsten Angelegenheiten der Bezirkspolitik zählt vor allem die Steuerung des Pkw-Verkehrs, etwa durch die Einrichtung von Parkzonen.

5.1 Bezirksvertretungen und Bezirksvorsteher Seit 1954 werden die Bezirksvertretungen, die »Parlamente« der Bezirke, stets paral­ lel mit dem Gemeinderat gewählt. In den Jahren zuvor, das heißt 1945 und 1949, ernannte der Bürgermeister auf Basis der Ergebnisse bei den Gemeinderatswahlen in jedem Bezirk 28 provisorische Bezirksräte, da – wie in Abschnitt 2 bereits erwähnt wurde – die Grenze zu Niederösterreich und damit auch die territoriale Einteilung Wiens offen geblieben war.150 Bis 1973 wurden in jedem Bezirk dreißig Mandatare 75

martin dolezal gewählt, seit 1978 hängt die Anzahl der Mandate von der Bevölkerungsgröße ab. Zunächst wurden bei einer Mindestgröße von dreißig maximal fünfzig Sitze vergeben.151 Seit 1987 werden nun zwischen vierzig und sechzig Sitze verteilt, wobei auch die ausländische Wohnbevölkerung in die dafür zugrunde liegende Berechnung einbezogen wird.152 Aufgrund der Koppelung an die Bevölkerungszahl wird die Größe der Bezirksvertretungen nach jeder Volkszählung angepasst  ; insgesamt werden zurzeit 1.112 Mandate vergeben. Dank des reinen Verhältniswahlrechts ohne Prozenthürde153 fällt der Einzug in die Vertretungen vor allem in den größeren Bezirken relativ leicht, da dort – in Abhängigkeit von der Verteilung der übrigen Stimmen – nur rund eineinhalb Prozent der Stimmen erreicht werden müssen.154 Wie bei der Gemeinderatswahl kann auch bei den Bezirksvertretungswahlen seit 1996 eine Vorzugsstimme vergeben werden, wobei ebenfalls der Name des Kandidaten eingetragen werden muss und nicht angekreuzt werden kann. Die gewählten Bezirksvertretungen tagen gemäß der Wiener Stadtverfassung mindestens vierteljährlich,155 in der Praxis jedoch etwas häufiger.156 Aufgrund der gewachsenen Kompetenzen der Bezirke durch die mehrfachen Dezentralisierungsschritte erfolgte eine organisatorische Anpassung ihrer Vertretungen  : 1988 wurden Finanz- und Bauausschüsse eingerichtet, 1993 Umweltausschüsse.157 Die Bezirksräte, die Mitglieder der Wiener Bezirksvertretungen, sind jedoch Amateurpolitiker geblieben, denen nur eine geringe Aufwandsentschädigung in Höhe von knapp fünf Prozent des Einkommens von Nationalratsabgeordneten zukommt.158 Sie dürfen auch nicht gleichzeitig dem grundsätzlich aus Berufspolitikern bestehenden Gemeinderat/Landtag angehören.159 Ähnlich wie bei den Gemeindevertretungen in den übrigen Bundesländern fällt es den Parteien zunehmend schwer, Kandidaten für die Bezirke zu rekrutieren, wenngleich immer noch viele politische Karrieren dort ihren Anfang nehmen. Auch die Bezirksvorsteher wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst provisorisch bestellt. Ab dem 11. April 1945 ernannten die sowjetischen Bezirkskommandanten vornehmlich der kpö angehörige beziehungsweise zuordenbare Personen zu »Bezirksbürgermeistern«.160 Im Juli 1945 wurden auf Basis des Wiener VerfassungsÜberleitungsgesetzes die meisten Bezirksvorsteher von Bürgermeister Körner – mit Genehmigung des sowjetischen Stadtkommandanten – jedoch neu berufen. Nach der im November durchgeführten Gemeinderatswahl und ebenso 1949 erfolgte schließlich eine Neubestellung auf Basis der bei diesen Wahlen in den Bezirken erzielten Ergebnisse.161 Seit 1954 werden die Bezirksvorsteher von den gewählten Bezirksvertretungen bestimmt, wobei die Regelungen dieser Wahl eine österreichweite Besonderheit darstellen  : Die mandatsstärkste oder – bei Gleichstand – stimmenstärkste Partei hat 76

die politische entwicklung wiens einen rechtlichen, nicht nur »politischen« oder »moralischen« Anspruch auf das Amt des Bezirksvorstehers. Konkret wird der Bezirksvorsteher auf Vorschlag der stärksten wahlwerbenden Partei gewählt,162 weshalb der Wahlvorgang formal gesehen einer »Fraktionswahl« entspricht.163 In der politischen Praxis kommt die Wahl des Bezirksvorstehers einer »Direktwahl« durch die Bevölkerung nahe, da vor allem die Großparteien ihre Kandidaten in den Wahlkämpfen klar positionieren – speziell in den kompetitiven Bezirken (siehe unten). Diese Bevorzugung der stärksten Partei und der Wegfall der sonst üblichen Notwendigkeit, bei fehlenden absoluten Mehrheiten Koalitionen zu bilden, wurden mehrfach kritisiert. Teile der övp treten etwa seit den Neunzigerjahren für die Direktwahl von Bezirksvorstehern ein, während die Grünen eher eine herkömmliche Mehrheitswahl durch die Bezirksvertretung bevorzugen.164 Eine weitere Besonderheit der Bezirkspolitik besteht darin, dass die Bezirksvertretungen die Bezirksvorsteher nicht absetzen können. Dies kann jedoch der Bürgermeister, der ferner über ein jederzeitiges Rederecht in den Sitzungen der Bezirksvertretungen verfügt.165 Beiden Regelungen kommt aber wohl nur eine theoretische Bedeutung zu. Im Gegensatz zu den Bezirksräten üben die Bezirksvorsteher ihr Amt als Vollzeitfunktion aus  ; nach einer dreimonatigen Übergangszeit besteht für sie ein Berufsverbot.166 Innerhalb der Parteihierarchien – konkret der spö und der övp – nehmen die Bezirksvorsteher eine relativ hohe Position ein. Ihr Amt wird höher eingeschätzt als das eines Mitglieds des Gemeinderats oder auch eines Nationalratsabgeordneten. Dies zeigt auch ihre Besoldung, die etwa über jener der »nichtamtsführenden« Stadträte liegt.167 Trotz ihrer an sich geringen Kompetenzen sehen sich Bezirksvorsteher selbst gerne als »Bezirksbürgermeister«.168 Manche von ihnen werden in den Medien auch als »Bezirkskaiser« bezeichnet, doch variiert ihre Bekanntheit relativ stark  : In einer im Jahr 2000 durchgeführten Umfrage169 konnten im Durchschnitt der Bezirke 37 Prozent der Befragten den Namen ihres Bezirksvorstehers nennen, wobei die Prozentwerte zwischen 13 (ii. Bezirk) und 61 Prozent (xix. Bezirk) schwankten. Der am wenigsten bekannte Bezirksvorsteher (Gerhard Kubik, spö) war damals noch kein Jahr im Amt, während der bekannteste (Adolf Tiller, övp) bereits seit 22 Jahren regierte. Letzterer ist mit einer Amtszeit von nun 32,1 Jahren (Stichdatum 31. 12. 2010) auch der Rekordhalter. Bis Ende 2010 haben insgesamt 190 Personen das Amt des Bezirksvorstehers ausgeübt. Von diesen wurden 49 von der sowjetischen Besatzungsmacht oder dem Bürgermeister eingesetzt und waren nach 1954 nicht mehr im Amt, weshalb sie nie regulär gewählt wurden.170 Nur 19 Frauen, das heißt zehn Prozent aller und knapp 14 Prozent der regulär gewählten Bezirksvorsteher, haben bislang diese Funktion ausgeübt. Marie Franc (övp, viii. Bezirk) kam hierbei die Rolle der Pionierin zu  : Sie wirkte von 1959 bis 1964. Der Großteil der Bezirksvorsteherinnen amtierte jedoch 77

martin dolezal erst in den Neunziger- und vor allem Zweitausenderjahren. Zuletzt, Ende 2010, waren es bereits neun.

5.2 Parteihochburgen und bezirksspezifisches Wahlverh alten Im Gegensatz zur Landesebene, die generell von Stabilität und der Dominanz der spö geprägt ist, sind die Wahlen auf Bezirksebene von einem stärkeren Wettbewerb der Parteien gekennzeichnet. In den allermeisten Fällen sind es jedoch die bundesweit agierenden Parteien, die auch bei den Bezirksvertretungswahlen Stimmen und Mandate gewinnen. Die während des hier untersuchten Zeitraums in Wien relevanten Parteien (spö, övp, vdu/fpö, kpö, Grüne, lif, dfp – sowie das bzö) erreichten im Schnitt aller von 1954 bis 2010 abgehaltenen Bezirksvertretungswahlen den extrem hohen gemeinsamen Anteil von 99,0 Prozent der Stimmen  ; bis inklusive 1996 lag der Wert sogar minimal, um 0,1 Prozentpunkte, höher. Spezifische Bezirksparteien sind somit trotz der günstigen Rahmenbedingungen des Wahlrechts und des ausgeprägten Charakters einer »Nebenwahl«, bei der Wähler eher bereit sind, neuen Gruppierungen eine Chance zu geben, eine seltene Ausnahme geblieben. Als über einen längeren Zeitraum relevante Gruppierung kann letztlich nur das »Bürger­forum Josefstadt« bezeichnet werden, das seit 1991 – in einem Dauerbündnis mit der övp – im viii. Bezirk antritt. Während das Amt des Wiener Bürgermeisters immer von der spö besetzt wurde, stellen neben der spö auch die övp, seit 2001 auch die Grünen Bezirksvorsteher. Grafik 3 zeigt, wie viele Bezirksvorsteherposten die Parteien bei den seit 1954 durchgeführten Wahlen besetzen konnten und in wie vielen Bezirken es bei diesen Wahlen zu einem Machtwechsel kam. Auch bei den Bezirksvorstehern dominiert demnach die spö, die nur in den Jahren von 1978 bis 1987 weniger als 15 Vorsteher stellte. Die övp erreichte in dieser Zeit, in der sie auch bei den Gemeinderatswahlen leicht zulegen konnte, mit neun Bezirkschefs ihre besten Werte, hat zuletzt aber sukzessive Bezirksvorsteherposten verloren. In einer Langzeitperspektive (1954–2010) können drei Gruppen von Bezirken unterschieden werden  : Hochburgen der spö beziehungsweise der övp, also Bezirke, in denen eine der beiden traditionellen Großparteien durchgängig stimmenstärkste Partei war und somit den (gewählten) Bezirksvorsteher stellte, und kompetitive oder »umkämpfte« Bezirke, in denen es zu mindestens einem Machtwechsel gekommen ist. Immerhin 14 der 23 Bezirke können auf Basis einer solchen Kategorisierung als Hochburgen der spö eingestuft werden  : Neben den zwischen Donaukanal und 78

die politische entwicklung wiens

Grafik 3: Bezirksvertretungswahlen  : Anzahl der Bezirksvorsteher pro Partei (Linien) und Machtwechsel (Säulen), 1954–2010

20 SPÖ 15

10 ÖVP 5

2010

2005

2001

1 1996

1991

1969

2 1987

1964

4 1983

3

1978

1

1973

2 1959

0

1954

2 Grüne 2

Quelle  : Stadtwahlbehörde (vgl. http  ://www.wien.gv.at/politik/wahlen/grbv/index.html  ; aufgerufen am 25.7.2011) und Josef Rauchenberger (Hg.), Bezirksvertretungen in Wien, Wien 1990. Anmerkung  : Wie im Haupttext erläutert, gab es 1945 und 1949 keine Wahlen der Bezirksvertretungen.

Donau gelegenen Bezirken ii und xx und den innerstädtischen Bezirken iii und v gehören dazu die südlich des Gürtels gelegenen klassischen Arbeiterbezirke x bis xii sowie die westlichen, deutlich heterogeneren Außenbezirke xiv bis xvii. Hinzu kommen noch die beiden jenseits der Donau, in »Transdanubien«171, gelegenen Bezirke xxi und xxii sowie der xxiii. Bezirk. Die övp fällt bei einem solchen Vergleich deutlich zurück, da sie nur in zwei Bezirken durchgängig den Bezirksvorsteher stellte  : in der Inneren Stadt (i) sowie im xviii. Bezirk. Bis 2010 zählte hier noch der iv. Bezirk dazu, und seit 1978 ist die övp in den »bürgerlichen« Bezirken xiii und xix durchgängig die stärkste Partei. Weder die spö noch die övp hat es jedoch geschafft, über den gesamten Zeitraum in einer ihrer Hochburgen eine absolute Stimmenmehrheit zu erzielen. In den übrigen sieben Bezirken ist es von 1954 bis 2010 zu mindestens einem Machtwechsel gekommen. Abgesehen von den bereits erwähnten traditionell »bürgerlichen« Außenbezirken xiii und xix, in denen auch 79

 

martin dolezal die spö in manchen Wahlperioden den Bezirksvorsteher stellte, gehören ausschließlich innerstädtische Bezirke zu dieser kompetitiven Gruppe  : der iv. Bezirk sowie die Bezirke vi bis ix. Der wahlpolitisch interessanteste ist dabei der vii., da nach einer övp-dominierten Phase von 1954 bis 1991 und einem spö-geführten Intermezzo (1991–2001) die Grünen nun bereits dreimal in Folge die stärkste Partei waren und mit Thomas Blimlinger seit 2001 den Bezirksvorsteher stellen. Das insgesamt »buntere« Bild auf Bezirksebene, vor allem aber die mehrfachen Wechsel der stimmenstärksten Partei lassen vermuten, dass das Wahlverhalten der Bevölkerung – zumindest teilweise – bezirksbezogene Aspekte aufweist, auch wenn bezirksspezifischen Parteien keine Bedeutung zukommt. Da Umfragedaten für die allermeisten Wahlen nicht vorliegen beziehungsweise nicht greifbar sind, kann die Untersuchung eines solchen »differenzierten« Wahlverhaltens allein auf Basis von Aggregatdaten, also der Wahlergebnisse, erfolgen. Die Frage lautet dann, wie unterschiedlich die Parteien bei den stets gleichzeitig abgehaltenen Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen in den einzelnen Bezirken abgeschnitten haben. Grafik 4 zeigt diese Unterschiede auf Basis einer aus der Literatur172 übernommenen Formel zur Indexbildung. Grafik 4: Unterschiedliches Stimmverhalten bei Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen, 1954–2010 7

Hinweis: Seit 1996 sind bei Bezirksvertretungswahlen auch EUAusländer wahlberechtigt.

6 5 4

alle Parteien

3

SPÖ/ÖVP/FPÖ/KPÖ

2

2010

2005

2001

1996

1991

1987

1983

1978

1973

1969

1964

1959

0

1954

1

 

Quelle  : vgl. Grafik 3. Anmerkung  : Der Index summiert bezirksweise die absoluten Differenzen der Parteienergebnisse zwischen den beiden Wahltypen und teilt diese Summe durch zwei.

80

die politische entwicklung wiens Das Liniendiagramm zeigt im Zeitverlauf einen deutlichen Anstieg des wahlspezifischen Stimmverhaltens, das von den Fünfzigern bis in die Achtzigerjahre noch nahezu unbekannt war. Vor allem bei den ersten drei Wahlen waren die Bezirksergebnisse der Parteien bei der Gemeinderats- und der Bezirksvertretungswahl beinahe vollkommen identisch. Seit den Neunzigerjahren sind die Ergebnisse der Parteien in den 23 Stadtvierteln je nach Wahltyp nun unterschiedlicher geworden. Zwar stimmt seit 1996 die Wählerschaft aufgrund des Wahlrechts für eu-Ausländer auf Bezirks­ ebene nicht mehr komplett überein, doch ist der Einfluss dieser Wählergruppe aufgrund ihrer deutlich niedrigeren Wahlbeteiligung sehr gering.173 Und auch die größere Zahl der Parteien, die naturgemäß zu einem höheren Indexwert führt, ist für den Anstieg des »bezirksbezogenen« Wählens nicht ausschlaggebend. Die Bezirke bilden daher – zumindest in Ansätzen – auch aus Sicht der Wähler eigenständige politische Einheiten.

6. Politischer Protest und direkte Demokr atie Politische Partizipation, die aktive Beteiligung der Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens, geschieht in Wien – wie in allen demokratischen Systemen – primär über Wahlen, das heißt im Rahmen der alle fünf Jahre stattfindenden Gemeinderats- und der seit 1954 immer gleichzeitig durchgeführten Bezirksvertretungswahlen. Insgesamt ist diese institutionalisierte politische Arena zumindest auf Gemeindeebene von einer großen Stabilität geprägt  : Die Dominanz der spö war letztlich nie gefährdet, ein tatsächlicher Machtwechsel mit einem nicht von der spö gestellten Bürgermeister schien stets ausgeschlossen. Die Beteiligung der Wiener Bevölkerung an der politischen Entscheidungs­ findung geht jedoch über die Wahlteilnahme hinaus  : Zum einen findet sie als »unkonventionelle« Partizipation statt, zum anderen kommt seit den Siebzigerjahren direktdemokratischen Entscheidungsverfahren eine relativ große Bedeutung zu. Beide Aspekte werden im folgenden Abschnitt behandelt und zeigen dabei, neben längerfristigen Veränderungen der politischen Themenlandschaft, eine zumindest teilweise Beschränkung der hegemonialen Rolle der spö.

6.1 Politischer Protest in Wien Unkonventioneller politischer Partizipation oder allgemein »politischem Protest« kommt im internationalen Vergleich in Österreich eine relativ geringe Bedeutung zu.174 Die in Abschnitt 2 erwähnten Umfrageergebnisse zeigten jedoch eine ver81

martin dolezal gleichsweise größere Bereitschaft der Wiener, sich an Demonstrationen, Streiks und ähnlichen Formen der politischen Meinungsäußerung zu beteiligen, als der Einwohner der meisten anderen Bundesländer. Natürlich ist Wien vor allem aufgrund seines Status als Bundeshauptstadt der zent­ rale Ort unkonventioneller politischer Mobilisierung. Da sich politischer Protest in den allermeisten Fällen gegen nationale Entscheidungsträger richtet und Wien Sitz aller Bundesbehörden ist, wählen die Aktivisten zumeist die Bundeshauptstadt als Ort der »Auseinandersetzung«. Ferner bringt die Konzentration der elektronischen Medien und der Printmedien für rational kalkulierende Akteure eine größere Chance der öffentlichen Sichtbarkeit ihres Protests mit sich. Es ist daher wohl kein Zufall, dass in der einzigen vorhandenen systematischen Längsschnittanalyse von politischem Protest in Österreich knapp fünfzig Prozent der im Zeitraum von 1975 bis 2005 erfassten Ereignisse in Wien lokalisiert wurden.175 Nicht zuletzt die überragende Bedeutung Wiens als Hochschulstandort brachte mit sich, dass wesentliche politische Auseinandersetzungen nach 1945 auf Wiener Boden »ausgefochten« wurden  : Proteste gegen den Umgang mit der ns-Vergangenheit, sei es der Konflikt um den antisemitischen Hochschulprofessor Taras Borodajkewycz in den Sechzigerjahren176 oder die Kontroverse um Kurt Waldheim in den Achtzigerjahren, spielten sich in erster Linie in Wien ab. Auch die in Österreich als insgesamt kurze Episode zu charakterisierenden Ereignisse um 1968 konzentrierten sich in Wien, wo etwa Demonstranten am 1. Mai ein Blasmusikfest der spö im Anschluss an den traditionellen Aufmarsch störten und damit den Unmut des Bürgermeisters Marek erregten.177 Als Höhepunkt der Alternativbewegung der Siebzigerjahre gilt die Besetzung der »Arena«, des ehemaligen Auslandsschlachthofs in Wien-Erdberg. Dieser wurde im Sommer 1976 von den Aktivisten für ein alternatives Kulturprogramm parallel zu den offiziellen Wiener Festwochen, einem seit 1951 wieder aufgenommenen jährlichen Prestigeprojekt der Gemeinde, genützt.178 Auch die Auseinandersetzungen um Fragen der Asyl- und Integrationspolitik finden seit den Achtzigerjahren zumeist in Wien ihren Höhepunkt  : So etwa im Rahmen des gegen das fpö-Volksbegehren »Österreich zuerst« gerichteten »Lichtermeers«, bei dem am 23. Jänner 1993 rund 300.000 Menschen für eine humanere Asyl- und Fremdenpolitik protestierten. Diese beispielhaft genannten Ereignisse waren jedoch nicht primär Teil der hier behandelten Kommunal- beziehungsweise Landespolitik, wenngleich gerade die »Ausländerfrage« seit den Achtzigerjahren eines ihrer zentralen Themen geworden ist. Doch auch in erster Linie kommunale Anliegen führten seit den Sechzigerjahren zu mehreren Protesten, wobei die sie tragenden Bürgerinitiativen zum Teil auch erfolgreich waren  : Ihr Widerstand richtete sich etwa gegen den in den späten Sechzigerjahren geplanten Abriss der Otto-Wagner-Pavillons am Karlsplatz, gegen die 82

die politische entwicklung wiens Abb. 11: Aufruf zur Rettung des Veranstaltungszentrums Arena (1976).

Abb. 12: Die Errichtung der Donauinsel (Bildmitte) als Teil der Maßnahmen gegen die Hochwassergefahr war eine der großen städtebaulichen Streitfragen der Siebzigerjahre. Die SPÖ setzte diese »große Lösung« gegen anfänglichen Widerstand der ÖVP durch.

83

martin dolezal geplante Schleifung des Naschmarkts durch den Bau einer Stadtautobahn beziehungsweise eines Parkhauses oder – als besonders eindrückliches Beispiel – gegen die um 1970 aufgekommenen Pläne zum Abriss der bis in das 18. Jahrhundert zurückgehenden Wohnhäuser im Bereich des Spittelbergs, der 1973 schließlich zu einer Schutzzone erklärt wurde.179 Einige Jahre zuvor, 1965, war eine von 12.678 Wienern unterstützte Unterschriftenkampagne gegen den Abriss der barocken Matzleinsdorfer Pfarrkirche noch gescheitert. Sie musste – im Einverständnis mit der Erzdiözese Wien – einer unterirdisch geführten Straßenbahnstrecke weichen.180 Bei zwei Bauprojekten führte lokaler Widerstand direkt zur Durchführung von Volksbefragungen, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird  : bei der geplanten Errichtung des Universitätsinstituts im Sternwartepark (1973) sowie der vorgesehenen Bebauung der Steinhofgründe (1981).

6.2 Die Volksbefr agungen Insgesamt wichtiger als verschiedene Formen politischen Protests ist in Wien der Bereich der direkten Demokratie. Obwohl es Beispiele gab, bei denen die Anliegen primär von den Bürgern selbst formuliert und teilweise auch durchgesetzt wurden, war jedoch insgesamt auch und gerade dieser Bereich der institutionalisierten politischen Partizipation von zum Teil heftigen Konflikten zwischen den Parteien geprägt. Die bei allgemeinen Wahlen als unbezwingbar erscheinende spö musste dabei mehrere Niederlagen einstecken. Nachdem die erste stadtweite Befragung 1973 noch ad hoc, ohne rechtlichen Rahmen durchgeführt worden war (siehe unten), wurden mit einer 1978 beschlossenen Novellierung der Wiener Stadtverfassung mehrere direktdemokratische Instrumente eingeführt  : Für die Landesebene gibt es seit damals die Instrumente Volksbegehren und Volksabstimmung, auf der Gemeindeebene sind Volksabstimmungen und Volksbefragungen möglich.181 Wien folgte damit einer gerade in Westösterreich schon früher einsetzenden Entwicklung, gilt nun aber auf Basis der praktischen Umsetzung der vorhandenen Instrumente neben Vorarlberg als ein österreichweiter Vorreiter.182 Drei der vier vorhandenen Instrumentarien wurden bislang jedoch noch nicht genützt, da die Hürden gerade auf Landesebene sehr hoch sind  : So gibt es im Gegensatz zur Bundesebene bei der Volksabstimmung ein vorgeschriebenes Beteiligungsquorum von der Hälfte der Wahlberechtigten.183 Bei einem Volksbegehren müssen wiederum fünf Prozent des Elektorats erreicht werden, wogegen es auf Bundesebene auf Basis der dort erforderlichen 100.000 Unterschriften im Vergleich dazu nur etwa 1,5 Prozent sind. Und darüber hinaus steht in Wien auch keine Eintragungswoche 84

die politische entwicklung wiens mit öffentlichen Wahllokalen, in denen die Wähler ihre Unterstützungserklärung leisten können, zur Verfügung.184 Auch zu einer Volksabstimmung auf Gemeindeebene185 ist es noch nicht gekommen, weshalb allein der Volksbefragung eine reale Bedeutung zukommt. Diese Befragungen, deren Inhalt auf Angelegenheiten des Zuständigkeitsbereichs der Gemeinde beschränkt ist, können sowohl von der Mehrheit des Gemeinderats als auch von fünf Prozent der Wahlberechtigten initiiert werden.186 Die Befragung wird an drei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt  ; zuletzt – im Februar 2010 – erfolgte sie ausschließlich in Form der Briefwahl. Rein rechtlich betrachtet sind Volksbefragungen, im Gegensatz zu Volksabstimmungen, für den Gemeinderat beziehungsweise den Stadtsenat nicht bindend. Die unterlegene Seite konnte die Forderungen in der Praxis jedoch nur dann zurückweisen, wenn dies mit einer als zu gering erachteten Beteiligung argumentiert werden konnte. Häufig stand nach einer Volksbefragung daher weniger das eigentliche Ergebnis, also die Verteilung der Stimmen, im Vordergrund der Debatte, sondern das Ausmaß der Beteiligung, da die thematisch unterlegenen Parteien regelmäßig auf eine – ihrer Ansicht nach – zu geringe Wahlbeteiligung verwiesen. Diese spezifische Art der Integration der Volksbefragungen in den Parteienwettbewerb hat ferner zur Folge, dass die Parteien im Vorfeld der Abstimmungen in vielen Fällen eine klare Positionierung unterließen. Durch das Vermeiden einer Stimmempfehlung sollte der Befragung generell die Legitimität abgesprochen werden, und die Parteien sicherten sich damit auch die Chance, nachträglich auf eine mangelnde »Mobilisierungskraft« des Gegenspielers zu verweisen. Ferner war und ist es ein durchgängiges Mittel der Wiener Parteien, mittels Suggestivfragen den – theoretisch durchaus möglichen – rein sachpolitischen Charakter einer Volksbefragung zu hintertreiben  : So fragte die spö etwa 1980, ob »Propagandaständer, die […] das Stadtbild stören, auch außerhalb von Wahlzeiten erlaubt sein« sollen [beide Hervorhebungen durch den Autor]. Aber auch die övp bezog sich 1981 auf das »Milliardenprojekt eines neuen Konferenzzentrums bei der uno-City« [Hervorhebung durch den Autor]. Nicht nur um die Formulierung der Fragestellung, auch um die Themen der Befragungen selbst wurde zwischen den Parteien stets gekämpft. Allein bei der letzten, 2010 abgehaltenen Volksbefragung brachten die Oppositions­ parteien insgesamt 13 Anträge zu zusätzlichen Fragen ein, die jedoch alle an der spö-Mehrheit scheiterten.187 Die nachfolgende Tabelle 6 listet alle 21 im Zeitraum von 1973 bis 2010 durchgeführten Befragungen auf. Im Normalfall wurden stets mehrere Fragen zugleich gestellt, weshalb die »Fragenblöcke« im herkömmlichen politischen und medialen Sprachgebrauch als eine Volksbefragung bezeichnet werden. Neben dem vollständigen Wortlaut der Fragestellungen, der in den Anmerkungen enthalten ist, zeigt die Tabelle die Art der Initiation, die Positionen der Parteien, das Ausmaß der Be85

86 GR

Flötzersteig/Westeinfahrt4 (mehrere Antwortmöglichkeiten)

GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) B  : 70.284 B  : 70.000e GR GR GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ) GR (SPÖ)

Sozialer Wohnbau8

Modernisierung von Altbauten9

Altstadtsanierung10

Steinhof-Gründe11

Erhaltung der Vollbeschäftigung12

Steinhof-Verbauung13

stadtteilweise Befragungen zu Verkehrsprojekten14

Weltausstellung Wien-Budapest15

Donaukraftwerk Freudenau16

Hausbesorger17

Ganztagsschulen18

City-Maut19

Nachtbetrieb der U-Bahn20

Hundeführschein21

22.–24.2.1990

14.–16.5.1991

11.–13.2.2010

9.–11.12.1981

Ja

Nein

Nein

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

B  : 86.965 (ÖVP)

Jag

Ja

Ja

Nein

Nein

Ja

Ja

B  : 86.965 (ÖVP)

Stadterneuerung6

Konferenzzentrum (Ausstieg der Stadt)7

15.–17.11.1981

Jad

Variante b)

Variante a)

Auflassung von Friedhöfen5 (zwei Alternativen)

Ja

Nein

Nein

Nein

Ja

Nein

Ja

Ja











Grüne

Jaf

Nein

Nein























Nein

Ja

Ja

FPÖ Nein

Ja, Variante b)

Ja

ÖVP Nein



Ja

Nein

Ja

Ja

SPÖ

Positionen der Parteiena

Ja, Variante a) GR (SPÖ, FPÖc)

GR (SPÖ)

ohne Spezifizierung

GR

Aufstellen von Propagandaständern3

GR (SPÖ)

initiiert von  : Bevölkerung B Gemeinderat GR (Parteien)

Vorrang für öffentlichen Verkehr2

(Anmerkung  : noch ohne Rechtsgrundlage)

Neubau eines Universitätsinstituts am Sternwartegelände1

21.–26.5.1973

16.–18.3.1980

Thema

Zeitraum

Tabelle 6: Volksbefragungen, 1973–2010

35,9

43,7

 6,1

23,2

16,2

28,9

33,5

(%)

Beteiligung

89,5

54,9

23,5

76,6

83,9

72,6

35,2

92,4

46,5

86,1

49,3

89,8

83,8

83,4

89,9

92,4

63,1

36,9

7,4

31,2

18,1

34,0

77,5

42,6

(%)

Jab

10,5

45,1

76,5

23,4

16,2

27,4

64,9

7,6

53,5

13,9

50,7

10,2

16,2

16,6

10,1

7,6





43,4

66,1

22,5

57,5

(%)

Neinb

martin dolezal

die politische entwicklung wiens Quellen  : Josef Rauchenberger (Hg.), Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. S. 765– 825  ; Protokolle des Gemeinderats (seit 1998 online unter http  ://www.wien.gv.at/mdb/gr/  ; aufgerufen am 1.8.2011), Rathauskorrespondenz sowie im Haupttext erwähnte Literatur. Allgemeine Anmerkungen (Kleinbuchstaben als Fußnotenzeichen)  : a Wie im Haupttext erläutert, liegen offizielle Empfehlungen der Parteien (»Parolen«) nur selten vor. Die Zuordnung der Positionen orientiert sich daher – neben der Formulierung der Fragestellung – primär an den oben angeführten Quellen. In Fällen, bei denen Parteien keine Position äußerten, da sie meistens die Befragung an sich ablehnten, bleibt die Tabelle leer. b Im Gegensatz zu den amtlichen Angaben der Stadtwahlbehörde (vgl. https  ://www.wien.gv.at/advbefergeb/internet/Ergebnis.aspx  ; aufgerufen am 30.7.2011) beziehen sich die Prozentanteile der Ja- und NeinStimmen auch bei der Volksbefragung von 2010 allein auf die gültigen Stimmzettel. c Das Gemeinderatsprotokoll (Sitzung vom 1.2.1980) unterschied nur zwischen »einstimmig« und »mehrheitlich angenommen«. Auf Basis der Wortmeldung von Klubobmann Erwin Hirnschall kann angenommen werden, dass die FPÖ – zusammen mit der SPÖ – die Befragung zu den Friedhöfen unterstützte. Schließlich sah Hirnschall darin eine Chance, »den Fortbestand dieser Friedhöfe zu sichern«. d Die ÖVP sprach sich zwar in der Debatte vom 1.2.1980 gegen die Befragung aus, war aber generell – wie die FPÖ – für die Beibehaltung der Friedhöfe. e Wie im Haupttext erläutert, liegen keine Angaben zur genauen Zahl der Unterstützungserklärungen vor. f Wenngleich die Grünen die Volksbefragung generell ablehnten, entspricht die City-Maut einer ihrer Ideen zur Lösung der Verkehrsprobleme. Vereinzelt wurde daher auch dazu aufgerufen, mit »Ja« zu stimmen. g Der Nachtbetrieb der U-Bahn wurde ursprünglich von der Jungen ÖVP gefordert, eine offizielle Empfehlung der Mutterpartei gab es jedoch nicht, da auch sie die Befragung generell ablehnte. Wortlaut der Fragestellungen (Zahlen als Fußnotenzeichen)  : 1 Sind Sie damit einverstanden, daß 3.615 qm, das sind 6,14% des 58.891 qm großen Sternwartegeländes in Wien-Währing, für den Neubau eines Zoologischen Instituts der Universität Wien verwendet werden, wobei auch ein Teil des bisher abgeschlossenen Gebietes als Park gestaltet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird  ? 2 Sind Sie für wirksame Maßnahmen, um den öffentlichen Verkehr in Wien zu beschleunigen, wie z. B. durch Schaffung eigener Gleiskörper für die Straßenbahn im Straßenbereich, Abgrenzung von Straßenbahngleisen im Straßenbereich mit Schwellen u.ä.; Vorrang für die Straßenbahn bei Verkehrsregelungen und Ampelanlagen  ? 3 Sollen die Propagandaständer, die auf Gehsteigen, Grasflächen etc. stehen bzw. an Bäumen und dergleichen befestigt sind und das Stadtbild stören, auch außerhalb von Wahlzeiten erlaubt sein  ? 4 Sind Sie für die Schaffung einer zweiten Westeinfahrt Wiens durch den Ausbau der Flötzersteig-Bundestraße – Ja, a) als kreuzungsfreie Hochstraße über das Wiental und die Linzerstraße, b) als niveaugleiche Straße mit geregelter Kreuzung mit der Linzer Straße  ; Nein  ? 5 Sind Sie dafür, daß der einstimmige Gemeinderatsbeschluß vom 30. Mai 1975, der ab 1995 die Auflassung der Friedhöfe Altmannsdorf, Erlaa, Gersthof, Hadersdorf, Heiligenstadt, Hetzendorf, Hirschstetten, Kaiser-Ebersdorf, Kalksburg, Lainz, Leopoldau, Meidling, Pötzleinsdorf, Siebenhirten, Stadlau und Stammersdorf-Ort vorsieht a) aufrechtbleibt und diese Friedhöfe ab 1995 in Parkanlagen umgewandelt werden oder b) so abgeändert wird, daß diese Friedhöfe erhalten bleiben, auch wenn keine neuen Grabstellen geschaffen werden können  ? 6 Sind Sie dafür, daß die Arbeitsplätze durch Vorrang für die Stadterneuerung gesichert werden (z. B. Wohnungsverbesserung statt weiterer Stadtrandsiedlungen, Nahversorgung statt neuer Supermärkte außerhalb Wiens, mehr Grün statt mehr Beton)  ?

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martin dolezal   7 Sind Sie dafür, daß sich die Stadt Wien am Milliardenprojekt eines neuen Konferenzzentrums bei der UNO-City endgültig nicht beteiligt und statt dessen die Hofburg als Konferenzzentrum ausgebaut wird  ?   8 Sind Sie dafür, daß der Wohnbau ohne Gewinnstreben (sozialer Wohnbau) durch Gemeinde und Genossenschaften mit seinen vielfältigen Wohnformen (mehrgeschossige Wohnhäuser in Baulücken im dichtverbauten Gebiet, Wohnungen in sanierten Altbauten, neue Wohnsiedlungen, Reihenhäuser) eine vorrangige Aufgabe der Wiener Kommunalpolitik bleibt  ?   9 Sie Sie dafür, daß die Modernisierung und Wiederbelebung erhaltungswürdiger Wiener Altbauten (durch soziale Wohnbauträger, durch Hauseigentümer und Mieter oder durch Gruppen junger Menschen, denen Häuser zur Sanierung übergeben werden) verstärkt wird, wobei die Erträgnisse einer Abgabe für unvermietete Wohnungen (die von den Hauseigentümern zu leisten ist) ausschließlich der Althaussanierung zugute kommen sollen  ? 10 Sind Sie dafür, daß die Altstadtsanierung verstärkt mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, mit dem Hauptziel, das charakteristische Wiener Stadtbild in den älteren Vierteln zu erhalten und dort zugleich modernen Wohnraum zu schaffen  ? 11 Sind Sie für die Errichtung von 885 modernen und erschwinglichen Wohnungen in Wien-Penzing (Steinhof-Gründe), wobei gleichzeitig mehr als 200.000 qm Grünfläche, die den Wienerinnen und Wienern bisher nicht zugänglich waren, öffentlicher Grünraum werden sollen  ? 12 Sind Sie dafür, daß zur Erhaltung der Vollbeschäftigung in Wien zusätzlich zum Wohnungsbau finanzielle Mittel verstärkt eingesetzt werden, um Groß- und Kleinbetriebe zu sichern beziehungsweise anzusiedeln  ? 13 Sollen die Steinhof-Gründe verbaut werden  ? 14 Sollen wegen der sich bedrohlich verschlechternden Verkehrs- und Umweltsituation in Wien stadtteilweise folgende Volkbefragungen durchgeführt werden  ? [Anmerkung  : In den Bezirken wurden unterschiedliche Projekte genannt, über die abgestimmt werden sollte.] 15 Im Jahre 1995 beabsichtigen Wien und Budapest, eine gemeinsame Weltausstellung durchzuführen. Die Ausstellung soll auf einem durch Gemeinderatsbeschluß im März 1990 festgelegten Gelände bei der UNO-City ohne Verkleinerung des Donauparks abgehalten werden. Die Weltausstellung soll von privaten Investoren durchgeführt werden, unter Ausschaltung politischer Einflußnahme. Sind Sie dafür, daß im Jahr 1995 in Wien eine Weltausstellung abgehalten wird  ? 16 Die Donaukraftwerke wollen in Wien-Freudenau ein Kraftwerk errichten, das auch dazu dienen soll, den Grundwasserstand in Wien zu sichern. Es liegt ein positives Gutachten der Universität für Bodenkultur vor. Die Bewilligung dieses Kraftwerkes liegt nicht in der Kompetenz des Landes Wien. Wien möchte trotzdem über den Weg einer Volksbefragung die Meinung der Wienerinnen und Wiener zum Thema Kraftwerk Freudenau erkunden. Sind Sie dafür, daß die Donaukraftwerke im Bereich des Hafens Freudenau ein Wasserkraftwerk errichten  ? 17 Im Jahr 2000 wurde durch den Bundesgesetzgeber die Möglichkeit abgeschafft, Hausbesorgerinnen und Hausbesorger anzustellen. Eine bundesgesetzliche Neuregelung ist seither nicht zustande gekommen. Sind Sie dafür, dass in Wien die Möglichkeit geschaffen wird, neue Hausbesorgerinnen und Hausbesorger (mit modernem Berufsbild) einzustellen  ? 18 Internationale Studien zeigen, dass die Ganztagsschule der [sic  !] entscheidende [sic  !] Erfolgsfaktor für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie darstellt sowie das Bildungsniveau der Bevölkerung deutlich hebt. Sind Sie für ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen in Wien  ? 19 Einige Großstädte (zum Beispiel London, Stockholm) haben zur Bewältigung des innerstädtischen Verkehrs eine Einfahrtsgebühr für das Stadtzentrum eingeführt (Citymaut). In Wien konnte durch die Verkehrspolitik (Ausbau öffentlicher Verkehr, Parkraumbewirtschaftung, Wohnsammelgaragen, Ausbau Radwegenetz) in den letzten Jahren der Autoverkehr in der Stadt deutlich reduziert werden. Soll in Wien eine Citymaut eingeführt werden  ?

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die politische entwicklung wiens 20 In Wien fahren täglich Nachtbusse von 0.30 bis 5.00 Uhr. Ein 24-Stunden-U-Bahn-Betrieb am Wochenende (Freitag und Samstag) kostet pro Jahr 5 Millionen Euro und bewirkt veränderte Fahrtrouten der Nachtbusse am Wochenende. Sind Sie dafür, dass die U-Bahn am Wochenende auch in der Nacht fährt  ? 21 Seit 2006 wird in Wien ein freiwilliger Hundeführschein angeboten. Der Hundeführschein ist eine fundierte Ausbildung für Hundehalterinnen und Hundehalter, bei welcher der richtige Umgang mit Hunden gelehrt wird. Bei der Prüfung müssen Hundehalterinnen und Hundehalter zeigen, dass sie den Hund auch in schwierigen Situationen im Griff haben. Sind Sie dafür, dass es in Wien für sogenannte »Kampfhunde« einen verpflichtenden Hundeführschein geben soll  ?

teiligung durch die Bevölkerung und schließlich das Abstimmungsergebnis. Bei der Initiation kann rein rechtlich zwischen einer Initiative der Bürger und einem Gemeinderatsbeschluss unterschieden werden. Realpolitisch ist der Gemeinderatsbeschluss jedoch von Parteien getragen, die daher in einer Klammer angeführt sind – sofern der Beschluss nicht einstimmig erfolgte. Und auch die Initiierung durch die Bevölkerung kann realpolitisch von einer Partei durchgeführt werden, auf die daher ebenfalls in einer Klammer verwiesen wird. 1973  : Sternwartepark Der Widerstand gegen die geplante Errichtung eines Universitätsinstituts für Zoologie auf dem Areal des Sternwarteparks zeigte zu Beginn der Siebzigerjahre zunächst die Relevanz der neuen Themen Umwelt und Lebensqualität, die der sozialdemokratischen Modernisierungspolitik zum Teil entgegenstanden. Vor allem demonstrierte dieser Konflikt aber auch das Mobilisierungspotenzial der Massenmedien, das jenes der spö zumindest bei diesem Thema bei Weitem übertraf. Nachdem eine lokale Bürgerinitiative rund 16.000 Unterschriften188 gegen den geplanten Neubau gesammelt und vor allem die Kronen Zeitung eine wochenlange, heftige Kampagne gegen den »Bäumemord«189, ja sogar gegen die »Baummörder«190 geführt hatte, entschloss sich die Wiener spö auf Drängen der Bundespartei zur erstmaligen Abhaltung einer Volksbefragung. övp und fpö, die den Bau des Instituts zuvor stets unterstützt hatten, waren längst in das Lager der Gegner gewechselt und hatten sich bereits seit Längerem für eine Befragung ausgesprochen. 191 Sie lehnten aber wie die damals im Gemeinderat vertretene dfp, die eng mit der Bürgerinitiative kooperierte,192 die von der spö beschlossene Fragestellung ab.193 Die Pro-Kampagne der spö – aber auch der Universität Wien, deren Studenten zuvor rund 20.000 Unterstützungserklärungen für den Bau gesammelt hatten194 – ging ins Leere. Das Votum gegen den Bau und die nachfolgende interne Kritik an Bürgermeister Slavik, der bei Vorstandswahlen im Rahmen des Landesparteitags der spö nur von zwei Dritteln der Delegierten unterstützt wurde,195 führten daraufhin zum 89

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Abb. 13: Konflikt um den Sternwartepark, Plakat der ÖVP (1973).

Rücktritt des Regierungschefs und zur wahrscheinlich größten Krise der Wiener spö nach 1945. Wie in Abschnitt 2.3 bereits erläutert wurde, war der Streit um den Sternwartepark jedoch nur der Auslöser, aber keinesfalls der tatsächliche Grund für die interne Kritik an Slavik.

Volksbefr agung 1980 Auf Basis der 1978 geschaffenen Instrumentarien beschloss der Gemeinderat in unterschiedlichen Parteienkoalitionen beziehungsweise Alleingängen der spö vier Befragungen für den März 1980. Zwar unterstützten die Oppositionsparteien övp und fpö teilweise die Fragen, doch scheiterten sie mit Versuchen, zusätzliche Themen einzubringen  : Zur Diskussion stand etwa die Errichtung einer weiteren – später auch ohne vorherige Abstimmung gebauten – Brücke über die Donau, der heutigen Brigittenauer Brücke. Während der Kampagne verweigerte Bürgermeister Gratz ostentativ eine persönliche Stimmempfehlung, nahm jedoch spö-Funktionäre von 90

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Abb. 14: Konflikt um den Sternwartepark, Plakat der FPÖ (1973).

Abb. 15: Das profil berichtete im Juni 1973 über den Rücktritt Slaviks und erinnerte an eine frühere Auseinandersetzung, die zur zweifachen Beschlagnahmung einer Ausgabe geführt hatte.

diesem Schweigegebot ausdrücklich aus.196 Die Positionen der Parteien waren somit – zumindest indirekt – für die Wiener erkennbar. Während das bewusst allgemein gehaltene Votum für den öffentlichen Verkehr und die Frage der Umgestaltung alter Friedhöfe nur wenig politischen Sprengstoff enthielten, entzündete sich ein recht heftiger Streit um das vorgeschlagene Plakatierungsverbot außerhalb von Wahlzeiten. Das von der spö angedachte Verbot von »Propagandaständern«, das heißt des Aufstellens von Dreieckständern, wurde von övp und fpö als Einschränkung ihrer oppositionellen Rechte betrachtet. Im Rahmen der Aktion »pro wien« hatte die övp zuvor regelmäßig solche Dreieckständer bei verschiedenen städtischen Problemstellen – etwa schlecht koordinierten Baustellen – postiert.197 Dieser »permanente Wahlkampf«198 richtete sich scharf gegen die regierende spö, die daraufhin mit der Volksbefragung antwortete. Den größten Konfliktstoff barg 1980 jedoch die Frage des Baus einer zweiten Westeinfahrt, der von der spö klar befürwortet und von der övp ebenso klar abgelehnt wurde. Die fpö legte sich zunächst nicht fest, war dann aber Teil des NeinLagers. Etwas verklausuliert empfahl Parteichef Erwin Hirnschall den Wienern, 91

martin dolezal bei dieser Frage so zu entscheiden, »als ob sie unmittelbar betroffen wären«.199 Aufgrund der eigentümlichen Fragestellung – neben einem »Ja« beziehungsweise einem »Nein« wurden die mit »Ja« Stimmenden zusätzlich aufgefordert, zwischen zwei Varianten des Verkehrsprojekts zu entscheiden – entzündete sich nach der Befragung ein heftiger Streit um die Interpretation des Ergebnisses. Zwar summierten sich die Ja-Stimmen zu einer Mehrheit, doch war die Nein-Antwort für sich genommen die am stärksten unterstützte Alternative. Die Angelegenheit war rechtlich problematisch, galt doch laut Stadtverfassung folgende Regelung  : »Wenn über zwei oder mehrere Varianten entschieden wurde, so gilt die Variante als bejaht, auf die mehr als die Hälfte der Abb. 16: Volksbefragung 1980, Plakat der ÖVP. abgegebenen gültigen Stimmen entfallen.«200 Gestritten wurde daher, ob die beiden Zusatzfragen als eigenständige Varianten galten – so die Interpretation der Opposition – oder nur als eine Art Zusatzinformation für die generelle Unterstützung des Projekts, wie etwa der amtsführende Stadtrat Peter Schieder betonte.201 Aus Sicht von Oppositionsführer Busek wurde die »Hochleistungsstraße Flötzersteig […] von einer Mehrheit abgelehnt«202, wogegen es für die spö eine »klare Mehrheit«203 für den Bau einer zweiten Westeinfahrt gab – und zwar in der Variante einer Hochstraße quer über den xiv. Bezirk. Wie auch immer  : Gebaut wurde diese Straße nie.

Volksbefr agungen 1981 Im Rahmen ihrer bundesweiten Kampagne gegen den Bau eines Konferenzzentrums bei der uno-City204 initiierte die övp im Herbst 1981 mittels Unterstützungserklärungen auch eine kommunale Volksbefragung. Die dabei bestehende Hürde von fünf Prozent der Wahlberechtigten, damals 58.672 Wiener, wurde mit 86.965 Unterstützungen klar überwunden, wenngleich das zuständige Magistratsamt auf Basis 92

die politische entwicklung wiens einer Stichprobe zwölf Prozent der Unterstützungen für ungültig erklärte  : Kritisiert wurde, dass nicht alle Unterstützer über einen Hauptwohnsitz in Wien verfügten oder das aktive Wahlalter noch nicht erreicht hätten.205 Neben den einstimmigen Beschlüssen für den Bau des Konferenzzentrums im Nationalrat war es in den Sechzigerjahren auch im Gemeinderat zu gleichlautenden Voten gekommen. Die erste Kritik an den steigenden Kosten wurde dann vor allem von der fpö geäußert.206 Weder die Wiener Volksbefragung noch das österreichweite Volksbegehren der övp, das im Mai 1982 ein Viertel der Österreicher unterstützte, verhinderten jedoch den umstrittenen Bau. Die spö hatte sich dafür entschieden, die Befragung in Wien zunächst zu ignorieren, und verwies danach auf eine ihrer Ansicht nach zu geringe Beteiligung von knapp über 16 Prozent. Parallel zu der von der övp mittels Unterstützungserklärungen initiierten Volksbefragung beschloss die spö mithilfe ihrer Mehrheit im Gemeinderat eine weitere Befragung, die unmittelbar auf jene der Volkspartei folgte. Öffentliche Resonanz löste von den fünf dabei gestellten Fragen jedoch nur eine einzige aus  : die geplante Verbauung der Steinhofgründe. övp und fpö sprachen sich klar gegen die Errichtung einer Wohnanlage an diesem Standort aus und unterstützten damit den Widerstand einer lokalen Bürgerinitiative, die mit 70.284 Unterstützungserklärungen die Aufnahme einer weiteren Frage durchsetzte.207 Die Wiener waren bei der Volksbefragung daher mit zwei Fragen zu ein und demselben Thema konfrontiert. Allerdings unterschieden sich deren Formulierungen deutlich. Während die spö in der Fragestellung gleich die Vorteile des Standortes pries, war die Formulierung der Bürgerinitiative an sich kurz und bündig, deutete aber ebenso das gewünschte Ergebnis an  : »Sind Sie für die Errichtung von 885 modernen und erschwinglichen Wohnungen in Wien-Penzing (Steinhof-Gründe), wobei gleichzeitig mehr als 200.000 qm Grünfläche, die den Wienerinnen und Wienern bisher nicht zugänglich waren, öffentlicher Grünraum werden sollen  ?« (Fragestellung der spö). »Sollen die Steinhof-Gründe verbaut werden  ?« (Fragestellung der Bürgerinitiative)

Die spö war sich der Zustimmung zur Bebauung bis zuletzt sehr sicher, weshalb der zuständige amtsführende Stadtrat Johann Hatzl bereits Ende Oktober den Bau im Gemeinderat beantragt hatte, »um bei der erwarteten Zustimmung der Bevölkerung mit den sofortigen Maßnahmen beginnen zu können«.208 Das negative Votum der Wiener wurde infolgedessen als klare Niederlage der spö interpretiert. Bereits am 14. Dezember, nur drei Tage nach der Volksbefragung, hob der Gemeinderat einstimmig den Bebauungsbeschluss auf und öffnete das vorher der Bevölkerung nicht zugängliche Areal.209 Der 1973 »gerettete« Sternwartepark ist dieser hingegen ver93

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Abb. 17: Volksbefragung 1991, Plakat der FPÖ.

schlossen geblieben und dient nun der Umweltforschung.210 Erst seit Mai 2013 ist er an Wochentagen für die Bevölkerung geöffnet. Volksbefr agung 1990 Rund 70.000211 Wiener, mobilisiert durch mehrere Bürgerinitiativen und vor allem den Verein Fahrgast, setzten im Frühjahr 1990 eine Befragung durch, auf deren Wege stadtteilweise Abstimmungen zu umstrittenen Verkehrsprojekten durchgesetzt werden sollten. Die größte Resonanz erfuhr dabei der Konflikt um die Einstellung der Straßenbahnlinie 8 infolge des Ausbaus des U-Bahn-Netzes.212 Die Aktivisten der Bürgerinitiativen scheiterten jedoch – trotz Unterstützung der Oppositionsparteien, die ähnlich gelagerte Anträge zur Durchführung von Volksbefragungen stellten – letztlich an der kommunikativen Herausforderung, die Wiener zur Teilnahme an einer Befragung zu motivieren, deren Inhalt allein erneute Abstimmungen waren. Zudem war die Vorgehensweise rechtlich umstritten, da stadtteilweise Volksbefragungen nur vom Gemeinderat beschlossen werden können.213 Die sehr 94

die politische entwicklung wiens niedrige Beteiligung von nur sechs Prozent der Wahlberechtigten wurde von der alleinregierenden spö als zu gering bewertet, weshalb sie trotz der Einsetzung einer Gemeinderatskommission die Forderungen nach Durchführung der Abstimmungen überging.

Volksbefragung 1991 Die Idee zur Abhaltung einer Weltausstellung gemeinsam mit Budapest wurde Mitte der Achtzigerjahre, also vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, geboren  ; bereits 1873 war Wien Schauplatz einer solchen Veranstaltung gewesen. Nachdem im November 1986 die beiden Städte ihre Bewerbung erklärt hatten, erhielten Wien und Budapest am 14. 12. 1989 – das heißt nach dem Zusammenbruch des kp-Regimes – die Vergabe für 1995.214 Im Oktober 1988 hatte der Gemeinderat einstimmig, mit den Stimmen der damals vertretenen Parteien spö, övp und fpö, die expoBewerbung (eine Abkürzung für »Exposition Mondiale«) unterstützt.215 Nach dem Fall des kp-Regimes wurde es jedoch zunehmend unklar, ob Ungarn beziehungsweise die Stadt Budapest am Projekt festhielten, weshalb sich spö und övp ab Dezember 1990 für einen eventuellen Alleingang Wiens aussprachen.216 Die fpö war zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Projekt ausgeschert und begann im März 1991 mit der Unterschriftensammlung zur Einleitung einer Volksbefragung.217 Diese Aktion sowie wachsende Proteste und mediale Kampagnen gegen eine mögliche Verkehrsbelastung und steigende Mietpreise infolge der Weltausstellung veranlassten die Großparteien schließlich zur Abhaltung einer Volksbefragung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Befragungen einigten sich die drei Parteien – die Grünen waren noch nicht im Gemeinderat vertreten – sowohl auf die Durchführung als auch auf die Fragestellung. Nicht zuletzt der Ausstieg Budapests aus dem gemeinsamen Projekt während der Kampagne führte schließlich zu einer überraschend deutlich Ablehnung durch die Bevölkerung.218 Wien zog daraufhin seine Bereitschaft zur Abhaltung der Weltausstellung zurück  ; einen Ersatzkandidaten gab es für 1995 nicht. Parallel zur expo-Befragung erfolgte 1991 eine Volksbefragung über den Bau eines Donaukraftwerks im Stadtgebiet (Freudenau). Bürgermeister Zilk hatte eine solche Befragung schon länger versprochen, obwohl spö und övp Sorge hatten, die Abstimmung könnte – nach den Ereignissen von Hainburg – mit einem negativen Votum enden.219 Die Wiener entschieden sich jedoch mehrheitlich für den Bau des Kraftwerks, das 1998 seinen Betrieb aufnahm.

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martin dolezal 6.3 Direkte Demokr atie in den Bezirken Auch auf Bezirksebene sind direktdemokratische Instrumente vorhanden, doch sind sie bislang schwächer entwickelt. Neben der Möglichkeit der Bewohner, sich mit »Wünschen, Anregungen, Vorschlägen und Beschwerden«220 an den Bezirk zu wenden, besteht seit 1987 die Möglichkeit, »Bürgerversammlungen«221 abzuhalten. Die Einberufung solcher Informations- und Diskussionsveranstaltungen ist in den Bezirksvertretungen als Minderheitenrecht konzipiert, da bereits ein Fünftel der Bezirksräte die Abhaltung verlangen kann. Bürgerversammlungen können aber auch von fünf Prozent der Bezirksbewohner verlangt werden, und zwar auch von jenen Einwohnern ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die aufgrund ihres Alters (und des Fehlens sonstiger Ausschließungsgründe) bei der Gemeinderatswahl wahlberechtigt wären.222 In der Praxis kommt diesem Instrument der Bürgerbeteiligung jedoch keine große Bedeutung zu. Auf Basis der spärlich vorhandenen Informationen gab es Anfang der Neunzigerjahre im Durchschnitt rund ein Dutzend Versammlungen pro Jahr, die alle entweder von der Bezirksvertretung oder von Oppositionsparteien initiiert wurden – niemals von der Bevölkerung.223 Von den Bezirksvertretungen initiierte Befragungen sind in der Stadtverfassung nicht eigens vorgesehen, doch wurden seit den Neunzigerjahren zahlreiche Bürgerbeziehungsweise Anrainerbefragungen durchgeführt – meist zu Verkehrsproblemen. Angesichts der fehlenden rechtlichen Grundlagen kommt es vor allem bei den Anrainerbefragungen manchmal zu Auseinandersetzungen um die Frage der Stimmberechtigten. Diese werden zumeist ad hoc festgelegt  : Bei einer im Juni 2011 im xvi. Bezirk abgehaltenen Befragung zum Bau einer Garage waren zum Beispiel alle jene Einwohner stimmberechtigt, die innerhalb eines Umkreises von 300 Metern vom geplanten Standort wohnten.224 Auf Basis der vorhandenen Informationen225 kann angenommen werden, dass seit den späten Neunzigerjahren solchen Befragungen eine deutlich größere Bedeutung zukommt als den »offiziellen« Bürgerversammlungen. Im Koalitionsvertrag der seit 2010 bestehenden rot-grünen Stadtregierung ist die Einführung von Volksbefragungen in Bezirken und »Grätzeln« – eine wienerische Bezeichnung für Teile von Bezirken – vorgesehen. övp, fpö und Grüne hatten dies schon lange gefordert.

7. Zusammenfassung »Wien ist anders« lautete viele Jahre lang der offizielle Slogan der städtischen Tourismuswerbung. Und tatsächlich unterscheidet sich die Großstadt Wien recht deutlich von den übrigen österreichischen Bundesländern – gerade auch hinsichtlich der 96

die politische entwicklung wiens in diesem Kapitel vorgestellten politischen Entwicklung seit 1945. In Bezug auf das politische System sind vor allem zwei miteinander verbundene Aspekte zentral  : die besondere Ausgestaltung vieler politischer Institutionen aufgrund des Doppelstatus Wiens als Gemeinde und Bundesland sowie die nun bereits knapp hundert Jahre währende führende, ja hegemoniale Position der Sozialdemokratie. Der nach der Trennung von Niederösterreich geschaffene Doppelstatus Wiens als Gemeinde und Bundesland führt zu mehreren in Personalunion ausgeübten politischen Funktionen  : Die gewählten Mitglieder des Gemeinderats fungieren auch als Landtagsabgeordnete  ; die Stadträte und amtsführenden Stadträte sind Mitglieder der Landesregierung und der Bürgermeister amtiert auch als Landeshauptmann. Einige Konsequenzen des besonderen Status Wiens gehen aber über begriffliche Doppelungen und juristische Spitzfindigkeiten hinaus und führen letztlich zu einem politischen System, das der Mehrheitspartei relativ weitreichende Befugnisse gibt – zumindest im Vergleich zu den anderen Bundesländern und den in Österreich generell stark eingeschränkten Aspekten einer Mehrheitsdemokratie. Die Differenzierung in Regierungsmitglieder mit und ohne Ressort, in amtsführende und »nichtamtsführende« Stadträte, ist dabei der wohl hervorstechendste Faktor, da er das an sich bestehende Proporzsystem bei der Regierungsbildung bewusst hinterläuft. Aus dem Blickwinkel einer Wettbewerbsdemokratie muss ein solches Unterlaufen des Proporzes aber keineswegs negativ gesehen werden, da es zu einer besseren Zuschreibung politischer Verantwortung führt. Parallel dazu müssen jedoch institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sein, die eine wirkungsvolle kontrollierende Tätigkeit der Opposi­ tionsparteien ermöglichen. Letzteres war aber lange Zeit nicht gegeben. Seit 1945 wird die politische Entwicklung Wiens maßgeblich von der spö bestimmt. Die Sozialdemokraten knüpften nach dem Zusammenbruch des ns-Regimes an ihre bereits in der Ersten Republik erreichte politische Dominanz an und bestimmen seit nun bald hundert Jahren – unterbrochen nur von den beiden Diktaturen des Ständestaats/Austrofaschismus und des Nationalsozialismus – die Geschicke der Stadt. Die spö stellte alle Bürgermeister, war immer die mit Abstand stärkste Partei bei den Gemeinderatswahlen und verfügte auch lange Zeit über eine absolute (Mandats-)Mehrheit. Erst 1996 war sie zum ersten Mal gezwungen, eine Koalition einzugehen, konnte aber anschließend erneut für zwei Perioden alleine regieren. Und auch auf der Ebene der 23 Stadtbezirke ist die spö die dominierende Partei, wenngleich die övp und zuletzt auch die Grünen dort einige Wahlen gewinnen konnten und für ein insgesamt »bunteres« Bild als auf der Landesebene sorgen. Die Dominanz einer Partei – zumindest in Bezug auf die Parteizugehörigkeit des Landeshauptmanns – war in der politischen Entwicklung der österreichischen Bundesländer seit 1945 lange Zeit der Normalfall. Mit Blick auf die Ereignisse der vergangenen Jahre gehört Wien nun jedoch zur kleiner gewordenen Gruppe der 97

martin dolezal Bundesländer ohne Erfahrung eines Regierungswechsels. Doch Wien ist nicht nur die wahlpolitische Hochburg der spö, die Stadt besitzt im Selbstverständnis dieser Partei den besonderen Charakter eines Experimentierfeldes oder gar Modells sozial­ demokratischer Politik. Vor allem in Zeiten der Opposition wird Wien daher als Gegenmodell zum konservativ dominierten Bund präsentiert. Keinem Bundesland kommt für die Identität etwa der övp eine ähnlich überragende Bedeutung zu. Der stark eingeschränkte politische Wettbewerb vor allem auf der Landesebene ist auch die Konsequenz einer strukturellen Schwäche der übrigen Parteien. Für die övp ist Wien letztlich ein Dauerproblem. Allein in der Periode der »bunten Vögel« unter der Führung Buseks fand die Volkspartei in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren ein Konzept, das sie auch für urbane Wähler attraktiv machte. Die fpö war bis in die Achtzigerjahre eine wenig bedeutende Kleinpartei, erst ihre verstärkt rechtspopulistische Ausrichtung und eine Veränderung der Themenlandschaft machte sie vor allem seit den Neunzigerjahren zu einem relevanten Kontrahenten. Die Allmacht der spö und ihr System des »freundlichen Absolutismus«226, wie es die Stadtzeitung Falter kürzlich bezeichnete, wurden daher in manchen Phasen der Stadtpolitik weniger von den Oppositionsparteien als von kritischen Medien und engagierten Bürgergruppen beschränkt. Die in den Siebzigerjahren aufgekommene Umweltbewegung, vor allem aber der generelle Wunsch nach mehr Mitbestimmung standen der Modernisierungspolitik der spö zunächst im Weg. Die Wiener spö hat auf diese Veränderungen der politisch-kulturellen Rahmenbedingungen jedoch reagiert  : Maßnahmen zur Schaffung einer »autogerechten« Stadt oder die Durchführung von Bauprojekten ohne Beteiligung der betroffenen Anrainer gehören im Großen und Ganzen eindeutig der Vergangenheit an. Und auch die starke parteipolitische Indienstnahme des sozialen Wohnbaus und der Beschäftigung im öffentlichen Dienst hat ihren Höhepunkt schon lange überschritten. Die Regierungstätigkeit der spö kann daher – trotz aller Konsequenzen einer jahrzehntelangen De-facto-Alleinherrschaft – insgesamt als Erfolg bewertet werden  : Schließlich zählt Wien seit Jahren zu den Großstädten mit der weltweit höchsten Lebensqualität.227

Anmerkungen 1 Barbara Steininger (Wiener Stadt- und Landesarchiv) und Wolfgang C. Müller (Universität Wien) verdanke ich einige wertvolle Hinweise. Ferner möchte ich mich für den – kostenlosen – Abdruck von Coverseiten des Nachrichtenmagazins profil bedanken sowie bei der ARGE Media-Analysen, die mir Ergebnisse ihrer Reichweitenanalysen von Tageszeitungen zur Verfügung stellte. 2 Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Ausländerfeindlichkeit als Wahlmotiv  ? Analyse der Wiener Gemeinderatswahl 1991. In  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1991. S. 97–120.

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die politische entwicklung wiens  3 Erhard Busek, Hauptstadt und Bundesland. Eine parallele Existenz. In  : Robert Kriechbaumer (Hg.), Liebe auf den zweiten Blick. Landes- und Österreichbewußtsein nach 1945. Wien 1998. S. 47–61, hier S. 47.  4 Neue Freie Presse, 5.5.1919, S. 1, »Sozialdemokratische Mehrheit im Gemeinderate und im Landtage« (online unter http  ://anno.onb.ac.at/anno.htm  ; aufgerufen am 2.10.2011).  5 Maren Seliger, Bundesland Wien – Zur Entstehungsgeschichte der Trennung Wiens von Niederösterreich. In  : Wiener Geschichtsblätter 37 (1982), S. 181–216.  6 Wolfgang Mayer, Territoriale Veränderungen im Raume Wien 1938–1954. In  : Wiener Geschichtsblätter 30 (3) (1975). S. 286–294, hier S. 288.  7 Maren Seliger, Groß- oder Klein-Wien  ? Politische Auseinandersetzungen um die Nachkriegsgrenzen und Stadtentwicklungsziele. In  : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 51 (1995), S. 209–241.  8 Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert. Wien 2000. S. 68–69.  9 Mayer, Veränderungen, S. 289–292. 10 Günther Goller/Oskar Wawra, Der Wiener Landtag. In  : Herbert Schambeck (Hg.), Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich. Wien 1992. S. 589–641, hier S. 597–598. 11 Manfried Rauchensteiner, Kriegsende und Besatzungszeit in Wien 1945–1955. In  : Wiener Geschichtsblätter 30 (2) (1975), S. 197–220, hier S. 216. 12 Mayer, Veränderungen, S. 293. 13 Seliger, Klein-Wien, S. 228–229. 14 Felix Czeike, Wien und seine Bürgermeister. Sieben Jahrhunderte Stadtgeschichte. Wien 1974. S. 450. 15 Goller/Wawra, Landtag, S. 609. 16 Art. 117 (5) Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG). 17 Landesgesetzblatt (LGBl.) für Wien 26/1965. 18 Goller/Wawra, Landtag, S. 619. 19 Manfried Welan, Der »nichtamtsführende« Stadtrat. In  : Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger/Hans Richard Klecatsky/Karl Korinek/Wolfgang Mantl/Peter Pernthaler (Hg.), Der Rechtsstaat vor neuen Heraus­ forderungen. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag. Wien 2002. S. 817–830, hier S. 818. 20 Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung §9 bzw. Geschäftsordnung des Wiener Stadtsenats §10. 21 Goller/Wawra, Landtag, S. 622. 22 Welan, Stadtrat, S. 816. 23 Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 13.3.1993 (Geschäftszahl G76/92). 24 Wiener Stadtverfassung (WStV) § 132 (1). 25 Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung § 2 (2). 26 Wolfgang C. Müller/Josef Melchior, Parteien und Parteiensystem in Wien. In  : Herbert Dachs (Hg.), Parteien und Wahlen in den österreichischen Bundesländern (= Österreichisches Jahrbuch für Politik, Sonderband 4). Wien 1992. S. 533–604, hier S. 536. 27 Müller/Melchior, Parteien, S. 537. 28 Maren Seliger/Karl Ucakar, Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932. Privilegien, Partizipationsdruck und Sozialstruktur. Wien 1984. S. 140. 29 Der Standard, 26.3.2001, S. 6, »Ein Fest in Rot und Grün«. 30 Michael Häupl, Verwalten und/oder Gestalten. Sozialistische Kommunalpolitik in der Zweiten Republik. In  : Peter Pelinka/Gerhard Steger (Hg.), Auf dem Weg zur Staatspartei. Zur Geschichte und Politik der SPÖ seit 1945. Wien 1988. S. 377–390, hier S. 377. 31 So Leopold Gratz in einer Wahlkampfrede am 17.9.1973. Abgedruckt in  : Die Zukunft, Nummer 19/1973, S. 1.

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32 Heinz Nittel, SPÖ Wien 1945–1975. Programme, Daten, Fakten. Wien  : Sozialistische Partei Österreichs, Landesorganisation Wien 1978. S. 5. 33 Mattl, Wien, S. 45. 34 Mattl, Wien, S. 46. 35 Kurt Stimmer, Döbling – ein Bezirk zwischen Cottage und Karl-Marx-Hof. Geschichte der Sozialdemokratie in Döbling. Wien 1992. S. 33–34. 36 Quelle  : »Wiener Wohnen« (vgl. https  ://www.wohnservice-wien.at/home/gemeindebauten  ; aufgerufen am 8.10.2011). 37 Gustav Bihl, Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte. In  : Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3  : Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien 2006. S. 545–650, hier S. 547– 548. 38 Peter Eigner/Herbert Matis/Andreas Resch, Sozialer Wohnbau in Wien. Eine historische Bestandsaufnahme. In  : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 55 (1999). S. 49–100, hier S. 58. 39 Eigner et al., Wohnbau, S. 82. 40 LGBl. für Wien 1972/16. 41 Andreas Pittler, Die Bürgermeister Wiens. Die Geschichte einer Stadt in Porträts. Wien 2003. S. 149. 42 Eigner et al., Wohnbau, S. 96. 43 Hans-Georg Heinrich, Politische Kultur in Wien. In  : Hans-Georg Heinrich (Hg.), Politische Kultur in Österreich. Linz 1989. S. 18–27, hier S. 21–22  ; Peter Gerlich/Helmut Kramer, Abgeordnete in der Parteiendemokratie. Eine empirische Untersuchung des Wiener Gemeinderates und Landtages. Wien 1969, hier S. 177. 44 Martin Dolezal, Wien blieb rot. Landtagswahlkämpfe in Wien 1945–1969. In  : Herbert Dachs (Hg.), Zwischen Wettbewerb und Konsens. Landtagswahlkämpfe in Österreichs Bundesländern 1945 bis 1970. Wien 2006. S. 407–454. 45 Politische Protektion – selbstverständlich  ? In  : Die Meinung. Journal für angewandte Sozialforschung 9 (1–2) (1969). S. 2–5, hier S. 3. 46 Diese Ergebnisse einer von Fessel-GfK durchgeführten Studie erwähnen Hans-Georg Heinrich/Slawomir Wiatr, Political Culture in Vienna and Warsaw. Boulder 1991. S. 157. Der relativierende Verweis auf die unterschiedliche Sozialstruktur der beiden Wählergruppen stammt hingegen allein vom Autor des vorliegenden Beitrags. 47 Bihl, Wien, S. 597. 48 Quelle  : »Wiener Wohnen« (vgl. https  ://www.wohnservice-wien.at/home/gemeindebauten  ; aufgerufen am 8.10.2011). 49 Quelle  : Verschiedene Ausgaben der Zeitschrift »Der Gemeindebedienstete« bzw. »Wir Gemeindebedienstete«. 50 Quelle  : Volkszählungen, vgl. http  ://www.statistik.at/web_de/static/bevoelkerung_nach_dem_religionsbe kenntnis_und_bundeslaendern_1951_bis_2001_022885.xls, bzw. http  ://www.statistik.at/web_de/static/ bevoelkerung_2001_nach_religionsbekenntnis_staatsangehoerigkeit_und_bundesl_022895.xls  ; aufgerufen am 23.8.2011. 51 Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Regionale Mentalitätsdifferenzen in Österreich. Empirische Sondierungen. In  : Herbert Dachs (Hg.), Der Bund und die Länder. Über Dominanz, Kooperation und Konflikte im österreichischen Bundesstaat. Wien 2003. S. 421–440, hier S. 425–435. 52 Rainer Nick, Die Bundesländer und das österreichische Parteiensystem. In  : Anton Pelinka/Fritz Plasser (Hg.), Das österreichische Parteiensystem. Wien 1988. S. 401–418, hier S. 414. 53 Plasser/Ulram, Mentalitätsdifferenzen, S. 425–435.

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54 Roland Deiser/Norbert Winkler, Das politische Handeln der Österreicher. Wien 1982. 55 Deiser/Winkler, Handeln, S. 74–75 und S. 274. 56 Mattl, Wien, S. 81–82. 57 Herbert Dachs, Medien, Parteien, Verbände und Wahlen in den österreichischen Bundesländern. Ein Überblick. In  : Herbert Dachs/Franz Fallend/Elisabeth Wolfgruber (Hg.), Länderpolitik. Politische Strukturen und Entscheidungsprozesse in den österreichischen Bundesländern. Wien 1997. S. 13–72, hier S. 17. 58 Ulrike Harmat, Die Medienpolitik der Alliierten und die österreichische Tagespresse 1945–1955. In  : Gabriele Melischek/Josef Seethaler (Hg.), Die Wiener Tageszeitungen. Eine Dokumentation. Bd. 5  : 1945– 1955. Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresse der Zweiten Republik bis 1998. Frankfurt am Main 1999. S. 57–96. 59 Die Kleinschreibung entspricht dem Markennamen des Magazins. 60 Profil Nr. 6 von 1975 titelte etwa  : »Die Zukunft Wiens  : Was tut Leopold Gratz (außer Whisky trinken)«. 61 Siehe Anton Pelinka, »Wanzenjournalismus« und »Zerfall der Geschlossenheit«. Der AKH-Skandal. In  : Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.)  : Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. 2. durchges. u. erw. Aufl. Thaur 1996. S. 532–545. 62 Mattl, Wien, S. 84–97  ; Bihl, Wien, S. 622–626. 63 Robert Kriechbaumer, Österreichs Innenpolitik 1970–1980 (= Österreichisches Jahrbuch für Politik, Sonderband 1). München 1981. S. 153–173. 64 Wolfgang C. Müller, Die Organisation der SPÖ, 1945–1995. In  : Wolfgang Maderthaner/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie. Wien 1996. S. 195–356, hier S. 295–298. 65 Karl Czernetz, Die Wiener Volksbefragung. In  : Die Zukunft 11 (1973). S. 8. 66 Arbeiterzeitung, 30.4.1972, S. 3, »Wer subventioniert ›Profil‹  ?« 67 Kriechbaumer, Innenpolitik, S. 159–160. 68 Peter A. Ulram, Politischer Wandel in Wien 1972–1983. In  : Erhard Busek (Hg.), Mut zum aufrechten Gang. Beiträge zu einer anderen Art von Politik. Wien 1983. S. 157–176, hier S. 163. 69 Bihl, Wien, S. 626. 70 Ebd. 71 Falter, Nr. 31 vom 1.8.2001, S. 14, »Die Sendung mit dem Haider«. Noch Mitte der Neunzigerjahre gab es eine solche »Sendung des Landeshauptmanns« in allen anderen Bundesländern  ; vgl. Michael Holoubek, Die rundfunkrechtliche Zulässigkeit der »Sendung des Landeshauptmanns«. In  : Rundfunkrecht. Beilage zur Zeitschrift Österreichische Blätter für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (1) (1995), S. 1–11, hier S. 1. 72 So die Ergebnisse von Inhaltsanalysen der Forschungsgruppe »Mediawatch«. Vgl. z. B. den »StandardBericht Mai 2005  : Medienpräsenz der Parlamentsparteien« oder »Landeshauptleute in den ORF – Bundesland heute-Sendungen. Sonderedition erstellt für Der Standard (2008).« Ältere Studien sind nicht vorhanden. 73 Dolezal, Wien. 74 Ulram, Wandel, S. 166–169. 75 Fritz Plasser und Peter A. Ulram, Analyse der Wiener Gemeinderatswahl 1987. Die Stadt der Nichtwähler. In  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1987. S. 57–78. 76 Art 95 (1) B-VG. 77 Karl Ucakar, Direkte Demokratie und Wahlrecht in Wien. In  : Josef Rauchenberger (Hg.), Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. S. 161–262, hier S. 202. 78 Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 30.6.2004 (Geschäftszahl G218/03). 79 Dolezal, Wien, S. 415.

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  80 Die Presse, 9.9.2011, S. 13, »Wiener Wahlrecht  : Ende für SP-Vorteil steht bevor«.   81 LGBl. für Wien 5/1981, §42.   82 Ucakar, Demokratie, S. 224.   83 Die Presse, 9.9.2011, S. 13, »Wiener Wahlrecht  : Ende für SP-Vorteil steht bevor«.   84 Goller/Wawra, Landtag, S. 629–630.   85 WStV §§5 und 10.   86 Heinrich/Wiatr, Culture, S. 34.   87 Seit der in Endnote 43 zitierten Studie von Gerlich und Kramer ist keine ähnliche Publikation mehr erschienen.   88 Goller/Wawra, Landtag, S. 616.   89 LGBl. für Wien 26/2001.   90 Dagmar Aigner, Die Landtage. In  : Herbert Dachs/Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kra­ mer/Volk­mar Lauber/Wolfgang C. Müller/Emmerich Tálos (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch. Wien 2006. S. 959–973, hier S. 961.   91 WStV kundgemacht am 15.10.1968 (LGBl. für Wien 1968/28) §19.   92 Die Präsidiumsmitglieder des Landtags sind unter http  ://www.wien.gv.at/kultur/archiv/politik/landtag. html aufgelistet (aufgerufen am 7.12.2011). Für die Identifikation der Vorsitzenden des Gemeinderats wurde auf die Angaben bei Wolfgang Solt, Mitglieder des Gemeinderates der Stadt Wien (Wiener Landtages) und des Stadtsenates der Stadt Wien (der Wiener Landesregierung) 1945–2002. Wien 2002 sowie auf OTS-Meldungen und Gemeinderatsprotokolle zurückgegriffen.   93 WStV §120 (5).   94 WStV §21 (2) bzw. §120 (2).   95 WStV §22 (4) bzw. §120 (4).   96 So auch die Einschätzung von Gerlich/Kramer, Abgeordnete, S. 35.   97 So war zum Beispiel die 40. Sitzung des Gemeinderats am 26.2.1982 eine »nichtöffentliche Sitzung«.   98 Maria Hampel-Fuchs, Wien ist anders. Das dritte Modell des Föderalismus in Wien. Wien 2008, hier S. 46.   99 Aigner, Landtage, S. 965. 100 Goller/Wawra, Landtag, S. 612. 101 Barbara Steininger, Der Wiener Landtag – das unbekannte Wesen im Mehrebenensystem. In  : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 60 (2004). S. 303–326, hier S. 325. 102 Rathauskorrespondenz, 5.6.2000. 103 Vgl. http  ://www.wien.gv.at/gr-ltg-tv/ (aufgerufen am 10.11.2011). Die Anzahl der Seher muss jedoch als relativ gering bewertet werden, mehr als rund 1000 bis 2000 Interessierte wurden noch nicht gemessen (vgl. Wiener Zeitung, 8.2.2011, S. 28, »Politik nicht ›im stillen Kämmerlein‹«). 104 Claudia Palt, Der Wandel einer politischen Elite. Der Wiener Gemeinderat/Landtag 1945–1999. Dissertation Universität Wien 2000. S. 192. 105 Elisabeth Wolfgruber, Politische Repräsentation auf Länderebene  : Die Landtage und ihre Abgeordneten. In  : Herbert Dachs/Franz Fallend/Elisabeth Wolfgruber (Hg.), Länderpolitik. Politische Strukturen und Entscheidungsprozesse in den österreichischen Bundesländern. Wien 1997. S. 73–229, hier S. 169. Vgl. auch Steininger, Landtag, S. 316. 106 Palt, Wandel, S. 198 und 201. 107 Palt, Wandel, S. 208. 108 Diese Zahlen beruhen auf einem vom Autor zusammengestellten Datensatz mit biografischen Angaben zu allen Mitgliedern des Stadtsenats seit 1945.

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109 Johannes Hahn (ÖVP) ist die einzige Ausnahme. 110 Manfried Welan, Der Bürgermeister der Bundeshauptstadt Wien. Schriftliche Fassung eines Vortrages, den der Verfasser am 13. November 1989 im Rahmen des von Karl Korinek veranstalteten staatsrechtlichen Konversatoriums zu Grundfragen und aktuellen Problemen der österreichischen Politik an der Wirtschaftsuniversität Wien gehalten hat. Wien 1992. S. 10. 111 WStV §34. 112 Müller/Melchior, Parteien, S. 549. 113 Vgl. http  ://www.wien.gv.at/mdb/sts/1998/index.htm (aufgerufen am 18.8.2011). 114 Siehe dazu Wolfgang C. Müller/Kaare Strom, Koalitionsregierungen in Westeuropa – eine Einleitung. In  : Wolfgang C. Müller/Kaare Strom (Hg.), Koalitionsregierungen in Westeuropa. Bildung, Arbeitsweise und Beendigung. Wien 1997. S. 9–45, hier S. 16. 115 Müller/Melchior, Parteien, S. 547. 116 Bihl, Wien, S. 632. 117 Müller/Melchior, Parteien, S. 590–591. 118 Gerlich/Kramer, Abgeordnete, S. 42. 119 Goller/Wawra, Landtag, S. 637–640. 120 Arbeiterzeitung, 20.3.1958, S. 1, »Wiens große Stadtbaupläne«. 121 Ilse König, Vom Hochwasserdamm zur Copa Cagrana. Projekt Donauinselplanung. In  : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 30–37, hier S. 31–32. 122 Thomas Köhler, Von Falken und sonstigen »bunten Vögeln«. Eine (etwas andere) Geschichte der Wiener ÖVP. In  : Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hg.), Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945. Wien 1995. S. 467–488, hier S. 471. 123 Anton Fürst, Nach dem Ende der Rathauskoalition. In  : Österreichische Monatshefte 30 (2) (1974). S. 17–19, hier S. 17. 124 Arbeiterzeitung, 6.7.1973, S. 1, »Schutz für Bäume auch auf Privatgrund«. 125 Franz Fallend, »Kabinettsystem« und Entscheidungsfindungsprozesse in den österreichischen Landesregierungen. In  : Herbert Dachs/Franz Fallend/Elisabeth Wolfgruber (Hg.), Länderpolitik. Politische Strukturen und Entscheidungsprozesse in den österreichischen Bundesländern. Wien 1997. S. 231–354, hier S. 254. 126 Kurt Stimmer, Wien 2000. Wiens kommunale Entwicklung seit 1945. Wien 1999. S. 330–334. 127 WStV §31 (1–2). 128 Welan, Bürgermeister, S. 8. 129 Dolezal, Wien. 130 Welan (Bürgermeister, S. 8–9) betont, dass laut Bundesverfassung der Landeshauptmann vom Landtag gewählt wird und schließt damit eine Direktwahl des Bürgermeisters, der ja auch zugleich Landeshauptmann ist, aus. Goller/Wawra (Landtag, S. 622–623) verweisen hingegen auf Autoren, die eine Direktwahl – zumindest theoretisch – für möglich halten. 131 B-VG Art. 101 (4). 132 Welan, Bürgermeister, S. 7. 133 Geschäftsordnung des Wiener Stadtsenates §24. 134 Geschäftsordnung der Wiener Landesregierung §21. 135 Welan, Bürgermeister, S. 31. 136 Welan, Bürgermeister, S. 24. 137 Rudolf Prikryl, der in der Literatur vereinzelt als »Drei-Tage-Bürgermeister« angeführt wird, wurde am 11.4.1945 von Widerstandsgruppen zum Vizebürgermeister designiert und »amtierte« bis zum 17.4., als

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sich SPÖ, ÖVP und KPÖ auf das Team um Körner einigten. Bürgermeister, auch provisorischer, war Prikryl jedoch nie. Siehe dazu Karl Fischer, Phantom Prikryl. Die Person des Rudolf Prikryl, die Legende vom »Drei-Tage-Bürgermeister« und der Amtsantritt Theodor Körners als Wiener Bürgermeister. In  : Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 51 (1995). S. 265–298. 138 Peter Gerlich, Theodor Körner. In  : Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik. Wien 1995. S. 307– 313, hier S. 309. 139 Kurze Einblicke in ihren Werdegang bieten z. B. die beiden folgenden Beiträge  : Peter Gutschner, Franz Jonas. In  : Dachs/Gerlich/Müller, Politiker, S. 250–256, sowie Manfred Marschalek, Felix Slavik. In  : Dachs/Gerlich/Müller, Politiker, S. 533–539. 140 Quelle  : Eintrag zu Bruno Marek in »dasrotewien.at«, dem Weblexikon der Wiener Sozialdemokraten (http  ://www.dasrotewien.at/marek-bruno.html  ; aufgerufen am 1.8.2011). 141 Karl Vocelka, Leopold Gratz. In  : Dachs/Gerlich/Müller, Politiker, S. 185–191, hier S. 186. 142 Müller/Melchior, Parteien, S. 584. 143 Pittler, Bürgermeister, S. 147–148. 144 Müller/Melchior, Parteien, S. 603. 145 Rainer Nick, Die Bundesländer und das österreichische Parteiensystem. In  : Anton Pelinka/Fritz Plasser (Hg.), Das österreichische Parteiensystem. Wien 1988. S. 401–418, hier S. 408. 146 Nick, Bundesländer, S. 408–409. 147 Müller, Organisation, S. 284. 148 Statut der SPÖ – Landesorganisation Wien §45. 149 Manfried Welan, Die Bezirksvorsteher der Bundeshauptstadt Wien. Neue überarbeitete Fassung 2002 (= Universität für Bodenkultur Wien  : Institut für Wirtschaft, Politik und Recht  ; Dokumentation Nr. 20). 150 Josef Rauchenberger, Rückblick und Zukunft der Bezirksvertretungen in Wien. In  : Josef Rauchenberger (Hg.), Bezirksvertretungen in Wien. Wien 1990. S. 69–90, hier S. 77–80. 151 LGBl. für Wien 12/1978. 152 Rauchenberger, Rückblick, S. 83–89  ; LGBl. für Wien 32/1987. 153 Josef Ponzer, Die rechtliche Beurteilung der Wiener Bezirksvertretungen. In  : Rauchenberger, Bezirksvertretungen, S. 27–31, hier S. 31. 154 Dieser Wert ergibt sich auf Basis einer Berechnung der »effektiven Prozenthürde« von Wahlsystemen. Siehe dazu z. B. Arend Lijphart, Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in ThirtySix Countries. New Haven 1999, S. 153. 155 WStV §64 (1). 156 Hubert Sickinger, BezirksvorsteherInnen in Wien, 2003 (= Universität für Bodenkultur Wien  : Institut für Wirtschaft, Politik und Recht  ; Diskussionspapier Nr. 99-R-03), S. 57. 157 Hanna-Maria Wismühler, Die Dezentralisierung – mehr Rechte für die Bezirke. In  : Perspektiven – 15 Jahre Dezentralisierung [2003], S. 16–34, hier S. 17. 158 Hubert Sickinger, Demokratie in der kleinen Einheit. Wien, Innere Stadt – Eine Fallstudie. Wien 2002, S. 25. 159 WStV §61a. 160 Fischer, Phantom, S. 273–274. 161 Rauchenberger, Rückblick, S. 74–75. 162 WStV §61b (1). 163 Welan, Bezirksvorsteher, S. 6. 164 Sickinger, BezirksvorsteherInnen, S. 48–49. 165 WStV §64 (3).

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166 WStV §61b (4). 167 Sickinger, Demokratie, S. 24–25. 168 Sickinger, Bezirkspolitik, S. 51–81. 169 Kurier, 1.11.2000, S. 10, »Nur jeden vierten Wiener interessiert Bezirkspolitik«. 170 Die den Berechnungen zugrundeliegenden Daten wurden von Barbara Steininger (Landtags- und Gemeinderatsdokumentation des Wiener Stadt- und Landesarchivs) zusammengestellt. Vgl. http  ://www. wien.gv.at/kultur/archiv/politik/bezirk.html (aufgerufen am 25.7.2011). 171 Dieser – leicht spöttische – Begriff geht auf »Transleithanien« zurück, eine während der Monarchie gebrauchte inoffizielle Bezeichnung für die jenseits des kleinen Grenzflusses Leitha gelegenen Länder der ungarischen Krone. 172 Amir Abedi und Alan Siaroff, The Mirror has Broken  : Increasing Divergence between National and Land Elections in Austria. In  : German Politics 8 (1) (1999), S. 207–227. 173 1996 war die Anzahl der Wahlberechtigten bei den Bezirksvertretungswahlen um 1,6 Prozent höher als bei der Gemeinderatswahl. Zuletzt betrug der prozentuelle Unterschied – vor allem aufgrund eines starken Zuzugs aus Deutschland – bereits 9,5 Prozent. Die Wahlbeteiligung der EU-Ausländer kann auf Basis eines Vergleichs der Anzahl der Wahlberechtigten und der abgegebenen Stimmen bei den beiden Wahltypen berechnet werden  : 2010 betrug die Beteiligung der EU-Ausländer auf Basis dieser Kalkulation nur 18,5 Prozent. 174 Die klassische Studie, die auch Österreich berücksichtigt, ist immer noch Samuel H. Barnes/Max Kaase (Hg.), Political Action – Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly Hills 1979. 175 Martin Dolezal/Swen Hutter, Konsensdemokratie unter Druck  ? Politischer Protest in Österreich, 1975– 2005. In  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 36 (3) (2007), S. 338–352. Die im Rahmen der Studie erhobenen Daten basieren auf der Berichterstattung der Presse, der einzigen im gesamten Untersuchungszeitraum vorhandenen österreichweit relevanten Qualitätszeitung. Da Wien Redaktionssitz dieser Zeitung ist, hatten Ereignisse in Wien zusätzlich eine größere Chance, in die Berichterstattung aufgenommen zu werden. 176 Gerard Kasemir, Spätes Ende für »wissenschaftlich« vorgetragenen Rassismus. Die Borodajkewycz-Affäre 1965. In  : Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. 2. durchges. u. erw. Aufl. Thaur 1996. S. 486–501. 177 Georg Friesenbichler, Unsere wilden Jahre. Die Siebziger in Österreich. Wien 2008, S. 72–73. 178 Bärbel Danneberg/Fritz Keller/Aly Machalicky/Julius Mende (Hg.), Die 68er  : eine Generation und ihr Erbe. Wien 1998, S. 110–119. 179 Helmut Hofmann, Bürgerinitiativen in Wien. In  : Aktion 21 – pro Bürgerbeteiligung (Hg.)  : Raus aus der Sackgasse. Bürgerinitiativen und Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 2009, S. 19–24, hier S. 21–23. 180 Eduard Michelitsch/Otto Swoboda, Das war die alte Matzleinsdorfer Florianikirche. In  : Steine sprechen, 2. Sondernummer 1968, S. 18. 181 Ucakar, Demokratie, S. 202–203. 182 Siegbert Morscher, Landesgesetzgebung und direkte Demokratie. In  : Herbert Schambeck (Hg.), Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich. Wien 1992. S. 137–165, hier S. 141. 183 WStV §131c. 184 WStV §131b. 185 WStV §112e-h. 186 WStV §112a-d. 187 Gemeinderat der Bundeshauptstadt Wien, 18. Wahlperiode, Protokoll der 55. Sitzung vom 18. Dezember 2009, S. 59–60. 188 Anton Fürst, Volksbefragungen in Wien. Wien 1982, S. 9.

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martin dolezal

189 So die Schlagzeile der Kronen Zeitung am 15.5.1973  : »Nicht nur im Wiener Sternwartepark Bäumemord«. 190 Kronenzeitung, 15.5.1973, S. 8–9, »700 Bäume sollen gemordet werden.« In diesem Artikel wurde – in Bezug auf die Volksbefragung – zu »einem klaren ›Nein‹ gegen die Baummörder« aufgerufen. 191 Peter A. Ulram, Zwischen Bürokratie und Bürger. Sozialistische Kommunalpolitik in Wien, Stockholm und Bologna. Wien 1978, S. 52. 192 Bihl, Wien, S. 616. 193 Rathauskorrespondenz, 4.5.1973. 194 Ilse König, Vom Hochwasserdamm zur Copa Cagrana. Projekt Donauinselplanung. In  : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.)  : Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 30–37, hier S. 31. 195 Arbeiterzeitung, 3.6.1973, S. 1, »Felix Slavik stellt sein Amt zur Verfügung«. 196 Rathauskorrespondenz, 4.3.1980. 197 Fürst, Volksbefragungen, S. 27. 198 Müller/Melchior, Parteien, S. 585–586. 199 Rathauskorrespondenz, 4.3.1980. 200 WStV 112c (2). 201 Rathauskorrespondenz, 21.3.1980. 202 Rathauskorrespondenz, 19.3.1980. 203 Rathauskorrespondenz, 20.3.1980. 204 Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Politischer Protest und politische Strategie  : das Volksbegehren gegen den Neubau des Internationalen Konferenzzentrums in Wien. In  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1982. S. 23–41. 205 Die entsprechende Erklärung des amtsführenden Stadtrats Franz Nekula vor dem Gemeinderat am 20.11.1981 ist abgedruckt in Josef Rauchenberger, Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Wien 1994. S. 788–789. 206 Fürst, Volksbefragungen, S. 55. 207 Rauchenberger, Stichwort, S. 804–806. 208 Rathauskorrespondenz, 30.10.1981. 209 Fürst, Volksbefragungen, S. 13. 210 Der Standard, 4.6.2011, S. 14, »Ein Stück Wildnis mitten in Wien«. 211 Quelle  : Verschiedene Presseaussendungen von ÖVP und FPÖ. Eine genaue Zahl ist darin nicht vorhanden. Auch im Amtsblatt der Stadt Wien sowie in der Rathauskorrespondenz ist bloß vermerkt, dass die notwendige Anzahl an Unterstützungen vorlag. 212 Ilse König, Offene Planung, offener Ausgang. Projekt Gürtelkommission. In  : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 49–57, hier S. 57. 213 Josef Ponzer/Gerhard Cech, Die Verfassung der Bundeshauptstadt Wien. Kurzkommentar. Wien 2000, S. 181. 214 Gerhard Feltl/Eugen Semrau, Von der Ambition zur Resignation. EXPO ’95 – Ein österreichisches Schicksal. In  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1992. S. 689–710, hier S. 689–690. 215 Thomas Seifert, Vom Traum zum Trauma. Projekt Weltausstellung EXPO ’95. In  : Eugen Antalovsky/ Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 64–71, hier S. 64. 216 Seifert, Traum, S. 64. 217 OTS, 2.4.1991, »Hirnschall  : 50.000 Unterschriften für Expo-Volksbefragung«. 218 Seifert, Traum, S. 66. 219 Thomas Seifert, Erfolgreich  ! Projekt Kraftwerk Freudenau. In  : Eugen Antalovsky/Ilse König (Hg.), Planung initiativ. Bürgerbeteiligung in Wien. Wien 1994. S. 72–75, hier S. 74.

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die politische entwicklung wiens 220 WStV §104b. 221 WStV §104c. Siehe auch Friedrich Brunner, Die Organisation der »neuen« Dezentralisierung der Verwaltung der Stadt Wien. In  : Josef Rauchenberger (Hg.), Bezirksvertretungen in Wien. Wien 1990, S. 33–68, hier S. 68. 222 WStV § 104c (2). 223 Diese Schätzung beruht auf einer Recherche von Presseaussendungen (Rathauskorrespondenz bzw. OTS). In mehreren Fällen konnte dabei jedoch nicht geklärt werden, ob es sich bei der Veranstaltung tatsächlich um eine Bürgerversammlung gemäß WStV handelte. Gerade die Oppositionsparteien, aber auch die Stadtregierung selbst bedienen sich bei eigenen Veranstaltungen gerne dieses Begriffs. Auch eine vom Autor an die Büros der 23 Bezirksvorstehungen per E-Mail und Begleitschreiben gerichtete Bitte um Information führte zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Einem ehemaligen Bezirksvorsteher war diese Institution zumindest im ersten Moment nicht geläufig  ; in anderen Bezirken – so das Ergebnis der Rückmeldungen – waren nach einem Wechsel der stärksten Partei oder der EDV-Organisation keine Unterlagen mehr vorhanden. Da weniger als die Hälfte der Bezirke auf die Bitte um Information reagierte, musste dieser Versuch der Informationsgewinnung abgebrochen werden. 224 Vgl. http  ://www.wien.gv.at/bezirke/ottakring/verkehr/wohnsammelgarage.html (aufgerufen am 3.10.2011). 225 Vgl. Endnote 223. 226 Falter, 28.8.2011, S. 24, »Was der Rathausmann gerne liest«. 227 Vgl. dazu die vielzitierten Ergebnisse der Mercer-Studie  : http  ://www.mercer.com/press-releases/qualityof-living-report–2010#City_Ranking_Tables  ; aufgerufen am 5.10.2011.

107

peter eigner · andreas resch

Wirtschaft und Stadt : Ökonomische Entwicklungsprozesse in Wien von 1945 bis 19951 1. Einleitung

S

tädte haben das Potenzial, durch die Ballung von wirtschaftlichen Aktivitäten stimulierende Bedingungen für Entwicklung zu generieren. Beschreibungen und Analysen derartiger Prozesse müssen zwangsläufig immer Komplexität reduzieren, also auf einer Auswahl berücksichtigter Aspekte und Faktoren basieren. Als wesentliche Determinanten können z. B. naturräumliche Standorteigenschaften, stadtplanerische Aktivitäten, die Entwicklung der sozialen und technischen Infrastruktur, demografische Trends sowie die ökonomischen und politischen Ereignisse der sogenannten »großen Geschichte« gelten. Von erheblichem Einfluss sind des Weiteren technologische und unternehmerische Innovationen, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen von den wirtschaftlichen Akteurinnen und Akteuren realisiert werden können. Eine Stadt ist ein komplexes System, für dessen Funktionieren weit mehr als nur ein ausreichendes Ausmaß an Wohnraum, Verkehrseinrichtungen und Arbeitsstätten erforderlich ist. Zu den notwendigen infrastrukturellen Einrichtungen gehören z. B. auch Systeme der Energieversorgung sowie der Entsorgung und im Falle Wiens auch des Hochwasserschutzes. Diverse Freizeiteinrichtungen erhöhen die Lebensqualität in der Stadt und sind zugleich ein nicht unwesentlicher Wirtschaftsfaktor. Nicht zuletzt wird eine Stadt auch vom Weiterwirken der im Laufe der Geschichte bereits entstandenen Strukturen bestimmt. Das historisch Gewordene und Geformte, sei es materieller oder immaterieller Natur, ist ein wichtiger Faktor für die weitere Entwicklung. Aus diesem Grunde muss eine Darstellung der Wirtschaftsentwicklung Wiens von 1945 bis zur Gegenwart auch in die davor liegenden Zeitabschnitte verweisen. Für den vorliegenden Beitrag wurde eine Darstellungsweise gewählt, in der mehrere gängige Analysemuster der Stadt- und Wirtschaftsentwicklung aufeinander folgen, um so ein zunehmend verdichtetes Bild des Gesamtprozesses zu vermitteln. Bewusst ausgespart oder nur so weit aufgenommen, wie für den Darstellungszusammenhang erforderlich, wurden dabei Bereiche, die in anderen Beiträgen zu diesem Buch explizit behandelt werden. Einen ersten Eindruck von den Grundlinien der Wiener Wirtschaftsentwicklung gibt in den folgenden Ausführungen ein Überblick über die sektorale und demogra109

peter eigner · andreas resch fische Entwicklung Wiens sowie über wesentliche geschichtliche Einschnitte  ; darauf folgt ein knapper Abriss der regulatorischen Umfelder, in denen sich die Wiener Wirtschaft entwickelt hat. Im dritten Kapitel wird einzelnen Stadtentwicklungsphasen gemäß strukturellen Wechselbeziehungen und wirtschaftlichen Gewichtsverlagerungen zwischen dem innerstädtischen Zentrum und den äußeren Zonen nachgegangen, ehe im abschließenden Abschnitt spezifische Entwicklungen einzelner Sektoren und Branchen bzw. stadtwirtschaftliche Besonderheiten Wiens unter den zuvor skizzierten Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung verdichtet dargestellt werden.

2. Langfristige sektor ale Entwicklungen und historische Zäsuren Die Entwicklung der Wiener Wirtschaftsstruktur lässt einige mit anderen europäischen Großstädten vergleichbare Grundzüge erkennen, sie weist jedoch auch charakteristische Eigenheiten auf, die nicht zuletzt in der spezifischen Geschichte der Stadt, ihrer Funktion als Zentrum der Habsburgermonarchie, ihrer Randlage nach 1918 bzw. ihrer geopolitisch exponierten Lage nach 1945 wurzeln bzw. ihre Erklärung finden. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Stadt wurden nachhaltig von den historischen Zäsuren bedingt durch den Ersten Weltkrieg und die Auflösung des Habsburgerreiches, die ns-Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg sowie die Reformprozesse in den vormals staatsozialistischen Staaten seit 1989 und den eu-Beitritt 1995 verändert.2 Als aussagekräftige Indikatoren für den langfristigen Wandel und die Wirkung markanter Einschnitte lassen sich die wirtschaftssektorale und die demografische Entwicklung heranziehen.3 Wien war gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem rasanten Bevölkerungswachstum gekennzeichnet. Die Einwohnerzahl innerhalb der heutigen Stadtgrenzen erhöhte sich von etwa 890.000 im Jahr 1869 um mehr als 130 Prozent auf über 2,08 Millionen im Jahr 1910. Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt wurde von einem dynamischen Wachstum moderner großbetrieblich organisierter Industriezweige ab den 1880er-Jahren (verstärkt seit 1900, denkt man an die Elektroindustrie und den Maschinenbau) geprägt. Das unter der christlichsozialen Gemeindeverwaltung vorangetriebene Kommunalisierungs- und Ausbauprogramm der technischen und sozialen Infrastruktur begünstigte die Verbreitung großindustrieller Strukturen.4 Seit den 1890er-Jahren nahm jedoch die Anzahl der Beschäftigten im Tertiärsektor noch rascher zu als jene der Industriearbeiterinnen und -arbeiter, vor allem der Handel und der öffentliche Dienst expandierten. Meißl betont wiederum die Bedeutung einer »knowledge based economy« für die Wiener Wirtschaft vor 1914, deren hoher Bedarf an Informationen und Kenntnissen, an Finanzierungs110

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien

Diagramm 1  : Demografischer und ökonomischer Übergang in Wien

Quelle  : Klaus Schubert, Wien, in  : Jürgen Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 360.

111

peter eigner · andreas resch oder Rechtsberatung, an Werbung das Wachstum des Dienstleistungssektors, v. a. das, um den heutigen Terminus zu gebrauchen, sogenannter unternehmensbezogener Dienstleistungen, begünstigte.5 Räumlich konzentrierte sich die Großindus­ trie überwiegend im noch locker verbauten Gebiet entlang der Hauptbahnlinien. Floridsdorf, Stadlau, Favoriten oder Simmering wurden bedeutende Industriestandorte. Doch Wien blieb eine Stadt der Klein- und Mittelbetriebe, auch weil Teile des Wiener Handwerks und Gewerbes eine bemerkenswerte Beharrungskraft aufwiesen, die sich ihrer Fähigkeit zur Modernisierung und raschen Anpassung an neue Produktions- und Marktverhältnisse verdankte. Die führende Rolle der bisherigen Wiener Leitbranche, der Textilverarbeitung, hatte das auf Verlagsbasis organisierte Bekleidungsgewerbe übernommen. Vor allem in der Wäsche- und Kleiderkonfektion entwickelte sich eine expansive und modeorientiert Marktproduktion. Sie war charakterisiert durch ein netzwerkartiges System von Zentralen, Stückmeistern bzw. Heimarbeiterinnen und Heimarbeitern und räumlich clustermäßig konzentriert auf die ehemalige Textilzone, den 6. und 7. Bezirk, sowie auf die Außenbezirke 15 und 16. Auch Metall-, Holz-, Leder- und Papierverarbeitung sowie das grafische Gewerbe expandierten. Wesentliche Wachstumsfaktoren waren die Verkehrseinbindung (Eisenbahnbau), das große, differenzierte Arbeitsangebot im Zusammenspiel mit der alten gewerblichen Tradition, die multiple Zentralfunktion der Stadt (politisch, wirtschaftlich, administrativ, kulturell) und die Konsumkraft der Habsburgerresidenz. Das Bevölkerungswachstum wurde nur zu einem geringen Teil vom generativen Verhalten der ortsansässigen Bevölkerung getragen, denn gemäß dem für Industria­ lisierungsphasen allgemein charakteristischen »demografischen Übergang« waren sowohl die Sterbe- als auch die Geburtenrate im Sinken begriffen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert war dann in Wien die Geburtenbilanz6 fast ausnahmslos negativ. Der Einwohnerzuwachs um die Jahrhundertwende ging vor allem auf die massenhafte Zuwanderung7 nach Wien zurück, insbesondere aus den böhmischen Ländern und dem niederösterreichischen Umland. In dieser Phase raschen Wachstums befand sich Wien sowohl hinsichtlich der sektoralen Struktur der Wirtschaft (Industrialisierung bzw. beginnende Tertiärisierung) als auch hinsichtlich des generativen Verhaltens der Bevölkerung (absinkende Geburten- und Sterberaten) in einem Übergangsstadium. Der Stadtforscher Klaus Schubert hat die jeweiligen transformativen Phasen Wiens in Diagramm 1 (S. 111) zusammengestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung der Habsburgermonarchie wurde Wien von der Metropole eines Reiches mit fünfzig Millionen zur Bundeshauptstadt der neuen Republik Österreich mit nicht einmal sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Der Bevölkerungsstand Wiens ging nach dem Ersten Weltkrieg auf rund 1,9 Millionen Einwohner zurück und verharrte in den folgenden Jahren ungefähr bei diesem Wert. Die Wirtschaftsbeziehungen mit früheren Regio­nen der Mo112

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien narchie, die nunmehr zum »Neuausland« geworden waren, wurden erschwert, aus Binnenhandel wurde Außenhandel, die neuen Nationalstaaten verfolgten bewusst eine Politik der Emanzipation vom ehemaligen Zentrum Wien, und im Rahmen des neuen Kleinstaates erschien die Hauptstadt nunmehr manchen als »Wasserkopf« mit überdimensionierten Behördenapparaten, Industrien und Dienstleistungsinstitutionen wie Banken und Versicherungen – und noch dazu in einer geografischen Randlage. Unter den schwierigen Rahmenbedingungen blieb die Zwischenkriegszeit wirtschaftlich – mit gewissen konjunkturellen Schwankungen – eine Phase der Stag­nation. Die andauernden Konflikte zwischen dem »roten« Wien und dem »schwarzen« Bund und die parteipolitische Polarisierung trugen nicht eben zur Bewältigung der strukturellen Probleme bei. Die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre und der Zusammenbruch der Creditanstalt brachten schließlich einen weiteren Bedeutungsverlust Wiens als überregionales Finanz- und Industriezentrum mit sich. Folge der Krise war eine Massenarbeitslosigkeit, die bis zum »Anschluss« nicht beseitigt werden konnte. Mit dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 wurde auch Wien in das nationalsozialistische Deutschland eingegliedert. Innerhalb von 48 Stunden übernahmen die Nationalsozialisten alle Banken, und im Zuge der »Arisierung« der Wirtschaft wurden die als jüdisch definierten Unternehmen enteignet. Vor dem »Anschluss« gab es in Wien etwa 33.000 Betriebe jüdischer Eigentümer, von denen rund 7.000 bereits vor der Errichtung der sogenannten Vermögensverkehrsstelle am 24. Mai 1938 im Zuge sogenannter »wilder Arisierungen«, also unter Beteiligung von Teilen der Wiener Bevölkerung, aufgelöst wurden. Von den im Sommer 1938 noch bestehenden 26.000 jüdischen Betrieben wurden weitere 21.000 zwangsaufgelöst8 und die verbleibenden unter »arischer« Leitung weitergeführt.9 Von der Zwangsauflösung waren überwiegend kleine Handels- und Gewerbebetriebe betroffen (in der Zeit der Weltwirtschaftskrise hatten zahlreiche Arbeitslose versucht, ihrer prekären Situation durch den Weg in eine meist nicht weniger prekäre Selbstständigkeit zu entkommen). Die massenhafte Liquidierung übrigens nicht ausschließlich »nicht-arischer« Betriebe, von der sich Österreich letztlich nie erholen konnte, war Ausdruck eines ökonomischen Strukturbereinigungs- und Modernisierungsprogramms, hatte aber auch einen Kahlschlag in gewerblichen Branchen zur Folge, in denen Wien bis dahin höchst kompetitive Strukturen aufgewiesen hatte  ; etwa in den Bereichen hochqualitativer Modeproduktion und weltweit beachteten Designs.10 Des Weiteren bewirkte die nationalsozialistische Schreckensherrschaft eine Dezimierung und Schwächung eines wichtigen Segments des österreichischen Wirtschaftsbürgertums und eines bedeutenden Teils seiner intellektuellen und kulturellen Eliten. Auch wenn sich die Industriegründungswelle und die deutlich zunehmenden wirt­schaftlichen Konzentrationserscheinungen unter dem Nationalsozialismus eher zuungunsten des östlichen Bundesgebietes ausgewirkt hatten, was eine insgesamt 113

peter eigner · andreas resch regional stärker ausgewogene Wirtschaftsstruktur Österreichs nach 1945 zur Folge hatte, entwickelte sich Wien im Laufe des Zweiten Weltkrieges zu einem der Zent­ ren der deutschen Rüstungsindustrie. Hatte es in Wien im Sekundärsektor 1913 29 Betrie­be mit mehr als 1.000 Beschäftigten und 1930 nur noch zehn Unternehmen dieser Größe gegeben, so stieg deren Zahl bis 1944 infolge der Konzentration kriegswichtiger Branchen (Metall, Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie) auf mehr als dreißig an.11 Die gesteigerte Produktion konnte das nationalsozialistische Regime nur unter Heranziehung von Zwangsarbeit in großem Ausmaß und von zunehmendem Terror gegen die Belegschaften aufrechterhalten. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war Wien von umfangreichen Zerstörungen von Industrieanlagen und Wohnbauten durch Luftangriffe und Bodenkämpfe betroffen, abziehende deutsche Truppen sprengten u. a. 120 Brücken. Vom 15. Jänner bis zum 22. März 1945 wurde ein Viertel der Wiener Bausubstanz in Mitleidenschaft gezogen.12 Über 46.800 Gebäude wurden in Wien beschädigt oder zerstört. 86.875 Wohnungen (rund 13 Prozent des Wiener Wohnungsbestandes) waren unbenutzbar, 36.800 davon komplett vernichtet. Rund 270.000 Wienerinnen und Wiener hatten ihr Heim verloren. 25 Prozent der Industrieanlagen, alle sieben Bahnhöfe sowie 15 Donau- bzw. Donaukanalbrücken waren zerstört. Die Verkehrsanlagen sowie die Energie- und Wasserversorgung waren schwer beeinträchtigt.13 Die übergreifenden Organisations-, Kommunikations- und Infrastrukturen der Stadt waren in den ersten Monaten nach Kriegsende zusammengebrochen. Wien lag in Trümmern, es fehlte an Nahrungsmitteln, an Heizmaterial, an Bekleidung. Angesichts der Lebensmittelknappheit musste eine Bewirtschaftung mit Lebensmittelkarten eingeführt werden. Der Schwarzmarkt – wie im und nach dem Ersten Weltkrieg – blühte, Tauschwirtschaft erlebte eine Renaissance. Schrebergärten erhielten neuerlich eine überlebenswichtige Funktion. Eine Ausnahmesituation war entstanden, die durch die im Juli 1945 vorgenommene Aufteilung Wiens in Besatzungszonen verschärft wurde. Es dauerte bis zum Beginn der Fünfzigerjahre, ehe die Alliierten im Wiener Alltag zunehmend an Bedeutung verloren. Zu dieser Zeit kann auch die Endphase des Wiederaufbaus Wiens ausgemacht werden. Ende 1952 waren achtzig Prozent der Schwerstzerstörungen und hundert Prozent der Leichtzerstörungen behoben. Die Abschaffung der Lebensmittelkarten im Jahr 1953 war ein weiterer Indikator für die Verbesserung und Normalisierung der Lebensverhältnisse. Nach 1945 erfolgte eine entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung Österreichs und Wiens, die Trennung Europas in zwei politisch und militärisch antagonistische Machtbereiche. Wien gelangte dadurch – zusätzlich zu seiner Randlage innerhalb des Bundesgebietes – in eine extreme Randlage in der westlichen Hemisphäre, und die Abtrennung von den ostmitteleuropäischen Märkten wurde abermals verschärft. Mit der Besatzung Ostösterreichs sowie der Wiener Gemeindebezirke 114

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Leopoldstadt, Wieden, Favoriten, Brigittenau und Floridsdorf durch die Sowjetunion gingen umfangreiche Industriedemontagen sowie die Eingliederung großer Wirtschaftspotenziale (die als »deutsches Eigentum« im Sinne der »Potsdamer Beschlüsse« galten) in den sowjetisch kontrollierten usia-Konzern14 einher. Dazu zählten die großen Industriebetriebe Siemens-Schuckert, aeg, Hofherr-Schrantz oder die Floridsdorfer Lokomotivfabrik.15 Unter diesen unsicheren Rahmenbedingungen machte sich eine Tendenz bemerkbar, Betriebe aus Wien in das westliche Bundesgebiet zu verlagern. Überdies trugen Rohstoffmangel und Kapitalknappheit – insbesondere in der Sowjetzone – zu einem relativen Zurückbleiben der Wiener Wirtschaft bei. Für die gesamtösterreichische Entwicklung gingen von der us-amerikanischen Marshallplan-Hilfe auf Grundlage des am 2. Juli 1948 unter­zeichneten erp-Abkommens16 wesentliche Entwicklungsimpulse aus. Wien konnte davon jedoch vorerst nicht in vollem Ausmaß profitieren. Dafür waren mehrere Gründe maßgeblich  : So wurde im Rahmen der Marshallplan-Hilfe insbesondere der Ausbau der Grundstoffindustrien gefördert, wohingegen in Wien traditionell die Konsumgüterindustrien einen Schwerpunkt bildeten, vor allem aber fiel der Kapitalfluss in die besonders industriereiche Sowjetzone weit geringer aus als in Gebiete, die von den Westmächten besetzt waren.17 Die sozialpartnerschaftlich akkordierten, gegen die Inflation gerichteten Lohn-Preis-Abkommen sorgten für eine Dämpfung des Massenkonsums, was u. a. in einer schwachen Dynamik der traditionell stark in der Hauptstadt verankerten Konsumgüterproduktion zum Ausdruck kam.18 Trotz dieser ungünstigen bis negativen Rahmenbedingungen lag im Jahr 1952 das Wiener Volkseinkommen pro Kopf um 34 Prozent, das je Erwerbstätigen um 39 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt. Meißl führt dies auf »Struktureffekte der Agglomeration«, v. a. die hohe Konzentration von Funktionen mit überdurchschnittlicher Wertschöpfung zurück.19 Die Kriegs- und Nachkriegsereignisse schlugen sich auch in der Bevölkerungsentwicklung nieder. Die Geburtenrate erreichte in den frühen Fünfzigerjahren mit jährlich rund sieben Geburten je tausend Einwohner ihren Nachkriegs­tiefpunkt.20 Von 1934 bis 1951 sank die Bevölkerungszahl Wiens (Gebiets­stand vom 1. September 1954) von 1,96 Millionen auf 1,62 Millionen Einwohner. Faktoren dafür waren die Todes­verluste im Zweiten Weltkrieg sowie eine ausgeprägt negative Wanderungs­ bilanz. Ein erheblicher Teil des Bevöl­kerungs­verlustes ging zudem auf den Holocaust zurück. In Wien hatten am 13. März 1938 206.000 Jüdinnen und Juden gewohnt, von denen nur 5.816 ihre Befreiung in der Stadt erlebten, während 65.459 der Massentötung zum Opfer gefallen und die übrigen verstorben oder emigriert waren.21 Nach Abschluss des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 wurde Wien stär­ker in den Aufschwung der öster­reichi­schen Wirtschaft einbezogen. Betrachtet man die 115

peter eigner · andreas resch wirtschaftssektorale Struktur, so sieht man, dass sich die Stadt weiterhin in einer transformativen Situation im lang­fristigen Entwicklungsprozess zur Dienst­leistungs­ gesellschaft befand. Die Bewältigung der dringlichsten Erforder­nisse des Wieder­ aufbaus ging in Österreich und in Wien in das »Wirtschafts­wunder«22 der Jahre 1953 bis 1962 über. In dieser Wachstumsphase konnte noch einmal der sekundäre Sektor am meisten zulegen. Es scheint sich dabei um einen in Westeuropa generell zu beobachtenden Aufholprozess gehandelt zu haben, der aus der wirtschaftlichen Stagnation der Zwischenkriegszeit resultierte und erklärbar ist, und aus der auch im internationalen Vergleich besonders schlechten wirtschaftlichen Performance Öster­reichs dieser Zeit resultierte ein besonders dynamisches Wirtschaftswachstum. Die erste wirklich lang anhaltende Aufschwungsperiode seit der Gründung der Ersten Republik begann in Wien somit mit einem deutlichen Industrialisierungsschub seit den späten Vierziger-, verstärkt in den Fünfzigerjahren, gestützt auf die 1953 einsetzende Hochkonjunktur und die 1955 erfolgte Aufhebung der Zonenteilung und Rückgabe der usia-Betriebe. Die Beseitigung der Kriegszerstörungen ließ der Bauwirtschaft einen besonderen Stellenwert zukommen, vom Bauboom profitierten Industrie und produzierendes Gewerbe. In den Hinterhöfen des dicht verbauten Gebietes verbreiteten sich in den späten Vierzigerjahren Kleingewerbebetriebe23, am Stadtrand wurden die Industrie­anlagen erneuert, und im Wiener Becken, einer der traditionsreichsten österreichischen Industrielandschaften, kam es zu zahlreichen Gründungen.24 Auf den sekundären Sektor entfielen in Wien 1934 47,2 Prozent der Erwerbs­tätigen, 1951 hingegen 50,9 Prozent und 1961 51,5 Prozent.25 Seit den Sechzigerjahren folgte auf die Industrialisierungsphase eine Tertiärisierungswelle, getragen vom Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssystems. Erste deutliche Zeichen eines tiefgreifenden Strukturwandels der Stadtwirtschaft machten sich bemerkbar. Zu den herkömmlichen Problemen der Industrie, wie mangelnde Innovationskraft, Randlage und zu kleiner Binnenmarkt, Kapitalknappheit bzw. (zutreffender) Unterentwicklung des österreichischen Kapitalmarktes26, trat eine Verschärfung der internationalen Konkurrenz. Beschäftigungsrückgang, Betriebsstilllegungen bzw. -verlagerungen waren die Folge.27 Der Anteil der unselbstständig Erwerbstätigen im sekundären Sektor ging bis in die Siebzigerjahre auf rund ein Drittel zurück, während jener der im tertiären Sektor Arbeitenden nunmehr etwa doppelt so hoch war, womit die »transformative Phase« hin zur Dienstleistungs­ gesellschaft abgeschlossen war.28 Die Rekonstruktion der Wirtschaft war in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg von einem höheren Produk­tivitätsniveau und von einem höheren Anteil des tertiären Sektors als im übrigen Bundesgebiet ausgegangen. In der Phase des Wirtschaftswunders hatte Wien seinen Vorsprung noch einmal ausgebaut.29 Danach blieb die Wiener Wirtschaft jedoch in der Wachstumsentwicklung im Wesentlichen bis zu 116

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Beginn des neuen Jahrtausends hinter dem österreichischen Durchschnittswachstum zurück, sodass sich in dieser Zeit eine gewisse Konvergenz­entwicklung zwischen der Bundeshauptstadt und der übrigen österreichischen Wirtschaft ergab. Das Wiener Bruttoregional­produkt entwickelte sich wie folgt  : Tabelle 1  : Wiener Bruttoregionalprodukt Wiener Bruttoregionalprodukt Jahr

Absolut in Mio. ­Schilling

primärer Sektor in %

sekundärer Sektor in %

Vergleich zu Gesamtösterreich tertiärer Sektor in %

Anteil Wiens am österr. BIP in %

Wiener BRP je Beschäftigten in Schilling

Österr. BIP je Beschäftigten in Schilling

1964

 70.976,0

2,7

44,7

52,6

31,2

 82.055

 69.291

1971

125.867,2

2,2

37,2

60,6

30,1

160.094

135.476

1981

282.472,8

2,4

30,0

67,6

27,9

346.145

310.318

1991

533.379,0

2,4

24,9

72,7

28,7

633.038

553.196

2001*

803.890,5

0,3**

17,2**

82,5**

27,5

890.291

738.928

* Beträge umgerechnet  : 1 Euro = 13,7603 Schilling. ** Prozentanteil an der Bruttowertschöpfung 2001. Quelle  : Daten von Statistik Austria.

Der Anteil der Wiener Wirtschaft am gesamtösterreichischen Bruttoinlandsprodukt sank von beinahe einem Drittel in den Fünfziger- und Sechzigerjahren auf rund 28 Prozent im Jahr 1981.30 Bis 1991 wuchs dann die Wiener Wirtschaft erstmals wieder etwas rascher als die gesamtösterreichische Ökonomie, sodass sich der Anteil am österreichischen bip wiederum geringfügig, auf rund 29 Prozent, erhöhte  ; in den Neunzigerjahren wies dann hingegen Österreich insgesamt ein geringfügig stärkeres Wachstum auf, sodass der Anteil Wiens am österreichischen bip neuerlich um einen Prozentpunkt zurückging. Trotz des langfristigen relativen Zurückfallens blieb Wien aber der mit Abstand bedeutendste Wirtschaftsraum Österreichs. Das Bruttoinlandsprodukt je Beschäftigten lag 1964 noch um mehr als 18, 1981 nur mehr um 11,5 Prozent über dem gesamtösterreichischen Niveau. Danach konnte der Vorsprung wieder auf 14,4 Prozent (1991) und 20,5 Prozent (2001) ausgebaut werden. Erwartungsgemäß spiegeln die Zahlen des Wiener Bruttoregionalproduktes die bereits beschriebenen sektoralen Entwicklungstendenzen deutlich wider. Industrie und Gewerbe mussten vor allem seit den Sechzigerjahren einen relativen Bedeutungsverlust hinnehmen, dem primären Sektor kam eine von Haus aus untergeordnete Stellung zu, der expandierende Sektor war der Bereich der Dienstleistungen. 117

peter eigner · andreas resch Wurde schon 1964 mehr als die Hälfte des Wiener Bruttoregionalprodukts im Dienstleistungsbereich erwirtschaftet, so erhöhte sich dessen Anteil bis 1991 auf beinahe 73 Prozent. Der Anteil des tertiären Sektors lag stets höher als der entsprechende Beschäftigtenanteil, das heißt, die Arbeit in diesem Sektor war vergleichsweise produktiver. Die Entwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft war mit einem Abbau von Beschäftigten im sekundären Sektor verbunden. Das Bruttoprodukt wuchs zwar nominell auch in der Sachgüterproduktion (von etwa 31 Milliarden Schilling 1961 auf rund 133 Milliarden Schilling 1991), dieser Zuwachs blieb jedoch deutlich hinter dem Wachstum im Tertiärbereich zurück, sodass der Anteil des Sekundärsektors am Wiener Bruttoregionalprodukt von 45 Prozent (1964) auf ein Viertel (1991) zurückging. Tabelle 2  : Entwicklungsphasen der Wiener Wirtschaft nach gängigen Modellen des Wandels Phasen der ­Stadtentwicklung***

Demografische und ökonomische ­Entwicklungsphasen*

Regulationsweise**

1850er – 1930er Jahre  : ökonomische und demografische Transformation

I. »extensive Akkumulation« (Mitte 19. Jh. – ca. 1920er Jahre)

(Geburten- und Sterberate sinkt [=»demografischer Übergang«], Anteil der Beschäftigten im sekundären Sektor nimmt zu) Zwei Unterabschnitte dieser Phase  : hohe Dynamik des Wachstums und der beiden Transformationsprozesse von 1855–1914, wobei bis 1890 die Industrialisierung überwiegt, nachher bereits ein Tertiäri­sierungsschub einsetzt  ; stagnative Phase bis in die 1930er Jahre

Lohnkostenreduktion durch Fabrik­produktion, insbes. Produktion von Investitionsgütern und Exportwaren, geringe interne Kaufkraft

1930er–1970er Jahre  : posttrans­formative demograf. Entwick­lung + Transformation der sektoralen Struktur

II. Fordismus/Keynesianismus (bis in die 1970er Jahre)

50er Jahre: Urbanisierung

1952–61: erneuter Industrialisierungsschub

Spezialisierte Massenproduktion, hierarchische Arbeitsorganisation, wohlfahrtsstaatliche, nationale Regulierungspolitik, breite Mittelschicht, Massenkonsum

60er Jahre  : Suburbanisierung

seit 1977  : posttransformative Struktur  :

III. »flexible Akkumulation« (Postfordismus) (seit den 70er/80er Jahren)

70er Jahre  : Desurbanisierung

etwa doppelt so viele Beschäftigte im tertiären Sektor als im sekundären Sektor

Globalisierung des (Kapital-)Marktes, Flexibilisierung der Produktion, internationale Standortkonkurrenz, Staat verliert an Regulierungspotenzial, Neuformierung einer globalen Städtehierarchie

ab 80er Jahre  : Reurbanisierung

1962–1977  : erneute Tertiärisierung

* Zum Modell siehe  : J. Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklung in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, Reinbek 1978  ; ders. (Hg.), Stadtentwicklung in West- und Osteuropa, Berlin, New York 1985. Zu Wien  : K. Schubert, Wien, in  : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 437 ff.

118

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien ** Zum Modell  : K. Hübner, B. Mahnkopf, École de la Régulation, Berlin 1988  ; R. Boyer, La Théorie de la Régulation  : une analyse critique, Paris 1986  ; G. Maier, F. Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2, Wien, New York 1996  ; Michel Aglietta, Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg 2000  ; Joachim Becker, Akkumulation, Regulation, Territorium, Marburg 2002. Zu Wien  : R. Banik-Schweitzer, Die Großstädte im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in  : G. Melinz, S. Zimmermann, Wien/Prag/Budapest, Wien 1996, 35 ff. *** Zum Modell  : G. Maier, F. Tödtling, Regional- und Stadtökonomik, Wien, New York 1995  ; L. van den Berg u. a., Urban Europe. A study of Growth and Decline, Oxford 1982. Zu Wien : P. Mayerhofer, G. Palme, Wirtschaftsstandort Wien  : Positionierung im europäischen Städtenetz, Wien, Wien 1996, 32.

3. Regulationsweisen Nachdem bisher eine erste Annäherung an den Strukturwandel der Wiener Wirtschaft erfolgte, indem zentrale sektorale und demografische Entwicklungen sowie große historische Einschnitte nachgezeichnet wurden, soll das Bild nunmehr anhand der verschiedenen gesellschaftlichen Regulationsweisen verdichtet werden, in deren Rahmen sich auch die Wiener Wirtschaft entwickelte. Der »Regulationsansatz«31 geht davon aus, dass sich im Zeitablauf je spezifischen Formen von Teilsystemen wie Produktionstechnologie, Unternehmensorganisation, Lohnverhältnisse, Reproduktionsmuster und gesellschaftlich-institutionelle Regulationssysteme bzw. -regime ausbilden, die im Zusammenspiel für längere Zeit eine stabile Entwicklung des Gesamtsystems gewährleisten, ehe aufgrund erheblicher Veränderungen einzelner Elemente des Systems eine neue Struktur entsteht. Gemäß dieser Sichtweise lassen sich für den Untersuchungszeitraum folgende drei Entwicklungsphasen unterscheiden  : Die Phase der »Konkurrenzwirtschaft des 19. Jahrhunderts« beziehungsweise der »extensiven Akkumulation«, die Phase des »Fordismus«/»Keynesianismus« und als dritte Phase der »Postfordismus« beziehungsweise die »flexible Akkumulation«. Industrialisierung und Tertiärisierung im späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert sowie die stagnative Wirtschaftsentwicklung in der Zwischenkriegszeit waren in relativ hohem Ausmaß von konkurrenzwirtschaftlichen Strukturen gekennzeichnet. Kollektive Regulierungsinstanzen wie Verbände, Interessenvertretungsorganisationen oder staatliche Institutionen spielten noch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Der Industrialisierungsprozess des späten 19. Jahrhunderts brachte tendenziell eine räumliche Konzen­tration und Spezialisierung von Nutzungsarten mit sich, weil der niedrige Entwicklungsstand der Transportmittel, insbesondere der Massenverkehrsmittel, und die langen Arbeitstage eine räumliche Nähe von Wohnen und Arbeiten erforderten und vielfältige Agglomerationsvorteile aus der Bal119

peter eigner · andreas resch lung der Bevölkerung erwuchsen. Der Citybildungsprozess im Stadtzentrum und die funktionale Ausdifferenzierung anderer Stadträume zu Gewerbezentren oder Industriezonen bzw. zu Mittelschicht- oder Arbeiterwohngebieten zogen unterschiedliche Bodenpreisentwicklungen nach sich und verstärkten das in Wien bereits am Ende des 18. Jahrhunderts bestehende soziale Gefälle zwischen (Innen-)Stadt, Vorstädten (später Innenbezirke) und Vororten (später Außenbezirke), wobei auch andere Standortfaktoren wie die Orientierung einiger Industriebetriebe entlang der das Stadtgebiet durchquerenden Eisenbahnlinien als Beeinflussungsfaktoren wirksam wurden. Unter den ungünstigen Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit verharrte die Stadt weitgehend in ihren Strukturen. Weltweite Beachtung fanden hingegen die kommunalpolitischen Maßnahmen des Roten Wien. Mattl spricht von einem »Beginn der fordistischen Ära der Stadt« und nennt die »Totalversorgung der Stadt mit Infrastruktur zum Einheitstarif, Planung nach stabilen Wachstumserwartungen und orientiert an einer Norm-Familienstruktur sowie die Annahme einer gleichförmigen Nachfrage nach Gütern der Massenproduktion« als Merkmale.32 Rationalisierung wurde nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher Defizite zu einem Modewort, Vorbild für viele Unternehmen wurden die us-amerikanischen Produktionsbedingungen. Doch die wirtschaftlichen Schwächen und die stagnierende Kaufkraft verhinderten die Durchsetzung des Fordismus in der Zwischenkriegszeit. Erst ab den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts setzten sich in Österreich bzw. Wien geänderte Regulierungsmuster durch, die mit den Etiketten »Keynesianismus« beziehungsweise »Fordismus« bezeichnet werden können. Unter »Fordismus« versteht man eine auf spezialisierter Massenproduktion basierende Industriewirtschaft, in der hierarchisch strukturierte Großunternehmen mit großer Produktionstiefe eine bestimmende Rolle spielen. In diesen Strukturen erzielbare Skalenvorteile bilden die Grundlage für Produktivitätssteigerungen, die zum Teil als Lohnsteigerungen an die Beschäftigten weitergegeben werden, welche wiederum erhöhte Konsumausgaben mit sich bringen. »Arbeite, um zu konsumieren«, hieß das fordistische Leitmotiv.33 Auf diese Weise entstehen ein hohes Wirtschaftswachstum, eine anhaltende Steigerung der Masseneinkommen und aufnahmefähige Binnenmärkte für dauerhafte Konsumgüter wie etwa Automobile, Haushaltsgeräte und Unterhaltungselektronik. Deutlich ablesbar wird diese Entwicklung in der enorm raschen Zunahme dieser Güter in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren.34 Fernseher und Auto veränderten das Freizeitverhalten radikal, vor allem das Auto signalisierte den persönlichen Aufstieg wie den gewachsenen Mobilitäts- und Freiheitsspielraum und diente als Mittel der sozialen Distinktion.35 Die Verkürzung der Arbeitszeit, 1959 auf 45, 1975 auf vierzig Stunden (mit einem um den Samstag verlängerten arbeitsfreien Wochenende), und 120

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien längerer Urlaub brachten mehr Freizeit und Inanspruchnahme von Dienstleistungen im Bereich des Sports, des Unterhaltungs- und Gaststättengewerbes oder des Tourismus. Auch die Einkaufsgewohnheiten änderten sich nicht zuletzt durch das Auto, üblich wurde der Großeinkauf am Samstag im Supermarkt. Dass der Vormarsch von Selbstbedienung und Supermarkt viele kleine Händler in den Ruin trieb, dass damit ein Verlust an urbaner Lebensqualität und kleinteiliger Diversität36, an Urbanität schlechthin einherging, wurde zunächst nicht gesehen. Im Jubelwerk »Wiedergeburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965« war von einem »längst fälligen Ausscheidungs- und Konzentrationsprozeß« die Rede, der – ganz im fordistischen Sinne – »die Kapazität und Leistungsfähigkeit der Betriebe durch Technisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen vergrößert(e)«.37 Die soziale Regulierung erfolgte im Rahmen institutio­nalisierter kollektiver Lohnverhandlungen, in Österreich ausgebildet zum Modell der Sozialpartnerschaft38. Institutionelles Herzstück wurde die 1957 eingerichtete »Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen«. Das System wird durch eine keynesianische Nachfragesteuerung und einen ausdifferenzierten Wohlfahrtsstaat auf nationaler Ebene stabilisiert.39 Die regionale Dynamik des Fordismus war geprägt von der Konzentration führender Sektoren in spezifischen Agglomerationen. Von diesen »Wachstumspolen« gingen auch Ausstrahlungseffekte auf vor- und nachgelagerte Bereiche aus. In Öster­ reich entwickelten sich als derartige Agglomerationszentren die (Stadt-)Räume Wien, Linz und Graz, denen weniger entwickelte ländliche Regionen gegenüberstanden, welche als Absatzmärkte und als Quelle für Arbeitskräfte fungierten.40 Zusätzlich zu den industrie­wirtschaftlichen Agglomerationsvorteilen, die der Standort Wien bot, mag auch die Tatsache, dass Wien als österreichische Hauptstadt Sitz der meisten bundesweit wirksamen Regulierungs­institutionen war und ist, zur Erhöhung der Attraktivität als Wirtschaftsstandort beigetragen haben. Zu nennen sind zum Beispiel die Legislative oder die Zentralen des Verbändewesens (Kammern, Gewerkschaften, …). Offenbar hat die Ausdehnung sozialer Regulierung durch die genannten Institutionen zu einer relativen Stärkung der Position Wiens im österreichischen Staatsgebiet geführt, seiner doppelten Randlage (im Osten des Bundesgebiets und an der Grenze West- und Osteuropas) zum Trotz. Der Ausbau der entsprechenden Behörden- und Kammerstrukturen zog eine weitere Vergrößerung der nicht marktmäßigen Tertiärstrukturen in Wien nach sich. In den Siebzigerjahren geriet das etablierte Regulationssystem unter erheblichen Druck. Als wesentliches Charakteristikum dieses Jahrzehnts ist der Übergang von einer stabilen Wachstumsentwicklung bei Vollbeschäftigung zu einem unstetigeren Wachstum und allmählich entstehenden Beschäftigungsproblemen zu nennen. Weltwirtschaftliche Zäsuren von enormer Tragweite bildeten der Zerfall des Weltwährungssystems von Bretton Woods mit stabilen Wechselkursen (1971/73) 121

peter eigner · andreas resch

Diagramm 2  : Jährliche Wachstumsraten des Wiener BIP (real) 1961–1995

Quelle  : Gerhard Lehner/Peter Mayerhofer/Josef Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets. Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1997, Abb. 18.

und der erste Erdölschock (1973). Eine gleichzeitig voranschreitende Öffnung der Wirtschaft (z. B. Kennedy- und Tokio-Runde im Rahmen des gat t, Abkommen mit der EG 1972) eröffnete neue ökonomische Chancen – mit der verschärften inter­ nationalen Konkurrenz traten aber auch wiederum Strukturprobleme der bisher vor allem auf den regionalen Binnenmarkt orientierten Wiener Wirtschaft zutage. Der Übergang von einer relativ stabilen zu einer wechselhafteren Wachstumsentwicklung sei anhand der Diagramme 2 und 3 zum österreichischen und Wiener Wirtschaftswachstum illustriert. Aus den Diagrammen gehen deutlich die Konjunktureinbrüche seit den Siebziger­ jahren hervor. Während das Wirtschaftswachstum in den Sechzigerjahren nie unter zwei Prozent fiel, sank es von 1975 bis 1981 drei Mal auf Werte um null. In Wien waren insbesondere die Wachstumsrückschläge 1978 und 1981 stärker als im gesamten Bundesgebiet ausgeprägt, die Streuung der Wachstumsraten größer (7 Pro122

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien

Diagramm 3  : Jährliche Wachstumsraten des österreichischen BIP (real) 1961–1995

Quelle  : Gerhard Lehner/Peter Mayerhofer/Josef Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets. Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1997, Abb. 19.

zentpunkte im Vergleich zu 6,6 Prozentpunkten in Österreich), und das langjährige, durchschnittliche Wachstum lag deutlich niedriger (2,9 Prozent gegenüber 3,5 Prozent). In der Boom-Phase um 1970 begründeten nicht zuletzt Kapazitätsengpässe einen Wachstumsrückstand Wiens, dafür fiel der erste Rückschlag 1975 verhaltener aus als auf gesamtösterreichischer Ebene. Diese Entwicklungen machten sich auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, dem im Rahmen der keynesianischen Regulierung höchste Aufmerksamkeit zuteil wurde. Hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung sind in Österreich und in Wien längerfristig folgende drei Phasen zu erkennen, mit denen deutlich unterschiedliche Ausprägungen des regulatorischen Systems einhergingen  :41 In einer ersten Phase, die von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder gekennzeichnet war, setzte nach der Stabilisierungskrise von 1952 mit einer Arbeitslosenrate in Wien von 8,5 Prozent ab der Mitte der Fünfzigerjahre eine Entwicklung zur Vollbeschäftigung ein, wobei die 123

peter eigner · andreas resch Gesamtzahl der unselbstständig Beschäftigten in Wien allmählich von 644.604 im Jahr 1954 auf 774.567 (1962) zunahm. Danach ging sie allerdings wieder auf 731.320 (1970) zurück. Der im Vergleich zu den westlichen Bundesländern zurückbleibenden Wirtschaftsentwicklung stand eine Angebotsschwäche auf dem ostösterreichischen Arbeitsmarkt gegenüber, sodass sich die geringere Dynamik nicht in höheren Arbeitslosenraten ausdrückte. In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre wurden die Kapazitätsprobleme auf dem Arbeitsmarkt, trotz der nach dem Raab-Olah-Abkommen (Dezember 1961) zunehmenden Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften, zu einem Wachstumshemmnis, das dazu beitrug, dass die Boom-Phase bis 1973 in Wien schwächer ausfiel als in Österreich. Der Arbeitskräftemangel betraf insbesondere schlecht bezahlte und mit hohem Arbeitsplatzrisiko verbundene Hilfsarbeiterjobs in der Bauwirtschaft und in einigen Industriesparten. Auf einschlägige regionale Entwicklungsprobleme wird weiter unten im nächsten Abschnitt eingegangen. Während bis 1973 immer wieder Stimmen laut wurden, die vor den negativen wirtschaftlichen Folgen eines Arbeitskräftemangels in Wien warnten, kündigten sich in einer zweiten Phase der Entwicklung des Arbeitsmarktes ab der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre erstmals wieder massive Beschäftigungsprobleme an, und in einer dritten Phase ab den Achtzigerjahren wurde schließlich eine erhöhte Arbeitslosigkeit zum Dauerzustand. Temporären Konjunkturproblemen in den späten Fünfziger- und den Sechzigerjahren hatte man noch mit einem ansatzweise keynesianischen wirtschaftspolitischen Instrumentarium und sozialpartnerschaftlicher Regulierung entgegentreten können. Bereits während der Abschwünge 1958 und 1967 war eine Passivierung der öffentlichen Haushalte zur Nachfragebelebung erfolgt. Die zweite Phase der Arbeitsmarktentwicklung von den frühen Siebziger- bis zur Wende zu den Achtzigerjahren gestaltete sich dann gleichsam als Höhe- und Endpunkt keynesianischer Regu­lierung in Österreich, in Form des sogenannten »Austro-Keynesianismus«.42 Dieser umfasste ein spezifisches Set wirtschaftspolitischer Reaktionsweisen auf die schwere Rezession 1974, die erstmals auch wieder die Vollbeschäftigung zu gefährden drohte. Nachdem 1973 sogar noch Maßnahmen gegen eine Überhitzung der Kon­junktur gesetzt worden waren und die Ausländerbeschäftigung weiter forciert worden war (1973 war in Wien mit 88.983 »Gastarbeitern« ein erster Höhepunkt der Ausländerbeschäftigung erreicht worden), reagierte man auf die Krise mit einer massiven Ausweitung des Budgetdefizits 1975/76 (durch die Realisierung einer bereits länger geplanten Steuersenkung sowie durch erhöhte Staatsausgaben). Zugleich hielt man aber an der Hartwährungspolitik fest, wodurch eine allfällige Kosteninflation gebremst wurde. Ein wesentlicher Bestandteil des Austro-Keynesianismus war die enge Kooperation der Sozialpartner, insbesondere die Ausrichtung der Gewerkschaften auf eine maßvolle, produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Tatsächlich gelang es bis zum Ende 124

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien

Diagramm 4  :

Quelle  : Statistisches Amt der Stadt Wien (MA 66)

Diagramm 5  :

  Quelle  : Statistisches Amt der Stadt Wien (MA 66)

125

peter eigner · andreas resch der Siebzigerjahre, die Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten. »Vorerst stellte sich Öster­reich als die Insel der Seligen dar, an der die vom Ölpreisschock 1973 eingeleitete scharfe Konjunkturwende und Krise des Weltwährungssystems unbemerkt vorbeizugehen schien.«43 Während keynesianische Ideen ab den Fünfzigerjahren nur allmählich aufgegriffen worden waren, kamen die »Vorstellungen einer Globalsteuerung und die Priorität des Vollbeschäftigungszieles … seit Beginn der Siebzigerjahre verstärkt zum Durch­bruch. Der Keynesianismus erlebte in Österreich also erst zu einem Zeitpunkt seine Blüte, als sich international seine Erosion bereits deutlich ankündigte.«44 Obwohl in Wien auch in den Siebzigerjahren die Wirtschaftsdynamik hinter Westösterreich zurückblieb, stieg die Zahl der unselbstständig Beschäftigten45 wieder von 731.320 (1970) auf einen Höhepunkt von 791.310 im Jahr 1977 an, danach setzte jedoch wieder ein lang anhaltender Rückgang ein. Offenbar war die austro-keynesianische Vollbeschäftigungspolitik auf Dauer nicht durchzuhalten. Bis zum zweiten Ölpreisschock 1979 war die Staatsverschuldung bereits so weit angewachsen, dass man dem neuerlichen Konjunktureinbruch ab 1981 kaum noch etwas über die Duldung der Budgetdefizite durch die »automatischen Stabilisatoren«46 Hinausgehendes entgegenzusetzen hatte – die Phase des Austro-Keynesianismus ging zu Ende. In der Stadt Wien vermochte eine keynesianische, antizyklische Orientierung der Budgetpolitik nie einen ähnlichen Stellenwert wie auf Bundesebene zu erlangen.47 Einnahmenseitig war der Gestaltungsspielraum stets durch die zentrale Finanzverwaltung weitgehend eingeschränkt bzw. durch die Ertragsanteile an gemeinschaftlichen Bundesabgaben sowie Transferzahlungen im Rahmen des Finanzausgleichs bestimmt. Gegen eine ausgabenseitige keynesianische Politik auf Kommunal- bzw. Landesebene spricht abgesehen von den engen finanziellen Spielräumen auch, dass allfällige Nachfrageeffekte nicht nur der regionalen Wirtschaft zugute kommen, sondern auch in das Umland diffundieren. Zum Beispiel wären gegen Arbeitsmarktprobleme gerichtete Ausgaben für zusätzliche Bauprojekte zu einem erheblichen Teil auf Beschäftigte aus Niederösterreich und dem Burgenland entfallen, weil aus diesen beiden Bundesländern laut einer Schätzung des Arbeitsamtes Wien aus den frühen Achtzigerjahren bis zu siebzig Prozent der »Wiener« Bauarbeiter stammten.48 Analysen der Ausgabengestaltung zeigen aber doch für die Konjunktureinbrüche 1971, 1976 und 1987 gewisse antizyklische Ausschläge.49 Eine Globalanalyse des Wiener Gebarungsabganges auf Kassenbasis ergibt auch für 1981 ein relativ deutliches antizyklisches Verhalten, danach setzten jedoch spürbare Konsolidierungsbemühungen ein, die weder mit der Wiener noch der gesamt­österreichischen Konjunkturentwicklung synchronisiert waren. In der Zeit nach dem Austro-Keynesianismus, ab den frühen Achtzigerjahren, setzten sich nicht nur aus Budgetgründen neue finanz- und regulierungspolitische 126

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Orientierungen durch, sondern es entwickelten sich auch neue Formen der Unternehmensorganisation, der angewandten Technologie sowie der Strukturen der Märkte. Damit wurden auch von diesen Seiten her die Möglichkeiten der regulierenden Wirtschaftspolitik neu definiert. In der Phase »postfordistischer Produktion« treten neben die spezialisierte Massenproduktion kleinere betriebliche Einheiten, die mittels der Anwendung neuer Technologien, etwa elektronisch gesteuerter, flexibel nutzbarer Maschinen, durchaus mit den Stückkosten der Großbetriebe mithalten können, überdies jedoch in der Lage sind, auf Kundenwünsche flexibel einzugehen und qualitativ hochwertige, individuelle Güter und Dienstleistungen anzubieten.50 Dienstleistungsaufgaben wie Design, Entwicklung, Logistik, Finanzwirtschaft etc. können aus Fertigungsbetrieben ausge­lagert werden, sodass ein innig verflochtenes servo-industrielles Netzwerk51 moderner, flexibler Produktionsbetriebe und hochwertiger, produktionsnaher Dienstleistungs­unternehmen entsteht. Derartige Unternehmensstrukturen bedürfen nicht mehr eines Heeres angelernter Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern sie sind auf hochqualifizierte Spezialistinnen und Spezialisten angewiesen. Die Wachstumslogik dieser neuen Wirtschaftsstrukturen basiert darauf, dass hoch qualifizierte Arbeitskräfte neueste, hochproduktive, flexible Technologien (etwa ca d-cam, cim und modernste Bürotechnologie) anwenden und die daraus resultierenden Produktivitätszuwächse zum Teil als steigende Einkommen an die Beschäftigten weitergegeben werden. Daraus entsteht eine steigende Nachfrage nach vielfältigen, hoch quali­ tativen Gütern und Dienst­leistungen. Diese neuen Entwicklungsmöglichkeiten wurden in Wien jedoch nicht in einem Ausmaß beschäftigungswirksam, dass die ab 1980 manifest werdenden Arbeitsmarktprobleme gelöst worden wären. Nachdem die Zahl der unselbstständig Beschäftigten von 1977 bis 1984 um 7,6 Prozent auf 731.027 zurückgegangen war, stieg sie bis 1992 auf den Höchstwert von 791.961 Personen an. Trotzdem wuchs die Arbeitslosen­quote, die von 1961 bis 1980 stets unter zwei Prozent gelegen war, rasch an. Sie erhöhte sich von 1,5 Prozent (1980) auf 4,5 Prozent 1985, 6,4 Prozent (1992) und 7,3 Prozent (1995), und die Zahl der vorgemerkten Arbeitslosen nahm von 11.433 im Jahr 1980 auf 61.436 (1993) zu, danach ist sie wieder leicht gesunken. In den Achtzigerjahren waren für die zunehmende Arbeitslosigkeit hauptsächlich demografische Faktoren maßgeblich – die geburtenstarken Jahrgänge aus den Sechzigerjahren drängten auf den Arbeitsmarkt. Um 1990 erhöhte sich dann im Zusammenhang mit den Krisen im (ehemaligen) Jugoslawien und der »Ostöffnung« die Zahl ausländischer Arbeitskräfte von 69.679 (1988) auf 104.088 (1991). Zwar wuchs in dieser Periode – nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Wachstums­stimuli durch die Ostöffnung – die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in Wien um bei127

peter eigner · andreas resch

Diagramm 6  : Entwicklung der Arbeitslosenquote* in Wien und Österreich52

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Österreich

* Anteil der vorgemerkten Arbeitslosen in Prozent des Arbeitskräftepotenzials (unselbstständig Beschäftigte und vorgemerkte Arbeitslose). Quelle  : Pokay, Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995, 4f  ; Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte, Tab. 3.3.

nahe 40.000, also um mehr als die zusätzliche Anzahl ausländischer Arbeits­kräfte, trotzdem gerieten insbesondere die in Wien bereits etablierten in- und ausländischen Arbeitskräfte in den ohnehin von erheblichen Schrumpfungs- und Abwanderungsprozessen gekennzeichneten wenig skill-intensiven Industrien unter erhöhten Druck. Keynesianische Instrumente auf nationalstaatlicher Ebene verloren angesichts von Budgetschwierigkeiten sowie unter den Rahmenbedingungen fortschreitender Globalisierung und verschärfter internationaler Konkurrenz in liberalisierten Weltmärkten an Regulierungspotential. Wegmarken der Veränderungen des »regulatorischen Umfeldes«53 waren die Programme zum Abbau des Staatsdefizits ab 1986, die Ostöffnung seit 1989, der ewr- und schließlich der eu-Beitritt Österreichs (1995) 128

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien sowie die weitere Liberalisierung des Welthandels im Zuge des Ausbaus des gat tAbkommens zur wto (1993/94). Generell geht die Wirtschaftspolitik in der transnationalen Standortkonkurrenz um die begehrten hochqualifizierten Produktionsstrukturen, wie sie seit den Achtzigerjahren entstanden, eher zu Versuchen über, angebotsseitig durch Förderung von Innovationen und Flexibilität – somit auch durch die Zurückdrängung etablierter Arbeitnehmerrechte – die eigenen Regionen wettbewerbsfähiger zu machen. Die Hauptgewinner sind neue High-Tech-Metropolen und die Zentren der finanz- und produktionsorientierten Dienstleistungen. Während die gesamtstaatliche Regulierung zurücktritt, gewinnt einerseits die internationale Konkurrenz und andererseits die Qualität lokaler/regionaler Strukturen an bestimmender Bedeutung. Große Städte müssen sich umorientieren – von Entwicklungsstrategien, in denen sie sich vor allem in Konkurrenz mit anderen Städten des Nationalstaates oder in Konkurrenz mit dem städtischen Umland (etwa im Wettstreit um Betriebe) sehen, hin zu Strategien, in denen sie sich gemeinsam mit ihrem Umland als attraktive Wirtschaftsregion im internationalen Standortwettbewerb zu positionieren trachten. Auf aus diesen Entwicklungstendenzen resultierende, konkrete mögliche Strategien für Wien und die Ostregion wird im Schlusskapitel dieses Beitrages eingegangen.

4. Die Entwicklung Wiens gemäß den »Phasen der Stadtentwicklung« In den ersten beiden Kapiteln wurden langfristige Entwicklungsvorgänge nachgezeichnet. Eine Analyse der städtischen Entwicklung in kürzeren Zeitabschnitten erlaubt das Modell spezifischer »Phasen der Stadtentwicklung«.

4.1 Zum Modell der »Phasen der Stadtentwicklung« Der Zugang gemäß den »Phasen der Stadtentwicklung« bezieht sich auf strukturelle Wirkungsmechanismen in der einzelnen Stadtregion selbst. Insbesondere werden Wechselbeziehungen und ökonomische Gewichtsverlagerungen zwischen dem städtischen Kern und dem äußeren Gebiet der Stadtregion (Ring) berücksichtigt,54 wobei zwischen diesen beiden Räumen der Stadtregion fließende Übergänge bestehen können und sie in ihrer räumlichen Ausdehnung nicht unbedingt mit Verwaltungsgrenzen übereinstimmen müssen. Basierend auf der empirischen Untersuchung einer Vielzahl von Städten werden vier charakteristische Phasen der Stadtentwicklung unterschieden, die man wie folgt bezeichnen kann  : Urbanisierung, Suburbanisie129

peter eigner · andreas resch rung, Desurbanisierung und – je nach Entwicklungsverlauf – Reurbanisierung oder »urban decline«. Wichtige Indikatoren für die Phasen der Stadtentwicklung sind die jeweilige räumliche Verteilung der Wohnbevölkerung und der Arbeitsstätten in den verschiedenen Zonen der Stadtregion und ihre Veränderung im Zeitablauf. Idealtypisch sind diese vier Phasen wie folgt zu charakterisieren  :55 Die Phase der Urbanisierung ist mit einer Industrialisierung der städtischen Wirtschaftsstruktur verbunden. Die Stadt bietet Agglomerationsvorteile, wie etwa konzentrierte Nachfrage und dementsprechend günstige Absatzmöglichkeiten, gutes Arbeitskräfteangebot, zentrale Verkehrslage etc. Daher siedeln sich Industriebetriebe an, und weitere Zuwanderer aus dem Umland können aufgenommen werden. Aufgrund der noch eingeschränkten räumlichen Mobilität, der niedrigen Einkommen und der langen Arbeitstage siedelt sich die Arbeiterschaft in der Nähe der Fabriken an. Es entstehen Agglomerationen von hoher Dichte. Die wachsende Stadt hat mit Problemen wie Wohnungsnot und mangelnde Infrastrukturentwicklung zu kämpfen. Mit dem weiteren Stadtwachstum beginnt allmählich der Prozess der Suburbanisierung. Die Einkommen steigen, die Dichte in der Stadt nimmt zu, das Verkehrssystem wird ausgebaut, und auch die private Massenmotorisierung setzt ein. Zuerst entscheiden sich wohlhabende Schichten, später immer größere Teile der Stadtbewohner (z. B. Familien mit Kindern) dafür, in den äußeren Ring der Stadtregion zu übersiedeln. Den Menschen ist das Wohnen in einer ruhigeren, grünen Umgebung hinreichend viel wert, um die Opfer an Geld und Zeit für die tägliche Überwindung der größeren Entfernung zum Arbeitsplatz auszugleichen. Gartenstädte und Wohnsiedlungen am Stadtrand entstehen in großem Maßstab. Auch Fabriken wandern an die Peripherie, wo die Grundstücks- und Erschließungskosten niedriger sind, Emissionen eher toleriert werden und womöglich die Verkehrsanbindung (für den überregionalen Verkehr) besser ist. Durch die Streuung der Stadtnutzung über größere Räume und ein weiteres Wachstum des städtischen Gesamtsystems entstehen dichtere Verkehrsströme, wobei der Anteil des motorisierten Individualverkehrs zunimmt. Die Stadtverwaltung und die Bauindustrie bedienen die Nachfrage nach immer weiter draußen liegenden Wohnsiedlungen. Eine klare Funktionstrennung tritt zutage. Die City hat in erster Linie Zentralfunktionen inne  ; Arbeiten, Wohnen und Erholungsgebiete sind großräumig getrennt. Infolge der Intensivierung der Verkehrsströme wird das Zentrum zunehmend schwerer zugänglich, ältere Stadtbezirke im zentrumsnahen Bereich werden von immer stärker frequentierten Verkehrsadern durchschnitten und sukzessive einer besseren Verbindung des Zentrums mit dem äußeren Ring geopfert. Schließlich können die negativen Effekte dieser Entwicklung zu einer Desurbanisierung, zum »urban decline«, des Stadtgebietes führen. Das Zentrum erstickt im Verkehr und droht durch eine Verdrängung der Wohnfunktion durch Büros und andere hochwertige Nutzungen zu veröden (insbesondere nach Büro- bzw. Geschäfts130

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien schluss), oder es erleidet gar die gesamte Stadtregion einen Niedergang, weil die Abwanderung aus dem Zentrum fortschreitet – unter Zurücklassung eines verfallenden Viertels – und der Stadtrand infolge der zunehmenden Nutzungsdichte seine Standortvorteile (niedrigere Bodenpreise, Grünraum, …) ebenfalls einbüßt, gleichzeitig aber auch nicht die Agglomerationsvorteile des Kerns (dichte, vielfältige Märkte, Kulturangebot, soziale Einrichtungen, …) ausbildet. In der Folge können eine Abwanderung aus der gesamten Stadtregion, ein ökonomischer Niedergang und damit auch eine Einbuße an Steuerkraft einsetzen, wodurch die notorisch überbelasteten Infrastruktureinrichtungen kaum noch zu finanzieren sind und sich der Niedergang noch mehr beschleunigt. Diese Entwicklung muss jedoch nicht zwangsläufig erfolgen. Die Phase der Desurbanisierung kann auch in eine Reurbanisierung übergehen, in der die Stadtregion wieder an Attraktivität und ökonomischer Dynamik gewinnt. Dafür müssen aber Maßnahmen wie Stadterneuerungsprogramme, Verkehrsberuhigung, Entwicklung »weicher« Standortfaktoren (soziales Klima, kulturelles Angebot, …), verträgliche Durchmischung von Gewerbe und Wohnnutzung, Innovationsförderung, Anbindung an hochrangige internationale Verkehrsstrukturen u. a.m. entwickelt werden und zur Ausführung gelangen, die sich wiederum gegenseitig nicht allzu sehr behindern dürfen. Nicht zuletzt auch durch ein erfolgreiches Stadtmarketing müssen Investoren gefunden werden, die an die Nachhaltigkeit der Entwicklungspotenziale und der Standortqualitäten glauben und daher auch bereit sind, den Aufschwungprozess durch Investitionen mitzutragen. Selbst wenn mit diesen Maßnahmen die Stadtregion wieder eine positive ökonomische Entwicklung nehmen kann und für Investoren interessant wird, so sind auch mit der Reurbanisierung charakteristische Probleme verbunden. Durch Maßnahmen der Stadterneuerung können zwar zentral gelegene Viertel für junge, kinderlose, hoch qualifizierte Bevölkerungsgruppen attraktiv werden, die auch am neuen Aufschwung erfolgreich partizipieren. Durch die Steigerung der Wohnungspreise nach der Sanierung und baulichen Aufwertung dieser Viertel kann es aber zur »Gentrification«56, zur Verdrängung bisher anwohnender, weniger zahlungskräftiger Sozialgruppen kommen. Andererseits erfolgt eine Konzentrierung von Immigranten, die aufgrund der Push-Effekte noch schlechterer Lebensbedingungen an ihren ursprünglichen Wohnorten zuwandern, sowie von anderen zahlungsschwachen und eher immobilen Bevölkerungsgruppen der Stadt (z. B. einkommensschwache ältere Bewohnerinnen und Bewohner) in Vierteln, die trotz des urbanen Aufschwungs eher unattraktive Wohngebiete bleiben und wo daher die Immobilienbesitzer als Verwertungsstrategie nicht eine Sanierung, sondern eine möglichst dichte Belegung der unsanierten Häuser wählen. Insgesamt kann daher auch (oder gerade) die Aufschwungphase der Reurbanisierung mit einer Verschärfung sozialer Segregation und sozialer Konflikte verbunden sein. 131

peter eigner · andreas resch 4.2 Die »Phasen der Stadtentwicklung« in Wien Für unseren Untersuchungsgegenstand Wien lassen sich anhand der stadträumlich differenzierten Darstellung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung sowie der Stadtplanung und der Entwicklung der sozialen und technischen Infrastruktur die Phasen der Stadtentwicklung anschaulich nachvollziehen.57 Die Übergänge zur jeweils nächsten Phase verliefen natürlich fließend, sodass die angegebenen Periodisierungen nur ungefähre Richtwerte bilden können. Nachdem in Wien in der Gründerzeit ein erheblicher Bevölkerungs-, Urbanisierungs- und Industrialisierungsschub aufgetreten war, war die Zwischenkriegszeit von wirtschaftlicher Stagnation und tendenziellem Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet, und die ns-Herrschaft brachte mit der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sowie den personellen und materiellen Kriegsverlusten einen schweren Rückschlag. Nach den unmittelbaren Trümmerjahren setzte in den Fünfzigerjahren vorerst wieder ein Urbanisierungsprozess ein (in Form einer nachholenden Industrialisierung), dem in den Sechzigerjahren eine Phase der Suburbanisierung folgte. Die Siebzigerjahre wiesen deutliche Merkmale einer Desurbanisierung auf, während seit den Achtzigerjahren Ansätze einer Reurbanisierung erkennbar wurden. Die Wiener Wohn- und Arbeitsbevölkerung entwickelte sich während dieser Phasen wie folgt  : Tabelle 3  : Wohn- und Arbeitsbevölkerung in Wien nach den Volkszählungen 1951–2001 Wohnbevölkerung (Hauptwohnsitz) Jahr

Wien

Innen­bezirke Außenbezirke Innere (II bis IX + (X bis XIX + Stadt (I) XX) XXI bis XXIII)

Arbeitsbevölkerung* Wien

Innere Stadt (I)

Innen­ bezirke (II bis IX + XX)

Außenbezirke (X bis XIX + XXI bis XXIII)

1951

1,616.125

34.654 629.361 (38,9 (2,1 %) %)

952.110 (58,9 %)

_

_

_

_

1961

1,627.566

32.243 602.315 (37,0 (2,0 %) %)

993.008 (61,0 %)

864.983

148.461 (17,2 %)

338.584 (39,1 %)

377.938 (43,7 %)

1971

1,619.885

25.169 541.575 (33,4 (1,6 %) %)

1,053.141 (65,0 %)

786.209

126.879 (16,1 %)

300.012 (38,2 %)

359.318 (45,7 %)

1981

1,531.346

19.537 468.222 (30,6 (1,3 %) %)

1,043.587 (68,1 %)

816.053

121.368 (14,9 %)

293.317 (35,9 %)

401.368 (49,2 %)

1991

1,539.848

18.002 457.809 (29,7 (1,2 %) %)

1,064.037 (69,1 %)

842.412

112.770 (13,4 %)

295.997 (35,1 %)

433.645 (51,5 %)

2001

1,550.123

17.056 442.475 (28,5 (1,1 %) %)

1,090.592 (70,4 %)

837.173

101.668 (12,1 %)

298.283 (35,6 %)

437.222 (52,2 %)

* Arbeitsbevölkerung = im Bezirk wohnhafte Beschäftigte minus Auspendler plus Einpendler. Quelle  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jahrgänge.

132

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien 4.2.1 Die Urbanisierung in Wien während der Fünfzigerjahre Gemäß den modellhaften Stadtentwicklungsphasen kann man in Wien die Fünfzigerjahre als Urbanisierungsperiode kategorisieren. Nach den markanten Bevölkerungsverlusten im Zeitraum 1934 bis 1951 trat die Urbanisierung Wiens in den Fünfzigerjahren unter anderem in einem wenngleich geringfügigen Wachstum der Wohnbevölkerung zutage. Die Einwohnerzahl erhöhte sich von 1,616 Millionen (1951) um 0,7 Prozent auf 1,628 Millionen im Jahr 1961. Der Negativsaldo der Geburtenbilanz (–103.581) wurde durch die Zuwanderung, die in ihrem Ausmaß durchaus an die Gründerzeit herankam, mehr als egalisiert – es wanderten per saldo 115.022 Menschen zu, wobei die Inlandsmigration bei Weitem überwog. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung, der infolge der Wirren zu Kriegsende vorübergehend erhöht war, ging trotz der Ungarnkrise von 1956 erheblich zurück – hatten 1951 47.385 (2,9 Prozent) AusländerInnen in Wien gelebt, so nahm ihre Anzahl auf 24.056 (1,5 Prozent) im Jahr 1961 ab.58 Innerhalb der Stadtregionen war eine gleichmäßigere Bevölkerungsentwicklung als in den folgenden Perioden zu verzeichnen. Die City verlor zwischen 1951 und 1961 sieben Prozent ihrer Wohn­bevölkerung, die inneren Bezirke (ii bis ix und xx) büßten 4,3 Prozent ein, während die äußeren Bezirke (x bis xix und xxi bis xxiii) einen Einwohnerzuwachs von 4,3 Prozent aufwiesen. Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt war, wie bereits erwähnt, bis zum Abschluss des Staatsvertrages im Jahr 1955 durch die unsicheren Zukunftserwartungen wegen der sowjetischen Besatzung erheblich beeinträchtigt. Ab der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wirkten sich die Agglomerationsvorteile der Großstadt hingegen wieder unbeeinträchtigt auf das Wachstum aus, und die Investitionstätigkeit nahm zu. Bereits im Zuge des Wiederaufbaus hatte die Entwicklung der Hinterhofindustrie der inneren Bezirke neue Impulse erhalten, die nun in eine weitere Expansion überging. Viele Betriebe bezogen jetzt die Straßentrakte als Verwaltungs- oder Verkaufsräume in ihr Unternehmensgeschehen ein, der hohe Bedarf an gewerblichen Leistungen während des Wiederaufbaubooms überwog die nachteiligen Standort- und Produktionsbedingungen. In den Fünfzigerjahren begann man andererseits bereits, flächenintensivere Betriebe in die Außenbezirke zu verlagern. Zwar wurde der gesamte Stadtbereich von einem Aufschwung des sekundären Sektors gekennzeichnet, die Vermehrung der größeren industriellen Produktionsstätten machte sich aber vor allem an den Stadträndern bemerkbar. Eine regelrechte Industriegründungswelle setzte rund um Wien, v. a. im Wiener Becken und im Südosten ein.59 Etwas als Nachzügler entwickelte sich das traditionelle Wiener Industrie­zentrum Floridsdorf, das sowjetisches Besatzungsgebiet gewesen war. Hier begann man erst gegen Ende der Fünfzigerjahre, die Schäden der Kriegs- und Besatzungszeit zu überwinden.60 133

peter eigner · andreas resch Detaillierte Informationen zur stadträumlichen Verteilung einzelner Sektoren bzw. Betriebsklassen geben die Betriebsaufnahmen. Bei der offensichtlich nicht vollständigen Betriebsaufnahme im Jahr 195961 wurden 662.74462 unselbstständig Beschäftigte in 87.837 nichtlandwirtschaftlichen Betrieben gezählt. Davon entfielen 288.949 auf das verarbeitende Gewerbe und die Industrie63, 112.455 auf Handel, Vermittlung und Werbewesen, 101.264 auf die Betriebsklassen öffentlicher Dienst, Gesundheits- und Fürsorgewesen, Unterricht, Bildung, Kunst, Unterhaltung, Körperpflege und Reinigungswesen. Im Bauwesen zählte man 58.425 und in den Betriebsklassen Geldwesen, Privatversicherung, Rechts- und Wirtschaftsberatung 36.472 unselbstständig Beschäftigte. Im ersten Bezirk, der City, wurden 1959 noch 25.071 unselbstständig Beschäftigte des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie in 1.708 Betriebsstätten gezählt. In den traditionsreichen Gewerbevorstädten Margareten, Mariahilf und Neubau schienen 49.428 unselbstständig Beschäftigte in 5.030 Sachgüter erzeugenden Betrieben auf. Auch die Gewerbevororte RudolfheimFünfhaus, Ottakring und Hernals wiesen mit 40.032 unselbstständig Beschäftigten in 5.627 Betrieben noch einen deutlichen Schwerpunkt in der Sachgüterproduktion auf. In den späteren Stadterweiterungsbezirken Wiens, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing, zählte man 1959 zusammen erst 26.879 Personen, die in 1.498 Betriebsstätten des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie unselbstständig beschäftigt waren. Unter den tertiären Betriebsklassen waren Handel, öffentlicher Dienst, Geldwesen, Privatversicherung und Rechts- und Wirtschaftsberatung noch in hohem Ausmaß in der Inneren Stadt konzentriert. Von den 191.559 in diesen Bereichen gezählten unselbstständig Beschäftigten arbeiteten 1959 allein 68.115 (35,6 Prozent) in der Inneren Stadt.64 Meißl spricht davon, dass die Strukturdaten der Betriebsaufnahme 1959 die Etablierung einer Stadtwirtschaft abbilden, »die von der Regulationstheorie dem ›fordistischen Akkumulationsregime‹ zugeordnet wird«.65 Vonseiten der Stadtplanung erfolgte in den Jahren 1948 bis 1951 eine Bestandsaufnahme zur Erstellung eines neuen Flächenwidmungsplans für Wien, der 1952 als »8-Punkte-Programm des sozialen Städtebaus« genehmigt wurde. Als städte­ bauliche Hoffnungs­gebiete erachtete man Gründe nördlich der Donau sowie im Süden Wiens am Laaer bzw. Wiener Berg.66 Zu diesem Zeitpunkt wurde die Planungsarbeit allerdings dadurch erschwert, dass die endgültige Festlegung der Stadtgrenzen noch nicht feststand, nachdem im Jahr 1938 die Nationalsozialisten umfangreiche Eingemeindungen vorgenommen hatten, die nun wieder zur Disposition standen. Die Stadtgrenzen waren nach 1945 heftig umstritten. Die Gesamtfläche der Stadt Wien hatte sich vor 1938 auf 27.805 Hektar belaufen und war durch die Eingemeindung von 98 niederösterreichischen Gemeinden auf 121.541 Hektar vergrößert worden. Schließlich wurde durch die neue Gebietsregelung im Jahr 1954 die von den Nationalsozialisten vollzogene Erweiterung Wiens wieder weitgehend rückgängig 134

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien gemacht. Seit 1954 umfasst das Stadtgebiet Wiens 23 Bezirke auf einer Fläche von 41.495 Hektar.67 Somit konnte sich von da an auch die raumordnende Funktion der Stadtplanung wiederum nur auf diesen engeren Bereich beziehen. Schwerpunkte der Wohnbautätigkeit bildeten nach 1945 der Wiederaufbau, also die Beseitigung der Kriegsschäden, und die Nutzung noch freier Baugründe im geschlossenen Stadtkern sowie auch schon erste größere Projekte außerhalb der dicht besiedelten Stadtregion, etwa die Errichtung der Per-Albin-Hansson-Siedlung (West) in Wien-Favoriten ab 1947.68 Markante innerstädtische Projekte waren zum Beispiel das Hochhaus am Matzleinsdorferplatz (1954–57) und die Vorbildwirkung erlangende Wohnhausanlage in Zeilen­bauweise in der Vorgartenstraße (1959). Bis 1954 konnten 28.000 Wohnungen (das waren rund 3.000 pro Jahr) errichtet werden, in den Jahren 1954 bis 1959 stieg die Wohnbauleistung auf jährlich 6.000 bis 7.000 Einheiten an. Während die Neubautätigkeit nach wie vor großteils von der Gemeinde (bis 1950 war das Verhältnis zwischen der Gemeinde und Privaten etwa 80  : 20) selbst getragen wurde, erlangten beim Wiederaufbau innerhalb des geschlossenen Stadtgebiets gemeinnützige Genossenschaften, die überwiegend Eigentumswohnungen errichteten, einen großen Stellenwert. Der Bedeutungsgewinn der Genossenschaften und Privaten im Wohnbau wurde durch das Wohnbauförderungsgesetz 1954 unterstrichen. Bis zum Jahr 1960 war in Wien die dringendste Wohnraumnot in quantitativer Hinsicht weitgehend behoben. Dabei war die Einwohnerzahl der inneren Bezirke beinahe gleich geblieben, während aus den verdichteten Zonen überbelegter Arbeiterwohnungen in den äußeren Bezirken eine Abwanderung in meist noch peripherere Siedlungsgebiete erfolgte. Auch in den ehemals sowjetischen Besatzungszonen siedelten sich nach 1955 wieder mehr Menschen an. So kam es innerhalb des Stadtgebietes zu einer gewissen Nivellierung der Einwohnerdichte.69 Die stärksten Wohnungszuwächse in der Periode bis 1960 wiesen Favoriten, Floridsdorf, Meidling und Döbling auf. Bis zum Ende der Fünfzigerjahre fand man mit der Verkehrsinfrastruktur in der Form, wie sie aus der Gründerzeit überkommen war, noch weitgehend das Auslangen. 1949 waren alle Kriegsschäden an den Anlagen der Wiener Verkehrsbetriebe mit Ausnahme der Stadtbahnlinie nach Heiligenstadt behoben. 1950/51 wurde der neue Westbahnhof errichtet, 1953 begannen die Arbeiten am neuen Südbahnhof.70 Bereits in diesen Jahren forderte der wachsende Autoverkehr immer mehr Opfer, besonders an den Einbindungsstellen der alten Ausfallstraßen in den inneren und äußeren Ring (Ringstraße bzw. Gürtel). An der Spitze der Unfallstatistik stand die Opernkreuzung mit achtzig Unfällen im Jahr 1954. Folgerichtig errichtete man hier die erste Fußgängerunterführung, Rolltreppen hielten Einzug in Wien. Weiters entstand 1952 bis 1961 die Schottentorpassage mit unterirdischer Straßenbahnschleife, die im Volksmund bald nach dem damaligen Bürgermeister bzw. ihrer Form »JonasReindl« genannt wurde, 1961 die Karlsplatzpassage. Fußgänger und öffentlicher 135

peter eigner · andreas resch Verkehr mussten ganz im Sinne des Konzepts einer autogerechten Stadt dem motorisierten Individualverkehr weichen. Die traditionell große kulturelle Bedeutung der Wiener Innenstadt wurde u. a. durch den Wiederaufbau des Stephansdoms, der Oper und des Burgtheaters sowie einiger Ringstraßenbauten im historischen Stil betont, gleichzeitig wurde aber mit der Wiener Stadthalle ein moderner Veranstaltungsbau für vielfältige Nutzungen aus Kultur und Sport etwas außerhalb des Gürtels im 15. Wiener Gemeindebezirk errichtet. 4.2.2 Die Suburbanisierung während der Sechzigerjahre In der Phase der Suburbanisierung während der Sechzigerjahre blieb die Einwohnerzahl Wiens weiterhin nahezu unverändert. Die Wohnbevölkerung verringerte sich nur geringfügig von 1,628 Millionen Menschen (1961) um 0,5 Prozent auf 1,620 Millionen (1971). Es erfolgte jedoch eine weitreichende Verschiebung der Wohnbevölkerung und auch der Arbeitsstätten innerhalb der Stadt. Die Wohnbevölkerung der Inneren Stadt schrumpfte um 21,9 Prozent auf 25.169 Personen, in den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) ging sie um 12,7 Prozent auf 541.575 zurück. Die Bevölkerungszahl in den äußeren Bezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) stieg hingegen um 6,2 Prozent auf 1.053.141 an. Obwohl sich die Geburtenrate von etwa sieben Promille in den Fünfzigerjahren bis in die Sechzigerjahre auf einen Nachkriegshöchststand von etwa 13 Promille erhöhte (man spricht in diesem Zusammenhang vom »Babyboom«), blieb sie deutlich unter der Sterberate von circa 17 Promille, sodass die vor allem von Wirtschaftskreisen geforderte Zuwanderung weiterhin nur den natürlichen Bevölkerungsabgang einigermaßen ausgleichen konnte. Nach der erheblichen Zuwanderung während der Fünfzigerjahre blieb auch in den Sechzigern die Wanderungsbilanz noch positiv – per saldo wanderten von 1961 bis 1971 68.446 Personen zu.71 Die Wiener Arbeitsbevölkerung schrumpfte von 1961 bis 1971 um 9,1 Prozent auf 786.209 Beschäftigte.72 Wesentliche Ursachen für diese Verknappung des städtischen Arbeitskräfte­angebotes waren die stagnierende Einwohnerzahl und die zuneh­mende Überalterung der Bevölkerung. Auch die Verlängerung der Schulpflicht (9. Schuljahr) und Veränderungen in der Sozialgesetzgebung (Möglichkeit der Frühpension) trugen zur Verringerung des Arbeits­angebots bei.73 Der Anteil der erwerbsfähigen Wohnbevölkerung74 nahm von 1961 bis 1971 von 69,9 auf 63,7 Prozent ab.75 Bis in die Siebzigerjahre wirkte der Arbeitskräftemangel als einschneidendes Hindernis für eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung in Wien. Mit Ausnahme der Rezessionsjahre 1967 bis 1969 lag im Zeitraum von 1961 bis 1975 die Anzahl der Arbeitslosen stets unter jener der offenen Stellen.76 Vorerst konnte auch die zunehmende Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte die Angebotsknappheit nicht ausgleichen. 136

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Die räumliche Entwicklung der Wirtschaftsaktivitäten in Wien war von einer verstärkten Randwanderung gekennzeichnet, was sich in einer ungleichmäßigen Abnahme der Arbeitsbevölkerung niederschlug. Sie ging in der Inneren Stadt um 14,5 Prozent auf 126.879 Personen zurück, in den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) schrumpfte sie um 11,4 Prozent auf 300.012 Beschäftigte, während sie in den äußeren Bezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) nur um 4,9 Prozent auf 359.318 Personen abnahm.77 Hinter diesen Absolutzahlen steht somit eine relative Verschiebung zwischen den Stadtregionen. Die inneren Bezirke mussten erhebliche Anteile ihrer Arbeitsbevölkerung an die Außenbezirke abgeben. Infolge der gleichzeitigen Veränderungen sowohl der Arbeits- als auch der Wohnbevölkerung und der Abnahme der Gesamtzahl der Beschäftigten nahm die Anzahl der innerstädtischen ArbeitspendlerInnen von 505.375 (1961) um 12,7 Prozent auf 441.406 (1971) ab. Die Zahl der Einpendler aus Gemeinden außerhalb Wiens erhöhte sich in diesem Zeitraum jedoch von 80.401 auf 103.345. Auch die Zahl der Auspendler nahm von 22.344 auf 24.590 zu. Die wachsenden Pendleranteile gelten als Indiz für die zunehmend intensiver werdenden gegenseitigen wirtschaftsräumlichen Verflechtungen zwischen dem Wachs­tums­kern Wien und dem Umland.78 Wie bereits erwähnt, setzte in den Sechzigerjahren nachhaltig der Prozess der Tertiärisierung der Wirtschaft ein. In Summe gingen jedoch vorerst im Stadtgebiet im sekundären Sektor mehr Arbeits­plätze verloren als im tertiären neu entstanden. Der Anteil der Erwerbstätigen im sekundären Sektor sank von 51,5 Prozent im Jahr 1961 auf 38,6 Prozent 1971. Auf den Tertiärsektor entfielen hingegen 1961 47,4 Prozent, 1971 bereits 60,6 Prozent der Erwerbstätigen.79 Stadträumlich kam diese Entwicklung in einem von der City ausgehenden und sich Mitte der Sechzigerjahre beschleunigenden Verdrängungsprozess der zentrumsnahen industriell-gewerblichen Standorte durch konkurrenzfähigere, weil zahlungskräftigere Nutzungen des tertiären Sektors zum Ausdruck. Geänderte Standortbedingungen machten sich weiters in einer Ausdünnung der Konzentration von Unternehmen der Großindustrie entlang der Bahnlinien des 21. und 22. Bezirks bemerkbar. Diese Tendenz überlappte sich mit jener der Entstehung neuer peripherer Industriezonen, die sich in erster Linie nunmehr am Autobahnanschluss (als neuer Standortanforderung) orientierten und sich zunächst v. a. entlang der Südautobahn zu konzentrieren begannen. In der Inneren Stadt nahm trotz der weitgehenden Ausrichtung des Bezirks auf den tertiären Sektor die Zahl der Arbeitsplätze am stärksten ab. Bei einer steigenden Mobilität der Betriebsstätten konnte dieser Prozess auch von einer zum Teil intensivierten Neugründungstätigkeit in einigen Branchen nicht aufgehalten werden. Die beschäftigte Wohnbevölkerung schrumpfte von 1961 bis 1971 um mehr als dreißig Prozent80, und auch die Zahl der Einpendler nahm um rund 18.000 137

peter eigner · andreas resch (–13,2 Prozent) ab. Zu den expansiven Betrieben in der Innenstadt gehörten Bürozentralen großer Unternehmen, Banken und Versicherungen, Handelsbetriebe, internationale Organisationen, Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und freiberufliche Firmen.81 Die Zahl der Einpendler aus Gemeinden außerhalb Wiens in die Bezirke ii bis ix nahm von 1961 bis 1971 von 27.394 um 28,5 Prozent auf 35.211 zu. Neben der City wiesen vor allem die Bezirke Wieden, Mariahilf, Neubau und Alsergrund 1971 weiterhin besonders hohe Einpendlerquoten auf (mehr als 800 Einpendler auf 1.000 Arbeitsplätze), obwohl besonders die alten Gewerbe-Vorstädte (Margareten, Mariahilf, Neubau) von einem Arbeitsstättenschwund betroffen waren.82 Es fand eine fortschreitende Verdrängung des traditionellen Gewerbes, der Hinterhofindustrien, der Schuster, Tischler, Schneider, zunehmend aber auch der kleinen Lebensmittelhändler, der »Greißler«, und anderer Geschäfte für den täglichen Bedarf aus dem innerstädtischen Bereich statt.83 Zum Beispiel erhob man bei der Arbeitsstättenzählung im Jahr 197384 in der Inneren Stadt nur noch eine Anzahl von 11.742 unselbstständig Beschäftigten in 868 Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie85  ; gegenüber 1959 hatten sich die Werte um mehr als die Hälfte verringert (wobei die beiden Zählungen nur bedingt vergleichbar sind). In Margareten, Maria­hilf und Neubau ging die Zahl in diesen eineinhalb Jahrzehnten um rund zwei Fünftel auf 29.590 unselbstständig Beschäftigte in 2.207 Betriebsstätten zurück. In Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals ergaben die beiden Zählungen gar eine Abnahme um etwa drei Fünftel auf 24.971 unselbstständig Beschäftigte in der Sachgüterproduktion. In einigen anderen äußeren Bezirken gewannen neue Standorte für Großbetriebe des sekundären und auch tertiären Sektors an Bedeutung, wie zum Beispiel das Industriegebiet Liesing um die Perfektastraße in Erlaa/Siebenhirten. Die Zahl der unselbstständig in der Sachgüterproduktion Beschäftigten erhöhte sich in den jungen, noch nicht so verdichteten Stadtregionen Floridsdorf (Zuwachs um etwa 45 Prozent auf 14.386) und Liesing (Zuwachs um drei Viertel auf 18.077) laut den Arbeits­stättenzählungen 1959 und 1973 bereits kräftig, während sie in Donaustadt in den Sechzigerjahren noch weitgehend stagnierte. Das Branchenspektrum veränderte sich, v. a. traditionelle Sektoren mit herkömmlicher Massenfertigung wie die für Wien lange Zeit so bedeutende Textil- und Bekleidungsindustrie gerieten gegenüber kostengünstigeren Standorten außerhalb Wiens zunehmend ins Hintertreffen.86 Die Konzentration größerer Unternehmen in einigen Gewerberegionen am Stadtrand wurde von der Stadtplanung bewusst forciert. Der Architekt und Stadtplaner Roland Rainer legte ein »Städtebauliches Grundkonzept von Wien« vor, das 1962 vom Gemeinderat angenommen wurde. Darin waren eine Dezentralisierung der Stadt sowie eine Auflockerung des dicht verbauten Stadtgebiets bzw. Verdichtung 138

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien der zu locker verbauten Stadtregionen und die Entmischung von gemischt genutzten Gebieten vorgesehen. Gemeint war nicht eine großräumige Entmischung durch Absiedlung in ein Industriegebiet am Stadtrand, sondern innerstädtische kleinräumige Entmischung, z. B. durch Konzentration von Gewerbebetrieben in »Gewerbehöfen«. Im innerstädtischen Bereich sollten das Gelände des Nordbahnhofs, die Flächen des alten Allgemeinen Krankenhauses (für den Neubau wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben) und des Arsenals die Funktion städtischer Subzentren erhalten, um damit der Ballung zentraler Einrichtungen und der hohen Arbeitsplatzdichte in der Inneren Stadt entgegenzuwirken.87 Gleichzeitig blieben die Intentionen der Stadtplaner auf den Stadtrand konzentriert, gedacht war neben reinen Industriezonen (z. B. Neu­an­siedlung von Industrie­betrieben entlang der süd-westlichen Bandstadt) an neue nachrangige Einkaufszentren mit Dienstleistungs- und Gewerbebetrieben (z. B. Ekazent Hietzing).88 Der kommunale Wohnbau wurde in den Sechzigerjahren vom Konzept der Stadter­weiterung, das die planmäßige Schaffung neuer Wohnviertel an den Rändern der Stadt vorsah, bestimmt. Die Suburbanisierung erfolgte dabei kaum, wie in vielen nordamerikanischen und westeuropäischen Städten, durch die Errichtung von großflächigen Siedlungen aus Einfamilienhäusern, sondern in Form der Zeilenbauweise üblicherweise parallel ausgerichteter Wohnblöcke mit zumeist vier oder neun Geschossen. Die größten derartigen Projekte »auf der grünen Wiese« waren ein neuer Stadtteil in Kagran (an der Erzherzog-Karl-Straße) ab 1962 sowie die Großfeldsiedlung und die Per-Albin-Hansson-Siedlung ab der Mitte der Sechzigerjahre. Bei diesen Neubauprojekten wandte man erstmals in großem Maßstab die Montagebauweise an (zu diesem Zweck hatte die Stadt 1961 die Montagebau Wien Ges.m.b.H. gegründet). Industrielle Massenfertigung hielt Einzug in der Wiener Bauwirtschaft. Mit einem Netto­zuwachs von über 105.000 Wohnungen erreichte die Bauleistung in den Sechzigerjahren ihren absoluten Höhepunkt, über Ästhetik und Qualität dieser Architektur lässt sich streiten. In diesem Zeitraum entfiel die Hälfte des Zuwachses allein auf die Außenbezirke Favoriten, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing, die klassischen Stadterweiterungsgebiete Wiens. Die neuen Trabanten- bzw. Schlafstädte entsprachen dem funktionalen Konzept der großräumigen Trennung von Wohnen und Arbeiten. Schon ab der Mitte der Sechzigerjahre regte sich jedoch zunehmend Kritik, die anstelle der großräumigen Funktionstrennung eine geeignete Funktionsmischung forderte. Gerade die Großfeldsiedlung galt vielen als negatives Beispiel einer Schlafstadt, wobei neben dem Fehlen eines ausreichenden Arbeitsplatzangebots der Mangel an infrastrukturellen Einrichtungen im Zielpunkt der Kritik stand. Es fehlte an ausreichenden Kindergarten- und Schulplätzen sowie an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.89 Vereinsamung, Alkoholismus und Vandalismus waren die sozialen Folgekosten dieser Planungen. 139

peter eigner · andreas resch Mit der Stadterweiterung und großräumigen Funktionstrennung nahmen die Verkehrsströme zu, und mit dem wachsenden materiellen Wohlstand ging die Massenmotorisierung einher. Noch setzte man in den Sechzigerjahren bezüglich der Lösung der Verkehrsprobleme vor allem auf den Ausbau des Straßensystems. Einzig mit der Eröffnung der Schnellbahn im Jahr 1962 wurde das öffentliche Transportsystem um eine leistungs­fähige Linie erweitert. Mit der S-Bahn stand nun eine Durchmesserlinie zwischen Meidling und Floridsdorf, die die City tangierte, zur Verfügung – errichtet auf den alten Trassen der ehemaligen Nord-, Süd- und Verbindungsbahn. Die Schnellbahn entsprach dem Bedarf, die neuen Wohngebiete im Norden Wiens (in »Transdanubien«) mit den dynamischen Betriebsansiedlungsgebieten im Süden zu verbinden, und ihr Netz wurde in den folgenden Jahren noch ausgeweitet. Ansonsten schritt man vielfach bei bestehenden Linien des öffentlichen Personennahverkehrs sogar zu »autofreundlichen« Rückbaumaßnahmen. Mehr als zwanzig Straßenbahnlinien wurden in der Stadt mit dem einstmals größten Straßenbahnnetz der Welt aufgelassen und großteils durch Autobuslinien ersetzt. Hatten sich die Schienenstränge der Tramway in Wien im Jahr 1928 noch über eine Gesamtlänge von 318 Kilometern erstreckt, so wurden sie bis 1971 auf 238 Kilometer reduziert. Diese Politik erschien den Planern angesichts der offenbar überlegenen Attraktivität des motorisierten Individualverkehrs und der sinkenden Fahrgastzahlen der öffentlichen Nahverkehrsmittel gerechtfertigt, erwies sich aber langfristig als äußerst kurzsichtig. Gegen Ende der Sechzigerjahre baute man einige Tramways zur Entlastung stark befahrener Plätze bzw. Straßenzüge als »upflaba« (Unterpflasterbahn) oder über längere Streckenbereiche als »ustr aba« (Unterstraßenbahn) um. Im Zusam­ menhang mit diesen Projekten sind etwa die Linie H2 zum bereits erwähnten »Jonas-Reindl« sowie die Errichtung der ustr aba Flurschützstraße–Südtirolerplatz mitsamt der Umgestaltung des Matzleinsdorferplatzes bis 1969 zu nennen. In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre setzte dann allmählich die Planung der späteren U-Bahn-Linien ein, deren Grundnetz in den Jahren 1966/68 beschlossen wurde.90 Die Kapazitäten des Straßennetzes wurden in den Sechzigerjahren erheblich ausgeweitet. Es erfolgte der aufwendige Ausbau der Wiener Westeinfahrt von der Westautobahn bis in das Stadtzentrum (dem auch der Naschmarkt zum Opfer hätte fallen sollen), bis 1964 errichtete man die großzügige Nordautobahneinfahrt über die Nordbrücke, und gegen Ende des Jahrzehnts wurden erste Abschnitte der Südosttangente und die Autobahneinfahrt Süd errichtet. Die zur Südost­tangente gehörende Praterbrücke (4. Donaubrücke) knickte allerdings bei einem Belastungstest im Jahr 1970 ein und konnte erst nach langwierigen Reparaturarbeiten 1972 für den Verkehr eröffnet werden. Zudem waren die Sechzigerjahre eine Phase des Ausbaus der Ver- und Entsorgungseinrichtungen der Stadt, das E-Werk Simmering erfuhr 140

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien eine beträchtliche Kapazitätserweiterung, neue Gasometer entstanden ebenso wie die Müllverbren­nungsanlage Flötzersteig und die Kläranlage Inzersdorf. Mit der Errichtung des Donauturms im Rahmen der Wiener Internationalen Gartenschau (wig) 1964 schuf man nördlich der Donau nicht nur eine Wiener Sehenswürdigkeit, sondern mit dem Donaupark, der auf einer wilden Mülldeponie errichtet wurde, ein Freizeit- und Erholungsareal in einem Wiener Entwicklungsgebiet. 4.2.3 Desurbanisierungstendenzen in den Siebzigerjahren Viele der bereits während der Sechzigerjahre aufgetretenen Probleme der sich erweiternden und verdichtenden Stadtagglomeration nahmen in den Siebzigerjahren weiter zu. Sie schlugen sich nunmehr in für die Phase der Desurbanisierung charakteristischen Entwicklungsmerkmalen nieder, zum Beispiel im beschleunigten Schrumpfen der Stadtbevölkerung und im Stocken des wirtschaftlichen Wachstums. Die Siebzigerjahre waren gemäß den oben besprochenen Regulationsweisen zugleich Höhepunkt und Endphase der Ära des Keynesianismus – in Österreich in Form des »Austro-Keynesianismus«. Für Wien spitzte sich die Situation zu. Angesichts der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz, der Sättigung bzw. Umorientierung der Märkte traten die zuneh­menden Strukturprobleme der Wiener Wirtschaft immer deutlicher zutage. Vor dem Hintergrund einer Zunahme der Arbeitsbevölkerung zeigte sich zudem, dass die Kompensationsleistung des Dienstleistungssektors bezüglich des Auffangens von Arbeitskräften der Industrie an seine Grenzen stieß. Der Wertschöpfungs­anteil des Sekundärsektors blieb im österreichweiten Vergleich rückläufig, und der Tertiärbereich vermochte nicht mehr so selbstverständlich wie in den Sechzigerjahren die zusätzlichen Beschäftigten zu absorbieren. Die Anzahl der Einwohner Wiens ging von 1971 bis 1981 um 5,5 Prozent auf 1.531.346 Personen zurück. Der relative Bevölkerungsverlust im Zentrum erreichte während dieses Zeitraums seinen Höhepunkt. Die Einwohnerzahl der City nahm bis 1981 um 22,4 Prozent auf 19.537 ab, die Wohnbevölkerung der inneren Bezirke (ii bis ix und xx) reduzierte sich um 14,2 Prozent auf 394.526 Personen. In dieser Periode nahm erstmals aber auch die Bevölkerung in den Außenbezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) geringfügig ab und sank um 0,9 Prozent auf 1.043.587 Personen. Ein weiteres bedenkliches Symptom der Desurbanisierung war, dass in den Siebzigerjahren erstmals die Wanderungsbilanz bei InländerInnen negativ ausfiel. Während in den Sechzigern per saldo noch 28.500 InländerInnen und 39.900 AusländerInnen zugewandert waren, war von 1971 bis 1981 ein Abgang von 26.008 InländerInnen zu verzeichnen. Da die AusländerInnen-Wanderungsbilanz jedoch ein Plus von 54.725 Personen aufwies, ergab die gesamte Wanderungsbilanz noch einen Zuwachs von 28.717 Personen.91 141

peter eigner · andreas resch Die Wiener Arbeitsbevölkerung nahm im Gegensatz zur Wohnbevölkerung etwas zu und vergrößerte sich von 1971 bis 1981 um 3,8 Prozent auf 816.053 Personen.92 Mit dem geringen Zuwachs an Beschäftigten blieb Wien aber in den Siebzigerjahren deutlicher als in den vorangegangenen Perioden hinter der gesamtösterreichischen Entwicklung zurück. War der Anteil Wiens an den unselbstständig Beschäftigten in Österreich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bei etwa 32 bis 33 Prozent gelegen, so sank er im Lauf der Siebzigerjahre auf nur noch rund 28 Prozent.93 Die Randwanderung der Arbeitsstätten erreichte einen ersten Höhepunkt. Während in der Inneren Stadt die Arbeitsbevölkerung zwischen 1971 und 1981 um 4,3 Prozent auf 121.368 Personen zurückging und in den Innenbezirken um 2,2 Prozent auf 293.317 sank, wuchs die Arbeitsbevölkerung in den Außenbezirken um 11,7 Prozent auf 401.368 Personen an. Mit der gegenläufigen Entwicklung der Wohn- und der Arbeitsbevölkerung war ein erhebliches Anwachsen der Pendlerzahl verbunden. Die Massenmotorisierung und der wachsende Wohlstand hatten den Radius des Wiener Einzugsgebietes laufend vergrößert. Der tägliche Strom von Einpendlern aus Gemeinden außerhalb Wiens schwoll von 103.345 Personen (1971) um 57 Prozent auf 162.270 Personen im Jahr 1981 an. Die Zahl der Pendler aus anderen Wiener Bezirken nahm von 441.406 auf 461.789 zu, aber auch die Anzahl der Auspendler in Gemeinden außerhalb Wiens erhöhte sich in diesem Zeitraum von 24.590 auf 35.487. Die Trends der stadträumlichen Wirtschaftsentwicklung aus den Sechzigerjahren setzten sich in gesteigertem Ausmaß fort. Die Arbeitsstättenzählungen 1973 und 198194 geben deutlich Aufschluss darüber. Die Gesamtzahl der Arbeitsstätten lag bei beiden Zählungen etwas über 66.000, ihre räumliche Verteilung verschob sich aber zum Stadtrand hin, und die Gesamtzahl der unselbstständig Beschäftigten nahm von 769.225 auf 710.26995 ziemlich deutlich ab, wobei das Jahr 1973 am Endpunkt ­einer Hochkonjunkturphase stand. Die Innere Stadt büßte von 1973 bis 1981 12,3 Prozent ihrer Betriebsstätten und ein Viertel der unselbstständig Beschäftigten ein. In den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) reduzierte sich die Anzahl der Arbeitsstätten – wenngleich in geringerem Ausmaß – ebenfalls. Einzig im 9. Bezirk Alsergrund wuchs die Beschäf­tigtenzahl laut den Arbeitsstättenzählungen an, v. a. wegen einer deutlichen Zunahme der im Geld- und Kreditwesen Beschäftigen von 1.813 auf 3.049 Personen, die u. a. auf den Neubau eines Gebäudes der Creditanstalt am Julius Tandler-Platz zurückzuführen war. Die Reduktion von Betriebsstätten und Beschäftigten in den inneren Bezirken beruhte weiterhin zu einem großen Teil auf der Auflösung oder Abwanderung indust­ riell-gewerblicher Betriebe. In der Inneren Stadt nahm die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in der Wirtschaftsabteilung verarbeitendes Gewerbe, Industrie um mehr als ein Viertel (von 11.742 auf 8.559) ab. Weiterhin führte der zuneh142

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien mende Flächenbedarf des tertiären Sektors zu einer Verdrängung der Nutzungen für Wohnzwecke und gewerbliche Betriebe. Dieser Prozess wurde allerdings durch die Mieterschutzgesetzgebung und den Denkmalschutz gebremst. In den früheren Gewerbezentren Margareten, Mariahilf und Neubau waren im verar­beitenden Gewerbe und der Industrie 1981 zusammen nur noch 17.068 Personen unselbstständig beschäftigt. Ihre Anzahl hatte sich seit 1973 erneut um zwei Fünftel reduziert. In der Brigittenau nahmen die unselbstständig Beschäftigten in dieser Wirtschaftsabteilung um dreißig Prozent auf 5.933 Personen ab. Auch in den Außenbezirken Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals setzte sich die Krise der traditionellen Gewerbestrukturen – wenngleich etwas gebremst – fort. Die Zahl der Arbeitsstätten des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie reduzierte sich in diesen Bezirken von 2.481 (1973) auf 1.976 (1981), und die Zahl der in diesen Betrieben unselbstständig Beschäftigten ging um mehr als ein Viertel auf 18.416 zurück. Einzig in zwei Stadtrand­bezirken war in diesem Zeitraum eine Zunahme der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie zu verzeichnen. In Donaustadt erhöhte sich ihre Zahl um 36,1 Prozent von einem allerdings sehr niedrigen Ausgangsniveau auf 8.416, und in Liesing nahm sie um 9,2 Prozent auf 19.742 zu. Die Randwanderung der Industrie wurde in erster Linie durch die Bodenpreisentwicklung und die Flächenknappheit in den inneren Bezirken erzwungen.96 Sie beschränkte sich allerdings nicht mehr auf die Verlegung von Betrieben in die äußeren Bezirke des Stadtgebietes, sondern die Abwanderungsdynamik hatte sich über die Wiener Stadt- bzw. Landesgrenzen hinaus dramatisch verstärkt. So wurden in Niederösterreich zum Beispiel von 1970 bis 1973 213 industrielle Betriebsstätten gegründet, im Burgenland 64, und der Anteil von Wiener Firmen an den neuen Betriebsstätten betrug in Niederösterreich 56, im Burgenland 57 Prozent. Insbesondere Industrien, die eine große Zahl wenig qualifizierter Arbeitskräfte benötigten und an einem niedrigen Lohnniveau interessiert waren, wurden in die peripheren Gebiete verlagert. Dazu gehörten zum Beispiel Betriebe der Bekleidungsindustrie, der Lederverarbeitung und der Eisen- und Metallwarenerzeugung.97 Auch innerhalb Wiens war die Randwanderung mit einer erheblichen Ausweitung der Flächen, die für gewerbliche/industrielle Zwecke genutzt wurden, verbunden. In den Sechzigerjahren waren vom neu erschlossenen Bauland noch 300 Hektar für den Wohnbau und nur 125 Hektar für die Errichtung von Arbeitsstätten genutzt worden. In den Siebzigerjahren verschob sich die Gewichtung  : Für Wohnzwecke wurden nur noch 200 Hektar in Anspruch genommen, die Betriebsbaugebiete erweiterte man hingegen um 380 Hektar, was einer Verdreifachung gegenüber den Sechzigerjahren gleichkam. Trotzdem blieb ein Arbeitsplatzmangel in den Stadtrandgebie­ten, insbesondere im Nordosten Wiens, bestehen. Von der Arbeitsstättenstruktur her gesehen wurde eine Vermehrung der gewerblichen und tertiären Betriebe am Stadtrand 143

peter eigner · andreas resch immer vordringlicher, um ein differenzierteres Arbeitsplatzangebot zu schaffen und den überhandnehmenden Personenverkehr einigermaßen einzudämmen.98 Die deutlichen Symptome einer beginnenden Desurbanisierung und die verstärkten Abwanderungstendenzen von Wiener Betrieben in den Siebzigerjahren sowie die Erfahrungen und Lehren aus den Sechzigern schlugen sich in veränderten Ansätzen der Stadtplanung und der städtischen Wirtschaftspolitik nieder. Auf die Wirtschaftsentwicklung der Stadt war seitens der Wiener Stadtverwaltung bislang kaum großes Augenmerk gerichtet gewesen, die Prioritäten waren eindeutig auf dem Wohnbau und dem Infrastrukturausbau gelegen. 1970/71 erstellte man die »Leitlinien für die Wiener Wirtschaftspolitik«. 1972 wurden neue Leitlinien für die Stadtentwicklung erarbeitet, und 1972/73 veranstaltete man eine große Stadtentwicklungsenquete.99 Die gesamten Siebzigerjahre hindurch fanden umfangreiche Vorarbeiten für einen neuen Stadtentwicklungsplan statt, der zeitgemäße Entwicklungsrichtlinien und neue räumliche Ordnungsansätze enthalten sollte.100 Die neuen Ansätze umfassten Vorschläge zur Ausdehnung der Stadt in gemischten Strukturen anstelle monofunktionaler Stadterweiterungsgebiete – das Stadtwachstum sollte entlang von Entwicklungsachsen mit dazwischen liegenden Grünkeilen nach dem Konzept der Bandstadt forciert werden. Diese Entwicklungsachsen waren entlang leistungsfähiger Linien des öffentlichen Verkehrs vorgesehen. Insgesamt wollte man die historische, monozentrische Struktur Wiens (mit ihrer überproportionalen Arbeitsplatzkonzentration in der Innenstadt) durch die Entwicklung neuer Subzentren entlasten und so eine polyzentrische Struktur schaffen. Im Diskurs tauchte aber auch immer mehr die Notwendigkeit einer Positionierung Wiens als überregionales Zentrum auf, seit den Achtzigerjahren verstärkt in der Funktion als Handels- und Finanzzentrum zwischen den östlichen und westlichen Wirtschaftssystemen.101 Hinsichtlich der Betriebsentwicklung verschärfte sich die Konkurrenz zum Umland. Auf die Abwanderungstendenzen reagierte die Stadtverwaltung mit verstärkten Bemühungen, Betriebe innerhalb der Stadtgrenzen zu halten. Die Stadt hatte vitale Finanzinteressen an der Betriebsansiedlung und wendete daher vermehrt Geldmittel dafür auf.102 Die klassische Form kommunaler Wirtschaftsförderung, die Aufschließung und Bereitstellung von Flächen für betriebliche Nutzung, wurde ab 1969 in planmäßiger Weise praktiziert. Zu diesem Zweck rief man die privatrechtlich organisierte Wiener Betriebsansiedlungsgesellschaft mbH (wibag) ins Leben. Die räumlichen Schwerpunkte der Bodenbereitstellung lagen in Donaustadt, Liesing, Floridsdorf, Simmering bzw. in Wien-Auhof. 1978 nahm zur besseren Beratung Grundstück suchender Unternehmer das Informationszentrum der Wiener Wirtschaft seine Tätigkeit auf.103 Weiters wurde in den Siebzigerjahren das Förderungswesen für betriebliche Investitionen auf Landes- und Bundesebene erheblich ausgeweitet. Es entwickelte sich ein dreistufiges öffentliches Haftungssystem für förderungswürdige 144

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Projekte privater Investoren, die nicht über ausreichende bankmäßige Sicherheiten verfügten  : Die seit 1955 bestehende bürges Förderungsbank bürgte für kleine Kredite, die Landesgarantiegesellschaften für mittlere Investitionen und die Finanzierungsgarantiegesellschaft für Großinvestitionen.104 Auf Landesebene gründete man die Wiener Kreditbürgschaftsgesellschaft, die für Kredite zwischen 0,2 und 2,5 Millionen Schilling die Haftung übernahm. Die Gemeinde Wien bot eine Reihe weiterer Kreditaktionen an, wobei gleichzeitig Bundes- und Gemeindekredite in Anspruch genommen werden konnten.105 Ende der Siebzigerjahre wurden in Summe 32 Förderungsaktionen, an denen die Gemeinde mitwirkte oder mitbeteiligt war, angeboten. Insgesamt setzte die Stadt Wien von 1971 bis 1981 Finanzmittel im Ausmaß von rund drei Milliarden Schilling ein, mit denen ein Investitionsvolumen von rund 18 Milliarden Schilling stimuliert wurde.106 Überdies setzten nach dem »Erdölschock« von 1973/74 auf Bundesebene Konjunkturbelebungsmaßnahmen ein107, die auch Wiener Betrieben zugute kamen. Aufgrund der bereits skizzierten demo­grafischen Entwicklung verstand man in den frühen Siebzigerjahren in Wien unter »aktiver Arbeitsmarktpolitik« noch etwas ganz anderes als in der Gegenwart. Unter dieser Bezeichnung fasste man damals noch nicht Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und zur Wiedereingliederung von Beschäftigungslosen in den Arbeitsprozess zusammen, sondern Aktivitäten zur Gewährleistung eines ausreichenden – quantitativen und qualitativen – Angebotes an Arbeitskräften. Als wichtigstes Instrument erachtete man die Förderung der Zuwanderung. Seit den Sechzigerjahren wurden nach der Überwindung anfänglicher gewerkschaftlicher Widerstände in zunehmendem Ausmaß ausländische »Gastarbeiter« angeworben, ehe 1974 die bereits dargestellte Trendwende einsetzte. Um den Zuzug – insbesondere aus strukturschwachen österreichischen Regionen, aber auch aus dem Ausland – zu fördern, gründete die Gemeinde Wien gemeinsam mit der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien (Wirtschaftskammer), der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, dem Österrei­chischen Gewerkschaftsbund und der Vereinigung österreichischer Industrieller im Jahr 1972 einen »Fonds zur Beratung und Betreuung von Zuwanderern nach Wien«. Diese Institution sollte Zuwanderer anwerben und ihnen in Wien bei der Suche nach einer Wohn­unterkunft und bei der gesellschaftlichen Eingliederung behilflich sein.108 Die Errichtung von neuem Wohnraum oblag in den Siebzigerjahren weiterhin überwiegend dem sozialen, das heißt mit öffentlichen Mitteln subventionierten Wohnbau. Angesichts der stagnativen Bevölkerungsentwicklung und der Überwindung der dringenden Wohnungsnot in quantitativer Hinsicht seit den Sechzigerjahren ging das Bauvolumen zurück, wobei insbesondere der Bau neuer Gemeindewohnungen reduziert wurde. Seit 1972 wurde die gesamte Förderung auf Basis des Wohnbauförderungsgesetzes 1968 durchgeführt. Die Gemeinde konzentrierte sich 145

peter eigner · andreas resch in den Siebzigern in einer Art Nachvollzug verstärkt auf den Ausbau der technischen Infrastruktur. Während in den Sechzigerjahren der Wohnungsbestand in Wien um mehr als 100.000 Einheiten gewachsen war, erhöhte er sich von 1971 bis 1981 nur noch um rund 40.000.109 In beiden Zählperioden ist zu berück­sichtigen, dass die Wohnbau­leistung höher als der tatsächliche Wohnungszuwachs war, weil teilweise alte Häuser für die Errichtung von Neubauten abgetragen wurden bzw. Wohnungszusammenlegungen stattfanden. Nach Bauträgern differenziert wurden von den im Jahrzehnt von 1973 bis 1982 gebauten 67.428 Wohnungen 24.784 (36,8 Prozent) von der Gemeinde Wien, 14.295 (21,2 Prozent) von Genossen­schaften, 20.935 (31,0 Prozent) von gemeinnützigen Kapitalgesellschaften und 7.414 (11,0 Prozent) von juristischen oder natürlichen Personen errichtet.110 Im Wohnbau wurden vorsichtig neue Wege beschritten. Unter den realisierten Bauprojekten fanden sich zwar noch einige Großwohnanlagen am Stadtrand im Stil der Sechzigerjahre (z. B. Fertigstellung der Großfeld- und Rennbahnweg-Siedlung), weiters aber mehrere mit dieser Tradition bewusst brechen wollende Großwohnanlagen, die man mit dem Schlagwort »Vollwertwohnen« charakterisierte (z. B. Wohnpark Alt Erlaa, Wiener Flur, Am Schöpfwerk, alle an der Wiener Entwicklungs­achse Meidling – Siebenhirten gelegen), sowie kleinförmiger strukturierte Neubauten. Einhergehend mit der abnehmenden Neubauleistung gewann in den Siebzigerjahren der Stadterneuerungsgedanke zunehmend an Bedeutung. 1971 stammten noch immer über 422.000 (54 Prozent) der damals insgesamt bestehenden 782.000 Wiener Wohnungen aus der Zeit vor 1918. Im Althausbestand fanden sich überwiegend Substandardwohnungen ohne WC, Badezimmer und Heizung. Es war somit ein enormer, akuter Modernisierungsbedarf gegeben. Erste – noch sehr radikal umgesetzte – Flächensanierungen waren bereits in den Fünfzigerjahren in Erdberg durchgeführt worden, der Stadtteil Alt-Lichtental folgte in den Sechzigern. In den Siebzigerjahren setzte ein Umdenkprozess ein. Große Bekanntheit als ein erstes Beispiel »sanfter« Sanierung erlangte der Modellversuch »Planquadrat 4« in Wieden. Die Schaffung eines Gartenhofs unter Einbindung der betroffenen Bewohner wurde damals vom orf beobachtend begleitet. Eine wesentliche Weiterentwicklung erfolgte mit der Einstufung von städtischen Problemzonen und Sanierungsgebieten als Stadterneuerungsgebiete, Ottakring machte hier in den Siebzigerjahren den Anfang. Dazu waren mit dem Stadterneuerungsgesetz (BGBl. 287/1974) und dem Bodenbeschaffungsgesetz (BGBl. 288/1974) neue legistische Grundlagen geschaffen worden. Die erste umfassende Assanierungsmaßnahme, bei der Althäuser nicht einfach abgerissen, sondern saniert und modernisiert wurden, betraf den heruntergekommenen Stadtteil Spittelberg in Wien-Neubau (1976).111 Derartige Sanierungsmaßnahmen bergen allerdings die Gefahr in sich (und dies zeigte das Beispiel Spittelberg), dass die alteingesessenen Bewohner durch zahlungskräftigere neue Mieter verdrängt wer146

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien den und es zur »Gentrification« kommt. In Wien versuchte man durch sogenannte »sanfte Sanierungen« die sozialen Folgekosten der Sanierungsmaßnahmen zu verringern. Die geförderten Erneuerungsmaßnahmen sollten nicht zu einer verstärkten sozialen Segre­gation der Wiener Bevölkerung führen. Das bis in die Gegenwart weiterentwickelte Wiener Modell »sanfter Sanierung« bzw. »Stadterneuerung« findet inzwischen europaweite Beachtung. Bei der Planung und dem weiteren Ausbau der technischen Infrastruktur in Wien setzte sich in den Siebzigerjahren ebenfalls ein gewisses Umdenken durch. Der Ausbau des hochrangigen Straßennetzes wurde zwar mit großem Aufwand fortgesetzt, zugleich räumte man nun aber dem öffentlichen Nahverkehr erhöhten Stellenwert ein.112 Wien erhielt endlich eine U-Bahn, erste Überlegungen und Planungen reichten fast hundert Jahre zurück. Im Jahr 1969 begann am Karlsplatz der Bau des UBahn-Netzes. 1974 nahmen die U4 und 1976 die neu errichtete U1 den Betrieb auf ersten Teilstrecken auf. Durch die Führung der U1 unter dem Stephansplatz wurde es erstmals möglich, die Innenstadt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu bedienen, das in der Lage war, den starken Berufs­verkehr zu bewältigen. Dem zu Beginn der Siebzigerjahre aufgrund umfassender Verkehrserhebungen erstellten Verkehrskonzept für Wien folgten 1974 die Gründung des Verkehrsverbundes Ost Region (vor) bzw. Ende des Jahrzehnts die Errichtung der Planungsgemeinschaft Ost. Das größte Straßenbauprojekt Wiens bildete die sukzessive Fertigstellung der Süd­ost­tangente (A 23) zwischen Altmannsdorf und dem Knoten Kaisermühlen in den Jahren 1970 bis 1978. Damit wollte man die Gebiete nordöstlich der Donau besser an das hochrangige Straßennetz im Süden anbinden, zugleich wurden die Betriebsbaugebiete entlang dieser Autobahn in den Bezirken Landstraße, Simmering, Favoriten und Liesing aufgewertet. Die Verlegung des Großmarktes nach Inzersdorf, die Errichtung eines Fleisch- und eines Textilzentrums in St. Marx trugen dieser Entwicklung Rechnung. Richtung Nordwesten begann man bereits in den Siebzigerjahren mit dem Bau der 1981 von Stockerau bis zur Floridsdorfer Brücke dem Verkehr übergebenen Donauuferautobahn und der 1982 fertiggestellten Außenringautobahn (Vösendorf – Knoten Steinhäusl – Westautobahn). Der Einsturz der Reichsbrücke 1976 zog neben ihrer Neuerrichtung den Bau der neuen Floridsdorfer Brücke nach sich. Die Struktur des Straßennetzes mit Ringstraße, Gürtel und Südosttangente sowie großen Ausfallstraßen nach Süden, Westen, Norden und Südosten entspricht in seiner Grundstruktur weitgehend dem ring-radialen Ordnungsschema, das auch das System der öffentlichen Verkehrsmittel prägt, bestehend aus der U-Bahn um die City, dem äußeren Ring entlang des Gürtels (U- und S-Bahn) und den radialen Linien (U- und S-Bahn) entlang wichtiger Entwicklungsachsen.113 Somit hatte man in den Siebzigerjahren noch nicht vermocht, die historisch mono­zentrische Struktur 147

peter eigner · andreas resch der Stadt und ihrer Verkehrsadern in die angestrebte polyzentrische Struktur umzuwandeln. Die Verkehrs­ströme blieben in hohem Ausmaß auf das Zentrum hin orien­ tiert, und sie nahmen weiterhin erheblich zu. Die Zahl der Berufseinpendler vergrößerte sich laufend, und auch die Anzahl der in Wien registrierten Kraftfahrzeuge wuchs rasant, von rund 430.000 im Jahr 1969 auf etwa 640.000 1981. Insbesondere die Wiener City drohte im Verkehr geradezu zu ersticken. Durch die Herrenstraße und den Innenring zum Donaukanal quälten sich täglich 40.000 Autos.114 Zusätzlich wurde die Lage durch die langwierigen, umfangreichen Baumaßnahmen der technischen Infrastruktur sowohl in den innerstädtischen Gebieten als auch entlang der hochrangigen Verkehrswege erschwert. Die Motorisierung zog Parkplatzprobleme nach sich. Zur besseren Bewältigung des »stehenden Verkehrs« wurden einige Tiefgaragen im zentralen Bereich gebaut, und als verkehrsberuhigende Maßnahmen errichtete man ab 1973 Fußgängerzonen (Kärntnerstraße, Favoritenstraße, Meidlinger Hauptstraße, …)115 und ab 1980 sogenannte Wohnstraßen (z. B. Wichtelgasse).116 Zur Verbesserung des Hochwasserschutzes und zur Schaffung neuer Erholungsareale für die Wiener Bevölkerung wurde im Jahr 1972 die »zweite Donauregulierung« in Angriff genommen. Im ehemaligen Überschwemmungsgebiet errichtete man ein »Entlastungsgerinne« entlang der 1870 bis 1875 regulierten Donau. Zwischen den beiden Flussläufen entstand die Donauinsel. In die Siebzigerjahre fallen ferner Bau und Fertigstellung der uno-City, die wie die Errichtung des Einkaufszentrums Donauzentrum die Attraktivität der nördlich der Donau liegenden Stadt­region erhöhen sollte. Auf die Schaffung mehrerer kleinerer Subzentren in der Stadt zielten die Einkaufszentren in der Per-Albin-Hansson-Siedlung bzw. im U4-Parkshop Meidling. Neue Schul- und Krankenhausbauten trugen zur besseren Versorgung Wiens bei, die Errichtung zahlreicher Bäder im Rahmen des Sportstättenkonzepts sollte für ein reichhaltigeres Freizeitangebot sorgen. 4.2.4 Reurbanisierungstendenzen seit den Achtzigerjahren Im Laufe der Achtziger- und Neunzigerjahre stellten sich in Wien wieder deutliche Anzeichen einer Reurbanisierung ein.117 Im zunehmenden Städtewettbewerb besann sich Wien seiner sogenannten »weichen« Standortfaktoren, dem reichen kulturellen Erbe der Vergangenheit als Habsburgermetropole, dem breiten Angebot an Hochkultur, aber auch der hohen sozialen Sicherheit, der vergleichsweise hohen Lebensqualität, dem leistungsfähigen öffentlichen Verkehr und einer alles in allem gut funktionierenden Stadtverwaltung. Das museale Image und die mangelnde urbane Dynamik wichen seit Mitte der Siebzigerjahre einem kulturellen und wohl auch gesellschaftspolitischen Aufbruch. Ein Anstoß kam dabei von der in Wien ansonsten eher wenig einflussreichen övp unter Erhard Busek. Sie betonte die Wichtigkeit des 148

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien unmittelbaren Wohnumfelds, des »Grätzels«, für dessen Funktionieren Gasthäuser, Cafés, kleine Lebensmittelgeschäfte eine zentrale Rolle spielen. Bald erkannte auch die Wiener spö (unter den Bürgermeistern Leopold Gratz und Helmut Zilk) die Wichtigkeit einer Trendwende. Nicht nur Boutiquen, Einkaufstempel und Nobelrestaurants schossen aus dem Boden, es entstand insbesondere eine lebendige und vielfältige Beisl- und Alternativ(kultur)szene. Zunächst konzentriert auf den i. Bezirk, erfasste diese bald Teile der Innenbezirke. Fußgängerzonen machten nicht nur die Innenstadt wieder attraktiv, Großausstellungen (wie »Traum und Wirklichkeit« 1985) richteten ihren Blick auf bislang wenig bekannte Aspekte und Facetten der Wiener Geschichte, Feste (Stadtfest 1978, Donauinselfest 1983) und diverse Großveranstaltungen belebten die Plätze Wiens. Als bedeutendste ökonomische Konsequenz dieser Entwicklung erlebte Wiens Fremdenverkehr zu Beginn der Achtzigerjahre einen kräftigen, v. a. von AusländerInnen getragenen Aufschwung. Im Trend der Bevölkerungsentwicklung trat nach einer langen Schrumpfungsphase in den Achtzigerjahren eine Umkehr ein. Die Einwohnerzahl erhöhte sich laut den Volkszählungen von 1.531.346 Personen (1981) zumindest geringfügig um 0,6 Prozent auf 1.539.848 Personen im Jahr 1991. Für das Jahr 1995 wies die amtliche Statistik einen Personenstand von 1.636.399 Menschen mit ordentlichem Wohnsitz in Wien und damit einen weit deutlicheren Zuwachs aus.118 Die städtische Bevölkerungsfortschreibung weicht allerdings etwas von den Volkszählungsergebnissen ab. Für 1991 gibt sie 1.591.398 Personen mit Wohnsitz in Wien an, somit um 51.550 mehr als die Volkszählung aus dem gleichen Jahr. Wien ist jedenfalls das erste Mal seit der Gründerzeit – abgesehen von den Kriegsjahren – wieder erheblich gewachsen, vor allem in den Jahren 1989 bis 1993. Danach ist der Zuwachs wieder weitgehend zum Stillstand gekommen, ehe er nach der Jahrtausendwende mit erhöhter Vehemenz erneut einsetzte. Während die Volkszählung 2001 sogar eine geringfügig niedrigere Anzahl von Personen mit Wiener Hauptwohnsitz als 1991 auswies, nahm die Bevölkerungszahl bis 2011 auf 1.713.957 Personen zu119 und die Prognosen gehen davon aus, dass in der ersten Hälfte der 2040er-Jahre die Zwei-Millionen-Marke überschritten wird.120 Wesentlicher Faktor des Bevölkerungswachstums war ein Zuwanderungsschub aus dem Ausland um 1990 – die Zahl der AusländerInnen aus (dem ehemaligen) Jugoslawien erhöhte sich von 1985 bis 1994 von 56.312 auf 126.584. Verglichen mit diesem Zuwachs hatte die Zuwanderung aus den Reformländern seit der Ostöffnung nur geringe Bedeutung. Die Anzahl der AusländerInnen aus Polen erhöhte sich von 1985 bis 1994 von 8.596 auf 19.537, jene von ZuwandererInnen aus der (ehemaligen) Tschechoslowakei wuchs von 1.509 auf 5.868 Personen an, und aus Ungarn befanden sich 1985 2.209 und 1994 5.858 Personen in Wien.121 Bei den InländerInnen überwog jedoch weiterhin die Abwanderung die Zuwanderung, auch wenn die Abwanderung per saldo im Jahrzehnt von 1981 bis 1991 gegenüber den 149

peter eigner · andreas resch Siebzigerjahren um beinahe ein Viertel auf 19.927 Personen zurückging. Ein weiterer Faktor des erneuten Bevölkerungswachstums war ein reduziertes Geburten­ defizit, das in den Achtzigerjahren beinahe wieder auf den niedrigen Stand der Sechzigerjahre zurückging.122 Nicht nur über die Stadtgrenzen hinaus, sondern auch innerhalb des Wiener Stadtgebietes war weiterhin eine Randwanderung – wenngleich deutlich gebremst – festzustellen. Die Wohnbevölkerung nahm in der Inneren Stadt von 1981 bis 1991 nur noch um 1.535 Personen (7,9 Prozent) auf 18.002 Einwohner und Einwohnerinnen ab, nachdem sie in den Siebzigern noch um mehr als 22 Prozent geschrumpft war. In den inneren Bezirken (ii bis ix und xx) ging die Wohnbevölkerung nach einer Schrumpfung um 13,5 Prozent im Jahrzehnt zuvor im Zeitraum von 1981 bis 1991 lediglich um 2,2 Prozent (10.413 Personen) auf den Stand von 457.809 Personen zurück. In den äußeren Bezirken (x bis xix und xxi bis xxiii) nahm die Zahl der Einwohner und Einwohnerinnen wieder geringfügig stärker zu. Sie wuchs im Jahrzehnt bis 1991 um 2,2 Prozent (20.450 Personen) auf 1.064.037 an. Seither verzeichnen sowohl die inneren wie die äußeren Bezirke leichte Bevölkerungszuwächse. Die gesamte Wiener Arbeitsbevölkerung wuchs von 1981 bis 1991 um 3,2 Prozent auf 842.412 Personen, stagnierte danach in den Neunzigerjahren, ehe nach der Jahrtausendwende eine beschleunigte Steigerung einsetzte.123 Der Gesamtzuwachs war somit ungefähr gleich groß wie im Jahrzehnt zuvor. Damit blieb Wien während der Achtzigerjahre erneut, wenngleich knapper, hinter dem gesamtösterreichischen Zuwachs zurück. Die regionalen Teilprozesse der Arbeitsplatzentwicklung wichen von den Verlaufsmustern in den Siebzigerjahren ab. Die Innere Stadt verlor wieder etwas stärker an Arbeitsbevölkerung und schrumpfte um 7,1 Prozent auf 112.770 Personen.124 Die inneren Bezirke um die City konnten hingegen nach der Schrumpfung in den Sechziger- und Siebzigerjahren in den Achtzigern erstmals wieder leicht zulegen. Hier nahm die Arbeitsbevölkerung um 0,9 Prozent auf 295.997 Personen zu. In den äußeren Bezirken setzte sich der Wachstumsprozess fort. 1991 zählte man hier eine Arbeitsbevölkerung von 433.645 Personen (+8,0 Prozent gegenüber 1981). Gemäß den Arbeitsstättenzählungen erhöhte sich die Gesamtzahl der unselbstständig Erwerbstätigen in Wien von 1981 bis 1991 um 5,5 Prozent auf 701.052.125 Im Gegensatz zur Erhöhung der Anzahl der Arbeitsstätten und der unselbstständig Beschäftigten in den Achtzigerjahren beschleunigte sich die Schrumpfung des Sachgüter produzierenden Sektors sogar noch. Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie ging von 1981 bis 1991 um 50.932 oder 28,0 Prozent auf 130.858 zurück, nachdem sie in den Siebzigerjahren um 19,4 Prozent geschrumpft war. Die Betriebsstättenzahl nahm etwas weniger ab  ; um 26,6 Prozent auf 8.081. Das heißt, kleine und mittlere Unternehmen wiesen in der 150

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Sachgütererzeugung in den Achtzigerjahren in Wien ein etwas höheres Beharrungsvermögen auf als Großbetriebe – nicht zuletzt, weil die Randwanderung größerer Betriebe über die Stadtgrenzen hinaus im Rahmen der Stadtagglomeration anhielt. Besonders stark wirkte der Verdrängungsdruck in der City, wo die Zahl der in den Sachgüter produzierenden Wirtschaftsabteilungen unselbstständig Beschäftigten von 1981 bis 1991 um 62,0 Prozent auf nur noch 3.249 Personen zurückging. Hier schrumpfte auch die Gesamtanzahl der Arbeitsstätten, weil offenbar der Verdrängungsdruck auf den sekundären Sektor stärker war als die Zuwächse im Dienstleistungssektor, der in der Inneren Stadt an die Grenzen seiner Expansionsmöglichkeiten gestoßen war. Auch in den ehemaligen Gewerbevorstädten Margareten, Mariahilf und Neubau erreichte der Rückgang der Sachgüter produzierenden Betriebe zwischen 1981 und 1991 ein bisher noch nicht gekanntes Ausmaß. Hier schrumpfte die Anzahl der im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie unselbstständig Beschäftigten um rund die Hälfte (von 17.068 auf 8.753), und die Anzahl der einschlägigen Arbeitsstätten ging um ein Drittel auf 1.593 zurück. Und auch in Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Hernals beschleunigte sich der Verdrängungsprozess der Sachgüterproduktion. Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie reduzierte sich um 31,9 Prozent auf 12.543, und die Betriebsstätten nahmen um 37,0 Prozent auf einen Stand von 1.443 ab. Einzig die traditionellen Stadterweiterungsbezirke mit ihren großzügigen Industrieansiedlungsgebieten konnten die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in der Sachgüterproduktion wenigstens stabil halten (Donaustadt126 bzw. Liesing) oder sogar steigern (Floridsdorf  : Zunahme um 23 Prozent auf 17.233 Personen127). Weiterhin wirkte Wien als Wachstumskern über die Stadtgrenzen hinaus. Die Sachgüterproduktion entwickelte sich (u. a. auch aufgrund von Standortverlagerungen) im Umland recht dynamisch. Zum Beispiel war in Wien-Umgebung von 1983 bis 1992 ein durchschnittlicher jährlicher wertmäßiger Zuwachs von 11,0 Prozent, in Mödling von 6,3 Prozent zu verzeichnen. Auch die Bezirke Tulln und Korneuburg erfreuten sich einer dynamischen Wachstumsentwicklung.128 Dass in den Achtzigerjahren trotz massiver Beschäftigungseinbußen im sekundären Sektor insgesamt ein Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen war, war vor allem auf die Expansion der zwei Wirtschaftsabteilungen Geld- und Kreditwesen, Privat­ver­sicherungen, Wirtschaftsdienste und Persönliche, soziale und öffentliche Dienste zurückzuführen. Im Bereich Geld- und Kreditwesen sowie in den Privat­ ver­siche­rungen und Wirtschaftsdiensten erhöhte sich die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten von 1981 bis 1991 um 56,9 Prozent und überschritt mit 104.879 die Hunderttausender-Marke  ; ausschlag­gebend für diese Expansion dürfte das Wachstum der Wirtschafts­dienste gewesen sein. Die Anzahl der Arbeitsstätten nahm so151

peter eigner · andreas resch gar um 73,1 Prozent auf 12.925 zu, wobei sich neuerlich insbesondere die Zahl der Geschäftsstellen der Wirtschaftsdienste deutlich erhöht hatte. Die Innere Stadt, das traditionelle Dienstleistungszentrum Wiens, konnte diese Expansion hin­gegen nicht mehr in vollem Umfang mitvollziehen – hier waren offenbar bereits die Kapazitäts­ grenzen erreicht. Viele Unternehmen lagerten ihre personal­intensiven Zentralen aus, sodass die Anzahl der unselb­stständig Beschäftigten in den genannten Wirtschaftsabteilungen in der City nur um 16,5 Prozent auf 31.774 anstieg, während sich die Zahl der Arbeitsstätten immerhin um 47,8 Prozent auf 1.927 erhöhte. Die höchsten absoluten Zuwächse waren, wie im Jahrzehnt zuvor, auf dem Alsergrund zu ver­zeichnen, mit einer Erhöhung der Zahl der einschlägig unselbstständig Beschäftigten um 6.064 (+111,3 Prozent) auf 11.512.129 Auch die an die Innenstadt angrenzenden Bezirke konnten vom Abwanderungsdruck aus der Inneren Stadt profitieren. Die äußeren Bezirke verzeichneten infolge einer besseren Versorgung mit Geschäftsstellen der Wirtschaftsdienste, teils auch der Versicherungsunternehmen und Bankfilialen ebenfalls enorme relative Zuwächse. Die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten dieser Wirtschaftsabteilung überschritt aber mit Ausnahme Favoritens (4.256 Personen) in keinem Außenbezirk den Wert 3.000. Im Bereich der persönlichen, sozialen und öffentlichen Dienste herrschte vor allem in den Achtzigerjahren eine relativ großzügige Einstellungspolitik vor. Während sich die Zahl der unselbstständig Beschäftigten in diesen Tätigkeitsfeldern von 1973 bis 1981 gemäß den Arbeitsstättenzählungen nur geringfügig erhöht hatte (+1,1 Prozent), stieg sie von 1981 bis 1991 um 20,2 Prozent auf 202.282 an. Auch hier waren kaum noch Zuwächse in der Inneren Stadt zu verzeichnen, dafür wuchsen die Beschäftigtenzahlen in der Leopoldstadt (Zunahme um 62,0 Prozent auf 9.855), in der Landstraße (Zunahme um 37,3 Prozent auf 19.337) und auf dem Alsergrund (Zuwachs um 23,0 Prozent auf 21.208) kräftig an. Bemerkenswert waren auch die Zuwachsraten in Floridsdorf und Donaustadt von jeweils mehr als achtzig Prozent, Folge der gezielten Verlagerung von öffentlichen Verwaltungs- und Serviceeinrichtungen. Die Aufwertung der Stadtrandbezirke gehörte bereits seit den späten Siebzigerjahren zu den zentralen Anliegen der Stadtplanung und begann langsam, Früchte zu tragen. Zum Beispiel entstand in Donaustadt das neue Donauspital (Sozialmedizini­sches Zentrum Ost oder smz Ost), das auch hinsichtlich seiner Architektur im Vergleich zur erdrückenden Monumentalität und Gigantomanie des Neuen akh auf einen Lernprozess verweist. Die Stadtplaner und Wirtschaftspolitiker mussten sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren – teils zögerlich und unwillig, teils selbst als Träger des Wandels der politi­schen Kultur – auf geänderte Formen der Partizipation und der Politikstile einstellen. Wiederum auftretende Arbeitsmarktprobleme, ein zunehmendes Ökologiebewusstsein und neue Formen direkter Bürgermitsprache gingen einher mit 152

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien einem Schwin­den des Wachstums- und Fortschrittsoptimismus der Sechzigerjahre, mit zuneh­mender Skepsis hinsichtlich der Planbarkeit gesellschaftlicher – somit auch städtischer – Entwicklungen und mit der Erosion des bis dahin bestehenden Systems fixer Bindungen der Bürgerinnen und Bürger an etablierte Parteien. Die Skepsis gegenüber den städtischen Instanzen wurde seit den Siebzigerjahren auch durch verschiedene Skandale geschürt, und diverse Bürgerinitiativen entstanden. Zum Beispiel war bereits 1976 bekannt geworden, dass der Bauring durch verfehlte Projekte in Arabien 1,4 Milliarden Schilling »in den Wüstensand« gesetzt hatte, 1978 wurden akute Finanzschwierigkeiten der wibeba bekannt, 1980 Missstände beim Bau des Radstadions im Prater, und ab Mai 1981 platzte der akh-Skandal mit der Verhaftung des Planungsdirektors Adolf Winter. Weiters wurden Kostenüber­ schreitungen beim Bau des Horr-Stadions auf die Stadt übergewälzt, und auch mit der Müllverbrennungsanlage am Rautenweg (»Rinter-Zelt«) traten gravierende Probleme auf. 1978 bildete sich eine »Notgemeinschaft« gegen den Durchzugsverkehr in der City, 1979 ein Prominentenkomitee gegen die projektierte Schnellstraße Flötzersteig in Hochlage, und 1981 fiel eine Volksbefragung über die Verbauung der Steinhof­gründe nicht im Sinne der städtischen Planer aus.130 In einem Ton, der beinahe eine Entschuldigung dafür ausdrückte, dass überhaupt noch Stadtplanung betrieben wurde, stellte man um 1980 neue Ansätze der Öffentlichkeit vor. Zum Beispiel warb Walter Skopalik in der dem Rathaus nahe stehenden Zeitschrift »der aufbau« 1982 dafür, dass auch »in Zeiten wie diesen« Stadtplanung notwendig sei, obwohl man in »unsicheren Zeiten« lebe und »von Irrtümern überrascht« werden könne, weswegen die Planung immer wieder »angepaßt werden« müsse – dies vor dem Hintergrund wenig erfreulicher Tendenzen wie einer stagnativen Wirtschaftsentwicklung, abnehmender Bevölkerung, steigenden Energiepreisen und einem gebrochenen Fortschrittsglauben der Menschen.131 Bald trat die Stadtverwaltung jedoch wieder selbstbewusster auf, durchaus im Bewusstsein, sich den neuen Rahmenbedingungen angepasst zu haben. Man lernte, »neue Planungsinstrumente und eine neue Form der Planungskultur zu entwickeln«. Es sollten nun eine »generelle ›Offenheit der Planung‹ gegenüber gesellschaftlichen und sozialen Anliegen, neue Organisationsformen zur Förderung der Kommuni­ kation in Planungsprozessen, neue Managementinstrumente zur Qualitätssicherung im Städte­bau sowie die rechtzeitige und umfassende Information und Einbeziehung der Beteiligten und Betroffenen« die Planung bestimmen. Die Weiterentwicklung »kooperativer und interdisziplinärer Arbeitsformen« galt nun als erstrebenswert. Neue inhaltliche Ausrichtungen wie eine frauen- bzw. behinderten­gerechte oder eine ökologische Stadtentwicklung wurden aufgegriffen.132 Zuweilen gerieten jedoch die Planer durch die ausgeweiteten plebiszitären Elemente in unerwartete Situationen. Zum Beispiel bedeutete die Ablehnung der für 153

peter eigner · andreas resch 1995 vorgesehenen Weltausstellung in Wien, der Expo, bei einer Volksbefragung im Jahr 1991 das Aus für dieses zentrale Leitprojekt für die Entwicklung Wiens. Auch die Politik hatte sich neuen, überregionalen Rahmenbedingungen zu stellen. Angesichts der global instabilen Wachstumsmuster seit den Siebzigerjahren, der fortschrei­tenden Liberalisierung der Weltmärkte und der Kapitalbewegungen, der Integration Österreichs in die Europäische Union und des politischen Systemwandels in den Ländern Ostmitteleuropas erwiesen sich etablierte Muster der (Wirtschafts-)Politik als immer weniger adäquat. Man musste sich, wie oben bereits skizziert, einem grund­legenden Wandel des regulatorischen Umfeldes anpassen. Dazu gehörten auch vermehrte Anstrengungen, eine Koordination der Regional­ entwicklung mit dem Wiener Umland zuwege zu bringen. Die Dichte der Stadt­ agglomeration über die Landes­ grenzen Wiens hinaus nahm weiter zu, und die europa­weite Standortkonkurrenz verschärfte sich. Daher musste man trachten, die »Kirchturm­politik« der beteiligten Gemeinden und Länder zu überwinden, um zu gemein­samen Ent­wicklungsanstrengungen zu gelangen. Unkoordinierte Regional­ planung und konkurrierende Wirtschaftsförderung sollten von einem gemeinsamen Vorgehen abgelöst werden. Aufgrund der geltenden gesetzlichen Bestimmungen (Finanzausgleich, Landesund Gemeindegrenzen, Regionalabgaben von Unternehmen) befanden sich die Akteure jedoch in einer Situation, die man in der Spieltheorie als »prisoner’s dilemma« bezeichnet. Wenn sich die Akteure rational im Sinne der Nutzenoptimierung für die von ihnen vertretene Einheit (jeweilige Gemeinde, jeweiliges Land) verhalten wollen, so sind sie durch die gültigen Spielregeln gezwungen, nicht gemäß dem optimalen Nutzen für die Gesamtagglomeration zu agieren, in der sie sich befinden.133 So kann zum Beispiel für eine Umlandgemeinde, wenn sie die Errichtung einer für das Gesamtsystem notwendigen Straße oder Eisenbahnlinie auf eigenem Gemeindegebiet verhindert, möglicherweise der abgewendete Nachteil (weniger Verkehrsbelästigung) den für die Gemeinde resultierenden Schaden durch ein insgesamt schlechter funktio­nierendes Verkehrsnetz überwiegen, obwohl für die Gesamt­agglomeration der Nutzen des Projektes die negativen Folgen bei Weitem übertreffen würde. Genauso kann es für eine Gemeinde nutzbringend sein, mit hohem Mittel­einsatz einen Betrieb anzuwerben, für den in der Struktur der gesamten Agglo­meration anderweitig verträglichere und kostengünstigere Standorte vorhan­den wären, weil bei einer Ansiedlung andernorts die regionalen Abgaben und die eventuell induzierte Bevölkerungszuwanderung (Finanzausgleich) einer anderen Gemeinde zugute kämen. Um dieses Dilemma wenigstens ansatzweise zu überwinden, riefen im Jahr 1978 die Länder Burgenland, Niederösterreich und Wien die Planungsgemeinschaft Ost (pgo) ins Leben  ; die Wiener Stadtplanung versucht seither, die Entwicklung der gesamten Agglo­meration mit zu berücksichtigen. Die Erfolge der grenzüberschrei­ 154

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien tenden Kooperation sind jedoch noch recht verhalten zu bilanzieren  : »Obwohl es in der Koordination von Grundlagenarbeiten und projektorientierten Planungen Erfolge in der Zusammenarbeit gab, erweist sich allgemein die länder­ grenzen­ übergreifende Arbeit als schwierig.«134 Zentrale Dokumente der Stadtplanung, in die die Erfahrungen der Siebzigerund Achtzigerjahre einflossen, waren die Stadtentwicklungspläne 1984 (step 84) bzw. 1994 (step 94).135 Mit dem step 84 legte man erstmals seit 1961 wieder ein räumliches Leitbild für die Wiener Stadt­entwicklung vor. Die Planung beruhte auf den in den Siebzigerjahren entwickelten Grundlagen, wie dem Konzept der axialen Entwicklung Wiens mit Grünkeilen dazwischen und einer polyzentrischen Gesamtstruktur. Im Gegensatz zu den Planungen aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit der Vorgabe der Entmischung städtischer Funktionszonen betonte man nunmehr, dass eine enge Verflechtung der städtischen Nutzungen im dicht bebauten Gebiet erhalten und auch außerhalb der dicht bebauten Gebiete eine dichte, eng verflochtene Nutzungsstruktur angestrebt werden sollte.136 Damit sollte Wien wieder an Urbanität gewinnen  : »Ausgelöst durch wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt, durch rasche und billige Verkehrsmittel, haben sich in der Großstadt wichtige Lebensfunktionen des Menschen, wie Wohnen, Arbeiten, Bildung, Erholung oder Versorgung, räumlich immer mehr voneinander getrennt. Die inzwischen sichtbar gewordenen nachteiligen Folgen dieser Entwicklung, besonders die mangelnde urbane Atmosphäre und die zunehmenden Verkehrsprobleme, haben zu der Forderung nach überschaubaren Lebensbereichen und stärkerer räumlicher Mischung der Lebensfunktionen geführt.«137 Zum Leitbild »Stadterweiterung« trat ein neuer Schwerpunkt, die »Stadterneuerung«, deren Anfänge in die späten Siebzigerjahre zu datieren sind. Im step 94 wurde im Wesentlichen die Planungsphilosophie des step 84 beibe­ halten. Geringfügige Änderungen ergaben sich vor allem daraus, dass man 1984 noch von einer Stagnation oder Schrumpfung der Stadtbevölkerung ausgegangen war, während der step 94 in der Phase des unerwarteten neuen Stadtwachstums entstand. In beiden Planungen hatte die Stadtentwicklung im dicht bebauten Gebiet einen hohen Stellenwert. Der Schwerpunkt wurde dabei auf die »sanfte Stadter­ neuerung« gelegt. Angesichts der wiederum wachsenden Bevölkerungs­zahl wurde im step 94 die »innere Stadterweiterung« (Nutzung von innerstädtischen Baulücken und brachliegenden, ehemaligen Industriestandorten für den Wohnbau) forciert. Gleichzeitig betonte man nunmehr aber wiederum die »äußere Stadterweiterung«, die Erschließung neuen Baulands gemäß der Achsenkonzeption für den Wohn- und Betriebsbau. Im step 84 waren insgesamt nur 1.100 Hektar Erweiterungsflächen in den nordöstlichen und südlichen Stadtrandgebieten vorgesehen gewesen, von denen 350 Hektar für den Wohnbau, etwas größere Reserven hingegen 155

peter eigner · andreas resch (750 Hektar, v. a. im Nordosten Wiens) für Betriebe ausgewiesen worden waren. Insbesondere die Flächen für den Wohnbau waren in den frühen Neunzigerjahren schon weitgehend in Anspruch genommen, sodass man im step 94 nunmehr 1.700 Hektar auf »freiem Feld« vorsah (ohne Vorhalte­gebiete), die bei einer 75-prozentigen Realisierung Raum für rund 50.000 Neubauwohnungen und 60.000 bis 90.000 Arbeitsplätze bieten sollten.138 Mitte der Neunzigerjahre mussten die Planer jedoch vorübergehend wieder einen Rückgang des Stadtwachstums zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren. Einige Erweiterungsvorhaben, etwa das ambitiöse Projekt »Marchegger Ast«, wurden damals vorläufig zurückgestellt. Die Wiener Wirtschaft stand seit den Achtzigerjahren vor der Herausforderung, ihre traditionelle Binnenmarktorientierung zu überwinden und sich im anspruchsvollen Marktsegment verstärkt der internationalen Konkurrenz zu stellen.139 Der Umbruch in Osteuropa eröffnete erfreuliche Perspektiven, zugleich trat jedoch zutage, dass Wien »mental und infrastrukturell nicht darauf vorbereitet war«.140 Erste Wellen von Einkaufs­touristen aus Ostmitteleuropa erregten den Unmut der Wiener und Wienerinnen, und bald wurde die Freude über die Veränderungen und die neuen ökonomischen Chancen von einer Ablehnung der »Fremden« und Ängsten vor der neuen Konkurrenz überdeckt. Vor allem die für das nächste Jahrzehnt projektierte Osterweiterung der eu verstärkte die Befürchtungen der Wiener Bevölkerung vor verstärkter Zuwanderung, Lohndumping, etc. Die Politik auf Bundes- und Landesebene versuchte, sich »durchzu­lavieren«  : Maßnahmen zur Restriktion der Folgen der »Ostöffnung« (vor allem gegen Zuwanderung) standen strategische Zielsetzungen gegenüber, denen zufolge sich Wien zu einem »überregionalen Transaktionszentrum«141 in Mitteleuropa entwickeln soll, angeblich auf der Grundlage traditioneller Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern in den Reformstaaten. Die Wirtschaftsförderung musste nach der »Förderungsexplosion« in den Siebzigerjahren ab den Achtzigern restrukturiert werden. Auf Bundesebene trachtete man ab 1985, das Förderungssystem effizienter und billiger zu gestalten, wobei die Erfolge dieser Bemühungen bis heute recht zwiespältig beurteilt werden.142 In Wien zentralisierte man das Förderungsangebot  ; eine breite Palette von seit 1969 schrittweise ausgebauten Förderungsmaßnahmen wurde im 1982 gegründeten Wiener Wirtschaftsförderungsfonds zusammengefasst.143 Eine der wesentlichsten Aufgaben des Fonds war es, der Wiener Wirtschaft erschlossene, baureife Betriebsgründe zur Verfügung zu stellen. Bereits in den ersten drei Jahren seines Bestehens betreute der Fonds 81 Betriebsansiedlungen, darunter 18 Neuansiedlungen, 14 Betriebserweiterungen und 49 Verlagerungen innerhalb des Wiener Stadtgebietes.144 In den Neunzigerjahren trachtete man – im Einklang mit dem ewr bzw. eu-Recht –, einen Übergang vom »Gießkannenprinzip« und von strukturkonservierenden Beihilfen zu einer Förderungspraxis, die insbesondere Anreize für innovative Investitionen bieten 156

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien soll, einzuleiten. So weisen etwa die neu gegründeten Aktionen zur Förderung von Innovationen und Technologie sowie von Qualitätssicherungs- und Produktfindung definitionsgemäß eine deutliche innovationspolitische Zielsetzung auf.145 In den Jahren 1993 bis 1997 erfolgten 217 Betriebsansiedelungen durch den Wirtschaftsförderungsfonds, 78 im Bereich des produzierenden Gewerbes, 139 im Bereich von Handel und Dienstleistungen, wodurch über 10.700 Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.146 In der Wohnungswirtschaft spiegelten sich die wechselnden Bevölkerungsprogno­ sen wider. In den Achtzigerjahren konzentrierte sich die Wohnbaupolitik auf die Revitalisierung ganzer Stadtviertel und die Modernisierung von Altbauwohnungen und vernachlässigte den Wohnungsneubau. Der geförderte Wohnbau in Wien erreichte 1988 einen Tiefststand mit nur noch rund 3.000 neu errichteten Einheiten. Angesichts des einsetzenden Bevölkerungswachstums wurde die Neubautätigkeit um 1990 wieder erheblich erhöht. Die heutige Stadtplanung muss sich sehr rasch auf wechselnde Szenarien und Prognosen einstellen. Gemäß step 94 setzte man wieder auf »innere« und »äußere« Stadterweiterung. 1994 und 1995 entstanden jeweils etwa 10.000 geförderte Neubauwohnungen, ab 1996 wurde die Bauleistung wieder etwas zurückgenommen. Im Rahmen der Stadterneuerungs- und Stadterweiterungsprojekte kam dem 1984 gegründeten Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds (wbsf) eine Schlüsselfunktion zu. Seit seiner Gründung erfolgte die Vergabe der Wohnbauförderungsmittel unter Einbindung des Fonds bei der Grundstücksbeschaffung. Der wbsf beteiligt sich an Neubauprojekten durch die Anheimstellung von Gründen, Bodenan- und -verkauf, städtebauliche Entwicklung sowie durch Gutachterverfahren. Weiters obliegt ihm die Beratung, Koordination und Kontrolle der geförderten Wohnhaussanierung. Dabei kam vor allem das Modell der Sockelsanierung zum Tragen, das heißt die Erhaltung und Verbesserung bewohnter Häuser unter aktiver Einbeziehung der Mieter. Erstreckt sich die Sanierung auf gesamte Häuserblöcke und deren Wohnumfeld, so spricht man von »Block­sanierung«. Legt die Blocksanierung in erster Linie Wert auf die Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner, so dient sie heute ferner als Instrument, der zu großräumigen Entmischung von Wohnen und Arbeiten entgegenzuwirken.147 Unter der Sicherung von gemischten Nutzungen ist insbesondere die Sanierung alter Gewerbestandorte als Abwehr gegen einen weiteren Verdrängungsprozess zu verstehen. Im österreichischen Miet- und Förderungsrecht ist in den Achtziger- und Neunzigerjahren die »Vermarktwirtschaftlichung«148 des Wohnungswesens weiter vorangeschritten. Entscheidende Maßnahmen in diese Richtung waren zum Beispiel die weitgehende Freigabe des Mietzinses für neu vermietete Kategorie-A-Wohnungen149 in den Achtzigerjahren oder die Einführung von Richtwertmietzinsen in den 157

peter eigner · andreas resch Neunzigerjahren. Damit wurde es für Immobilienbesitzer ökonomisch attraktiver, den Standard ihres Wohnungsangebots zu verbessern, weil sie dadurch wesentlich höhere Mieten erzielen konnten. Insgesamt wurde somit bis zum Ende der Achtzigerjahre das Ausstattungsniveau der großen Anzahl gründerzeitlicher Wohnungen in Wien bedeutend angehoben. Während 1951 nur 14 Prozent der Wiener Wohnungen mit einem Bad ausgestattet waren, erhöhte sich dieser Anteil bis 1991 auf 81 Prozent. Der Anteil der Wohnungen ohne Wasserentnahme ist von 54,5 auf 3,7 Prozent zurückgegangen. Für einigermaßen zahlungskräftige Nachfrager hat sich in den vergangenen Jahren das Wohnungsangebot verbessert. Hingegen ist das ehemalige Billig-Segment schlecht ausgestatteter Wohnungen (Kategorie D) weitgehend vom Markt verschwunden, wodurch sich unter zahlungsschwachen Sozialgruppen, den Trägern der sogenannten »neuen Armut«, seit den Achtzigerjahren eine »neue Wohnungsnot«150 verbreitet hat. Diese Entwicklung spiegelt sich beispielsweise in der Zahl der in städtischen Asylen nächtigenden Personen wider, die von etwa 1.000 im Jahr 1980 auf rund 2.000 Mitte der Neunzigerjahre angestiegen ist.151 Auch die Inanspruchnahme anderer Einrichtungen für Wohnungslose (z. B. Herbergen der Heilsarmee) hat in einem vergleichbaren Ausmaß zugenommen. Kehrseite der urbanen Dynamisierung war der Abbau der bis dahin relativ starken sozialen Kohärenz und der Anstieg ökonomischer Disparitäten.152 In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre leben in Wien etwa 5.000 wohnungslose Personen, der überwiegende Teil in den genannten Unterbringungseinrichtungen oder deren sozialem Umfeld. Etwa tausend Menschen, andere Schätzungen gingen von höheren Zahlen aus, stand nicht einmal ein Bett in einem beheizbaren Raum zur Verfügung. Im Jahr 1998 arbeitete man im Rathaus an einem Stufenplan mit der Zielsetzung, »obdachlos gewordene Menschen wieder zu integrieren«, in der jüngeren Vergangenheit ist mit der Zuwanderung Wohnungsloser aus anderen eu-Staaten eine neue Gruppe Hilfsbedürftiger entstanden.153 Der Ausbau der technischen Infrastruktur hatte in den Achtziger- und Neunzigerjahren weiterhin einen hohen Stellenwert. 1980 und 1994 wurden neue Verkehrskonzepte für Wien erstellt. 1985 wurde der Verkehrsverbund Ostregion ins Leben gerufen. Auch im Bereich der Verkehrsplanung waren in den Neunzigerjahren Anpassungen an das neue Wachstum und an Szenarien erheblich zunehmenden Pendler- und Transitverkehrs erforderlich. Die Stadtplaner legten sich programmatisch fest, trotz dieser Herausforderungen eine Reduktion der Schadstoffemission und Lärmbelastungen, eine Erhöhung der Verkehrssicherheit und eine Rückgewinnung von öffentlichen Räumen erreichen zu wollen. Die Umsetzung dieser Ziele gelang jedoch nur teilweise. Der U-Bahn-Ausbau wurde konsequent fortgesetzt. Bis 1982 wurde das gesamte Grundnetz, bestehend aus den Linien U1, U2 und U4, fertig gestellt. Ab 1983 nahm man die zweite Ausbaustufe des U-Bahn-Netzes in Angriff 158

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien (U3, U6). Bis zur Jahrtausendwende war (wie bereits im step 84 geplant) ein UBahn-Netz mit rund 62 Kilometer Streckenlänge und 75 Stationen vorgesehen, das im frühen 21. Jahrhundert noch erheblich erweitert wurde. Nicht zuletzt infolge des U-Bahn-Baus trat eine deutliche Trendwende in der Entwicklung der Fahrgastzahlen der Wiener Verkehrsbetriebe ein. Diese stiegen nach der stagnativen Periode in den Siebzigerjahren von 443 Millionen (1980) um die Hälfte auf 669 Millionen im Jahr 1994 an.154 Die seit den Achtzigerjahren durchgeführten »Beschleunigungsprogramme« für Busse und Straßenbahnen erbrachten hingegen vielfach nicht die gewünschte Wirkung, da die dafür notwendigen Einschränkungen des Autoverkehrs nicht durchgesetzt wurden. Die Maßnahmen beschränkten sich oft eher darauf, einen einigermaßen regelmäßigen Fahrbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können.155 Die öbb nahmen im Jahr 1987 auf der Schnellbahnstrecke Heiligenstadt – Hütteldorf (Trasse der ehemaligen Vorortelinie) den Fahrbetrieb auf, und die Kapazitäten für überregionale Transportleistungen konnten durch den 1984 eröffneten Zentralverschiebebahnhof in Kledering ausgeweitet werden. Die lange diskutierten Pläne einer grundlegenden Restrukturierung des auf mehrere Kopfbahnhöfe ausgerichteten und daher schlecht miteinander verbundenen Eisenbahnverkehrs in Wien mussten wegen technischer, räumlicher und finanzieller Hindernisse aufgegeben werden. Die Entscheidung für die Errichtung eines neuen Zent­ralbahnhofs fällt nicht mehr in den Untersuchungszeitraum. Bereits davor wurden die Arbeiten an einem Tunnel auf dem Areal des Lainzer Tiergartens aufgenommen. Die Ostöffnung führte vor Augen, dass insbesondere eine Verbesserung der Verkehrseinbindung von Österreichs Nachbarn, der Tschechischen und der Slowakischen Republik sowie Ungarns, ein dringendes Desiderat darstellt. Im Bereich des Schnellbahnnetzes standen als vordringliche Projekte noch der Ausbau der S80 und eine attraktivere Gestaltung der S7 (Flughafenschnellbahn) auf dem Programm. Das hochrangige Straßennetz wurde nach und nach – überwiegend den aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammenden Planungen folgend – vervollständigt, allerdings deutlich langsamer als vorgesehen.156 Ab 1982 standen die Brigittenauer Brücke (von der böse Zungen behaupten, sie führe von Floridsdorf kommend ins Nichts, weil die entsprechenden Anschlüsse in der Brigittenau fehlen) und die Außenringautobahn Vösendorf – Steinhäusl dem Verkehr zur Verfügung, 1983 wurde die Ostautobahn (Südosttangente – Flughafen Schwechat) eröffnet, und bis 1989 wurde die Donauuferautobahn fertiggestellt. In den Neunzigerjahren folgten u. a. noch der Ausbau der äußeren Triester Straße sowie der Südosttangente ab Kaisermühlen und der Wiener Nordrandstraße. Aktuelle Straßenbauprojekte betrafen in den Neunzigerjahren zum Beispiel die Verbreiterung der A23 im Bereich des Praters und die Errichtung eines elektronischen Fahrstreifenmanagements. All diese Baumaßnahmen bedürfen intensiver Kooperation zwischen Wien, dem Land Niederös159

peter eigner · andreas resch terreich, den betroffenen Wiener Bezirken, niederösterreichischen Gemeinden und dem Bund. Die Verkehrsplaner stehen heute vor einem weiteren Dilemma  : Verlangt der Verkehrskollaps auf einigen Straßen nach weiteren Straßenbauten, so weiß man heute, dass neue Straßen noch mehr Verkehr anziehen  ; nicht anders ist es mit dem Problem der Parkplätze. Obwohl die Angebote des öffentlichen Nahverkehrs wiederum intensiver genutzt wurden, setzte sich der Zuwachs des Autoverkehrs unvermindert fort. Zusätzliche Maßnahmen zur Begrenzung der negativen Effekte dieser Entwicklung konnten nur in Ansätzen, zum Teil gegen großen Widerstand, umgesetzt werden. Man versuchte, wo möglich, die Verkehrsarten zu trennen. In diesem Zusammenhang sind die bereits erwähnten Beschleunigungsmaßnahmen für den öffentlichen Verkehr zu nennen, die häufig auf die Schaffung eigener Fahrspuren für Bus oder Straßenbahn abzielten. Zur Verkehrsberuhigung wurden Schwellen und sogenannte »Ohrwascheln« errichtet. Weiters erfolgte seit 1984 der Bau eines umfangreichen Radweg­netzes. In der Praxis mussten bei diesen Maßnahmen jedoch häufig für alle Beteiligte unbefriedigende Kompromisslösungen realisiert werden. 1987 schuf man die verkehrs­beruhigte Zone Brigittaplatz, und ab 1989 begann die Stadt mit der Errichtung von Tempo-30-Zonen in Wohngebieten. 1992 wurde die erste Park & Ride-Anlage Wiens eröffnet (Erdberg), der eine Reihe weiterer Parkhäuser folgte. Der verheerenden Parkplatzsituation insbesondere in den Innenbezirken versuchte man mit den Mitteln der Parkraumbewirtschaftung, der Einführung des sogenannten »Parkpickerls«, entgegenzuwirken. Die Parkplatznot konnte für die Anrainer in vielen Fällen etwas gemildert werden. Eine Reihe von Faktoren, wie sich verschärfende Umweltprobleme und Kapazitätsengpässe in den Infrastrukturnetzen, nicht zuletzt die geänderten Rahmenbedingungen durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs, führten 1994 (Verkehrskonzept 1994) zu einer Neuorientierung der Wiener Verkehrspolitik, die sich v. a. eine spürbare Verringerung des Kfz-Verkehrs zum Ziel setzte.157 Die Konzeptionen der Ver- und Entsorgungseinrichtungen für die Stadt versuchte man dem rezenten Entwicklungsstand anzupassen. So war im step 94 nicht mehr von Müllabfuhr, sondern von »Abfallwirtschaft« die Rede. Der Schwerpunkt der Aufgaben­stellung verschob sich von der Entsorgung zur Kreislaufwirtschaft mit getrennter Sammlung und nachfolgender Verwertung. Darunter fällt auch die »thermische Verwertung«, das heißt, dass die Abwärme von Müllverbrennungsanlagen nicht einfach verpufft, sondern einer Nutzung zugeführt wird. In diesem Sinne wurde die in den Sechzigerjahren errichtete Müllverbrennungsanlage Flötzersteig modernisiert und 1984 von der Stadt Wien an die Fernwärme GmbH übertragen. Die 1971 fertiggestellte Müllverbrennungsanlage Spittelau (mit ange­schlossenem Fernheizwerk) ging bereits 1969 in den Besitz der Heizbetriebe Wien GmbH über. 160

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Nach einem Brand im Mai 1987 wurde sie grundlegend saniert und seither ihre technische Ausstattung weiter verbessert. Anfang der Neunzigerjahre erfolgte in umstrittener Weise die Neugestaltung ihres äußeren Erscheinungsbildes durch Friedensreich Hundertwasser. 1978 bis 1980 entstanden – insbesondere zur Beseitigung von Klärschlamm – die Entsorgungsbetriebe Simmering (EbS). Schlacken­rückstände aus der Müllverbrennung sowie nichtbrennbare Bestandteile werden auf der Deponie Rautenweg gelagert. Bereits seit den Fünfzigerjahren laufen auch Versuche, Teile des Mülls zu verkompostieren. Als Nachfolgeeinrichtung für die bis 1981 bestehende »Biomüllanlage« entstand in den Achtzigerjahren das »Rinter-Zelt«, das sich jedoch weitgehend als Fehlschlag erwies.158 Die Abwärmenutzung wurde auch bei den thermischen Kraftwerken weiter ausgebaut. Zum Beispiel begann man 1980 mit der Fernwärmelieferung aus dem Simmeringer Kraftwerk in das Fernwärmenetz. 1992 wurde in Simmering der neue Kraftwerksblock iii fertiggestellt. Zur Verbesserung der Stromversorgung wurde das Leitungsnetz weiter ausgebaut. Um sich an der Nutzung der Energie des Donaustroms zu beteiligen, schloss die Wiener Elektrizitätswirtschaft im Jahr 1982 eine Vereinbarung mit der Verbundgesellschaft, betreffend eine Beteiligung an künftigen Donaukraftwerken. In den folgenden Jahren setzten Umweltaktivistinnen und -aktivisten durch, dass das Kraftwerk Hainburg in Niederösterreich nicht errichtet wurde. Seit 1992 wurde jedoch am – ebenfalls nicht unumstrittenen – Wiener Donaukraftwerk Freudenau gebaut, das ab Oktober 1997 sukzessive in Betrieb ging. Bereits 1990 wurde die Donauinsel mit zwei Donauarmen fertiggestellt, die neben ihrer Funktion als Hochwasserschutz schon seit den Achtzigerjahren auch der Nutzung als Freizeitareal diente. Die umfangreichen Baggerarbeiten dauerten bis in das Jahr 1987, erste Teile der Donauinsel konnten ab 1981 benützt werden, die Widmung als »Erholungsgebiet« erfolgte 1983. Weitere Erholungs- beziehungsweise Landschafts­schutzgebiete entstanden am Wienerberg sowie in Liesing, Döbling und im Prater. Bereits diskutiert wurden spektakuläre (Zukunfts-)Projekte wie die Verschönerung der Ufer des Donaukanals bzw. der Rückbau des zubetonierten Wienflusses zu einem Natur- und Freizeitareal.

5. Strukturwandel und Entwicklungstendenzen der Wiener Wirtschaft In einem weiteren Schritt wird nun der Versuch unternommen, vor dem Hintergrund der zuvor ausgeführten Entwicklungslinien den Veränderungen der Berufsund Beschäftigtenstruktur sowie einzelner Wirtschaftssektoren bzw. Branchen detaillierter nachzugehen. 161

peter eigner · andreas resch 5.1 Veränderungen der Berufs- und Beschäftigtenstruktur Parallel zu den Umschichtungen zwischen den Wirtschaftssektoren änderten sich die Berufs- bzw. die Beschäftigtenstruktur nach der sozialen Stellung, und zwar gravierend.159 Langfristig charakteristisch für die Wiener Wirtschaft und relativ deutlich auf ihren Strukturwan­del verweisend, können folgende branchen- und sektorenübergreifende Tendenzen und Merkmale herausgestrichen werden  : – geringfügiges Betriebsgrößenwachstum, – rückläufiger Selbstständigen- und stark steigender Angestelltenanteil, – Zunahme der Frauenerwerbsquote und – fast völliges Verschwinden der Heimarbeit. Beginnen wir beim letzten Punkt, weil sich in diesem Bereich seit den Neunzigerjahren wieder einige Änderungen abzuzeichnen scheinen. Während die traditionelle Heimarbeit, etwa im Bekleidungssektor, nach 1945 nahezu verschwunden ist, gewinnt durch die zunehmende Flexibili­sierung der Arbeitswelt – und überhaupt erst durch die zunehmende Technisierung ermöglicht – eine neue Kategorie von Heimarbeitsplätzen an Bedeutung. Diese Heimarbeit wird in erster Linie von hoch qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor allem im Bereich der Bildschirmarbeit ausgeübt werden. Inwieweit diese Entwicklung auch auf Billiglohnbranchen übergreifen wird, lässt sich noch nicht absehen. Den Vorteilen einer freieren Zeiteinteilung und größeren Selbstbestimmung steht bei diesen Arbeitsplätzen der Verlust an sozialen Kontakten gegenüber. Das Strukturmerkmal Betriebsgrößenentwicklung zeigt deutlich, dass es sich bei der Wiener Stadtökonomie weiterhin um eine klein- und mittelbetrieblich strukturierte Wirtschaft handelt. Größere Anteilsverschiebungen konzentrierten sich auf die Arbeits­stätten mit bis zu 19 Beschäftigten. Kleinstbetriebe mit nur einer selbstständigen Person verzeichneten seit 1964 (dem frühestmöglichen Vergleichszeitpunkt) die größten Anteilsverluste, im letzten Jahrzehnt (1981–1991) wuchs dieses Segment – aufgrund der Forcierung der sogenannten »neuen Selbstständigen« – jedoch wieder kräftig an. Vergrößert haben sich zwischen 1964 und 1991 die Anteile der Arbeitsstätten mit 1–4 bzw. jene mit 5–19 unselbstständig Beschäftigten. Äußerst geringfügige Anteilsgewinne gegenüber dem Ausgangspunkt 1964 verzeichneten – mit Ausnahme der Wiener Großbetriebe über 500 Beschäftigte, deren Anteil gleich blieb – auch die anderen Kategorien. Sowohl der Dienstleistungssektor wie der industriell-gewerbliche Bereich erfuhren zwischen 1964 und 1973 eine deutliche Beschäftigtenkonzentration, bis 1981 war diese Bewegung wieder rückläufig, in den Achtzigerjahren zeigte sich eine neuerli162

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien che (leichte) Konzentrationstendenz. Aus dem Vergleich der Arbeitsstätten im Sekundärsektor zwischen 1964 und 1973 (die Arbeitsstätten gingen um ein Drittel, die Beschäftigtenzahlen um ein Viertel zurück) lässt sich vorsichtig der Schluss ziehen, dass der Deindustrialisierung ein Prozess der »Entgewerblichung« voranging.160 Die einzelnen Branchen/Wirtschaftsklassen zeigten dabei höchst unterschiedliche Verlaufsmuster. So war und ist die elektrotechnische Industrie vorwiegend großbetrieblich organisiert, die Bekleidungsindustrie wiederum ist das genaue Gegenteil, auch unter den Dienstleistungsbereichen differieren die durchschnittlichen Betriebsgrößen beträchtlich. Tabelle 4  : Größenstruktur der Wiener Arbeitsstätten 1964–1991 Arbeitsstätten Jahr

Beschäftigte

Davon mit … unselbstständig Beschäftigten

insge­ samt

0

1 bis 4

5 bis 19

20 bis 99

100 bis 499

500 u. mehr

insge­ samt

davon selbst­ ständig

unselbst­ ständig

1964

66.719

20.928

28.701

12.332

3.856

781

121

668.121

79.875

588.246

1973

66.958

16.364

31.041

13.907

4.514

980

152

769.225

56.489

712.736

1981

66.127

15.930

31.329

13.714

4.091

933

130

710.269

45.890

664.379

1991

70.979

18.301

32.795

14.522

4.293

926

142

744.449

43.443

701.006

Angaben in Prozent 1964

31,3

43,0

18,5

5,8

1,2

0,2

1973

24,4

46,4

20,8

6,7

1,5

0,2

1981

24,1

47,4

20,7

6,2

1,4

0,2

1991

25,8

46,2

20,5

6,0

1,3

0,2

Quelle  : Statistik Austria, Arbeitsstättenzählungen.

Die Veränderungen in der Betriebsgrößenstruktur verweisen auf ein weiteres Merk­ mal des Strukturwandels, sie hängen eng mit der Verschiebung der Proportionen zwischen Selbstständigen und Unselbstständigen zusammen. Wie heftig der Wandel verlief, zeigt sich darin, dass sich zwischen 1951 und 1991 die Zahl der Selbststän­ digen von 110.824 auf 54.290 halbierte. Die Abnahme der Selbstständigenzahl war in erster Linie auf die Verdrängung zahlreicher kleiner Gewerbebetriebe (z. B.: Schneider, Schuster) und Kleinverkaufsstellen (z. B.: Greißler, Fleischhauer, Gemüsehändler) zurück­zuführen. Die Kleinverkaufsstellen gingen zwischen 1964 und 1991 von 8.754 auf 3.972 zurück, wobei diesem Rückgang ein Anstieg der Einzelhandelsgeschäfte mit größeren Verkaufsflächen und mehr Beschäftigten gegenübersteht. Noch drastischer verlief die Schrumpfung der Kleinstbetriebe mit einem Selbstständigen im Gewerbe (1964  : 5.938  ; 1991  : 1.567). 163

peter eigner · andreas resch Eine weitere Strukturverschiebung zeichnete sich in der Proportion zwischen Arbei­tern und Angestellten ab. Der enorme Zuwachs an Angestellten und Beamten ist einerseits eine Folge der Tertiärisierung der Gesellschaft, der durch den technisch-organisatorischen Wandel bedingten Verschiebung von Tätigkeiten in der Produktion hin zu Dienstleistungen. Andererseits war aufgrund der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen eine Tendenz etlicher Berufsgruppen zu beobachten, vom Arbeiterstatus in das Angestelltenverhältnis überzuwechseln. Die Zahl der Angestellten und Beamten hat sich seit 1948 kontinuierlich erhöht.161 1948 gab es noch annähernd doppelt so viele Arbeiter wie Angestellte und Beamte (397.000 gegenüber 206.800 – ohne Arbeits­lose). Bis 1960 stiegen beide Kategorien an, die Arbeiterzahl erreichte mit über 421.000 1960 ihren Höhepunkt, die Zahl der Angestellten und Beamten verzeichnete ein noch schnelleres Wachstum und belief sich 1960 auf 339.600. In den Sechzigerjahren näherte sich die Zahl der Angestellten und Beamten der Arbeiterzahl an, um sie bis zum Ende des Jahrzehnts deutlich zu übertreffen. 1970 wurden 346.900 Arbeiter ermittelt, denen 384.4000 Angestellte und Beamte gegenüberstanden. Am Endpunkt war eine Umkehrung der Verhältnisse des Aus­gangspunktes zu konsta­tieren, die Zahl der Angestellten und Beamten lag 1994 mit 524.069 doppelt so hoch wie jene der Arbeiter (263.975). In einem engen Zusammenhang mit diesem Wandel sind auch die Veränderungen in der Berufsstruktur zu sehen.162 Traditionelle Gewerbe- und Arbeiterberufe sind zahlenmäßig stark zurückgegangen, typische Angestellten- bzw. Beamtenberufe haben hingegen deutlich zugenommen. Die folgende Tabelle gibt nur einen kleinen Ausschnitt dieser Veränderungen wieder. Tabelle 5  : Ausgewählte Beispiele für die Veränderung der Berufsstruktur Beruf Schlosser

Anzahl 1991

1995

21.331

11.503

Tischler

12.935

 6.750

Schneider

21.421

 4.268

Bäcker

 9.207

 4.344

medizinische Fachkräfte

13.615

22.689

technisch-naturwissenschaftliche Fachkräfte

25.066

43.429

Lehrer/Erzieher

14.894

32.040

Quelle  : Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 49.

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen einzelnen Berufen haben sich teilweise abgeschwächt, der gesell­schaftliche Wandel wird aber eher langsam spürbar. Bei Berufen mit hohem Sozialprestige (z. B.: Richter, Rechts- und Staatsanwälte, 164

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Hochschulangestellte) ist der Frauenanteil gering, wenn auch im Anwachsen begriffen. Deutlichere Spuren eines Emanzipations­prozesses lassen sich im höheren Gesundheits- und Ausbildungs­wesen feststellen. Bei den Handwerksberufen hängt der Frauenanteil von der physischen Beanspruchung ab, die mit der Berufs­aus­übung verknüpft ist. Während bei Maurern, Schlossern oder Kraftfahrzeug­mechani­kern der Prozentsatz von Frauen kaum angestiegen ist, hat der Frauenanteil zum Beispiel unter den UhrmacherInnen deutlich zugenommen. Relativ geringe Frauen­anteile in technischen Berufen verweisen allerdings noch stark auf einen Aufholbedarf. Die Zunahme der Frauenerwerbsquote kann als ein weiteres Strukturmerkmal der Wiener Wirtschaft nach 1945 ausgemacht werden. Der deutliche Anstieg der Zahl der unselbstständig Beschäftigten in den Fünfzigerjahren verdankte sich vor allem der starken Zunahme der Berufstätigkeit der Frauen, die ihren Anteil an den Berufstätigen von 39,7 Prozent 1951 auf 44,3 Prozent 1961 zu steigern vermochten. Seit den Sechzigerjahren stieg die Berufstätigkeit der Frauen nur mehr geringfügig auf einen Anteil von 45,7 Prozent im Jahr 1991. Ihre Erwerbsquote betrug 49,1 Prozent. Mit zunehmender Anspannung des Arbeitsmarktes – Parallelität konjunkturbedingter Beschäftigungszunahme und stagnierender oder anwachsender Arbeitslosigkeit – zählen neben älteren Erwerbstätigen aber insbesondere Frauen zu den größten Risikogruppen. Arbeitslosigkeit wurde und wird von der österreichischen Bevölkerung in den meisten Meinungs­umfragen als die größte Bedrohung angesehen. Etliche Experten gehen für die nächste Zukunft von einer Sockelarbeitslosigkeit aus, mit der nicht nur Stadtwirt­schaften konfrontiert werden. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes zeigt, dass man es mit mehreren bedenklichen Segmentierungen zu tun hat. Eine Trennlinie verläuft zwischen jüngeren und älteren ArbeitnehmerInnen (unter bzw. über Vierzigjährige), eine weitere zwischen Frauen und Männern, auch AusländerInnen sind stärker von Arbeitslosigkeit bedroht als InländerInnen. Dazu kommt, dass die Arbeitslosigkeit der Altersgruppe über fünfzig Jahre erst seit den Neunzigerjahren so richtig zum Ausdruck kommt, da sie in den Achtzigerjahren durch die Möglichkeit der Frühpensionierung niedrig gehalten werden konnte. Im Gegensatz zu den Frauen verringerte sich die Erwerbsquote der Wiener Männer von 80,7 (1951) auf 69,6 Prozent (1991), eine Folge des immer früheren Pensionsantritts.163 Noch deutlicher wird diese Tendenz bei einer Gegen­überstellung der Erwerbsquoten der über sechzigjährigen Männer, die von 41,2 (1951) auf 6,6 Prozent (1991) gesunken ist. Eine relativ hoffnungslose Situation finden insbesondere Langzeitarbeitslose vor, auch weil sich unter ihnen ein immer höherer Anteil älterer Arbeitskräfte befindet. Hohe Arbeitslosenquoten finden sich vor allem in der Industrie und im Bauwesen, im Bereich der Dienstleistungen weist die Wirtschaftsabteilung Handel und Lagerung ein konstant hohes Arbeitslosenniveau auf, weiters auch das Beherbergungswesen. 165

peter eigner · andreas resch Zuletzt sei hier eine weitere Strukturveränderung innerhalb der Wiener Bevölkerung angeführt, die Verbesserung des Bildungsniveaus. Bessere Ausbildung und Qualifikation zählen unabdingbar zu jenen Faktoren, die für die Weiterentwicklung der Wiener Wirtschaft und des Arbeitsmarktes als von zentraler Bedeutung herausgestrichen werden. Die Reformen im Bildungsbereich haben seit den Siebziger- und Achtzigerjahren zu einer deutlichen Erhöhung des Bildungsniveaus beigetragen. Fast 23 Prozent der Wiener Wohnbevölkerung über 15 Jahre hatten 1991 als höchste abgeschlos­sene Ausbildung die Matura abgelegt (1971  : 13,6 Prozent), der Anteil der AbsolventInnen einer Hochschule bzw. verwandten Lehranstalt verdoppelte sich zwischen 1971 und 1991 von vier auf 8,1 Prozent.164 Über 42 Prozent verfügten 1991 über einen Fachschul- bzw. Lehrabschluss, der Anteil jener, die nach der Pflichtschule keine weitere Ausbildung absolvierten, lag 1991 bei rund 35 Prozent (1971  : 46,3 Prozent). Als Erfolg kann weiters gewertet werden, dass das Bildungsgefälle zwischen Frauen und Männern seit den Achtzigerjahren fast völlig abgebaut werden konnte. Bessere Ausbildung bedeutet allerdings nicht nur bessere schulische Bildung. Die Entwick­lung der Arbeitsmarktsituation zeigt, dass insbesondere auf dem Sektor der Weiter- und Fortbildung sowie im Bereich der Umschulungen Maßnahmen gesetzt werden müssen, um einer steigenden Arbeitslosigkeit Einhalt zu gebieten.

5.2 Deindustrialisierung und Tertiärisierung  : Zur Entwicklung der Sektoren und Branchen Ehe auf einzelne Wirtschaftsabteilungen und -klassen detaillierter eingegangen wird, sei anhand zweier Tabellen ein knapper Überblick über die Entwicklung der Gesamt­struktur der Wiener Wirtschaft gegeben. Zuerst erfolgt eine Angabe der Anteile einzelner Wirtschaftsabteilungen an der Gesamtheit der unselbstständig Beschäftigten im Zeitablauf  : Tabelle 6 zeigt die Tertiärisierung der Wiener Wirtschaft, die in den Sechzigerjahren erstmals stark zum Tragen kam, sehr deutlich. Schrumpfenden Beschäf­ tigtenzahlen und Anteilen im produzierenden Sektor stehen deutliche Zuwächse unter den Dienstleistungen gegenüber, wobei einige Wirtschaftsabteilungen überproportional gewachsen sind. Laut den Arbeitsstättenzählungen hat sich der Anteil der unselbstständig Beschäftigten im Bereich Geld- und Kreditwesen, Privat­ versicherungen, Wirtschaftsdienste von 1959 bis 1991 nahezu verdreifacht und im Bereich der persönlichen und öffentlichen Dienste beinahe verdoppelt. Auch in der tabellarischen Zusammenschau der Anteile der einzelnen Wirtschafts­ zweige am Wiener Bruttoregionalprodukt kommt der Strukturwandel deutlich zum Ausdruck  (Tabelle 7). 166

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien

Tabelle 6  : Unselbstständig Beschäftigte nach Wirtschaftsabteilungen (exklusive Landwirtschaft) 1959

1973

1981

1991

662.744

712.736

664.379

701.052

Bergbau, Steine und Erdengewinnung (1959 nur Bergbau)

939 (0,1 %)

2.288 (0,3 %)

2.690 (0,4 %)

10 (0,0 %)

Energie- und Wasserversorgung

7.383 (1,1 %)

7.094 (1,0 %)

7.885 (1,2 %)

4.957 (0,7 %)

288.949 (43,6 %)

225.525 (31,6 %)

181.790 (27,4 %)

130.858 (18,7 %)

58.425 (8,8 %)

49.203 (6,9 %)

44.948 (6,8 %)

47.195 (6,7 %)

112.455 (17,0 %)

130.861 (18,4 %)

122.316 (18,4 %)

126.509 (18,0 %)

Beherbergungs- und Gaststättenwesen

15.175 (2,3 %)

17.644 (2,5 %)

20.757 (3,1 %)

27.178 (3,9 %)

Verkehr, Nachrichtenübermittlung

41.682 (6,3 %)

59.122 (8,2 %)

50.291 (7,6 %)

57.184 (8,2 %)

Geld- und Kreditwesen, Privatver­sicherungen, Wirtschaftsdienste

36.472 (5,5 %)

55.914 (7,8 %)

66.855 (10,1 %)

104.879 (15,0 %)

101.264 (15,3 %)

165.085 (23,2 %)

166.847 (25,1 %)

202.282 (28,9 %)

Zusammen darunter  :

Verarbeitendes Gewerbe, Industrie (1959 einschl. Steine- und Erdengewinnung) Bauwesen Handel, Lagerung (1959 Handel, Vermittlung, Werbewesen)

Persönliche und öffentliche Dienste, Haushaltung (1959 ohne ­Haushaltung)

Quelle  : Arbeitsstättenzählungen 1959, 1973, 1981 und 1991.

Tabelle 7  : Das Wiener Bruttoregionalprodukt nach Wirtschaftszweigen (in Mio. Schilling zu laufenden Preisen) 1968

1980

1994

92.981

267.656

620.745

442 (0,5 %)

973 (0,4 %)

1.356 (0,2 %)

27.831 (29,9 %)

65.553 (24,5 %)

89.271 (14,4 %)

Energie- und Wasserversorgung

1.807 (1,9 %)

5.524 (2,1 %)

15.953 (2,6 %)

Bauwesen

6.887 (7,4 %)

19.367 (7,2 %)

37.171 (6,0 %)

20.898 (22,5 %)

54.848 (20,5 %)

112.584 (18,1 %)

6.128 (6,6 %9

16.555 (6,2 %)

34.463 (5,6 %)

Bruttoregionalprodukt (nominell) darunter  : Land und Forstwirtschaft Bergbau, Industrie u. verarbeitendes Gewerbe

Handel, Beherbergungs- und Gaststättenwesen Verkehr u. Nachrichtenübermittlung

167

peter eigner · andreas resch

1968

1980

1994

Vermögensverwaltung u. sonstige Dienste (inkl. Kredit- u. Versicherungswesen, Realitätenwesen, …)

18.246 (19,6 %)

61.122 (22,8 %)

222.710 (35,9 %)

öffentliche Dienste

10.742 (11,6 %)

40.509 (15,1 %)

94.445 (15,2 %)

/

3.205 (1,2 %)

12.793 (2,1 %)

andere Wertschöpfung (1980  : »Sonstige Produzenten«, 1994  : Private Dienste ohne Erwerbscharakter)

Quelle  : WIFO-Daten nach  : Statistisches Jahrbuch der Gemeinde Wien 1975, 174  ; 1985, 201 und 1997, 171.

Aus der Tabelle geht das überproportionale Wachstum der wirtschaftsnahen Dienst­ leistungen hervor. Die einschlägigen Wirtschaftszweige konnten von 1968 bis 1994 ihren Anteil an der Wiener Bruttowertschöpfung um mehr als 16 Prozentpunkte auf 35,9 Prozent ausweiten, während Industrie, verarbeitendes Gewerbe (und Bergbau) um 15,5 Prozentpunkte auf nur noch 14,4 Prozent zurückfielen. Eine deutliche Bedeutungssteigerung weist ferner der öffentliche Dienst auf. Der landwirtschaft­lichen Produktion kam – was in einer Großstadt nicht zu überraschen vermag – in quantitativer Hinsicht stets nur eine marginale Rolle zu. 5.2.1 Primärsektor In Wien entfällt – so wie in Stadtwirtschaften im Allgemeinen – nur ein sehr geringer Anteil der regionalen Wertschöpfung und Beschäftigung auf die Landwirtschaft. Trotzdem stellt sie in mancherlei Hinsicht doch eine Besonderheit dar. Jedes nur mögliche Stück Land nutzbar zu machen, um zu Essbarem zu gelangen, war die aus der Not geborene Überlebensstrategie der Wiener Bevölkerung nach 1945, die sich bereits 1918 hatte bewähren müssen. Doch selbst nach der Überwindung dieser Ausnahmesituation seit den Fünfzigerjahren wies Wien eine größere Ackerfläche als Vorarlberg auf. Unter den Ernteergebnissen ragte in der unmittelbaren Nachkriegs­ zeit vor allem der Anbau von Hackfrüchten, insbesondere von Kartoffeln, Zuckerbzw. Futterrüben, heraus. Bis in die Gegenwart haben nur Zuckerrüben diese dominante Position unter den Ernteergebnissen behaupten können. Heute sind vor allem der Gemüsebau, Glashäuser und der Weinbau von größerer Bedeutung. In den letzten Jahrzehnten – mit einer deutlichen Steigerung in den letzten Jahren – ist insbesondere der landwirtschaftliche Feldgemüseanbau intensiviert worden. Glas­ hausgurken, unter Glas und Folie gezüchtete Paradeiser und Häuptelsalat sind hier vorrangig zu nennen. Die Zahl der in Land- und Forstwirtschaft Berufstätigen Wiens belief sich 1951 auf über 11.200, ging bis 1981 kontinuierlich (auf rund 5.200) zurück und stieg bis 1991 wieder auf 6.400 Berufstätige an. Was die Größenstruktur der Wiener 168

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Land- und Forstwirtschaft (nach der Kulturfläche in Hektar) betrifft, kann von einer be­merkens­werten Kontinuität ausgegangen werden. Der Großteil der Betriebe verfügt(e) über weniger als fünf Hektar Kulturfläche. Bei der land- und forstwirtschaftlichen Betriebszählung des Jahres 1990 wurden 1.281 Betriebe ermittelt, 1.002 Betriebe verfügten über weniger als fünf Hektar Kulturfläche, 432 davon wiesen sogar weniger als einen Hektar Kulturfläche auf. Auf die Größenklassen hundert bis unter 200 bzw. 200 und mehr Hektar Kulturfläche entfielen je zwölf Betriebe. Unter den 1.237 Betrieben natürlicher Personen waren 43 Prozent Vollerwerbsbetriebe. 1995 ergab die land- und forst­wirtschaftliche Betriebszählung 1.163 Betriebe, die eine Fläche von 29.450 Hektar bewirtschafteten.165 Eine über Wien hinausgehende Bedeutung weist der Weinbau auf. Die emotionale Beziehung Wiens und seiner BewohnerInnen zum Wein kommt beispielsweise in zahlreichen Wienerliedern zum Ausdruck. Dass sich auf Wiener Stadtgebiet Wein­ gärten befinden ist schon eine Rarität  ; dass die Gemeinde über ein eigenes Weingut verfügt, dürfte einzigartig sein. Die Wiener Weinanbauflächen (rund 700 Hektar im Jahr 1996166) konzentrieren sich auf die Bezirke xviii, xix und xxi. In die vorwiegend klein­betriebliche Struktur mischen sich zwei große Anbieter, die Klosterneuburger Chor­herren und das Weingut der Stadt Wien. Unter den Rebsorten ragen die Weißweine hervor  ; am wichtigsten, was die Anteile an der Wiener Rebfläche betrifft, ist der Grüne Veltliner, die typische Rebsorte Ostösterreichs, gefolgt von den Sorten Gemischter Satz, Rheinriesling und Weißburgunder. Die Ernte 1996 erbrachte 1.324.707 Liter Weißwein und 290.001 Liter Rotwein. Eine bessere Vermarktung (etwa unter der 1994 gegründeten Marke »Vienna Classic«), eine neue qualitäts­ bewusste Generation von KonsumentInnen und WinzerInnen, eine intensivierte Zusammen­arbeit unter ihnen sowie generell der Trend zum guten Glas Wein kamen dem Wiener Wein zugute. Für große Teile der Wiener Bevölkerung, aber auch der Wien-Touristen gehört ein Besuch beim Heurigen zur Tradition. 1996 wurden 219 Buschenschankbetriebe gezählt. Die Heurigenorte, die mehr touristischen wie Grinzing, Neustift am Walde, Heiligenstadt oder Nußdorf und die eher unbekannte­n wie Stammersdorf oder Strebersdorf, die sich großteils ihren dörflichen Charakter bewahren konnten, zählen zu den beliebtesten Wiener Ausflugsgebieten. 5.2.2 Industrie und Ver arbeitendes Gewerbe Die Wiener Wirtschaftsstruktur hat nie der einer klassischen Industriestadt entspro­ chen, genauso falsch und irreführend wäre es jedoch, Wien ausschließlich als Dienstleistungszentrum und Hochburg des Kleingewerbes zu charakterisieren. Wien war als wichtigster Wirtschaftsraum Österreichs auch immer ein bedeutender Industriestandort. Die Hauptstadt- oder besser die zentralörtliche Funktion Wiens, die hohe 169

peter eigner · andreas resch Konsumkraft ihrer Bewohner und Bewohnerinnen können hier als Stand­ortanreize geltend gemacht werden. Nichtsdestoweniger werden große Anstrengungen vonnöten sein, um dieser Funktion auch weiterhin gerecht werden zu können. Wien steht vor einer großen Herausforderung, denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache  : Zwischen 1959 und 1991 ging die Zahl der unselbstständig Erwerbstätigen im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie um mehr als die Hälfte zurück. War dieser Bereich 1959 noch bei Weitem die größte Wirtschaftsabteilung mit 288.949 unselbstständig Erwerbstätigen (43,6 Prozent), entfiel 1991 nicht einmal mehr ein Fünftel aller unselbstständig Erwerbstätigen auf das verarbeitende Gewerbe und die Industrie (130.858 Personen). Gemäß den Volkszählungsergebnissen war die als Industrialisierungsphase Wiens ausgemachte Dekade von 1951 bis 1961 tatsächlich die einzige, in der sich die Zahl der Berufstätigen im Sekundärsektor, wenn auch nur geringfügig, erhöhte. Die Zahl der Menschen, die im verarbeitenden Gewerbe oder in der Industrie arbeiteten (unselbstständig oder selbstständig) und in Wien wohnten, erhöhte sich von 322.099 (1951) auf 333.225 (1961), bis 1991 ging sie auf 156.942 zurück. Trotz steigender Produktivität waren Industrie und produ­zierendes Gewerbe langfristig betrachtet von massiven Arbeitsplatzverlusten betroffen, als Ausnahmen kann auf einige wenige Wachstumsbranchen der Nachkriegszeit hingewiesen wer­den, vor allem die Elektroindustrie, wo sich aber ebenfalls erstmals in den Achtzigerjahren deutliche Beschäftigungsrückgänge abzuzeichnen begannen.

Industrie Die Grundstruktur der Wiener Industrie zeichnet sich durch eine erstaunlich hohe Kontinuität aus. Nimmt man die Bruttoproduktionswerte der Industriezweige als Maß­stab für ihre Bedeutung innerhalb der Stadtwirtschaft, kristallisieren sich mehrere Industriezweige relativ eindeutig als Schlüsselbranchen Wiens heraus. Nach der wirtschaftlichen Konsolidierungsphase ergab sich um die Mitte der Fünfzigerjahre folgendes Bild  : Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie führte die Rangliste an, gefolgt von der Elektroindustrie, der chemischen Industrie, der Maschinen-, Stahl- und Eisenbau­industrie, der Eisen- und Metallwarenindustrie und der Bekleidungs­industrie. Bis auf die zuletzt genannte Branche befanden sich alle weiteren fünf Industriezweige auch noch Mitte der Neunzigerjahre in dieser Rangliste der Schlüs­sel­branchen und haben nur ihre Positionen getauscht. So ist an die Stelle der Nahrungs- und Genussmittel­industrie als Industriezweig mit dem höchsten Brutto­ produktionswert die Elektro­industrie – allerdings erst in den Achtzigerjahren – getreten. Auf diese beiden Industriezweige entfiel Mitte der Neunzigerjahre fast die Hälfte des Bruttoproduktions­wertes der Wiener Industrie, 1956 hingegen erst ein 170

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Drittel. Aus der Rangliste – erwartungsgemäß – herausgefallen ist die Bekleidungs­ industrie. Ihr Bedeutungsverlust ist in die Sechziger- und Siebzigerjahre zu datieren, jenen Zeitraum, in dem gleichzeitig der einzige neue große Industrie­zweig in der Rangliste der Schlüsselbranchen 1994, die Fahrzeug­industrie, stärkeres Gewicht erhielt. Elektro-, Nahrungs- und Genussmittel-, Maschinen-, Chemie- und Fahrzeug­ industrie waren (ergänzt um die Textil- und Bekleidungs­industrie) und sind auch die quantitativ bedeutendsten (und damit beschäftigungs­stärksten) Industriebranchen. Tabelle 8  : (Brutto-)Produktionswerte der Wiener Industrie insgesamt und der bedeutendsten Branchen, 1956–1994

Branche Zusammen

1956

1976

1994

BPW

in %

BPW

in %

BPW

in %

18,095

100

61,232

100

143,829

100

darunter  : Nahrungs- und Genussmittel­industrie

3,753

20,7

14,298

23,4

22,308

15,5

Elektroindustrie

2,230

12,3

12,310

20,1

43,662

30,4

Chemische Industrie

2,175

12,0

 9,573

15,6

13,473

 9,4

Maschinen-, Stahl- und Eisenbauindustrie

1,957

10,8

 8,306

13,6

18,206

12,7

Eisen-/Metallwarenindustrie

1,515

 8,4

 4,003

 6,5

 4,187

 2,9

Bekleidungsindustrie

1,403

 7,8

 2,374

 3,9

 1,541

 1,1

Fahrzeugindustrie

0,609

 3,4

 2,850

 4,7

16,299

11,3

Quelle  : Statistische Jahrbücher der Stadt Wien, diverse Jahrgänge  ; eigene Berechnungen.

Tabelle 9  : Beschäftigte in der Industrie insgesamt und nach ausgewählten Branchen 1976 und 1994 Branche

1976

1994

Nahrungs-/Genussmittelindustrie

19.525

10.040

Elektroindustrie

38.314

29.756

Chemische Industrie

16.041

8.848

Maschinen-, Stahl- und Eisenbauindustrie

20.057

11.318

Eisen-/Metallwarenindustrie

12.400

4.238

9.254

2.604

Bekleidungsindustrie Fahrzeugindustrie Insgesamt

10.538

8.088

153.387

87.212

Quelle  : Statistische Jahrbücher der Stadt Wien, diverse Jahrgänge  ; Beschäftigte nach Fachverbänden.

171

peter eigner · andreas resch Zwischen den Stichjahren 1976 und 1994 ist laut den hier herangezogenen Er­he­ bun­gen die Industriebeschäftigung von über 153.300 Beschäftigten um nahezu die Hälfte auf 87.200 zurückgegangen. Diese Entwicklung machte sich auch in den Wiener Schlüsselbranchen bemerkbar. Besonders dramatisch verliefen die Beschäf­ tigungsverluste nicht nur – erwartungsgemäß – in der Bekleidungsindustrie, sondern auch in der Eisen- und Metallwarenindustrie. Unterdurchschnittlich fielen die Verluste in den Wachstumsbereichen der Achtziger- und Neunzigerjahre, der Fahrzeug- und der Elektroindustrie, aus. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass 1994 mehr als ein Drittel aller Wiener Industriearbeitsplätze auf die Elektroindust­ rie konzentriert war – 1976 entfiel erst ein Viertel aller Industriearbeitsplätze auf diese Branche. Gewerbe Gerade im Zusammenhang mit der Geschichte des Wiener Gewerbes erscheint es unerlässlich, auf die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft zu verweisen.167 Mit der gewaltsamen Eliminierung der jüdischen Wirtschafts­treibenden aus dem Wiener Geschäftsleben (in Form der »Arisierungen«) wurden insbesondere Tausende Gewerbe-, aber auch Handelsbetriebe aufgelöst (zum Beispiel im Textil- und Bekleidungssektor), wobei während des Zweiten Weltkriegs auch mehrere »arische« mittel­ständische Betriebe – nunmehr aus Arbeitskräftemangel der Industrie – geschlossen wurden. Von den Auflösungen waren insbesondere Klein(st)betriebe betroffen, wodurch in der Nachkriegsstruktur der Anteil klein(st)er Betriebe reduziert werden konnte. Der Neuordnung des Kammerwesens im Jahr 1946 folgte als Ausdruck der Über­ windung der Kriegsfolgen und der wirtschaftlichen Erholung mit der Aufhebung des 1934 eingeführten Untersagungsgesetzes im Jahr 1952 ein deutlicher Schritt in Richtung Liberalisierung des Gewerbezugangs. Die Nachkriegsjahre brachten geradezu eine Gewerbegründungswelle mit sich, eine Reaktion auf den Gewerbe­ kahlschlag, der mit Beginn der Nazi-Herrschaft eingesetzt hatte. Zwischen 1946 und 1950 belief sich der Gewerbezuwachs auf mehr als 20.000. Zu Beginn der Fünfzigerjahre, 1952, begann eine gegenläufige Bewegung, wobei die hohe Zahl der Rück­legungen 1952 bis 1954 auf nachträglichen Löschungen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen basierte. Mit der Einführung der Pensionsversicherung für Gewerbe­treibende im Jahr 1958 häuften sich die Gewerberücklegungen. Waren in der Zeit des Wiederaufbaus die Hinterhofgewerbe im dicht verbauten Stadtgebiet noch von größerer Bedeutung, so setzte in den späten Fünfziger- und Sechzigerjahren ein Prozess der Rand­wanderung und damit der Verdrängung der Gewerbe ein. Von wesentlicher, wenn auch insgesamt sinkender Bedeutung (mit 172

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien der höchsten Zahl an Rücklegungen unter den produzierenden Gewerben) in den Fünfzigerjahren war weiterhin das Bekleidungsgewerbe, relativ stark besetzt zeigte sich auch das Holz ­verarbeitende Gewerbe, das aber ebenfalls bereits eine stark rückläufige Entwick­lung aufwies, eine Entwicklung, die nahezu ungebrochen bis in die Gegenwart anhielt. Größere Einbußen verzeichneten auch die Nahrungs- und Genussmittel­betriebe, der Bereich der Eisen- und Metallgewinnung bzw. -bearbeitung sowie die Handelsbetriebe. Zwischen 1953 und 1962 reduzierte sich in manchen Gewerben die Zahl der Betriebe um ein Viertel bis ein Drittel. Die Berufsfelder Hutmacher, Modisten und Schirm­macher, die Schuhmacher, die Mieder- und Wäschewarenerzeuger und die Kleidermacher wurden ebenso deutlich dezimiert wie die Fleischhauer, Bäcker, Lebensmittelhändler, Obst- und Gemüsehändler und Milchverschleißer.168 Einen steten, wenn auch eher geringfügigen Zuwachs verzeichnete die chemische Produktion. Langfristig betrachtet gerieten Handwerk und Gewerbe, insbe­sondere das für die Wiener Wirtschaft so Struktur bestimmende Kleingewerbe, durch die Durchsetzung der industriellen Massenproduktion in eine zunehmend bedrohliche Position. Nichts verdeutlicht dies eindrucksvoller als die Krisensymptome und letztlich dramatischen Rückgänge gerade bei den traditionell stärksten Gewerbegruppen wie Schneidern, Schuhmachern, Tischlern, Bäckern oder Fleischhauern seit den Sechzigerjahren, einer Periode, in der man es aufgrund der Stadterweiterung mit einem wachsenden Nahversorgungsbedarf zu tun hatte. Starke Betriebs- und Beschäftigtenverluste seit der Mitte der Sechzigerjahre charakterisierten ferner das Bekleidungs- und Textil­ gewerbe und die Lederverarbeitung, also Produktionszweige mit einem eher geringen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, für die das niedrigere Lohnniveau außerhalb Wiens ein wesentlicher Standortfaktor wurde, bzw. Bereiche, wo die kleingewerblichen Produktionsformen in den Sog industrieller Massenfertigung geraten waren. Auch im Bereich des Handels übertraf die Zahl der Gewerbe­rücklegungen jene der Anmeldungen und Konzessionsverleihungen bei Weitem. Einige typisch großstädtische Branchen (Optiker, Zahntechniker, grafisches Gewerbe) konnten sich hingegen gut behaupten, was zum Teil auf der wachsenden Konsumkraft der Wiener Bevölkerung beruhte. Einen seit Ende der Sechzigerjahre expandierenden Bereich bildeten die Hotel-, Gast- und Schankgewerbe. Neue Entwicklungs­chancen eröffneten sich dann insbesondere durch die Expansion des Handels- und Dienstleistungssektors. Die Anschaffung von immer mehr Konsum­gütern zog einen steigenden Bedarf an Service- und Reparaturleistungen nach sich und daher von Berufen wie Auto- und Elektromechanikern oder Installateuren. Seit der Mitte der Siebzigerjahre hielten sich Gewerbeanmeldungen und -rücklegungen etwa die Waage, z. B. im Handel, Zuwächse verzeichneten die Hotel-, Gast- und Schankgewerbe sowie die quantitativ insgesamt eher unbedeutenden Gruppen der grafischen Gewerbe und der chemi173

peter eigner · andreas resch schen Produktion. Die Gewerberücklegungen konzentrierten sich weiterhin auf die oben erwähnten Sparten Textilien und Beklei­dung bzw. auf Nahrungs- und Genussmittelbetriebe. Zu Beginn der Achtziger setzte wieder ein wenn auch bescheidenes Wachstum im Gewerbe ein, das sich Mitte der Achtziger deutlich zu beschleunigen begann und sich ab diesem Zeitpunkt in erster Linie dem Zuwachs an Handelsbetrieben verdankte. Zwischen 1986 und 1990 übertraf die Zahl der Gewerbeanmeldungen und Konzes­ sionsverleihungen im Handel jene der Rücklegungen um rund 6.800. Die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe insgesamt wuchs von 35.847 im Jahr 1982 auf 47.648 Beschäftigte 1989 an. Dieser Trend hielt bis in die Neunzigerjahre an. Das Wachstum wurde nunmehr – neben dem Handel – von mehreren Bereichen getragen, von den Verkehrsgewerben, von den Gewerben im Bereich Reinigungs­ wesen und Körperpflege, von Hotel-, Gast- und Schankbetrieben, von Gewerben der Eisen- und Metallgewinnung und -bearbeitung und von grafischen Betrieben. Der vermehrte Einsatz von edv-Technologien hat dem Bedarf an Fachkräften für Serviceleistungen seit dem Ende der Achtzigerjahre einen weiteren Schub verliehen. Die jüngsten Entwicklungen lassen wiederum einen statistisch insignifikanten Trend zur maßgeschneiderten Handarbeit und zum exklusiven Handwerksprodukt (Schuhe, Bekleidung) erkennen. Die Zuwächse im Bereich Handel und Verkehr übertreffen allerdings jene im Bereich der Industrie und des produzierenden bzw. verarbeitenden Gewerbes bei Weitem. Bauwesen Der Bauwirtschaft kommt (ähnlich wie den Nicht-Marktdiensten) in Wien eine beson­dere Bedeutung zu, da sie zu jenen Sektoren gehört, die direkt oder indirekt von der öffentlichen Nachfrage abhängig sind. Die öffentliche Hand ist der herausragende Auftraggeber der Bauwirtschaft, wobei für die Vergabe von Bauaufträgen eine Reihe von Richtlinien (önormen, Bundes-, Landes- und Gemeindebestimmungen) Gültig­keit besitzen.169 Klare, gesetzlich verbindliche Regelungen des Vergabesystems fehlen jedoch weiterhin, und gerade daraus ergaben sich des Öfteren Angriffsflächen für Korruptions- oder Interventionsverdacht. Der Baumarkt stellt sich nicht als klassi­scher Konkurrenzmarkt mit einer großen Zahl von Nachfragern und Anbietern dar.170 Vielmehr stehen der öffentlichen Hand und einigen Bauträgern des sozialen Wohn­baus als wichtigste Auftraggeber neben einer Vielzahl von kleinen und mittleren Baugewerbebetrieben nur wenige große Bauindustriefirmen gegenüber, die enorme Kapitalmengen in umfangreiche Maschinenparks investiert haben und angesichts dieser Fixkapitalbindung auf eine kontinuierliche Auslastung angewiesen sind. Aus diesen strukturellen Gegebenheiten resultiert eine starke Neigung 174

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien zur Organisation des Marktes. Wenn dabei der Verdacht auf illegale Absprachen und Kartellverein­barungen aufkommt, so ist die Öffentlichkeit rasch mit Schlagworten wie »Bauskan­dal« oder »Baumafia« zur Stelle. Die Entwicklung der Zahl der Berufstätigen im Bauwesen verlief in zwei, einander entgegengesetzten Phasen, über den Gesamtzeitraum konnte die Bauwirtschaft wesentlich besser als das produzierende Gewerbe und die Industrie ihren Stellen­ wert wahren. Bis in die Achtzigerjahre zeigten die Beschäftigtenzahlen eine sinkende Tendenz, danach machte sich eine Expansion bemerkbar, die 1991 in einer etwas höheren Beschäftigtenzahl als 1981 resultierte. Dem Bauwesen kam in der Wiederaufbauperiode in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu, als Konjunktur­motor, für die Beseitigung der Kriegsschäden und von der Beschäftigungsseite her. Neue legistische Grundlagen wie Wohnhaus-Wiederaufbaugesetz bzw. -fonds verlagerten das Schwergewicht der Bautätigkeit in den Fünfzigerjahren von der Infrastruktur auf den Wohnbau. Ende der Fünfzigerjahre spitzte sich die Situation in der Bauwirtschaft zu. Das Baugewerbe war voll ausgelastet, die Löhne waren in den letzten Jahren stark angestiegen, und nicht zuletzt war klar geworden, dass man die Wohnbaukapazitäten erhöhen musste, und dies schien nur mit der Anwendung neuer Technologien möglich. 1962 erfolgte die Gründung der Montage­bau Wien  ; mit der Einführung der Vorfabrikation bzw. Plattenbauweise war ein entscheidender Schritt in Richtung Industrialisierung des Bauens getan. Bis zur Einstellung des Fertigbauunternehmens 1984 wurden an die 20.000 Wohnungen, großteils von der Gemeinde, errichtet. Die in die Siebzigerjahre fallenden Großbau­projekte in Wien (U-Bahn-Bau, Donauinsel, uno-City, akh) wirkten sich auf die Entwicklung der Beschäftigtenzahl nicht so stark wie der Wohnbau aus, weil sie sehr kapitalintensiv durchgeführt wurden, am ehesten noch bei den Baunebengewerbe-Betrieben.171 Auch die in dieser Zeit wirksam werdende Hinwendung zu Stadter­neuerung und Wohnungsverbesserung (1972 Beschluss des Wiener Altstadter­ haltungs­ gesetzes, 1974 Stadterneuerungsgesetz) verschaffte eher dem Bauneben­gewerbe Beschäftigung. Die expansive öffentliche Nachfrage nach Bauleistungen stützte allerdings die Bauwirtschaft, die sonst wahrscheinlich in den Sog der Rezession des Jahres 1975 gezogen worden wäre. Das Zusammenfallen des allgemeinen Konjunktureinbruchs zu Beginn der Achtzigerjahre mit dem allmäh­lichen Auslaufen der Großprojekte bewirkte, dass die Bauwirtschaft zu Beginn der Achtzigerjahre in eine lange Rezession geriet. Die Beschäftigtenzahlen sanken in den Achtzigerjahren auf Werte zwischen 33.000 und 38.000, ehe sich ab etwa 1988 wieder ein Aufschwung in der Bauwirtschaft bemerkbar machte. Der Bauboom der frühen Neunzigerjahre schlug sich im Bauwesen in steigenden Beschäftigtenzahlen nieder, ohne allerdings an die Werte der Siebzigerjahre heranzukommen. Das Bauwesen weist witterungs­bedingt seit jeher große saisonale Schwankungen auf, Dezember bis März sind die Monate mit den 175

peter eigner · andreas resch niedrigsten Beschäftigtenzahlen. Von 1971 bis 1994 hat sich der nominelle Bruttoproduktionswert der Bauwirtschaft nahezu versechsfacht. 5.2.3 Dienstleistungen In der Entwicklung der Wiener Wirtschaft vermischten sich Wien-spezifische Fakto­ ren mit einer Reihe von allgemein die Großstadtentwicklungen charakterisierenden Trends. Dies trifft auch auf den Dienstleistungssektor zu. Als Bundeshauptstadt nahm und nimmt Wien innerhalb Österreichs die Funktion eines Verwaltungs- und Dienst­leistungszentrums ein. Diese Position kam und kommt in einer vergleichsweise hohen Dienstleistungsquote zum Ausdruck. Dazu trat in Österreich mit einer leichten Verzögerung eine generell zu beobachtende Tendenz der westeuropäischen Volks­ wirtschaften auf. Die Ausbildung einer reifen Konsumgesellschaft, gekenn­ zeichnet durch Massenproduktion und steigenden Massenkonsum, ermöglichte im Zusam­ menspiel mit dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zunächst eine Kompensation der Arbeitsplatzverluste in Industrie und Gewerbe durch den Ausbau des Tertiärsektors. Gemessen an der Zahl der Berufstätigen am Wohnort betrug die Dienstleistungsquote 1951 49,3 Prozent und stieg bis 1961 eher langsam auf 51,7 Prozent. In den Sechzigerjahren stieg der Anteil des Dienstleistungssektors rasch an, und die Dienstleistungsquote belief sich 1971 auf 57,3 Prozent. Der Bereich Geldwesen und Wirtschaftsdienste war in dieser Periode der einzige, der aufgrund des verstärkten Filialausbaus einen absoluten Beschäftigungs­zuwachs erzielte und angesichts ansonsten sinkender Beschäftigtenzahlen nicht nur seinen Anteil – wie die meisten anderen Dienstleistungsbereiche – zu steigern vermochte. In den Siebzigerjahren erlebte die Wiener Wirtschaft geradezu eine Tertiärisierungs­welle. Die Stadt Wien profitierte dabei insbesondere von ihrer zentralörtlichen bzw. Hauptstadtfunktion, also ihrer Funktion als Regulierungs­ zentrum. Die Arbeitsplatzzuwächse konzen­ trierten sich dabei in erster Linie auf die sogenannten Nicht-Marktdienste, auf den öffentlichen Dienst (speziell im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, zurück­ zuführen auf die großen Reformen und den Ausbau in der Kreisky-Ära), auf die Interessenvertretungen und Gebietskörperschaften (Kammern und Gewerk­schaften), ferner auf Unternehmensverwaltungen und Stützpunkte ausländischer Firmen, auf die Wirtschaftsdienste (Banken, Versicherungen, diverse Beratungs­einrichtungen), auf den Handel sowie auf das Beherbergungs- und Gaststätten­wesen. Die Beschäftigungsexpansion der zuletzt genannten Bereiche verweist weiters auf die gesteigerte Konsumkraft der Wiener Bevölkerung  ; der sich Mitte der Siebzigerjahre ankündigende Wachstumsbruch im (Groß-)Handel stand bereits mit der Verlagerung von Kaufströmen über Wiens Stadtgrenzen hinaus in Zusammen­hang, während der Wiener Einzelhandel in den Siebzigerjahren eine bedeutende Stärkung erlebte. 176

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Die Bedeutung des tertiären Sektors nahm kontinuierlich zu, die Achtzigerjahre brachten einen neuerlich kräftigen Tertiärisierungsschub mit sich, die Dienst­ leistungsquote unter den Berufstätigen am Wohnort stieg von 63,5 Prozent 1981 auf 71,3 Prozent 1991. Die größten Zuwächse (von rund 50.000 Berufstätigen zwischen 1981 und 1991) verzeichnete die Wirtschaftsabteilung persönliche, soziale, öffent­ liche Dienstleistungen bzw. Haushaltung, die auch quantitativ bei Weitem stärkste Gruppe. Beherbergungs- und Gaststättenwesen verzeichneten gar einen fünfzig­ prozentigen Zuwachs, der insbesondere den Auf­ schwung des Wien-Tourismus wider­spiegelt. Auch die Wirtschaftsabteilung Geld- und Kredit-, Versicherungswesen bzw. Wirtschaftsdienste wies ein relativ markantes Wachstum auf, insbesondere der Bereich der Wirtschaftsdienste.172 Mit einer im internationalen Vergleich zeitlichen Verzögerung zeichnete sich ein Aufschwung der produktionsbezogenen Dienstleistungen ab, jener Branche, der vor dem Hintergrund sinkender Beschäftigung angesichts der allmählichen Wandlung der fordistischen Massenfertigung zunehmende Bedeutung zukommt. Es handelt sich dabei um der Produktion vor- bzw. nachgelagerte Beratungs- und Serviceleistungen, die sich aufgrund der Funktionen als Zentren der Wissensproduktion, des Wissens­transfers und der Kommunikation auf Großstädte konzentrieren. Wenn die Wiener Stadtwirtschaft heute in einzelnen Bereichen des Dienstleistungssektors noch Entwicklungsdefizite bzw. Unterbesetzungen aufweist, so trifft dies weiterhin in erster Linie auf jene Bereiche zu.173 Gerade der Ausbau des servo-industriellen Sektors und produktionsnaher Dienstleistungen ist bzw. wäre besonders für die Weiterent­wicklung flexibel spezialisierter Fertigungsformen eine wichtige Voraussetzung. Dank der Lage Wiens an der Bruchstelle zwischen den etablierten westlichen Ökonomien und den Transformationsstaaten ergeben sich insbesondere auch Nachfrage­potenziale aus dem hohen Informations- und Beratungsbedarf, den heimische und ausländische Unternehmen im Zusammenhang mit Kooperations- und Beteiligungs­strategien in den neuen Räumen entwickeln. In diesen Geschäfts­bereichen ist aber nach wie vor die geringe durchschnittliche Größenstruktur der Anbieter von Unter­nehmensdiensten als Handicap für eine stärkere Profilierung anzusehen.174 Die Verschiebung zum Tertiärsektor über den Gesamtzeitraum ging ausschließlich zulasten des verarbeitenden Gewerbes und der Industrie, da der Bereich der Land- und Forstwirtschaft stabile, wenn auch nur mehr marginale Beschäftigtenanteile aufweist. Ein Blick auf die zehn beschäftigungsstärksten Wirtschaftsklassen des Jahres 1991 belegt diese Entwicklungen nachdrücklich, es befinden sich darunter nur eine bzw. zwei (je nach Zuordnung des Bauwesens), die dem Produktionssektor zuzuordnen wären.

177

peter eigner · andreas resch

Tabelle 10  : Die zehn beschäftigungsstärksten Wirtschaftsklassen Wiens 1991 Wirtschaftsklasse

Beschäftigte

Gebietskörperschaften, Interessenvertretungen

71.846

Großhandel

71.181

Realitätenwesen, Rechts- und Wirtschaftsdienste

70.535

Einzelhandel

65.933

Gesundheits- und Fürsorgewesen

65.077

Bauwesen

48.573

Geld- und Kreditwesen, Versicherung

43.054

Unterrichts- und Forschungswesen

33.751

Beherbergungs- und Gaststättenwesen

30.659

Erzeugung von elektrotechnischen Einrichtungen

29.463

Quelle  : Arbeitsstättenzählung 1991.

Größter Arbeitgeber der Stadt blieb weiterhin die Gemeinde Wien. Der städtische Personalstand (Magistrat und Landeslehrer) wuchs in den Achtzigerjahren durch­ schnittlich um 1,3 Prozent jährlich, in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre sogar um 2,4 Prozent p.a. auf 68.392 Bedienstete im Jahr 1995. Damit erhöhte sich der Anteil der städtischen Bediensteten an den unselbstständig Beschäftigten von 7,0 Prozent (1980) auf 8,0 Prozent (1990) und 8,8 Prozent (1995).175 1997 waren rund 61.000 Menschen beim Magistrat der Stadt Wien beschäftigt. Die größte Gruppe stellten die rund 26.000 im Gesundheitswesen Beschäftigten. Rund 9.600 Beschäftigte arbeiteten in Dienstleistungsbereichen wie Müllbeseitigung und Wasserwerksbetriebe. Weitere 7.800 Personen waren im Bereich der sozialen Wohlfahrt und Wohnbauförderung tätig. Rund 7.300 Beschäftigte arbeiteten in den Bereichen Unterricht, Erziehung, Sport und Wissenschaft. Ferner gehörten etwa 11.800 LandeslehrerInnen zum Personal der Stadt Wien sowie rund 15.000 Beschäftigte, die für die Wiener Stadt­werke (1949 aus dem Zusammenschluss der Städtischen Elektrizitäts- bzw. Gaswe­rke und Verkehrsbetriebe entstanden) arbeiten. Eine der Wirtschaftsabteilungen mit dem größten Beschäftigungszuwachs über den Gesamtzeitraum war die Abteilung Geld- und Kreditwesen, Privatversicherung und Wirt­schaftsdienste. Die Zahl der Berufstätigen hat sich seit 1951 mehr als verdoppelt, wobei sich die Zuwächse in den Sechziger- und Siebzigerjahren in erster Linie dem Wachstum des Geld- und Kreditsektors verdankten. Dies war auf den Filialausbau und -zuwachs zurückzuführen, der sich – auch als Ausdruck verschärfter Konkurrenz und des Trends zum Universalbankengeschäft – in nahezu allen Sektoren des Geld- und Kreditwesens bemerkbar machte. Die Tendenz zum möglichst viele Berei178

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien che umfassenden Dienstleister erfasste in den letzten Jahren auch die Versicherungs­ branche. Banken und Versicherungen stehen sich heute in vielen Bereichen – auf­ grund ähnlicher oder identischer Produkte – als Konkurrenten gegenüber, obwohl sie kapitalmäßig oft eng miteinander verflochten sind. Der Bereich der Wirtschafts­ dienste weist hingegen erst in den letzten 15 Jahren überragende Zuwachsraten auf. Der Finanzplatz Wien hat nach 1945 zum zweiten Mal (nach 1931) an internationaler Bedeutung verloren, der österreichische Kapitalmarkt muss weiterhin als unterent­wickelt bezeichnet werden, und auch der Wiener Börse war es nicht gelungen, ihre traditionelle Schwäche abzulegen. Auffällig am österreichischen Bankwesen, das seit jeher stark auf Wien konzentriert war, war einerseits die starke Verflechtung mit der Industrie, andererseits die durch die nach 1945 durchgeführte Verstaat­lichung der drei Großbanken Creditanstalt, Länderbank und Österreichisches Credit­institut enge Verbindung zum Bund. Der Ruf nach Privatisierung hat allerdings sowohl im Banken- wie Industrie­bereich deutlichen Widerhall gefunden, der staatliche Sektor an Gewicht verloren. Im letzten Jahrzehnt machte sich im Kredit­sektor ein deutlicher Trend zur Konzentration und zu Fusionen bemerkbar, eine Tendenz, die von den beiden größten Wiener Sparkassen, der Zentralsparkasse und der Ersten Österreichischen Sparkasse, ausgegangen ist.176 Die Zentralsparkasse übernahm 1991 zunächst die Länderbank und wurde zur Bank Austria ag.177 1991 fusio­nierten Girozentrale und Österreichisches Creditinstitut zur GiroCredit, die über Umwege (1994 übernahm die azv der Bank Austria die Mehrheit an der GiroCredit) durch die Fusion zur Erste Bank an die Erste gelangte. Dieser Bankenkonzentrationsprozess war auch eine Folge des österrei­chischen Beitritts zur eu, der die heimischen Kreditinstitute mit einer Reihe von Anpassungsnotwendigkeiten, etwa im Bereich der legistischen Rahmenbedingungen, konfrontierte. Europareife zu erlangen, hieß das Gebot der Stunde. Ein Charakteristikum der österreichischen Banken ist bzw. war ihr hoher Nicht-Banken-Beteiligungsbesitz. Bank Austria und Creditanstalt verfügten beispielsweise über rund 400 Beteiligungen in allen Wirtschaftssektoren. Die öster­reichischen Großinstitute sind jedoch im europäischen Maßstab noch immer relativ unbedeutend und als eher kleine »player« weiterhin dem verschärften Wettbewerb ausgesetzt und mit erheblichen Anpas­sungsproblemen konfrontiert. Etliche Experten glauben demnach, dass die Restruk­turierung der heimischen Bankenlandschaft noch nicht abgeschlossen ist und gehen mittel- bis langfristig von einer weiteren – länderübergreifenden – Konzentration aus, die nur mehr einige wenige Großbanken in Europa überleben lassen wird. Selbst­verständlich sind auch die Auswirkungen der Ostöffnung im Kreditsektor deutlich spürbar geworden. Die meisten österreichischen Geldinstitute, aber auch Versicherungsgesellschaften streckten nach der »Wende« ihre Fühler in Richtung neuer Märkte aus. Bereits in der Zeit vor 1989 bildete Wien einen wesentlichen Schnittpunkt für den Ost-West-Handel und 179

peter eigner · andreas resch damit verbundene Bank- und Finanzierungstransaktionen, und seit der Ostöffnung haben sich die Wiener Institute »als potente ›regional Players‹ positioniert … und ein dichtes Bankennetz … aufgebaut«.178 Gerade in den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass beim Eingehen neuer Engagements höchste Vorsicht geboten ist, die Geschäfte mit den Ländern des früheren Ostblocks bergen eine Reihe von Risiken und Gefahren, da die politische und wirtschaftliche Lage zumeist noch zu instabil ist. So führten in den Neunzigern Geschäfte mit Russland zu höheren Verlusten. Eine sich langfristig positiv auswirkende Entwicklung für die Stadtwirtschaft nahm in den Sechzigerjahren ihren Anfang. Wiens Stellung im internationalen Städtegefüge konnte durch die Niederlassung einiger internationaler Organisationen gestärkt werden.179 Den Beginn setzte 1957/58 die Internationale Atomenergie-Organisation (iaes), es folgten die opec (1965) und die unido (1967). Die Errichtung der unoCity, mit der Wien nach New York und Genf zur dritten uno-Stadt wurde, und des – anfänglich äußerst umstrittenen – Konferenzzentrums unterstrichen die zunehmende internationale Bedeutung Wiens als Konferenz- bzw. Kongressort. Heute liegt Wien im Spitzenfeld internationaler Kongressdestinationen. Doch nicht nur das Image Wiens im Ausland besserte sich aufgrund dieser Maßnahmen, auch die wirtschaftlichen Aus­wirkungen erwiesen sich für die Stadt als günstig. KonferenzbesucherInnen gelten ohnehin als besonders konsumfreudig, und auch die hohen Einkommen der hier beschäftigten Mitglieder der internationalen Organisationen werden zu rund neunzig Prozent in Wien ausgegeben. Eine bedeutende Einnahmequelle der Stadt stellt die Tourismuswirtschaft dar. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hielt sich das Bedürfnis, Wien zu besuchen, erwar­ tungsgemäß noch in Grenzen. Der Wiener Fremdenverkehr erreichte erst gegen Ende der Fünfzigerjahre wieder die Nächtigungszahlen der Zwischenkriegszeit (um 1960 2,1 Millionen Nächtigungen).180 Bis in die Mitte der Siebzigerjahre stieg die Nächtigungszahl relativ kontinuierlich, aber langsam auf rund vier Millionen jährlich an. Ende der Siebzigerjahre zeichnete sich eine Trendwende ab. Wien erfreute sich zunehmender Beliebtheit als Ziel des Städte­tourismus, hohe Wachstumsraten von jährlich an die zehn Prozent in den Achtzigerjahren ließen die Zahl der Nächtigun­ gen bis 1990 auf den Rekordwert von 7,5 Millionen anwachsen. In den Neunzigerjahren stagnierten die Nächtigungszahlen nach zwei Einbrüchen (1991 und 1993) bis 1995 bei rund sieben Millionen. Der Beitrag der Tourismus- und Gastgewerbe­ branche zur urbanen Bruttowertschöpfung, der nach einer langen Phase, wo er sich zwischen 1,5 und 1,8 Prozent bewegte, in den späten Achtzigerjahren auf etwa zwei Prozent angestiegen ist und 1995 2,3 Prozent betrug, zeigt eine leichte Aufwärtsbewegung, doch reicht die Bedeutung des Tourismus darüber hinaus. Schätzungen des insgesamt aus dem Tourismus resultierenden Umsatzes der Wiener Wirtschaft beliefen sich für das Jahr 1991 auf 4,5 Prozent des Bruttourbanproduktes. Der Wien180

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Tourismus wird vor allem von Ausländern getragen, Inländer machen rund zwölf bis 14 Prozent der Nächtigungen aus. Die bei Weitem größte Gruppe unter den ausländischen Besuchern bilden Gäste aus Deutschland, auch Italien und die usa stellten und stellen große Touristenkontingente. Blieb die Nachfragestruktur bis in die Siebzigerjahre zunächst relativ konstant, so zeichnen sich seither deutlichere Verschiebungen ab. Unter anderem dürfte die Ostöffnung größere Auswirkungen auf die Gästezahlen Wiens haben. Tabelle 11  : Entwicklung des Wiener Fremdenverkehrs (Übernachtungen) Jahr 1949/50* 1959/60*

Zusam­men** 940.014*** 2.367.120

Ausland

Inland

Ohne Ang. d. Wohnsitzes

570.025

363.698

6.291

1.819.359

547.738

23

1969/70*

3.636.801

3.126.500

509.410

891

1980

4.578.618

4.011.847

566.771

0

1990

7.507.634

6.730.139

777.495

0

1991

7.007.084

6.129.523

877.561

0 0

1992

7.005.310

6.164.022

841.288

1993

6.614.362

5.727.385

886.977

0

1994

6.904.890

5.998.461

906.429

0

1995

7.049.710

6.094.034

955.676

0

* Saison von Oktober bis September. ** Einschl. Jugendherbergen und Campingplätze. *** Sowie 46.995 im Westbahnbunker. Dieser wurde am 16.7.1950 geschlossen. Quellen  : Angaben der MA 66, Statistische Jahrbücher der Stadt Wien.

Die hohe Attraktivität Wiens für den Städtetourismus erklärt sich aus einer Reihe von Faktoren. Das vielseitige Kulturangebot, die Pflege der historischen Tradition, die große Sicherheit sowie die hohe Lebens- und Umweltqualität, etwa der vergleichs­ weise geringe Verkehr, dürften Grund dafür sein, dass Wien sich im internationalen Städtetourismus gut positionieren konnte.181 Der reichen historischen Tradition Wiens kam dabei einerseits ein Phänomen entgegen, das wohl am zutreffendsten mit dem Begriff »Habsburgernostalgie« umschrieben werden kann und dessen Symbole Kaiser Franz Joseph und Sissi sind, andererseits die zunehmende Beschäftigung mit den zahlreichen Facetten des Wiens der Jahrhundertwende (Psychoanalyse, Secession, Literatur und Kaffeehaus, etc.) bzw. des Roten Wiens der Zwanzigerjahre. Eine besondere Faszination üben diese Wien-Bilder auf die Italiener aus, wie den stark angewachsenen Besucherströmen deutlich zu entnehmen ist. Bezüglich der Umwelt181

peter eigner · andreas resch qualität lässt sich feststellen, dass Wien als Stadt mit einem relativ hohen Anteil an Grünflächen gilt. Hier sind es nicht nur die Parks und Gartenanlagen, die sich großer Beliebtheit unter In- und Ausländern erfreuen, sondern vor allem die Grün­ oasen Prater und Donauinsel. Die Donauinsel, ein von Anfang an eher umstrit­tenes Projekt, hat sich zu einer erstrangigen Wiener Attraktion und einem wichtigen Veranstaltungsort (z. B. Donauinselfest), zu einem Ort vielfältiger sportlicher Betäti­ gung und zu einem beliebten Erholungsgebiet entwickelt. Die »Copa Cagrana«, eine Ansammlung von Lokalen im Bereich der Reichsbrücke, brachte der Wiener Bevölkerung einen Hauch von Urlaubs- und Partystimmung bzw. Meer. Eine dominante Position bzw. Sonderstellung in Bezug auf den Wiener Fremden­ verkehr kommt der Inneren Stadt zu. Bis auf Schloss bzw. Tiergarten Schönbrunn, Riesenrad und Belvedere konzentrieren sich die meisten von den Besuchern frequentierten Wiener Sehenswürdigkeiten auf den Innenstadt- und Ringstraßen­bereich. Dies gilt auch für die Beherbergungsbetriebe, die Hotels und Pensionen, und schlägt sich in einem überproportional hohen Anteil des ersten Bezirks an Ankunfts- und Nächtigungszahlen nieder. Die Dominanz der City wurde in den letzten Jahren durch eine Reihe neuer Luxus-Hotelbauten bzw. Adaptierungen und Umwidmungen bestehender zumeist an der Wiener Ringstraße gelegener Gebäude wie Plaza, sas-Hotel oder Marriott gestärkt. Die Wiener City ist ferner weiterhin das kulturelle Zentrum der Stadt, und Kultur stellt für die Wiener Fremdenverkehrswirt­schaft einen bedeutenden Faktor der Anziehung dar  : Ein Großteil der Aus­stellungs­räume und Spielstätten aus allen Bereichen von Kunst und Kultur konzen­triert sich auf die Wiener Altstadt, deren herausragender kultureller Stellenwert auch in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass die Innere Stadt als einziger Wiener Gemein­debezirk zur Gänze eine bauliche Schutzzone darstellt. Rund ein Viertel aller Museen, zwei Drittel aller staatlichen Museen befinden sich im i. Bezirk. Zwei »Bühnen-Multis« dominieren Wiens Kulturlandschaft, die hundert Prozent in Staatsbesitz stehende Bundestheater-Holding (Staats- und Volksoper, Burg- und Akademie­theater) und die Vereinigten Bühnen, der der Gemeinde Wien gehörende Musical-Konzern, dem das Theater an der Wien, das Raimundtheater und das Ronacher angehören. Es ist jedoch nicht nur das »alte« museale Wien, das hohe Attraktivität ausstrahlt  ; die Stadt musste sich, um konkurrenzfähig zu bleiben, auch neuen Entwicklungen öffnen und neue Besuchergruppen erschließen. Die Palette an Freizeitangeboten hat sich in den letzten Jahren bedeutend erweitert. »Wien ist anders«, dieser neuerdings von der Fremdenverkehrswerbung vielfach verwendete Slogan lässt sich insbesondere auf die Entwicklung der Wiener Innenstadt beziehen. Hier ist tatsächlich einiges anders geworden – und zwar zum Positiven  : Dem Bild einer nach Betriebs- bzw. Büroschluss schlafenden toten Innenstadt in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit unzurei­chenden Freizeit- und Unterhaltungsmöglichkeiten kann man das pulsie182

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien rende, lebendige »Night-life« heutiger Tage gegenüberstellen. Längst ist es nicht mehr nur das sogenannte »Bermuda-Dreieck« um die Judengasse, in dem die Gäste bis vier, fünf Uhr früh »verschwinden« (daher die Bezeichnung) können. Konzentrationen von Vergnügungslokalen aller Art finden sich entlang der Schönlaterngasse und Bäcker­straße, in den Seitenstraßen der Kärntner Straße usw. Ähnliche Entwicklungen und Konzentrationen von Unterhaltungsmöglichkeiten finden sich mittlerweile auch in einigen Wiener Innenbezirken, etwa im vii. oder viii. Bezirk, sowie in einigen Bereichen entlang des Gürtels, in denen in der jüngsten Vergangenheit sehr erfolgreiche Revitalisierungsprojekte gestartet wurden, die insbesondere auch der aktuellen Musikkultur eine Heimstätte bieten. Das von der eu geförderte »UrbanGürtel plus«-Projekt sieht nicht nur die Verbesserung dieser Wohngebiete hinsichtlich der Grün­raumausstattung vor, sondern beinhaltet auch so originelle Ideen wie die Wieder­belebung der brachliegenden Stadtbahnbögen mit der Ansiedelung von Werkstätten, Kultur- und Sozialprojekten. Entlang des Gürtels soll eine Kulturmeile entstehen. Auf erste Ansätze kann bereits erfolgreich verwiesen werden. Schwieriger und insbe­sondere von Jugendlichen oft beklagt stellt sich die Situation in einigen Außenbe­zirken dar, insbesondere in den neueren Stadterweiterungsgebieten im xxi., xxii. und xxiii. Bezirk. Dort fehlen Freizeitangebote, während sich insgesamt das Unterhaltungsangebot kultureller und kulinarischer Natur vervielfacht hat, dies zeigt die Zahl der Musik- und Nachtlokale, der sogenannten Szenelokale, Diskotheken, Bars, Espressi, Kaffeehäuser und Restaurants. In wechselnder Abfolge etablierten sich zunächst die italienische und griechische Küche sowie jene des Balkans und der Türkei, was in einem engen Zusammenhang mit den Urlaubsgewohnheiten von Frau und Herrn Österreicher, der Eroberung von Meer, Sonne und Sand in den Sechzigerjahren, aber auch mit den Herkunfts­ län­dern der Arbeitsmigranten zu sehen ist. Die stärkste Verbreitung erfuhren dann die chinesischen Restaurants. In den letzten Jahren vermischte sich eine neuerliche »Italo-Welle« mit einem neuen gastronomischen Modetrend  : Der Wiener/die Wienerin hat die japanische Küche entdeckt. Neben Restaurants waren es vor allem die sogenannten In- oder Szenelokale, die zur nächtlichen Belebung der Innenstadt beigetragen haben. Ebenfalls weite Verbreitung erfuhren die Fast-Food-Ketten, die Amerikanisierung Europas oder der Welt hat auch vor Wien nicht haltgemacht, das Ende des Würstelstandes scheint damit jedoch nicht gekommen zu sein. Marktführer dieser Fast-Food-Anbieter ist McDonald’s, die eigentlich älteste Fast-FoodKette ist der Seafood-Anbieter Nordsee. Das jahrzehntelange »Beisl-Sterben«, von dem neben zahlreichen Gasthäusern in den Innen- und Außenbezirken auch einige Beisl-Relikte in der Inneren Stadt betroffen oder zumindest bedroht waren, hat einen Umdenkprozess eingeleitet, durch den einige traditionelle Wiener Gasthäuser vor dem Zusperren bewahrt werden konnten. Exorbitante Mietensteigerungen in 183

peter eigner · andreas resch den letzten Jahren haben allerdings das Gerede vom Zusperren nie verstummen lassen. Dies betrifft in letzter Zeit auch einige renommierte Kaffeehäuser. H andel – »Greißlersterben« und Supermarktboom Die Entwicklung des Handels in der Nachkriegszeit nach 1945 lässt sich vereinfacht mit einem Satz zusammenfassen  : Die auffälligste Tendenz war die Verdrängung des Kleinhandels durch Handelsketten, Warenhäuser und Selbstbedienungs- bzw. Supermärkte, ab der Mitte der Siebzigerjahre durch immer größere Einkaufszentren, sogenannte »Shopping Citys«.182 Sie betraf beginnend in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zunächst in erster Linie den Bereich der Lebensmittel (»Greißlersterben«, aber auch Obst- und Gemüsegeschäfte, Bäckereien etc. wurden stark dezimiert)183, verbreitete sich aber durch die Sortimentausweitung der Supermärkte in der Folge auf nahezu alle Handelssparten. Sah man diese Entwicklung zunächst als notwendiges oder zumindest unaufhaltsames Zeichen der Zeit, so setzte in den Siebzigerjahren, verstärkt nach der Eröffnung der Shopping City Süd 1976 und ersten Untersuchungen über aufkommende Mängel im Bereich der Nahversorgung, ein Diskurs über die Nöte des innerstädtischen Detailhandels ein. Das rasche Wachstum der Industrieproduktion hatte die Ausweitung des Massenkonsums nach sich gezogen, woraus für den Handel ein Entwicklungs- und Expansionspotenzial erwuchs. Nutznießer dieser Entwicklung waren aber eben nicht die Klein- und Mittelbetriebe, sondern mehrheitlich Großunternehmen. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem Eindringen ausländischen Kapitals. Insbesondere im Lebensmittelhandel zeigt sich eine enorme Konzentrationstendenz, die drei größten Lebensmittel-Handelsgruppen (die unter deutschem Kapitaleinfluss stehende Rewe-Billa-Gruppe, Spar und a deg) verfügten in Österreich Mitte der Neunzigerjahre über rund drei Viertel des Markt­anteils. Die Geschichte des Billa-Gründers Karl Wlaschek, sein kometenhafter Aufstieg in der Nachkriegszeit vom Barpianisten zum Großunternehmer, erinnert an die sprich­wörtlich gewordenen Karrieren amerikanischer Millionäre, die als Tellerwäscher begonnen haben.184 Heute sind auch kleine Einzelhandelsgeschäfte anderer Bereiche, ob es sich um Buchhandlungen, um CD- bzw. Schallplattengeschäfte, um Fotozubehör, um Drogeriewaren handelt, bereits zur Rarität geworden. Mitte der Neunzigerjahre entbrannte im Drogerie- und Parfümerie­handel ein heftiger Kampf um Marktanteile. Die Ketten dm, Bipa und Schlecker waren dabei die größten Anbieter, und eine weitere deutsche Kette, Müller, versuchte, sich auf dem österreichischen und Wiener Markt zu etablieren. Nicht anders sieht es beim Elektro(nik)bedarf bzw. -handel aus, wo sich Ketten wie Saturn, Cosmos, Niedermeyer und Hartlauer den Markt weitgehend aufteilten. Überlebenschancen werden dem Einzelhandel nur bei der Konzentration auf spezialisierte Bereiche, zumeist sogenannte Nischenprodukte, zu184

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien gestanden, denn halten konnten sich in erster Linie beratungsintensive, eher zentral gelegene Spezialgeschäfte des oberen und Luxus-Preissegments, wogegen insbesondere die traditionellen Detailhändler vor allem in der Lebensmittel-, Textil- und Schuhbranche aufgrund der übermächtigen Konkurrenz in eine Existenzkrise gerieten. Aus der schlechten Handelsinfrastruktur resultierten in etlichen, auch relativ zentrumsnahen Stadtgebieten Defizite in der Nahversorgung, zu denen sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit Einkaufsmöglichkeiten von Haus aus schlecht ausgestattete Neubausiedlungen und -gebiete gesellten. Die Entwicklung verlief allerdings nicht so eindeutig, wie es die bisherigen Aus­ führungen nahelegen. Der Schrumpfungsprozess der Produktion hatte sich zunächst auf den Bereich des Großhandels unvorteilhaft ausgewirkt. Nach einer Phase abnehmender Beschäftigung in den Siebzigerjahren (um rund 5.000 Arbeitsplätze) begann der Großhandel in den Achtzigerjahren wieder zu expandieren (Anstieg der unselbstständig Beschäftigten von 45.175 im Jahr 1981 auf 57.673 im Jahr 1991). Beim Einzelhandel war es genau umgekehrt. Hier folgte auf eine Periode stark steigender Beschäftigung (die Zahl der unselbstständig Beschäftigten im Einzelhandel erhöhte sich zwischen 1971 und 1981 um über 23.700) eine Phase abnehmender Beschäftigtenzahlen (die Beschäftigung im Einzelhandel sank zwischen 1981 und 1991 von 88.907 auf 80.878). Noch eine weitere Nachkriegsentwicklung ist auffällig, die allerdings in einem engen Zusammenhang oder mehr noch in einer Wechselwirkung mit der Verdrängung des Kleinhandels steht. Noch in den Fünfzigerjahren ging man in die City und auf die Mariahilfer Straße bzw. auf die Geschäftsstraßen zumeist des Wohnoder Arbeits­bezirks einkaufen. Auf der Taborstraße, Thaliastraße oder Lerchenfelder Straße reihte sich Geschäft an Geschäft, das Warensortiment ließ nahezu keine Wünsche offen. Bis auf die Innenstadt und einige wenige Wiener Einkaufsstraßen, die ihre Position annähernd halten konnten, verlagerte sich das Schwergewicht des Handels auf die großen Einkaufszentren, die in den Außenbezirken oder knapp außerhalb Wiens entstanden. Und auch die Festigung der Innenstadt als umsatz­ stärkstes Einkaufs- und Geschäftszentrum verdankt sich der vom ökonomischen Strukturwandel ausgelösten »Renaissance der Innenstädte« in den Achtzigerjahren, während die Situation noch zehn Jahre zuvor eher trist ausgesehen hatte. Fußgängerzonen, Shopping-Citys, Warenh äuser In den Siebzigerjahren war die Stellung der Wiener City als höchstrangiges Ein­ kaufs­zentrum ins Wanken geraten. Die zunehmende Motorisierung hatte eine Steigerung der Mobilität großer Teile der Bevölkerung mit sich gebracht. Dies begünstigte die Entwicklung von Einkaufszentren185 am Stadtrand inner- und außerhalb 185

peter eigner · andreas resch Wiens (Shopping City Süd, Huma, Donauzentrum). In jüngster Zeit sind mit dem Aufkommen der Factory Outlets neue Konkurrenten hinzugekommen. Bessere Parkplatzmöglichkeiten sowie das riesige Sortiment strahlten zusätzliche Attraktivität aus. Dazu kam den Shopping Citys die Hausbau- und Einrichtungswelle zugute, Möbelhäuser wie Leiner-Kika, Möbel-Lutz oder ikea bzw. Bau(materialien)­märkte wie BauMax, Bauhaus oder obi, die einen großen Platzbedarf haben und daher oft Standorte am Stadtrand wählten, zogen die Massen an. Daran änderten auch neu errichtete Parkgaragen in Zentrumsnähe nichts. Für Wien resultierte daraus nicht nur ein unerwünschter Kaufkraftabfluss, das gesteigerte Verkehrsaufkommen stellte auch die Stadtplanung vor neue Heraus­forderungen. Ein erster Versuch, dieser Entwicklung bewusst entgegenzusteuern, war das Projekt einer Fußgängerzone Kärntner Straße – Graben, wobei die Stadtplaner zwei Anliegen damit zu verknüpfen versuchten  : 1. den Einzelhandel zu verstärken, ihm attraktivere Bedingungen zu bieten, und 2. mit dieser Maßnahme zugleich den Durchzugsverkehr von der Altstadt abzulenken. Es erscheint heute unvorstellbar, dass die Wiener Kärntner Straße zu Beginn der Siebzigerjahre von 75.000 Autos täglich befahren wurde. Das Planungsvorhaben stieß zunächst auf größeren Wider­stand. Der Befürchtung einiger Geschäftsleute der Innenstadt, ihr exklusives Publi­kum zu verlieren, standen die – wie sich langfristig herausstellte realistischeren – Befürchtungen der Geschäftsleute anderer Bezirke gegenüber, die um ihre Kund­schaft fürchteten. Die City behauptete sich tatsächlich – trotz einer anfänglichen Verringerung des Luxusangebots – als hochrangiges Einkaufszentrum Wiens, wozu sicherlich auch die Errichtung der Fußgängerzone beigetragen hat. In der Phase der Reurbanisierung konzentrierten sich etliche Anstrengungen auf eine Wiedergeburt der Innenstadt bzw. des dicht verbauten Stadtgebietes. Ferner hat auch das Aufblühen des Städtetourismus massiv zur Belebung der Innenstadt beigetragen. Die steigenden Umsatzzahlen der Innenstadt können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wahren Umsatzgewinner der letzten Jahrzehnte die großen Einkaufszentren am oder außerhalb des Stadtrandes sind. Deren Gewinne gingen jedoch in erster Linie auf Kosten der Wiener Geschäftsstraßen in den Innen- und Außenbezirken. Das Schicksal dieser Einkaufsstraßen ist dabei eng an Ausbaustand bzw. -pläne des öffentlichen Verkehrsnetzes geknüpft. Wie wichtig etwa eine UBahn-Verbindung ist, zeigt die Entwicklung der Mariahilfer Straße, der neben der Kärntner Straße lange Zeit wichtigsten Wiener Einkaufsmeile. Zuerst jahrelang von den Bauarbeiten betroffen und mit massiven Umsatzrückgängen konfrontiert, begehrt vor allem bei ungarischen und tschechoslowakischen Einkaufstouristen, blüht die Mariahilfer Straße seit Fertigstellung der U3 wieder auf. Etliche traditionsreiche Wiener Geschäfte mussten sich aber einer neuen Konkurrenz stellen, die hohen Mieten können sich in erster Linie große internationale Anbieter und 186

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Konzerne leisten. Die Einkaufsstraßen in den Metropolen und Großstädten Europas beginnen sich zu gleichen (Zara-, Mango-, H&M-, C&A-, Street One- oder New Yorker-Filialen reihen sich aneinander). Nicht viel anders ist es den traditionsreichen Wiener Kaufhäusern auf der Mariahilfer Straße ergangen, Gerngross, Herzmansky oder Stafa. Besitzwechsel nach langen Durststrecken ließen aus ihnen moderne, aber leicht verwechselbare Konsumtempel entstehen.186 Preismäßig teilweise mit den Shopping Citys am Stadtrand nicht ganz konkurrenzfähig, zeigt sich bei einigen Kaufhäusern eine Tendenz zum exklusiven und dementsprechend teuren Warenangebot. Zu Pionieren dieser Entwicklung wurden das neue Haas-Haus und der Kärntner Ring Hof. Neue Einkaufszentren entstanden aber nicht nur in der Innenstadt und am Stadtrand, Generali-Center, Lugner-City oder Galleria können hier als Beispiele angeführt werden. Das abschreckende Beispiel einer »toten« Einkaufsstraße wegen jahrelanger Bau­ arbeiten verkörperte für geraume Zeit die Landstraßer Hauptstraße, die jedoch nach einer langen Durststrecke, bedingt durch die U-Bahn-Bauarbeiten, in den letzten Jahren wieder an Beliebtheit und Attraktivität gewinnen konnte, ein weiterer Beleg für die Abhängigkeit der Umsatzentwicklung von einer guten Einbindung in den öffent­lichen Verkehr. Diesen positiven Beispielen stehen jedoch weit mehr, oft sehr traditionsreiche Wiener Einkaufsstraßen gegenüber, deren Bedeutung stark gesunken ist (z. B. Prater- bzw. Taborstraße, Ottakringer Straße, Lerchenfelder Straße). Leerste­ hende und zum Verkauf angebotene Geschäftslokale mischen sich unter die Video­verleiher oder die oft nicht sehr vertrauenerweckenden Kaffeehäuser und neuer­dings unter die immer zahlreicher werdenden Wettcafes. Nach Toto, Lotto, Automa­ten und Rubbellosen hat sich die Spielleidenschaft der Wiener Bevölkerung den Sportwetten zugewandt. Eine von den Ergebnissen her teils vergleichbare Entwicklung ist in der Wiener Kinolandschaft zu beobachten. Es ist zu einem wahren Kinosterben gekommen, einige Wiener Bezirke verfügen über kein einziges Kino mehr, etwa der vormals so traditionsreiche Kinobezirk Leopoldstadt. In großen Kinozentren mit mehreren bespielbaren Sälen und einem Platzangebot von 1.200 bis 4.000 Plätzen scheint die Zukunft zu liegen, sie verdrängen die alteingesessenen Kinobetriebe, wobei sich die großen Zentren, teils in Bau, teils erst in Planung, im Gegensatz zu den Shopping Citys über das Stadtgebiet verteilen. Die Nähe zu großen Einkaufszentren scheint allerdings doch auch ein wichtiger Standortfaktor zu sein. Eine neue Tendenz, die zu Erlebnis- und Freizeitparks, zeichnete sich in den letzten Jahren ab. Das Wiener Stadtgebiet eignet sich dafür nur bedingt.187 Aus den vorhergehenden Ausführungen wurde deutlich, dass der Wiener Innenstadt im Stadtganzen ökonomisch eine Schlüsselrolle oder Sonderstellung zukommt, insbesondere im Dienstleistungsbereich, und zwar auf mehreren Gebieten, etwa dem 187

peter eigner · andreas resch exklusiven Einzelhandel, dem Fremdenverkehr oder dem Gaststätten- und Beher­ bergungswesen. Zudem ist der erste Bezirk trotz sinkender Anteile weiterhin der größte Arbeitgeber Wiens geblieben. Exkurs  : Entwicklungstendenzen in der Innensta dt Wien 1945  : Eines der wohl berühmtesten Bilder jener Zeit ist das des brennenden Stephansdoms, des Wahrzeichens der Stadt. Doch es waren nicht nur die großen Repräsentationsbauten, die am Ausgangspunkt unserer Untersuchung beschädigt oder zerstört waren, große Teile der Inneren Stadt waren von Kriegszerstörungen betroffen. Die baldige Sanierung des Zentrums von Wien wurde vor­rangiges Ziel der Stadtplanung, die Wiederherstellung des Stephansdoms und die Eröffnung von Burgtheater und Staatsoper wurden zu Symbolen des Wieder­aufbaus in Wien. Diese gesteigerte Bedeutung der Inneren Stadt im Stadtganzen, ihre Symbolkraft bzw. die ihrer Wahrzeichen für die regionale Identität der WienerInnen blieb bis in die Gegenwart bestehen. Bis heute sprechen die BewohnerInnen Wiens vom »in die Stadt fahren«, wenn sie sich in die Wiener Innenstadt begeben, Zeichen der noch immer höheren Wertigkeit dieses Stadtraumes, Zeichen vielleicht auch dafür, dass die Schaffung weiterer Zentren, ein mittlerweile altes Ziel der Stadt­planung, bislang nicht wirklich geglückt ist. Gewisse Fortschritte sind allerdings nicht zu leugnen  : So entfiel 1961 noch ein Sechstel der Wiener Arbeitsbevölkerung auf den ersten Bezirk, bis 1991 ging der Anteil auf ein Achtel zurück. Von der 1991 ermittelten Arbeitsbevöl­kerung der Inneren Stadt von 112.770 Beschäftigten wohnten nur 7.961 im Bezirk.188 Dass die Innenstadt vor einem täglichen Verkehrs­chaos bewahrt werden konnte, zählt zu den Verdiensten der Stadtverwaltung, die den Autoverkehr großteils aus der Wiener Altstadt verbannt und für eine gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrs­mitteln gesorgt hat. Als noch immer stark auf den innerstädtischen Standort konzentriert erweisen sich die Vertreter der freien Berufe, Anwälte, Notare, Architekten oder Steuerberater. Hier kommt das mittlerweile alte Muster zum Tragen  : Wer und was Rang und Namen hat, könnte man überspitzt formulieren, den zieht es in die Innenstadt, ob zum Wohnen oder Arbeiten. Zu den traditionell in der Innenstadt konzentrierten Dienstleistern Banken und Versicherungen sind in den letzten Jahrzehnten Vereine und offiziöse Institutionen getreten, zumeist im Grenzbereich zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung angesiedelt, deren Zentralstellen (Ministerien, Universität, etc.) großteils in der Innenstadt liegen. So entfielen 1991 über 24.000 Beschäftigte, 21,4 Prozent der Arbeitsbevölkerung des i. Bezirks und 26,4 Prozent der Arbeitsbevölkerung Gesamt-Wiens in diesem Bereich, auf Einrichtungen der Gebietskörperschaften, Sozialversicherungsträger und Interessenvertretun188

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien gen. Zugleich war aber eine Tendenz zur Dezentralisierung zu beobachten, bei einer Reihe staatlicher Behörden und Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung, aber auch bei Bürozentralen etlicher industrieller Großbetriebe. Als Gesamttendenz lässt sich im Beobachtungszeitraum und eigentlich über das gesamte 20. Jahrhundert im Altstadtbereich eine Abnahme der Wohnbevölkerung durch die Umwidmung von Wohnungen in Betriebs- und Geschäftsflächen bzw. eine Entflechtung der Wohn- und Betriebsfunktion feststellen. Die Zahl der Häuser mit gemischter Nutzung hat eindeutig zugunsten reiner Betriebs- bzw. Geschäftsbauten bzw. Häusern mit reiner oder vorwiegender Wohnfunktion abgenommen. Der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Citybildungsprozess dauert bis heute an. Wohnen in der Innenstadt ist teuer, bei Neuvermietungen nahezu unerschwinglich geworden. So weist die City einen hohen Anteil von Ausländern und Ausländerinnen als Wohn­ bevölkerung auf, es sind dies in erster Linie jedoch die Reichen und Superreichen, KünstlerInnen und sonstige Prominenz. Aufgabe der Wiener Wirtschaftspolitik und Stadtplanung müsste es zunächst sein, die Wohnraumgesamtfläche der Altstadt nicht noch weiter zu reduzieren, um die Innere Stadt nicht zu einer monofunktionalen Bürocity werden zu lassen. Als Folge der Entwicklungs­dynamik der späten Fünfziger- und Sechzigerjahre hatten sich insbesondere die Arbeitsstätten des Großhandels und die Büros vermehrt. Unterschiedliche Miet- und Ablöseniveaus zwischen billigerer Altstadt und teurerer Ringstraßenzone resultierten in unterschiedlichen Verteilungs­mustern. Eher stagnierende Branchen wie die Textilindustrie bevorzugten die Altstadt, während sich die Büros der Wachstumssektoren (Luftfahrtgesellschaften, Reisebüros, …) auf die Ringstraße konzentrierten. Generell verdeutlicht die Abfolge der neuen Geschäftssparten in der Inneren Stadt den raschen Wandel von Trends und Konsummustern. Neu waren zunächst die Fachgeschäfte für Fotoartikel und Schallplatten oder generell Hi-Fi-Bedarf, auf die in den späten Sechzigerund Siebzigerjahren eine Welle von Antiquitätengeschäften folgte. Rasante Verbreitung fanden weiters Reisebüros und Luftfahrtlinien. Die zuneh­men­de Attraktivität Wiens für Städte- und Kongressreisen schlug sich in neu erbauten bzw. renovierten Hotels des Luxussegments, vor allem entlang der Ringstraße, nieder. Haushaltsgeräte aller Art oder Videoläden vermochten sich auf innerstädtischen Standorten nicht zu behaupten. Mit der Ausbreitung des Filialsystems in Branchen wie dem Schuhsektor, Parfümerien bzw. Drogerien ging eine Nivellierung des Angebots einher. Dieser Entwicklung versuchte man einerseits durch ein citymäßig aufgestocktes Angebot entgegenzuwirken, andererseits ging mit wachsendem Wohlstand wieder eine Tendenz zum teuren Qualitäts-, vielfach Handwerksprodukt einher, bei Beklei­ dungs­artikeln, Schuhen usw. Als Standort der renommiertesten, der exklusivsten und daher auch teuersten Geschäfte war und blieb die Innenstadt immer begehrt, ob bei Juwelieren, Schneidern, Modeboutiquen, Design- oder Möbelgeschäften. Mit 189

peter eigner · andreas resch dem äußerst umstrittenen Neubau des Haas-Hauses wurde einem in Wien bislang unbekannten Typus des Warenhauses Rechnung getragen, dem Luxuswarenhaus. Dem Haas-Haus folgte der Kärntner Ring Hof. Die Luxusgeschäfte wiederum bevorzugten Graben und Kohlmarkt, während die Kärntner Straße ihre Exklusivität als Einkaufsstraße in den Neunzigern allmählich zu verlieren begann. Neben der nahezu unverändert großen Bedeutung als »Shoppingmeile« trugen vor allem unterschiedlichste Lokale und kulturelle Einrichtungen zur Attraktivierung der Altstadt als Freizeitraum bei. Die Reurbanisierung Wiens nahm räumlich in der Innenstadt ihren Ausgang. Doch selbst in der Innenstadt blieb der Kontrast auffällig zwischen neu belebten Vierteln, wie dem Bermuda-Dreieck, und Stadtteilen wie dem alten Textilviertel um die Gonzagagasse, dessen Bemühungen, »trendy« zu werden, nur bedingt erfolgreich waren. Die Wiener Innenstadt hat deutlich an Attraktivität gewonnen, ist lebendig und urbaner geworden. Was kritisch anzumerken wäre, ist eine gewisse Tendenz zur Musealisierung und Verkitschung der Wiener Innenstadt. Litfaßsäulen werden auf alt getrimmt, jeder zweite Fiakerfahrer lässt sich einen Franz-Josephs-Bart wachsen, und an jeder zweiten Ecke verteilt eine Mozart-Imitation Werbeprospekte – fehlen nur noch Walzer tanzende Paare auf den Straßen.

6. Ausblick und Perspektiven Eine Bilanz der Wiener Wirtschaftsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg muss etwas zwiespältig ausfallen. Zum einen ist Wien nach wie vor der wichtigste Wirtschaftsraum Österreichs mit überdurchschnittlich hohem Einkommens- und Produktivitätsniveau, zum anderen blieb die Stadt notorisch hinter dem gesamt­ österreichischen Wirtschafts­wachstum zurück. Im Vergleich mit anderen (west-) europäischen Städten erzielte Wien bis 1989 eine eher unterdurchschnittliche Performance, seither wuchs die Wiener Stadtwirtschaft rascher als vergleichbare Agglomerationen in Europa. Für eine Gruppe von 36 europäischen Großstädten189 berechneten Ökonomen für den Zeitraum von 1975 bis 1989 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen, regionalen bip von 2,4 Prozent, während die Wiener Wirtschaft jährlich nur 2,1 Prozent zulegte. Von 1989 bis 1993 fiel dann die durchschnittliche Wachstums­rate des gesamten Samples auf 1,2 Prozent zurück, das Wiener Wirtschafts­wachs­tum erhöhte sich hingegen auf 2,6 Prozent. Die Phase der guten Wirtschaftsentwicklung in der jüngsten Vergangenheit war auf der Ebene der »großen« historischen Einschnitte insbesondere von der Ostöffnung seit 1989 und dem Beitritt Österreichs zur eu gekennzeichnet. Damit ist die bereits skizzierte Veränderung des regulatorischen Umfeldes einhergegangen. Hinsichtlich der 190

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien sektoralen Struktur ist eine zunehmende Auflösung der traditionellen Abgren­zungen zu erkennen. Arbeitsbereiche, die früher im Rahmen Sachgüter­produzie­render Betriebe selbst abgedeckt wurden, wie Produktentwicklung, Finanzwirtschaft, Buchhaltung etc., werden in zunehmendem Ausmaß in spezialisierte Dienstlei­stungs­betriebe ausgelagert, wodurch sich statistisch eine noch stärkere Schwer­punktverlagerung zum Dienstleistungssektor ergibt, als es der Struktur des Gesamtoutputs der Wirtschaft entspricht. Weiters gleicht sich die Logik der Arbeitsorganisation in den beiden Sektoren immer stärker an. Einerseits dringen in den Dienst­leistungsbereich – insbesondere dank massiven edv-Einsatzes – arbeitsorganisatorische Prinzipien der Maschinisierung und Standardisierung ein, andererseits ermöglicht gerade auch der Einsatz modernster Technologie in der Sachgüter­produktion den Übergang zu Produktionsstrukturen, die günstige Stückkosten gewährleisten, ohne in unflexibler, spezialisierter Massenproduktion nur standardi­sierte Einheitsgüter erzeugen zu können. Die Betriebs- und Wirtschaftsstruktur in Wien ist seit den Neunzigerjahren in vielerlei Hinsicht von massiven Veränderungs­prozessen gekennzeichnet, die zum Teil schmerzhafte Umstrukturierungen mit sich bringen sollten. Diese boten aber zugleich die Chance, Defizite, die aus dem spezifischen histori­schen Entwicklungspfad resultierten (Binnenmarktorientierung und geringe Inno­vationsneigung bei sehr stabilen Kunden-Lieferanten-Beziehungen und unter den Bedingungen eines großteils von »Ostblockstaaten« umgebenen Standortes) zu überwinden und die gegenwärtige Dynamik für eine dauerhafte Stärkung des Wirtschaftsstandortes zu nutzen. Aus den wirtschaftlichen Erfolgen seit 1989 kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sich für Wien mit dem Strukturwandel im ostmitteleuropäischen Umfeld und dem eu-Beitritt alle Wachstumsprobleme und strukturellen Defizite aus den Jahrzehnten zuvor gleichsam von selbst erledigt hätten. Vielmehr müssen die gegenwärtigen spezifischen Standortvorteile an der ökonomischen Bruchlinie zwischen den Reform­staaten und den westlichen Ökonomien genutzt werden. Optimistische Szenarien gehen davon aus, dass sich von Wien aus in zunehmendem Ausmaß moderne, grenzübergreifende Produktions­ netzwerke in flexibel spezialisierten Fertigungs­ ketten entwickeln können. Dabei ergeben sich aus den größeren Absatzmärkten Skaleneffekte und durch die noch bestehenden Faktorkosten­differenziale auch kompetitive Vorteile dieser Strukturen auf den Westmärkten. Durch die fortschrei­tende Entwicklung derartiger Netzwerke, die allmähliche Diffusion von Know-how und westlicher Technologie sollten sich im Gleichklang mit der schrittweise durchge­ führten eu-Integration auch die Teile der Netzwerke in den Reformländern zu wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstrukturen auf hohem Niveau entwickeln.190 Wien selbst bedarf in dieser Phase ausreichend hochwertiger Dienstleistungs­anbieter, Unternehmensniederlassungen mit Zentralenfunktionen und technologie- bzw. innovationsintensiver Produktionscluster, sodass die Agglomeration insgesamt eine »kritische 191

peter eigner · andreas resch Masse« erreicht, die auch nach dem Auslaufen der zeit­spezifischen Standortvorteile entsprechende Ballungsvorteile191 als geschaffene Standortqualitäten mit sich bringt. Während dieses Entwicklungsprozesses sollten die Diffusion von technischem und organisatorischem Wissen sowie die »Erziehungs­funktion«192 für die Wiener Zulieferindustrie von nachhaltigem volkswirtschaftlichem Nutzen sein. Den Vorteilen, die Wien aus der Ostöffnung erwachsen, steht gleichwohl auch eine Reihe sozialer und infrastruktureller Folgekosten und Probleme (z. B. Druck auf den Wiener Arbeitsmarkt, steigende Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur) gegenüber. Das vorläufig hohe Lohnkosten­differenziale zwischen Österreich und einigen seiner Nachbarn bedroht vor allem die »arbeitskostenorientierten Billiglohn­industrien«. In Wien sind dies Branchen wie Ledererzeugung, Bekleidung und Bettwaren, Textilwaren oder Schuherzeugung und -reparatur – Zweige mit einer hohen Bedeutung der Lohnkosten bei gleichzeitig geringem Lohnniveau. Doch fand gerade in diesen Bereichen bereits in den vergangenen Jahrzehnten ein kontinu­ierlicher Abwanderungs- und Ausleseprozess statt, sodass um die Mitte der Neunzigerjahre nur noch allerhöchstens fünf Prozent der Wiener Industrie- bzw. ein Prozent aller Wiener Arbeitsplätze von diesem Lohndruck betroffen waren.193 Als Anzeichen für die positiven Entwicklungen des Wirtschaftsstandortes Wien ist zu erkennen, dass sich von 1989 bis 1991 die jährlichen österreichischen Direkt­ investitionen in den Reformländern sprunghaft auf sechs Milliarden Schilling vergrößert haben und dass sie bis 1994 auf einen Stand von etwa 24 Milliarden Schilling ange­wachsen sind.194 Während österreichische Investoren – offenbar aufgrund der geografischen und traditionellen kulturellen Nähe zu diesen Regionen – in den ersten Jahren nach der Ostöffnung zu den wichtigsten ausländischen Investoren gehörten, haben sie seither an relativem Stellenwert gegenüber finanzkräftigeren Gruppen aus anderen Weststaaten verloren. In Wien war mit dem Wandel eine gewisse Aufwertung von hier situierten Osteuropa­zentralen internationaler Konzerne verbunden. Eine Umfrage des Wirtschaftsforschungsinstituts (wifo) im Jahr 1995 bei 87 Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen in Wien, von denen 63 als Ostzentralen bezeichnet werden können, ergab eine deutliche Ausweitung der Kompetenzen in den Bereichen Management/Verwaltung, Controlling/Rechnungs­ wesen, Marketing, Vertrieb und Kundenbetreuung, also Bereichen, in denen Markt­ nähe eine wichtige Erfolgs­bedingung darstellt. In den längerfristig besonders entwicklungsrelevanten Bereichen strategische Planung, Produktionstätigkeit sowie Forschung und Entwicklung kam es allerdings vorerst nur zu relativ geringfügigen Kompetenz­aus­weitungen der Wiener Konzernniederlassungen.195 Als positive Qualitäten des Standortes Wien wurden bei der wifo-Umfrage vor allem der Zugang zu den Ostmärkten, der hohe Ausbildungsstand der Arbeitskräfte in Wien und die guten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung über die Markt­ 192

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien regionen angeführt. Als eine große Schwäche des Wirtschaftsstandortes gelten die langwierigen bürokratischen Abläufe im Zusammenhang mit Unternehmens­ gründungen und Wirtschaftsaktivitäten. In diesem Zusammenhang zeichnen sich aber durch Reformen gewisse Verbesserungen ab. Weniger Optimis­mus war hinsichtlich des zweiten besonders häufig genannten großen Mangels des Wirtschaftsstandortes Wien angebracht, der seine Attraktivität für internationale »player« stark beeinträchtigt, nämlich hinsichtlich der gravierenden Restriktionen bei der Erteilung von Einreise- und Arbeitsgenehmigungen für Nicht-eu-Bürger. So waren enorme bürokratische Hürden zu überwinden, um für Konzern­mitarbeiter aus den Reformstaaten Einreisegenehmigungen nach Österreich, selbst nur für kurze Besprechungen in Wien, zu erhalten. Noch viel schwieriger war es, Arbeitsgenehmi­gungen für diesen Personenkreis in Österreich zu erlangen, und selbst Arbeits­genehmigungen für leitende Mitarbeiter aus Weststaaten, auch wenn diese als sogenannte Schlüsselkräfte kategorisiert wurden, deren Tätigkeit auch für Öster­reicher zusätzliche Arbeitsplätze schafft, waren nur mit großem bürokratischem Aufwand zu erhalten. Somit gefährdeten diese Restriktionen ernsthaft die vielfach apostrophierte Rolle Wiens als »Drehscheibe für den Osten«. Sie wurden offenbar von Ängsten hinsichtlich des regionalen Arbeitsmarktes, aber nicht zuletzt auch von populistischen Politzwängen diktiert. In diesem und diversen anderen Bereichen hatte die Wirtschaftspolitik die heikle Balance zwischen zum Teil widersprüchlichen Zielen zu wahren. Hindernisse, die einer dynamischen Entwicklung entgegenstanden, mussten beseitigt werden, ohne den sozialen Frieden, der eine besonders wichtige Standortqualität Wiens und Österreichs ist, zu gefährden. Mit den Stimmen der spö, övp und der Grünen beschloss der Wiener Landtag am 21. Oktober 1997 eine Deklaration »Wien und Europa«196. Darin begrüßte man unter anderem grundsätzlich die eu-Osterweiterung, wenngleich auch auf gewisse mit ihr verbundene Gefahren, insbesondere für den Arbeitsmarkt, hingewiesen wurde. Daher forderte man entsprechende eu-Förderungsprogramme, ferner, dass die Beitritts­kandidaten die sozial-, arbeits- und umweltrechtlichen Standards der Union weit­gehend erfüllen müssten, ehe eine volle Integration realisiert werden könnte. Aus einer Vielzahl von Studien197 ging einhellig hervor, dass zur nachhaltigen Nutzung der gegenwärtigen Wachstumschancen die regionale Kooperation (mit den Umlandgemeinden, den Bundesländern Niederösterreich und Burgenland, aber auch den benachbarten ausländischen Stadtregionen Bratislava sowie Prag und Buda­pest) intensiviert werden müsse. Weiters wurde als notwendig erachtet, zukunftsgerechte Infra­strukturinvestitionen (insbesondere Verkehrsmaßnahmen) zu tätigen, bürokratische Hindernisse abzubauen, durch adäquate Förderungs­maßnahmen die regionale 193

peter eigner · andreas resch Struktur produktionsnaher Dienstleistungen sowie technologieorientierter Cluster zu stärken und Wissens­generierung und Wissenstransfer zwischen den örtlichen Forschungs­einrichtungen und der Wirtschaft zu verbessern. Derartige Ansätze sind in einer Vielzahl von Dokumenten zur Stadtentwicklung, wie dem step 94, sowie zuletzt in einem »Strategieplan für Wien« mit dem Titel »Qualität verpflichtet. Innovationen für Wien« (Entwurf vom Juni 1999) dokumentiert. Hinsichtlich der regionalen Kooperation notwendiger Entwicklungsplanungen bestanden Mitte der Neunziger nach wie vor insbesondere im engeren Bereich zwischen Wien und den Nach­bar­gemeinden bzw. Nachbarbundesländern erhebliche Defizite, wenngleich zum Beispiel mit der Einrichtung der Planungsgemeinschaft Ost, dem Verkehrs­verbund für den öffentlichen Personennahverkehr und der Einführung der Trademark »Vienna Region« erste Schritte getan wurden. Trotzdem müssen hinsichtlich der Verkehrs­planung, der Gefahr der Zersiedelung, der Realisierung von Großprojekten und der Präsentation der Region nach außen die Aktivitäten noch wesentlich besser abge­stimmt werden. Nur durch ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen kann die Region im internationalen Standortwettbewerb erfolgreich sein. In einer Großregion Wien-Bratislava könnten sich durch den Ausbau überregionaler Handels- und Dienst­leistungsfunktionen neue Wachstumsimpulse ergeben. Ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen wurde auch für die Erlangung einer strate­gisch günstigen Position im europäischen Verkehrsnetz gefordert.198 Unbestritten war, dass der Ost-West-Korridor Budapest–München–Stuttgart–Straßburg–Paris (die »Magistrale für Europa«) angesichts des zunehmenden Verkehrs auszubauen wäre. Wo an dieser Magistrale Knotenpunkte entstehen, die sich zu besonders attraktiven Wirtschaftsstandorten entwickeln, hängt vom Ausbau leistungsfähiger Nord-Süd-Verbindungen ab. Wien muss sich daher engagieren, um im Trans-Europäischen-Netzwerk (ten) eine möglichst prominente Position zu erlangen. In dieser Hinsicht bestehen bezüglich mancher Verkehrsstrecken durchaus gemeinsame Interessen – etwa mit den Nachbarbundesländern sowie mit Bratislava und Budapest (was den Ost-West-Korridor betrifft). Daneben zeichnen sich aber auch miteinander zum Teil konkurrierende Projekte hinsichtlich der Errichtung hochrangiger Nord-Süd-Verbindungen ab. Zum Beispiel gibt es einerseits Bestre­ bungen für den Ausbau einer Nord-Süd-Bahnverbindung Berlin – Prag – Brünn/ War­schau – Wien – Adria. Andererseits sind bereits Vorhaben für eine leistungsfähige Verbindung von Budapest nach Slowenien weit entwickelt. Sollten demgegenüber die Projekte für den Strecken­ausbau von Wien in den Süden, die bereits seit Jahren diskutiert werden, weiterhin kaum vorankommen, so droht sowohl der Region selbst als auch den südlich gelegenen Bundesländern Steiermark und Kärnten, dass sie relativ an Lagegunst einbüßen. Die Stadt bzw. die Region Wien muss in 194

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien diesem Sinne national und international Allianzen schließen, um eine hochrangige Knotenfunktion in einem zukünftigen leistungsfähigen europäischen Verkehrsnetzwerk sicher­zustellen. Es erscheint plausibel, dass in diesem Bereich der Aufwand selbst von sehr erheb­lichen öffentlichen Mitteln gerechtfertigt ist. Damit Wien die Funktion eines leistung­sfähigen Verkehrsknotens erfüllen kann, ohne im zusätzlichen Verkehrs­aufkommen zu ersticken, soll, wo möglich, dem Schienen- vor dem Straßenverkehr der Vorzug gegeben werden (insbesondere im Güterverkehr und öffentlichen Personennah­verkehr). Dafür müssen bestimmte Bahnlinien (Lainzer Tunnel, S80, Flughafen­schnellbahn) sowie Bahnhöfe ausgebaut werden, leistungsfähige intermodale Schnittstellen zwischen Schienen-, Schiffs- und Straßenverkehr errichtet (gvz Inzersdorf, Hafen) und der Flughafen Schwechat erweitert werden. Zur Ver­knüpfung von Schiene und Straße muss der Knoten Inzersdorf ausgebaut werden, was den Bau der B 301 voraussetzt. Weiters soll eine koordinierte Entwicklung mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in Bratislava (Hafen, Flughafen, intermodaler Knoten) zur Stärkung der Gesamt­region angestrebt werden. Im Bereich der Ener­gie­versorgung und Telekommuni­kation war in den Neunzigern zu beobachten, wie ein staatlich kontrollierter Übergang zu weitgehend liberalisierten Strukturen zu einer Verbesserung des Angebots und Senkung der Preise führte und damit dem Wirt­schafts­standort Wien im internationalen Vergleich zusätzliche Attraktivität verlieh. Neben diesen infrastrukturellen Fortschritten müssen im Sinne der erstrebten Rolle Wiens auch die rechtlichen Rahmen­bedingungen für inländische Firmen und inter­nationale Investoren optimiert werden. Im Sinne des »New Public Management« wurden beim Abbau von bürokratischen Hemmnissen bei Unternehmensund Betriebs­gründungen bereits erkennbare Fortschritte erzielt. Verfahren wurden vereinfacht und zusammengelegt, Behörden agieren zusehends weniger als obrigkeitliche Machtinstanzen denn als Dienstleister für die Bürgerinnen und Bürger. Zur Entwicklung von »promising activities« in der Wirtschaft suchte man darüber hinaus vonseiten der öffentlichen Hand auch durch eine aktive Förderpolitik beizutragen. Die Wiener Wirtschaft kann angesichts der relativ hohen Lohn- und Produktions­kosten auf Dauer nur florieren, wenn sie ihre nach wie vor zu geringe Forschungs- und Innovationstätigkeit ausweitet. Wie erwähnt, verlagerte sich schon seit den Achtzigerjahren der Schwerpunkt der Förderung (auf Bundes- wie auf Landes­ebene) von defensiven Subventionen zur Investitions- und Innovations­ förderung. Zunehmendes Gewicht fällt der Förderung von Investitionen in immaterielle Werte, wie Design, Generierung von Know-how etc. zu. Insbesondere kommen für die Förderungsaktivitäten jene oben genannten großen und kleinen Wiener Industriebranchen infrage, die bereits eine überdurchschnittliche Konzen­ tration und Produktivität erlangt haben, wie etwa die Biotechnologie, Medizin195

peter eigner · andreas resch technik und Pharmaindustrie oder diverse Zweige der Elektro- und Fahrzeugindustrie. Dabei bildet – in Übereinstimmung mit den eu-Richtlinien – auch die Gründungsförderung für innovative Klein- und Mittelbetriebe einen wichtigen Schwerpunkt. Mehrere aktuelle Leitprojekte sollten überdies der Verbesserung des Transfers zwischen Forschung und Unternehmungen dienen und auch das Image Wiens als Technologiestandort fördern. Zu nennen sind etwa das Biologiezentrum Dr. Bohr­ gasse sowie das im Mai 1999 gegründete Forschungszentrum Telekommuni­kation Wien (ftw), heute Teil des ambitiösen Technologieparks oder, mit einem Modewort, Clusters »Tech Gate Vienna« auf der Donauplatte, der eine enge Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft ermöglichen soll. Bei all diesen Vorhaben wirkten öffentliche Stellen und private Unternehmen zusammen. Im Falle des ftw fanden sich Kapsch, Ericsson, Nokia, Nortel sowie einige kleinere Unternehmen unter den privatwirt­schaftlichen Partnern, für das Gesamtprojekt auf der Donauplatte haben die Stadt Wien, der Bund und die Wiener Städtische Versicherung gemeinsam die Tech Gate Gesell­schaft gegründet.199 Dank des guten Angebots hoch qualifizierter Arbeitskräfte, des aktiven Engagements vieler Unternehmen im gegenwärtigen Entwicklungsprozess, der wissenschaftlichen Begleitung dieses Wandels durch eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen und der Bemühungen seitens der öffentlichen Hand, dafür gute Rahmenbedingungen zu schaffen, sind bereits erste Erfolge hinsichtlich des Entstehens von skill-intensiven Pro­duktionsnetzwerken zu erkennen, wenngleich insbesondere hinsichtlich der Größen­struktur der kommerziellen, juristischen und produktionsnahen Dienstleistungsbe­triebe und somit hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf überregionalen Märkten noch Defizite zu konstatieren sind. Ein weiteres Problem des Wirtschaftsstandortes Wien ist, dass sein Außenimage deutlich schlechter ist als die Einschätzung seiner Standortqualitäten durch Firmen, die hier bereits ansässig sind. Um diese Diskre­panz abzubauen und somit noch mehr möglichst hochrangige Headquarter internationaler Firmen nach Wien zu bringen, müssen die zeitgemäßen Möglichkeiten des internationalen Stadtmarketing ausgeschöpft werden. Der besseren Vermark­tung des Wirtschaftsstandortes Wien, ausgerichtet insbesondere auf Märkte, wo die Wiener Wirtschaft unterrepräsentiert ist, wie etwa in Asien, diente die Schaffung des internationalen Markennamens »Wien Products«, die mit dem Slogan »take Vienna home« werben. Unter diesem Markennamen wird eine breite Palette qualitativ hoch­wertiger und technologieintensiver Produkte und Dienst­leistungen zusammengefasst, gedacht ist in erster Linie an eine Beteiligung typischer Wiener Klein- und Mittelbe­triebe, die auf diese Weise Exportaktivitäten entfalten sollen, die ihnen aus Kosten­gründen im Alleingang nicht möglich wären. 196

wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien Als Entwicklungsschiene mit großer Außenwirkung bietet sich überdies an, an die große Tradition Wiens als Kongress- und Wissenschaftsstadt anzuknüpfen. Die Bemü­hungen, weitere hochrangige Institutionen globalen und europäischen Zuschnitts nach Wien zu holen, sollten begleitet sein von einer konsequenten Profilierung Wiens als Wissenschaftsstadt, wobei nicht allein vorder­gründig anwendungsorientierte Fächer berücksichtigt werden sollten. Experten des wifo 200 schlagen etwa als adäquaten Forschungsschwerpunkt für einen konzen­trierten Mittel­einsatz den Bereich der internationalen Konfliktforschung vor, wo bereits an erheb­liche bestehende Potentiale in diversen Disziplinen (z. B.: Sozial-, Politik-, Wirtschafts-, Rechts-, Geschichtswissenschaften) anzuknüpfen wäre.

A nmerkungen 1 Eine erste Fassung des vorliegenden Beitrages wurde für dieses Buchprojekt ursprünglich im Jahr 1999 fertig gestellt. Im Jahr 2003 erschien eine Textvariante mit erheblich erweitertem Betrachtungszeitraum unter  : Peter Eigner, Andreas Resch, Die wirtschaftliche Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in  : Franz Eder u. a. (Hg.), Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck u. a. 2003, 8–140. Für die hier vorliegende Publikation wurde punktuell seither erschienene Literatur eingearbeitet, einige Kapitel wurden weitergehend umformuliert. 2 Eine ausführliche Darstellung der ökonomischen Konsequenzen des EU-Beitritts und der »Osterweiterung« würde über den Betrachtungszeitraum dieses Beitrags hinausweisen. Als frühe Studie dazu vgl. etwa Peter Havlik, Peter Mayerhofer, Norbert Geldner, Wirtschaftliche Effekte einer EU-Osterweiterung auf den Raum Wien, Wien 1997. 3 Zur Analyse von Stadtentwicklungen anhand der demografischen und sektoralen Entwicklung siehe  : Jürgen Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklung in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, Reinbek bei Hamburg 1978  ; ders. (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, Berlin, New York 1985. Das dem in diesen Büchern dargestellten Modell zugrunde liegende Schema der Entwicklung von der Agrargesellschaft über eine Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft geht zurück auf das Buch von Jean Fourastié, Die Große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln-Deutz 1954. 4 Vgl. dazu und im Folgenden auch Gerhard Meißl, Ökonomie und Urbanität. Zur wirtschafts- und sozial­ geschichtlichen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in  : Peter Csendes, Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3  : Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar 2006, 652f. 5 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 653. 6 Geburtenbilanz  : Differenz zwischen der Zahl der Lebendgeborenen und der Verstorbenen pro Jahr. 7 Zum Beispiel übertraf die Zahl der Zuwanderer jene der Abwanderer in den Jahren zwischen 1880 und 1910 um eine halbe Million. Zur Zuwanderung vgl. Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt, Wien 1990. Siehe auch den Beitrag von Andreas Weigl zum demografischen Wandel in diesem Band. 8 Gemäß der Verordnung über den »Einsatz jüdischen Vermögens« vom Dezember 1938, RGBl. I, S. 1709, konnte Inhabern jüdischer Gewerbebetriebe oder landwirtschaftlicher Güter aufgetragen werden, ihr Unternehmen binnen einer bestimmten Frist zu veräußern. Kam der jüdische Eigentümer dieser Aufforderung nicht nach, so wurde ihm ein »Abwickler« beigestellt, der die Liquidierung vornahm. Vgl. Jonny

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Moser, Die Apokalypse der Wiener Juden, in  : Wien 1938, Historisches Museum der Stadt Wien, 110. Sonderausstellung, Wien 1988, 294, sowie die umfangreichen Ergebnisse der Historikerkommission der Republik Österreich, etwa Clemens Jabloner u. a., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen, Wien u. a. 2003, sowie 31 weitere Bände aus 2004.  9 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien, Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39, Buchloe 1988, 328ff. 10 Zur Abnahme der Erwerbstätigkeit in der Wiener Kreativwirtschaft von 1910 bis 1951 siehe Andreas Resch, Anmerkungen zur langfristigen Entwicklung der »Creative Industries« in Wien, in  : Peter Mayerhofer, Andreas Resch, Philipp Peltz, »Creative Industries« in Wien. Dynamik, Arbeitsplätze, Akteure, Wien, Berlin 2008, 9–33, hier 19–31. 11 Gerhard Meißl, Industrie, in  : Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 3, Wien 1994, 308. 12 Zur Schadensbilanz des Krieges siehe Gustav Bihl, Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte, in  : Csendes, Opll (Hg.), Wien, Bd. 3, 545ff.; Franz Satzinger, Helga Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 3/95, 4. 13 Zum Alltag in Wien 1945 und danach vgl. Bihl, Wien 1945–2005, 551ff  ; Ela Hornung, Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945 bis 1955, in  : Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995, Wien 1995, 54ff  ; Irene Bandhauer-Schöffmann, Ela Hornung, Von Mythen und Trümmern. Oral History-Interviews mit Frauen zum Alltag im Nachkriegs-Wien, Wien 1992. 14 USIA steht für »Uprawlenje Sowjetskim Imuschestwom w Awstrij« = Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich. 15 Der Anteil der USIA-Betriebe an der Industrie in Wien und Niederösterreich betrug dreißig Prozent. Andreas Weigl, Hinter den Kulissen des Wirtschaftswunders, Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 1/2011, 6. 16 European Recovery Program (ERP) = offizielle Bezeichnung für den Marshallplan. 17 Vgl. Hans Bobek, Elisabeth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Graz, Köln 1966, 165ff  ; Karl Ausch, Wien und die Wirtschaft, in  : Wieder­geburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965, Wien 1965, 117ff  ; Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Wien 1979, 75 ff  ; Günter Bischof, Dieter Stiefel (Hg.), 80 Dollar. 50 Jahre ERP-Fonds und Marshall-Plan in Österreich 1948–1998, Wien, Frankfurt 1999, darin u. a.: Dieter Stiefel, Coca-Cola kam nicht über die Enns  : Die ökonomische Benachteiligung der sowjetischen Besatzungszone, 111ff  ; Fritz Weber, Wiederaufbau zwischen Ost und West, in  : Sieder/Steinert/Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995, 68ff. 18 Weigl, Hinter den Kulissen, 6. 19 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 677. 20 Dieser Wert wurde im gesamten zwanzigsten Jahrhundert nur während der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren mit jährlich rund sechs Geburten je tausend Einwohner unterschritten. 21 Moser, Apokalypse, 296. 22 Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Wien 1985, 119  ; ders., Österreichische Wirtschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar 2011, 299ff. 23 So stieg die Zahl der Schlosser, Werkzeugmacher, Mechaniker und Dreher zwischen 1934 und 1951 stark an, vgl. Weigl, Hinter den Kulissen, 7. 24 Klaus Schubert, Wien, in  : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 490f. 25 Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, div. Jahrgänge. 26 Vgl. Peter Eigner, Ein Schritt nach vorne, zwei Schritte zurück – Die wechselhafte Geschichte des Fi-

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nanzplatzes Wien im 20. Jahrhundert, in  : Oliver Rathkolb, Theodor Venus, Ulrike Zimmerl (Hg.), Bank Austria Creditanstalt. 150 Jahre österreichische Bankengeschichte im Zentrum Europas, Wien 2005, 482–501  ; Andreas Resch, Wien – die wechselvolle Entwicklung eines Finanzplatzes in Zentraleuropa, in  : Europäische Finanzplätze im Wettbewerb (Bankhistorisches Archiv – Beiheft 45), Stuttgart 2006, 93–138  ; Andreas Resch, Dieter Stiefel, Vienna  : The Eventful History of a Financial Center, in  : Günter Bischof u. a. (Hg.), Global Austria. Austria’s Place in Europe and the World (Contemporary Austrian Studies XX), New Orleans, Innsbruck 2011, 117–146. 27 Meißl, Industrie, 308  ; Butschek, Österreichische Wirtschaftsgeschichte, 319ff. 28 Jens Dangschat, Jürgen Friedrichs, Klaus Kiehl, Klaus Schubert, Phasen der Landes- und Stadtent­ wicklung, in  : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, 1–148. 29 So lag das Wiener Volkseinkommen pro Kopf 1964 bereits um 42 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt. Weigl, Hinter den Kulissen, 7. 30 Andere Anteile werden bei Meißl, Ökonomie und Urbanität, 696 bzw. 700, angeführt  : Zwischen 1972 und 1975 reduzierte sich der Anteil der Hauptstadt am BIP von 29,4 auf 27,1 Prozent, betrug 1981 nur mehr 26 Prozent und stieg bis 1990 auf 27,3 Prozent an. 31 Kurt Hübner, Birgit Mahnkopf, École de la Régulation. Eine kommentierte Literaturstudie, Berlin 1988  ; Robert Boyer, La Théorie de la Régulation  : une analyse critique, Paris 1986  ; Gunther Maier, Franz Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2, Regionalentwicklung und Regionalpolitik (Springers Kurz­lehr­ bücher der Wirtschaftswissenschaften), Wien, New York 1996. 32 Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2000, 48. 33 Vgl. Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Zweiten Republik, in  : dies. (Hg.), Österreich 1945–1995, 9ff. 34 1974 verfügten 62 Prozent der Wiener Haushalte über einen Telefonanschluss, 91 Prozent über Kühlgeräte, 41 Prozent über Pkws, 39 Prozent über eine Waschmaschine und immerhin 14 Prozent über ein Farbfernsehgerät. Weigl, Hinter den Kulissen, 5. 35 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 679. 36 Wie von der Urbanistin Jane Jacobs bereits 1961 entdeckt, vgl. Meißl, Ökonomie und Urbanität, 687f. 37 Ausch, Wien und die Wirtschaft, 120. 38 Zur Sozialpartnerschaft siehe etwa Peter Gerlich, Edgar Grande, Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozial­ partnerschaft in der Krise, Wien 1985  ; Anton Pelinka, Sozialpartnerschaft und Interessen­verbände, Wien 1986  ; Emmerich Tálos (Hg.), Sozialpartnerschaft. Kontinuität und Wandel eines Modells, Wien 1993  ; Günther Chaloupek, Entwicklung und Zukunft der österreichischen Sozialpartnerschaft (Materi­alien zu Wirtschaft und Gesellschaft, 59), Wien 1995. 39 Vgl. Boyer, La Théorie de la Régulation  ; Hübner/Mahnkopf, École de la Régulation  ; Maier/Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2  ; Renate Banik-Schweitzer, Die Großstädte im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in  : Gerhard Melinz, Susan Zimmer­mann (Hg.), Wien – Prag – Budapest. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867– 1918), Wien 1996, 35ff. 40 Maier/Tödtling, Regional- und Stadtökonomik 2, 155. 41 Peter Pokay, Andreas Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995  : Grundzüge seiner Entwicklung in längerfristiger Perspektive, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 3/96  ; Felix Butschek, Der öster­ reichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. 42 Vgl. etwa  : Karl Bachinger, »Ein paar Milliarden mehr Schulden sind weniger schlimm als ein paar hunderttausend Arbeitslose«. Ökonomie und Beschäftigung, in  : Bruno Kreisky. Seine Zeit und mehr (Wissenschaftliche Begleitpublikation zur 240. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, hg. von der Stiftung Bruno Kreisky Archiv und dem Historischen Museum der Stadt Wien), Wien

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1998, 71–85  ; Kurt W. Rothschild, Austro-Keynesianism Reconsidered, in  : Günter Bischof, Anton Pelinka (Hg.), The Kreisky Era in Austria (Contemporary Austrian Studies, 2), New Brunswick, London 1994  ; Hans Seidl, Social Partnership and Austro-Keynesianism, in  : Günter Bischof, Anton Pelinka (Hg.), Austro-Corporatism. Past. Present. Future (Contemporary Austrian Studies, 4) New Brunswick, London 1996, 94–118  ; Fritz Weber, Theodor Venus (Hg.), Der Austro-Keynesianismus in Theorie und Praxis, Wien 1993. 43 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram), Wien 1995, 489. 44 Bachinger, Ein paar Milliarden Schulden, 82. 45 Angaben laut Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger nach Pokay/Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt, 4f. 46 Fallende Steuereinnahmen, höhere Aufwendungen für Arbeitslose sowie für industrielle und land­ wirtschaftliche Subventionen. 47 Vgl. Hannes Swoboda, Tendenzen und Probleme der Wiener Budgetpolitik (Materialien zu Wirt­schaft und Gesellschaft, Nr. 27), Wien 1983  ; Bruno Roßmann, Die Haushaltsentwicklung der Stadt Wien 1980– 1989. Eine Strukturanalyse, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 1991, Heft 2, 157–197  ; Ger­hard Lehner, Peter Mayerhofer, Josef Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets. Studie des Öster­reichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1997. 48 Swoboda, Tendenzen und Probleme der Wiener Budgetpolitik, 24f. 49 Insbesondere die Wahl Felix Slaviks zum Wiener Bürgermeister 1970 wird als Ausdruck einer Wende für die Wiener Wirtschafts- und Stadtentwicklung bezeichnet. Bereits als Finanzstadtrat und Vizebürgermeister hatte Slavik wirtschaftlichen Belangen größeres Augenmerk geschenkt. Es kam zu vorsichtigen Ansätzen einer antizyklischen Budgetpolitik Wiens, z. B. zu Fördermaßnahmen wegen des Konjunktureinbruchs von 1971, »ohne dass von einem echten Keynesianismus in der kommunalen Wirtschaftspolitik gesprochen werden konnte«. Weigl, Hinter den Kulissen, 18. 50 Vgl. Michael J. Piore, Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion. Studien über die Requali­ fizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989  ; Karl Aiginger, Gunther Tichy, Die Größe der Kleinen. Die überraschenden Erfolge kleiner und mittlerer Unter­nehmen in den achtziger Jahren, Wien 1984. 51 Vgl. Werner Clement (Hg.), Die Tertiärisierung der Industrie, Wien 1988. 52 Alternative Berechnungen mit Daten des Arbeits­marktservice Wien und Österreich ergeben bereits für die Jahre 1980 bis 1987 sowie auch für die Zeit ab 1991 eine geringfügig höhere Arbeitslosen­quote für Wien als für Gesamtösterreich. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, Tafel VII, Tabelle 16.05 a, b. 53 Karl Aiginger, Von der Mitte aus, auf dem Weg nach vorne. Österreichs Wirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren, in  : Sieder/Steinert/Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995, 272. 54 Einen Überblick über »Räumliche Basiskonzepte« der Stadtgeografie gibt  : Elisabeth Lichtenber­ger, Stadtgeographie. Band 1, Begriffe, Konzepte, Modelle, Prozesse, 3. neu bearbeitete und erweiter­te Auflage, Stuttgart, Leipzig 1998, 102ff. 55 Vgl. Leo van den Berg u. a., Urban Europe. A Study of Growth and Decline, Oxford 1982  ; N. Vanhove, L.H. Klaassen, Regional Policy. A European Approach, Aldershot 1987  ; Gunther Maier, Franz Tödt­ ling, Regional- und Stadtökono­mik, Standorttheorie und Raumstruktur, 2. verbesserte Auflage (Springers Kurzlehrbücher der Wirtschaftswissenschaften), Wien, New York 1995, 167ff  ; Jürgen Friedrichs, Stadtsoziologie, Opladen 1995, 33ff. 56 Vgl. dazu  : Jürgen Friedrichs, Robert Kecskes (Hg.), Gentrification. Theorie und Forschungsergeb­nisse, Opladen 1996. 57 Vgl. Peter Mayerhofer, Gerhard Palme, Wirtschaftsstandort Wien  : Positionierung im euro­päischen Städ-

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tenetz (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bank Austria AG), Wien 1996, 32f. 58 Hellmut Ritter, Die Bevölkerung Wiens, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 3/93, 6  ; Satzinger/ Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 31. 59 Zum Beispiel entstanden im Zusammenhang mit dem während des Zweiten Weltkriegs gegründeten Ölhafen Lobau zwischen 1958 und 1961 in Schwechat eine Raffinerie und ein petrochemischer Groß­be­trieb. Bobek/Lichtenberger, Wien, 197. 60 Bobek/Lichtenberger, Wien, 166f. und 196ff. 61 Die Personenstands- und Betriebsaufnahme am 10. Oktober 1959 (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, Jg. 1960, Sonderheft Nr. 2), Wien 1960. 62 Laut Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger arbeiteten 1959 in Wien 744.567 unselbstständig Beschäftigte. Pokay/Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995, 4. 63 Darunter seien hier die Betriebsklassen 4 Steine-, Erdengewinnung und -bearbeitung, Glas­produk­tion, 6 Eisen- und Metallgewinnung und -bearbeitung, 7 Holzbearbeitung, 8 Ledererzeugung und -be­ar­ beitung, 9 Textilbetriebe, 10 Bekleidungsbetriebe, 11 Papiererzeugung und -bearbeitung, 12 Grafi­sche Betriebe, 13 Chemische Produktion und 14 Nahrungs- und Genussmittelbetriebe subsumiert. Die durch die Addition der Werte dieser Betriebsklassen errechneten Zahlen sind nur bedingt mit den Wer­ten für das verarbeitende Gewerbe und die Industrie der späteren Arbeits­stätten­zählungen vergleich­bar. Zum Beispiel wurde später die Steine- und Erdengewinnung dem Bergbau zuge­rechnet und nur noch die Verarbeitung der entsprechenden Rohstoffe dem verarbeitenden Gewerbe bezie­hungsweise der Industrie zugezählt. Die Steine- und Erdengewinnung war in Wien jedoch relativ bedeutungslos, sodass diese Unschärfe das Ergebnis kaum beeinflusst. 64 Vgl. Personenstands- und Betriebsaufnahme 1959, 49f. 65 Gerhard Meißl, Arbeitsort Wien. Die Entwicklung der Wiener Wirtschaft nach 1945 aus dem Blickwinkel der Betriebs- und Arbeitsstättenzählungen, in  : Josef Schmee, Andreas Weigl (Hg.), Wiener Wirtschaft 1945–1998. Geschichte – Entwicklungslinien – Perspektiven, Frankfurt am Main 1999, 21. 66 Peter Eigner, Andreas Weigl unter Mitarbeit von Roland Löffler, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum. Wien im 20. Jahrhundert, in  : Chronik der Wiener Wirtschaft, 2. überarbeitete Auflage, Wien o.J., 216. 67 Achtzig der 98 niederösterreichischen Gemeinden, die 1938 dem Wiener Gemeindegebiet eingegliedert worden waren, wurden 1954 wieder ausgemeindet. 68 Zur Entwicklung des Sozialen Wohnbaus in Wien nach 1945 vgl. Peter Eigner, Herbert Matis, Andreas Resch, Sozialer Wohnbau in Wien. Eine historische Bestands­aufnahme, in  : Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 1999, 49–100, insb. 70ff. 69 Bobek/Lichtenberger, Wien, 167f. 70 Robert Stern (Hg.), Österreich, Land im Aufstieg, Wien 1955, 106, 132, 166 und 232. 71 Satzinger, Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 31  ; Hellmut Ritter, Andreas Weigl, Zeitreihen zu Bevölkerung, Gesundheitswesen und Umwelt in Wien 1945–2001, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien, Heft 2,3/2002, 5–51, hier 9–40. 72 Volkszählung 1961 und 1971  : Beschäftigte am Arbeitsort. 73 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 45. 74 Frauen im Alter zwischen 15 und sechzig Jahren und Männer im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 75 Die Anzahl der Bewohner und Bewohnerinnen im erwerbsfähigen Alter verminderte sich von 1.137.012 (1961) um 9,6 Prozent auf 1.028.354 (1971). Vgl. Volkszählungsergebnisse 1961 und 1971  ; Schubert, Wien, 493. 76 Andreas Weigl, Zeitreihen zur Wiener Wirtschaft 1945–2000, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien, Heft 2,3/2001, 28  ; Schubert, Wien, 491ff. 77 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Gemeinde Wien 1980, 25.

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78 Schubert, Wien, 498ff. 79 Volkszählungen 1961 und 1971 nach  : Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, 1965 und 1975. 80 Die beschäftigte Wohnbevölkerung in der Inneren Stadt bestand im Jahr 1961 aus 16 808 Personen, 1971 hingegen aus nur noch 11 608 Personen. Statistisches Jahrbuch der Gemeinde Wien 1980, 25. 81 Schubert, Wien, 491. 82 Schubert, Wien, 505. 83 Vgl. dazu das Beispiel Gumpendorf  ; Hans Hovorka, Leopold Redl, Ein Stadtviertel verändert sich, Wien 1987. 84 Die Arbeitsstättenzählung vom 10. Oktober 1973 in Wien, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1978. 85 Wirtschaftsabteilungen 3/4/5 gemäß der Betriebssystematik von 1968. 86 Meißl, Industrie, 308. 87 Eigner/Weigl, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum, 218. 88 Elisabeth Lichtenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City, Wien 1977, 323. 89 Eigner/Matis/Resch, Sozialer Wohnbau in Wien, 76f  ; Bihl, Wien 1945–2005, 590ff. 90 Renate Banik-Schweitzer, Leopold Redl, Peter Wünschmann, Das lange Warten auf die kurze Reise. Der öffentliche Verkehr, in  : Wien wirklich. Der Stadtführer, hg. von Renate Banik-Schweitzer u. a., Wien 1992, 64f. 91 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 31. 92 Volkszählungen 1971 und 1981  : Beschäftigte am Arbeitsort. 93 Vgl. Franz Köppl u. a., Arbeiten in Wien, Wien, o.J., 9ff. 94 Die Wiener Arbeitsstätten am 12. Mai 1981, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1985. Für quellenkritische Anmerkungen zu den Arbeitsstättenzählungen siehe Meißl, Arbeitsort Wien  ; ders., Ökonomie und Urbanität, 693f. 95 Die Differenzen zwischen den Zahlenangaben zu den Beschäftigten laut Volkszählung bzw. Arbeitsstättenzählung werden vom statistischen Zentralamt mit folgenden Argumenten erklärt  : 1. Die Volks­ zählungsbögen werden von den »Zensiten« selbst, die Bögen der Arbeitsstättenzählung hingegen von den Leitern der Arbeitsstätten ausgefüllt. 2. Manche Zensiten aus Niederösterreich gaben bei der Volks­ zählung den Wiener Hauptsitz ihres Arbeitgebers an, obwohl sich ihre Arbeits­stätte in Nieder­österreich befand. 3. Bei der Arbeitsstättenzählung erfolgt die Angabe eher am Monatsanfang oder Monatsende, bei der Volkszählung eher im Zeitraum des Stichtages. 4. Im Rahmen der Arbeitsstätten­zählung werden teilweise die Beschäftigten mit Werkvertrag sowie Konsulenten, Teilzeitbeschäftigte, vorübergehend im Ausland Beschäftigte und auch das fahrende Personal nur unvollständig ange­geben. 5. Im Rahmen der Arbeitsstättenzählung werden vor allem im Bereich der gewerblichen Wirt­schaft von Kiosk- und Tankstelleninhabern, Taxiunternehmern oder anderen selbstständig Tätigen sehr häufig keine Erhebungsunterlagen ausgefüllt. Weiters trat eine Untererfassung der Beschäftigten im Baugewerbe auf. 6. Eine gewisse Untererfassung war bei der Arbeitsstättenzählung auch im öffent­lichen Sektor sowie im Bereich der diplomatischen Vertretungen festzustellen. (Vgl. Die Wiener Arbeitsstätten am 12. Mai 1981, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1985, Xff.) Daher sind all diese Zählungen mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren, wenngleich sie die grundlegenden Trends sicher richtig wiedergeben. 96 Satzinger, Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 52. 97 Vgl. Elfriede Lichtenberger, Industrieansiedlungen im Wiener Raum, Diplomarbeit WU Wien, Wien 1978, 68 und 80. 98 Herbert Binder, Räumliche Entwicklung der Arbeitsstätten, in  : der aufbau 2/3 (1982), 86. 99 Schubert, Wien, 526.

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100 Vgl. der aufbau 2/3 (1982). 101 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 699 bzw. 701. 102 Binder, Räumliche Entwicklung, 84, 87. 103 Eigner/Weigl, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum, 232  ; Lichtenberger, Industrieansiedlungen, 84f. und 98ff. 104 Andreas Resch, BÜRGES Förderungsbank. 40 Jahre Förderung österreichischer Klein- und Mittel­ betriebe (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Band 1), Wien 1996, 23  ; Helmut Dorn, Eine Strukturanalyse des dreistufigen öffentlichen Haftungssystems, in  : Österreichisches BankArchiv, 1974, Heft 3  ; Anton Schmoll, Das System der direkten Investitionsförde­rung im Gewerbe. Eine betriebswirtschaftliche Analyse (Österreichische Bankwissenschaftliche Gesell­schaft, Schriftenreihe, Heft 62), Wien 1984, 36ff. 105 Lichtenberger, Industrieansiedlungen, 86. 106 Robert Wolfgring, Der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, in  : der aufbau 1 (1983), 13. 107 Vgl. Peter Szopo, Karl Aiginger, Gerhard Lehner, Ziele, Instrumente und Effizienz der Investitions­ förde­rung in Österreich, Wien 1985, 202ff. 108 Lichtenberger, Industrieansiedlungen, 87f. 109 Wohnungszählungen 1961, 1971, 1981. 110 Walter Matznetter, Wohnbauträger zwischen Staat und Markt. Strukturen des Sozialen Wohnungs­baus in Wien, Frankfurt am Main, New York 1991, 201. 111 Robert Kretschmann, Revitalisierung Spittelberg, Wien 1983  ; Bernhard Kauntz, Wien 7, Spittelberg. Ein altes Vergnügungs- und Kulturviertel, Wien 2005  ; Julia Fellinger, Doris Jecel, Stefan Kammerer, Kunst findet Stadt. Die Entstehung des »Kunst- und Kulturviertels« im Stadtteil Spittelberg, in  : Andrea Grisold, Elfie Miklautz, Andreas Resch (Hg.), Kreativ in Wien. Vierzehn Fallstudien im Spannungsfeld von Ökonomie und Kunst, Wien, Berlin 2011, 269–287. 112 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 53. 113 Schubert, Wien, 558. 114 Siegfried Mattl, Die lauen Jahre. Wien 1978–1985, in  : Martin W. Drexler, Markus Eiblmayr, Franziska Maderthaner (Hg.), Idealzone Wien. Die schnellen Jahre (1978–1985), Wien 1998, 85. 115 Eigner/Weigl, Schrumpfung, Stagnation und Wachstum, 224. 116 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 54. 117 Vgl. dazu Peter Eigner, Wie(n) neu  ! Die urbane Renaissance Wiens 1975–2010, in  : Peter Berger, Peter Eigner, Andreas Resch (Hg.), Die vielen Gesichter des wirtschaftlichen Wandels. Beiträge zur Innova­ tionsgeschichte. Festschrift für Dieter Stiefel, Wien 2011, 181–201  ; Mattl, Wien im 20. Jahrhundert, 83ff  ; Meißl, Ökonomie und Urbanität, 710. 118 Daten für 1995 laut Bevölkerungsfortschreibung  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, 45. 119 http  ://www.wien.gv.at/statistik/bevoelkerung/demographie/index.html. 120 Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2010 121 Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 30f. 122 Die Geburtenrate lag 1985 bei 9,6, im Jahr 1990 bei 10,7, die Sterberate sank von 15,8 (1985) auf 13,7 (1990). Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1995, 49. Die Anzahl der Todesfälle überwog die Anzahl der Geburten in den Jahren 1961 bis 1971 um 76 127, im Jahrzehnt bis 1981 um 117.256 und von 1981 bis 1991 nur noch um 77.167. Ritter, Die Bevölkerung Wiens, 6. 123 Volkszählungen 1981, 1991 und 2001  : Beschäftigte am Arbeitsort. Für das Jahr 2009 erhob die Statistik Austria 964.400 in Wien aktive Erwerbstätige, was im Vergleich zum Ergebnis der Volkszählung 2001 (Arbeitsbevölkerung  : 837.173) auf eine erhebliche Steigerung schließen lässt, wenngleich die Zahlen mit unterschiedlichen Methoden generiert wurden.

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124 Volkszählungen 1981 und 1991  : Beschäftigte am Arbeitsort. 125 Arbeitsstättenzählung in Wien vom 15. Mai 1991, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1995. 126 Z.B. 1982 Eröffnung eines General Motors Werks. 127 Z.B. sukzessiver Ausbau des Zentrums der Siemens AG Österreich. Vgl. Andreas Resch, Reinhold Hofer, Österreichische Innovationsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert, Innsbruck, Wien, Bozen 2010, 232f  ; Julia Kleindienst, Siemens in Österreich, Wien 2004. 128 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 70. 129 Ein Teil dieser Zuwächse verdankte sich wie bereits Ende der siebziger Jahre der Überbauung des Franz Josefs-Bahnhofs und der Errichtung eines technischen Zentrums der Creditanstalt auf diesem Gelände. 130 Mattl, Die lauen Jahre, 85ff. 131 Walter Skopalik, Stadtentwicklungsplanung – auch in Zeiten wie diesen, in  : der aufbau 2/3 (1982), 45. 132 Georg Kotyza, Stadtentwicklungsplan 1994 – Kurzfassung, in  : Perspektiven 10 (1994). 133 Peter Mayerhofer, Gerhard Palme, Regionales Wirtschaftskonzept für die Agglomeration Wien (Wien und Umland) (Österreichische Raumordnungskonferenz [ÖROK], Schriftenreihe, Nr. 118), Wien 1994, 97. 134 Kotyza, Stadtentwicklungsplan 94, 15. 135 Vgl. dazu Gottfried Pirhofer, Kurt Stimmer, Pläne für Wien – Theorie und Praxis der Wiener Stadtplanung 1945 bis 2005. https  ://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/grundlagen/planungsgeschichte.html (21.7.2011). 136 Arbeitskreis Stadtentwicklungsplan, in  : der aufbau 2/3 1982, 53. 137 Stadtentwicklungsplan Wien (1984), Wien 1985, 48. 138 Kotyza, Stadtentwicklungsplan 94, 27f. 139 Aiginger, Von der Mitte aus. 140 Renate Banik-Schweitzer, Wien, wie es wurde, in  : Wien wirklich, 28. 141 Kotyza, Stadtentwicklungsplan 94, 47. 142 Vgl. Karl Aiginger, Plädoyer für eine industriepolitische Vision, in  : Die Presse, 17.10.1988  ; Resch, BÜRGES, 26ff  ; Erich W. Streissler, Werner Neudeck, Wachstums- und Umweltpolitik, in  : Ewald Nowotny, Georg Winckler (Hg.), Grundzüge der Wirtschaftspolitik in Österreich, Wien 1994, 192ff  ; Peter Szopo, Direkte Wirtschaftsförderung in Österreich. Reformimpulse durch Budgetkonsolidierung und EG-Integration (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen), Wien 1990. 143 Robert Wolfgring, Der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, in  : der aufbau 1 (1983), 12ff. 144 Robert Wolfgring, Drei Jahre Betriebsansiedlung durch den Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, in  : der aufbau 3 (1985), 135ff. 145 Peter Mayerhofer, Wirtschaftsförderung in Wien (Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien), Wien 1994  ; Lehner/Mayerhofer/Palme, Strukturanalyse des Wiener Budgets, 61ff. 146 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, Tab. 7.11, 153. 147 Hedwig Lutz, Michael Wagner, Gewerbebetriebe im dichtverbauten Gebiet, in  : Perspektiven Jg. 45 (1990), 64f. 148 Matznetter, Wohnbauträger. 149 Wohnungen mit automatischer Heizung, Badezimmer und WC im Wohnungsverband. 150 Banik-Schweitzer, Wien, wie es wurde, 28. 151 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jahrgänge. 152 Meißl, Ökonomie und Urbanität, 711. 153 Rathaus-Korrespondenz vom 26.11.1998. 154 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1996, 216.

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155 Banik-Schweitzer/Redl/Wünschmann, Das lange Warten auf die kurze Reise, 67  ; Arnold Klotz, Ein neues Verkehrskonzept für Wien, in  : Perspektiven 8 (1994), 3ff. 156 Klotz, Ein neues Verkehrskonzept für Wien, 6. 157 Das Wiener Verkehrskonzept 1994 wurde 2003 im Rahmen eines neuen »Masterplan Verkehr« dem geänderten Bedarf angepasst. Für aktuelle Angaben zum Wiener Straßennetz siehe etwa http  ://www.wien. gv.at/verkehr/strassen/fakten/ (15.5.2011). 158 Vgl. Brigitte Rigele, Müllabfuhr, in  : Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 4, 312ff  ; Gerhard Vogel, Wiens Strategien in der Abfallwirtschaft, in  : Perspektiven 6/7 (1994), 44ff  ; Perspektiven 1 (1995)  ; Thomas Friedrich, Abfallwirtschaft in Wien – Analyse ihrer Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des wirtschaftlichen, politischen und technischen Wandels sowie der Stadtentwicklung seit dem 19. Jahrhundert, Dissertation WU Wien 2006. 159 Vgl. dazu und im Folgenden Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, Tab. 19, 46 bzw. 48f. 160 Meißl, Arbeitsort Wien, 26. 161 Zahlen nach Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger. 162 Dazu und im Folgenden Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 49. 163 Daten nach Satzinger/Vimetal, Wien in der Zweiten Republik, 47f. Generell zur Entwicklung des Wiener Arbeitsmarktes nach 1945  : Pokay/Weigl, Wiener Arbeitsmarkt. 164 Hellmut Ritter, Berufstätigkeit und Ausbildung der Wiener Bevölkerung, in  : Statistische Mitteilungen 1/95, 9f. 165 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, Tab. 6.02, 126. 166 Daten für 1996  : Wien online, Magistrat der Stadt Wien. 167 Vgl. dazu und im Folgenden Gerhard Meißl, Gewerbe, in  : Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 2, 529ff. 168 Ausch, Wien und die Wirtschaft, 119f. 169 Vgl. dazu Bernd Marin, Unternehmerorganisationen im Verbändestaat, Bd. I, Politik der Bauwirt­ schaft in Österreich, Wien 1986  ; Herbert Matis, Dieter Stiefel, »Mit der vereinigten Kraft des Capitals, des Credits und der Technik …«. Die Geschichte des österreichischen Bauwesens am Bei­spiel der Allgemeinen Baugesellschaft – A. Porr AG, Band II, Wien 1994, 103ff  ; Peter Eigner, Andreas Resch, Stadtplanung und Bauwirtschaft, in  : Amt, Macht, Stadt. Erich Leischner und das Wiener Stadt­bauamt (Architektur Zentrum Wien), Wien 1999, 72ff  ; Andreas Resch, Unternehmens­kultur und Unterneh­ mens­entwicklung im Konzern der Allgemeinen Baugesellschaft – A. Porr AG, in  : Corporate Identity und Geschichtsbewußtsein, hg. von Alois Mosser (Veröffentlichungen der Österrei­chischen Gesell­schaft für Unternehmensgeschichte, 16), Wien 1994, 49ff. 170 Die Gemeinde Wien als der größte Bauherr Wiens verfügt(e) über eine Reihe von Unternehmungen (z. B. Vereinigte Baustoff- und Betonsteinwerke AG, Gesiba, Wibeba, Teerag AG), die es der Stadtver­ waltung ermöglichten, preisregulierend in der Bauwirtschaft zu wirken. 171 Dazu und im Folgenden Köppl u. a., Arbeiten in Wien, 17f, 127ff. 172 Vgl. dazu und im folgenden Meißl, Arbeitsort Wien, 14  ; Michael Mesch, Beschäftigungsentwicklung und -struktur im Raum Wien 1970–1989, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 1989, 361ff. 173 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 109ff. 174 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 114. 175 Lehner/Mayerhofer/Schmee, Strukturanalyse des Wiener Budgets, Übersicht 28. 176 Vgl. dazu Peter Eigner, Konzentration, Privatisierung und Internationalisierung  : Österreichs Banken seit den 1990er Jahren, in  : Andreas Resch (Hg.), Kartelle in Österreich. Historische Entwicklungen, Wettbewerbspolitik und strukturelle Aspekte (Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Bd. 23), Wien 2003, 187–211.

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177 Wenige Jahre später (1997) erfolgte der Zusammenschluss mit der Creditanstalt zur BA/CA Gruppe (Fusion 2002), im Jahr 2000 erfolgte der Zusammenschluss mit der deutschen HypoVereinsbank. Ende 2005 wurde die Bank Austria Creditanstalt Mitglied der Uni Credit Group. 178 Reinhard Moser, Reiner Springer, Helmut Gaisbauer, Ostkompetenz Österreichs in der Europäi­schen Union. Studie im Auftrag der Deutschen Handelskammer in Österreich, Wien 1996, 29ff. 179 Liste der in Wien ansässigen UNO-Organisationen bzw. sonstiger internationaler Organisationen siehe Bihl, Wien 1945–2005, 645ff. 180 Vgl. dazu Andreas Weigl, Längerfristige Trends und Perspektiven des Wiener Tourismus, in  : Schmee/ Weigl (Hg.), Wiener Wirtschaft 1945–1998. 181 Als Hauptmotive für den Wien-Besuch wurden im Sommer 1995 zu 84 Prozent die Sicherheit, zu 83 Prozent Kultur, zu 76 Prozent die traditionelle Wiener Küche genannt, weiters Umwelt (64 Prozent) und Lebensart (63 Protent), siehe Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1995, 237. 182 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Gerhard Meißl, Handel, in  : Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 3, 43f. 183 Zwischen 1953 und 1962 sperrten rund 4200 von 16 500 Kleinverkaufsstellen für Lebensmittel zu, vgl. Ausch, Wien und die Wirtschaft, 120  ; zwischen den Arbeitsstättenzählungen 1964 und 1973 verringerte sich die Zahl der Lebensmittel-Einzelhandelsbetriebe um ein Drittel. Meißl, Ökonomie und Urbanität, 689. 184 Zeittafel zur Expansion des Billa-Konzerns vgl. Peter Eigner, (Detail)Handel und Konsum in Österreich im 20. Jahrhundert. Die Geschichte einer Wechselbeziehung. in  : Susanne Breuss, Franz X. Eder (Hg.), Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 2006, 60. 185 Das erste Einkaufszentrum Wiens war 1957 das AEZ, es wurde noch in unmittelbarer Stadtnähe beim Bahnhof Wien-Mitte errichtet, 1964 folgte das EKAZENT Hietzing. 186 Das Kaufhaus Gerngross hat bis heute überlebt, Stafa wurde nach mehreren Besitzwechseln zum Einkaufszentrum »LaStafa«, das Warenhaus Herzmansky wurde 1997 geschlossen, seit 1998 befindet sich an seiner Stelle eine Filiale von Peek & Cloppenburg. 187 Verwirklicht wurde ein derartiges Projekt im Prater, auch über dem Bahnhof Wien-Mitte wird an die Errich­tung eines Urban Entertainment Center gedacht, hier ist ein Mix aus begehrten Markengeschäften, Gastronomiebetrieben, Kinos und anderen Unterhaltungsstätten vorgesehen. 188 Daten nach Wiener Bezirksdaten, Band 1. Bezirk – Innere Stadt, hg. vom Wiener Magistrat, Magistratsdirektion – Koordinationsbüro und MA 66, Wien 1995. 189 In die Untersuchung wurden folgende Städte einbezogen  : Amsterdam, Athen, Barcelona, Birmingham, Bologna, Bordeaux, Brüssel, Cardiff, Dublin, Düsseldorf, Edinburgh, Frankfurt, Glasgow, Hamburg, Helsinki, Köln, Kopenhagen, Lille, Lissabon, London, Lyon, Madrid, Mailand, Manchester, Marseille, München, Oslo, Paris, Rom, Rotterdam, Stockholm, Straßburg, Stuttgart, Turin, Utrecht, Wien. Vgl. Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 48ff. 190 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 115f, 125ff. 191 Derartige positive externe Effekte durch Zusammenballungen können der Häufung und Konzen­tration in einzelnen Branchen zuzurechnen sein (localization economies) oder überhaupt der Häufung wirtschaftlicher Aktivitäten in großstädtischen Regionen (urbanization economies). Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien, 86. 192 Jan Stankowsky, Yvonne Wolfmayr-Schnitzer, unter Mitarbeit von Irene Fröhlich und Ursula Glauninger, Österreich als Standort für Ostzentralen (Studie des Österreichi­schen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Angelegenheiten), Wien 1996, 127. 193 Peter Mayerhofer, Yvonne Wolfmayr-Schnitzer, Wiens »neue« Rolle im europäischen Städtenetz  : Chancen als spezialisiertes Dienstleistungszentrum in Mitteleuropa  ?, in  : Wirtschaft und Gesellschaft 22 (1996), 521.

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wirtschaft und stadt: ökonomische entwicklungsprozesse in wien 194 Stankowsky/Wolfmayr-Schnitzer, Österreich als Standort für Ostzentralen, 119f. 195 Mayerhofer/Wolfmayr-Schnitzer, Wiens »neue« Rolle, 534ff. 196 Eva Gaßner, Thomas Weninger, Wien und Europa, in  : Handbuch der Stadt Wien 1998, II/1‑II/17. 197 Vgl. etwa STEP 94  ; Qualität verpflichtet. Innovationen für Wien. Strategieplan für Wien. Eine Initiative der Wiener Stadtregierung, Entwurf vom 1. Juni 1999  ; Norbert Geldner, Peter Havlik, Peter Mayerhofer, Wirtschaftliche Effekte einer EU-Osterweiterung auf den Raum Wien (Stadtplanung, 15), Wien 1997  ; Mayerhofer/Palme, Wirt­schafts­standort Wien  ; Mayerhofer/Palme, Regionales Wirtschaftskonzept für die Agglomeration Wien (Wien und Umland)  ; Mayerhofer/Wolfmayr-Schnitzer, Wiens neue Rolle  ; Moser/Springer/Gais­bauer, Ostkompetenz Österreichs in der Europäischen Union  ; Stankowsky/ Wolfmayr-Schnitzer, Österreich als Standort für Ostzentralen. 198 Vgl. etwa  : Tätigkeitsbericht. Transeuropäische Verkehrsnetze am Schnittpunkt Ost-West. Fach­tagung, 8. Oktober 1997, Wien 1997  ; Das Transeuropäische Verkehrsnetz – TEN (Stadtplanung 16), Wien 1997  ; Qualität verpflichtet, Anhang »Strategische Projekte«  ; Gaßner/Weninger, Wien und Europa, II/9. 199 Vgl. Qualität verpflichtet, Darstellungen im Anhang »Strategische Projekte«. 200 Mayerhofer/Palme, Wirtschaftsstandort Wien.

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Vom wirtschaftlichen Mangel zum Konsumismus Haushaltsbudgets und privater Konsum in Wien, 1918–1995*

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onsumgesellschaft« – kaum ein anderer Begriff kennzeichnet moderne westliche Gesellschaften besser als dieser. Über die Auslegung und Konnotation des Begriffs gibt es jedoch unterschiedliche Meinungen.1 Im Allgemeinen wird mit »Konsumgesellschaft« eine in der bisherigen Geschichte einzigartige, ökonomische, soziale und kulturelle Erfolgsstory gemeint  : Ab den Fünfzigerjahren entwickelte sich ein überaus reichhaltiges Waren- und Dienstleistungsangebot, das aufgrund steigender Löhne und Einkommen von den Verbraucher/inne/n auch nachgefragt und massenhaft konsumiert wurde. Relativer Wohlstand eines Großteils der Bevölkerung war die Folge. Parallel dazu gewannen die Freizeit gegenüber der Arbeitszeit und der Konsum gegenüber der Produktion immer mehr an Bedeutung. Mit der rasch wachsenden Produktion und Konsumtion von Waren und Dienstleistungen entstand eine allumfassende »Konsumkultur«, in der Bilder, Symbole und Deutungen den Gebrauch und Verbrauch von Waren und Dienstleistungen vermittelten und die Akteure an deren Glücksversprechungen orientierten. Der Begriff »Konsumgesellschaft« meint aber auch, dass es – anders als in den Zeiten des Mangels, als für die meisten Menschen die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse im Mittelpunkt stand – nun vermehrt darum ging, das Verlangen und damit die Nachfrage nach immer neuen Waren zu stimulieren. Zur Propagierung von Waren und Werten bildeten sich eigene Professionen und Institutionen, wie Werbeagenturen und Konsumentenverbände. Sie machten die »Konsument/inn/en« glauben, als (wahl)freie Akteure handeln und entscheiden zu können.2 Eine kritische Sicht der »Konsumgesellschaft« hat hier ihre Wurzeln  : Obwohl, oder besser, gerade weil man in der »Massenkonsumgesellschaft« die freie Wahl des Konsumgegenstandes postulierte, wurden die Konsument/inn/ en bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und der Konstruktion ihrer Wünsche von Medien, Werbung und Design, von Geschmack, Stil und Mode beeinflusst und unterlagen so (auch) den Regulativen und Zwängen von Nachahmung und Distinktion.3 »Konsumkritisch« verhielten sich von Beginn an die meisten traditionellen Sinnproduzenten, etwa Kirchen und politische Parteien. Sie sahen sich durch den um sich greifenden »Konsumismus« in ihrer führenden Rolle als Werte- und Ideologievermittler bedroht. Die Frage des Habens trat an die Stelle der Frage nach dem Sein. Zunehmend bestimmte der Konsum spezifischer Produkte – und nicht mehr nur die 209

franz x. eder berufliche Stellung oder die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei – den sozialen und kulturellen Ort des Einzelnen in der Gesellschaft.4 Kritiker/innen des Konsumismus weisen aber auch darauf hin, dass seit den Achtzi­ger­jahren nur mehr zwei Drittel der sogenannten »Wohlstandsgesellschaft« in der Lage sind, zu konsumieren, was sie wünschen. Steigende Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlte (Teilzeit-)Arbeit reduzieren die Einkommen und Haushaltsbudgets etwa eines Drittels der Bevölkerung und machen es zu »Modernisierungsverlierern«. Der vorliegende Beitrag nimmt diese komplexe Sicht der modernen »Konsumgesellschaft« auf und zeigt am Beispiel Wien, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg Haushaltsbudgets und Einkommen, Massenkonsum und Konsumkultur entwickelten. Dabei wird unter »Konsum« nicht nur der ökonomische Ge- und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen verstanden, sondern auch der soziale und kulturelle Umgang mit ihnen. »Konsument/inn/en« werden nicht als passive »Verbraucher/innen«, sondern als Akteure im Schnittpunkt wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Anforderungen, Handlungsmöglichkeiten und Aneignungspraktiken gesehen.5 Ein ausführlicher Rückblick in die Erste Republik und die Jahre des Zweiten Weltkriegs verdeutlicht, dass der »Konsument« und vor allem die »Konsumentin« bereits hier konstruiert wurden. Die Erfahrung von Mangel und Not wie die neuen Konsumverheißungen prägten dann das »Konsumieren« ab den Fünfzigerjahren. Rein ökonomisch betrachtet, konnte sich die Konsumgesellschaft in Wien wie in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem aus zwei Gründen entwickeln  : Erstens, weil die wachsenden Reallöhne und -einkommen zu wachsenden Haushaltseinkommen und einem disponierbaren Einkommensanteil führten (Abb. 1 u. 2). Dem hohen Anteil an Transfereinkommen und sozialstaatlichen Leistungen kam dabei – im Vergleich zu manchen anderen europäischen Ländern oder auch den usa – besonderes Gewicht zu. Zweitens, weil aufgrund der enormen Produktivitätssteigerung in der industriellen Massenproduktion und durch den Import ausländischer Waren die meisten Konsumgüter in großer Zahl und wachsender Vielfalt zur Verfügung standen. Großes Warenangebot und disponible Haushaltsbudgets führten zu einer radikalen Veränderung in der privaten Haushaltsökonomie  : Wie in allen modernen Konsumgesellschaften ging auch in Wien und Österreich der Anteil der Ausgaben für Ernährung, Wohnungserhaltung und Kleidung zurück  ; hingegen stieg der Anteil der Ausgaben für Haushalts- und Unterhaltungsgeräte, Bildung und Erholung, Sport und Reisen, Verkehr und Transport.6 Begleitet wurde dies durch eine »Amerikanisierung« bzw. »Verwestlichung« der Konsumkultur  : Auch wenn seit den Fünfzigerjahren immer wieder zum Konsum »österreichischer« Waren und Dienstleistungen aufgerufen wurde, waren es doch international vermarktete Bilder, Fantasien und Symbole, die auch hierzulande die Durchsetzung der Konsumkultur vorantrieben. Die Konsumträume trugen zur Verbreitung der »fordistischen 210

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Arbeitsmoral« bei. Die Arbeitskräfte nahmen die Anforderungen an Leistung und Arbeitsdisziplin, veränderte Arbeitsbedingungen und -inhalte usw. in Kauf, wenn sie sich durch hohe und sichere Einkommen, durch mehr Freizeit und Urlaub und ein wachsendes Konsumpotential entschädigt fühlten. Hieß das Motto bis in die Zwischenkriegszeit »Lebe, um zu arbeiten«, so galt jetzt, »Arbeite, um zu konsumieren«.7 Die weltweite Rezession der Siebzigerjahre setzte, durch die Politik des »Austrokeynesianismus« in Wien hinausgeschoben, erst Anfang der Achtzigerjahre ein. Den weiterhin hohen Einkommens- und Konsumniveaus der Bevölkerungsmehrheit standen nun unsichere und schlechte Einkommens- und Konsumverhältnisse einer Minderheit gegenüber. Die »neue Armut« zeigte sich jetzt nicht mehr als Gefährdung des physischen Existenzminimums, sondern durch Ausgrenzung aus den Standards der Konsumgesellschaft. Nach der Konsumerhebung 1993/94 unterschritten rund 16 Prozent der Wiener Haushalte diese Schwelle.8

Armut, Mangel und die Verheißungen des Konsums (1918–1945) Armut und Mangel kennzeichneten viele Wiener Haushalte am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Nahrungsknappheit hatte Anfang 1919 ihren Höhepunkt erreicht, und angesichts der galoppierenden Inflation konnte die Lebensmittelversorgung nur mehr durch staatliche Subventionen gewährleistet werden. Glücklich schätzten sich in dieser Zeit all jene, die über einen Schrebergarten verfügten – im Jahr 1915 existierten in Wien 3.000, gegen Ende des Krieges 18.500 und im Dezember 1920 bereits 55.000 dieser Selbstversorgungseinrichtungen.9 Als Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit wurde im Jahr 1918 die Arbeitslosenunterstützung für alle Industriearbeiter und Angestellten eingeführt und 1920 in die Arbeitslosenversicherung umgewandelt. Weitere maßgebliche Verbesserungen für die soziale und arbeitsrechtliche Situation der Arbeitnehmer und ihrer Haushalte folgten  : der 8-StundenTag bzw. die 48-Stunden-Woche, ein je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit einoder zweiwöchiger Urlaubsanspruch, die Regelung des Kollektivvertragsrechts, das (zahlreiche Privilegien enthaltende) Angestelltengesetz, das Mietrechtsgesetz mit Kündigungsschutz und der Regelung der Miethöhen, das Verbot der Nachtarbeit von Frauen und Kindern und die »Notstandaushilfe«. Die sozialen Reformen waren nicht nur Zeichen einer neuen Politik, sondern auch Ausdruck einer Wirtschaft, die durch den Krieg stärker gelitten hatte als in den meisten anderen europäischen Ländern. Die österreichische Volkswirtschaft konnte die Kriegsschäden, trotz eines realen Wachstums von durchschnittlich 4,8 Prozent (ausgenommen die Stabilisierungskrise 1922/23), bis zur Weltwirtschaftskrise nicht wieder gutmachen.10 Die durch die 211

franz x. eder Hyperinflation 1922 notwendig gewordene »Genfer Sanierung« trug ebenfalls zur Verschlechterung der Arbeitsmarktlage und der Einkommenssituation bei. Neben zahlreichen Steuer- und Tariferhöhungen kam es zur Reduktion des überdimensionalen Staatsapparates – rund ein Drittel der Staatsbeamten, nämlich 100 000 Personen, verloren in Österreich ihre Arbeitsplätze.11 Die Arbeitslosenrate stieg, nachdem sie von 1919 bis 1921 gesunken war, wieder an.12 In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre gingen in den österreichischen Betrieben weitere 150.000 Arbeitsplätze verloren. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen nahm stark zu.13 Positiv zu vermerken ist, dass der Verdienstzuwachs in diesem Zeitraum noch über der Inflationsrate lag.14 Die Weltwirtschaftskrise führte in Wien nur zu einer massiven Ausweitung der Arbeitslosigkeit. Ein Höchststand wurde 1933 erreicht, wobei rund die Hälfte der Arbeitslosen nun über einen längeren Zeitraum ohne Beschäftigung blieb. Dieser Wert verringerte sich bis 1937 nur langsam auf 21,7 Prozent.15 Ein massiver Verdienstrückgang lässt sich in dieser Zeit sowohl bei den Mindestlöhnen als auch bei den tatsächlich ausbezahlten Stundenverdiensten feststellen  : So blieben etwa in der Wiener Metallindustrie die Löhne einzelner Berufsgruppen zu Beginn der Dreißigerjahre recht stabil bzw. erhöhten sich sogar leicht, fielen dann aber bis 1937 um zehn bis zwanzig Prozent.16 Die schlechte Einkommenssituation und die hohe Arbeitslosigkeit – die Statistiken verschweigen noch dazu die verdeckte Arbeitslosigkeit jener Jugendlichen, die überhaupt nie einen Arbeitsplatz fanden – hatten direkte Auswirkungen auf die Budgets der Privathaushalte. Aufgrund der in den Jahren 1925 bis 1934 von der Wiener Arbeiterkammer durchgeführten Erhebungen über den Lebensstandard der Wiener Arbeiter- und Angestelltenfamilien lassen sich Näherungswerte angeben17, zum einen über die Zusammensetzung der Haushaltseinkommen (Abb. 3.1)  : In den untersuchten Haushalten von Arbeitern, Angestellten, Sozialrentnern und Arbeitslosen18 ging der Anteil des Arbeitseinkommens des Mannes, das noch in den Jahren 1926 bis 1931 zwischen 59 und 65 Prozent des Gesamteinkommens ausgemacht hatte, bis 1934 auf rund 54 Prozent zurück. Neben den Einkommen der Frauen und Kinder waren es Pensionen, Krankengeld, Arbeitslosengeld, Unterstützungen und Versicherungen, die im Gegenzug anstiegen. Bezeichnenderweise reduzierten sich in diesem Zeitraum auch die betrieblichen Vorschüsse und Warenkredite. Die Anteile des Männereinkommens konnten in unteren Einkommensgruppen noch wesentlich geringer ausfallen  : 1929 brachten die sehr schlecht verdienenden Männer nur 15,6 Prozent, 1934 sogar nur 4,7 Prozent des gemeinsamen Einkommens ein. Der Beitrag der Frauen zum Haushaltsbudget war in diesen Gruppen relativ hoch, nämlich 25,0 (1929) und 21,4 Prozent (1934)  ; den großen Rest machten Unterstützungen und Ähnliches aus. Nicht erfasst wurden in diesen Aufzeichnungen jene Naturaleinkünfte, die von einzelnen Haushaltsmitgliedern als Entgelt für häusliche oder außerhäusliche Arbeiten eingebracht wurden oder 212

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus gar durch das »Organisieren« von Nahrungsmitteln, Brennstoffen etc. dem Haushalt zugute kamen.19 Auch die Erträge von Schrebergärten wurden, wie das Beispiel der Familie von Engelbert R. zeigt, wieder zu einem zentralen Faktor  : »Mein Großvater war 9 Jahre obdachlos und daher ausgesteuert, wie man es nannte, daher ohne Einkünfte. Da war es ein Glück, daß meine Großmutter eine kleine Invalidenpension, von der man natürlich nicht leben konnte, hatte. Auf der anderen Seite war der Schrebergarten unverzichtbar. Alle Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Gemüse und Erdbeeren und anderes Obst konnte man ernten. Die ersten Erdbeeren wurden verkauft und auch Frühgemüse sorgten für eine bescheidene Einnahme. Um gute Ernte zu erzielen brauchte man Dünger. Großvater machte sich in der Früh mit Besen, Schaufel und Leiterwagerl auf den Weg um Roßmist (Pferdemist) zu sammeln. (…) Auch die Hasenzucht im Schrebergarten besserte den Speisezettel damals auf.«20 Dass all diese Beiträge zum Überleben vieler Haushalte notwendig waren, zeigt die Ausgabenseite der Budgets. Wie bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg machte der Anteil der Nahrungsmittel 1925 über die Hälfte der Ausgaben (56 Prozent) aus, er ging bis 1931 auf 46,6 Prozent zurück und stieg Mitte der Dreißigerjahre wieder auf 48 bzw. 49 Prozent (Abb. 4). Auch in den Wiener Arbeitnehmerhaushalten beeinflussten die Einkommensänderungen die Struktur der Ausgaben  : Bei Rückgang des Haushaltseinkommens erhöhten sie die Ernährungsanteile und umgekehrt. Auch innerhalb der Nahrungsmittelausgaben kam es zu Verschiebungen. Bis zum Jahr 1930 gingen jene Ernährungsausgaben, die für die Mangelökonomie typisch waren, leicht zurück, um mit der Verschlechterung der Wirtschaft und der steigenden Arbeitslosigkeit wieder anzusteigen (Tab. 1.1 u. 2.1). Getreideerzeugnisse wie Mehl und Brot, aber auch Kartoffeln, Filz und Speck, Zucker und Kaffee bestimmten in der Weltwirtschaftskrise den Speisezettel vieler Wiener und Wienerinnen. Umgekehrt ging der Anteil und Pro-Kopf-Verbrauch höherwertiger Nahrungs- und Genussmittel wie Fleisch, Milch, Eier oder Alkoholwaren zurück. Der Verbrauch von Bier halbierte sich sogar. Die Haushalte der Arbeitslosen zogen dabei das weitaus schlechteste Los  : Bei höherwertigen Lebensmitteln wie Fleisch, Milchprodukten, Obst, Eiern etc. lag ihr Pro-Kopf-Verbrauch deutlich hinter dem der Haushalte von Beschäftigten, bei billigen Nahrungsmitteln wie Kartoffeln und Getreideerzeugnissen vor ihnen. Lebensgeschichtliche Untersuchungen haben gezeigt, dass von der Veränderung des Nahrungsmittelkonsums nicht alle Haushaltsmitglieder in gleicher Weise betroffen waren. Teurere Lebensmittel wie Fleisch, Genussmittel und der »Luxuskonsum« – und hier insbesondere der wöchentliche Wirtshausbesuch – blieben in den ärmeren Familien meist den Männern vorbehalten, billige Konsumgüter wie Brot, Erdäpfel oder auch (Ersatz-)Kaffee und Zucker waren die tägliche Nahrung von Frauen und Kindern.21 Käthe Leichter eruierte, dass fast die Hälfte der von ihr befragten Industriearbeiterinnen überhaupt kein Fleisch 213

franz x. eder konsumierte.22 Gerade in den von Mangel geprägten Haushalten kam dem Verzehr von Genussmitteln, wie etwa Süßigkeiten für die Kinder, eine besonders große Bedeutung zu. Im Vergleich zu bürgerlichen Konsummustern war das proletarische Konsumieren eingeschränkter und karger, gleichzeitig aber auch verausgabender und dies sowohl im Anteil der Genussmittel als auch beim Verbrauch geschmacksintensiver Produkte wie etwa billigen Fetten.23 Nach dem großen Posten »Nahrungsmittel« folgten die Wohnungsausgaben. Hier ist vor allem der gegenüber der Vorkriegszeit extrem niedrige Anteil der Wohnungsmieten und der Wohnungsinstandhaltung bemerkenswert (Abb. 4)  : Mussten die Wiener Arbeitnehmer 1912/14 noch 14,2 Prozent ihrer Verbrauchsausgaben für diesen Posten verwenden, so reduzierte sich sein Anteil durch die gesetzliche Mietzinsregelung im Jahr 1925 auf 2,4 Prozent. Arbeitslosigkeit und Lohnverfall ließen den Mietaufwand in den Dreißigerjahren (1935  : 9,4 Prozent) wieder stärker ins Gewicht fallen. Für Bekleidung, für Bettzeug und Teppiche gab man in diesen Jahren immer weniger aus. Angesichts der zunehmenden Kosten von Nahrungsmitteln und Mieten war es unumgänglich, die meisten dieser Produkte selbst herzustellen. Die Einrichtung der Wohnung und die Anschaffung der Haushaltsgegenstände mussten – nach einem kurzen Anstieg dieser Ausgaben auf 4,5 Prozent – in der Mangelökonomie ebenfalls zurücktreten. Auch wenn das allgemeine Motto Sparen lautete, kam es in der Zwischenkriegszeit in vielen Haushalten auch zu bedeutenden Neuerungen. So wollte die Gemeinde Wien »In jeden Haushalt Gas und Strom« – so Titel der Energieversorgungsaktion – bringen. Für viele ließen sich die Verheißungen der neuen Zeit aber kaum realisieren. Karl Klein, der 1908 geborene Sohn eines Wiener Straßenbahners, erlebte die »limitierte« Technisierung des elterlichen Haushalts folgendermaßen  : »Als wir 1923 die erste Fünfundzwanziger-Birne einschalteten, war dies eine Festbeleuchtung – nie mehr Petroleumlampen reinigen, nachfüllen, Docht schneiden. (…) Gleichzeitig kam auch das Gas in die Wohnung. Auf dem Herd wurden ein Rechaud und eine Gasbackröhre aufgestellt, vor allem für die Frauen eine ungeheure Entlastung  ; keine Holzspandeln (Holzspäne), kein Kohleschleppen aus dem Keller, kein Ascheräumen, kein Staub und Ruß. Allmählich entwickelte sich eine Industrie für eine Vielfalt von Elektrogeräten und Hilfen für den Haushalt. Leider wurde die Arbeitslosigkeit größer, und man konnte die Geräte nicht kaufen.«24 Einige der neuen Haushaltsgeräte waren von so großem Nutzen, dass man sie, wenn irgendwie möglich, anschaffte. Ganz oben auf der Liste stand das elektrische Bügeleisen. Die Familie von Grete Witeschnik-Edlbacher konnte sich eines leisten, nachdem 1924 in den Häusern der Fasangasse der Strom eingeleitet wurde. Die Vorteile des elektrischen Bügelns lagen auf der Hand  : »Nun gab es auch Steckdosen für das neue Bügeleisen. ›Elektra Bregenz‹ stand darauf. Schluß mit dem Heizen von Holzkohle, die im Sommer immer vor der Wohnungstüre auf dem Gang hin- und 214

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus hergeschwungen werden mußte, um sie in Glut zu bringen. Schluß mit dem hochglühenden Stahlstück, das im Winter mit dem Schürhaken aus der Ofenglut gezogen und mit großer Geschicklichkeit in den hohlen Leib eines Bügeleisens gesteckt wurde  !«25 Viele der heute gängigen Haushaltsgeräte wie elektrische Kühlschränke oder Waschmaschinen blieben jedoch bis zum Beginn der Massenproduktion in den späten Fünfziger- und in den Sechzigerjahren Luxusartikel. Auch das Telefon fand sich bloß in recht wohlhabenden Haushalten und vor allem in Betrieben (von 1923 bis 1937 stieg die Zahl der Hauptanschlüsse immerhin von 90.000 auf 132.000).26 Personenkraftwagen, von denen 1936 rund 15.000 (inklusive Taxis) auf Wiens Straßen unterwegs waren, galten weiterhin als Inbegriff des Luxus. Motorräder, 1936 immerhin fast 17.000 Fahrzeuge, waren für die meisten Bewohner ebenfalls unerschwinglich. Das Wiener Massenverkehrsmittel blieb in der Zwischenkriegszeit neben der Straßenbahn weiterhin das Fahrrad (250.000 Stück).27 Der Mangel an allem und jedem ist ein zentrales Thema lebensgeschichtlicher Erzählungen zur Zwischenkriegszeit. Zu ihm gehört auch, dass die Verwaltung der geringen Mittel meist ungleich verteilt war. Die Männer lieferten wöchentlich das »Wirtschaftsgeld« ab, behielten ein »Taschengeld« zurück und delegierten so die Verantwortung für die Gestaltung der Ausgaben und für die Verwaltung des Mangels an ihre Frauen.28 Streitigkeiten über sparsames Einkaufen und sinnvolle Anschaffungen standen in ärmeren Familien auf der Tagesordnung. Die Frage, wie denn richtig einzukaufen und zu verbrauchen sei, kennzeichnete auch den öffentlichen Diskurs über die ideale Verbraucherin, die »Konsumentin«. Mit ihrer Konstruktion erfolgten bereits in der Zwischenkriegszeit eine »ideologische Be- und Umwerbung wie auch Vorbereitung ›auf bessere Zeiten‹« und eine Einstimmung auf die massenhafte Suche nach dem gekauften Glück.29 Auch wenn sich noch die wenigsten Konsumwünsche realisieren ließen, wurden in dieser Zeit die geschlechtertypischen Grundzüge der modernen Konsumkultur entworfen, wobei die »Konsumentin«, und um sie drehte sich die Diskussion hauptsächlich, als ambivalentes Geschöpf vorgestellt wurde  : Zum einen sah man in ihr die (wahl)freie Verbrauchsspezialistin, ihre Konsumtätigkeit als eine gesellschaftliche und private (Arbeits-)Leistung und als Teil der Professionalisierung der Haushaltsführung. Proletarische wie bürgerliche Hausfrauen sollten durch gezielten Einkauf – die eine in der Konsumgenossenschaft,30 die andere beim Greißler – und durch disziplinierten und sparsamen Verbrauch einen persönlichen Beitrag zur Verbesserung der volkswirtschaftlichen Lage leisten. Die imaginierte Konsumspezialistin sollte auch und besonders in einer Mangelökonomie für die Stabilisierung von Familie und Heim sorgen, wobei die Bestimmung der proletarischen Frau primär im sicheren Umgang mit dem Haushaltsbudget gesehen wurde  ; bürgerliche Frauen hingegen sollten sich auf die nichtmaterielle Reproduktion und auf die Kultivierung des häuslichen Glücks und der familiären Harmonie 215

franz x. eder konzentrieren.31 Bei bürgerlichen Haushalten setzte man als selbstverständlich voraus, dass ausreichend Güter und Dienstleistungen – wie die Arbeitsleistung von Dienstmädchen, repräsentative Einrichtungsgegenstände oder teure Mittel zur Körperpflege – vorhanden waren. Als modernste Variante der Professionalisierung galt die »rationelle Haushaltsführung«, die tayloristische Zurichtung von Küche und Heim. Auf der Ausstellung »Der neue Haushalt« (1925) wurden all jene Produkte vorgestellt, die die rationelle Inszenierung des Haushaltes ermöglichen sollten  :32 Abwasch, Elektrobügeleisen, Eiskasten, »Vacuum Cleaner«, elektrische Heizung und Heißwasserspeicher sollten die Hausfrauen aber nicht bloß entlasten, sondern auch die Produktivität ihrer Arbeit – etwa im Bereich von Reinlichkeit und Hygiene – steigern. Selbst wenn sich der durchschnittliche Haushalt diese Geräte erst viel später leisten konnte, gehörten sie ab jetzt zum Kanon jener Dinge, die ein besseres Leben versprachen. Die bürgerliche und proletarische »Konsumentin« wurde jedoch nicht nur als professionelle Verbraucherin konstruiert, sondern auch als eine, die den Verführungen der Warenwelt mehr oder weniger ausgeliefert war. Die sexuell konnotierte Verführungsmetapher tauchte dabei in ganz unterschiedlichem Kontext auf  :33 So konnte die »Konsumentin« dem Glanz der Passagen und Auslagen genauso erliegen wie dem Geflüster von Hausierern oder den Versprechungen der Werbung. Der Verdacht des Konsumhedonismus wurde zum fixen Bestandteil der allzu leicht verführbaren und unkontrollierbaren »Konsumentin«. Als die großen Verführer wurden die Medien, insbesondere Radio, Film und Illustrierte, angesehen. Tatsächlich rückte der »schöne Schein«, die in Tagträumen und Fantasien aufbereitete Welt der Dinge in dieser Zeit sowohl akustisch als auch bildlich in die Lebenswelten ein. Der offizielle Radiobetrieb wurde in Österreich 1924 aufgenommen und transportierte die Sehnsucht nach der Überschreitung der sozialen und räumlichen Grenzen in eine schnell wachsende Zahl von Haushalten. Im Jahr 1930 gab es in Wien 263.000, 1937 bereits 292.000 registrierte Radioempfänger.34 Auch illustrierte Magazine und andere Presseprodukte generierten Konsumvisionen nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern. Und der Stummfilm, bald auch der Tonfilm, verwandelte die phantasierten Bedürfnisse in lebensecht »laufende Bilder«. Mitte der Zwanzigerjahre gab es in Wien rund 170 Kinos, in denen die Eintrittspreise so niedrig waren, dass sich nicht zuletzt die ärmere Bevölkerung den Besuch eines Lichtspieltheaters leisten konnte.35 Während des Zweiten Weltkriegs und besonders in den letzten Kriegsjahren vergrößerte sich die Kluft zwischen den Verbrauchsmöglichkeiten und den Konsumvisionen noch weiter. Haushaltseinkommen und -budgets und privater Konsum und Konsumkultur sind bislang für die ns-Zeit in Wien und Österreich kaum erforscht. Skizzenhafte Ausführungen müssen auch hier vorerst genügen. Nach dem »Anschluss« kam es durch die Rüstungswirtschaft und vermehrte öffentliche Inves216

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus titionen, aber auch durch die »Arisierungen«, durch die Verdrängung der jüdischen Bevölkerung vom Arbeitsmarkt und (ab 1941) durch den Einsatz von Zwangsarbeiter/inne/n zu einem raschen Wirtschaftswachstum und niedrigen Arbeitslosenzahlen.36 Auch wenn sich im kollektiven Gedächtnis die »Beschäftigungserfolge« der ns-Politik tief eingegraben haben, steht nach der jüngsten Forschung fest, dass sich die Ernährungs- und Verbrauchslage der Bevölkerung weiter verschlechterte. Noch dazu blieben manche Bevölkerungsgruppen gänzlich vom staatlichen Rationierungssystem ausgeschlossen. Das Wiener Institut für Wirtschaftsforschung stellte bereits 1941 – in einer begreiflicherweise als »streng geheim« eingestuften Studie – fest, dass die Lebenshaltungskosten der Wiener Bevölkerung seit dem Jahr 1938 durch Preissteigerung, Rationierung und Qualitätseinbußen ständig zugenommen hatten. Bezogen auf eine vierköpfige Arbeiterfamilie erhöhten sie sich in diesem Zeitraum um 31 bis 38 Prozent, das Realeinkommen ging um 24 bis 28 Prozent zurück. Untere Einkommensgruppen und damit die Käufer billigerer Nahrungsmittel wurden von der Preissteigerung und Rationierung am härtesten getroffen. Nicht ausreichend vorhandene Lebensmittel und Produkte minderer Qualität verteuerten sich überproportional oder mussten durch teurere Produkte ersetzt werden. Typisches Beispiel dafür sind Speckfilz, Schmalz und Milch, die durch die teurere Butter subs­ tituiert wurden.37 Insgesamt zwang die Rationierung zu einer weiteren Umstellung der Ernährungsgewohnheiten  : Der Verbrauch von Fetten und Fleisch ging zurück, der Verbrauch von Kohlehydraten stieg an. Durch die Bewirtschaftung blieb kaum Spielraum für eine flexible Verbrauchsgestaltung, als Alternative standen in Wien am ehesten noch Kartoffeln zur Verfügung. Über die mindere Qualität rationierter Lebensmittel schrieb die 25-jährige Erna M. im Jahr 1942 in ihr Tagebuch  : »Nun beginnt man schon den Krieg zu spüren. Das Brot wird plötzlich sehr schlecht, es klebt noch nach fünf Tagen und verursacht schreckliche Blähungen. Es gibt überhaupt kein Gemüse, manchmal vertrocknete Orangen und das Mehl ist dunkel. Wenn man Konservengemüse damit einbrennt, sieht es aus, als wenn alles voll Staub und Sand wäre. Wenn wir essen, haben wir nach einer Stunde Hunger, weil kein Fett dabei ist. Kartoffel werden als ganze serviert, weil sie zerkleinert zu viel Fett brauchen würden.«38 Je nach Verbraucher- und Familientyp lag der Kaloriengehalt der zugeteilten Rationen 1941 zwischen fünf und 26 Prozent unter dem Kalorienverbrauch von 1938. Wurden 1937 in Österreich durchschnittlich 3.200 Kalorien pro Kopf und Tag verbraucht, so ging der Nährwert der zugeteilten Rationen bis 1944 auf 2.000 Kalorien zurück und machte 1945 nur mehr 800 Kalorien aus.39 Neben den Nahrungsmitteln verteuerten sich in Wien zwischen 1938 und 1941 auch die Bekleidungswaren um rund 36 Prozent, Schuhe sogar um dreißig bis fünfzig Prozent. Mit dem Fortgang des Kriegs und fehlenden Rohstoffen wurden auch hier zunehmend Substitutionspro217

franz x. eder dukte wie etwa Zellstoffanzüge oder Holzschuhe verwendet. Bei der Verwaltung der Mangelökonomie gab es klare Abstufungen. Wenn das Einkommen aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr ausreichte, reduzierte man zuerst die Ausgaben für Haushaltsartikel, Möbel, Wasch- und Putzmittel, Erziehung, Erholung usw., dann folgten die Ausgaben für Bekleidung, und erst zuletzt sparte man bei den Lebensmitteln.

Überleben und Hoffen auf ein besseres Leben (1945–1953/54) Obwohl das Lebensmittelkartensystem in Wien beinahe bis zum Kriegsende aufrechterhalten wurde, verschlimmerte sich in den letzten Kriegsmonaten die Versorgungslage der Stadt dramatisch, und die zugeteilten Rationen konnten nicht mehr ausgegeben werden. Ein Großteil der verbliebenen Vorräte wurde von Truppen der abziehenden Deutschen Wehrmacht beschlagnahmt, vernichtet oder an die Bevölkerung verteilt. Nach dem Ende der Kämpfe am 13. April 1945 verteilten oder beschlagnahmten die sowjetischen Truppen die verbliebenen Depots.40 Nach dem Zusammenbruch der Verwaltung und der Zerstörung der städtischen Kommunikations- und Transportwege wurde die Nahrungsversorgung zur Überlebensaufgabe der Wienerinnen und Wiener. Frauen und Mädchen machten zu Kriegsende zwei Drittel, Ende 1945 noch rund sechzig Prozent der Bevölkerung aus.41 Für jene, die nicht über Geldmittel verfügten, um sich am boomenden Schwarzmarkt versorgen zu können, wurde Plündern, Hamstern, Tauschen und Betteln zur Nahrungsquelle. Besonders die unsicheren Tage nach der Besetzung Wiens waren von Hunger und Not geprägt. Die meisten der noch in der Stadt befindlichen Menschen lebten in Kellern und Bunkern und kamen nur zum Organisieren von Nahrungsmitteln aus ihren Verstecken. Karl R., der sich in diesen Wochen im 10. Bezirk aufhielt, schildert die bedrohliche Lage  : »Es gab kein Gas, kein Licht. Es gab kein Wasser, da die Wasserleitungen bombardiert waren und man mußte es an Wasserstellen holen. Dort standen aber Russen, die Männer gefangennahmen, um sie als Treiber nach Ungarn zu benützen. Ich konnte nicht mehr raus, um Wasser zu holen. Jeder, der etwas Brennbares besaß, brachte es in die Waschküche, wo der Waschküchenofen gemeinsam angeheizt wurde und wir uns mehr oder minder unser ›Essen‹ kochen konnten. Das war sowieso sehr frugal. Ich hatte nichts zu verbrennen als ›Mein Kampf‹ von Hitler, den wir anläßlich unserer Hochzeit bekommen hatten.«42 Kinder und Jugendliche, wie die 11-jährige Christine P., mussten ebenfalls bei der Essensbeschaffung helfen  : »Ganze Käseräder (Kuffnergasse Käsefabrik) versuchte man wegzurollen, während andere daneben herrannten, um ein Stück runterzuschneiden. Man 218

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus ging mit Brecheisen ebenso ans Werk, wie mit anderen scharfen Gegenständen. Wir haben eine Schachtel Eckerlkäs ergattert – zu Matsch getreten, aber eßbar. Wir versuchten unser Glück in der inneren Stadt und landeten bei der Urania. Dort lag ein erschossenes Pferd, und man raufte um das Fleisch, das man in Fetzen aus dem Tier riß. Einige werkelten mit dem Messer und kamen schneller zu ihrem Stück. Berge von Schuhkartons lagen inmitten des Chaos und wir sahen neugierig hinein. Schöne hochhackige Schuhe lagen unbeschädigt in den vielen Schachteln, die wir öffneten, aber nirgends fanden wir Essen.«43 Anfang Mai erfolgte die erste Lebensmittelverteilung durch die Rote Armee. Im Zuge der sogenannten »Mai«- oder »Erbsenspende« erhielt jede Person 20 dkg Bohnen, 20 dkg Erbsen, 5 dkg Speiseöl, 15 dkg Fleisch und 1/8 kg Zucker. In der Erinnerung mancher Wiener und Wienerinnen ist diese Gabe nicht nur mit positiven Gefühlen besetzt  : »Brot war Mangelware in diesen Tagen«, erinnert sich etwa die damals 26-jährige Erna F. »Die Bäcker hatten wenig oder gar kein Mehl, um die hungernde Bevölkerung zu versorgen. Aus den wenigen Lebensmitteln, die wir noch im Hause hatten und die meine Mutter wie einen Schatz hütete, kochte sie Einbrennsuppe ohne Fett, Haferflockenlaibchen und solche aus Erbsen (letztere als milde Gabe der Russen), die wir allerdings am Abend zuvor in Wasser einweichen mußten, um am folgenden Tag die Käferchen aus den einzelnen Kügelchen leichter entfernen zu können, die sich darin eingenistet hatten.«44 »In der zweiten Maihälfte wurden die Brotrationen von 500 Gramm pro Kopf und Woche auf 1 Kilo erhöht. Brot wie auch Milch waren in diesen Wochen nur äußerst schwer zu bekommen. Die Wiener Molkereien konnten aufgrund mangelnder Zulieferung und fehlender Transportmöglichkeiten im Mai nur rund 3.000 bis 5.000 Liter Milch pro Tag ausfahren, eine Menge, die nicht einmal für die Säuglingsversorgung (bei einer Ration von einem Viertel Liter pro Kopf) reichte.«45 Nicht alle Bezirke waren von der Krise auf dieselbe Art und Weise betroffen. Am Stadtrand und in stärker agrarischen Bezirken herrschten eindeutig bessere Zulieferbedingungen als in den innerstädtischen und dicht verbauten Gegenden. Auch die Selbstversorgung aus dem eigenen Garten klappte dort besser, und die Bauern der Umgebung waren leichter zu erreichen. Nach den Schätzungen des Instituts für Wirtschaftsforschung brachten die Wiener Haushalte 1945/46 durch Selbstversorgung und »Organisieren« rund zwei Drittel der benötigten Nahrungsmittel auf, nur ein Drittel stammte aus offiziellen Zuteilungen.46 Ab 1. Juni übernahm die Rote Armee die Versorgung der Stadt. Die vorgesehenen Kalorien – zwischen 833 Kalorien für Normalverbraucher und 1.620 Kalorien für Schwerarbeiter – konnten aber meist nicht vollständig ausgegeben werden, da bei Fleisch und Fett Engpässe auftraten. Statt dieser Lebensmittel kamen Hülsenfrüchte aus Armeebeständen zur Verteilung.47 Im Herbst 1945 wurde die Lebensmittelver219

franz x. eder sorgung zur Aufgabe aller Besatzungsmächte, wobei jedes Land für die Aufbringung in seiner eigenen Zone verantwortlich war. Dabei kam es trotz nominal gleicher Zuteilungsrationen zu recht unterschiedlichen Ausgabemengen. Besonders die Unterschiede zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Zone blieben vielen Wienern und Wienerinnen im Gedächtnis. Hatte die sowjetische Besatzungsmacht von September 1945 bis Jänner 1946 37 Prozent der Wiener Bevölkerung zu versorgen und die amerikanische 21 Prozent, so wich die Menge der aufgebrachten Nahrungsmittel beträchtlich von diesem Verhältnis ab.48 Empfanden manche Wiener und Wienerinnen schon die sowjetische »Erbsengabe« als Danaergeschenk, so sprach man nun offen vom »Unglück, in der Russenzone zu wohnen«.49 Angesichts der allseits herrschenden Not erhielten die ersten Zeichen des »American way of life« eine besonders positive Konnotation  : Amerikanische Zigaretten, Nylonstrümpfe, CocaCola oder Kaugummi waren nicht nur begehrte Tausch- und Zahlungsmittel, sondern galten auch als Vorboten eines neuen, modernen Lebens westlicher Prägung. Selbst wenn man keine Lucky Strike als Ersatzgeld anzubieten hatte, konnte man wie Karl R. auch mit Restbeständen österreichischer oder deutscher Zigaretten im Resselpark, dem größten Schwarzmarkt Wiens, ins Geschäft kommen  : »Man lebte damals von der Hand in den Mund. Was sollte ich tun  ? Ich tat das, was alle anderen auch taten. Ich sah mich einmal im Resselpark um, wo der ganze Schleichhandel florierte. Ich hatte natürlich nichts zu verkaufen, schaute mich aber um, was am meisten gehandelt wurde. Am meisten ging es verhältnismäßig um Lebensmittel, die ich natürlich nicht hatte, die ich brauchte, und um Zigaretten. Zigaretten hatte ich noch einen bescheidenen Vorrat, auch Feuersteine waren sehr gefragt. Ich ging in unsere Trafik. Die Trafikantin hatte sich dummerweise in die Partei einschreiben lassen und hatte ihr Geschäft schließen müssen. Sie besaß noch verschiedene Vorräte, aber nichts zu essen. Ich bekam von ihr ein paar Pakete Feuersteine und Zigaretten. Damit ging ich in den Resselpark und machte ganz gutes Geschäft für sie. Es war natürlich nicht sehr viel, aber für sie war es genügend. Ich brachte ihr Brot, Schmalz, Mehl und noch andere Lebensmittel. Dafür gab sie mir immer ein paar Zigaretten oder eine Schachtel Feuersteine, sodaß auch ich mein Auslangen hatte.«50 Die Alliiertenhilfe sah im Herbst 1945 1.549 Kalorien für Normalverbraucher vor, dazu kamen Kartoffelzuteilungen und Milchlieferungen aus Niederösterreich und dem Burgenland. Im Winter 1945/46 wurde die Versorgung Wiens immer schwieriger, die Vorräte des Umlandes waren aufgebraucht, und die Lieferungen der Alliierten trafen nur schleppend ein. Zu Weihnachten 1945 brachte Bundeskanzler Leopold Figl die katastrophale Ernährungslage des Landes in einem berühmt gewordenen Satz auf den Punkt  : »Ich kann euch nichts geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden.«51 Die Versorgung verschlechterte sich dramatisch  : Im März 1946 mussten die Rationen um zehn Prozent, im Mai um 220

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus weitere 17 Prozent gekürzt werden. Noch drastischer fiel der Rückgang bei Brot aus, nämlich um 15 Prozent im März, vierzig Prozent im April und sogar fünfzig Prozent im Mai. Die erhofften Kartoffellieferungen aus den umliegenden Bundesländern blieben nun völlig aus. In der »Mai-Krise« des Jahres 1946 wurde mit 950 Kalorien der Tiefststand erreicht. Die Fleischversorgung Wiens brach völlig zusammen, statt Frischfleisch wurden Suppenpulver, Hülsenfrüchte, Trockenei und manchmal auch Gemüse-Fleisch-Konserven aus Beständen der englischen und amerikanischen Armeen ausgegeben.52 Die Versorgungsprobleme konnten nur mehr mit internatio­ naler Hilfe bewältigt werden. Die unrr a-Hilfe (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) wurde im August 1945 auf Österreich ausgedehnt, erste Lieferungen trafen aber erst – wie auch die ersten care-Pakete (Cooperative for American Remittances for Europe) – im März 1946 in Wien ein. Sowohl in den Hilfsprogrammen als auch in der Lebensmittelbewirtschaftung trachtete man, billige Nahrungsmittel mit hohem Kalorienertrag, also primär Getreideprodukte und Hülsenfrüchte, zu verteilen.53 Ab Dezember 1946 wurde die Zuteilung sowohl der im Inland produzierten wie auch von Hilfsorganisationen gelieferten Nahrungsmittel an die österreichische Regierung übergeben. Die österreichische Selbstaufbringung blieb jedoch im Vergleich zur ausländischen Hilfe, insbesondere der unrr a-Hilfe, äußerst gering. Von Juli 1946 bis Juni 1947 war Wien zu rund achtzig Prozent von ausländischer Ernährungshilfe abhängig.54 Die gesamtösterreichische Situation war nur wenig besser  : Bei einem (angenommenen) Verbrauch von 2.550 Kalorien pro Tag konnte die Landwirtschaft und Ernährungsindustrie des Landes nur 26 Prozent der benötigten Nahrungsmittel herstellen. Wie bereits im Jahr zuvor verschärfte sich deshalb nach dem strengen Winter 1946/47 die Ernährungssituation erneut. In den ersten drei Nachkriegsjahren mussten die Wiener Arbeitnehmerhaushalte 50 bis 53 Prozent ihrer Haushaltsausgaben für Nahrungs- und Genussmittel verwenden. Davon entfielen zwischen 18 und 22 Prozent auf Getreideprodukte und ebenso viel auf Gemüse, und hier vor allem auf Kartoffeln und Hülsenfrüchte (Abb. 1.1 u. 2.1). Der Anteil von Milchprodukten, von Fleisch und Wurst und von Kaffee, Tee und Schokolade war äußerst gering. Fischkonserven und künstliche Süßstoffe (der größte Posten der Speisezutaten) nahmen dafür einen vergleichsweise prominenten Platz ein. Das gilt auch für Alkoholika und Tabakwaren, beides Produkte, die man hauptsächlich auf dem Schwarzmarkt und deshalb zu sehr hohen Preisen erstand. Durch die Rationierung war man in der Gestaltung der Ausgaben wenig flexibel, die verbrauchten Nahrungsmittelmengen hingen von den Zuteilungen ab  : Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Getreideerzeugnissen erreichte 1946 bis 1948 mit 143 bis 185 Kilo absolute Höchstwerte – dies nicht nur im Vergleich mit den nachfolgenden Jahrzehnten, sondern auch mit der Ersten Republik. Ähnliches gilt für den Verzehr von Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Viele Wiener und Wienerinnen 221

franz x. eder machten in diesen Jahren zum ersten Mal intensivere Bekanntschaft mit importierter Konservennahrung. So wurde überdurchschnittlich viel konserviertes Fleisch gegessen, von den fünf bis zehn Kilo verzehrtem Fisch kam ebenfalls ein Großteil aus der Dose. Besonders niedrig hingegen war der Verbrauch von Fleisch und Wurst, Milch, Eiern, Zucker und Obst. Insgesamt zeichnete sich bei den meisten Lebensmitteln im Jahr 1948 eine bessere Versorgung und leichte Qualitätssteigerung ab. Ab diesem Jahr konnte auch die Lebensmittelbewirtschaftung Schritt für Schritt abgebaut werden. 1948 erhielt Österreich über 100 Millionen Dollar Kongress- und Interimshilfe und trat dem Marshallplan (erp – European Recovery Program) bei, wodurch fast 200 Millionen Dollar direkt oder indirekt ins Land flossen (bis 1955 betrug die erp-Leistung beinahe eine Milliarde Dollar). Aufgrund der strategischen und wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzung der usa kam den unter sowjetischem Einfluss stehenden östlichen Bundesländern allerdings nur ein unterproportionaler Anteil zugute.55 Doch auch in Ostösterreich setzte ab 1948 ein starkes Wirtschaftswachstum ein, der Konjunkturaufschwung blieb in Wien aber deutlich hinter dem in den anderen Bundesländern zurück.56 Der »Wiederaufbau«57 der Lebensmittelversorgung zeigt sich besonders deutlich im veränderten Gesamtverbrauch. Sowohl die Wiener Schlachthöfe als auch die Märkte und Milchlieferanten konnten große Zuwächse verzeichnen.58 Mit dem Verbrauchszuwachs ging ein rapider Ausbau der Verkaufsstellen einher.59 Im Jahr 1950 wurden die Wienerinnen und Wiener zum ersten Mal mit einem neuen Ladentyp konfrontiert, der die weitere Entwicklung des Konsumverhaltens ganz massiv beeinflussen sollte  : Die »Konsumgenossenschaft« eröffnete in diesem Jahr den ersten »Selbstbedienungsladen« der Stadt. Die Lebensmittelpreise entwickelten sich in den Nachkriegsjahren nicht einheitlich, einem relativ kräftigen Preisanstieg bei tierischen Produkten (drastisch bei Fleisch oder Schmalz) standen geringere Preiserhöhungen bei pflanzlichen Lebensmitteln (besonders deutlich bei Hülsenfrüchten oder Margarine) gegenüber. Mit dem Ende der Subventionierung und Bewirtschaftung zogen allerdings auch dort die Preise recht deutlich an. Massive Teuerungen gab es allerdings nicht nur bei den meisten Nahrungsmitteln, sondern auch bei den sonstigen Verbrauchsgütern (Abb. 5.1). Die Preise stiegen zwischen 1946 und 1952 um das Achtfache (Preisbasis 1945) und erreichten damit einen vorläufigen Höchststand, der in den nächsten Jahren nur mehr langsam überschritten wurde. Am stärksten fielen die Zuwächse nach den fünf Lohn-Preis-Abkommen aus.60 Der Index der offiziellen Preise lässt allerdings außer Acht, dass sich gleichzeitig der Anteil der Schwarzmarktausgaben von zwanzig Prozent Anfang 1947 auf 15 Prozent Anfang 1948 und zehn Prozent Anfang 1949 reduzierte. Im Mai 1950 verloren Schwarzmarktkäufe für den durchschnittlichen Wiener Haushalt gänzlich an Bedeutung. Anders als der offizielle Verbraucherpreisindex ging deshalb der effektive Preisindex zwischen 1947 und 1950 beträcht222

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus lich zurück, nämlich von 923 Anfang 1947 auf 720 Anfang 1948 und weiter auf 436 Anfang 1949. Nach einer kurzen Erhöhung glich er sich 1950 dem Normalindex an. Neben den Nahrungsmittelpreisen waren die Wohnungsmieten von essenzieller Bedeutung für die Haushaltsbudgets. Bis 1951 blieben sie mit einem Wert von 264 weit unter dem Gesamtindex. Vor der Mietzinsregelung des Jahres 1951 lag der Index sogar noch niedriger, nämlich beim 1,8-fachen des Jahres 1945. Ebenfalls niedrig blieben die Preise im Bereich Bildung und Unterhaltung und bei den Verkehrsausgaben, beides Ausdruck der geringen Nachfrage nach diesen Gütern und Dienstleistungen. Überproportional nahmen hingegen die Preise für Wohnungseinrichtung, für Beheizung und Beleuchtung sowie für Bekleidung, Reinigung und Körperpflege zu, nämlich um das Acht- bis Neunfache. Angesichts dieser Teuerungsraten blieb die Verbesserung der Wohnungsausstattung für die meisten Wiener und Wienerinnen ein Wunsch, dessen Befriedigung man »auf bessere Zeiten« aufschieben musste. Der Ausgabenanteil für die Ausstattung des Haushalts stagnierte weiterhin auf dem niedrigen Vorkriegsniveau von zwei bis fünf Prozent. In einigen Haushalten wurde für neue Kleidung schon Ende der vierziger Jahre ein nicht unbedeutender Teil des Haushaltsbudgets verwendet. Der Anteil dieser Ausgaben stieg von fünf Prozent im Jahr 1946 auf 13 bis 15 Prozent um 1950.61 Bekleidungskäufe konnte man, wenn überhaupt, jedoch meist nur mittels Ratenzahlung realisieren. Doch auch wenn man über das nötige Geld verfügte, stand nicht fest, ob man das gewünschte Kleidungsstück auch tatsächlich in den Geschäften erhielt. Viele wichen, wie auch Erna F., auf Ersatzprodukte aus oder versuchten, das Vorhandene so gut es ging instand zu halten  : »Es gab ja nichts zu kaufen. Noch im Jahre 1951 war es, was Kleidung betraf, nicht möglich, in ein Geschäft zu gehen und normal einzukaufen. Manchmal kamen uns Zweifel, ob das überhaupt jemals möglich sein werde. Während des Krieges und noch lange danach mußte man mit vier paar Strümpfen im Jahr (auf Kleiderkarte) sein Auslangen finden, was ein ewiges Stopfen zur Folge hatte. Das ging soweit, daß das Gestopfte immer wieder neu gestopft werden mußte. (…) Für den Sommer gab es Sandalen mit Holzsohlen. Diese Sohlen waren auf Grund der Beweglichkeit in drei Teile geschnitten. Ich muß gestehen, daß sie sich sehr gut tragen ließen. (…) Im Winter trugen wir Filzstiefel, die sehr warm waren und angenehm zu tragen waren. Schön und elegant haben sie zwar nicht ausgesehen, eher plump  ! Aber was machte das aus in dieser Zeit, man mußte froh sein, wenn man sie bekam. Auf diese und andere Weise, etwa indem wir Altes zertrennten, den Stoff wendeten und ›Neues‹ daraus fabrizierten, haben wir uns so gut es ging durchgewurstelt. Immer in der Hoffnung, daß es einmal ja doch besser werden würde.«62 »Durchwursteln«, die schwierige Balance zwischen geringem Haushaltseinkommen, hohen Teuerungsraten und schlechter Versorgung, war mit ein Grund, warum auch in den Nachkriegsjahren die Konsumrolle der Hausfrau wieder verstärkt 223

franz x. eder diskutiert wurde. Ein zweiter Antrieb für die Debatte war die Neustrukturierung des Arbeitsmarktes, durch die weibliche Arbeitskräfte in die für Frauen vorgesehenen Bereiche verwiesen werden sollten. Zwischen 1945 und 1951 verschob sich die Geschlechterproportion der Beschäftigten von einem annähernden Gleichstand (je 220.000 beschäftigte Arbeiter/innen und Angestellte) zugunsten eines männlichen Beschäftigtenanteils von sechzig Prozent (bei gleichzeitiger Zunahme der Beschäftigtenzahl um achtzig Prozent).63 Aber auch 1951 stammte ein wichtiger Teil des monetären Haushaltseinkommens durchschnittlicher Arbeiter- und Angestelltenfamilien aus der Erwerbstätigkeit der Ehefrau (16 bzw. 14 Prozent). In diesen Zahlen nicht enthalten waren nach wie vor jene Leistungen, die Frauen noch immer beim »Organisieren« und durch Naturaleinkünfte beitrugen. Ebenfalls unberücksichtigt blieb die zwar volkswirtschaftlich relevante, aber bei der Berechnung der Haushaltseinkommen außer Acht gelassene unbezahlte Haushalts- und Familienarbeit. Aber auch die Einkünfte der Männer bestanden nicht bloß aus Geldlöhnen, sondern auch aus Naturalien, die die Betriebe eingetauscht hatten und als Lohnbestandteil weitergaben. Das System des Natural(ring)tauschs war mit ein Grund, warum das offizielle Warenangebot gering blieb. Gerade in den ersten Nachkriegsjahren ist die Bedeutung der Naturaleinkünfte für die Haushaltseinkommen nicht zu unterschätzen. Ähnliches gilt für den Einfluss des Schwarzmarkts auf die Reallöhne. Wie bereits dargestellt, blieben die Nominallöhne hinter den offiziellen Preisen zurück und ergaben eine Differenz, die nach den Lohn-Preis-Abkommen immer wieder zu Protesten und Streiks führte. Andererseits musste die Bevölkerung aufgrund der verbesserten Versorgungslage aber immer seltener auf Schwarzmarktprodukte ausweichen, die reale Lohn-Preis-Differenz wurde dadurch maßgeblich verringert. Das Ende des Schwarzmarktes im Jahr 1950 war auch ein Zeichen, dass die Versorgung Wiens wieder einigermaßen funktionierte. In diesem Jahr wurden nur mehr Zucker, Fett und Öl bewirtschaftet. In einzelnen Bereichen wie bei Brotgetreide und Milchprodukten, bei Fetten und Ölen kam es aber immer wieder zu Engpässen, und regulative Eingriffe wurden wieder notwendig. Ab 1951 konnte man von einer mehr oder weniger freien Konsumwahl sprechen. Aufgrund der Koreakrise und einer verfehlten Preispolitik kam es im selben Jahr wieder zu Problemen bei Fett- und Fleischlieferungen. Zwischen Juli 1951 und Juli 1952 mussten sogar zwei »fleischlose« Tage pro Woche eingeführt werden. Im Jahr 1953 stabilisierte sich die Nahrungsmittelversorgung endgültig. Am 1. Juli konnten die letzten Überreste der Bewirtschaftung und das Kartensystem abgeschafft werden. Obwohl nun die Phase der ärgsten Not überstanden war, wäre es verfehlt, von einer guten Ernährungslage, geschweige denn bereits von allgemeinem Wohlstand zu sprechen. Der Nahrungsmittelverbrauch zeigte noch die für eine verarmte Wirtschaft typische Gewichtung. Besonders bei den tierischen Nahrungsmitteln konnte der Verbrauch der Vorkriegs224

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus zeit nicht erreicht werden. Die Verbrauchszahlen der durch die langjährige Subventionierung billigeren pflanzlichen Produkte lagen schon über den Werten der Ersten Republik. 1954/55 zeigte die erste umfassende Konsumerhebung der Zweiten Republik, dass in Wien große, vom Haushaltseinkommen abhängige Verbrauchsdifferenzen existierten,64 wobei manche Lebensmittel nur geringe Einkommenselastizität aufwiesen, ihr Pro-Kopf-Verbrauch nahm mit steigendem Einkommen nur leicht zu, bei einigen Produkten sogar ab. Dazu gehörten Getreideerzeugnisse, Gemüse, Kartoffeln, Trinkmilch, Fette, Öle und Zucker. Mit steigendem Einkommen erhöhte sich der Konsum von Fleisch (am stärksten von Kalbfleisch und von Geflügel, weniger von Schweinefleisch), von Eiern, Butter und Käse. Die größten Konsumdifferenzen ergaben sich bei Obst, Südfrüchten, Rahm und Obers. Bier war weniger einkommenselastisch als Wein. Bei Ersatz- und Bohnenkaffee ließen sich gegenläufige Tendenzen feststellen  : Wer mehr verdiente, konnte »echten« Bohnenkaffee trinken, bei niedrigerem Einkommen wurde weiterhin Ersatzkaffee verwendet. Insgesamt stiegen die Nahrungsmittelausgaben mit dem Einkommen stärker als die Verbrauchsmengen. Wer Mitte der Fünfzigerjahre über ein höheres Haushaltsbudget verfügte, konnte nicht nur mehr, sondern vor allem auch teurere und hochwertige Nahrungsmittel kaufen. Besonders krass kommt dieser Unterschied im Vergleich der drei untersten und obersten Einkommensgruppen zum Ausdruck. Obwohl der Anteil der Ernährungsausgaben der wohlhabenderen und reichen Haushalte Wiens mit dreißig bis 37 Prozent viel geringer war als der ärmeren Haushalte (58 bis sechzig Prozent), machten deren Lebensmittelausgaben 500 Schilling bis 570 Schilling pro Kopf und Monat aus  ; Letztere hingegen hatten für Essen und Trinken nur 310 Schilling bis 360 Schilling zur Verfügung. Große einkommensabhängige Unterschiede existierten auch bei den übrigen Ausgaben der Wiener Haushalte. In den Haushalten mit geringen Budgets dominierten die Ausgaben für Ernährung, Miete und Beheizung (Abb. 6.1). Mit steigendem Haushaltseinkommen nahmen die Ernährungsausgaben zu, gleichzeitig spielte die Anschaffung von Kleidung und Schuhen eine immer wichtigere Rolle. Wohlhabende Haushalte konnten ihr Geld bereits für die Wohnungseinrichtung verwenden, zudem für Bildung, Erholung, Freizeit und Sport. Die Haushaltsmittel der höchsten Einkommensgruppe ermöglichten es, noch stärker in die Wohnungsausstattung zu investieren, aber auch Geld für ein eigenes Verkehrsmittel auszugeben. Die von der Einkommenssituation abhängige Ausgabenstruktur ist damit nicht nur ein Abbild der Verbrauchsgewohnheiten der frühen Fünfzigerjahre, sondern auch ein Ausblick auf künftige Entwicklungsphasen  : Die Wienerinnen und Wiener waren zuerst bestrebt, die Ernährungslage zu sichern und dann die Qualität der Nahrungsmittel zu heben. In den folgenden Phasen kaufte man Kleidung, verbesserte die Wohnungsausstattung und gab, wenn auch in geringerem Ausmaß, Geld für eigene Verkehrsmittel 225

franz x. eder und für Freizeit und Erholung aus. Die Verbesserung der Ernährung setzte nach 1948 ein, Bekleidungs- und Möblierungskäufe folgten zu Beginn bzw. in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre, und nach einer Phase der Stagnation und der erhöhten Arbeitslosigkeit in den Jahren 1952 bis 1954 konnten immer mehr Haushalte in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre langlebige Konsumgüter wie einen Kühlschrank oder sogar ein Auto anschaffen. Jede dieser »Konsumwellen«65 hielt noch viele Jahre oder gar Jahrzehnte an, bis eine Sättigung erreicht wurde. Ein Ausgabenposten verlor in der Nachkriegszeit im Vergleich zu den Dreißigerjahren stark an Bedeutung  : die Wohnungsmieten. Sie machten mit vier bis fünf Prozent nur mehr einen relativ geringen Teil des Haushaltsbudgets aus. Einzig bei den untersten Einkommensgruppen fielen sie mit fünf bis neun Prozent stärker ins Gewicht. Die niedrigen Wohnungsmieten resultierten aus der schlechten Wohnversorgung und Wohnungsqualität  : Am Ende des Krieges gab es in Wien 86.000 ganz oder teilweise zerstörte Wohnungen, rund 270.000 Menschen hatten keine eigene Bleibe.66 1946 wurde die Zahl der fehlenden Wohnungen auf rund 57.000 geschätzt.67 Wegen der sonstigen Versorgungsschwierigkeiten trat bis zum Jahr 1950 keine wirkliche Entspannung der Wohnungsnot ein. Erst ab diesem Jahr wurden substanzielle Wohnbauprogramme, das sogenannte »Schnellbauprogramm der Gemeinde Wien«, ins Leben gerufen, die Schaffung neuer Wohnungen wurde zur zentralen kommunalen Aufgabe.68 Die Altwohnungen unterlagen dem Mietgesetz oder dem Zinsstoppgesetz, was zur Folge hatte, dass das Mietniveau vergleichsweise niedrig blieb. Nach der Wohnungs- und Häuserzählung von 1951 gab es unter den benutzbaren Wohnungen rund 71 Prozent Kleinwohnungen mit maximal eineinhalb Wohneinheiten oder sogenannte Zimmer-Kabinett-Wohnungen. Rund 86 Prozent der Wiener Haushalte verfügten über kein Badezimmer, sechzig Prozent hatten kein WC und 56 Prozent keinen Wasseranschluss innerhalb der Wohnung. Die neu errichteten Gemeindewohnungen waren ebenfalls Kleinwohnungen, boten aber durch Nebenräume und eigene Sanitäranlagen eine bessere Wohnqualität. Auch hier wurden die Mieten niedrig gehalten, Funktionalität und Sparsamkeit prägten den Baustil. Der »Emmentalerstil«69 der Gemeindebauten prolongierte zwar die Bildsprache des Austrofaschismus und der ns-Zeit, war aber gleichzeitig ein erster Schritt zur Reduktion, Nüchternheit und Funktionalität industrieller Fertigung. Funktionalität und niedrige Preise hießen auch die Zielsetzungen des 1952 von der Gemeinde Wien, der Handels- und Arbeiterkammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund initiierten Projekts »Soziale Wohnkultur«. Möbel für die Familie konnte man seit 1950 in der im Wiener Messepalast gezeigten Ausstellung »Die Frau und ihre Wohnung« bewundern, für den Ankauf derselben fehlte aber noch vielen das nötige Geld.70 Die Wohnsituation verbesserte sich damit bis in die frühen Fünfzigerjahre nur wenig. Zu kleine und schlecht ausgestattete Wohnungen beherbergten die Kriegs226

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus und Wiederaufbaugeneration. Die bedrohlichen letzten Kriegsmonate und ersten Nachkriegsjahre blieben unvergesslich. Viele mussten in dieser Zeit am eigenen Leibe erfahren, was es hieß, kein Dach über dem Kopf zu haben. Vor allem die ersten Wochen und Monate des Hungers wurden zu einer elementaren lebensgeschichtlichen Erfahrung. Auch wenn sich die Nahrungsmittelversorgung langsam besserte, mangelte es noch lange an diversen Gütern des täglichen Bedarfs. Wer miterlebt hatte, wie das Geld zweimal »verreckt« war, konnte nur langsam wieder Vertrauen in die Stabilität des Schillings finden. Unsichere Verhältnisse bestimmten auch den Arbeitsmarkt. Als 1953 die Arbeitslosenrate auf über neun Prozent stieg, war vielen noch die Massenarbeitslosigkeit Anfang der Dreißigerjahre in Erinnerung. »Durchkommen«, lautete das Motto bis Mitte der Fünfzigerjahre. In Anbetracht der Lebensumstände dominierte eine Konsumhaltung, die vorsichtiges Wirtschaften, Sparsamkeit und Verzicht in den Mittelpunkt stellte. Erzwungene, vielfach auch zwanghafte Bescheidenheit wurde zu einer Tugend, die manche auch nach dem Ende der Mangelökonomie nicht ablegen konnten. Die Hoffnung, dass es einmal doch besser werden würde, machte den Verzicht erträglicher. Doch wer mit knappen Mitteln eine Familie ernähren und an allen Ecken und Enden sparen musste, staute auch Konsumbedürfnisse auf. Seit den frühen Fünfzigerjahren wurden diese Bedürfnisse wieder durch die Produktwerbung vorangetrieben. Gerade weil die österreichische Wirtschaft bei der Herstellung von Konsumgütern nachhinkte, propagierte die Wirtschaftspolitik, dass eine moderne Volkswirtschaft vor allem von der wachsenden Nachfrage nach inländischen Erzeugnissen abhängig sei. »Österreichisch« zu konsumieren versprach kollektives Weiterkommen, war aber auch Ausdruck eines wiedererstarkten Nationalbewusstseins. Wer »A«(ustria)Zigaretten rauchte und nicht zu amerikanischen Marken griff, trug nicht nur zum Wiederaufbau bei, sondern demonstrierte auch Österreichbewusstsein – so wollte es zumindest die Tabak- und Österreichwerbung. Besonders der Landschaftskonsum wurde »österreichisch« aufgeladen  : Konnte das Land angesichts der wirtschaftlichen Misere kaum Konsumangebote offerieren, so hatte es doch zumindest eine (fast) gratis konsumierbare »schöne Landschaft« anzubieten.71 Ähnliches galt für die »große Kultur«, auf die das kleine Land verweisen konnte. Die nationalistische Nachkriegsversion eines »besseren« Lebens konfligierte allerdings mit westlichen, primär amerikanischen (Vor-)Bildern. Jüngere Menschen empfanden die Diskrepanz zwischen gelebtem Mangel und imaginierten Konsumwelten besonders stark. Film und Musik waren jene Medien, die die Kluft zwischen Tagtraum und Alltag vertieften und die österreichischen und amerikanischen Konsumideologien kontrastierten. Dem Kino kam dabei als zentralem Kommunikationsort dieser Jahre größte Bedeutung zu  : Hier konnten die Wiener und Wienerinnen der tristen Realität zumindest für eine Stunde entfliehen. Die Kinobegeisterung hielt bis 1956/57 (mit rund 47 227

franz x. eder Millionen Besucher/inne/n in diesem Jahr) an und nahm danach mit der Verbreitung des Fernsehens rapide ab.72 Die Amerikanisierung der Bilder und der Hoffnungen vom »besseren« Leben zeigt sich auch im Filmangebot  : Rund die Hälfte der in Wien in den zehn Nachkriegsjahren gezeigten Filme stammte aus amerikanischer Produktion. Erst nach 1950 stand dieser kulturellen Übermacht eine größere Anzahl von »Heimat«-Filmen aus Deutschland und Österreich (ein Viertel bis ein Drittel der vorgeführten Filme) gegenüber.73

Vom »Ende der Bescheidenheit« zum Konsumwunder (1953/54–1982/83) Nach der Stabilisierungskrise 1952/53 setzte in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre ein weitgehend ungebremstes Wirtschaftswachstum ein (Abb. 1 u. 7). Zwischen 1955 und 1968 verdoppelte sich nach Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung das verfügbare persönliche Einkommen. Teilweise konnten jährliche Steigerungsraten von sechs bis zehn Prozent erreicht werden. In den Siebzigerjahren stieg das verfügbare Einkommen weiter, allerdings ›nur‹ mehr um drei bis sieben Prozent pro Jahr. Ab 1978 waren trotz »deficit spending« und Vollbeschäftigungspolitik auch in Österreich die Folgen der weltweiten Rezession immer stärker zu spüren. Die großen Einkommenszuwächse gehörten ab nun der Vergangenheit an. Bis 1983 betrug die Zunahme maximal 3,6 Prozent, in den meisten Jahren konnten überhaupt keine realen Einkommenssteigerungen mehr erreicht werden. Die Reallöhne der Wiener Arbeitnehmer/innen entwickelten sich dementsprechend  : Zwischen 1955 und 1961 nahm das reale Bruttomedianeinkommen vorerst ›nur‹ um 7,9 Prozent zu.74 Bis in die erste Hälfte der Siebzigerjahre konnten dann sowohl die Arbeiter/innen als auch die Angestellten recht massive reale Einkommenszuwächse verzeichnen (Abb. 8). In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts näherte sich der Einkommensindex zusehends wieder dem Preisindex. Zwischen 1980 und 1984 erfolgten reale Lohneinbußen. Auch die Einkommensstreuung nahm zwischen den Fünfzigerund frühen Achtzigerjahren zu (Abb. 9). Bis 1952/53 blieben aufgrund der Inflation, der Lohn-Preis-Abkommen und der gewerkschaftlichen Lohnpolitik die Löhne relativ nivelliert.75 Zwischen 1953 und dem Anfang der Sechzigerjahre gewannen die höheren Einkommensgruppen gegenüber den niedrigeren und die Angestellten gegenüber den Arbeitern.76 Auch die Frauen- und Männereinkommen drifteten, nachdem sie sich 1945 bis 1953 angenähert hatten, wieder auseinander. Nach einer neuerlichen Nivellierungsphase in den Sechzigerjahren vergrößerten sich auch in den Siebzigerjahren die Einkommensunterschiede, wobei bei Männern und Frauen und Arbeitern und Angestellten gegenläufige Entwicklungen zu verzeichnen waren.77 228

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Die lebenszyklischen Einkommenschancen blieben ebenfalls ungleich verteilt.78 In den Siebzigerjahren erreichten Arbeiter/innen ihr Einkommensmaximum zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr und mussten in höherem Alter erhebliche Lohneinbußen hinnehmen. Bei den männlichen und weiblichen Angestellten hingegen gab es nach dem 30. Lebensjahr eine permanente, wenn auch nur leichte Zunahme des Einkommens, bei den Beamt/inn/en nahm das Gehalt proportional zum Alter zu. Dieser Einkommensentwicklung kam angesichts der langfristigen Umstrukturierung der Wiener Wirtschaft besondere Bedeutung zu. Zwischen 1955 und 1983 stieg zwar die Beschäftigtenzahl von 676.000 auf 734.000 – wobei 1977 mit 791.000 Personen ein Höchststand erreicht wurde – gleichzeitig erfolgte aber eine massive sektorale Umstrukturierung von der Sachgüterproduktion zum Dienstleistungsbereich. Waren 1956 noch 49 Prozent der Wiener Beschäftigten im sekundären Sektor tätig, fiel ihr Anteil bis 1983 auf 31 Prozent. Im Gegenzug erhöhte sich der Anteil der Dienstleistungen von fünfzig auf 69 Prozent.79 Die Tertiärisierung der Wirtschaft und der hohe Anteil der öffentlich Beschäftigten waren, im Zusammenspiel mit der expansiven Budgetpolitik und dem Vorrang der Vollbeschäftigung, der Grund, warum sich der Konjunktureinbruch der Siebzigerjahre in Wien verspätet auswirkte und die Einkommen eines Großteils der Wiener Haushalte bis in die frühen Achtzigerjahre vergleichsweise stabil blieben. Wie die Personaleinkommen vergrößerten sich auch die Haushaltseinkommen der Wiener Arbeiter/innen und Angestellten in recht unterschiedlichem Ausmaß. Noch 1951 verfügten die von der Arbeiterkammer untersuchten Angestelltenhaushalte über ein kaum höheres Jahresbruttoeinkommen (23.222 Schilling) als die Arbeiterhaushalte (22.700 Schilling). Die Angestellten konnten ihr Haushaltseinkommen bis 1955 jedoch wesentlich schneller vergrößern als die Arbeiter/innen, nämlich um rund 34 gegenüber 16 Prozent. Zwischen 1955 und 1965 holten Letztere deutlich auf (48 gegenüber 37 Prozent). In der Zeit zwischen 1965 und 1975 lagen wiederum die Angestelltenhaushalte – mit 54 Prozent Zuwachs gegenüber fünfzig Prozent bei den Arbeiter/inne/n – im Vorteil. Insgesamt waren die realen Bruttoeinkommen der Arbeiterhaushalte 1975 2,6 Mal höher als 1951 und 2,2 Mal höher als 1955, die der Angestellten 2,8 Mal höher als 1951 und 2,1 Mal höher als 1955. Nach dem Mikrozensus des Jahres 1983 machte das Netto-Haushaltseinkommen der Wiener Arbeiter/innen 13.210 Schilling aus, das der Angestellten 15.870 Schilling und der Beamten 16.860 Schilling.80 Mit der Zunahme der Realeinkommen verschob sich die Zusammensetzung der Haushaltseinkommen (Abb. 3.2. u. 3.3). Nach den Erhebungen der Arbeiterkammer stieg der Anteil des Arbeitseinkommens des Mannes bei den Arbeitern von 73 auf 78 Prozent und bei den Angestellten von 72 auf 76 Prozent. Im Gegenzug ging der Anteil, den Frauen zum Einkommen beisteuerten, von 1955 bis 1975 deutlich zurück, nämlich bei den Arbeiter/inne/n von elf auf vier 229

franz x. eder Prozent und bei den Angestellten von zwölf auf zwei Prozent. Da es sich bei den von der Arbeiterkammer untersuchten Haushalten aber um relativ gut verdienende Arbeiter- und Angestelltenhaushalte handelte, entsprechen diese Ergebnisse nicht dem allgemeinen Trend. Insgesamt erhöhte sich in Österreich in den Siebzigerjahren die weibliche Erwerbsquote vor allem bei Frauen im Alter von 35 bis 45 Jahren. Waren Frauen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nach der Heirat oder spätestens nach der Geburt eines Kindes für immer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, so folgten sie nun vermehrt dem sogenannten »Dreiphasenmodell«  : Nach eigener Erwerbstätigkeit vor der Ehe und Haushaltsarbeit und Kindererziehung nach der Heirat traten sie primär bei niederem Einkommen des Mannes nach einer längeren Unterbrechung wieder in das Erwerbsleben ein und trugen so zur Verbesserung des Haushaltsbudgets bei.81 Von den übrigen Haushaltseinkünften verloren seit den Fünfzigerjahren die Einnahmen aus Untervermietung und aus Versicherungen (besonders aus der Arbeitslosenversicherung) an Bedeutung. Seit den späten Sechzigerjahren deutlich gestiegen waren hingegen die Zuwendungen und Unterstützungen durch Betriebe und durch die öffentliche Hand. Nun brauchte man für größere Anschaffungen auch kaum mehr Gehaltsvorschüsse und Warenkredite in Anspruch zu nehmen. Die meisten Wiener und Wienerinnen konnten jetzt auf eigene Sparguthaben zurückgreifen. Diese Abhebungen machten in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren bis zu fünf Prozent der Haushaltseinnahmen aus. Die langfristige Entwicklung der Sparquote und Spareinlagen zeigt, dass die Spartätigkeit bereits in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre einsetzte (Abb. 10). Zwischen 1955 und 1983 vergrößerten sich die inflationsbereinigten Sparguthaben der Österreicher und Österreicherinnen um das 21-fache. Nach Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erhöhte sich die Sparquote bis 1960 auf über acht Prozent (Abb. 11). Je nach Konjunkturlage konnten die jährlichen Sparrücklagen bis in die frühen Achtzigerjahre zwischen acht und zwölf Prozent des verfügbaren persönlichen Einkommens ausmachen. Die Spareinlagenquote (der Zuwachs der Spareinlagen gemessen am verfügbaren persönlichen Einkommen) stieg bis in die Siebzigerjahre und zeigt, dass bis in diese Zeit eine stabile Nachfrage nach Sparguthaben existierte. Nach einem Rückgang in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre legten die Österreicherinnen und Österreicher vor allem in den Jahren 1975 bis 1977 wieder mehr auf die Seite. Dabei reagierten sie jedoch noch nicht auf den Erdölschock und die weltweite Wirtschaftskrise, sondern machten vorerst nur die Inflationsverluste der vorangegangenen Jahre wett. Die hohen Spareinlagenquoten Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre resultierten dann aus den zunehmenden Arbeitsplatzsorgen und der Angst vor wirtschaftlicher Stagnation. Ob es sich hier um klassisches »Vorsichtssparen« handelte, ist noch nicht geklärt.82 Dass trotz durchschlagender Rezession nach der zweiten Ölkrise und den steigenden Arbeitslo230

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus senzahlen weithin ein Großteil der Bevölkerung konsumorientiert blieb, zeigt sich an der niedrigen Sparquote der ersten Hälfte der Achtzigerjahre. Frei verfügbare Sparguthaben und steigende Realeinkommen ermöglichten den Wohlstandskonsum. Damit alle Bevölkerungsgruppen konsumieren konnten, musste sich noch die Arbeitsmarktlage entspannen. Bereits 1962 konnte eine Arbeitslosenrate von unter zwei Prozent erreicht werden (Abb. 12). In Wien herrschte während der folgenden zwanzig Jahre »Vollbeschäftigung«.83 Die Arbeitsplatzsicherheit trug in hohem Maße zu einer expansions- und zukunftsorientierten Konsumhaltung bei. Konsumgeschichtlich von besonderer Bedeutung ist, dass in Wien die Vollbeschäftigung über den Konjunktureinbruch der späten Siebzigerjahre hinweg aufrechterhalten werden konnte und die Arbeitslosenrate erst 1981 wieder über die Zwei-Prozent-Marke stieg.84 In der Zeit des »Wirtschaftswunders« fanden nicht nur (fast) alle Menschen Arbeit, es wurde auch immer kürzer gearbeitet. Mit der Verkürzung der Arbeitszeit vergrößerte sich die »Freizeit« und damit jene Zeit, in der man konsumieren konnte. Mit der Reduktion der Arbeitszeit erfolgte jedoch eine Intensivierung und Beschleunigung der Arbeit, die Leistungsanforderungen nahmen beträchtlich zu. In kürzerer Zeit mehr zu leisten, aber auch mehr zu verdienen, lautete eine Maxime der fordistischen Produktionsweise. Eine andere hieß, für die hohen Anforderungen auch bessere Konsumchancen zu erhalten und durch den Massenkonsum die Nachfrage anzutreiben. Die Verlängerung der arbeitsfreien Zeit erfolgte schrittweise  : Nach 1945 blieb infolge des Rechtsüberleitungsgesetzes vorerst die 60-Stunden-Woche aufrecht. Noch in den Fünfzigerjahren lag die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit bei über fünfzig Stunden. Im Jahr 1959 wurde sie von 48 auf 45 Stunden gesenkt, 1965 eine dritte Urlaubswoche eingeführt. Nach zwei kleineren Kürzungen 1970 und 1972 (43 bzw. 42 Arbeitsstunden) wurde ab 1975 schließlich nur mehr vierzig Stunden pro Woche gearbeitet. Allerdings dauerte es meist zwei bis drei Jahre, bis die beschlossenen Reduktionen in die effektive Arbeitszeit umgesetzt wurden.85 In den Sechzigerjahren trug die Arbeitszeitverkürzung zu einem verstärkten Arbeitskräftebedarf und zum Erreichen der Vollbeschäftigung bei. Zwischen 1965 und 1975 wurden aufgrund der nun herrschenden Arbeitskräfteknappheit zunehmend ausländische Arbeitskräfte angeworben. Aus der Arbeitszeitverkürzung des Jahres 1975 resultierte die 5-Tage-Woche und mit ihr ein weiterer »Konsumraum«, das »freie Wochenende«. Zuletzt folgte 1977 die Verlängerung des Urlaubsanspruches auf vier Wochen. Insgesamt gesehen entstand durch die Arbeitszeitverkürzung ein »privater Lebensstrang«,86 der nicht nur »freie« Zeit brachte, sondern auch neue Anforderungen an die Lebensgestaltung. Schon mit dem »kleinen« Wohlstand der Fünfzigerjahre wurde die Gestaltung und Sinngebung der arbeitsfreien Zeit wieder virulent. Wer es mit »Glück und Schmäh«87 geschafft hatte, den Krieg und die Jahre des Wiederaufbaus zu über231

franz x. eder stehen, der sollte die arbeitsfreie Zeit nun vor allem »im Kreise seiner Liebsten« verbringen. Häusliche und familiäre Konsumtion und Glücksproduktion waren das Thema dieser Jahre. Der Rückzug in die scheinbar apolitische Sphäre des Heimes und der Familie stellte eine Vielzahl neuer Ansprüche an die weibliche Konsumund Verbrauchsspezialistin. In einem Haushaltsratgeber der Fünfzigerjahre kommt die daraus resultierende Überforderung klar zutage  : »Am Anfang des Hausfrauenglücks stehen Wünsche, Wünsche nach einer schönen und praktischen Wohnung, nach den kleinen Geräten und Maschinen, die das Leben der Hausfrau erleichtern, nach Möbeln und Teppichen und tausend anderen Dingen. Aber gerade dann, wenn die Wünsche besonders intensiv sind, fehlt gewöhnlich das zur Erfüllung notwendige Geld. Nun, das ist noch kein Grund, zu verzweifeln und das ganze Problem als unerfüllbar beiseite zu schieben. Mit ein bißchen Mut und Lebensfreude, mit Geschick und Phantasie ist nichts hoffnungslos, und zuletzt kann so manche kleinste Wohnung das werden, was so manche große und prunkvolle nicht ist  : Raum, in dem sich in erster Linie der Besitzer, dann aber auch ein Gast wohlfühlt, kein unpersönliches Sortiment von Möbeln, sondern eben Raum, der mit dem Bewohner lebt und ihm so Erholung und Ruhe und damit auch die Kraft gibt, die er in seinem Beruf braucht.«88 Zur Gestaltung des »kleinen« Glücks sollte die Hausfrau eine Vielzahl von Fähigkeiten und Kenntnissen entwickeln  : Hauswirtschaft und Kindererziehung, häusliche Krankenpflege und Gesundheitsvorsorge, Kenntnisse der Hausschneiderei, der Kleintierzucht, technische Grundkenntnisse der Haushaltsgeräte, Fähigkeiten zur Ausgestaltung der Wohnung und vieles andere mehr. Geht es nach dem zeitgenössischen Frauenbild, dann ist die Hausfrau der niemals ruhende Motor des »Heims« – und findet noch dazu Gefallen an dieser »lebenslänglichen« Aufgabe. Vergnügte und glückliche (Haus-)Frauen prägen seit den Fünfzigerjahren auch die Konsumbilder.89 Die »Herrscherin des Haushalts« würde durch ein größeres Warenangebot und niedrige Preise ebenso beglückt wie durch die neuesten Elektrogeräte. Als Gegenpol zur Hausfrau und Mutter und als Bedrohung der rationalen Hauswirtschaft und der stabilen »Kleinfamilie« wurde die (noch) nicht domestizierte, dem Luxuskonsum frönende Hedonistin definiert. Der deutschsprachige Film der Fünfzigerjahre führte vor, wie die Spannung zwischen diesen zwei Frauenbildern überwunden werden sollte  : Höchst dramatisch wurden dort individuell konsumierende und begierdeorientierte Frauen in familienzentrierte Konsumrationalistinnen transformiert.90 Die Diskussion um das Frauenbild zeigte, dass auch bei steigendem Haushaltseinkommen und vermehrten Konsumangeboten die (Haus-)Frauen sowohl beim täglichen Einkauf als auch bei den größeren Haushaltsanschaffungen über die Verwendung des Haushaltsbudgets entscheiden sollten. Männer hingegen wurden für das Sparen und für die »großen« Entscheidungen bzw. für den Ankauf männlich konnotierter Gegenstände (wie Autos oder Motorrä232

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus der) zuständig erklärt. Werbung und Produktgestaltung waren deshalb stark auf die »Macht der Konsumentin« ausgerichtet. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren standen dabei jene Produkte im Mittelpunkt, die man bei steigendem Realeinkommen zuerst kaufen konnte bzw. wollte. Dazu gehörten einmal jene Nahrungsmittel, die während des Krieges und der Wiederaufbaujahre nicht oder nur wenig konsumiert wurden. Die realen Nahrungsmittelausgaben der Wiener Haushalte stiegen zwischen 1954 und 1964 um ein Viertel und stagnierten in der Folge bis in die Achtzigerjahre. Dieses Ergebnis wird jedoch durch eine Strukturverschiebung in den Wiener Haushalten verzerrt. Der Anteil der Einpersonenhaushalte stieg zwischen 1951 und 1981 von 24,3 auf 39,6 Prozent, jener der Haushalte mit zwei Personen ging von 37,2 auf 31,1 und der mit drei und mehr Personen sogar von 38,5 auf 29,3 Prozent zurück.91 Anders als die Haushaltsausgaben vergrößerten sich deshalb die Pro-Kopf-Ausgaben für Ernährung zwischen 1954 und 1964 um 27 Prozent und in weiteren Zehn-Jahres-Schritten um zwölf bzw. 22 Prozent. Anhand der zeitgenössischen Konsumerhebungen lässt sich eine umfassende Ernährungsumstellung beobachten  : In Wien – wie insgesamt in Österreich – ging zuerst der Verbrauch all jener Nahrungsmittel zurück, die die Hungerjahre bestimmt hatten. Dies galt insbesondere für Schwarzbrot und Kartoffeln. Nach einem Höhepunkt in den späten Fünfzigerjahren reduzierte sich auch der Milchkonsum.92 Der Bedeutungsverlust dieser Nahrungsmittel ist ein Indiz dafür, dass in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre auch im Lebensmittelkonsum die »Bescheidenheit« zu Ende ging. Nachdem der »starre Ernährungsbedarf« befriedigt war, wurde die Ernährung zu einem elastischen Konsumbereich. Noch immer gilt der »wohlbeleibte« Herr Karl als Phänotypus der »Fresswelle« der Fünfziger- und Sechzigerjahre und die »Schnitzelkultur« als negatives Referenzmodell für die angeblich »gesündere« Ernährung späterer Jahrzehnte. Diese Bilder können nicht aufrechterhalten werden.93 Vor allem die kurzschlüssige Argumentation, dass nach der Mangelernährung der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu allererst sehr viel und extrem fett gegessen wurde, ist zu revidieren. Ab der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre ging der Ernährungstrend nicht nur in Richtung eines ausgiebigeren, sondern vor allem auch »besseren« oder »feineren« Essens. Dass dabei die Preisentwicklung eine wichtige Rolle spielte, lässt sich am Verbrauch vieler Lebensmittel ablesen (Tab. 3). So reduzierte sich beispielsweise zwischen 1954 und 1964 der Kalbfleischverbrauch. Gleichzeitig wurde das teure Kalbfleisch durch das ebenfalls als »fein« geltende, jedoch wesentlich billigere Hühnerfleisch ersetzt. Pflanzliche, geschmacksneutrale Fette wie Margarine und Speiseöl traten an die Stelle von tierischen, stark eigengeschmacklichen Billigprodukten wie Schmalz. Während Speck auf der Beliebtheitsskala sank, stiegen Geselchtes und Schinken in der Gunst der Verbraucher/innen. Butter wurde bis in die Sechzigerjahre etwas mehr, wegen 233

franz x. eder der Konkurrenz der billigen »Delikatessmargarine« in der Folge aber immer weniger gegessen. Während der Verbrauch von Roggenbrot stark zurückging, aß man nun etwas mehr Weißbrot. Rahm und Obers, Käse und Topfen gehörten zu jenen Produkten, die ebenfalls öfters konsumiert wurden. Die großen Zuwächse bei Südfrüchten und Frischobst, bei Bohnenkaffee, Schokoladewaren und nichtalkoholischen Getränken signalisieren in besonderem Maße den Wohlstandsgewinn. Bei Bier und Wein kam es nicht nur zu einem steigenden Verbrauch, man konsumierte Alkohol nun auch vermehrt im privaten Rahmen. Zusammengefasst brachte die Ernährungsumstellung der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre eine deutliche Erhöhung der eiweiß- und vitaminreichen Nahrung und einen Rückgang von Kohle­ hydraten. Gegen eine »Fress- und Fettwelle« spricht auch, dass trotz steigender Verbrauchsmengen bei Fleisch und Wurstwaren nie die Vorkriegswerte erreicht wurden. Das Wiener Schnitzel blieb in den Fünfzigerjahren eine kulinarische Besonderheit. Innerhalb des Fettverbrauches ist eine deutliche Verschiebung von tierischen zu pflanzlichen Fetten festzustellen.94 Die aufgezeigten Trends setzten sich bis in die Achtzigerjahre fort. Viele Produkte verloren dabei den Charakter eines außergewöhnlichen Nahrungsmittels, das man nur an Sonn- und Feiertagen oder zu speziellen Anlässen konsumieren konnte. Typische Beispiele dafür sind Kaffee, Fruchtsäfte oder auch Fleisch. Kuchen, Gebäck und Schokoladeerzeugnisse wurden ebenfalls zu alltäglichen Nahrungsmitteln. Ihre ehemalige dominante Stellung fast völlig eingebüßt hatten hingegen die meisten Getreideerzeugnisse, aber auch Kartoffeln und Milch. Weiter gestiegen war der Verzehr von Fleisch, wobei Schweinefleisch wegen der Überproduktion, dem sogenannten »Schweineberg«, und des dadurch ausgelösten Preisverfalls, die größten Zuwächse verzeichnen konnte. Aber auch viele Gemüseprodukte bereicherten nun den Speiseplan der Wienerinnen und Wiener. Zu einem nicht unbedeutenden Faktor des Haushaltsbudgets entwickelte sich der Posten »Verzehr außer Haus«, nämlich vorerst am Arbeitsplatz und in der Schule. Der Wandel des Nahrungsmittelverbrauchs ging mit massiven Veränderungen in den Essgewohnheiten und in der Ernährungskultur einher. Am Beispiel des Gebrauchs von Reis wird klar, dass sich nicht nur die Zubereitung, sondern auch die Bedeutung eines Nahrungsmittels ändern konnte  : Bis in die Nachkriegsjahre fungierte Reis vor allem als Suppeneinlage. Danach verwendete man ihn als »Tafelreis« oder italienisch angehauchtes »Risibisi« und als eine im Vergleich zur Kartoffel delikatere Zuspeise. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden neue Zubereitungsformen wie Curry-Reis eingeführt, und der Reis avancierte, unter Beibehaltung der anderen Verwendungsmöglichkeiten, zu einer Hauptspeise.95 Ein anderes Beispiel für die veränderte Aneignung eines Nahrungsmittels ist Zucker. Seit den Fünfzigerjahren stieg der Zuckerkonsum – auch wenn die Verbrauchszahlen meist Gegenteiliges 234

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus angeben – vor allem deshalb, weil man ihn nun nicht mehr in direkter Form als Süßstoff, sondern synthetisiert, »verfeinert« und »versteckt« in Süßigkeiten, Schokoladen und anderen industriell gefertigten Lebensmitteln aufnahm. Industrielle Nahrungsmittel konnten dann leicht in die Geschmackskultur eindringen, wenn sie ästhetisiert und positiv konnotiert wurden. Kondensmilch, die seit den Nachkriegsjahren als Ersatzmilch galt, avancierte in den Sechziger- und Siebzigerjahren zum »Geschmacksverbesserer« für Kaffee. Konservierte Lebensmittel wurden als logische Reaktion auf die allgemeine Beschleunigung des Lebens präsentiert. Berufstätige Frauen wie auch gestresste Mütter und Hausfrauen würden mit ihnen die Mahlzeiten nicht nur schneller zubereiten können, man suggerierte ihnen auch, dass nun »immer etwas zu Hause« sei. In der Praxis kamen Konserven aber vor allem dann ins Spiel, wenn besondere oder »exotische« Nahrungsmittel zubereitet werden sollten. »Dosen-Ananas« brachten über Jahrzehnte hinweg einen Hauch von Südsee in das Sonntagessen der Wienerinnen und Wiener. Mit der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln und (Halb-)Fertigspeisen wurde der Wert der selbst zubereiteten Mahlzeit infrage gestellt. Dem veränderten Selbstverständnis der (Haus-)Frauen begegnete man mit der Neuauflage des Liebesparadigmas  : Auch wenn synthetische Backmittel in den Gugelhupf kamen, am wichtigsten sei doch, dass die Speisen »mit Liebe« zubereitet würden. Dies implizierte auch, dass man das Essen nicht lieblos auf den Teller klatschte, sondern der Dekoration und Präsentation größeres Augenmerk schenkte. »Bei Mama schmeckt’s am besten«, dieser Satz signalisierte die Beseitigung des allgemeinen Ernährungsmangels und ein neues Hausfrauenbild. Er drückte aber auch die Konkurrenz von individueller Essenszubereitung und Massenproduktion in Industrie und Großküchen aus. Traditionelle Hausfrauenbilder konfligierten mit der industriellen Konservierung von Lebensmitteln. Durch die Konserven wurde die eigene Bevorratung überflüssig, aber auch das Bevorratungswissen, das früher als besondere Hausfrauenqualität gegolten hatte. Die Internationalisierung des Angebotes wirkte ebenfalls in diese Richtung. Durch die Intensivierung des weltweiten Handels ergab sich vor allem bei Obst und Gemüse eine immer größere Produktpalette, und viele inländische Früchte wurden auch außerhalb der Saison angeboten. Die Fülle des Angebots konnte nicht mehr in der Greißlerei ums Eck, sondern im Selbstbedienungsgeschäft und später im »Super«-Markt bestaunt und gekauft werden. In den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren wurden in den Selbstbedienungsläden Kühlvitrinen aufgestellt und enthielten Hühnchen, Fisch, Gemüse (besonders Spinat und Erbsen) und Speiseeis. Durch die Ausdifferenzierung des Angebots avancierte die Produktverpackung und -präsentation zu einem zentralen Verkaufsfaktor. Da bei der Selbstbedienung die Verkäufer/innen als Vermittlungsinstanz ausfielen, musste das Äußere der Waren für sich sprechen. Dem Lebensmittelhandel brachten fertig verpackte 235

franz x. eder Produkte ebenfalls große Vorteile bei Arbeitszeit und Personalkosten. »Rama« ist ein frühes und besonders gelungenes Beispiel für eine auffällige Verpackung (»golden«) und erfolgreiche Produktwerbung (»Delikatess-Margarine«, »naturfeiner Geschmack«, »mit Eigelb und Vitaminen«). Hier wurde ein Wohlstandsimage kreiert und »Rama« zu einem »vollwertigen« Produkt stilisiert.96 In einem wahren Verpackungsboom wurden ab Mitte der Sechzigerjahre Papier und Pappe immer mehr durch Kunststoffe ersetzt. Verpackungsmaterial, wie insgesamt die aus dem privaten Konsum stammenden Abfälle, führte in den Siebzigerjahren zur »Müll-Lawine« und zur Diskussion darüber, ob denn der Massenkonsum unsere Umwelt und unsere Lebensbedingungen gefährde. Nahrungsmittel konsumierte man in dieser Zeit auch vermehrt außerhalb des Haushaltes. Bei den Wiener Arbeitern und Angestellten verdoppelte sich zwischen Mitte der Sechziger- und Mitte der Siebzigerjahre der Anteil des »Verzehrs außer Haus«, nämlich von rund zehn auf zwanzig Prozent der Ernährungsausgaben. Bei Pensionist/inn/en fiel die Zunahme deutlich geringer aus (Tab. 1.2). Mit steigendem Einkommen und größeren Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz verlor auch das gemeinsame Mittagessen an Bedeutung, und viele nahmen ihre Mahlzeiten nun in der Kantine oder Gaststätte ein. SchnellimbissStände und Gaststätten mit standardisierten und mehr oder weniger vorgefertigten Speisen dienten der raschen Nahrungsaufnahme. Wer sonntags auswärts aß oder gar am Abend ein Speiselokal besuchte, demonstrierte zudem Wohlstand. Der Besuch einer »Pizzeria« galt nicht nur als Reminiszenz an den letzten Italienurlaub, sondern versprach eine, wenn auch nur begrenzte, Teilhabe am »Dolce Vita« und die Flucht vor den täglichen Arbeits- und Leistungsanforderungen. »Mach mal Pause, trink Coca-Cola«, lautete die Werbung für jenes braune Getränk, das die Ambivalenz der fordistischen Produktions- und Konsumweise in kondensierter Form repräsentierte. Coca-Cola stand nicht für den Wohlstand schlechthin, sondern für die amerikanische Version eines Wohlstands durch Konsum. Doch am »American way of life« sollte nur partizipieren, wer arbeitete und produzierte – so die versteckte Botschaft, und natürlich Pause machte, um ein Getränk zu konsumieren, das durch seine stimulierende Wirkung zu weiteren Arbeitsleistungen anspornte. Coca-Cola wurde in Österreich offiziell 1953 eingeführt und schaffte trotz konkurrierender Austro-Colas bis 1956 eine flächendeckende Verbreitung.97 Trotz steigender Realausgaben machten die Ausgaben für Nahrungsmittel einen immer geringeren Teil des Haushaltsbudgets aus. Verwendeten die Wiener Haushalte 1954/55 noch beinahe die Hälfte ihres Budgets für Essen und Trinken, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1984 auf 21,4 Prozent und damit auf einen Wert, der in der Folge nur mehr knapp unterschritten wurde. Im Gegenzug gewannen die Ausgaben für den Erhalt der Wohnung und die Wohnungsausstattung, für Bildung, Erholung, Freizeit und Sport und für Verkehr und Nachrichtenübermittlung im236

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus mer mehr an Bedeutung (Abb. 13). Insgesamt stiegen die Realausgaben der Wiener Haushalte von 1954/55 bis 1964 um 80 Prozent, von 1964 bis 1974 um 29 Prozent und von 1974 bis 1984 um weitere 11 Prozent. Betrachtet man die Entwicklung der realen Pro-Kopf-Ausgaben, so wird die dramatische Ausgabensteigerung noch deutlicher  : Diese wuchsen zwischen 1954/55 und 1964 um 83 Prozent, zwischen 1964 und 1974 um 51 Prozent und zwischen 1974 und 1984 um 40 Prozent. Insgesamt nahmen von 1954/55 bis 1984 die realen Haushaltsausgaben um das 2,8-fache, die realen Pro-Kopf-Ausgaben sogar um das 3,3-fache zu. Die Ausgaben für Bekleidung und Wäsche stiegen dabei besonders in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren (Abb. 14 u. 15). Laut der Budgeterhebung der Arbeiterkammer schritten zuerst Angestelltenfamilien zum Ankauf dieser Waren und gaben dafür bereits in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre circa 15 Prozent mehr aus. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts konnten dann nicht nur die Angestellten (plus 42 Prozent Bekleidungsausgaben), sondern auch die Arbeiter/innen (+33 Prozent) immer öfter ihre diesbezüglichen Wünsche befriedigen. Nachdem in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre ein weiteres, wenn auch wesentlich geringeres Wachstum (Angestellte +6,6 Prozent, Arbeiter +12,4 Prozent) zu verzeichnen war, wurde in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts eine Sättigung erreicht. Der Gruppenindex der Verbraucherpreise zeigt, dass diese Konsumentwicklung Hand in Hand ging mit einer massiven Veränderung im Preisgefüge. Lag der Index der Bekleidungspreise bis 1952 deutlich über dem Gesamtindex, so unterschritt er diesen in den folgenden Jahren. Bereits in den Fünfzigerjahren konnte man beim Kleidungskauf also nicht mehr nur alte Kleidung ersetzen oder »notwendige« Stücke dazu kaufen und musste dabei vor allem auf den Gebrauchswert und die »Qualität« der Waren achten, sondern auch der Mode folgen. Besonders die Kleidung jüngerer Leute war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren immer stärker Modetrends ausgesetzt. Die 1951 geborene Eva W. erlebte diesen Wandel am eigenen Leib  : »Ich bekam als Kind fast nur getragene Sachen, auch von der Mutter oder von Tanten Selbstgeschneidertes oder Gestricktes. Das fand ich normal, und es war mir ziemlich gleichgültig, was ich trug, auch, als ich älter war. Erwachsenenkleidung wurde umgeändert, – insgesamt war mein Aufzug so konservativ wie der alter Frauen.« Für den Teenager sah die Situation in den Sechzigerjahren allerdings anders aus  : »Jeanshosen waren revolutionär und topmodisch, als ich sechzehn Jahre alt war, aber kaum jemand trug Markenware, die Dinger wurden oft nur mit blauen, festen Stoffen nachempfunden. Zu der Zeit hatte ich auch schon neue, modische Sachen, aber immer ›artig‹.« Die Elterngeneration hielt den bewahrenden Umgang mit Kleidung meist länger aufrecht. So auch Evas Mutter  : »Nach irgendeinem ›letzten Schrei‹ war sie nie gekleidet, dazu waren meine Eltern zu sparsam. Dauerwellen waren allerdings ein Muß.«98 Egal ob modisch oder konservativ, der demonstrative Gebrauch von Kleidung diente nun wieder verstärkt der 237

franz x. eder sozialen Distinktion und Selbstdarstellung. Für diejenigen, die Krieg und ns-Zeit miterlebt hatten, erfüllte gerade diese demonstrative Form des Konsumierens auch »die Funktion von moralischer Reinigung, Verdrängung von Schuld und Linderung von schmerzlicher Erinnerung an Verlust, Hunger, Kälte, Demütigung und Not«.99 Die Überhöhung und Aufladung von Konsumgütern kam auch bei der Wohnungsausstattung verstärkt zum Tragen. Obwohl es hier vordergründig um die Gestaltung des Heimes und dessen Inszenierung für die Familie ging, bereitete man die Wohnung bewusst oder unbewusst auch für die potentielle Öffentlichkeit auf. Spar- und Funktionsmöbel, wie die ab 1954 im Handel erhältlichen und als einfach, billig, aber dennoch formschön angepriesenen »SW-Möbel«,100 wurden deshalb a la longue von Nierentisch, amerikanischer (Einbau-)Küche und vielen anderen, immer wieder »moderneren« Einrichtungsgegenständen verdrängt. Eine »modern« eingerichtete Gemeinde- oder Mietwohnung gehörte – wie die »Kleinfamilie« und »gutes« Essen – zu den kleinbürgerlichen Lebensidealen. H.C. Artmann hat diese Träume mit schwarzer Tinte zu Papier gebracht  : ja – so a gemeindewonung miassast haum a schene brafe frau de wos de gean hod und jeden easchtrn in da frua die sichas en de qoschne haund  ! des waa r amezii göö liawa freind  ? owa leida leida  : schnekn  ! du wiasd nii in deim lem fon dea müch fon den zuka und fon de ziwem de wos a schene brafe frau en da neichn amereganeschn gredenz fon so ana gemeindewonung faschdegt hod owenoschn kena .. des dan aundare fia dii woarum was da floke  !101 Wie das Institut für empirische Sozialforschung Anfang der Sechzigerjahre eruierte, standen eine eigene Wohnung und schöne Wohnungseinrichtung besonders bei 238

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus jungen Ehepaaren ganz oben auf der Wunschliste.102 Die Erhebung ergab jedoch auch, dass aufgrund der schlechten Wiener Wohnversorgung rund vierzig Prozent der jungen Eheleute über keine eigene Wohnung verfügten – und das, obwohl sie recht gut verdienten. Die Ehepaare wohnten bei den Eltern oder in Untermiete und hofften, in absehbarer Zeit eine Gemeindewohnung oder eine kleinere Altbauwohnung zu mieten. Bezeichnend für die mangelnde Wohnungsqualität war, dass 54 Prozent aller Jungverheirateten zum Duschen und Baden ins »Tröpferlbad« gehen mussten. Nach der Häuser- und Wohnungszählung des Jahres 1961 verfügten nur 66 Prozent der Wiener Wohnungen über einen eigenen Wasseranschluss und 55 Prozent über ein Klosett innerhalb des Wohnverbandes.103 Der Preisindex für die Wohnungsmiete und -instandhaltung lag in den Fünfzigerjahren noch deutlich unter dem Gesamtpreisindex, ab den Sechzigerjahren hingegen stiegen die Kosten für das Wohnen wesentlich stärker als für alle anderen Ausgabengruppen (Abb. 5.1 bis 5.4). Der monatliche Aufwand für Wiener Miet- und Eigentumswohnungen erhöhte sich zwischen 1974 und 1983 real um rund neunzig Prozent, wobei allerdings große Unterschiede zwischen den Belastungssteigerungen in Alt- und Neubauwohnungen bestanden.104 Wer eine eigene Wohnung hatte, ging an die Anschaffung moderner Haushaltsgeräte. Hier kam es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zu einer wahren Elektrifizierungsrevolution (Abb. 16). »Elektrisch leben heißt besser leben  !«, lautete die Devise. Die Elektroindustrie animierte zum Kauf von Großgeräten wie Kühlschrank, Herd, Wasserspeicher oder Waschmaschine. Aber auch eine Unzahl kleinerer Maschinen sollte der Hausfrau »Arbeitserleichterung« und »Zeitersparnis« bringen und das Heim komfortabel machen. Tauchsieder, Expresskocher, Einzelkochplatte, Höhensonne, Haartrockner, Brotröster, Kaffeemühle, Kaffeemaschine, Teekanne, Wärmestrahler, Infrarotlampe, Staubsauger, Heizkissen, Bodenbürste, Reisebügeleisen, Trockenrasierer, Elektrouhr und Tischventilator waren nur einige der Elektrogeräte, die den Konsument/inn/en mittels Werbung zur Kenntnis gebracht wurden. Halbwegs gesicherte Daten über die tatsächliche Ausstattung der Wiener Haushalte existieren allerdings nur für wenige Geräte (Abb. 17). Zweifelsohne hielt der Kühlschrank am raschesten Einzug in die Haushalte. Waren 1952 nur circa zwei Prozent damit ausgestattet, so erhöhte sich der Anteil bis 1959 auf 18, bis 1970 auf 73, bis 1974 auf 91 und bis 1984 auf 96 Prozent. Der eigentliche Kühlschrankboom fand – wenn die gesamtösterreichische Entwicklung auch für Wien gilt – in der zweiten Hälfte der Fünfziger- und ersten Hälfte der Sechzigerjahre statt. Über elektrische Waschmaschinen verfügten in dieser Zeit noch sehr wenige Familien  : 1952 hatten unter einem Prozent, 1959 zehn und 1970 dreizehn Prozent der Haushalte ein solches Gerät. Erst ab den Siebzigerjahren bekamen Handwäsche und Waschsalon größere Konkurrenz durch private Maschinen. 1974 hatten 39 Prozent der Haushalte 239

franz x. eder ein solches Gerät, 1984 65 Prozent (Abb. 18).105 Durch die Elektrogeräte wurde in den Siebzigerjahren die »Haushaltsarbeit, die vorher dank vergrößerter Wohnungen, hoher Reinlichkeitsstandards und vermehrter Güter, die es einzukaufen und zu warten galt, eher zugenommen hatte, (…) rationalisiert und zugleich auch eine Spur mehr von Männern übernommen«.106 Die wöchentliche Gesamtarbeitszeit, also die Summe der pro Woche für Berufsarbeit, Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung benötigten Zeit, reduzierte sich zwischen 1969 und 1981 bei Männern von rund 54 auf 51 Stunden, bei Frauen von rund achtzig Stunden auf 66 Stunden. Die Anschaffung von Haushaltsgeräten wurde vielfach erst durch die »moderne« Ratenzahlung möglich. Waschmaschine und Kühlschrank gehörten zu jenen Maschinen, die bereits in den Elektrogeräte-Aktionen der Fünfzigerjahre intensiv mit Kredit- und Rückzahlungserleichterungen umworben wurden. Durch den Preisverfall der Geräte – ein Kühlschrank von Bosch kostete 1960 nur mehr vierzig Prozent des Preises von 1951 – konnten diese auch bei geringen Einkommen erworben werden. Der Preisverfall resultierte nicht nur aus der gestiegenen Nachfrage, sondern auch aus der Öffnung des österreichischen Marktes für ausländische Produkte. Nachdem sich Österreich 1953 dem System des freien Außenhandels angeschlossen hatte, kam es bei vielen Konsumgütern zu einer deutlichen Vergrößerung des Angebots und zur Verbilligung der zuvor geschützten inländischen Produkte.107 Als im Jahr 1955 das österreichische Fernsehen in Betrieb ging, bedeutete dies ebenfalls einen massiven Produktionsanreiz für die österreichische Industrie. Zwischen 1955 und 1961 entfielen sechzig Prozent des Zuwachses der österreichischen Konsumgüterproduktion, die damit erstmals die Investitionsgüterproduktion überholte, allein auf Fernsehgeräte und Magnetophone.108 Die 1958 vergebenen 25.000 Wiener Fernsehanschlüsse waren allerdings meist in Gasthäusern und Elektrofachgeschäften installiert und wirkten dort als Publikumsmagneten.109 Wer sich, wie die Familie von Eva W., schon wenige Jahre nach der Einführung des Fernsehens ein privates Gerät anschaffen konnte, lieferte mit dem »Patschenkino« ebenfalls eine Sensation  : »Einen Fernseher bekamen wir erst, als ich schon in die Volksschule ging. Wer noch keinen eigenen Apparat hatte, besuchte irgendwelche Bekannten mit so einem Gerät, und in großer Runde saß man dann vor populären Sendungen  ! Aus den in die Küche getragenen Fauteuils blickten wir also in den Fernseher im Kabinett, – so konnte man mich wegschicken, wenn Schlafenszeit war, oder ich eine Sendung nicht sehen durfte.«110 In den Sechzigerjahren stieg die Ausstattung der Privathaushalte rasch an, 1968 wurde österreichweit die Millionenmarke überschritten. 1974 besaßen bereits 69 Prozent der Wiener Haushalte ein Schwarz-Weiß-Gerät, 14 Prozent sogar einen Farbfernseher. Bis 1984 verkehrte sich dieses Verhältnis (19 Prozent Schwarz-Weiß- und 61 Prozent Farbfernseher). Mit den im privaten Familienkreis konsumierten Fernsehsendungen wurde eine häusliche Unterhaltungs240

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus und Freizeitform kreiert, die die innerfamiliale Kommunikation massiv beeinflusste. Das Medium begünstigte »die Herausbildung und Standardisierung des familialen Innenraums als privilegierten Ort des privaten Konsums«.111 Nicht mehr im öffentlichen Raum, sondern mitten im Wohnbereich wurden nun durch das Fernsehen Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle produziert und ihre Befriedigung mit dem Geund Verbrauch von Gütern verbunden. Durch den Zugriff auf das »Private« trug das Fernsehen essenziell zur Kommerzialisierung des Lebens und zur Durchsetzung des Konsumismus bei. Mit der Flüchtigkeit seiner Bilder stimulierte es aber auch dazu, die Dinge nur einen – im wahrsten Sinn des Wortes – Augenblick zu besitzen. Visueller Konsum gewann jedoch nicht nur durch das Fernsehen an Bedeutung. Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren avancierte das »Bummeln« und »Auslagenschauen« zu einer beliebten Freizeitgestaltung der Wiener und Wienerinnen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde »shopping« modern. Neben dem Schauen, Angreifen und Kaufen spielte die Wunschproduktion eine immer zentralere Rolle. Flanieren, Bummeln und Shopping sind jene Formen des Konsumierens, bei denen der reale Ge- und Verbrauch von Waren durch Imagination und Tagtraum ersetzt wurden. Eine weitere Möglichkeit des Freizeitkonsums eröffnete sich mit der individuellen Motorisierung. In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre setzte eine »Autowelle« ein, die man in den Siebziger- und Achtzigerjahren zunehmend als »Verkehrslawine« zu beschwören begann (Abb. 19). Anfang der Fünfzigerjahre überstieg die Zahl der Personenkraftwagen (3,3 pro hundert Haushalte) nur knapp die der Motorräder oder Motorfahrräder. Im Gegensatz zu Letzteren nahm der Autobestand allerdings rasant zu  : 1961 gab es bereits 22, 1971 47 und 1981 66 Pkw pro hundert Haushalte (Abb. 20). Besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde der Ankauf eines eigenen Autos als wichtiger Schritt in Richtung Wohlstand empfunden. So auch von Irene H., bei der 1956 ein Wagen ins Haus kam  : »Es war schon eine besondere Sache, wenn man in den Fünfzigerjahren bereits ein eigenes Auto besaß. Wir hatten, wie viele andere zu jener Zeit, zuvor einige Jahre ein Motorrad benützt, eine Douglas, zweizylindrig, mit je 175 Kubikzentimeter Inhalt, gebaut 1925. Auf kurzen Strecken hatte sie sogar brav die ganze Familie befördert. (…) Als sich aber die Geburt unseres Sohnes ankündigte, mußte eine andere Lösung gefunden werden, und sie hieß  : Opel Olympia, Baujahr 1952, eine Cabrio-Limousine. Wir waren überglücklich. Besonders das Stoffdach begeisterte uns sehr, wir öffneten es bei jeder sich bietenden Gelegenheit.«112 Das »eigene Auto« wurde zum Inbegriff von Mobilität und Freiheit, zum Kristallisationspunkt von Lebensentwürfen und Weltbildern, aber auch zur Chance, der durch die Vollmobilisierung an Lebensqualität verlierenden städtischen Umwelt zu entkommen.113 Anschaffung, Erhaltung und Betrieb des eigenen Fahrzeugs nahmen innerhalb der Haushaltsausgaben einen immer grö241

franz x. eder ßeren Platz ein. Besonders in der zweiten Hälfte der Sechziger- und ersten Hälfte der Siebzigerjahre vervielfachten sich die realen Mehrausgaben  : Zwischen 1965 und 1970 stiegen sie auf rund das Dreifache, zwischen 1970 und 1975 um weitere dreißig bis fünfzig Prozent. Spätestens als die Benzinpreise infolge der Erdölkrise drastisch angehoben wurden und das Handelsministerium 1974 einen autofreien Tag pro Woche verordnete, zerplatzte der Traum vom problemfreien und grenzenlosen Individualverkehr.114 Die negativen Seiten der allgemeinen Mobilisierung wurden immer sichtbarer  : Luftverschmutzung und Lärmbelästigung waren genauso wenig zu übersehen wie die Überlastung des Wiener Straßennetzes. Als Reaktion forderten die einen eine Einschränkung des Individualverkehrs zugunsten des öffentlichen Verkehrs, die anderen den weiteren Ausbau von Schnell- und Umfahrungsstraßen. Die Zunahme des Verkehrs resultierte jedoch nicht nur aus der wachsenden Zahl von Privatautos und aus dem zunehmenden Berufs- und Pendlerverkehr, sondern auch aus dem ab den Siebzigerjahren beschleunigten Wandel der Einkaufsmuster und dessen Folgen für die Wiener Geschäftslandschaft. 1973/74 erledigte noch der Großteil der Wiener und Wienerinnen den täglichen Einkauf in der unmittelbaren Umgebung der Wohnung und benützte dabei ungefähr zu gleichen Teilen Bedienungs- und Selbstbedienungsläden. Für Großeinkäufe von Lebensmitteln und insbesondere von Bekleidung, Möbel und Elektrogeräten fuhr man auch schon in den Supermarkt.115 Viele neue Supermärkte, die nicht nur mit Angebot und Preisen, sondern auch mit Gratis-Parkplätzen lockten, wurden an der Peripherie erbaut und waren nur mit dem Auto erreichbar. Der Boom der Supermärkte führte ab den Achtzigerjahren zur Verschlechterung der Nahversorgung und Ausdünnung der lokalen Fachgeschäfte. Die Errichtung der »Shopping City Süd« 1976 hatte zur Folge, dass Kaufkraft von Wien nach Niederösterreich gezogen wurde. Die rasch steigenden Besucher- und Umsatzzahlen der scs belegen, dass man hier die Konsumorientierung der mobilen Gesellschaft schon früh erkannt hatte. Das Erfolgsrezept lautete  : »Einkaufen mit dem Auto, Einkaufen und Erlebnis und Freizeitspaß und Einkaufen für jede Bedarfsdeckung an einem Fleck.«116 Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren verwendete man den eigenen Wagen nicht nur für innerstädtische Fahrten, sondern auch bei Ausflügen und Urlaubsreisen. Zusammen mit »Unterricht, Erholung und Sport« machten die Urlaubsausgaben der Wiener Haushalte zwischen 1954/55 und 1984 einen immer größeren Posten aus (Abb. 13). Verwendeten die Haushalte 1954/55 nur 6,3 Prozent ihrer Ausgaben dafür, so stieg der entsprechende Wert bis 1964 auf 8, bis 1974 auf 11,6 und bis 1984 auf 15 Prozent. Die Erhebungen der Wiener Arbeiterkammer zeigen, dass die Realausgaben für Erholung und Urlaub nicht kontinuierlich, sondern in zwei Phasen, nämlich in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren und in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre, wuchsen. Arbeiter- und Angestelltenhaushalte realisierten 242

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus ihre Urlaubswünsche besonders in der ersten Phase zeitverschoben  : Arbeiter/innen steigerten innerhalb kurzer Zeit, nämlich in der zweiten Hälfte der Fünfziger, ihre Urlaubs- und Erholungsausgaben um rund das Dreifache. Angestellte hingegen verfügten schon in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre und bis in die Mitte der Sechzigerjahre über ein kontinuierlich wachsendes Urlaubsbudget. In der zweiten Phase, ab Mitte der Siebzigerjahre, steigerten beide Gruppen ihre Urlaubsausgaben um achtzig bis neunzig Prozent. In beiden Phasen kam es zu grundlegenden Veränderungen beim Reisen und Urlauben der Wiener Bevölkerung. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren standen neben den Sonntagsausflügen in die nähere Umgebung vor allem österreichische Destinationen im Mittelpunkt. Angehörige der wohlhabenderen Schicht fuhren auch schon an die Adria und konnten damit einen vielbesungenen Traum realisieren. Mit steigenden Einkommen und verlängertem Urlaubsanspruch – 1965 wurde die dritte Urlaubswoche eingeführt – konnten sich immer mehr Personen auch Auslandsreisen leisten. Von den 44 Prozent der Wiener Haushalte, deren Mitglieder 1972 auf Urlaub gingen, fuhr bereits ein Drittel ins Ausland. Bei den Inlandszielen rangierte Niederösterreich (27 Prozent) vor der Steiermark (23 Prozent) und Kärnten (13 Prozent), im Ausland führte Italien (32 Prozent) vor Jugoslawien (26 Prozent) und Deutschland/Schweiz (zusammen 20 Prozent).117 Die meisten Reisen dauerten rund zwei Wochen (41 Prozent), eine recht große Zahl von Personen konnte aber auch schon drei Wochen auf Urlaub (34 Prozent) fahren. Das Reisen stellte für viele eine beträchtliche finanzielle Belastung dar, sodass sich nur 55 Prozent der Haushalte am Urlaubsort ausschließlich in Speiselokalen verköstigten, der Rest verpflegte sich mehr oder weniger selbst. Das Reise- und Urlaubsverhalten der Wiener Bevölkerung, wie der Österreicherinnen und Österreicher insgesamt, änderte sich ab Mitte der Siebzigerjahre in vielerlei Hinsicht.118 Wenn es das Einkommen erlaubte, trat man jetzt – auch wegen des vierwöchigen Urlaubsanspruchs und des »verlängerten Wochenendes« – Mehrfach- und Kurzurlaube an. Die Zahl der Auslandsurlaube und -reisen überstieg die Inlandsaufenthalte, wobei bei ersteren weiter entfernte Destinationen wie Griechenland, Spanien und die Türkei immer beliebter wurden. Im Inland avancierte das »sonnensichere« Kärnten zum bevorzugten Urlaubsziel. Inlandsreisen wurden immer seltener mit Eisenbahn oder Autobus durchgeführt und immer öfter mit dem eigenen Auto. Bei Auslandsreisen hingegen verlor das Auto deutlich gegenüber dem Flugzeug. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren galt die Freiheit auf zwei oder vier Rädern als Zeichen von Wohlstand und modernem Lebensstil, in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde die individuelle Mobilität zur Selbstverständlichkeit. »Mobil«, »modern«, »frei«, das sind nur einige der Schlagwörter, mit denen man in den Nachkriegsjahrzehnten die positiven Seiten der Konsumgesellschaft bezeichnete. Konsumkritiker hingegen agierten, egal, welche weltanschauliche Position sie ein243

franz x. eder nahmen, bis um 1970 im Stil der traditionellen westeuropäischen Luxuskritik. Massenkonsum wurde »als Quelle von moralischer Verderbnis, Dekadenz und Sinnkrise (…) oder als Ende der Bürgerlichkeit, als Entfremdung oder Verschleierung der Abhängigkeits- und Herrschaftsstrukturen in Kapitalismus und Industriegesellschaft«119 gesehen. Eingebettet in die Modernisierungskritik fand seit den späten vierziger Jahren ein Nationalisierungsdiskurs statt, in dem österreichische Konsumgüter bevorzugt behandelt und ausländische, insbesondere amerikanische, Waren abgewertet wurden. Den ersten wirklichen Höhepunkt erlebte die Diskussion um den Konsum in den späten Fünfzigerjahren. Ausgelöst wurde sie durch den Konsumhedonismus der »Halbstarken« oder, auf wienerisch, der »Eckensteher«  : »Da Wüde auf seina Maschin«, Jeans und Lederjacken, schwingende Röcke und toupierte Frisuren galten diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Distinktionsmittel gegenüber den Verzichts- und Sparsamkeitsforderungen der Kriegsgeneration, aber auch als Absage an die Heimatseligkeit der österreichischen Hoch- und Populärkultur.120 Durch ausländische Konsumartikel, Halbstarkengehabe und sexuell konnotierten Rock’n’Roll zeigten sie eine Haltung, die nicht auf Familie und Akkumulation, sondern auf die individuelle Befriedigung im Hier und Jetzt abzielte.121 Mit ihrem demonstrativen Konsum distanzierten sich die aus der Arbeiterschaft stammenden jungen Leute aber auch von den traditionell asketischen Werten der Arbeiterbewegungskultur. Trotz begrenzter Geldmittel pflegten sie einen konsumorientierten Lebensstil und können deshalb als die Avantgarde des modernen Konsumismus gelten.122 Während der Sechzigerjahre konnten immer größere Teile der Bevölkerung am Wirtschafts- und Konsumwunder partizipieren. Mit wachsendem Wohlstand verringerte sich die Differenz zwischen den Konsummustern der einzelnen sozialen Schichten, und bürgerliche Konsumstandards breiteten sich immer mehr aus.123 Über die Jahrhunderte hinweg hatte man an Kleidung, Wohnen und Essen feststellen können, welcher sozialen Schicht eine Person angehörte. Nun wurde den Gütern und Dienstleistungen zunehmend die soziale Trennschärfe entzogen. Einheit in der Vielfalt, lautete das moderne Konsummuster, Verfeinerung der Unterschiede war seine Zielsetzung. Angebotsrevolution und zunehmende Unübersichtlichkeit hatten zur Folge, dass in den Sechzigerjahren Institutionen entstanden, die dem Massenkonsum zwar grundsätzlich positiv gegenüberstanden, ihn aber kritisch und professionell durchleuchten wollten. Konsumexperten und Konsumentenschützer traten mit dem Anspruch auf, die Beziehung zwischen Markt und Konsument/inn/en nach den »vier Grundrechten der Verbraucher« – Sicherheit, Information, Auswahl und Anhörung – zu durchleuchten.124 Als wichtigste diesbezügliche österreichische Institution wurde 1961 von den Sozialpartnern der »Verein für Konsumenteninformation« ins Leben gerufen.125 Konsumentenberatung und Werbeindustrie waren auch die Ins­ tanzen, die das aus der Zwischenkriegszeit stammende Subjekt der »Verbrauche244

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus rin« in den/die (un)mündige/n »Konsumenten/in« überführten. Diese Konstruktion wurde durch die zunehmende wissenschaftliche Erforschung des Konsumverhaltens beeinflusst.126 Bis zum Beginn der Sechzigerjahre fasste die Konsumforschung die grundlegenden Marktzusammenhänge und das ökonomische Gleichgewicht abstrakt-theoretisch und sah den »homo oeconomicus« als rationales, informiertes und vorausschauendes Konsumsubjekt. Mit zunehmendem Warenangebot, frei verfügbaren Einkommen und der besseren Ausstattung der Haushalte wurden die Grenzen dieses Modells immer deutlicher. Der Markt der Verkäufer verwandelte sich in den Sechzigerjahren in einen der Käufer, die abstrakten »Verbraucher/innen« wurden zu konkreten »Konsument/inn/en«. Angesichts dieser Entwicklung ging man an die empirische Erforschung des Konsumverhaltens und versuchte, soziologische und psychologische Erklärungen für das Handeln der Konsument/inn/en zu finden. Die Konsumentenforschung platzierte sich dabei zwischen zwei widersprüchlichen gesellschaftlichen Interessenlagen  : einerseits den wirtschaftlichen Bestrebungen der Betriebe, die gerade bei Angebotsüberhang Informationen über die Verhaltensweisen und Wünsche der Käufer benötigten, um ihr Marketing zu justieren,127 andererseits bediente die Erforschung der psychischen und sozialen Regeln des Güter- und Dienstleistungskonsums auch kritisch-emanzipatorische Ansprüche. Erst wer die bewussten und unbewussten Regeln des Konsumierens kenne, sei keine Verbrauchsmarionette, sondern mündiger Konsument, propagierten die Konsumentenschützer. Den Zwängen der Konsumgesellschaft entkommen wollten die Hippies und ein Teil der Student/inn/en in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren. Im Gegensatz zu den Halbstarken lautete ihr Credo nicht Konsumhedonismus, sondern Konsumaskese. Mit der Frontstellung gegenüber der »Überflussgesellschaft« und der konsumistischen Lebenseinstellung distanzierten sie sich auch von den ökonomischen Errungenschaften ihrer Eltern und deren scheinbar apolitischem, auf wirtschaftliche Akkumulation fixiertem Lebensstil. Obwohl hier Bedürfnislosigkeit zur Schau getragen und bei Kleidung und Wohnen alle Konsumzwänge negiert wurden, reagierte die Wirtschaft rasch und flexibel auf die veränderte Nachfrage. Als neue Konsumtrends wurden zum Beispiel »Casual wear«, die unmodische Bekleidungsmode, und »Selbstbaumöbel«, die der automatisierten industriellen Massenfertigung entstammten, erfunden. Mit der »Rockmusik« und ihren Nachfolgestilen entstanden distinktive Ausdrucks- und Verständigungsformen junger Menschen und ein Jugendkult(ur)markt, der das anwachsende Konsumpotenzial dieser Generation bediente. Die konsumkritische Haltung sensibilisierte besonders jüngere Menschen in den Siebzigerjahren für die aus dem Massenkonsum und der industriellen Produktion resultierenden Schäden für Umwelt und Leben. Die »Grünbewegung« trug das »Umweltbewusstsein« und den Gedanken des »Umweltschutzes« in eine breite Öffentlichkeit. Seit 1985 nahm das Umweltbewusstsein deutlich zu.128 In den Acht245

franz x. eder ziger- und Neunzigerjahren wurde aber immer deutlicher, dass der Siegeszug des Konsumismus trotz steigendem Umweltbewusstsein und vermehrter Konsumkritik auch und gerade bei jüngeren Menschen nicht mehr aufzuhalten war.

»Neue Armut« und Konsumismus (1982/83–1995) Nach dem zweiten Erdölschock ging in Wien, wie in ganz Österreich, die Zeit der Vollbeschäftigung zu Ende. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern war es zwischen 1975 und 1982 durch »deficit spending«, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und nicht zuletzt durch die weitere Expansion des tertiären Sektors und hier besonders des öffentlichen Dienstes gelungen, die Auswirkungen der weltweiten Krise hintanzuhalten. 1982/1983 stieg die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen in Wien von 2,1 auf 3,3 Prozent und überschritt damit die Marke von drei Prozent, bis zu der von Vollbeschäftigung gesprochen wurde (Abb. 12).129 Ab diesem Zeitpunkt erhöhte sich die Arbeitslosenrate mehr oder weniger kontinuierlich auf 7,3 Prozent im Jahr 1995. Mit der Zahl der Arbeitslosen vergrößerte sich die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit  : Zwischen 1980 und 1995 erhöhte sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen (sechs Monate und mehr ohne Beschäftigung) von 18,5 auf 43,6 Prozent.130 Im Gegensatz zu ihnen konnte die Gruppe der Beschäftigten zwischen 1983 und 1995 ihr Haushaltseinkommen vergrößern (Abb. 8), wobei nicht alle sozialen Schichten im selben Ausmaß zum Zug kamen. Das Netto­ einkommen der Wiener Arbeiter- und Angestelltenhaushalte nahm um rund 15 Prozent zu, das der öffentlich Bediensteten nur um sieben Prozent. Aufgrund der unterschiedlichen Haushaltsstruktur und Erwerbstätigkeit der Haushalte kommt diese Entwicklung bei den Pro-Kopf-Einkommen noch klarer zum Vorschein  : Die Angestellten verdienten 1995 rund 26 Prozent mehr als 1983, die Arbeiter/innen und öffentlich Bediensteten hingegen nur 16 bzw. 18 Prozent.131 Im Jahr 1995 lag der Median des Netto-Haushaltseinkommens der Arbeiter/innen bei 89 Prozent des Einkommens der unselbstständig Erwerbstätigen, das Einkommen der öffentlich Bediensteten bei 105 Prozent und das der Angestellten bei 106 Prozent. Die Personaleinkommen streuten in noch größerem Ausmaß  : Die Arbeiter/innen rangierten mit einem Netto-Pro-Kopf-Einkommen von 81 Prozent deutlich unter dem der öffentlich Bediensteten (104 Prozent des durchschnittlichen Personaleinkommens) und Angestellten (112 Prozent). In langfristiger Perspektive muss allerdings festgehalten werden, dass sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren, im Vergleich etwa mit den Fünfziger- und späten Siebzigerjahren, die Streuung der Einkommen der Beschäftigten nicht gravierend veränderte (Abb. 9). Bei einzelnen Berufsgruppen ist es in diesem Zeitraum dennoch zu größeren Einkommensunterschieden gekommen. 246

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Die Männer- und Fraueneinkommen näherten sich hingegen an  : Laut Mikrozensuserhebungen reduzierte sich von 1981 bis 1995 der Vorsprung der nominellen Nettoeinkommen der Männer gegenüber dem der Frauen von 31 auf 19,5 Prozent.132 Die geschlechterspezifischen Einkommensdifferenzen zwischen den Berufsschichten variierten  : 1993 verdienten bei den öffentlich Bediensteten Wiens die Männer um zwölf Prozent mehr als ihre Arbeitskolleginnen, die Arbeiter um 19 Prozent mehr als die Arbeiterinnen, bei den Angestellten hatten die Männer sogar ein um rund vierzig Prozent höheres Netto-Personeneinkommen. Das Ungleichgewicht der Männer- und Fraueneinkommen wie auch die unterschiedliche Berufskarrieren von Männern und Frauen zeigten sich auch an deren Anteil an den am schlechtesten und besten Verdienenden  : 1993 verdienten rund sechs Prozent der unselbstständig beschäftigten Männer und 15 Prozent der Frauen unter 8400 Schilling und fielen so in das unterste Dezil der Einkommen. Im obersten Dezil hingegen war das Verhältnis umgekehrt  : Zwanzig Prozent der Männer und neun Prozent der Frauen verdienten über 23.800 Schilling.133 Der gespaltene Arbeitsmarkt, die steigende Arbeitslosigkeit und die zunehmend unsicheren Arbeitsverhältnisse hatten zur Folge, dass sich auch die Konsumchancen polarisierten. Ärmere oder armutsgefährdete Haushalte konnten den Forderungen des Konsumismus in den Achtziger- und Neunzigerjahren nicht mehr folgen und mussten ihre Haushaltsausgaben den niedrigen und vor allem nicht mehr längerfristig prognostizierbaren Einkommen anpassen. Die Verlierer der postfordistischen, auf eine effektivere Nutzung der Arbeitskräfte abzielenden Produktionsweise waren vor allem die wenig qualifizierten und unflexiblen Arbeitskräfte.134 Sie wurden von der rasanten Entwicklung der Mikroelektronik, den steigenden Anforderungen an die Beschäftigten und dem gegen traditionelle Betriebsverbundenheit und lebenslange Arbeitsverhältnisse gerichteten Prinzip des »Hire and fire« am stärksten betroffen. In Wien machten die armutsgefährdeten Haushalte 1993/94 (ausgabenbezogen) rund 16 Prozent aller Haushalte aus. Nicht berücksichtigt wurden dabei Obdachund Wohnungslose oder in Anstalten lebende Personen. Der Anteil aller armen und armutsgefährdeten Haushalte lag damit noch einiges über dem angegebenen Wert. Armutsgefährdete Haushalte wiesen eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf  :135 Ihre Hauptverdiener waren oft ungelernte Arbeiter/innen, Hilfsarbeiter/innen, niedrig qualifizierte Angestellte oder Arbeitslose. Häufiger als andere hatten diese Hauptverdiener eine geringe Schulbildung und keinen Lehrabschluss. Sie lebten in kleineren und älteren Substandardwohnungen und häufig mit mehreren Kindern. Alleinerziehende fanden sich überproportional oft in ihrer Gruppe. Im Konsumverhalten unterschieden sich Haushalte mit niedrigem Einkommen 1993/94 – verglichen mit den Jahren 1974 und 1984 – in mehrerer Hinsicht von den wohlhabenden und reichen Haushalten (Abb. 7.3 bis 7.5).136 In den unteren Ausgabengruppen nahmen 247

franz x. eder nun neben den Ernährungsausgaben die Wohnkosten einen fast gleich großen Anteil ein. Alle anderen Ausgaben blieben, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, weit zurück. Mit steigendem Haushaltseinkommen spielten neben den genannten Posten die Ausgaben für (private) Verkehrsmittel, für Bekleidung und vor allem auch für Erholung und Sport eine immer wichtigere Rolle. Bei den wohlhabenderen Haushalten lagen die Ausgaben für eigene Verkehrsmittel, Erholung und Sport 1993/94 ungefähr gleichauf mit denen für Ernährung und Wohnung (ohne Heizung). In einem (österreichweiten) Vergleich armutsgefährdeter und ausgabenstarker Erwerbstätigenhaushalte spitzt sich die Konsumdifferenz noch mehr zu  : Für Ernährung und Wohnen verwendeten armutsgefährdete Haushalte pro Kopf rund 51 Prozent ihres Budgets (oder 3.280 Schilling), ausgabenstarke hingegen nur 24 Prozent (8.100 Schilling). Für Erholung, Sport, Freizeit und Verkehr konnten Letztere 38 Prozent (13.910 Schilling) ausgeben, Erstere nur 23 Prozent (1.476 Schilling).137 Insgesamt erhöhten sich zwischen 1984 und 1993/94 die realen Konsumausgaben der Wiener Haushalte um zehn Prozent, die Pro-Kopf-Ausgaben sogar um zwölf Prozent (Abb. 14 u. 15). Diese Zuwächse waren allerdings nicht gleichmäßig über die einzelnen Gruppen verteilt (Abb. 5.4 u. 5.5). Sie resultierten aus einer Ausgabensteigerung beim Wohnen (Miete und Instandhaltung, nicht aber Wohnungsausstattung), mit 17 Prozent pro Haushalt und zwanzig Prozent pro Kopf, weiters aus Mehrausgaben bei Bildung, Erholung, Freizeit und Sport (16 Prozent pro Haushalt und 18 Prozent pro Kopf). Den größten Anteil an der Ausgabensteigerung hatten allerdings die eigenen Verkehrsmittel (inkl. Nachrichtenübermittlung  ; 32 Prozent pro Haushalt und 34 Prozent pro Kopf). Nicht alle Zuwächse lassen auf einen tatsächlichen Mehrkonsum schließen. Wie bereits in den Jahrzehnten davor hing die Ausgabensteigerung einzelner Konsumgruppen auch von der Preisentwicklung ab  : Mehr oder weniger im Rahmen der Gesamtpreisentwicklung blieben die Preise der boomenden Konsumbereiche Erholung, Freizeit, Sport und Verkehr. Am stärksten stiegen die Preise für das Wohnen. Durch günstige Wohnungsverbesserungskredite für die Mieter, aber insbesondere durch Anreize zur Wohnungsrenovierung und -sanierung für die Hausbesitzer stieg das Ausstattungsniveau der Wiener Haushalte. Die Hebung der Wohnqualität hatte jedoch zur Folge, dass in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre kaum mehr billige Wohnungen auf dem Markt waren und einkommensschwache Familien in eine neue Wohnungsnot schlitterten. Anders als bei den Wohnungskosten kam es bei den Posten Ernährung, Kleidung und Haushaltsausstattung zu vergleichsweise geringen Preiserhöhungen. Die Verbreitung von Supermärkten und Ladenketten und vor allem von Billig- und Diskontfirmen hatte hier zur Folge, dass das Warenangebot ständig wuchs und die Preise niedrig blieben. Auch die weitere Ansiedlung von großen Handelsbetrieben an den Stadträndern verstärkte den Konkurrenzkampf.138 Das innerstädtische »Geschäftesterben« nahm weiter zu. 248

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus Besonders immobile Personen bekamen nun die negativen Seiten dieses Strukturwandels zu spüren. Wer über ein eigenes Auto verfügte, machte Großeinkäufe schon allein wegen der »Sonderangebote« und der niedrigeren Preise in Super- oder Megamärkten. Dass dort das »Einkaufsvergnügen« schnell zur anstrengenden Arbeit ausarten konnte, demonstriert folgende Interviewpassage aus einer Studie zu den Praktiken des Einkaufens, Kochens, Essens und Trinkens. Frau Maria S. meint zum Thema »Großeinkauf«  : »Ja, also so ein Rieseneinkauf wie im Metro is ma eher unsympatisch, weil ich, ich mag das Manövrieren dieser riesen Wägn nicht, ich mag die Riesenmengen nicht so sehr schleppen und heben, und außerdem hab is Gfühl, daß i dann sowieso mehr einkaufe als ich brauche und es nimmt ma zu viel Zeit. I habs Gfühl, i verschenk an halben Tag fürs Einkaufen. Es is natürlich Selbstbetrug, weu wenn ich zehn mal ins Pam Pam des gleiche einkaufen geh, verbrauch i wahrscheinlich mehr Zeit. Aber des is auch – des Pam Pam is heller und freundlicher und netter ois des so ein Riesen-Metro-Markt. Es is ma unsympathisch.«139 Um die Mühen des Einkaufens vergessen zu lassen, versuchte man, die Stimmung der Käufer/ innen positiv zu beeinflussen. Die Verkaufssituation wurde »psychologisch«, durch entspannende Hintergrundmusik, einladendes Interieur oder »Erlebnis«-Angebote aufbereitet. Kaufen sollte ein Konsum-»Erlebnis« werden. Trotz veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen blieb die Konsumorientierung in Österreich und Wien in den Achtziger- und Neunzigerjahren ungebrochen. Auch bei steigender Arbeitslosigkeit und wenig wirtschaftlichem Optimismus wurde nicht viel mehr gespart. Die österreichische Sparquote stieg erst mit dem Verfall der Energiepreise nach 1986 wieder an. (Die Realeinkommensgewinne wurden von den Konsument/inn/en zunächst nicht als dauerhaft eingeschätzt.) (Abb. 11). Auch die Zunahme im Jahr 1989 resultierte aus einkommensseitigen Zugewinnen, nämlich aus der Steuerreform und ihrer Entlastung der Haushaltsbudgets. Der nachfolgende Höhepunkt im Sparen dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit auf statistische Ursachen – die Umstellung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – zurückzuführen sein und nicht auf einen realen Sparboom. Nach 1991 ging die Sparquote der Österreicherinnen und Österreicher wieder merklich zurück. Berücksichtigt man die genannten Faktoren, kann für die gesamte Periode eine insgesamt geringe Sparneigung bei günstigem Konsumklima diagnostiziert werden.140 Anders als im relativ stabilen Konsumklima kam es bei der Einstellung zum Konsum in den Achtzigerund Neunzigerjahren zu einigen markanten Veränderungen  :141 So fühlten sich die Konsument/inn/en im Jahr 1992 etwa durch das Marktangebot stärker überfordert als zehn Jahre zuvor und verlangten nach einfachen und problemlos zugängigen Produktinformationen. Werbung wurde als omnipräsent und als wichtiger Faktor im Kauf- und Konsumverhalten eingeschätzt. Gleichzeitig verringerte sich die kritische Haltung gegenüber der Werbung. Der symbolische Wert und die Prestigefunk249

franz x. eder tion von Konsumgütern wurden hoch eingeschätzt, das Produktdesign in Relation zum Gebrauchswert noch stärker hervorgekehrt. Im Zehnjahresvergleich nahm das Preisbewusstsein der Konsument/inn/en deutlich ab, detto ihre Ausgabenplanung und der Anspruch an die Langlebigkeit eines Produktes. Diese Einstellungsänderungen sind typisch für den Wohlstandskonsum von Haushalten mit mittleren und höheren Einkommen. Sie sind aber auch ein Hinweis auf eine Beschleunigung und Pluralisierung des Konsums und seine zunehmend sozialintegrative Funktion. Dies galt und gilt insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene. In ihrem Leben spielte die konsumvermittelte Kommunikation, Identitätsbildung und Distinktion eine immer größere Rolle. Die Kommerzialisierung der Freizeit schritt bei ihnen besonders rasch voran  : So bejahten 1987 bereits 63 Prozent der Wiener Jugendlichen die Frage, ob Freizeit gleich Konsumwelt, mit »ja«.142 Gleichzeitig erhielt die Arbeit – und dies nicht nur bei jungen Erwachsenen – einen stärker instrumentellen Charakter. Nichtmaterielle Ansprüche an die Arbeitswelt verloren gegenüber der Geldorientierung deutlich an Gewicht. Möglichst viel zu verdienen, um möglichst viel zu konsumieren – das wurde die Zielsetzung der Gewinner der postfordistischen Arbeitsmoral. Die Konsummenge reichte dabei schon längst nicht mehr als Distinktionsmittel aus. Mit demonstrativer Markenpräferenz zeigte die Nike-Generation, welchem Lebensstil sie zuneigte. Konsumpluralismus und die Beschleunigung von Trends und Moden waren Zeichen eines allgemeinen sozialpsychologischen Wandels, mit dem passives Konsumieren und Verbrauchen zu einer dominanten Denk- und Handlungsweise wurde.143 Kinder und Jugendliche gaben dabei vielfach vor, was Erwachsene in ihrem »Jugendlich-Sein« konsumierten. Der Konsum fungierte immer mehr als Identitätshülse, Konsumieren avancierte zur maßgeblichen Form der Selbstkonstruktion. Solcherart gewendet, zielte die pluralistische Konsumgesellschaft auf eine nur auf den ersten Blick anachronistische Uniformität durch Konsumdifferenz. »Wer sich unterscheidet, der gehört dazu«, suggerierte die Werbung in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Im Marketing wurde folgerichtig nicht mehr die Kernfamilie, die als maßgebliche Lebensform gegenüber zeitlich begrenzten Partnerschaften, Rumpffamilien und Einpersonenhaushalten immer mehr an Terrain verlor, adressiert, sondern das Individuum. Viele Konsumtrends der Achtziger- und Neunzigerjahre können als Materialisierung der Differenzideologie gelesen werden. So verspricht zum Beispiel der »Erlebnis«-Konsum die massenhafte »Selbsterfahrung« und Abgrenzung des Ichs durch künstlich stimulierte Wahrnehmungen und »Erfahrungen«. Ähnlich auch die moderne Körperkonstruktion, bei der anders als im »oberflächlichen« Gebrauch von Kleidung und Autos die Differenz direkt in den Körper eingeschrieben wird. Gesundheits- und Schönheitspflege, aber auch sportliche Tätigkeiten sollen den Körper in eine Form bringen, die ein konzises und selbstbewusstes Ich verspricht 250

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus und seine/n Träger/in von anderen unterscheidbar macht. Der Differenzboom resultiert aus dem Niedergang traditioneller Sinnangebote und Weltanschauungen, aber auch aus dem Verlust der Identitätsstiftung durch Arbeit. Die postfordistische Produktionsweise beschleunigt die Arbeitsentfremdung durch maximale Er- und Ausschöpfung und zerstört lebenslange, durch den Beruf vermittelte Identitäten. Im Gegenzug verheißt sie ein Mehr an »eigentlichem« Leben, an arbeitsfreier Zeit und Konsum.

Anhang

251

franz x. eder

252

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

253

franz x. eder

254

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

Abbildung 5.1: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1946-1958 (1945=100)

1300

1100

Nahrungs- u. Genußmittel Wohnung

900

Beheizung u. Beleuchtung Bekleidung Haushaltsgegenstände

700

Reinigung u. Körperpflege Bildung u. Unterhaltung

500

Verkehr Gesamtindex

300

1958

1957

1956

1955

1954

1953

1952

1951

1950

1949

1948

1947

1946

100

Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten

Abbildung 5.2: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1959-1966 (1958=100)

145 140 Ernährung

135

Wohnung

130

Beheizung u. Beleuchtung

125

Bekleidung Hausrat

120

Körper- und Gesundheitspflege

115

Bildung, Unterricht, Erholung Verkehr

110

Gesamtindex

105

1966

1965

1964

1963

1962

1961

1960

1959

100

Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten

255

franz x. eder

Abbildung 5.3: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1967-1976 (1966=100)

300 280 260 Ernährung u. Getränke

240

Wohnung

220

Beheizung u. Beleuchtung Bekleidung

200

Hausrat

180

Körper- und Gesundheitspflege

160

Bildung, Unterricht, Erholung

140

Verkehr Gesamtindex

120

1976

1975

1974

1973

1972

1971

1970

1969

1968

1967

100

Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten

Abbildung 5.4: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1977-1986 (1976=100)

200 190 180

Ernährung u. Getränke

170

Wohnung Beheizung u. Beleuchtung

160

Bekleidung

150

Hausrat

140

Körper- und Gesundheitspflege

130

Bildung, Unterricht, Erholung Verkehr

120

Gesamtindex

110

1986

1985

1984

1983

1982

1981

1980

1979

1978

1977

100

Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten

256

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

Abbildung 5.5: Preisindex nach Konsumgruppen, Österreich 1987-1995 (1986=100)

150 145 Ernährung u. Getränke

140

Wohnung

135

Beheizung u. Beleuchtung

130

Bekleidung Hausrat

125

Körper- und Gesundheitspflege

120

Bildung, Unterricht, Erholung Verkehr

115

Gesamtindex

110 105

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

1988

1987

100

Quelle: ÖSTAT, Statistische Nachrichten

257

franz x. eder

258

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

259

franz x. eder

260

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

261

franz x. eder

262

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

263

franz x. eder

264

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

265

franz x. eder

266

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

Getreide­ erzeugnisse

Milch aller Art

Käse

Fette

Fleisch u. Wurst

Fisch

Zucker(waren)

Eier

Gemüse u. Obst

Speisezutaten

Kaffe, Tee, Schokolade etc.

Alkohol. ­Getränke

1925

20,1

12,3

1,0

12,2

26,9

3,2

3,7

9,0

2,6

3,3

2,1

3,6

1930

14,6

12,4

1,3

10,0

26,1

1,1

3,7

4,0

10,7

2,1

4,0

3,7

6,3

1935

19,9

12,6

1,1

10,3

21,4

0,7

5,8

3,7

10,9

2,8

4,1

3,0

3,7

1946

21,9

3,0

0,3

13,8

7,5

2,0

4,7

1,8

22,1

7,0

1,7

5,6

8,6

1947

20,7

2,5

0,2

9,2

10,6

2,3

5,3

2,0

20,5

7,8

1,5

8,7

8,7

1948

17,8

3,3

0,4

11,7

14,1

3,4

6,7

3,4

19,1

3,0

3,0

6,9

7,2

1949

15,7

5,8

1,8

12,8

20,5

1,9

5,9

4,1

12,5

2,5

4,2

5,9

6,4

1950

15,6

8,5

1,5

11,8

25,0

1,1

5,5

3,6

10,9

2,2

4,0

5,0

5,3

Sonstiges

Jahr

Tabelle 1.1  : Verteilung der Nahrungs- und Genußmittelausgaben Wiener Haushalte, 1925–1950 (in Prozent) Arbeitnehmerhaushalte 1925–1950

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch der Arbeiterkammer

Fleisch u. Fischwaren

Fette

Milch, Milch­ produkte, Eier

Obst u. Gemüse

Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.freie Getränke etc.

Alkohol. Getränke

16,5

25,8

8,8

17,0

10,2

11,4

3,9

 6,4

1955

15,9

24,4

7,1

18,4

11,5

11,4

3,9

 7,4

Sonstiges

Getreide­ erzeugnisse

1951

Mahlzeiten u. Getränke außer Haus

Jahr

Tabelle 1.2  : Verteilung der Nahrungs- und Genußmittelausgaben Wiener Haushalte, 1951–1975 (in Prozent) Arbeiterhaushalte 1951–1975

1960

13,9

25,0

5,1

16,2

15,3

12,1

4,3

 0,7

7,4

1965

13,1

24,7

4,2

16,2

16,1

11,3

5,0

 1,2

8,2

1970

11,0

27,1

3,0

15,1

13,6

10,9

5,2

12,4

1,7

1975

 9,8

25,2

2,8

13,0

11,4

10,8

5,4

19,5

2,1

267

franz x. eder

Getreide­ erzeugnisse

Fleisch u. Fischwaren

Fette

Milch, Milchprodukte, Eier

Obst u. Gemüse

Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.-freie Getränke etc.

Alkohol. Getränke

Mahlzeiten u. Getränke außer Haus

1951

17,3

23,2

8,3

17,8

10,8

11,2

3,4

 8,0

1955

15,8

23,6

6,5

19,0

11,7

10,6

2,8

10,0

1960

13,0

24,4

4,6

16,2

16,2

11,1

3,8

 0,8

 9,9

1965

12,6

22,8

3,7

15,4

17,2

11,3

4,3

 1,5

11,2

1970

11,0

26,0

3,0

15,0

13,6

10,9

5,9

12,5

 2,1

1975

10,5

24,7

2,8

12,9

11,6

10,7

5,3

19,5

 2,0

Sonstiges

Jahr

Angestelltenhaushalte 1951–1975

Getreide­ erzeugnisse

Fleisch u. ­Fischwaren

Fette

Milch, Milchprodukte, Eier

Obst u. Gemüse

Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.-freie Getränke etc.

Alkohol. Getränke

Mahlzeiten u. Getränke außer Haus

1951

17,8

29,4

7,9

15,4

 9,9

11,0

4,4

4,1

1955

16,8

25,6

5,4

18,5

11,3

12,5

5,0

4,9

1960

13,7

28,6

4,3

15,9

13,4

12,5

4,7

0,2

6,7

1965

14,5

26,0

3,0

14,2

13,9

11,6

6,5

0,4

9,9

1970

14,3

26,9

3,1

15,1

13,6

11,3

6,7

0,5

8,5

1975

12,3

26,1

3,5

13,0

12,7

11,5

6,6

12,9

1,4

Sonstiges

Jahr

Pensionistenhaushalte 1951–1975

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch der Arbeiterkammer Erläuterungen  : ab 1969 ohne Geschenke.

Fleisch u. Fischwaren

Fette

Milch, Milchprodukte, Eier

Obst u. Gemüse

Zucker(waren), Tee, Kaffee, alk.-freie Getränke etc.

Alkohol. Getränke

Mahlzeiten u. Getränke außer Haus

Sonstiges

1980

Getreide­ erzeugnisse

Jahr

Tabelle 1.3  : Verteilung der Nahrungs- und Genußmittelausgaben Wiener Haushalte, 1980–1990 (in Prozent); Arbeitnehmerhaushalte 1980–1990

10,1

21,7

3,8

11,7

10,5

10,1

5,1

22,9

4,0

1985

11,2

19,4

3,6

13,0

10,1

10,6

4,0

23,4

4,7

1990

12,7

17,9

2,5

11,8

10,1

10,5

3,6

25,2

5,7

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Taschenbuch der Arbeiterkammer

268

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

Tabelle 2.1  : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Arbeitnehmerhaushalte, 1912–1949 (für einen Mann über 20 Jahre  ; in Prozent) Produkt Getreideprodukte Reis

1912/14

1925

1930

1935

1946

1947

1948

1949

157,3

169,6

138,4

141,5

142,9

185,0

181,1

155,3

14,8

19,6

15,1

25,6

3,4

4,8

4,9

5,9

1,5

4,8

Fette aller Art

16,1

21,3

12,4

11,2

5,7

11,9

Filz und Speck

12,8

15,2

1,3

0,5

1,0

1,0

Fleisch und Wurst

48,3

57,4

60,5

53,7

4,5

11,2

Konservenfleisch

6,7

5,6

6,1

3,9

Fisch frisch u. konserviert

0,8

**

3,4

2,0

6,4

9,9

4,7

4,7

Eier (Stück)

139,0

160,0

252,0

202,0

4,0

27,0

45,0

78,0

Milch aller Art (Liter)

198,3

158,6

195,7

168,8

32,3

41,5

54,9

104,8

Kondensmilch (Liter)

1,8

1,0

0,1

Topfen*

1,7

2,1

3,1

3,4

**

**

**

**

*

*

*

*

0,5

0,4

0,8

3,0

Gemüse

**

33,4

47,5

47,5

43,8

39,6

51,1

43,8

Erdäpfel

48,8

61,8

48,2

53,1

143,0

81,8

103,2

59,9

3,5

2,1

1,6

2,1

15,6

8,2

6,5

0,9

22,2

29,2

47,5

46,0

18,4

17,2

40,0

42,1

1,0

0,6

0,5

1,9

1,7

1,5 25,3

Käse*

Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade

19,4

23,6

27,7

25,7

7,0

8,8

19,0

Bohnenkaffee u. Ersatzkaffee

Zucker(waren)

5,2

6,0

5,7

2,0

1,3

2,6

2,7

Tee

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

Kakao

**

0,5

0,5

0,3

0,1

0,2

0,4

Schokolade Bier

**

0,6

1,8

0,9

0,2

0,1

0,3

1,2

69,9

11,4

21,6

10,4

13,1

9,7

12,3

15,4

Wein

8,5

1,7

3,8

4,9

4,3

5,8

5,1

3,9

Spirituosen

1,0

0,8

1,3

1,0

0,1

0,2

0,9

1,4

Salz

**

**

3,2

3,5

3,8

3,6

3,6

3,4

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch der Arbeiterkammer Erläuterung  : * Topfen und Käse 1912–1935 in einer Gruppe  ; ** mengenmäßig nicht erfasst

269

franz x. eder Tabelle 2.2  : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Arbeiterhaushalte, 1950– 1990 (für einen Mann über 20 Jahre  ; in Prozent) Produkt

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

Getreideprodukte

156,3

136,8

119,1

104,2

90,9

75,1

76,9

75,4

89,8

6,4

6,2

5,1

5,2

4,2

4,1

3,1

4,1

5,1

Fette aller Art

18,2

21,3

19,1

21,1

14,0

11,5

12,3

12,8

13,5

Filz und Speck

6,0

5,7

5,1

3,9

3,1

2,3

2,2

1,6

1,7 59,9

Reis

43,4

41,0

48,6

49,7

55,4

57,5

56,3

55,6

Fisch frisch

Fleisch und Wurst

2,4

3,2

2,4

2,4

2,5

2,4

2,1

2,4

3,2

Fisch konserviert

0,4

0,8

1,3

1,6

1,1

1,1

1,2

1,5

1,5

Eier (Stück)

119,0

151,0

195,0

224,0

207,0

181,0

192,0

172,0

133,0

Milch div. (Liter)

167,5

169,4

182,5

176,7

145,9

126,5

101,7

101,4

113,2

0,1

0,0

0,1

0,3

1,0

1,6

0,9

1,8

0,7

*

*

*

*

4,9

4,0

3,8

2,5

2,0

3,7

4,9

5,7

7,4

7,8

6,7

6,6

6,3

8,0

Gemüse frisch u. konserviert

38,1

41,6

54,1

50,5

51,8

47,0

44,6

48,4

53,4

Erdäpfel

68,9

55,2

50,4

46,6

37,9

32,8

29,3

27,1

22,6

Kondensmilch (Liter) Butter Topfen u. Käse

Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade Zucker(waren)

1,7

1,5

0,9

0,9

0,6

0,3

0,5

0,3

0,3

48,8

48,0

80,8

69,5

65,5

56,0

56,1

54,3

66,8

0,8

0,7

1,7

4,4

5,3

5,3

4,7

4,9

5,4

24,9

28,9

29,1

28,2

21,6

15,9

15,3

13,5

9,9

Bohnenkaffee

0,4

0,9

1,5

2,0

2,4

3,1

3,4

3,8

3,8

Ersatz- u. Zusatzkaffee

2,5

1,8

1,4

1,3

0,7

0,4

0,4

0,2

0,2

Tee

0,1

0,1

0,1

0,1

0,1

0,2

0,4

0,4

0,6

Kakao

0,5

0,6

0,6

0,5

0,8

1,2

0,9

0,6

1,6

Schokolade Bier

1,2

1,5

3,3

3,9

2,7

3,1

4,1

3,8

4,5

14,5

13,0

22,4

32,1

34,8

42,1

42,7

43,1

38,2 11,2

Wein

4,8

6,5

6,6

9,4

11,0

11,7

16,5

14,9

Spirituosen

1,2

1,1

1,2

1,0

1,5

2,0

2,7

1,9

1,5

Salz

2,9

2,5

2,2

1,9

2,0

1,7

1,7

1,6

1,3

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch/Taschenbuch der Arbeiterkammer Erläuterung  : ab 1969 ohne Geschenke  ; * nicht als eigene Kategorie erhoben

270

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

Tabelle 2.3  : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Angestelltenhaushalte, 1950–1990 (für einen Mann über 20 Jahre  ; in Prozent) Produkt

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

Getreideprodukte

139,5

126,9

111,3

98,6

83,0

76,2

73,2

81,3

81,2

Reis Fette aller Art Filz und Speck Fleisch und Wurst

5,9

5,9

5,3

5,0

4,4

3,8

4,4

3,9

3,5

19,8

21,0

20,8

20,4

13,4

12,2

11,9

12,3

11,3

4,6

5,7

4,5

4,3

3,0

2,4

1,8

1,5

0,9

39,1

40,1

47,2

45,9

49,4

56,4

52,9

50,6

46,7

Fisch frisch

3,0

3,2

2,8

2,9

2,5

2,3

2,2

2,2

2,3

Fisch konserviert

0,3

0,7

1,4

1,7

1,5

1,4

1,5

1,3

1,4

Eier (Stück)

125,0

144,0

209,0

228,0

211,0

186,0

167,0

185,0

144,0

Milch div. (Liter)

157,6

164,8

169,5

155,6

130,8

118,6

102,2

126,7

124,9

0,1

0,1

0,7

1,4

1,3

2,1

1,2

0,5

*

*

*

*

5,6

4,0

3,2

3,3

2,4

3,2

5,2

5,9

6,4

7,6

7,2

7,2

8,7

9,7

Gemüse frisch u. konserviert

43,0

39,9

56,7

53,6

48,8

46,4

45,1

47,8

50,4

Erdäpfel

75,7

66,1

56,5

48,7

37,3

30,7

29,0

23,6

17,1

1,6

1,4

0,8

0,8

0,5

0,2

0,3

0,4

0,2

39,6

47,6

87,0

78,1

62,9

69,0

60,0

61,5

59,9

0,9

1,0

2,5

6,0

5,2

7,6

5,8

4,8

6,0 10,1

Kondensmilch (Liter) Butter Topfen u. Käse

Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade Zucker(waren)

24,6

27,4

27,5

25,2

20,3

16,8

15,9

14,0

Bohnenkaffee

0,7

0,8

1,2

2,0

2,1

2,8

3,7

3,2

3,8

Ersatz- u. Zusatzkaffee

2,5

1,3

0,9

0,6

0,7

0,7

0,4

0,1

0,2

Tee

0,1

0,1

0,1

0,1

0,2

0,2

0,3

0,5

0,6

Kakao

0,4

0,5

0,5

0,7

0,8

1,2

1,1

1,3

1,5

Schokolade

1,2

1,6

3,2

3,8

2,7

3,3

4,1

5,5

4,7

Bier

13,3

88,8

13,3

21,9

30,7

35,2

42,4

29,4

32,5

Wein

5,9

4,0

7,9

9,5

13,3

10,9

13,5

12,6

11,2

Spirituosen

1,6

0,8

1,1

1,0

2,0

2,7

2,1

1,8

0,8

Salz

3,2

2,4

2,1

2,0

1,8

1,7

1,5

1,3

0,0

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch/Taschenbuch der Arbeiterkammer Erläuterung  : ab 1969 ohne Geschenke  ; * nicht als eigene Kategorie erhoben

271

franz x. eder

Tabelle 2.4  : Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch Wiener Pensionistenhaushalte, 1950–1990 (für einen Mann über 20 Jahre  ; in Prozent) Produkt

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

Getreideprodukte

142,2

129,9

103,3

95,0

94,4

87,5

90,4

96,4

86,8

4,5

4,4

4,6

5,2

5,0

5,8

6,8

6,8

5,1

16,8

17,4

18,3

15,3

13,0

12,2

14,0

14,3

12,4

Reis Fette aller Art Filz und Speck Fleisch und Wurst

5,3

4,9

3,1

3,1

2,6

3,3

4,3

3,0

3,1

40,0

44,4

51,6

49,6

54,0

57,4

66,3

65,7

52,3

Fisch frisch

1,0

2,6

3,0

2,3

1,9

1,9

2,0

2,1

2,1

Fisch konserviert

0,1

0,7

0,9

1,4

0,5

0,6

1,2

1,4

1,4

Eier (Stück)

123,0

158,0

199,0

184,0

195,0

209,0

258,0

250,0

208,0

Milch div. (Liter)

128,1

183,7

163,2

153,4

121,2

104,1

109,8

127,2

110,9 1,2

Butter Kondensmilch (Liter) Topfen u. Käse

*

*

*

*

2,6

1,7

2,1

1,7

0,1

0,1

0,7

3,8

3,1

4,5

6,1

4,8

1,9

5,5

6,1

6,6

8,7

8,6

8,7

10,4

9,6

Gemüse frisch u. konserviert

44,6

45,9

56,9

45,0

51,5

50,9

31,8

70,1

62,5

Erdäpfel

64,3

49,6

38,0

32,6

46,7

40,7

38,4

41,3

36,1

1,2

1,2

0,6

0,6

0,4

0,7

0,5

0,3

0,2

41,8

54,6

63,9

66,8

67,0

61,6

83,8

82,6

71,1

0,1

0,2

0,7

1,7

1,8

5,7

5,3

5,6

4,7

Zucker(waren)

25,0

28,6

27,3

26,8

19,2

18,1

20,1

19,5

15,3

Bohnenkaffee

0,7

1,7

2,3

2,9

3,1

3,5

5,0

5,2

5,8

1,1

0,5

Hülsenfrüchte Obst frisch u. getrocknet Marmelade

Ersatz- u. Zusatzkaffee

3,7

3,1

3,0

2,8

2,4

2,5

1,6

Tee

0,1

0,1

0,1

0,3

0,3

0,3

0,4

Kakao

0,2

0,5

0,1

0,1

0,2

0,2

0,4

0,6

0,4

Schokolade

0,7

1,2

2,4

3,1

1,7

2,7

3,6

4,0

3,9

Bier

13,6

13,6

16,1

21,3

34,4

31,3

33,0

18,3

27,4

Wein

5,9

10,1

9,0

17,5

1638,0

17,5

15,3

6,8

14,2

Spirituosen

1,1

1,1

1,2

1,2

1,4

2,8

2,8

2,2

2,9

Salz

3,2

2,3

2,4

1,5

1,9

2,2

2,4

2,5

2,0

Quelle  : Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch/Taschenbuch der Arbeiterkammer Erläuterung  : ab 1969 ohne Geschenke  ; * nicht als eigene Kategorie erhoben

272

vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

Tabelle 3  : Jährlicher Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauch in Wien, 1954–1974 1954

1964

Weißbrot u. a.

21,84

23,28

1974 *

Schwarzbrot

55,44

44,04

*

Mehl

23,88

17,64

*

Teigwaren

5,28

5,16

*

Reis

6,24

6,72

*

Rindfleisch

6,24

6,84

9,72

11,16

12,72

14,16

Kalbfleisch

3,12

2,16

1,68

Geselchtes u. Schinken

3,48

5,04

5,28

Speck

0,96

0,72 (bei Geselchtem)

Schweinefleisch

Wurstwaren

11,40

15,00

15,59

Konservenfleisch

0,72

0,48

0,48

Geflügel, Wild, Kaninchen

2,40

8,76

9,24

Faschiertes

2,40

3,00

3,72

Innereien

2,16

2,88

2,16

Knochen

4,32

2,88

*

Frische Fische

2,40

2,28

2,08

Fische konserviert

0,96

1,44

1,13 212,04

Schmalz

5,16

1,80

Speckfilz

4,20

3,00 (bei Margarine)

Margarine

3,60

5,40

Speiseöl Vollmilch

4,68

14,40

7,80 (bei Margarine)

127,68

110,04

80,04

Rahm u. Obers

1,56

3,24

1,80

Käse

2,40

3,72

4,92

Topfen

1,56

2,04

2,40

Butter

5,28

5,88

4,92 *

Eier

168,00

225,24

Frisch- u. Gefriergemüse

42,12

38,04

*

Kartoffel

65,64

49,08

30,96

Hülsenfrüchte Südfrüchte

1,68

1,80

*

10,56

25,92

*

anderes Frischobst

38,28

46,80

*

Zucker

24,24

24,96

18,24

273

franz x. eder

1954

1964

1974

Marmelade, Jam

1,08

1,20

*

Bohnenkaffe

0,96

3,12

*

Ersatzkaffee

2,40

1,44

*

Schokoladewaren

1,20

2,64

4,80

nichtalkoholische Getränke

3,12

18,24

58,81

Wein

7,20

15,24

18,00

Bier

17,04

34,08

34,80

Likör, Schnaps etc.

2,40

2,04

2,76

sonst. Alkohol. Getränke

0,60

1,08

1,20

Quelle  : ÖSTAT, Konsumerhebungen Erläuterung  : *nicht vergleichbar

A nmerkungen * Ich danke Reinhard Sieder für seine Anmerkungen und kritischen Kommentare. Eine erste Version dieses Artikels erschien als Franz X. Eder, Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert, in  : ders., Peter Eigner, Andreas Resch u. Andreas Weigl, Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum. Wien im 20. Jahrhundert, Innsbruck, Wien u. München 2003, 201–285. 1 Zu den hier verwendeten Begriffen und ihren Konnotationen vgl. John Brewer u. Roy Porter, Introduction, in  : dies. (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993, 1 ff.; John Brewer, Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen, in  : Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble u. Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. u. New York 1997, 13 ff. 2 Zur verhaltens- und handlungsorientierten Konsumforschung siehe Gerold Behrens, Konsumentenverhalten. Entwicklung, Abhängigkeiten, Möglichkeiten, Heidelberg 2. Aufl. 1991, 16 ff. 3 Einen Überblick über die geschlechtergeschichtliche Forschung bringen Victoria de Grazia u. Ellen Furlough (Hg.), The Sex of Things. Gender and Consumption in Historical Perspective, Berkeley, Los Angeles u. London 1996. 4 Die Konsumkultur Jugendlicher ist diesbezüglich zweifelsohne am weitesten entwickelt. Siehe Richard Krisch, Konsumieren macht frei  ? Die Barbie den Kindern, Reebok den Jugendlichen, Felix liebt Heinz, in  : Karl Kollmann u. Hildegard Steger-Mauerhofer (Hg.), Verbraucher oder Verbrauchte. Wenn wir 30 Jahre älter sind, Wien 1994, 49 ff. 5 Diese Definition im Anschluss an Michael Wildt, Am Beginn der »Konsumgesellschaft«. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, 11 ff. 6 Zum europäischen Vergleich Hartmut Kaelble, Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950– 1990, in  : Siegrist, Kaelble u. Kocka, Konsumgeschichte, 169 ff.; dort auch ein Überblick über die internationale Literatur. 7 Vgl. Inge Karazman-Morawetz, Arbeit, Konsum und Freizeit im Verhältnis von Arbeit und Reproduktion, in  : Reinhard Sieder, Heinz Steinert u. Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, 417 ff.

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 8 Ein Haushalt gilt gemäß dieser Definition als armutsgefährdet, wenn seine Ausgaben unter fünfzig Prozent des arithmetischen Mittels der Haushaltsausgaben je Erwachsenenäquivalent (= Pro-Kopf-Ausgaben) liegen. Vgl. Martin Bauer u. Christa Kronsteiner, Statistische Beiträge zu Armut, Armutsgefährdung und Sozialer Ausgrenzung, in  : Statistische Nachrichten 52 NF (1997), H. 10, 850.  9 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 567, Anm. 39. 10 Vgl. Felix Butschek, Der österreichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Wien 1992, 71 f. 11 Vgl. Sandgruber, Ökonomie, 361 ff. 12 Allgemein zur Arbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit  : Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938, Berlin 1979. 13 Im Jahr 1925 erhielten zum Beispiel nur 11,9 Prozent der arbeitslosen Angestellten Notstandshilfe. Bis 1929 stieg deren Anteil auf 55,7 Prozent. Bei den Metallarbeitern nahm er von 10,0 auf 32,5 Prozent zu, bei den Schuhmachern von 1,2 auf 35,2. Weniger Langzeitarbeitslose fanden sich bei den Bauarbeitern, den Friseuren und im Hotel- und Gastgewerbe. Vgl. Andreas Weigl, Gaststätten  : Zur Ökonomie der Gesellschaft, in  : Günther Chaloupek, Peter Eigner u. Michael Wagner (Hg.), Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, Bd 2., Wien 1991, 1102. 14 1925 erhöhte sich der Verbraucherpreisindex um 9,4 Prozent, der Brutto-Monatsverdienst um 9,6 Prozent  ; 1926 war diese Relation 2,6/2,2  ; 1927  : 1,9/4,8  ; 1928  : 2,8/6,2  ; 1929  : 2,5/5,3. Vgl. Felix Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Die österreichische Wirtschaft seit der Industriellen Revolution, Wien 1998, Tab. 8.1  ; ders., Arbeitsmarkt, 489. 15 Zur Arbeitslosigkeit in Wien vgl. Hans Safrian, »Wir ham die Zeit der Orbeitslosigkeit schon richtig genossen auch«. Ein Versuch zur (Über-)Lebensweise von Arbeitslosen in Wien, in  : Gerhard Botz u. Josef Weidenholzer (Hg.), Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung, Wien u. Köln 1984, 293 ff. 16 Der durchschnittliche Stundenlohn der in der Metallindustrie beschäftigten Werkzeugmacher machte im Jahr 1932 1,39 Schilling aus und fiel bis 1937 auf 1,35 Schilling  ; im Akkord verdienten die Werkzeugmacher 1932 1,77, im Jahr 1937 nur mehr 1,57 Schilling. Der Lohn ungelernter Hilfsarbeiter ging im selben Zeitraum von 1,03 auf 0,97 Schilling und der Akkordlohn von 1,22 auf 1,20 Schilling zurück. Ungelernte Hilfsarbeiterinnen bekamen die Wirtschaftskrise besonders stark zu spüren, ihr Lohn wurde von 0,69 auf 0,55 Schilling und der Akkordsatz von 0,94 auf 0,72 Schilling gekürzt. Vgl. Arbeiterlöhne der Wiener Metallindustrie, in  : Statistische Nachrichten 16 (1938), H. 3/4, 75. 17 Auch wenn die Repräsentativität dieser Erhebungen nicht immer gewährleistet ist, sind sie doch die detailliertesten, die über die Konsumgewohnheiten Wiener Haushalte in der Zwischenkriegszeit zur Verfügung stehen. Siehe in  : Löhne und Lebenshaltung der Wiener Arbeiterschaft im Jahre 1925, Wien 1928  ; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch (hg. v. Arbeiterkammer Wien), Wien 1926 ff.; Benedikt Kautsky, Die Haushaltsstatistik der Wiener Arbeiterkammer 1925–1934, in  : Supplement des International Review of Social History (1937)  ; Der Lebensstandard von Wiener Arbeitnehmerfamilien im Lichte langfristiger Familienbudgetuntersuchungen, in  : Arbeit und Wirtschaft (Dezember 1959), Beilage Nr. 8  ; Wolfgang Vyhnalek, Die Konsumgewohnheiten der Arbeiter in der Ersten Republik, Diplomarbeit Wien 1995  ; eine erste umfangreiche Erhebung des k.k. Statistischen Amtes erfolgte bereits in den Jahren 1912 bis 1914. Vgl. Wirtschaftsrechnungen und Lebensverhältnisse von Wiener Arbeiterfamilien in den Jahren 1912 bis 1914 (hg. v. k.k. Statistischen Amt), Wien 1916. Zu den frühen Haushaltsbudgeterhebungen in Wien und Österreich siehe auch Der Lebensstandard von Wiener Arbeitnehmerfamilien im Lichte langfristiger Familienbudgetuntersuchungen, in  : Arbeit und Wirtschaft (Dezember 1959), Beilage Nr. 8, 6 ff. und Philipp Rieger, Änderungen in den Lebensverhältnissen und Verbrauchsgewohnheiten von Wiener Arbeitnehmerhaushalten 1952/57, Diss. Wien 1960, 7 ff.; sofern nicht anders angegeben, stammen die für diesen Beitrag

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verwendeten Daten aus der Haushaltsstatistik der Wiener Arbeiterkammer und diversen Statistiken des Österreichischen Statistischen Zentralamts (ÖSTAT) zu Haushaltseinkommen und Verbrauchsausgaben, zu Haushaltsausstattung und Einkaufsverhalten, zur Preisentwicklung, zur Bevölkerungs- und Haushaltsstruktur, zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und zur Ernährungsbilanz  ; weiters die Lohnstufenstatistik der Wiener Gebietskrankenkasse. Vgl. auch die Quellenangaben zu den Tabellen. 18 Die Tatsache, dass die Erhebung nicht nur Arbeiterhaushalte umfasst, wird oft übersehen. Im Zehnjahresdurchschnitt wurden 36,6 Prozent der befragten Haushalte von qualifizierten Arbeitern, 13,6 Prozent von Hilfsarbeitern, 25,2 Prozent von Angestellten, 10,1 Prozent von Arbeitslosen und 14,5 Prozent von Sozialrentnern geleitet. Vgl. Kautsky, Haushaltsstatistik, 5. 19 Zu den unterschiedlichen Formen nicht-monetärer Einkünfte vgl. Maria Papathanassiou, Zwischen Arbeit, Spiel und Schule, Wien u. München 1999, u. Reinhard Sieder, Zur alltäglichen Praxis der Wiener Arbeiterschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Habil. Schrift, Wien 1988. 20 Engelbert R., 2 (Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien  ; ab nun Doku). 21 Vgl. Roman Sandgruber, Das Essen der Arbeiterfrauen. Geschlechtsspezifische Konsumunterschiede in Arbeiterhaushalten, in  : L’Homme 2 (1991), H. 1, 45 ff. und Sieder, Praxis, 174 ff. 22 Käthe Leichter, So leben wir. 1.320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben. Eine Erhebung, Wien 1931, 80. 23 Die Ernährungsausgaben bürgerlicher Haushalte dürften im ersten Drittel des Jahrhunderts zwischen 25 und 35 Prozent liegen. Einkommenssituation und Konsumgewohnheiten bürgerlicher Haushalte sind jedoch für Österreich kaum untersucht. Siehe Maria Wakounig, Konsumverhalten des Wiener Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 44/45 (1989), 154 ff. Für Deutschland vgl. Wildt, Beginn, 24 ff. und die dort angeführte Literatur. 24 Viktoria Arnold (Hg.), Als das Licht kam. Erinnerungen an die Elektrifizierung, Wien, Köln u. Graz 1986, 59 f. 25 Ebd., 55. 26 Günther Chaloupek, Die Metropole als Hauptstadt der Republik Österreich, in  : ders., Peter Eigner u. Michael Wagner (Hg.), Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, Bd 1., Wien 1991, 506. 27 Sandgruber, Ökonomie, 372. 28 Vgl. Reinhard Sieder, »Vata, derf i aufstehn  ?« Kindheitserfahrungen in Wiener Arbeiterfamilien um 1900, in  : Hubert Ch. Ehalt (Hg.), Glücklich ist, wer vergißt…  ? Das andere Wien um 1900, Wien, Köln u. Graz 1986, 49 f. 29 Im Jahr 1937 hatten die 303 Wiener Filialen der Konsumgenossenschaften rund 97.000 Mitglieder. Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch (hg. v. der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien), Wien 1970, 702  ; zur Bedeutung der Konsumgenossenschaften Andrea Ellmeier, Das gekaufte Glück. Konsumentinnen, Konsumarbeit und Familienglück, in  : Monika Bernold et al. (Hg.), Familie  : Arbeitsplatz oder Ort des Glücks  ? Historische Schnitte ins Private …, Wien 1990, 169. 30 Über den Beitrag der Konsumgenossenschaften zu dieser Konstruktion siehe dies., Handel mit der Zukunft. Zur Geschlechterpolitik der Konsumgenossenschaften, in  : L’Homme 6 (1995), H. 1, 62 ff. 31 Vgl. Ela Hornung, »Sie sind das Glück, sie sind die Göttin«. Glück und Arbeit in bürgerlichen Hauswirtschaftsratgebern, in  : Bernold et al., Familie, 109 ff. 32 Vgl. Sandgruber, Essen, 55. 33 Zur sexuellen Rahmenerzählung siehe Monika Bernold u. Andrea Ellmeier, Konsum, Politik und Geschlecht. Zur »Feminisierung« von Öffentlichkeit als Strategie und Paradoxon, in  : Siegrist, Kaelble u. Kocka, Konsumgeschichte, 462. 34 Chaloupek, Metropole, 505.

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35 Zur Funktion des Kinos vgl. Monika Bernold, Kino. Über einen historischen Ort weiblichen Vergnügens und dessen Bewertung durch die sozialdemokratische Partei. Wien 1918–1934, Wien 1987. 36 Vgl. Butschek, Arbeitsmarkt, 109 ff u. Sandgruber, Ökonomie, 403 ff. 37 Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten und Löhne in Wien seit der Wiedervereinigung (hg. v. Wiener Institut für Wirtschaftsforschung), Wien 1941, IV ff. 38 Erna M., 12 (Doku). 39 Vgl. Sandgruber, Ökonomie, 436. 40 Ausführlich zur Versorgungslage 1945 siehe Irene Bandhauer-Schöffmann u. Ela Hornung, Von der Trümmerfrau auf der Erbse. Ernährungssicherung und Überlebensarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Wien, in  : L’Homme 2 (1991), H. 1, 79 ff. 41 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1943–1945, Wien 1948, 9. 42 Karl R., 71 (Doku). 43 Christine P., 27 (Doku). 44 Erna F., 10 f. (Doku). 45 Helmut Kretschmer, Konfrontation amtlicher und privater Darstellungen bei der Beurteilung historischer Ereignisse. Dargestellt am Beispiel Wien 1945, in  : Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 41 (1985), 168 ff. 46 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung (ab jetzt WIFO-Monatsberichte) 20 (1947), H. 1/3, 16. 47 WIFO-Monatsberichte 18 (1945), H. 1/2, 19. 48 Bei Mehl lieferte die Sowjetunion 25 Prozent des Wiener Gesamtaufkommens, die USA 36 Prozent, bei Fett und Öl war die Relation 14/36, bei Zucker 32/36, bei Hülsenfrüchten 37/33, bei Fleisch 62/11, bei Trockenei 1/65, bei Konservenfischen 0/55, bei Käse 0/100, bei Kartoffeln 100/0, bei Bohnenkaffee 0/44 und bei Ersatzkaffee 24/0 Prozent. WIFO-Monatsberichte 19 (1946), H. 1/6, 50. 49 Bandhauer-Schöffmann u. Hornung, Trümmerfrau, 90. 50 Karl R., 72 f. (Doku). 51 Zit. n. Sandgruber, Ökonomie, 449. 52 Die wirtschaftliche Lage Österreichs am Ende des ersten Nachkriegsjahres, 51 ff. 53 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann u. Ela Hornung, Von der Erbswurst zum Hawaiischnitzel. Geschlechtsspezifische Auswirkungen von Hungerkrise und »Freßwelle«, in  : Thomas Albrich (Hg.), Österreich in den Fünfzigern, Innsbruck u. Wien 1995, 15 ff. 54 Mehl wurde zu sechs Prozent im Inland aufgebracht, zu 82 Prozent von der UNRRA geliefert, bei Fleisch waren die Relationen 23/68, bei Fett 13/77, bei Nährmittel 40/53, bei Hülsenfrüchten 9/58, bei Zucker 45/42 und bei Kartoffeln 85/15. Vgl. Die Ernährungsbilanz Österreichs im Wirtschaftsjahre 1946/47, in  : WIFO-Monatsberichte 20 (1947), Beilage Nr. 4, 7 f. 55 Sandgruber, Ökonomie, 452 ff. 56 Vgl. Peter Pokay u. Andreas Weigl, Der Wiener Arbeitsmarkt 1945–1995. Grundzüge seiner Entwicklung in längerfristiger Perspektive, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien (1996), 3, 3. 57 Zum Bild des zyklischen »Wiederaufbaus« vgl. Wolfgang Kos, Zukunftsfroh und Muskelstark. Zum öffentlichen Menschenbild der Wiederaufbaujahre, in  : ders., Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945, Wien 1994, 103 ff. 58 Konnten die Wiener Schlachthöfe im Jahr 1946 nur 13.919 Rinder, 1.524 Kälber, 7.348 Schweine, 1.824 Pferde und 13 Schafe schlachten, so stiegen die Schlachtungszahlen bis 1950 um ein Vielfaches, nämlich auf 76.665 Rinder, 9.719 Kälber, 293.003 Schweine, 15 049 Pferde und 3.445 Schafe. Nach Angaben des Wiener Marktamtes wurden den Märkten 1946 485 894 Zentner Gemüse, 1.805.060 Zentner Kartoffeln und 258.837 Zentner Obst zugeführt. 1950 erhöhte sich die Zufuhr von Gemüse auf 622.302 und von

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Obst auf 459.398 Zentner, die von Kartoffeln hingegen sank massiv, nämlich auf 497.311 Zentner. Die Wiener Molkereien konnten im Jahr 1946 nur 23,1 Millionen Liter Milch an die Kleinverteiler und Verbraucher abgeben, 1950 war diese Menge mit 188,1 Millionen Liter sechs Mal so hoch. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1946/47 bis 1950. 59 Die Zahl der Fleisch-, Geflügel- und Fischhändler nahm in diesem Zeitraum von 2.120 auf 3.098 zu, die der Gemischtwaren- und Lebensmittelhändler von 5.715 auf 6229, der Obst- und Gemüsehändler von 1.711 auf 2.190, der Milchgeschäfte von 1.042 auf 1.548 und der Bäcker von 727 auf 815. Zu Letzteren kamen nun auch die 117 Filialen der Brotfabriken. Vgl. ebd. 60 Roman Hruby, Die Kosten der Lebenshaltung 1945/1952. Systematik und Entwicklung, Wien 1953, 27 ff.; dort auch die Zahlen zum Schwarzmarkt und zu den effektiven Lebenshaltungskosten. 61 In dieser Gruppe wurden auch Decken, Teppiche und Vorhänge verzeichnet, die allerdings nicht mehr als einen Prozentpunkt ausmachen dürften. 62 Erna F., 27 (Doku). 63 Vgl. die Tabelle der bei der Wiener Gebietskrankenkasse versicherten Arbeiter und Angestellten in GroßWien, in  : Die wirtschaftliche Lage Österreichs am Ende des ersten Nachkriegsjahres, 33  ; Franz Satzinger, Die Frau in Wien (2), in  : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1976), H. 1, 5 (inklusive Beamte)  ; auch Irene Bandhauer-Schöffmann, Weibliche Wiederaufbauszenarien, in  : Wolfgang Kos u. Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, 217 ff. 64 Der Verbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1954/55 (= Konsumerhebung 1954/55), hg. vom Österreichischen Statistischen Zentralamt und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, Wien 1956, bes. 98 und Der Nahrungsmittelverbrauch der österreichischen Bevölkerung, in  : WIFO-Monatsberichte 35 (1962), Beilage 70, 10 ff. 65 Grundsätzlich ist Skepsis gegenüber der hier oft verwendeten Wellenmetapher – z. B. der »Esswelle« – angebracht, suggeriert sie doch eine bestimmte Art des Ansteigens, des Höhepunkts und vor allem auch des Abklingens des Konsums. Siehe z. B. Roman Sandgruber, Vom Hunger zum Massenkonsum, in  : Gerhard Jagschitz u. Klaus-Dieter Mulley (Hg.), Die »wilden« fünfziger Jahre. Gesellschaft, Formen und Gefühle eines Jahrzehnts in Österreich, St. Pölten u. Wien 1985, 118. 66 Karl Vocelka, Trümmerjahre Wien 1945–1949, Wien u. München o. J., 11 ff. 67 Hans Seidel, Der Wiener Wohnungsbedarf und die Wohnbaufinanzierung, in  : WIFO-Monatsberichte 19 (1946), 3. Sonderheft, 17. 68 Vgl. Ela Hornung u. Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945–1955, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 64. 69 Irene Nierhaus, Vorgarten und Vorzimmer Nahtstellen von Privatem und Öffentlichem im Wiener Wohnbau nach 1945, in  : ebd., 582. 70 Vgl. Bernold u. Ellmeier, Konsum, 465. 71 Wolfgang Kos, Imagereservoir Landschaft. Landschaftsmoden und ideologische Gemütslagen seit 1945, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 605 ff. und Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994, 93 ff. 72 Vgl. Sandgruber, Hunger, 122  ; zusammenfassend Susanne E. Rieser, Bonbonfarbene Leinwände. Filmische Strategien zur (Re)Konstruktion der österreichischen Nation in den fünfziger Jahren, in  : Thomas Albrich (Hg.), Österreich in den Fünfzigern, Innsbruck u. Wien 1995, 120 ff. 73 Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher. Kino in Österreich 1946–1966, Wien 1987, 272. 74 Vgl. Andreas Weigl, Einkommensentwicklung und -verteilung in Wien 1945–1997, 7 (Manuskript, erscheint in  : Josef Schmee u. Andreas Weigl, Wiener Wirtschaft 1945–1998. Geschichte – Entwicklungslinien – Perspektiven. Ich danke Andreas Weigl für die Überlassung des Manuskripts.)  ; auch Butschek, Arbeitsmarkt, 139 f.

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75 Die langfristige Entwicklung von Löhnen und Gehältern in Wien. Eine Studie der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, Wien 1964, 25 ff. 76 Günther Chaloupek, Die Verteilung der Einkommen aus unselbständiger Arbeit in Österreich 1953 bis 1979, in  : Hannes Suppanz u. Michael Wagner (Hg.), Einkommensverteilung in Österreich. Ein einführender Überblick, München u. Wien 1981, 100 ff. 77 Weigl, Einkommensentwicklung, 19 u. Tab. 2 u. Ewald Walterskirchen, Die Entwicklung der Lohnunterschiede in Österreich, in  : WIFO-Monatsberichte 52 (1979), H. 1, 10 ff. 78 Michael Wagner, Einkommenschancen im Lebenszyklus. Befunde aus dem österreichischen Mikrozensus, in  : Suppanz u. Wagner, Einkommensverteilung, 168 ff.; für Wien siehe auch Erwin Weissel, Lebensalter, Arbeitszeit und Lohn, Wien 1969. 79 Vgl. Gerhard Meißl, Arbeitsort Wien. Die Entwicklung der Wiener Wirtschaft nach 1945 aus dem Blickwinkel der Betriebs- und Arbeitsstättenzählung (Manuskript, erscheint in  : Schmee u. Weigl, Wiener Wirtschaft). 80 Allerdings konnten Meister und Vorarbeiter (18.310 Schilling), Angestellte in führenden Tätigkeiten (27.690 Schilling) oder öffentlich Bedienstete mit leitenden Funktionen (22 760 Schilling) über ein wesentlich höheres Haushaltseinkommen als ihre jeweilige soziale Gruppe verfügen, Hilfsarbeiter (10.770 Schilling), Angestellte mit Hilfstätigkeiten (11.470 Schilling) und mit Hilfsarbeit beschäftigte öffentliche Bedienstete (13.320 Schilling) nur über ein viel niedrigeres (jeweils Medianwert). Vgl. Personen- und Haushaltseinkommen von unselbständig Beschäftigten. Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1983 (= Beiträge zur österreichischen Statistik 731), Wien 1984, 92. 81 Ebd., Tab. 2.11 f.; vgl. auch Eva Cyba, Modernisierung im Patriarchat  ? Zur Situation der Frauen in Arbeit, Bildung und privater Sphäre, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 439 u. Gudrun Biffl, Der Wandel im Erwerbsverhalten in Österreich und im Ausland, in  : WIFO-Monatsberichte 61 (1988), H. 1, 42 ff. Berücksichtigung finden sollte auch hier der unterschiedlich große unbezahlte Beitrag von Männern und Frauen zur Wertschöpfung des Haushalts. Aufgrund des Mikrozensus 1981 und unter Zugrundelegung des Kollektivvertraglohnes einer Haushaltshilfe erwirtschafteten zum Beispiel in Graz Frauen mit Haushaltsarbeit jährlich 254.840 Schilling, Männer hingegen nur 63.180 Schilling. Vgl. dies., Der Haushaltssektor. Der volkswirtschaftliche Wert der unbezahlten Arbeit, in  : WIFO-Monatsberichte 62 (1989), H. 9, 574. 82 Dazu Wolfgang Pollan, Der Einfluß von Arbeitslosigkeit und Inflation auf die Entwicklung der Spareinlagen, in  : WIFO-Monatsberichte 61 (1988), H. 10, 582 f. und Michael Wüger, Stabiler Konsum in der Rezension, in  : WIFO-Monatsberichte 66 (1993), H. 11, 566 ff. 83 »Vollbeschäftigung« bezieht sich dabei vor allem auf die Beschäftigungslage der alleinverdienenden Männer. Vgl. Hedwig Lutz, Arbeitsverdienste von unselbständig Beschäftigten in Wien  : Eine Kohortenbetrachtung für den Zeitraum 1972 bis 1997, 5 (Manuskript, erscheint in  : Schmee u. Weigl, Wiener Wirtschaft). 84 Zur Beschäftigungspolitik vgl. Hans Eder, Die Politik der Ära Kreisky, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 193 ff. 85 Butschek, Arbeitsmarkt, 185 ff. 86 Karazman-Morawetz, Arbeit, 409. 87 Hornung u. Sturm, Stadtleben, 66. 88 Edith Lassmann, Wir wollen wohnen nicht bloß hausen, in  : Mathilde Dutzi et al., Richtige Haushaltsführung. Aus Praxis und Erfahrung, Wien 1950, 13. 89 Kos, Zukunftsfroh, 128 ff. 90 Für Deutschland siehe Erica Carter, Deviant Pleasures  ? Women, Melodrama, and Consumer Nationalism in West Germany, in  : Victoria u. Furlough, Sex, 367 ff.

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 91 Andreas Weigl, Die Wiener Bevölkerung in der zweiten Republik, in  : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1984), H. 2, 7.  92 Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Getreideerzeugnissen betrug 1954 111,0 Kilo, 1964 104,4 Kilo und 1974 79,2 Kilo. In den von der AK untersuchten Haushalten fiel der Rückgang zwischen 1955 und 1975 noch massiver aus, nämlich von 136,8 Kilo auf 75,1 Kilo. Der Verbrauch von Kartoffeln wurde ebenfalls um rund die Hälfte eingeschränkt. Wurden 1960 noch über 180 Liter Milch pro Jahr getrunken und verkocht, waren dies 1980 nur mehr hundert Liter. Neben den Konsumerhebungen des ÖSTAT und der AK vgl. auch Ludwig Halász, Veränderte Konsumgewohnheiten der Wiener, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien (1987), H. 1, 14 ff.  93 Eine Revision der bisherigen Sicht der Ernährungsentwicklung in Deutschland bringt Wildt, Beginn, 76 ff.; für Österreich finden sich diesbezügliche Ansätze in Bandhauer-Schöffmann u. Hornung, Erbswurst, 23 ff.  94 Noch 1960/61 war der österreichische Nahrungsmittelverbrauch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern allerdings von billigeren und kalorienreicheren als von teureren und weniger hochwertigen Nahrungsmitteln gekennzeichnet. Vgl. Nahrungsmittelverbrauch, in  : WIFO-Monatsberichte (1962), 8 f.  95 Der Reisverbrauch der Wiener Haushalte halbierte sich zwischen 1955 (6,2 Kilo) und 1980 (3,1 Kilo).  96 Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M. u. New York 1997, 68.  97 Irene Bandhauer-Schöffmann, Die Amerikanisierung des Geschmacks. Coca-Cola in Österreich, in  : Historicum (Herbst 1994), 23. (Ich danke Georg Riegele für diesen Literaturhinweis.)  98 Eva W., 8 (Doku).  99 Hannes Siegrist, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in  : Siegrist, Kaelble u. Kocka, Konsumgeschichte, 27. 100 Eva Hack, Abschied von der Bassena. Soziales Wohnen. Die Entwicklung einer Idee, in  : Jagschitz u. Mulley, Fünfziger Jahre, 136–142. 101 H.C. Artmann, Med ana schwoazzn dintn, Salzburg 1958, 52. 102 Veröffentlicht in  : Besser Wohnen (1965), H. 6, 2–3 u. H. 7, 4–5. 103 Zur Wohnsituation in Österreich. 2. Teil  : Größe und Ausstattung der Wohnungen im Jahre 1961, in  : Statistische Nachrichten 18 NF (1963), 343. 104 Albert Kaufmann u. Eva Bauer, Wohnsituation, Wohnungsaufwand und Haushaltseinkommen 1981 (Forschungsbericht des Instituts für Stadtforschung), Wien 1984, Tab. 3.3 und 3.4. 105 Berechnet nach den Schätzungen der Erzeugungs- u. Verbrauchsstatistik der Elektrizitätswirtschaft  ; 1952 auf Basis der Volkszählung 1951  ; 1959 (1961)  ; 1970 (1971)  ; 1984 Mikrozensuserhebung zur Ausstattung mit dauerhaften Konsumgütern. 106 Marina Fischer-Kowalski, Sozialer Wandel in den 1970er Jahren, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich, 1945–1995, 204. 107 Butschek, Arbeitsmarkt, 139. 108 Die Entwicklung der österreichischen Elektroindustrie seit 1945, in  : Austria electic. Österreichs internationales Elektrojournal (1963), H. 9, 14. 109 Monika Bernold, ein paar österreich. Von den »Leitners« zu »Wünsch dir was«. Mediale Bausteine der Zweiten Republik, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 7 (1996), H. 4, 522. 110 Eva W, 5 (Doku). 111 Monika Bernold, Austrovision und Telefamilie. Von den Anfängen einer »historischen Sendung«, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich, 1945–1995, 230.

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vom wirtschaftlichen mangel zum konsumismus

112 Irene H., Unser erstes Auto (Doku). 113 Vgl. Wolfgang Sachs, Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche, Reinbek 1990, 109. 114 Vgl. auch Ingrid Bayer, Entwicklung des Pkw-Bestandes in Wien 1971 bis 1978, in  : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1979), H. 3, 3 ff. 115 Vgl. Reinhard Eichwalder, Einkäufe von Bekleidung, Elektrogeräten und Möbeln. Zusammenführung Konsumerhebung 1974 – Zusatzfragen des Mikrozensus, in  : Statistische Nachrichten 33 NF (1978), H. 9, 390 ff.; Alois List, Die Einkaufsgewohnheiten der Wiener Wohnbevölkerung, in  : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien (1976), H. 1 u. 2, 7 ff. und H. 2, 6 ff. 116 Vgl. Gernot Jung u. Brigitta Richter, Shopping City Süd. Im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Konfliktpotential, in  : Raum und Ordnung (1999), Nr. 1, 13 (Ich danke Andrea Komlosy für diesen Literaturhinweis.)  ; auch Gerhard Meißl, Arbeitsort Wien. Die Entwicklung der Wiener Wirtschaft nach 1945 aus dem Blickwinkel der Betriebs- und Arbeitsstättenzählungen, 14 (Manuskript, erscheint in  : Schmee u. Weigl, Wiener Wirtschaft). 117 Ewald Bartunek, Haushaltsreisen. Ergebnisse des Mikrozensus Dezember 1972, in  : Statistische Nachrichten 29 NF (1974), H. 11, 724 ff. 118 Siehe dazu Reisegewohnheiten der Österreicher im Jahre 1993. Haupturlaube – Kurzurlaube (= Beiträge zur österreichischen Statistik 1184), Wien 1995, 23 ff. 119 Siegrist, Konsum, 25. 120 Vgl. Kurt Luger, Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur von 1945 bis 1995, in  : Sieder, Steinert u. Tálos, Österreich 1945–1995, 500. 121 Vgl. auch Uta G. Poiger, Rock ’n’ Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle over German Identities, in  : Journal of Modern History 68 (September 1996), 591 f. 122 Diese Sicht bereits in Sieder, Steinert u. Tálos, Einleitung, 18. 123 Hornung, Glück, 113. 124 Vgl. Bernold u. Ellmeier, Konsum, 466. 125 Vgl. Karl Kollmann, Konsumentenschutzpolitik in Österreich, Wien 1986, 127. 126 Einen Überblick bringt Behrens, Konsumentenverhalten, 5 ff. 127 Diese Perspektive zum Beispiel in Karl Kollmann, Einführung in die Konsumökonomie. Konsumwirtschaftliche Warenlehre (= Schriftenreihe des Instituts für Technologie und Warenwirtschaftslehre der Wirtschaftsuniversität Wien), Wien 1993. 128 Vgl. GfK-Österreich, Umweltstudie Österreich 1990, Wien 1990. 129 Nach der Definition von Beveridge. Vgl. Butschek, Arbeitsmarkt, 315. 130 Pokay u. Weigl, Arbeitsmarkt, 14, Tab. 6. 131 Inflationsbereinigte Berechnungen aufgrund der jeweiligen Mikrozensuserhebungen. Vgl. auch Personen- und Haushaltseinkommen von unselbständig Beschäftigten. Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1983 (= Beiträge zur österreichischen Statistik 731), Wien 1984, 92 u. Kurt Pratscher, Regionale Verteilung der Einkommen unselbständig erwerbstätiger Personen. Ergebnisse des Mikrozensus September 1995, in  : Statistische Nachrichten 53 NF (1998), H. 2, 123 ff. 132 Vgl. Weigl, Einkommensentwicklung, 18. 133 Siehe dazu auch Martin Bauer, Regionale Verteilung der Einkommen unselbständig Beschäftigter. Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1993, in  : Statistische Nachrichten 50 NF (1995), H. 2, 91. 134 Zum Konzept des Postfordismus und seiner österreichischen Ausprägung vgl. Karazman-Morawetz, Arbeit, 420 ff. 135 Vgl. Bauer u. Kronsteiner, Beiträge, 847 ff. 136 Ausgabenbezogene Regionalergebnisse für die Erhebung 1993/94 waren zum Zeitpunkt der Abfassung

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franz x. eder dieses Beitrages noch nicht veröffentlicht. Statt der Wiener Daten wurden deshalb die österreichischen Daten verwendet. Die Wiener Regionalergebnisse 1984 haben wegen der geringen Fallzahlen in den einzelnen Verbrauchsgruppen durchwegs hohe Zufallsfehler und wurden nur Pro-Kopf ausgegeben. Auch wenn eine Vergleichbarkeit aufgrund der unterschiedlichen Struktur der Haushalte nur sehr bedingt möglich ist, wurden hier die sozialstatistischen Ergebnisse für das gesamte Bundesgebiet herangezogen. Vgl. für 1993/94 Martin Bauer u. Christa Kronsteiner, Konsumerhebung 1993/94  : Sozialstatistische Ergebnisse, 1. Teil, in  : Statistische Nachrichten 52 NF (1997), H. 8, 627 ff.; 2. Teil, H. 8, 627 ff. 137 Armutsgefährdete Haushalte verfügen nach dieser Definition über maximal fünfzig Prozent des arithmetischen Mittels der Pro-Kopf-Ausgaben, ausgabenstarke Haushalte über mindestens 150 Prozent der Pro-Kopf-Ausgaben. Vgl. Bauer u. Kronsteiner, Beiträge, 849. 138 Vgl. Michael Mesch, Beschäftigungsentwicklung und -struktur im Raum Wien 1970 bis 1989, in  : Wirtschaft und Gesellschaft. Wirtschaftspolitische Zeitschrift der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien 15 (1989), 111, 354. 139 Ulrike Döcker u. Reinhard Sieder, Einkaufen, Kochen, Essen und Trinken im praktischen Lebenszusammenhang. Transkripte der Interviews. Teilstudie des multidisziplinären Forschungsprojektes »Ernährungskultur in Österreich«, Bd. 4B, Wien 1994, 38. 140 Michael Wüger, Günstige Konsumentwicklung bei rückläufiger Sparneigung, in  : WIFO-Monatsberichte 65 (1992), H. 11, 584 ff. 141 Karl Kollmann, Konsumenten ’92 (= AK Konsumentenpolitik – Marktforschung), Wien 1993, 79 ff.; vgl. auch ders. Konsumenten ’82. Einstellungen österreichischer Verbraucher zu aktuellen Konsumfragen, Wien 1983. 142 Anton Amann et al., Konsumverhalten Jugendlicher, Wien 1989, 50. 143 Vgl. Krisch, Konsumieren, 56.

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Wienkultur 1945–1995

I. Von der Überquerung des Kulturozeans  ! Eine Einleitung

D

ie Ringstraße umschließt den ersten Wiener Gemeindebezirk und somit die Wiener Innenstadt und repräsentiert gemeinsam mit den zahlreichen Gebäuden des Ringstraßenstils eines der wohl großzügigsten Kulturprojekte der Ära des schicksalsreichen Habsburgerkaisers Franz Joseph, der mit unvergesslichen österreichischen Mentalitäten und Klischees wie »Mia bleibt nix erspart«, einem staatsdienenden (ehemals unglaublich modernen) Beamtenapparat, Trachten-, Jagd- und Offiziersoutfit, Bad Ischler Sommerfrische, Lipizzanern, Wiener Walzerseligkeit, Schnitzlers »süßem Mädel« und definitiven Untergangsszenarios wie der Beendigung der österreichischen Monarchie durch das Finalereignis Erster Weltkrieg verbunden bleiben wird. Das Projekt, an dem die alle Kunstsparten umschließende (moderne) Künstlerschaft der Monarchie beteiligt war, war wohl das letzte gesamt­ heitlich ausgerichtete Kulturgroßereignis des europäischen Raumes, das letzte Gesamtkunstwerk großen Stils und Zeichen eines integrativen großherrschaftlich orientierten Multikulturbewusstseins. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts sollte erneut eine von den Vereinigten Staaten nach Europa gesamtkunstwerklich orientierte Kulturlandschaft importiert werden, Zeichen eines demokratisch, ökonomisch, international und global ausgerichteten Bewusstseins. Beides zweifellos von Macht und Herrschaftsansprüchen getragene Gesten  : das alte Europa und das neue Amerika  ; das alte differenzierte, sprachenreiche, traditionsreiche Kulturzentrum und das neue undifferenzierte, sprachenvereinheitlichte, traditionslose Barbarentum  ; Multikultur contra Multikonzern. Tatsache bleibt  : Jeder Untergang enthält in Anteilen die Dynamik neuer Perspektiven und jeder Neubeginn seine mögliche Verlangsamung durch Erstarrungstendenzen. Geht man vom Heldenplatz aus in Richtung des ehemaligen Messepalastes, wo das Projekt Museumsquartier der Stadt Wien verwirklicht wurde, überquert man die Ringstraße, fällt der Blick auf das Museumszwillingspaar, das Kunst- und das Naturhistorische Museum, zwischen denen ein Monument postiert ist, das die sitzende Kaiserin Maria Theresia darstellt (zweifellos ein frühes Beispiel von gender). Vorbei an sorgfältig gestutzten Büschen und Rasenanlagen führt ein asphaltierter, leicht ansteigender Weg zum Eingang des zur linken Hand liegenden Kunsthistorischen Museums. Geht der Besucher, die Besucherin weiter zur Kassa, dann in die 283

ulrike renner Eingangshalle des Museums, zur Linken und ebenerdig in die ägyptische Sammlung oder geradlinig Stufen hinauf und vorbei an einer Darstellung des italienischen Bildhauers Canova, die den Herakles im Kampf mit dem Kentauren zeigt, in die Bildergalerie, kann er/sie wählen zwischen einer Wechselausstellung und der ständigen Galerie, die Bilder von Künstlern offeriert, deren Herkunft in eine Nord-Süd-Achse unterteilt worden ist. Schwenkt der/die BesucherIn in die Galerie zur Rechten, so wird er/sie mit Malern konfrontiert, die vornehmlich dem südlichen Europa zuzuordnen sind, wendet sie/er sich zur Linken, mit Malern des nördlichen. Nähert man sich vor der Überquerung der Ringstraße vom Heldenplatz aus dem Museumszwillingspaar, schweift der Blick über den rundartig angelegten Platz, erfasst er ausschnittartig Anteile des Parlamentes, auf dessen Giebel seit Jahren bereits ein kleines Haus balanciert, das für Renovierungsarbeiten auf dem Dachgiebel errichtet wurde. Das Rathaus sieht der Rundumblick, auf seiner Spitze einen winzig anmutenden Rathausmann platziert, den Burggarten mit seinen zahllosen vielfarbigen duftenden Rosenstöcken und den Theseustempel, ausschnittartig angedeutet das Burgtheater, die Minoritenkirche mit dem abgeflachten Turm und die Hofburg, in der Nationalbibliothek und das Völkerkundemuseum untergebracht sind. Jede/r, der/die diesen Platz besucht, kann sich um die eigene Achse drehen, ohne seinen Rundumblick einzuengen. Der Platz atmet einen unglaublich weiten, großzügigen und anspruchsvollen Kulturhorizont. Der Blick fällt auf ein Sammelsurium teils nachgeahmter kunsthistorischer Stile. Er bleibt unbehindert und frei, keine steil aufragende Wand, die ihn hält. Trotz der Uneinheitlichkeit der an den Architekturen versinnbildlichten Stilrichtungen ist der Platz ein Ganzes, ein Gesamtkunstwerk, in dem sich die Vielfalt seiner Anteile zu einem Gesamten zusammentut. Selbst die Veränderung des Standortes auf diesem Platz zieht keine Veränderung des Ein­ druckes eines Gesamten nach sich. Der Platz bleibt ganz. Seine geschichtspolitische Belastung, die geknüpft ist an eine der vielen dunklen Nächte der Menschheitsgeschichte, ist unermüdlich kolportiert worden und unvergessen. Zahlreiche politisch ausgerichtete Demonstrationen, Lichtermeere, die sogenannten Donnerstagsdemonstrationen, die während der Zweiten Republik Österreichs stattfanden und eine Verbesserung der aktuellen Österreichpolitik forderten, haben ihn frisch beatmet. Dass sie auf diesem belasteten Platz stattgefunden haben, war ein mutiger, rehabilitierender Akt, zweifellos bedeutungshaft. Hat man das Kunsthistorische Museum betreten, die ersten Stufen bestiegen, die zu den Ausstellungen der Bildergalerie führen, fällt der Blick zuallererst von unten auf die Figurengruppe des Canova oben am Ende der Stufen, von wo aus diese sich nach rechts und links aufteilen und zu den Sälen weiterführen, die einen halben Stock höher liegen. Wohin sich der Blick wendet, nach oben und rundum schreitend, er 284

wienkultur 1945–1995 fällt auf Schönheit. Sei es die Ästhetik der Deckenbemalung, die großzügige Architektur des weiten und hohen, überkuppelten Raumes, der sich nach allen Richtungen hin offen zeigt und zur Besichtigung einlädt, seien es die zahlreichen Brüstungen, die die Gliederung des Raumes in überschaubare, begehbare Einheiten übernehmen und die Größe des Raumes dokumentieren, seien es die zahlreichen Gesten des Raumes, die seinen Willen zur Macht, zur barocken Fülle, die Verherrlichung seiner Talente repräsentieren. Der/die BesucherIn wird in dem Moment, in dem er/sie das Museum betritt, erhöht, seiner Alltäglichkeit beraubt, sie/er wird ein/e andere/r, legt sich eine neue, erweiterte Identität zu oder entwickelt Widerstand und Abscheu gegen all dies Große, das sie/ihn vorübergehend auflöst, verringert oder zumindest infrage stellt. Hier ist, symbolisch gesprochen, die Spitze der Darstellung von Schönheit im Dienste staatlicher Repräsentanz erreicht, vor der man sich zu verbeugen oder zu rebellieren hat. An diesem Ort nichts zu empfinden, nichts zu sehen, nichts wahrzunehmen, nichts zu erfahren, ist per se unmöglich, ausgenommen, man empfindet diesen Ort als Durchgangsposten, ohne anwesend zu sein.

schwenk Viele Jahre später. Soviel Schönheit verpflichtet. Zu Eigenem. Einfach ist das nicht. So viele erwachsende Ansprüche aus hohen Traditionen. Andrerseits  : Die haben das Potenzial für Neues, sind dynamisch zu verwenden, entweder durch Bejahung oder Hinterfragung. Aus ihnen erwächst eine aktuelle, kulturelle Gegenwart. Ein politisch zuerst sich zerreißendes, dann wieder aus Katastrophen herauskatapultierendes, nach Identität suchendes und völlig neu findendes Österreich, dessen Hauptstadt Wien ist. Wien findet in der Zweiten Republik wieder, nur ganz anders, was es hatte und was Österreich als politisches Land definitiv, bis auf einige Modellfunktionen ausgenommen, verliert  : importance. Diese Stadt ist Kulturstadt von Weltrang. Der Rundumblick auf dem Heldenplatz lässt sich, umgelegt auf den Wiener Kulturbereich 1945 bis 1995, in all seinen Facetten nicht einnehmen. Ich vermute, breite Zustimmung zu finden, wenn ich behaupte, Wien hält seine hohe kulturelle und künstlerische Vergangenheit aufrecht, kultiviert und präsentiert sie und kann sich über sie positiv identifizieren. Aber Selbstwerte müssen hinterfragt, dynamisiert und erweitert werden, um die Gegenwart zu beleben. Auch durch Widerspruch kann das geschehen. Die kulturellen Tätigkeiten der Nachkriegszeit sind durchaus spannungsgeladen, konfliktreich und stellenweise künstlerisch kreativ. Wer sind die Störenfriede, wer die Saubermänner  ? Wien lässt es zu, dass sie sich offenlegen. Auf der anderen Seite gibt es institutionalisierte Kultur, die aber auf den ersten Blick auch nicht immer ganz brav ist. Wo schauen wir am besten hin  ? 285

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II. Wienkultur 1945–1995  : Erben und Widerspruch Am 27. April 1945 hatte eine provisorische Regierung unter der Führung des sozial­ demokratischen Staatskanzlers Dr. Karl Renner die Wiederherstellung und Unabhängigkeit der Republik Österreich proklamiert, die bis zum 20. Dezember 1945 dauerte. Diese provisorische und als solche vorerst nur von der Sowjetunion akzeptierte Regierung wurde gebildet von den drei zugelassenen Parteien  : der als Fortsetzung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei wieder gegründeten Sozialistischen Partei Österreichs (spö), der österreichischen bündisch organisierten Volkspartei (övp), Nachfolgepartei der Christlichsozialen, und der neugegründeten Kommunistischen Partei (kpö). Im März war die Rote Armee in Österreich einmarschiert, den Süden und Westen hatten die westlichen Alliierten besetzt, im mittleren Teil des Landes hatte sich die deutsche Armee eingefunden. Das Kriegsende war abzusehen. Am 1. Mai 1945 wurde die Verfassung des Jahres 1920 in der Fassung von 1929 in Kraft gesetzt, sechs Tage später war der Krieg tatsächlich zu Ende. Die Selbstverwaltung der Bundesländer, die aufgrund mangelnder Koordination zwischen Wien und den Bundesländern nicht funktionierte, wurde nur teilweise im Einvernehmen mit der Besatzung geführt. Ein Abkommen, das Österreich unter die Kontrolle der Besatzungsmächte brachte, sollte dieses Einvernehmen zur Staatsregierung sichern. Am 9. Juli wurde Österreich in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Nur Wien, die Bundeshauptstadt, wurde gleichermaßen von allen vier Besatzungsmächten verwaltet, da die alliierten Besatzungsmächte die Gebietserweiterungen und die bis 1938 bestehenden Bezirke der nationalsozialistischen Zeit nicht anerkannten. Die am 20. Oktober von den Besatzungsmächten bewilligte provisorische Regierung ermöglichte die ersten Nationalratswahlen nach elf Jahren. Eine unglaubliche Aufholarbeit setzte ein. Außenpolitisch mühte sich die neue Bundesregierung (85 Mandate övp, 76 Mandate spö, vier Mandate kpö) um Wiedererlangung des souveränen Status des Landes, innenpolitisch um das Beheben der unvorstellbaren Kriegsfolgen.1 In Wien wurde binnen weniger Tage nach dem Ende der Kämpfe noch im April 1945 eine provisorische Gemeindeverwaltung konstituiert. Die politischen Parteien entstanden neu. Die Lage der Stadt war trist, laut Homepage des Kulturamtes waren mehr als zwanzig Prozent des Hausbestandes ganz oder teilweise zerstört, beinahe 87.000 Wohnungen unbewohnbar. Mehr als 3.000 Bombentrichter wurden gezählt. Zahlreiche Brücken lagen in Trümmern. Kanäle, Gas- und Wasserleitungen hatten schwere Schäden erlitten. Ungeheure Anstrengung in Richtung Normalisierung musste unternommen werden. Ein wichtiger Schritt war die im November 1945 erfolgte Abhaltung der ersten Gemeinderatswahlen und damit die endgültige Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen. Die hundert Mandate des Wiener Gemeinderates teilten sich zu 58 auf die Sozialistische Partei (die spö verfügte fat immer seit 1945 286

wienkultur 1945–1995 immer über eine absolute Mandatsmehrheit im Landtag und Gemeinderat), zu 36 auf die Volkspartei und zu sechs auf die Kommunisten auf. Schwerpunkte der Tätigkeit der Stadtverwaltung waren zunächst vor allem Jugend- und Altersfürsorge, Instandsetzung der städtischen Unternehmen und Wiederaufbau. Die Wiener Gemeinde hatte die kulturpolitischen und volksbildnerischen Agenden bereits am 20. April 1945 einer herausragenden und vielschichtigen Persönlichkeit übertragen. Viktor Matejka war Journalist und Schriftsteller, Vorbildpazifist, Karl-Kraus-Verehrer, in der Zwischenkriegszeit Bildungsreferent der Wiener Arbeiterkammer und als solcher Organisator von Lesungen von Arbeiterschriftstellern im Arbeiterbad, Wiener Kulturstadtrat 1945–1949, langjähriges Mitglied und Aushängeschild des Zentralkomitees der Wiener kpö bis 1957. Er galt als Verfechter eines Antiamerikanismus und dezidierter Gegner verharmlosender Vergangenheitsbewältigung und war bereits zeitlebens Symbol für eine lebenslange Bemühung um Volksbildung und sein politisches, nicht jedoch ideologisch vereinnahmtes Credo »Widerstand ist alles«. 1938 war Matejka aufgrund von Denunziation verhaftet und mit dem »Prominententransport« in das kz Dachau transportiert worden, wo er, dem Dienst enthoben, die Lesebücherei und Mithäftlinge mit ausgesuchter, teils verbotener und heimlich eingeschleuster Literatur betreute und seine von ihm entworfenen, subversiven »Pickbücher«, im Oktavformat heimlich in der Häftlingsbücherei gebunden, an ausgesuchte Personen verteilte. Diese Pickbücher bestanden aus »gepickten«, das heißt aufgeklebten Zeitungsausschnitten aus Artikeln nach Themengruppen aus Kultur, Kunst, Philosophie und Politik geordnet. 1944 war Viktor Matejka aus der Haft entlassen worden und nach dem Einmarsch der Roten Armee in Wien am 10. April 1945 der kpö beigetreten. In seiner Funktion als Wiener Kulturstadtrat setzte er sich vielfältig für die Re-Aktivierung des Wiener Kulturlebens ein, wie für den Aufbau der Wiener Oper, die Gründung des Wiener Kulturfonds, den Aufbau der Wiener Volkshochschule und die Rückholung prominenter Wiener Intellektueller wie zum Beispiel Oskar Kokoschka aus dem Exil. Am 10. Oktober 1945 rief Stadtrat Viktor Matejka vom Amt für Kultur und Volksbildung in Wien in der Austro American Tribune »die österreichischen Künstler und Wissenschaftler in den usa« zur Mithilfe am kulturellen und wissenschaftlichen Wiederaufbau Österreichs auf.2 »Liebe Freunde Österreichs  ! Es ist die erste Möglichkeit, die sich mir bietet, um euch herzlichst zu begrüßen, von einem neuen Österreich aus, das vor allem dadurch zustande gekommen ist, dass die alliierten Mächte den Kampf gegen den Faschismus im Allgemeinen und den Nationalsozialismus im Besonderen siegreich ausgetragen haben. Wir Österreicher, die wir uns bemüht haben, aktiv an diesem Kampf gegen den Faschismus und gegen die nationalsozialistische Eroberung Österreichs teilzunehmen, ha-

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ben uns in den letzten Monaten der Arbeit gewidmet, die dem Neuaufbau unseres Landes dient. […] Auf dem Gebiet des kulturellen Lebens in Wien ist es uns in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, alle verfügbaren Kulturinstitutionen wieder zu neuem Leben zu bringen. […] Die Leistungen der Künstlerschaft im Bereich der staatlichen Theaterkultur, aber auch auf dem Gebiet des privaten Theaterlebens sind bis zum Äußersten angespannt. […] Unsere ganze Tätigkeit auf dem Gebiet der Volksaufklärung und Volksbildung ist bestrebt und eifrig daran, die sieben Jahre Nationalsozialismus und noch mehr Jahre Faschismus in Mitteleuropa bis zur Wurzel auszutilgen. In unseren Volksbüchereien kommt dies im Besonderen dadurch zum Ausdruck, dass wir alle faschistische Literatur restlos beseitigt haben und nun in die entstandenen beträchtlichen Lücken gute österreichische, europäische und Weltliteratur hineinbringen. Freilich fehlt es uns noch an einer richtigen Buchproduktion. Es kann sogar länger dauern, bis wir hier infolge der Kriegseinwirkungen und Kriegsfolgen so weit sind, um mit Hilfe einer großzügigen und neuen Bücherproduktion den immensen Bedarf zu decken, der bei uns für neue österreichische und die uns durch Jahre hindurch vorenthaltene Weltliteratur vorhanden ist. Und da wenden wir uns daher an unsere Freunde der Kunst, Kultur und Wissenschaft Österreichs in der Welt und bitten sie, uns ihre Mithilfe bei diesem Aufbauwerk nicht zu versagen. Es ist klar, dass hier auch schon der geringste Beitrag, welcher Form immer, ein großer Vorteil ist, um den Weg zu dem angedeuteten Ziel erfolgreich zu beschreiten. Die Schulen aller Art, von den Volksschulen über die Mittelschulen zu den Hochschulen, sind bereits wieder in Betrieb genommen. Unser Bestreben war und ist es, das gesamte Schulwesen von allen faschistisch-nationalsozialistischen Einflüssen gänzlich freizumachen. Um aber die Schulen mit neuem und zeitgemäßem Lehr- und Lesematerial zu beliefern, dazu bedarf es auch der besonders großen Hilfe jener Freunde Österreichs, die in Amerika und in anderen Ländern Interesse und Sympathie für Österreichs Kultur, Kunst und Wissenschaft haben. Wir tun und werden alles tun, was in unserer eigenen Kraft und bei unserer eigenen Ini­ tiative liegt. Ich spreche das im Besonderen für jene Österreicher, die es durch Jahrzehnte hindurch und besonders in den letzten schweren Jahren unter Beweis gestellt haben, dass ihnen die Bekämpfung des Faschismus und des Nationalsozialismus zu ihrer Lebensaufgabe geworden ist, und dafür jederzeit die größten Opfer zu bringen bereit waren und sind. Ich erkläre das für alle jene aktivistischen Kämpfer für die Freiheit Österreichs, die lange Jahre in den deutschen Konzentrationslagern und Gefängnissen verbringen mussten und leider nur zum geringsten Teil übrig geblieben sind. Die Tausenden und Zehntausenden Opfer, die die faschistischen Konzentrationslager und Gefängnisse von uns österreichischen Freiheitskämpfern gefordert haben, versuchen durch mich in diesen Zeilen zu euch zu sprechen. Das ist unsere stärkste Kraft, mit der wir an all unsere Bemühungen zum Neubau unseres Landes herangehen.

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Ich wende mich an euch, ihr Freunde Österreichs in den Vereinigten Staaten, um auch Euch zu danken für alle bisherige Sympathie und Mithilfe für unseren Befreiungskampf. Ich weiß, dass ihr alle Interesse habt, uns Eure Mithilfe auch in Zukunft angedeihen zu lassen. Ich schreibe diesen Brief nicht zuletzt auch deshalb, weil es mir gelungen ist, nach 6 ½ Jahren Konzentrationslager Dachau wieder im öffentlichen Leben Wiens arbeiten zu können für den Wiederaufbau unseres kulturellen und volksbildnerischen Lebens.«3

Im Herbst 1945 war das erste Konzert der Wiener Philharmoniker aufgeführt und der Opernbetrieb aufgenommen worden. In seiner Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945 hatte Kanzler Leopold Figl Österreich als kleinen Staat mit großer Kultur bezeichnet. Dass Kulturinstitutionen wieder eröffnet wurden und fortbestanden, konnte als Wiederherstellungsversuch der Normalisierung gesellschaftlichen Lebens gewertet werden, und das zu einer Zeit des überall existierenden Essensmangels. Nicht verwundern wird in diesem Zusammenhang, dass ein kulturelles, das öster­ reichische Selbstbildnis förderndes Großereignis, die ersten Wiener Festwochen nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz der Zerstörung durch den Krieg und Besatzung lange vor Abschluss des Staatsvertrages, und zwar am 26. Mai 1951, eröffnet wurden. Mit diesen Festwochen würde Wien – als »Hauptstadt der Musik« wiederauferstanden – erneut der Welt präsentiert werden. Das Motto hieß passenderweise »Unsterbliches Wien«. Einerseits sollte das Bild vornehmlich österreichischer Hochkultur wiederbelebt werden  : durch Mozart, Strauss, Mahler, Haydn, Beethoven (ein dem Selbstverständnis nach österreichischer Künstler), gespielt von den besten in- und ausländischen Orchestern, dirigiert von internationalen Stars wie Herbert von Karajan und Bruno Walter. Andrerseits war es als ein populäres, die gesamte Wiener Bevölkerung einbeziehendes Großereignis gedacht und wurde dementsprechend durch ein Eröffnungsfest eingeleitet, das die ganze Stadt umfassen sollte. Festwochenveranstaltungen der großen Bühnen wurden in Schulen und Betrieben wiederholt, Veranstaltungen im Schönbrunner Schlosshaus und im Arkadenhof des Wiener Rathauses für ein breites Publikum aufgeführt, informiert ein Internet-Beitrag der Homepage der Stadt Wien zur Geschichte der Wiener Festwochen. Die Presse sprach von einem »Evangelium der Kultur«. Kunst wurde als Mittel der Darstellung von Erhabenheit, der Selbstheilung durch Erfüllung des Bedürfnisses nach Selbstbestätigung, in den Dienst eines sinnstiftenden kulturpolitischen Ansatzes gestellt. Die Kultur sollte aber auch nah an die Wiener Bevölkerung gebracht werden, nicht ausgrenzen, stärken und bilden und darüber hinaus der Welt sagen, Wien (und damit Österreich) gibt es wieder. Kulturidole eignen sich zur Identitätsfindung besonders. Der Weg bis 1955, dem Jahr der Unterzeichnung des Staatsvertrages, war breit. Er kostete 14,3 Milliarden Schilling Reparationszahlungen an die sowjetische Be289

ulrike renner satzungsmacht und gab Österreich auf der Grundlage von Neutralität die völlige Souveränität zurück. Jede/r ÖsterreicherIn kennt das Foto vom Balkon des Schlosses Belvedere, auf dem Bundeskanzler Figl den unterzeichneten Staatsvertrag der jubelnden Menge präsentiert. Es war ein Identität stiftender Akt für ganz Österreich und er wurde naturgemäß in der Hauptstadt inszeniert.

2.1 Der K alte K rieg in der Kunst  : der ungeliebte Österreicher Bert Brecht In den ersten Nachkriegsjahren erfüllten die Spielpläne »in hohem Maß die Erwartungen der um Ruhe und Ordnung und geistigen Wiederaufbau Besorgten. Sie werden von Klassikern und von Unterhaltungsware, die oft in die Zeit der Monarchie zurückführt, in die goldene, alte Zeit, dominiert. Die Werke der Zwischenkriegszeit mit ihrem Engagement, ihrem Mut zu neuer Sicht alter Probleme, mit dem Versuch, die traditionellen Mauern niederzureißen, werden ängstlich umgangen, die Wiedergutmachung findet im Wiederaufbau, so sie nicht überhaupt unterbleibt, nur zögernd statt. Aber auch der Gegenwart und der unmittelbaren Vergangenheit stellt man sich nur mit Vorbehalten.«4 Als Beispiel für diese Haltung galt die Eröffnung des Wiener Burgtheaters mit dem Stück Sappho, das einer der verdientesten RepräsentantInnen österreichischer Literatur, Franz Grillparzer, verfasst hatte. Bis in die frühen 60er-Jahre sollte das Theaterleben Österreichs religiös-ethische und konservative Werte, auch als deutliche Abgrenzung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus, zur kulturellen Selbstfindung anbieten. Das bürgerliche Theater galt nicht als Stätte der Provokation, des formalen und inhaltlichen Experimentierens. Diese Harmonisierungstendenz, die den Bogen spannen sollte zwischen einer noch heil gewesenen, kulturell hoch angesehenen österreichischen Kunst und der Abgrenzung zur Zeit des größten kulturellen und menschlichen Unverstandes, hielt viel Sprengstoff für künstlerische Alternativen bereit. In den Jahren 1945–1949 bestimmte, wie bereits erwähnt, eine vielschichtige Persönlichkeit die Kulturpolitik der Stadt Wien mit, der in Konzentrationslagern inhaftierte Schriftsteller und Kulturpolitiker Viktor Matejka, Kulturstadtrat und während dieses Zeitraumes Vertreter der kpö. 1946 präsentierte das Theater in der Josefstadt Der gute Mensch von Sezuan von Bert Brecht mit Paula Wessely in der Hauptrolle. Das Stück endete in einer dem Autor zuwiderlaufenden, nihilistischen Interpretation. Im selben Jahr brachte das Josefstädter Theater Mutter Courage in der historischen Fassung der Uraufführung des Jahres 1941 am Zürcher Schauspielhaus, inszeniert von Leopold Lindtberg, he­ 290

wienkultur 1945–1995 raus. Beiden Aufführungen folgte ein begeistertes Echo, obwohl oder gerade weil die Presserezeption, wie auch das Regiekonzept der Sezuan-Inszenierung klar erkennen ließen, dass die Beurteilungskriterien sich vornehmlich von der Dramatik des herkömmlichen Theaters ableiteten und den Intentionen Brechts, seiner Theatertheo­ rie und seinen spezifischen Inszenierungsformen, ahnungslos gegenüberstanden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 60er-Jahre wurden die Keller der Stadt auch als Bühnen für Cabarets, Theater und Musik genutzt. Das Theater der Courage, der Nachfolger der Wiener Kleinkunstbühne, der liebe Augustin, wurde in den Jahren 1945 bis 1947 von der ehemaligen Direktorin des Augustin, Stella Kadmon, die aus der Emigration zurückgekehrt war, wiederhergestellt. Es zeigte 1948 acht Szenen aus Furcht und Elend des Dritten Reiches unter dem Titel Schaut her  ! Im selben Jahr präsentierte das von der kpö und der sowjetischen Besatzungsmacht geförderte Theater, die Scala, eine Matinée mit einem Querschnitt durch das Werk Brechts, sowie eine Neubearbeitung der Mutter Courage. Die Pressereaktionen zeigten im Vergleich zu denen der zwei Jahre zuvor produzierten Aufführungen eine inhaltliche Verschiebung. Sie waren bereits von den politischen Vorzeichen des Kalten Krieges geprägt. Ab 1948 bewertete die Presse Brechts Kunst tendenziell ablehnend und mit ihm das politische System, zu dem sich Brecht bekannte, ohne je Parteimitglied der kommunistischen Partei gewesen zu sein. Im Fall der Scala-Aufführung stand zusätzlich die Tatsache erschwerend dagegen, dass es sich um ein kp-Theater handelte. Peter Weigel agierte exemplarisch  : Begeistert von der Aufführung 1946, meinte er bezüglich seines Meinungsumschwunges 1948  : »Man macht ja auch im Geschmack Wandlungen durch. Später, wie es dann wieder in Wien gespielt worden ist (1948), hab ich plötzlich gemerkt, dass da Dinge drinnen sind, die mir einfach nicht zusagen. Die Wendung ist eigentlich erst im Lauf der Zeit gekommen, als der Kalte Krieg begonnen hat und als die Allianz der Alliierten auseinander gebrochen ist.«5 Die Presseleute beanstandeten, in ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung orientiert am Pathos des traditionellen Theaters, den Mangel an »Herzblut«, an »elementarer Ergriffenheit«, es sei die Mutter Courage »mehr mit dem Hirn als mit dem Herzen« geschrieben worden.6 Die Kritiken liefen offensichtlich den Intentionen Bert Brechts zuwider, weil sie nicht erkannt wurden oder erkannt werden sollten. Auf jeden Fall reflektierten sie im Sinn einer Umkehrfunktion genau das, was Bert Brecht auf keinen Fall wollte, nämlich mit elementarem Pathos die Zuschauer ergreifen. Dass dies der konservative Teil der Presse nicht verstand oder nicht verstehen wollte, lag gemeinsam mit den konkreten politischen Verhältnissen am kritischen Ansatz der theatertheoretischen Position Brechts selbst. Seine neuen ästhetischen Prinzipien hatten sich von hauptsächlich formal-ästhetischen Überlegungen der frühen Stücke hin zu ethisch291

ulrike renner sozialen Beweggründen hinentwickelt, gründeten in einem neuen Zweck, einer revolutionären Pädagogik. Bert Brechts sozialistisch-marxistische Orientierung blieb Ansatzpunkt für eine Kritik, die vom Künstler die Vermittlung klassischer Ideale forderte. Brechts Theatermodell wollte jedoch in ständiger Auseinandersetzung mit den Werten der modernen Gesellschaft im Dienste des Klassenkampfes neue Sehweisen des Publikums bewirken. Seine Stücke, die Darstellung von an die Oberfläche gebrachten sozialen Konflikten, sollten auf möglichst unterhaltsame Weise, ohne Pathos und Suggestion, den Zuschauer zu kritischer Reflexion anregen. Anfang der 50er-Jahre bis 1963 gab es in Wien bloß zwei Theater, die sich an die Aufführung von Brechtstücken heranwagten  : die Scala und das Wiener Volkstheater, wo 1952 Die Dreigroschenoper aufgeführt wurde. Bei aller inhaltlichen Entschärfung und dem hohen Publikumsinteresse gab sie trotzdem Anlass zur Weiterführung von Brechts Diffamierung  : Die zeitlich nur kurz zurückliegende Staatsbürgerschaftsaffäre um Brecht war noch nicht vergessen.7 »Der Kalte Krieg bewirkte, dass Brecht in den meisten Blättern praktisch nur noch von einer gegen ihn gerichteten politischen Position des Antikommunismus beurteilt wurde. Das künstlerische Schaffen Brechts diente meist nur noch als Aufhänger für Polemiken gegen den Dichter, gegen die ddr oder den Sozialismus.«8

Zahlreiche Zeitungen polemisierten am Höhepunkt der Anti-Brecht-Kam­ pagne 1953, als der Künstler zu den heftigen Ausbrüchen der Berliner Arbeiterschaft differenziert in zwei Briefen an den Generalsekretär des Zentralkomitees der sed Stellung bezogen hatte und seine Äußerung bezüglich der Notwendigkeit von Verhandlungsgesprächen mit den demonstrierenden Bevölkerungsschichten in den österreichischen Zeitungsberichten unterschlagen worden war  : »Österreicher Brecht huldigt sed«9, »Der Leichenschänder Bert Brecht«10. Die polemischen Tendenzen hatten zur Folge, dass in Wien jahrelang Brecht nicht zur Aufführung gebracht wurde. 1958/1959 erlangten zwei Brechtabende im Wiener Mozartsaal außerordentlichen Erfolg, der jedoch von der Presse totgeschwiegen wurde. Die Tatsache, dass der 1956 verstorbene Autor nicht mehr unmittelbar mit einer aktuellen, politischen Aktion in Verbindung gebracht werden konnte, die zu seinen Ungunsten interpretierbar war, und die Weltberühmtheit des Schriftstellers mit österreichischer Staatsbürgerschaft machten einen dauerhaften Boykott schwierig. Zudem mehrten sich die Stimmen für Brecht. Der Autor wurde erneut aufgeführt und blieb trotz allem einer der meistgespielten AutorInnen auf Österreichs Bühne.

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Abb. 1: Dr. Viktor Matejka mit Oskar Kokoschka vor der zerstörten Albertina Abb. 2: Dr. Karl Renner bei der Eröffnung einer Brücke in der sowjetischen Zone

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Abb. 3: Herbert von Karajan und Ernst Haeussermann Abb. 4: Paula Wessely

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wienkultur 1945–1995 2.2 Nachkriegsmoderne  : die Wiener Gruppe Der Diskurs um die faschistische Vergangenheitsbewältigung, der in Deutschland längst eingesetzt hatte, war im Österreich der Nachkriegszeit ausgeblieben. Österreich verstand sich als Opfer des Faschismus. NachwuchskünstlerInnen sprachen von einem Klima des restaurativen Traditionalismus, gelenkt von den Bemühungen der Koalition, einen Kurs der Mitte einzuschlagen. Der Kunst würde vor allem dann Bedeutung beigemessen werden, wenn sie affirmativ wäre. Sie kritisierten den Bestand an provinziellem und ideologisch ausgerichtetem Gedankengut und vor allem die praktizierte Kunstförderung. Gefördert würden hauptsächlich verdiente Staatskünstler. Der meistgespielte österreichische Dramatiker war Fritz Hochwälder, der Repräsentationsdramen verfasste und subventioniert wurde. 1947 hatte Adolf Rott am Burgtheater Fritz Hochwälders Drama Das heilige Experiment packend und realistisch aufgeführt und damit den Weltruhm des in der Schweiz lebenden Österreichers begründet. Die Tatsache, dass der Exil­ dramatiker mit zahlreichen Dramen trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im deutschen Sprachraum Erfolg hatte, kann trotzdem durchaus als Ausnahmeerscheinung gewertet werden. Kritisierte der Literaturwissenschaftler Wendelin SchmidtDengler die Kunst Hochwälders »als Absage an das epische Theater«11, wurde von anderer Forschungsseite sein Verbleiben im Exilland als Distanz zur Nachkriegsentwicklung interpretiert.12 Fritz Hochwälders Erfolg blieb exemplarisch. Junge, radikalere AutorInnen waren hingegen meist gezwungen, sich ProduzentInnen im Ausland zu suchen. Einige unliebsame SchriftstellerInnen des In- und Auslandes wurden boykottiert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den bereits geschilderten Brechtboykott wie auch an die Tatsache, dass erst 1968 Ödön von Horváth wieder auf dem Spielplan österreichischer Bühnen und zwar auf dem des Volkstheaters erschien. Keller und Studentenbühnen steckten generell in einer finanziell tristen Lage.13 In den meist selbst adaptierten Kellertheatern fand die Avantgarde Wiens statt. Ihre Vorläufer waren die literarisch-politischen Kabarett-Theater der 30er-Jahre gewesen. Aktuelles Zeitkabarett, aber auch ein breit gefächertes Programmangebot, das von Hofmannsthal, Nestroy, Shakespeare, Curt Goetz, Goethe bis Cocteau, Weisenborn, Sternheim und Tagore reichte, bot das Studio der Wiener Hochschule, das von Dr. Friedrich Langer gegründet worden war. Der Spielplan des Theaters der Courage sah bis 1960 Zeitstücke vor, die aktuelle Gegenwartsprobleme aufgriffen. 1960/1961 übersiedelte das Theater der Courage aus dem Café Prückl in ein richtiges Theater am Franz-Josefs-Kai. 1949 wurde das Theater am Parkring mit dem Stück Warten auf Godot eröffnet, 1953/1954 die Tribüne im Keller des Café Landtmann neben dem Burgtheater. Hier 295

ulrike renner sollten vor allem Aufführungen österreichischer AutorInnen wie Raimund Berger, Hans Friedrich Kühnelt, Rudolf Bayr, Felix Braun, Franz Theodor Csokor sowie ausländische Gegenwartsdramatik geboten werden. 1960 wurde im Keller des Café Dobner eine Avantgardebühne, das Ateliertheater von Veit Relin, mit Ghelderodes Stück Schwarzer Kirmes eröffnet. Weitere neue Bühnen waren das Experiment am Lichtenwerd, das ein Programm der surrealen und absurden Dramatik proklamierte, das Theater am Belvedere und die Komödianten, die, von Conny Hannes Meyer geleitet, sich als eine echte Experimentierbühne offenbarten und vor allem das Werk Bert Brechts, sowie anderer links orientierter SchriftstellerInnen präsentierten. Eines der Wiener Kunstphänomene, das eine breitere Publikumsschicht erreichte und öffentlichen Beifall errang, war das Kabarett der Nachkriegszeit unter BronnerKehlmann-Kreisler-Merz-Qualtinger. Bereits in den 50er-Jahren hatte eine Protestbewegung einer künstlerischen Subkulturgruppe eingesetzt, die unter dem Namen Wiener Gruppe gegen herrschende Konventionen in Kunst und Kultur antrat und für kommende Schriftstellergenera­ tionen des In- und Auslandes zum künstlerischen Ideenreservoir wurde. Ihr kunstprogrammatischer Ausgangspunkt – formal-ästhetisches Experiment ohne gesellschaftspolitische Intention – war die Sprache, die als Machtinstrument einzusetzen und zu missbrauchen war. 1947 war der Art-Club gegründet worden, der ab 1951 im Strohkoffer, seinem ersten Vereinslokal, residierte und nach einer Phase, während der ausschließlich malerische Aktivitäten zugelassen worden waren, zum Treffpunkt aller Künste wurde. Der österreichische Schriftsteller H.C. Artmann stillte das Nachholbedürfnis nach moderner und unbekannt gebliebener Literatur, indem er unermüdlich Texte beschaffte, noch nicht übersetzte fremdsprachige Literatur las und davon Übersetzungen anfertigte. Er, Gerhard Rühm und Konrad Bayer lernten sich im strohkoffer kennen. Ihre Freundschaft wurde zum Ausgangspunkt für die Konstituierung der Wiener Gruppe. Gemeinsam mit dem neu dazugekommenen Oswald Wiener trafen sich die Künstler im Café Glory, wo experimentelle Literatur von Gertrude Stein, Stramm, Schwitters, Dada und Surrealismus aufgearbeitet wurde und vorerst die eigene literarische Arbeit in den Hintergrund drängte. Die literarische Erfindung der Wiener Gruppe war der »methodische inventionismus«, wobei mit mathematischen Permutationen eines willkürlich determinierten Wortvorrates experimentiert wurde  : Es handelte sich um eine »art systematisierung der alogischen begriffsfolgen des radikalen surrealismus«.14 Die Wiener Gruppe unternahm den Versuch, die Sprache durch die Bloßlegung ihres Materials als manipulierten Gegenstand auszuweisen und durch die Synthese textlicher Teile einen 296

wienkultur 1945–1995 semantischen Schwebezustand zu schaffen, der der Sprachwirklichkeit ihre Manipuliertheit und damit Bedingtheit entgegenhalten sollte. Wiener lieferte den Anstoß, die sprachtheoretischen Bemühungen sprachphilosophisch zu erweitern, indem er die Diskussion über Wittgenstein, Sapir und Whorf anregte. Die Nähe zu nichtliterarischen Disziplinen verhinderte die Einseitigkeit innerhalb der künstlerischen Gruppenproduktion. »der kreis war jetzt wieder größer geworden  : er umfasste dichter, maler und komponisten – dazu kamen noch architekten und filmavantgardisten, der enge kontakt, den die progressiven vertreter der verschiedenen künste zueinander hatten, wirkte sich fruchtbar aus und war für unseren wiener kreis speziell.«15

Ab 1956 nahm Artmann an den Gruppenveranstaltungen nicht mehr oft teil, war er doch der Erste, der literarischen und finanziellen Erfolg hatte. Artmann war Mitglied der »frühen« Wiener Gruppe gewesen. Die »spätere« Wiener Gruppe setzte sich aus Rühm, Bayer, Wiener und dem 1956 dazugekommenen Friedrich Achleitner zusammen. Die Montage wurde zum konstitutiven Element der Wiener Gruppe. »wenn daneben auch jeder für sich den erschlossenen möglichkeiten weiter nachging, war gerade die montage eine technik, die eine gemeinschaftsarbeit besonders begünstigte.«16

Ausgangspunkt jener Wort- und Textmontagen, deren Wirkung auf poetischer Verfremdung beruhte, war ein Lehrbuch der böhmischen Sprache von Terebelski gewesen. Satzteile wurden aus ihrem normalen Satzgefüge herausgenommen und neu geordnet. Aus dem Spannungsverhältnis benachbarter Sätze ergab sich eine Art neuer Wirklichkeit. Die angewandte Technik der Montage bezeichnete die Wiener Gruppe als Fortführung der Technik des Dadaisten Schwitters, der das Material als unwesentlich, das Formen hingegen als das Wesentliche des Kunstwerkes propagiert hatte. Das hieß, wenn sich Sprache und Bewusstsein wechselseitig beeinflussten, dann konnte eine Änderung der Sprache auch eine Änderung der Wirklichkeit nach sich ziehen. Sprache wurde so als Mittel der Herrschaft erkannt, das Verhalten und Bewusstsein steuerte bzw. bewirkte.17 Die sprachlich als dafür geeignet erscheinenden und verwendeten Mittel waren die Montage, das Zitat, die Collage, Permutation, Reduktion, Konstellation, Dialekt.18 Diese sprachskeptische Perspektive spiegelte sich in den literarischen Cabarets, in den gemeinsamen Aufführungen und den Gemeinschaftsarbeiten wider. Obwohl die Lage in Österreich von Gerhard Rühm in seinem Vorwort zum Gesamtwerk Konrad Bayers als isoliert und hoffnungslos beklemmend beschrieben 297

ulrike renner wurde, was die Publikation von Manuskripten betraf, staatliche Zuschüsse verweigert, von der Presse Veranstaltungen mit »hohngejaule« quittiert und offiziell die Künstler als Störenfriede, »entartmänner« bezeichnet wurden, wurde niemals ein »theatralisches Bündnis mit der politisierten Straße« eingegangen.19 Worum es hier ging, war eine Bestreikung der Konvention, die nur gelten ließ, was sich als bürgerliche Tradition über den Nationalsozialismus hatte hinwegretten können. Diese Gesinnung hatte unterschlagen, was an Avantgardekunst passiert war und von den begeisterungsfähigen jungen KünstlerInnen der Nachkriegszeit nun mit offenem Interesse aufgenommen wurde. Umfassend, keineswegs einseitig ausgerichtet, war die Beschäftigung mit allem Wissenswerten und das Interesse Fördernden, diente es doch einer beeindruckend vielseitig gestalteten Kunstproduktion. Es entstanden die ersten Wiener Dialektgedichte, die Erfindung des Inventionismus, die ersten Montageversuche, die Ausei­ nandersetzung mit dem Material Sprache, Monsterlesungen, Aufführungen kleiner Co-Arbeiten, Feste in den historischen Katakomben, die Aufführungen der literarischen Cabarets und nicht zuletzt die Ästhetisierung des eigenen Alltagslebens. Was die Wiener Gruppe darstellte, war eine radikale Manifestation gegen alles Spießbürgerliche. Meine Dissertation über dieses Wiener Kunstphänomen der späten 50er-Jahre hatte ich an die Arbeiten über avantgardehafte Kunst angegliedert. Zum einen bezog sie sich auf ein Kunstverständnis avantgardistischer Gruppen, »deren autonomer Anspruch sich in einer von herkömmlichen Kunstpraxen wohl unterschiedenen Produktions- und Darstellungsweise manifestiert. Als Tenor dieser Kunsthaltung, gleichzeitig einsehbarer Protest gegen überkonventionalisierte und -rationalisierte Lebens- und Denkformen, zeigen sich Maßnahmen, die mittels eigenwillig formulierter Selbstdarstellungen der Hoffnung wieder einkehrender Ganzheit Ausdruck verleihen sollen oder mit aller Radikalität dessen Misslingen dokumentieren. Zum anderen zeigt sich die Wiener Szene des zeitlichen Abschnittes 1950 bis 1960 (…) von der Kontinuität eines gewachsenen Kunstverständnisses, wie es die Avantgarde formuliert, abgeschnitten und isoliert. In regionaler Abwandlung, die ohne geschichtlichen Bezugsrahmen unverständlich bleiben muss, wird sozusagen der Anschluss an die bereits in Dokumentationen vorliegende Avantgarde gesucht. Ausschlaggebend dafür sind die konkrete politische Situation der österreichischen Nachkriegszeit, als auch eine Aufarbeitungstendenz, die sich zwecks geistiger Anregung auf die Nachbarländer richtet.«20 Die Wiener Gruppe war das Phänomen eines Grenzganges an den Rändern der theatralen/bildnerischen/literarischen Kunst und darüber hinaus ein komplexer Versuch, den getrennten Bereich von Kunst- und Lebenssphäre aufzuheben.21 Die avantgardistische Haltung, der Hang zur Selbstdarstellung, beinhaltete nicht zuletzt die Möglichkeit der Wiederherstellung einer gebrochenen Identität 298

wienkultur 1945–1995 durch extrem subjektive Erfahrungen innerhalb der literarischen/darstellenden/ gelebten Praxis. Diese versprachen Zugang zu einem Grenzbereich, der sich ratio­ naler Denk- und Lebensweise entzog und konventionelle Spiel- und Schaukunst überwand. Gerhard Rühm, einer der Autoren der Wiener Gruppe, schildert seinen subjektiven Wahrnehmungsbefund hinsichtlich der Reaktionen, die die künstlerisch vielfältigen, radikal progressiven und experimentellen Produktionen hervorriefen, so  : »schnell wurde deutlich, dass die mehrheit der Österreicher der unmittelbaren Nachkriegszeit wohl vieles gegen die nazistische kriegspolitik, aber im grunde nichts gegen die ›gesunde‹ kulturpolitik einzuwenden gehabt hatte. jetzt, da man der ›entarteten kunst‹ wieder offen begegnen konnte, erregte sie die gemüter oft bis zu handgreiflichkeiten. schon wer für sie interesse zeigte, wurde für verrückt abwegig erklärt – erst recht die, die sie vertraten. in den folgenden jahren wurde es eher noch schlimmer, denn unmittelbar nach beseitigungen des naziregimes herrschte allgemeine verwirrung, unsicherheit und angst, sich durch irgendeine äußerung als nazi zu entlarven.«22 Konrad Bayer, die wohl schillerndste Persönlichkeit der Wiener Gruppe, kann zweifellos als Ideenreservoir für nachfolgende Kunstgenerationen bezeichnet werden. »So nimmt, laut Janetzki, Bayer den Pop-Art-Begriff vorweg, indem er einen Geldschein mit seinem Namen versieht, um ihn darauf durch diesen Akt zum Kunstwerk zu erklären. Wie Happenings wirken die Aktionen und Feste, die in der ›kleine(n) Schaubühne‹ aufgeführt wurden, die sich über den historischen Katakomben Wiens befindet und als erweiterter Bühnenraum benutzt wurde.«23 Eine radikal artistische Haltung bewegte die Gruppe. Sie, die meinten, dass sie von der Gesellschaft, von den »Herren im Nadelstreif« abgelehnt wurden, lehnten ihrerseits radikal subjektiv ab, ohne ihren Protest politisch auszuformulieren. Sie machten den Wirbel jener Zeit. Geachtet von einem kleinen Insiderkreis entwarfen sie radikal ästhetische, innovative Produkte, »als autonome, wiewohl schon an der äußersten geschichtlichen Grenze dieser Autonomie stehende(n) Gebilde verwirklichen sie den Traum der Freiheit und antizipieren jene Phantasie, die verlorenzugehen droht«.24 Die Wiener Gruppe als künstlerisches Phänomen der Wiener Nachkriegszeit hatte, trotz aller in Hinkunft erfolgter Eingemeindung, in ihrer Nachfolge nichts Vergleichbares und war, es kann nicht oft genug wiederholt werden, Ideenreservoir für nachfolgende Künstlergenerationen, denen der internationale Ruhm nicht verweigert wurde. Dass dieses Kunstphänomen in einer Extremsituation wie der Nachkriegszeit überhaupt entstehen und sich, nachdem es sich eigentlich bereits überlebt hatte, durchsetzen konnte, sprach trotz oder gerade wegen allen Protestes der Künstler der Wiener Gruppe, die sich gegen jeden Konsens in der Gesellschaft wie in der Kunst ausgesprochen hatten, für sich. Die Nachkriegszeit hatte diesen Appell eines 299

ulrike renner künstlerisch extrem radikalisierten Protestes hervorgerufen, zugespitzt und auf eine durchaus zu hinterfragende, gesellschaftlich aggressiv ablehnende Art zugelassen. Inwiefern die Wiener Gruppe ein vorrangig lokales, auf Wien konzentriertes und auf Wiens spezifische, auch sprachliche Bedingungen hin ausgerichtetes Phänomen und darüber hinaus ein exklusiv künstlerisches war, kann an dieser Stelle durchaus gefragt werden. Internationaler Ruhm kam spät, aber er kam.

2.3 Die späten 60er- und frühen 70er-Jahre  : ein neues Kunstengagement. Ab Mitte der 60er-Jahre bis Anfang der 70er-Jahre ließ sich eine neue Entwicklung innerhalb der literarischen Künstlerschaft ablesen  : Österreichische AutorInnen wie Peter Handke, Thomas Bernhard, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Barbara Frischmuth wurden vom Ausland als Literaturavantgarde, als KunstinnovateurInnen honoriert. Die anfängliche Regierungsform einer absoluten Mehrheit der »schwarzen« Partei, der eine »rote« Opposition der SozialistInnen gegenüberstand, hatte zur Folge, dass einige österreichische LiteratInnen eine betont kritische Haltung der Gesellschaft gegenüber ausdrückten. Die Kunstavantgarde der subkulturellen Phase der Nachkriegszeit in Wien wurde zum Ideenreservoir und Ausgangspunkt für eine Gruppe von SchriftstellerInnen, von denen jede/r eine eigene literarische Entwicklungsgeschichte und einen gemeinsamen thematischen Nenner aufwies  : die zugespitzt präsentierten Alltagsprobleme des »kleinen«, auch die des proletarischen Mannes und seiner Umgebung. Unter Miteinbeziehung experimenteller Techniken wurden Bühnenkonventionen destruiert. Zu den AutorInnen gehörten Wolfgang Bauer, Peter Turrini, Herbert Berger, Harald Sommer und später, eine ähnliche Tradition fortsetzend, Elfriede Jelinek, Felix Mitterer und der frühe Peter Handke. Der Adressat, das »bürgerliche« Publikum, wurde gerade in den Jahren 1968 bis 1973 mit einem Schocktheater konfrontiert, das mit allen zu Gebote stehenden Mitteln an viele Tabus rührte und folgerichtig von vielen Theaterskandalen begleitet wurde. Als typisches Beispiel dafür galten Peter Turrinis rozznjogd, Wilhelm Pevnys Sprintorgasmik, die beide zusammen am 27. Jänner 1971 im Volkstheater im Sonderabonnement der »Konfrontationen« aufgeführt und vom Publikum wie von der Presse äußerst widersprüchlich aufgenommen wurden.25 Das Ziel dieser Dramen lag nicht in der Vorspiegelung von Versöhnlichkeit, sondern in dem Versuch, Gegensätze disharmonisch darzustellen und das Publikum direkt und hautnah, durch unmittelbare Konfrontation, anzugehen. 300

wienkultur 1945–1995 Nicht der/die BürgerIn wurde thematisiert, nein, vielmehr Minderheiten, Randgruppen der unteren Gesellschaftsschichten wurden zu HauptakteurInnen gemacht. Problematisch und ungelöst freilich blieb der künstlerische Anspruch, der in seiner Hinwendung und Ansprache an den/die ProletarierIn eben diese/n im bürgerlichen Theater nicht vorfand. Das klassische Bildungsbürgertum jedoch sollte mit den dramatischen Konflikten des Proletariers/der Proletarierin konfrontiert werden, dessen täglicher Überlebenskampf zum Hoffnungsschimmer für bessere, echtere Lebensverhältnisse geworden war. Die DramatikerInnen, mit der ihnen zugesprochenen Bezeichnung Schocktheater nur unzulänglich zufrieden, waren angesichts der erhofften Wirkung ihrer Werke oftmals desillusioniert. Manche der Stücke waren noch vor deren Aufführung von der Tagespresse skandalisiert worden. Einige AutorInnen schienen, zumindest dergestalt reflektiert in der Tagespresse, prädestiniert zu sein, Schock im Theater zu produzieren. Neu an dieser journalistischen Haltung der Skandalvorankündigung war die zunehmende Tendenz der Presse als auch die des Publikums, seine Erwartungshaltung, einen Schock tatsächlich präsentiert zu bekommen, eingelöst sehen zu wollen. Hieß das nicht, dass die ursprünglich intendierte Absicht zu provozieren, verflachte und der Schock im Allgemeinverständnis des/r Theaterkonsumenten/In institutionalisiert worden war  ? Im Bereich der Subkultur waren in den späten 1960er- und den 1970er-Jahren neue Lebensformen diskutiert und ausprobiert worden, die eine Aufhebung der Trennung von Arbeit, Leben und Freizeit proklamierten und das Zusammenleben abseits des konventionellen Familienmusters forderten. Nicht mehr die Keller als Orte subkulturellen oder alternativen Geschehens schienen geeignet für die Realisierung solcher selbstbestimmter Lebens- und Kunstvorhaben, sondern Fabrikräume. Die bis heute existierenden und in dieser Zeit entstandenen, sich deutlich von der Hochkultur abgrenzenden Kulturinitiativen Arena und wuk sind Resultate einer Haltung, Kritik abseits des hoch subventionierten Kulturbereichs zu üben und stattdessen Sub- und Alternativkultur als Freiraum eines politisch unabhängigeren Kunstschaffens anzubieten. Ihren Ursprung und ihre sich davon ableitende Tradition fanden solche Kulturinitiativen im Widerstand gegenüber als rücksichtslos empfundenen, der Selbstbestimmung des Menschen zuwiderlaufenden Bauvorhaben. Das Resultat dieser Empörung endete in Raumaneignung durch Hausbesetzung. In einigen Fällen waren Repressalien in Form von Anzeigen, Verhaftungen oder Häuserabriss die Antwort der Herrschenden. In Sub- und Alternativkultur angesiedelte Projekte wie wuk und Arena zählten zu den Überlebenden eben jenes protestorientierten Zeitgeistes, ohne je den Förderstatus von etablierten und ökonomisch aussichtsreichen Kulturinstitutionen erreicht, ohne ihn vielleicht auch je intendiert zu haben. Auf jeden Fall waren solche Initiativen Ausdruck von Bestrebungen, den Raumbedarf einer alternativen Kultur301

ulrike renner

Abb. 5: Arena

szene als Herausforderung der Stadtentwicklung zu signalisieren. Sie standen als Ausdruck für alternative künstlerische und kulturelle Bedürfnisse und gleichzeitig als Möglichkeit, als innovativ künstlerischer Freiraum seitens der Stadtpolitik anerkannt zu werden.

2.4 Statussymbol des Kultur amtes der Sta dt Wien: die Wiener Festwochen 2.4.1 der auftakt  : unsterbliches wien Die immense Bedeutung der Wiederherstellung kulturellen Selbstwertes in der kriegszermürbten und aufholbedürftigen Gesellschaft der Nachkriegszeit ist gewiss nicht in vollem Ausmaß nachzuvollziehen. Erahnen lässt sie sich, wenn man sich die vielen politischen Bekenntnisse vergegenwärtigt, die wieder zu erlangendes Gewicht und Größe dieses in allen Belangen dezimierten Landes beschwören. »Sollte Wiens Kultur, die Weltstadt der Musik, die Schatzkammer des Abendlandes, die Stadt des 302

wienkultur 1945–1995 sozialen Fortschritts, des Wohnbaues, der Schulreform nur deshalb in Anonymität versinken, weil sie von der freien Welt durch unüberschreitbare Demarkationslinien abgeschnitten war, nur deshalb verdorren, weil es den Glauben an sich selbst zu verlieren drohte  ? Nein. Wien mußte sich selbst finden, sollte lernen, wieder an sich zu glauben, sollte, wie so oft in seiner tausendjährigen Geschichte beweisen, daß der Born der Lebenskraft aufbricht – wenn es nur will.«26 Eine der ersten kulturellen Hochleistungen der Nachkriegszeit in Wien, symbolträchtiger Schritt eines die Normalisierung anstrebenden Lebensgefühls inmitten einer nach wie vor von Essensmangel heimgesuchten Lebenswirklichkeit, war demnach die Wiedereröffnung der Wiener Festwochen, initiiert von Stadtrat Hans Mandl von der spö. Die bombengeschädigte Staatsoper und das Burgtheater waren allerdings noch nicht bespielbar, es wurde in die Volksoper, in das Theater an der Wien und ins Ronacher ausgewichen. Die Vorgeschichte zu diesem Event reicht in die Zwischenkriegszeit zurück. 1920 und die meisten folgenden Jahre darauf hatte die Stadt Wien bereits ein Musikfest mit der Staatsoper und den besten MusikerInnen Wiens veranstaltet. 1927 hieß die Veranstaltung zum ersten Mal »Wiener Festwochen«, 1929 »Festwochen in Wien«. Ab 1930 mussten ähnliche Veranstaltungen wegen der schlechten finanziellen Lage jedoch eingestellt werden. don giovanni Der künstlerische Höhepunkt der ersten Wiener Festwochen der Nachkriegszeit 1951 war die Inszenierung von Mozarts Don Giovanni unter Oskar Fritz Schuh und der musikalischen Leitung des Stardirigenten Karl Böhm. Musik war das Hauptanliegen dieser Wiener Festwochen (und auch das der kommenden Jahre). Der schwebende Barockengel auf dem Folder der Festwochen Wien vom 26. Mai bis 17. Juni 1951 kündete ein »Unsterbliches Wien« an. Es hieß darin  : »Nach jahrelanger Unterbrechung und Überwindung tragischer Nöte begeht Wien zum erstenmal wieder seine Festwochen. Es feiert damit den Weiterbestand seiner Mauern, noch mehr aber seine aus einem Jahrtausend erwachsene und sich weiterhin erneuernde Bedeutung als europäisches Kulturzentrum. (…) In seinen historischen und modernen Sammlungen, seinen Baudenkmälern und Weihestätten großer Erinnerung ist es Träger unsterblicher Werte. Auch sein Kunstgewerbe, sein Modeschaffen und sein Handwerk genießen, wie seine sportliche Kraft und Anmut nicht anders, die Achtung der Welt.«27 Das breit gespannte Programmangebot reichte von Schauspiel im Burg-, Akademie- und Volkstheater sowie Theater in der Josefstadt, von Oper und Tanz im Theater an der Wien, Operette in der Volksoper, dem Bürger- und Marionettenthea­ 303

ulrike renner ter, Kongressen für Gewerbe, Dentisten, Handelsagenten, Sozialwissenschaftlern, Geologen und Botanikern, einer Österreichischen Gewerbeausstellung (der Preis der Besucherkarte lag bei vier Schilling, die Jugendkarte bei 1,50 Schilling) bis hin zu sonstigen Veranstaltungen, worunter Film-Matineen im Forumkino im ersten Wiener Gemeindebezirk gezählt wurden. Zu sehen waren Filme wie Der Engel mit der Posaune, Eroica, Hofrat Geiger, Operette, Schrammeln, Wen die Götter lieben, Wiener Blut, Wiener G’schichten in österreichischer Starbesetzung. Die österreichische Gewerbeausstellung hegte den ehrgeizigen Anspruch, eine Zeit zu präsentieren, »in der die Meister des Handwerks bereits eineinhalb Jahrhunderte vor der Entdeckung Amerikas Organisationen gebildet haben, aus denen die Innungen der Gegenwart erwachsen sind. In früheren Jahrhunderten waren die Leistungen des österreichischen Gewerbefleißes weit über die Grenzen unseres Landes bekannt, und so soll es auch in Zukunft bleiben. Der Sinn dieser einmaligen Leistungsschau ist es, die besondere Bedeutung und Funktion des Gewerbes im Rahmen der österreichischen Gesamtwirtschaft zur Darstellung zu bringen, für neuen Absatz und Exportmöglichkeiten zu werben und beim Gewerbe selbst den Gedanken der Rationalisierung, der Notwendigkeit zum Export und einer gründlichen Berufsausbildung weiteren Auftrieb zu verleihen. Vor allem soll auch das Interesse der Jugend für die handwerklichen Berufe aufs neue geweckt werden.«28 Um zum Besuch der Wiener Festwochen zu motivieren, wurden Fahrpreisermäßigungen für die Österreichischen Bundesbahnen in ganz Österreich, für private und öffentliche Autobuslinien, die Seilbahn auf die Rax und freier Eintritt in die staatlichen und städtischen Museen und Sammlungen in Wien angeboten. kr äfte der gegenwart Auch 1952 wurde gleichermaßen auf das große Kulturerbe Wiens und die »Kräfte der Gegenwart« verwiesen. »Der aus den Nöten der Geschichte erstandene humane Geist, der in Wien mit wahrer Weltbürgerlichkeit beheimatet erscheint, will jene Lebensfestlichkeit mitbestimmen, die immer wieder auch zur Überwindung schwerer Schicksalszeiten entscheidend mitgeholfen hat. Diesen Sinn seiner Festwochen wünscht Wien vornehmlich zu verwirklichen. Selbst im Brennpunkt sorgenvoller Weltfragen gelegen, will es auch mit seinen Feiern zu einem guten Wandel der Dinge beitragen, nicht durch Macht, wohl aber im Geist Mozarts und dieser Menschenbrüderlichkeit, die allein eine bessere Zukunft verbürgt.«29

Herbert von Karajan, Bruno Walter, Richard Strauss, Paul Hindemith, Arnold Schönberg, Arthur Honegger, Dietrich Fischer-Dieskau, Paul Badura-Skoda, die 304

wienkultur 1945–1995 Wiener Philharmoniker und Symphoniker waren die Musikerstars, die im Musikvereinsgebäude und Konzerthaus dirigierten und aufgeführt wurden. Parallel zu den musikalischen Ereignissen gab es einen Internationalen Musikkongress und mit ihm drei öffentliche Rundfunkkonzerte in Wien und je ein Symphoniekonzert in Graz, Linz und Salzburg. Zahlreiche Theateraufführungen, Ausstellungen wie zum Beispiel über das Wiener Schulwesen, das »edle Weidwerk«, die Donau, bäuerliches Siedlungs- und Hauswesen, Sportevents sowie Veranstaltungen an historischen Stätten fanden statt  : eine Mozartserenade im Hof des Deutschen Ritterordenshauses, eine historische Serenade auf der Burg Kreuzenstein, eine Schubertiade. Kartenbestellungen und Reisearrangements konnten bei den Vertretungen der Österreichischen Verkehrswerbung in Ägypten, Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Holland, Italien, Schweden, Norwegen, Finnland, Schweiz und den usa getätigt werden. Ein erster Schritt in Richtung Kommerzialisierung der Wiener Festwochen war somit getan. Wie im Vorjahr wurden Ermäßigungen für die Teilnahme an den verschiedenen Events angeboten. ein großsta dtfestival mit sozialem touch Schon ab 1953 war eine die künftige Gestaltung der Wiener Festwochen prägende und sich von anderen Ereignissen ähnlicher Art unterscheidende Struktur abzulesen. Ganz Wien, auch die sozial Schwachen der Arbeiterbezirke, sollten in die Festivitäten im Rahmen selbstständig organisierter Bezirksfestwochen einer sich besonders prächtig präsentierenden Stadt miteinbezogen werden. Ein Großstadtfestival sollte es sein, noch nicht in die Hauptsaison fallen und zahlreiche TouristInnen zur Teilnahme motivieren. 1953, das unter dem Motto »Festliches Wien« stand, wurden Festwochen-Arrangements beworben  : drei volle Tage Wien vom Abendessen des ersten bis zum Frühstück des fünften Tages einschließlich Transfers, Stadtrundfahrten in sehr guten Hotels (800/670 Schilling), Touristenhotels (550 Schilling) sowie ein billiges Arrangement für bescheidene Ansprüche ohne Transfers und Stadtrundfahrten (260 Schilling). Franz Schubert und Hugo Wolf, »zwei Großmeister des deutschen Liedes«, wurden im Rahmen einer Schubertiade in Schuberts Geburtshaus, eines Gesangabends durch die Wiener Sängerknaben und einer »Pilgerfahrt zu Hugo Wolf nach Perchtoldsdorf« gefeiert. Eine beachtliche Liste an musikalischen Stars wie Yehudi Menuhin, Wolfgang Schneiderhan, Jörg Demus, Clara Haskil, Irmgard Seefried fand sich auf dem Programm. Ein internationaler Musikwettbewerb, der erste wieder nach dem Krieg, an dem alle Staaten teilnahmeberechtigte MusikerInnen unter dreißig Jahren stellen durften, und ein internationales Musikfest hoben die besondere Bedeutung der Musik hervor. Aber auch Sport, Wissenschaft und 305

ulrike renner bildende Kunst sowie die Ausdehnung und Miteinbeziehung aller Bezirke wurden mitgedacht. In allen Bezirken Wiens fanden kulturelle, gesellschaftliche und volkstümliche Veranstaltungen statt. Waren die Festwochen des Jahres 1951, eröffnet auf dem Rathausplatz mit einer eigens dafür komponierten Fanfare, noch in erster Linie ein den WienerInnen zugedachtes, sie miteinbeziehendes Großereignis, veränderte sich naturgemäß in den Folgejahren das Selbstverständnis, sollten der Empfängerkreis und der kulturelle und mit ihm der wirtschaftliche Anspruch erweitert werden. Ab 1956 hob langsam die bis dahin ausbleibende Internationalisierung des Theaterbereichs an. Auch Staatsoper und Burgtheater waren wieder bespielbar. Es begann mit Gastspielen der Mailänder Scala in der Staatsoper, Giorgio Strehler im Akademietheater, dem Berliner SchillerTheater und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Ab 1958 wurden die jährlichen Europagespräche organisiert, bei denen europäische PolitikerInnen Fragen der europäischen Integration diskutierten.30 Bis Ende der 50er-Jahre wurden die Wiener Festwochen vom Kulturamt der Stadt Wien, und zwar von seinem Veranstaltungsreferat der Magistratsabteilung 7, kurz MA 7 genannt, organisiert. Mit wachsender Veranstaltungsgröße wurde der Einsatz einer planenden und strukturierenden Instanz nötig. Nach einem kurzen Intermezzo von Rudolf Gamsjäger folgte 1960 Egon Hilbert als erster wirklicher Intendant, der die Planung der ersten Wiener Festwochen 1951 bereits als Leiter der Bundestheaterverwaltung miterlebt und gemeinsam mit Kulturstadtrat Viktor ­Matejka 1946 Bert Brecht nach Wien eingeladen hatte. Hilbert, von der Leitung des neu gegründeten Kulturinstituts in Rom nach Wien zurückgekehrt, initiierte ein neues Festwochenkonzept, das er durch ein gemeinsames Motto vereinheitlichte und die dafür notwendigen, daran beteiligten Institutionen und deren Veranstaltungen koordinierte. Beachtenswertes Großereignis war 1962 das revitalisierte, im Rahmen der Festwochen feierlich eröffnete und zum eigenen Festspielhaus und Zentrum erklärte Theater an der Wien. 1964 wurden an diesem Ort Die letzten Tage der Menschheit von dem österreichischen Sprachgenie Karl Kraus unter der Regie von Leopold Lindtberg welturaufgeführt, das bis dato mit seinen 220 unterschiedlichsten Szenen des Ersten Weltkriegs, unzähligen Zitaten, Dialekten und Auftretenden als unspielbar gegolten hatte.31 Das Festprogramm des 8. Internationalen Musikfestes 1957 der Wiener Konzerthausgesellschaft, das im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand, las sich, selbst aus heutiger Sicht gesehen, wie ein musikalischer Bestseller. Erstaufführungen von Kurt Weill, Rolf Liebermann, Gottfried von Einem, Max Reger, Carl Orff, Paul Angerer, Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Paul Hindemith wurden gespielt. Letztgenannter sah anlässlich seiner zitierten Antrittsrede zur Professur an der Universität Zürich 1951 den Künstler als Visionär, als »Anreger zum Guten«. »All die 306

wienkultur 1945–1995 ethische Kraft (…) soll er freimachen.«, als »echter« Komponist »ein Besiegen niedriger Kräfte und ein Hinneigen zu geistiger Souveränität« erwirken, hieß es im 1957 erschienenen Festprogramm. Glenn Gould interpretierte Werke von Bach, Beethoven, Webern und Alban Berg, Claudio Arrau solche von Mozart, Beethoven, Schumann, Schönberg und Francis Poulenc. Das Eröffnungskonzert im großen Konzerthaussaal – die 1. Symphonie in D-Dur von Gustav Mahler und Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky – spielten die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Lorin Maazel. Der internationale Anspruch wurde über die Präsenz international renommierter MusikerInnen des In- und Auslandes wie zum Beispiel des Cleveland Symphony Orchestra erfüllt, musikalische Erstaufführungen mit der Präsentation klassischer Werke von Richard Strauss, Bartók, Manuel de Falla, Claudio Monteverdi, Berlioz abgewechselt. Nikolaus Harnoncourt, der als Cellist bei den Wiener Symphonikern bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren bei den Wiener Festwochen mitwirkte und MusikerkollegInnen zur inspirierten, privaten Erforschung und Präsentation alter Musik im Concentus musicus zusammenfasste, erinnerte sich  : »Die Symphoniker haben ja zur Festwochen-Eröffnung immer auf dem Rathausplatz musiziert. Wir fanden das wunderbar, daß da ganz Wien mit einbezogen war, auch mit den Bezirksfestwochen. Wir hatten den Eindruck, das sind die einzigen Festspiele mit breiter Programmpalette. Das Programm war sehr interessant, enthielt auch viel Neues. Und die Symphoniker haben eben auch unheimlich viel gespielt, darunter sehr viel zeitgenössische Musik. Ich war bei Lulu unter Karl Böhm dabei, und dann gab es Die schwarze Spinne von Josef Matthias Hauer. Richard Bonynge hat mit den Symphonikern im Theater an der Wien die Haydn-Oper gemacht, damals unter dem Titel Orfeo ed Euridice, da hat Joan Sutherland beide Frauenrollen gesungen. Vom Theater an der Wien hatte mir schon mein Vater erzählt, der dort Lehár-Aufführungen gesehen hat. Die Garderoben und alle Nebenräume waren damals schrecklich, aber der Orchestergraben und der Theaterraum waren begeisternd  ! Man hat von der Bühne sehr gut gehört, und wir haben uns gegenseitig sehr gut gehört. Was meine eigenen Aufführungen betrifft, sehe ich mich in dieser Zeit vor allem als Bittsteller. Für den Concentus musicus war es ja außerordentlich wichtig, während der Festwochen ins Programmheft zu kommen, mit unseren Konzerten im Palais Schwarzenberg. Ich war der Meinung, daß wir etwas Wertvolles bieten. Aber da hatte ich Mühe. Ich war mehrmals bei Egon Hilbert, der mir erklärt hat, daß Wien im Schlamm versinkt und daß nichts zu machen sei. Eine zusätzliche Schwierigkeit waren ja immer die personellen Wechsel im Kulturamt und bei den Intendanten, daß man jeden wieder neu kennenlernen und überzeugen mußte. Da hatte ich Hilbert überzeugt, daß wir gemeinsam Wien aus dem Schlamm ziehen, und dann kam Ulrich Baumgartner. Wir wollten im Theater an der Wien

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unbedingt Ulisse aufführen. Der Concentus ist ja eigentlich schon 1954 mit Monteverdi aufgetreten. Paul Hindemith hat damals zu den Festwochen im Konzerthaus L’Orfeo gemacht, da habe ich nicht nur alle Instrumente beschafft, sondern auch die Spieler gestellt  ; das war das inoffizielle Debüt des Concentus musicus. Und dann wollten wir Ulisse im Theater an der Wien aufführen. Ich denke, daß Baumgartner das auch wollte, es gab auch Zusagen, aber man mußte trotzdem unheimlich dahinter sein. Er war ein guter Gesprächspartner, aber wenn man Nägel mit Köpfen machen will, muß man lang vorausplanen. Ich habe ihn sicher vier Jahre bearbeitet, bis es soweit war  ; Federik Mirdita (der Regisseur  ; Anm. d. Red.) hat mir dabei sehr geholfen. Das Ergebnis war sehr gut, auch wenn die Kritiker damals der Meinung waren, ich sollte doch lieber die Finger von der Oper lassen. Wir hatten das Bühnenbild, das wir wollten, und wir hatten die Besetzung, die wir wollten. Es war unheimlich aufregend für mich. Wir haben in unserer Wohnung geprobt, und unser jüngster Sohn Franzi hat beim Regal die Bälge gezogen  ; er war der einzige, der das gut gemacht hat, so daß die Luft ganz gleichmäßig austritt. Er konnte das ganze Stück auswendig und hat alle bei ihren Einsätzen immer gestupst. (…) Und daß es diese Kontinuität im Theater an der Wien gegeben hat, war natürlich toll. Das ist für mich auch ein Lichtblick für die Zukunft. Es ist das schönste Theater von allen, in denen ich je gearbeitet habe. Mit diesem Haus kann man mich immer locken. Aber jetzt ist die Situation halt umgekehrt. Jetzt müßte man mich vier Jahre berennen.«32

2.4.2 »ein split ter aus meiner erinnerung beginnt zu stechen« »1964 war es. Die Menschen haben wie jedes Jahr am Ende der Festwochen-Eröffnung am Rathausplatz den Donauwalzer getanzt. Frauen mit Männern. Männern mit Männern. Frauen mit Frauen. Kinder mit Erwachsenen und Kinder mit Kindern. Ich war siebzehn und drehte mich mit der Elfi Schlosser, wie ich es Freitag für Freitag im Anfängerkurs beim Elmayer lernen mußte. ›Willst du für heute und immer mein Rathausmann sein‹, hat sie plötzlich gefragt. Lange sah ich sie an  : das Gesicht mit dem Hauch von Asta Nielsen, der Bubikopffrisur, den Sommersprossen und dem unvorsichtigen Lachen, das den Blick auf kurze Mauszähne lenkte. Dann hab ich geantwortet  : ›Nein, Elfi. Ich muß zuerst aus mir einen Menschen nach meiner Façon machen.‹ – ›Du bestehst aus nichts als Flausen‹, hat sie gemeint, und wir drehten uns stumm bis zum Ende der Musik.«33

1964 wurde Egon Hilbert, der den Versuch gestartet hatte, im Rahmen der Wiener Festwochen Kritisches und Zeitgenössisches mit einzubinden, Staatsoperndirektor, und Ulrich Baumgartner folgte als Intendant nach. Er erweiterte das Festwochenprogramm als Fortsetzung eines ohnehin immer besser funktionierenden 308

wienkultur 1945–1995 Kulturbetriebes um den Anspruch der Vielfalt, des künstlerischen, durchaus nicht widerspruchsfreien Experimentes und aktueller, gegenwartsbezogener Strömungen bei Beibehaltung existierender Kulturtradition von hoher Qualität. Die Festwochen signalisierten somit eigenes Potenzial, initiativ tätig und Ansporn für künstlerische Alternativen im hauseigenen Betrieb Wiens auch außerhalb der Festwochenzeit zu sein.34 ein jubiläum Ein Jahr später verkündete der Festwochenbericht zwanzig Jahre nach der Befreiung Österreichs und zehn Jahre nach Abschluss des Staatsvertrages, die Festwochen unter dem politischen Leitgedanken »Kunst in Freiheit« zu präsentieren, mit dem auch »die künstlerischen Sendboten der vier Nationen, die mit Österreich durch Befreiung und Staatsvertrag historisch verbunden sind«, eingeladen waren.35 Großbritannien führte Werke von Händel, Benjamin Britten und die Londoner Symphonie von Haydn auf, der Concentus musicus unter Harnoncourt englische Musik von Purcell und Gibbons. Auf dem Programm standen die russischen Komponisten Tschaikowsky, Rachmaninoff, Skrjabin und Schostakowitsch, von den russischen Musikern wurde Joseph Haydn gespielt. Der Wiener Festwochenbericht 1965 resümierte, dass der Express am 3. Juni 1965 die russischen Beiträge durch Aussagen wie »unglaubliche Vitalität«, »musikantisches Temperament« und »gediegene Technik« würdigte und Neues Österreich meinte, »unter der inspirierten Leitung (…) spielen sie Musik ihrer Heimat mit starker seelischer Beteiligung, höchster Präzision und Begeisterung«.36 Der legendäre Ruf des gastierenden Bolschojballetts spiegelte sich im Kartenvorverkauf. »In der geheim blühenden Agiotage wurden Eintrittskarten bis zur Höhe von mehr als 1.000 Schilling gehandelt.«37 Dem Leitgedanken von der Freiheit der Kunst und dem Jubiläumsanlass entsprechend waren in das Programm der Wiener Sprechtheater Autoren der ehemaligen Alliierten aufgenommen worden. Das Theater an der Wien eröffnete mit einer Eigenproduktion von Nestroys Das Haus der Temperamente auf einer viergeteilten Bühne, um aus aktuellem Anlass die vier Nationen in das Spiel mit einzubeziehen. Le mariage de Figaro von Beaumarchais in einer Inszenierung des legendären JeanLouis Barrault wurde zu einem »wahren Triumph«, wohingegen sich das Publikum bei der Produktion von Die Nashörner von Ionesco zu interessiertem Verständnis aufraffen musste und das Monodrama Oh  ! Les beaux jours von Samuel Beckett vor allem wegen der darstellerischen Leistung von Madeleine Renaud würdigte. Die amerikanische Kunstleistung in Form von The Amen Corner von James Baldwin, das erstaunlicherweise »nichts mit dem Rassenproblem zu tun« hatte, obwohl es sich um 309

ulrike renner ein Volksstück aus dem »Negro-Milieu von Harlem« handelte, riss das Publikum zu Beifallsstürmen hin.38 Der Autor wurde im Rahmen einer stark besuchten Pressekonferenz als »geistig äußerst geschmeidiger und sympathischer Gesprächspartner« empfunden.39 Am Eröffnungsakt der Wiener Festwochen hatten der dänische Ministerpräsident Krag sowie die Bürgermeister von Washington, Moskau, London, Beirut, Athen, Luzern, Genua und VertreterInnen von westdeutschen Städten teilgenommen. Bürgermeister Jonas gedachte des friedensstiftenden und -erhaltenden Aspekts der Kunst, Unterrichtsminister Piffl-Perčević des kulturellen Wiederaufbaus seit 1945 und Bundeskanzler Klaus des Freiheitsgedankens der Kunst, der freilich in dem ethischen Grundgedanken der Bewahrung der Freiheit vor den »Niederungen der Zügellosigkeit« durch die Kunst betoniert war.40 Die Zeitung Neues Österreich und die Arbeiterzeitung attestierten am 16. Juni den Festwochen einen musikalisch geglückten Höhepunkt durch die österreichischen Genies Schönberg und Cerha. Doch gab es im gleichem Maße widersprechende Kritikerstimmen. Eine Zusammenstellung von Veranstaltungs- und Publikumszahlen ergab, dass insgesamt 1.049 Vorstellungen 1.014.354 BesucherInnen gehabt hatten, wobei bei 54 Ausstellungen in Museen, Galerien, Schauräumen und Bibliotheken beachtliche 398.764 und bei 471 Bezirksveranstaltungen inklusive 13 Ausstellungen 142.349 BesucherInnen gezählt worden waren. Im Vergleich dazu gab es bei 426 Theatervorstellungen 320.386 und bei 72 Konzerten 60.473 BesucherInnen. Das Theater an der Wien verzeichnete mit seinem Österreichbeitrag die meisten Besucherzahlen (Nestroy und Schönberg), dann folgten der Amerikabeitrag (Baldwin), der Russlandbeitrag (Bolschojtheater), der Englandbeitrag (Peter Grimes, Iolanthe) und als letztes der Frankreichbeitrag (Beaumarchais, Ionesco, Beckett). Die Direktion der Wiener Festwochen hatte laut ihrem Bericht besonderes Augenmerk auf die Programmqualität der Bezirksveranstaltungen gelegt. Die Bezirke hatten selbst, wie auch in den Vorjahren, eigene Veranstaltungen, Dichterlesungen, Kammermusik und Liederabende präsentiert. Stolz wurde seitens des Festwochenpressebüros vermerkt, dass 231 JournalistInnen aus 37 Ländern den Fortgang der Wiener Festwochen verfolgt hatten. Im Vergleich dazu waren es im Vorjahr nur 159 gewesen. Der Tourismus verzeichnete 120.766 BesucherInnen mit 364.748 Übernachtungen. Ein Programmvergleich der Wiener Festwochen der Nachkriegszeit legte die kulturellen und künstlerischen Hauptschienen bloß, die sich bei allen unterschiedlichen Jahresmottos als geeignet zeigten, um den hochgesteckten, hauptsächlich auf den künstlerischen Leistungen der Hochkultur bauenden Ansprüchen einer zerbombten und sich wieder konstituierenden und konsolidierenden Kultur- und Landeshauptstadt entgegenzukommen und vor allem ein künstlerisches wie auch in den Folgejah310

wienkultur 1945–1995 ren ökonomisch ausgerichtetes Steigerungspotenzial zu gewährleisten. Es ließ sich der Trend ablesen, oftmals auf die existierende, hohe musikalische, literarische und bildnerische Qualität von traditionellen Kunst- und Kulturproduktionen zu greifen, sie neu zu interpretieren oder sie anlassbezogen zu kreieren. Gleichfalls wurde nicht der Anspruch gescheut, mithilfe existierender Hochkultur den internationalen Vergleich mit anderen Kulturhauptstädten zu wagen. In den ersten Jahren fiel dieser Vergleich aufgrund eingeschränkter Bedingungen weh aus und bezog sein Selbstverständnis hauptsächlich aus kurz oder lang vergangener Hochkultur. Die repräsentativen Namen sind auszugsweise bereits genannt worden – Berg, Schönberg, Webern, Hindemith, von Einem, Mahler, Strauss, Strauß, Nestroy, Grillparzer, Karajan, Böhm, Harnoncourt, Sezession, Wiener Fin de Siècle, Haydn, Mozart, Wiener Symphoniker, Wiener Philharmoniker, um einige repräsentativ für eine unglaubliche Vielzahl zu nennen. Wohin man auch schaut, der Blick fällt auf große Namen. Worauf jedoch auch seitens der Kulturpolitik geachtet wurde, war der unterschiedlich realisierte Anspruch, ganz Wien in all seinen unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten in das Festival einzubinden und den verschiedenen Grätzeln die Möglichkeit zu kulturellen Eigenleistungen zu gewähren. Der Bildungsanspruch und mit ihm die Selbstdarstellung existierender Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit wurden nicht aufgegeben. Dass mit wachsendem wirtschaftlichem Aufschwung die Tendenz einherging, die Wiener Festwochen zu einem Gesamtereignis zu gestalten, das gemeinsam mit dem künstlerischen Angebot die Nachfrage nach touristisch ausgefeilten Eigenleistungen und differenzierten Bewerbungsmaßnahmen steigerte und rückkoppelnd zu Leistungssteigerung im Kunst- und Kulturbereich motivierte, war Folge eines immer feingliedriger werdenden Arbeitsprozesses und eines sich ändernden Kulturanspruches. Rolf Schwendter kritisierte die kulturelle Provinzialität Wiens in den 60er-Jahren durch Lähmung eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der Subkultur verfemte und radikal auszuschließen versuchte. Nicht zuletzt vertrat diese Haltung auch die Wiener Gruppe selbst. Der 1970 ernannte Bundeskanzler Bruno Kreisky sollte hingegen die Radikalität der Kulturpolitik einfordern. Es zeichnete sich die Tendenz eines widersprüchlichen und damit die Kulturpolitik dynamisierenden Prozesses ab. Und so schrieb 1972 der langjährige, diesen Widerspruch forcierende Festwochenintendant Ulrich Baumgartner im Programmvorwort von dem Paradox der Tatsache, dass die Festwochen ihr eigenes Antifestival organisierten und jenseits des übermäßig konventionalisierten Kulturbetriebes experimentierten.

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ulrike renner nachtstudio Ein Schwerpunk hieß Nachtstudio. Bereits seit 1966 wurde im Theater an der Wien ab 23 Uhr die heimische alternative Szene präsentiert  : Lesungen österreichischer AutorInnen wie zum Beispiel des jungen Thomas Bernhard, Jazz, Tanz und zeitgenössisches Musiktheater. Gastspiele erweiterten den künstlerischen Avantgardehorizont. arena /schweineh alle st. marx Ein weiterer Schwerpunkt war die Initiative Arena, 1970 im Museum des 20. Jahrhunderts, 1974 im Theater im Künstlerhaus und ab 1975 im aufgelassenen Auslandsschlachthof St. Marx (als Festwochenprogrammort Schweinehalle St. Marx genannt) stationiert, eine durchschlagende progressive Alternative jenseits des gutbürgerlichen Kulturanspruchs, jung, intellektuell, widersprüchlich. Schwerpunkt war zuerst die Wiener Produktion. Dieter Haspel, späterer Leiter des Ensembletheaters, inszenierte Stoned Vienna (Text von Armin Thurnher und Heinz R. Unger), die Popmusiker Ambros, Tauchen und Prokopetz initiierten mit ihrer Popoper Fäustling eine Popopernserie, die Politrockgruppe Schmetterlinge die Proletenpassion. Es gab in der Folge internationale Gastspiele des La Mama Theatre aus New York oder Grand Magic Circus von Jérôme Savary, weiters dem Schauspielhaus Bochum. Darüber hinaus war die Arena, als 1976 die Schließung beschlossen wurde, lange ein gut gehütetes Symbol für Besetzung des alternativen Wien und Ausdruck für den Wunsch eines autonom verwalteten Kulturbereiches. Jedoch der ursprüngliche Bereich der Arena wurde geschleift und die Arena selbst in das viel kleinere Gelände des Inlandsschlachthofes verlegt.41 Enthusiastisch bezeichnete Armin Thurnher die Ereignisse rund um die Arena als manifestierten kulturpolitischen Bruch mit der repräsentations- und restaurations­süchtigen Kulturpolitik der Nachkriegszeit und eine Leistung des Intendanten Baum­gartner.42 Angesichts dieses dynamischen Kulturprozesses – eine junge, österreichische Alternativszene, ausländische Avantgarde, junge, internationale Hochkultur, Präsen­tation vernachlässigter Kunstformen – kann gesagt werden, dass er trotz Einschränkungen das Entstehen innovativer Kunstproduktionen animierte und auch realisierte, wenn man an die vielen Erstaufführungen der verschiedenen Kunstsparten im Rahmen der Wiener Festwochen denkt und an jene durchaus widersprüchlich aufgenommenen Kunstproduktionen, die ihrerseits sich langsam in den Folgejahren zu vielgefeierten Kunststandards innerhalb und außerhalb ihres Entstehungsortes Wiener Festwochen weiterentwickelten und beinahe Garanten für künstlerische, international anerkannte Hochleistungen wurden. Der Anspruch war gestiegen. 312

wienkultur 1945–1995 2.4.3 linker drive Die Schwerpunkte des Programms 1976 waren beeindruckend symptomatisch für die kulturpolitisch hochrangigen Ansprüche der Wiener Festwochen. Vier Uraufführungen österreichischer Autoren und Musiker wurden geboten  : Die Berühmten von Thomas Bernhard im Theater an der Wien, Das kleine Gomorra von Heinz Karl Gruber und Richard Bletschacher, Die Proletenpassion von Heinz Unger, Musik von der Gruppe Die Schmetterlinge, Schabernack II von Alf Kraulitz und Eduard Neversal mit der Musik von Arthur Lauber. Anlässlich des Jubiläums 220 Jahre Burgtheater wurden international berühmte Regiestars wie Peter Brook, Jean-Louis Barrault und seine Compagnie, Jérôme Savary und sein Le Grand Magic Circus in der Arena aufgeführt. Claus Peymann und Terry Hands mit der Royal Shakespeare Company wurden eingeladen. Eine selten gespielte und nicht zu Recht missachtete opera seria nach italienisch-barockem Muster von Wolfgang Amadeus Mozart, La Clemenza di Tito mit Teresa Berganza und Werner Hollweg, wurde im Theater an der Wien auf Basis neuester musikhistorischer Mozartforschungen, landläufige Interpretationen widerlegend, als modernste seria, fernab von traditioneller Typengebundenheit behauptet und neuinszeniert. Die Martha Graham Dance Company, vielgefeierte Repräsentantin der amerikanischen Kunstszene, feierte am selben Ort ihr fünfzigjähriges Bestehen. Leonard Bernstein dirigierte die New Yorker Philharmoniker in der Wiener Stadthalle. Wie jedes Jahr erstellte die Gesellschaft der Musikfreunde ein Programm, 1976 unter dem Motto »19. Jahrhundert« stehend, das von den Wiener Symphonikern und Philharmonikern, den Leningrader Symphonikern und den Kammermusikvereinigungen der Wiener Philharmoniker bespielt wurde. Noch einmal wurde die Arena, künstlerisch progressive, politisch links orientierte Alternativszene, am Gelände des Schlachthofes St. Marx als Spielort eingesetzt. Kabarett galt als Schwerpunkt der Wiener Festwochen und wie jedes Jahr die Bespielung aller Wiener Bezirke. Selbstbewusst präsentierte jeder Bezirk sein eigenes Programm. In der Josefstadt, dem 8. Wiener Gemeindebezirk, gab es Jugendsingen, Lieder- und Hausmusik­ abende, alte Tänze österreichischer Meister, Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts, Festwochen-Straßentheater, italienische Barockmusik und einen Ausflug in den Jazz. Das Programm in Favoriten, dem 10. Bezirk, bot im eigenen Folder zum Beispiel Bezirksjugendsingen von Favoritner Volks-, Haupt- und MittelschülerInnen in der Arena und Schulhöfen, festliches Konzertieren der musikfreudigen Jugend in einem Favoritner Arbeiterheim, die Ausstellungen Das älteste Baudenkmal Favoritens in der Zentralsparkasse und die Topografia Romantica in der Volkshochschule, einen 313

ulrike renner Opernabend im Pensionistenheim Favorita, eine Autorenlesung für Kinder in der Städtischen Bücherei, einen Hausmusikabend im Trauungssaal des Standesamtes Favoriten und ein Festkonzert der Musikkapelle der Wiener Verkehrsbetriebe mit der Musiksektion des Bahnhofes Favoriten. Die Programmplanung reflektierte deutlich den Versuch der Kulturpolitik, durchaus vielschichtigen Ansprüchen gerecht zu werden, die von der Präsentation Wiens als Kulturzentrum und dessen Verankerung innerhalb der internationalen Kunst- und Kulturszene der Hoch- sowie der Alternativ- und Subkultur bis hin zu dem Anspruch reichten, das spezifisch Wienerische zu liefern, in dem sich die Stadt gut aufgehoben und wiedergegeben fühlte, als Hauptstadt Österreichs, internationale Metropole und gleichermaßen als eine traditionell sozialistisch orientierte Gemeinde mit all seinen Bezirken und Randzonen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Dass Kultur auch als Wirtschaftsfaktor angesehen und ausgebaut werden sollte und Wien sich in einem Wettbewerbsverhältnis zu anderen gleichbedeutenden Kulturstädten befand, wurde zunehmend mit den steigenden ökonomischen Verhältnissen und dem gelebten Wohlstand deutlich und gefordert. Dass dieser Umstand inmitten der Konzeptgestaltung, die einen Bogen vom Subversionspotenzial bis hin zur Friedenssicherungskapazität der Kunst schlagen wollte, der zuletzt laut ausgesprochene ist, machte ihn nicht weniger bedeutsam. proletenpassion Als vielbeachtetes, hausgemachtes, einen zweijährigen Arbeitsprozess erforderndes Festwochenprodukt galt die uraufgeführte, inzwischen zur Legende avancierte Proletenpassion, hauptsächlich von Heinz Rudolf Unger getextet und der Wiener Politrock-Band Schmetterlinge musikalisch umgesetzt. Zwei Bandmitglieder, Willi Resetarits und Georg, genannt »Schurli«, Hernstadt, vertonten den Text, der mit dem Blick auf die Geschichte von unten im Sinne marxistischer Geschichtsauffassung revolutionäre (Arbeiter-)Bewegungen von den Bauernkriegen nach der lutherischen Reformation bis hin zu den 1970ern der politischen Linken der internationalen Szene thematisierte. Inhaltlich integriert in den durch Quellenstudium fundierten und durch widersprüchliche Diskussionen belebten Arbeitsprozess waren Studenten- und Historikerarbeitsgruppen. Historische Originalzitate, satirisch überspitzte Texte wurden in kleine szenische, teils kabarettistische, teils ernsthafte oder an die ZuschauerInnen Appelle richtende Einlagen eingebaut. Die Lieder selbst waren kurz gehalten und dauerten etwa zwei Minuten. Die musikalische Gestaltung setzte sich aus Elementen populärer Musik der jeweiligen geschichtlich dargestellten Epochen, Folk und Rock, Klassik, Volks- und Weltmusik zusammen. 314

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Abb. 6: Schmetterlinge, »Proletenpassion« 1976

»Rebellisch« lautete im Wiener Festwochenprogrammheft das Manifest des BandKollektivs, das unterschiedlich von Klassik, Jazz und Rock herstammte und in seiner Funktion als Politrockgruppe eine eigene Form der künstlerischen Produktion des Kabarett- und Politrock mit beeinflusste und darin mentalitätsbildend wirkte  : »Wir wollen… Die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mit süßen Worten verklären, sondern sie begreifen helfen. Dabei vermeiden wir, uns in einsame Höhen unverstandener Geschwätzigkeit aufzuschwingen, um uns im exklusiven Kreise zu versichern, wie klug wir sind.«43

Weiters bewertet das Wiener Festwochenprogramm die Kooperation der Schmetterlinge mit dem österreichischen Autor so  : »In Zusammenarbeit mit Unger entstanden anspruchsvolle Texte, denen die plumpe politische Aufdringlichkeit lyrisch genommen wird. Da werden die gesellschaftlichen Verhältnisse thematisiert, die bürgerliche Moral karikiert, da wird die Ideologie der Sozialpartnerschaft entschleiert. Den Wölfen des »Friedens« werden die faulen Zähne gezogen und kleinbürgerliche Träumer aufgeschreckt. 315

ulrike renner Der Name des von ihnen gefundenen Stils, Madrigal-Rock, weist auf barocke Liedformen hin. Die Rock-Elemente verlieren durch bestechenden fünfstimmigen Satzgesang an Vulgarität und vermitteln eine musikalische Ästhetik, der man sich nur schwer entziehen kann. Die Arrangements verzichten bei allem musikalischen Gehalt auf überflüssige Effekte, die dazu verführen, an den Texten vorbeizuhören. Hintergründige Plaudereien, ironische Ausflüge in heimatliche Gefilde urtümlicher Volksmusik und verblüffende Pop-Einlagen machen den Auftritt zu einer vielschichtigen Einheit, der das Geheimnis des (noch) fehlenden internationalen Erfolges nicht zu lüften vermag.«44 Dieser Erfolg stellte sich spätestens ab dem Moment der Politisierung und Skandalisierung der Kunst der Schmetterlinge ein. Die Zeitschrift Rennbahnexpress kündigte im Dezember 1978 an  : »Erstmals Auftrittsverbot für Österreichs populärste und beste Polit-Rockgruppe, die Schmetterlinge, im eigenen Land.«45 Der Tiroler Landeshauptmannstellvertreter Salcher hatte aus politischen Erwägungen einige Tage vor der Volksabstimmung zum Atomkraftwerk Zwentendorf einen Auftritt der Musikgruppe in Innsbruck verboten. Der Auftritt wurde kurzerhand in einem kleinen Jugendklub improvisiert. Weiters resümierte der in seiner Haltung zwischen Bewunderung und Entsetzen zwiegespaltene Rennbahnexpress Dezember 1978 »In Deutschland haben die Schmetterlinge bereits ein de-facto-Auftrittsverbot vom Gewerkschaftsbund. Wenn dieses Beispiel bei uns Schule macht – gute Nacht«,46 wohingegen die Arbeiterzeitung vom 13. Dezember 1978 unverhohlenes Lob zollte  : »›Schmetterlinge‹, die Wiener Liedergruppe mit Politeinschlag, übten sich während ihrer vergangenen Deutschlandtournee ganz in Solidarität. Bei drei Konzerten im Ruhrgebiet spendeten sie jeweils 1.000 D-Mark ihrer Gage für den Unterstützungsfonds der streikenden Metallarbeiter.«47 Es folgten bis in die 1980er-Jahre Auftritte mit diesem Programm im deutschsprachigen Raum, wobei sich herausragende JournalistInnen, wie etwa Hilde Spiel, überaus wohlwollend zeigten. Die Festwochenproduktion hatte eine künstlerisch nachhaltige Wirkung, indem sie ähnlich gesinnte Musikgruppen des deutschen Sprachraumes beeinflusste, ihren durchaus klassenkämpferisch angelegten Bildungs- und Unterhaltungsauftrag gezielt bei Publikum und auch in einem erweiterten Rahmen bei gewerkschaftlicher Bildungsarbeit von Lehrlingen auslebte. Überdies war nach der Uraufführung der Proletenpassion bei den Wiener Festwochen ein eigenes Tonstudio, das Schmetter Sound Studio, eingerichtet worden, das den Schmetterlingen und auch anderen unkonventionellen Musikergruppen, um deren Unabhängigkeit von etablierter Unterhaltungsindustrie zu sichern, die Tonband- und Plattenaufnahme ermöglichte. Das wohl bekannteste Musikstück der Proletenpassion ist das Jalavalied  : 316

wienkultur 1945–1995 Von Sonn und Kessel schwarzgebrannt, und auch vom scharfen Wind, steht Jalava am Führerstand, wo Dampf und Flammen sind. Sein neuer Heizer ist dabei, der ihm das Feuer nährt, auf der Lokomotive zwei-neun-drei, die heut nach Russland fährt. Ein kleiner Mann von schmalem Bau, der werkt dort auf der Brücke, Ruß im Gesicht, das Haar ist grau, es war eine Perücke. Refrain  : Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du gegen den Wind  ? Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind, und weil wir weiter kamen, und weil die Welt sich dreht, und weil mein Heizer von Flammen und von Dampfkesseln was versteht. Sie dampfen ein in Beloostrow, wo Schocks von Offizieren die Züge auf dem Grenzbahnhof penibel kontrollieren. Sie prüfen jegliches Gesicht bei ihrer Inspizierung, doch sehen sie am Kessel nicht den Staatsfeind der Regierung. Jalava weiß, worum es geht, und langsam dampft vorbei am letzten Posten, der dort steht, die Lokomotive zwei-neun-drei. Refrain  : Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du gegen den Wind  ? Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind, und weil wir weiter kamen, und weil die Welt sich dreht, und weil mein Heizer von Flammen und von Dampfkesseln was versteht. Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa-a-a Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, hoi  ! hoi  ! hoi  ! Da saust die Grenzstation vorbei, die Birken stehen nackt, die Lokomotive zwei-neun-drei schnauft in erhöhtem Takt. Und Jalava lacht in den Wind, in den Oktoberregen. Heizer, wenn wir drüben sind, dann wird sich was bewegen. Jetzt schneidet der Oktoberwind die letzten Äpfel an, die an den kahlen Bäumen sind an der finnischen Eisenbahn. Refrain  : Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du gegen den Wind  ? 317

ulrike renner Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind, und weil die Fahrt in den Bahnhof hinter die Grenze führt, und Wladimir Iljitsch Uljanow, mein Heizer, die Flammen schürt. Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa-a-a Jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, jampa ja la la la la, hoi  ! hoi  ! hoi  !

2.4.4 tik-tak durch flic-flac Der nächste Intendant Gerhard Freund riskierte 1978 mit seinem Konzept eines streng thematisch strukturierten, mehrjährig orientierten Gesamtrahmens einer einfachen Mischung aus Mainstream und Traditionellem einen Schritt nach rückwärts. Jäh starb er. Der inzwischen eingesetzte Kulturstadtrat Helmut Zilk betrieb hingegen eine unkonventionelle Kulturpolitik, die mit dem Begriff Stadtkultur zahlreiche infrastrukturelle Maßnahmen initiierte und neue Kulturorganisationen entstehen ließ. Antikultur wurde eingemeindet.48 1980 änderte Zilk die Struktur der Festwochen durch ein beinahe sozialpartnerschaftlich organisiertes Programmdirektorium mit ihm als Vorsitzendem. Die deklarierten Höhepunkte der Wiener Festwochen 1982 waren das Festival der Clowns auf der Jesuitenwiese im Prater, ein Goethe-Symposion, eine Lesung von Goethes Faust in der Halle von Waagner-Biró, drei Musikevents und ein Tanz­ event mit Werken von Haydn, eine Ausstellung mit dem Thema »Paris 1960–1980«, die Bezirksfestwochen, die Alternativszene Vom anderen Theater und Flic-Flac, ein Festival der Heiterkeit von André Heller. Das Organigramm der Wiener Festwochen, Mitglied der Association Européenne des Festivals de Musique, war hochgradig, den arbeitsteiligen Anforderungen entsprechend, strukturiert und betraf die Administration, Bezirkskoordination, die Organisation vom Anderen Theater/ Von der anderen Musik und die technische Direktion. Der Präsident der Wiener Festwochen war der spätere Wiener Bürgermeister Dr. Helmut Zilk, Stadtrat für Kultur und Bürgerdienst. Dem Direktorium gehörten Generalintendant Gerd Bacher, Sir Rudolf Bing (N.Y.), Prof. Ulrich Baumgartner, Prof. Georg Eisler, Generalsekretär Robert Jungbluth, GS Dr. Hans Landesmann, Stadtrat Dr. Jörg Mauthe, GS Prof. Albert Moser, Gemeinderat Franz Mrkvicka, Christine Nöstlinger, Dr. Ursula Pasterk, Dir. HR Prof. Dr. Egon Seefehlner, Manès Sperber (Paris) und Stadtrat Dr. Zilk an.

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Abb. 7: »Flic-Flac« 1982

flic-flac 1982 wurde Flic-Flac als eines der hausgemachten Hauptereignisse der Wiener Festwochen, ein poetisches Varieté von André Heller, als zweite, revidierte Ausgabe aufgeführt. »Als Elfjähriger führte ich das bisher einzige Mal Tagebuch. Die erste Notiz lautete  : Unter allem, das ich bisher auf der Welt gesehen habe, war nichts so, wie ich es mir wünsche und wie es zu mir passt. Dieses Gefühl meiner Heimatlosigkeit innerhalb der äußeren Landschaften, meiner Asynchronität innerhalb der Bewegungen um mich und meiner Fremdheit innerhalb der Sentimentalitäten von Familie, Klasse und Religion, verlor ich damals lediglich für wenige, selige Augenblicke bei  : Mozarts Zauberflöte, Raimunds Gefesselte(r) Phantasie, Shakespeares Sommernachtstraum, dem Zirkus Rebernigg, Feigls Praterschau, dem Chinesischen Frühstückszimmer mit dem versenkbaren Tisch im Schloß Schönbrunn, dem Besuch der DonKosaken-Reiter am Sportplatz von St. Gilgen, der Triumphprozession der neugegossenen großen Stephansdomglocke Pummerin, Alice im Wunderland, Buster Keatons General,

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Harald Kreutzbergs Tänzen, den Wasserkünsten im Salzburger Park von Hellbrunn, dem Ronacher Varieté, und dem Absturz einer brennenden Propellermaschine am Kunstflugtag 1956 in Berchtesgaden. Die schönen Katastrophen, die Equilibristik, die Unwahrscheinlichkeitstheorien, die Zauberakademien und sogenannten Wahnsinnigen blieben mir auch bis heute selbstverständlicher und vertrauter als beispielsweise die liebende Fürsorge meiner Frau Mutter, die gepriesenen Freuden eines Spazierganges durch schneebedeckten Wald oder genüßliches Betrachten eines Fußballspiels. Man kann meine Erziehung keinesfalls beschuldigen, nicht alles Menschenmögliche unternommen zu haben, um mich auf den Weg des Allgemeinen und Unauffälligen zu zwingen. Jahre in strengsten Internaten, Wochen im Karzer, tagelanges Sprechverbot sollte mir die Hingabe an das Phantastische austreiben, und es war weniger die Gnade der Standhaftigkeit als die völlige Unfähigkeit, in einer anderen als meiner organischen Gegenwelt überleben zu können, die mich in der Verweigerung der Banalität beharrlich machte. Unter diesem Gesichtspunkt sind sämtliche meiner Ergebnisse, die gelungenen wie die gescheiterten, zu sehen, wobei es mich immer wieder amüsiert, wie häufig von Gegnern gerade meine gefestigten Ansichten als unglaubwürdig angegriffen werden. (Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich die Ordnungsrufer und Normenwächter das tatsächliche Vorhandensein von Offenbarungen, die ich als tiefste Ursache aller mich wahrhaft interessierenden Kunst weiß, nicht einmal vorzustellen imstande sind.) Das Varieté Flic-Flac ist die Realisation des zweiten Teils der möglichen Wunder, deren Beginn das Zirkusspektakel Roncalli im Jahre 1976 darstellte, und die in dem einstündigen Feuerwerksstück Maraviglia ehebaldigst ihren Abschluß finden soll. Die poetische Erneuerung dieser alten Massenpublikumskünste interessiert mich unter anderem wegen ihres hohen Gehalts an Irrationalem, an Traumnähe, an unverheimlichter Angst, an prachtvollen Geschmacklosigkeiten und bizarren Hysterien. Zirkus, Varieté und Feuerwerk sind in meiner Forderung Feste zu Ehren unserer Sinnlichkeit, erotische Wallfahrten zum Allerheiligsten der Phantasie.«49

Die Presse äußerte sich durchwegs enthusiastisch über die künstlerische Leistung von André Heller  : Wien wurde aufgrund des poetischen und triumphal vom Publikum aufgenommenen Varieté Weltstadtniveau zugesprochen, Flic-Flac als anspruchsvollstes, meisterlich präsentiertes Spektakel, Theaterzauber ersten Ranges, Ort der möglichen Wunder, Werk von Spitzenprofis, als explosive Paradoxie, Sieg des Phantastischen über die Realität, barockes Welttheater aus dem Kopf seines Erschaffers Heller, Show der absoluten Superlative, lediglich von Sigrid Löffler als größte Chuzpe der Festwochen bezeichnet. Karin Cerny hob zwar die organisatorische Leistung des Kulturpolitikers Zilk hervor, kritisierte jedoch den dominanten, weitgespannten Einfluss des Kulturstadt320

wienkultur 1945–1995 rates, dass wie in den 50er-Jahren Politik und Kunst zu nahe beieinander standen und unter dem Anspruch Zilks, Kultur für alle zu produzieren, letztendlich die Kultur retardiert, regionalisiert, ein Sammelsurium wurde und ihren internationalen Anspruch aufgab. Die Festwochen drohten wegen der zu beliebig ausgewählten wienerischen Alternativschiene und der zahlreichen Spektakelfestivals wie eben Flic-Flac, dem Festival der Clowns, aufgrund seines Programmmischmasch von Anti-akw-, Lehrlings­ theater bis hin zu Super-Acht-Filmern und einem die Stadt befahrenden Printbus zu einem Regionalereignis zu verkommen.50 Wechselte man jedoch die Perspektive, war die Tatsache mitzudenken, dass Wien in seiner Hauptstadtfunktion zum ersten Mal in der Zeit der Zweiten Republik durch Bundeskanzler Bruno Kreisky an internationaler Politik in einer vergleichsweise aktiven Rolle teilnahm. Wie groß musste das (kultur)politische Selbstbewusstsein gewesen sein, dass es das Risiko einging, sich nicht über international angekaufte Produktionen aus dem Ausland zu identifizieren, sondern über die Geste des selbstgemachten, international exportierten, lustvoll imaginierten und ebenso rezipierten Großspektakels, in dessen Sog viele kleine österreichische alternativ gedachte Produktionen die Möglichkeit bekamen, mit entdeckt zu werden. Der künstlerische Mehrwert war selbstproduziert, künstlerisches Experimentieren erlaubt, sein Scheitern gleichfalls. Wien leistete es sich, mitzuspielen. 1983 avancierte Helmut Zilk zum Unterrichtsminister, ein Jahr später zum Wiener Bürgermeister, und die Wiener Festwochen waren damit neu zu vergeben.

2.4.5 meine ganz persönliche künstlerische erfahrung mit dem anderen theater 1982 projektierten die Wiener Festwochen neue Schwerpunkte vom anderen theater (mai/juni 1982) , vom anderen klang (Oktober/November 1982) und vom anderen kino (geplant Jänner 1983). Die neu gesetzten Schwerpunkte lösten somit das »80er Haus – Wiener Festwochen alternativ« ab. Zum ersten Mal boten die Wiener Festwochen, wie es im Katalog Vom Anderen Theater hieß, dem Wiener Publikum auch eine Herbstsaison an (eine Initiative, die so nicht beibehalten wurde). Für den Veranstalter der Wiener Festwochen, der Wien Kultur, bot dieser Termin »die lang erwünschte Möglichkeit, mit dem anderen großen österreichischen zeitgenössischen Festival, dem ›steirischen herbst‹, produktiv zusammenzuarbeiten«.51 Der Wiener Festwochenpräsident und Stadtrat für Kultur und Bürgerdienst, Helmut Zilk, erklärte gesellschaftsbewusste Kulturpolitik zum Ziel. Zum einen sollten, resultierend aus dem Verständnis der Arbeiterkulturvereine aus dem 19. Jahrhun321

ulrike renner dert, kulturelle und künstlerische »Spitzenleistungen« möglichst allgemeinverständlich immer mehr Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden und »das Finden der Identität durch die kulturellen ›roots‹ erleichtern«.52 Zum anderen, beides voneinander nicht getrennt vorstellbar, sollte die Auseinandersetzung »mit den im Zeitgeist oder gegen den Zeitgeist entstehenden Ausdruckformen, mit der Vielfalt künstlerischen Schaffens in bekannten und neuen Disziplinen«, gefördert werden.53 Der tendenziell linksorientierte kulturpolitische Auftrag zeigte sich solidarisch und als »Mutmacher« für jene, deren Produkte »zeitgenössisches Schaffen« beinhalten oder die solches bewusst machen wollen. Obwohl der Kulturstadtrat aufrief, »Konfliktfähigkeit ist der erste Schritt zu einer emanzipierten Gesellschaft«, entschuldigte er sich vorwegnehmend für die Möglichkeit, dass nicht alle Kunst, die neue Wege beschreiten will, als Avantgarde schreitet, sondern »in die Sackgasse der ›Avant-Garage‹ mündet«.54 So wird für ein sich progressiv gebendes Kulturverständnis, das eine neue und alternative Wiener Festwochengestaltung anpeilt, um Verständnis bei den BesucherInnen geworben und im Vorfeld zum potenziellen Feld künstlerischen Scheiterns erklärt. Freilich steht das Zitat von der »Sackgasse der Avant-Garage« auf linken Beinen, hat es doch die alternative Zeitschrift Falter verfasst. Hätte die Zeitschrift Falter die Möglichkeit gehabt, sich zu einem Phänomen wie der Wiener Gruppe zur Zeit ihrer Entstehung zu äußern, wo noch nicht klar definiert vorlag, ob es sich um »Entartmänner« oder um durchaus ernstzunehmende, die Kunstszene erschütternde Künstler handelte, bleibt zu fragen  : Auf welche Seite hätte sich die Zeitschrift im Vorfeld, ohne vom Ausgang der zukünftigen Akzeptanz zu wissen, wohl geschlagen  ? Hoffentlich auf die richtige. Das Andere Theater im Rahmen der Wiener Festwochen 1982 sah eine breite Palette an bemerkenswerten internationalen und österreichischen VertreterInnen der Theater- und Kunstszene wie Eugenio Barba, P.P. Pasolini, Heiner Müller, Elfriede Gerstl, Dario Fo u. a. vor. Neben den großteils politisch linksorientierten oder progressiv eine alternative Kunst einfordernden KünstlerInnen mit internationalem Status wurde auch einigen jungen österreichischen NachwuchskünstlerInnen die Möglichkeit zur Aufführung gegeben. der kopf des vitus bering Ich hatte, als Studentin der theaterwissenschaftlichen Fakultät Wien, 1981 im Anschluss an eine bereits realisierte Performance des Textes kasperl am elektrischen stuhl in der Galerie Grita Insam ein Multimediaprojekt zum Text der kopf des vitus bering von Konrad Bayer entworfen und es beim Wiener Festwochenbüro für das kommende Jahr eingereicht. Konrad Bayer begegnete mir bereits zu Beginn meines theaterwissenschaftlichen Studiums als eine mysteriöse, beinahe legendäre Kunst322

wienkultur 1945–1995 figur und Insidertipp durch das von Gerhard Rühm herausgegebene Gesamtwerk, als Sonderangebot bei Donauland um 63 Schilling zu kaufen. Die Lektüre seiner Schreibversuche, ich bezeichnete sie als fragmentarische Extremzustände, bereitete mir Mühe und Beunruhigung. Ich konnte nicht umhin, mich mit ihm und seinem Werk künstlerisch (1981 eine Performance, 1982 ein Multimediaprojekt, 1983 ein Film mit Texten von Bayer) und theoretisch in der Dissertation »Das Inszenierte im Werk des Konrad Bayer. Des Avantgardekasperls ergötzliche Reise aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk in die Herzen der Damen mit gar schröcklichem End und zur Auflösung der Kunst gedacht  : echter und einziger Infant zur imaginierten Durchmessung des Himmelsraumes« (1988) – beides voneinander nicht getrennt vorstellbar – auseinanderzusetzen. In der Folge interviewte ich Künstler und Personen, die Konrad Bayer mehr oder weniger gut gekannt hatten. Er schien in jedem Fall eine Sonderposition eingenommen zu haben. Das Interesse eines Insiderpublikums an der Performance »kasperl am elektrischen stuhl« war beachtlich gewesen. Auch das Wiener Festwochenbüro zeigte sich an einer Konrad-Bayer-Erweckung interessiert. meine persönlichen erfahrungen Für das Jahr 1982 sah der Wiener Festwochenbetrieb einen künstlerischen Bereich vor, der mit der begriffserweiternden Bezeichnung »Anderes Theater« in gegenseitiger Unterstützung seitens der dafür vorgesehenen Theater und ihren Studios Thea­ terexperimente auszustellen bereit war, die einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Der Vertrag mit den Wiener Festwochen, der nach einem kommissionellen Entscheid geschlossen wurde – einige österreichische Kleingruppen waren nach Einreichung von Inszenierungsvorschlägen als unterstützungswürdig betrachtet worden –, finanzierte im Falle von der kopf des vitus bering eine Aufführung, die im vt-Studio an den Tagen 16., 17., 18. Mai 1982 stattfinden sollte. Das geforderte Bühnenbild wurde in den Werkstätten des Volkstheaters neu gebaut, sowie sämtliche Requisiten aus dem Fundus zur Verfügung gestellt. Zwei Wochen lang konnte im Messepalast (größtenteils sogar mit dem fertiggestellten Bühnenkäfig) geprobt werden, drei Tage vor der Erstaufführung verlegten wir die Beleuchtungs- und Regieproben in das vt-Studio. Nebst theoretischen Überlegungen, die bereits bei der Aufführung »kasperl am elektrischen stuhl« eingesetzt hatten, wurde ein vorläufiges Ablaufskonzept erstellt, das schriftlich und in Skizzen die Bewegungsabläufe der vier im Käfig/Fernsehapparat befindlichen Personen, die Handhabung der in Bewegung gebrachten Gegenstände als auch die Lichtkonstellationen vorschlug. Dieses Bewegungsprotokoll wurde in erweiternder Zusammenarbeit mit den an der Aufführung Beteiligten überprüft, korrigiert und umgeändert. 323

ulrike renner Bei diesem vorläufigen Stützpunkt angelangt, setzte ein sich vielfältig gestaltender Prozess ein  : Die Textstellen, die durch das Tonband vermittelt werden sollten, die Darstellung des Vitus Bering ausgenommen, wurden ausgewählt und ihre stimmlich und grammatisch verfremdete Interpretation unter Miteinbeziehung der technischen Aufnahmemöglichkeiten ausprobiert. Am 11. 4. 1982 lässt sich nachlesen  : »Das Konzept ist vorläufig fertig, eigentlich sehr realistisch und bedacht. Jetzt geht es um die Ausstattung, d. h. Kontraste setzen. Die Beziehung des scheinbar Normalen zum scheinbar Anormalen, das Sichtbarmachen der Relationen. Die verkehrte Welt gibt sich natürlich und frei, der Echte unter ihnen verhält sich wie ein verstümmelter Schauspieler.«55

2.4.6 der internationale standar d Eine Frau sollte die Arbeit an den Wiener Festwochen fortsetzen. Ursula Pasterk, seit 1979 kulturpolitische Beraterin von Helmut Zilk und 1985 Festwochenintendantin, baute zielorientiert und erfolgreich auf dem Hauptaspekt der Internationalisierung der Kunst auf. Wichtige Regisseure wie George Tabori und Johann Kresnik wurden nach Wien geholt. big beat big motion Neue Räume entstanden  : der skandalisierte Kunsthallencontainer am Karlsplatz, der Messepalast, gleichermaßen Ort für internationale Stars und junge engagierte Kunst, so 1987 das Popfestival Big Beat, 1989 das experimentelle Theater Big Motion. Allerdings wurde die neue Intendantin am 9. Dezember 1987 Kulturstadträtin. In dieser Funktion und damit gleichzeitig zur Präsidentin der Wiener Festwochen bestellt, sollte sie eine Intendanz einsetzen, was sie erst, bis dahin gleichzeitig als geschäftsführende Intendantin, Präsidentin und Kulturstadträtin tätig, nach heftiger Kritik 1991 realisierte. Klaus Bachler, seit 1987 künstlerischer Direktor am SchillerTheater, und eben ab 1991 neuer Intendant, setzte den mit Pasterk begonnenen und in aller Konsequenz beschrittenen Weg der Internationalisierung fort  : Ariane Mnouchkine mit ihrem bereits als legendär zu bezeichnenden Le Théâtre du Soleil, Patrice Chéreau, bespielten Wien, um nur zwei zu nennen. Klaus Bachler musste sich, wie auch seine Vorgängerin, nun allerdings den Vorwurf gefallen lassen, inwieweit sich Wien noch mit eigener künstlerischer und kultureller Identität, mit seiner 324

wienkultur 1945–1995 eigenen Alternativszene innerhalb der Festwochen vertreten sah oder im Rahmen internationaler Kunststandards zu einem austauschbaren Modell mutiert war. Auf der einen Seite stand die Kritik der Erfolglosigkeit der Wienszene zur Diskussion, die verständlicherweise am beträchtlichen Budget und der internationalen Aufmerksamkeit der Wiener Festwochen partizipieren wollte. Andrerseits wurde moniert, warum die Festwochen als Platzhalter für österreichische Kunstproduktionen herhalten mussten, die das Jahr über unbeachtet geblieben waren. Bereits 1987 war im Auftrag von Ursula Pasterk das Festival Heftiger Herbst organisiert worden, das im Zeitraum von mehreren Monaten die Outputs der freien Gruppen Wiens präsentierte.56 Die Kritik der Alternativszene, dass es sich bei diesem Auftrag um eine Alibihandlung gehandelt hatte, lag nahe, zumal die heimische Szene auch in Hinkunft bei den Festwochen nur mit exemplarisch erfolgversprechenden Kunstproduktionen vertreten war, was damit begründet wurde, dass viele KünstlerInnen der Alternativszene Subventionen, in manchen Fällen fixe Aufführungsstätten bekommen hatten. auseinandersetzung mit der gegenwart/neubewertung der tr a dition 1991 war ein Jahr, das mehrere Jubiläumsangebote beinhaltete. Ursula Pasterk, Kulturstadträtin und Präsidentin der Wiener Festwochen, erinnerte sich in einem wahrhaft elaborierten Beitrag über die Anliegen und Schwerpunkte des Kulturfestivals vierzig Jahre später an die ursprüngliche Intention, von Wien die kulturelle Isolation angesichts des »Eisernen Vorhangs« abzuwenden und dies auch nachhaltig geschafft zu haben. Der programmatische Kontrapunkt zwischen »Auseinandersetzung mit der Gegenwart« und »Neubewertung der Tradition« durch zeitgemäße Interpretationen von Weltrang blieb Pasterk ein Anliegen, gleich wie die Integration von Schauplätzen und Kulturschaffenden Wiens. Das »Fest um Mozart«, anlässlich seines 200. Todestages als Auftakt und als Fortsetzung des 1989 eröffneten Mozartzyklus geplant, wurde von den drei Opern Le nozze di Figaro (inszeniert von dem Briten Jonathan Miller), Don Giovanni (dirigiert von Claudio Abbado und inszeniert von Luc Bondy, einem späteren Intendanten der Wiener Festwochen) und Die Zauberflöte (inszeniert von Achim Freyer) begleitet.57 jugendstiltheater Kontrastreich zu diesen Aufführungen von internationalem Rang stand das verrückteste Opernhaus Wiens, das 1989 gegründete Ensemble Jugendstiltheater unter der Leitung von Olivier Tambosi und seine am Kampfverhalten zwischen Mann und Frau ausgerichtete Interpretation der Zauberflöte, dessen hoch gesellschaftskriti325

ulrike renner sches Anliegen in der Demontage 200 Jahre alter Klischees lag. Gleichfalls im Theater am Steinhof wurden der von den Engländern Tony Britten und Nick Broadhurst in die 60er-Jahre transferierte Überraschungshit des Figaro und der im Yuppiemilieu angesiedelte Don Giovanni präsentiert. neue heimaten – neue fremde An den Schwerpunkt des Vorjahres, der mit dem Thema »Offene Grenzen« die Migration der Nachbarländer reflektierte, schloss das Thema »Neue Heimaten – Neue Fremde« an. Konfrontiert mit dem Demokratisierungsprozess der östlich gelegenen Nachbarländer und ihrer europäischen Perspektive sowie im Hinblick auf den eigenen, abzusehenden österreichischen eu-Beitritt wurde der Blick in Richtung international ausgerichteter politischer Prozesse geworfen  : »Um den langen Prozeß der geographischen und sozialen Beheimatung fremder Menschen in Österreich zu beschleunigen und zu erleichtern, müssen Kommunikationsformen der kulturellen Annäherung geschaffen werden. Der Mensch, der sich selbst entfremdet ist, der sich häufig ein Leben lang selber fremd bleibt und danach trachtet, in einer vertrauenerweckenden Umgebung doch eine neue Heimat zu finden  : dieser Mensch steht im Zentrum bei der Auswahl der Aufführungen zu diesem Themenschwerpunkt.«58 In Beziehung zu diesem Konflikt der Heimatlosigkeit, der sozialen Exklusion und Isolation standen das Spätwerk Der jüngste Tag des österreichischen Schriftstellers Ödön von Horváth, eine Koproduktion mit dem Kölner Schauspiel in einer Inszenierung von Günter Krämer, und der neue Fremde Amphitryon von Heinrich von Kleist, inszeniert von Klaus Michael Grüber von der Schaubühne Berlin. Im Messepalast wurden zu diesem Thema das musikdramatische Werk über die Entführung eines Passagiers auf dem Kreuzfahrtschiff Achille Lauro durch Terroristen The Death of Klinghoffer (John Adams), inszeniert von Peter Sellars, und La Tempête (William Shakespeare) in der Regie von Peter Brook, dargestellt von seiner interkulturellen Theatergruppe, aufgeführt. Weiters präsentiert wurden Penthesilea (Heinrich von Kleist) von Wolfgang Engel und dem Dresdner Staatsschauspiel, Kaspar (Peter Handke) von Roberto Ciuli und seinem Mülheimer Theater an der Ruhr, Das trunkene Schiff (Paul Zech) von Frank Castorf inszeniert und aufgeführt. »Vier Theaterabende – eine Koproduktion und drei Eigenproduktionen – sowie ein Symposion präsentiert die Reihe ›Zeit/Schnitte‹ im heurigen Jahr. Zwei wichtige österreichische Autorinnen akzentuieren mit ihren Texten entscheidend das Projekt  : Elfriede Jelinek am Anfang und Friederike Mayröcker als Abschluß. Der Versuch des Vorjahrs wird damit fortgesetzt, Literatur und Theater so in Verbindung zu setzen, daß Autor und Text den

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Vorrang und somit der literarische Anspruch die Dominanz über das Bühnenmedium beanspruchen können.«59

Ein Work-in-Progress zwischen New York City und Wien, die Skinshow, verarbeitete den kleinbürgerlich illusionistischen Heimatbegriff und gliederte sich gleichfalls in den thematischen Schwerpunkt ein. Die internationale Großausstellung Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität, betreut von den Kuratoren Peter Weibel und Wolfgang Drechsler, präsentierte die radikale, durch die technische Globalisierung hervorgerufene Entwicklung durch die Entfernung des Gegenstandes aus dem Bild in der Malerei seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Vorwort des Festwochenkatalogs hieß es seitens der Kulturstadträtin  : »Regisseure, die von der bildenden Kunst herkommen, sind heute die radikalsten Infragesteller des zeitgenössischen Theaters. Ihre Theaterarbeiten sind Herausforderung und Abrechnung gleichermaßen, sie sind – möglicherweise – der gültigste szenische Kommentar zur Gegenwart.«60 In Beziehung zur belgischen Theateravantgarde setzte sie Jan Fabre, der mit drei Premieren vertreten war, die Wooster Group mit Brace Up  !, basierend auf einer radikalen Übersetzung von Tschechows Drei Schwestern, Jan Lauwers und seine Need Company und die schwedische Gruppe Remote Control Prod. »Damit empfehlen sich Ihnen die Wiener Festwochen als Begegnungsort internationaler Kunstströmungen, als Vergnügen und Nachdenklichkeit provozierender Schnittpunkt verschiedener Zeitachsen, die neuerdings, durch viele geöffnete Grenzen mehr, auch mehr denn je durch Ungleichzeitigkeiten bestimmt sind. Und was gäbe es Sinnvolleres zur Messung und zum wägenden Ausgleich von Ungleichzeitigkeiten als – Kunst  ?«61 innovation und impuls 1993 zementierte Bürgermeister Dr. Helmut Zilk den »Rang der Wiener Festwochen im internationalen Festivalgeschehen« ein und behauptete Wiens Stellung als »europäische Metropole« in traditionellem, aktuellem und zukunftsorientiertem Sinn mit Blick auf den eu-Beitritt Österreichs.62 Der Innovations- und Impulscharakter für die Wien- und Kulturszene, die Wiener Bevölkerung insgesamt, wurden hervorgehoben und als ein Gradmesser der Offenheit für fremde Kulturen ausgestellt. Diesen Tenor einer kulturellen Grenzöffnung unterstützend und klare Grenzen gegenüber Borniertheit und Intoleranz ziehend, realisierte Kulturstadträtin Pasterk durch ihre konkret politische, oszillierende Gedankenwelt. »Mit der Bewegung in der Geschichte kehren auch alte Vorurteile und Spukgestalten nicht einer Post-, sondern einer Vormoderne wieder, die man schon 327

ulrike renner lange überwunden geglaubt hat. Das ist der Kontext der Kunst heute, und das ist der ›Zeitschnitt‹, den auch diese Festwochen mit den Mitteln der Kunst bearbeiten werden. Provokant und mit dem Mut zu jenem Risiko, das die Kunst der Gegenwart für diese Gegenwart mehr als ›Einschaltquote‹ und Umwegrentabilitäten rentabel macht. Durch diese oft kompromißlose Einstellung sind von den Wiener Festwochen immer wieder dauerhafte Impulse ausgegangen  : Für die Künstler der Stadt, die mit den Festwochen ein Forum der internationalen Präsentation und Diskussion gewonnen haben und als Dynamo für die experimentelle Erschließung neuer Räume und Orte für die Kunst. (…) Die Kunsthalle Wien vereinigt nicht zuletzt in einer Art kostensparendem Recyclingverfahren architektonische Elemente früherer Festwochenausstellungen und ist heuer erstmals Schauplatz eines Festwochenereignisses von europäischer Dimension.«63 Gemeint war die Veranstaltung Der zerbrochene Spiegel. Die Bezirkswochen unterstützten den multikulturellen und multiethnischen Auftrag durch »kurdische Märchenerzähler, orientalische Tänzer, arabische Musiker, Jongleure, tschechische, böhmische, slowakische ›Commedia dell’arte-Gruppen‹, das Gemeindehoftheater mit Didi Macher, Erni Mangold, der Wiener Tschuschenkapelle durch eine Commedia und österreichische Erstaufführung Herz und Leber, Hund und Schwein«.64 Auch 1994 waren die Wiener Festwochen, ihrem Bürgermeister entsprechend, ein europäisches Festival und als organisch integrierter Bestandteil des ganzjährig dichten Wiener Kulturlebens von innovativer Bedeutung. Zum ersten Mal war die Donauinsel als Festspielort mit einem spektakulären Pferdetheater mit einbezogen. Kulturstadträtin Pasterk warnte vor der ästhetischen Bedrohung durch die Werbeindustrie, »die auf Corporate Identity pocht und den Diskurs auf das Niveau des Slogans herunterzuholen versucht«.65 Der Kunst wurde die Aufgabe übertragen, Ort zu sein »des gedanklichen Austausches und der Meinungsbildung, der sich vulgären Zumutungen eines beschleunigten Warenumschlages entzieht«.66 Kunst war Hoffnungsträger und zugleich auch eine Art exklusiv gebliebener Raum, der es sich leisten sollte, »seismographisch auf mentale Strömungen und Befindlichkeiten zu reagieren, über die kulturelle Spiegelung politische und gesellschaftliche Entwicklungen der Zeit zu erfassen«.67 1995  : jubiläum, eu-beitrit t, forum für konstruktive dissonanzen 1995, im Jahr des fünfzigjährigen Gedenkens an die Beendigung des Krieges und wiedererlangte Freiheiten und, ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, im Jahr des Beitrittes Österreichs zur eu, verwies Intendant Klaus Bachler in entsprechender Nachfolge seiner Vorgängerin auf die aktuelle, diversifizierende Rolle der Wiener 328

wienkultur 1945–1995 Festwochen. Er erinnerte an ihre Identität stiftende Wirkung, ihre kulturelle, ständig infrage gestellte Beweglichkeit als Reibestein der österreichischen Künstlerschaft durch internationale Begegnung, »klein, beweglich und wach geblieben«.68 Er warnte vor dem aktuellen Ungeist der »Demagogen«, den Schatten der Vergangenheit und verwies damit indirekt auf populistisch geschürte Ausländerfeindlichkeit. »50 Jahre danach, da der Schatten der Vergangenheit beängstigend größer, die Demagogen dreister, Materialisten und Technokraten hybrider werden, ist es gut, sich dieser Anfänge zu entsinnen, sich zu erinnern und zu fragen, wo uns diese 50 Jahre hingeführt haben. Dieses Programm hält keinen Gedenktag, sondern ist der Versuch einer Standortbestimmung mit den Möglichkeiten des Theaters, ist Ausdruck unserer Haltung zur Jetztzeit. Es bedarf mehr des geistigen Umweltschutzes als des Entertainments, es bedarf mehr der Wahrheit als des Glamours, es bedarf mehr der Liebe als der Verführung.«69 Auch Bürgermeister Häupl beschwor, trotz der primär innovativ ausgerichteten Zielformulierung der Festwochen, Gradmesser der Offenheit fremden Kulturen gegenüber zu sein, den Geist der Erinnerung, »mitten in einem Gedenkjahr« zu erwecken. Er sprach sich »für die kulturelle Durchflutung der ganzen Stadt, für die Einbeziehung aller WienerInnen in das kulturelle Geschehen« aus.70 Politisch eindeutiger und pointiert reflektiert war der Ton der Kulturstadträtin, die über ein Zitat von Botho Strauß »liberal-libertäre Selbstbezogenheit« und damit verführenden antidemokratischen Populismus kritisierte  : »Mit klammheimlicher Freude erklärt man das Projekt der Aufklärung als gescheitert und denunziert die Ideale von Freiheit und Gleichheit als eine die Heilsgeschichte parodierende Phantasie. Noch ist dieser Diskurs nicht mehrheitsfähig, doch er spricht immer mehr Leute an, die – gelangweilt von den komplexen Entscheidungsstrukturen der Demokratie – nach einfachen, durchschlagenden kräftigen Lösungen verlangen. Doch solche Lösungen sind schlechterdings nicht zu haben  : Wer offen Institutionen, Korporationen und Gremien eines entwickelten Gemeinwesens auf dem Altar des Irrationalismus opfern will, läuft Gefahr, in ein vorpolitisches Stadium der Opfer- und Entbehrungskulte zurück(zu)fallen.«71 Die Wiener Festwochen, laut Ursula Pasterk das »führende Wiener Kulturfestival«, repräsentierten nicht den Hort der eitlen Harmonie, sondern ein »Forum für konstruktive Dissonanzen«. Die Wiener Kulturszene wurde aufgefordert, angesichts des internationalen Qualitätsaufgebots die eigenen künstlerischen Maßstäbe zu messen und zu überprüfen. Auch die einheimische Kunstszene sollte jenseits von allzu simplen Tugendthesen sich dem »Spannungsfeld der gesellschaftlichen Konfliktzonen im vollen Umfang« stellen. Kunst als komplexe Aussage eines vielgestaltigen Prozesses sollte vor allem die Irritation als gestalterisches Prinzip in ihren Produktionen zulassen. »Wenn der sogenannte ›zivilisierte Mitbürger‹ am Kunstwerk erlebt, daß das existentielle Sicherheitsnetz reißen und das Haus der 329

ulrike renner Utopien brennen kann, dann schult er seine gesellschaftspolitische Wachsamkeit und intellektuelle Widerstandskraft.«72 Das waren unglaublich deutliche Worte, denen ebenso deutliche kulturelle Taten folgten. A Survivor from Warsaw op. 46 von Arnold Schönberg griff die politische Botschaft als Brückenschlag zwischen selbst erlebter Vergangenheit und aktuell abzuwehrender Gefahr vor Wiederholungstäterschaft auf, die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven kündete vom wohl edelsten Postulat des Kunstvermögens, von der großen Freiheit. An Bert Brecht, den angefeindeten Künstler der Nachkriegszeit, die in derselben Zeit mit Unverstand rezipierten Autoren Jean Genet und Eugène Ionesco, wurde erinnert, an Kriegszerstörung Hiroshima – The seven Streams of the River Ota, an Erinnerungsszenarios La ville parjure ou Le réveil des Érinyes, die Besatzungsländer, an die Unheimlichkeit des vielgestaltigen und nicht immer glatt zu verstehenden Lebens HOplla, wir leben, A Story of Infamy, Hell Bent und den Völkerfreundschaftsmambo. Die Zeit/Schnitte 1995 erinnerten sich deutlich ausgesprochen an die lange unangesprochene Zeit mit dem Symposium Der Nationalsozialismus als politische Religion, Lesungen wie Im Krieg sind alle Väter Soldaten und die Ausstellung Das grausame Spiel – Surrealismus in Spanien 1924–1939. Die Bezirksfestwochen mit ihrem Motto hoffentlich standen als höchstgegriffenes Mahnmal der Möglichkeit in der Kunst, durch »Bewusstseinsbildung, Kommunikationsförderung und Gemeinschaftsorientierung« Friedenssicherung für die Zukunft zu gewährleisten und Weltkrieg zu verhindern. Projekte über Jüdische Kultur, Zigeunerkultur, mit Künstlern aus Mexiko (als dem einzigen Land, das gegen die Annexion Österreichs protestiert hatte) wurden präsentiert und das Fo-Theater unter der Leitung von Didi Macher in den Gemeindehöfen durch ein antifaschistisches Stück des Wiener Literaturrevolutionärs Jura Soyfer fortgeführt. Aufführungsstätten dafür waren das Gasthaus Schwindl, das Volksheim in Stammersdorf, die Firmen Unilever und Waagner-Biró, der Theseustempel im Volksgarten und Gemeindewohnbauten wie der Karl-Seitz-Hof, der Karl-Marx-Hof, der Gemeindehof im 22. Bezirk. Das Wiener Festwochenprogramm war wirksames Resultat einer mehr als gut vorgelebten Kulturpolitik. Avantgarde wird eingemeindet. Dies ist Teil eines dynamischen Kulturprozesses und kein spezifisch österreichisches oder Wiener Schicksal. Die kulturellen Schocks, die kulturell und künstlerisch in Wien seit der Nachkriegszeit stattgefunden haben, sind verständlich geworden oder zumindest reizfrei. Die großen »Störenfriede« Österreichs sind auf dem internationalen Kunstparkett zu Hause und geben Anlass zu theoretischer Aufarbeitung. Inwieweit heute in Wien noch von Kunstavantgarde gesprochen werden darf, könnte Anlass zu weiterer Auseinandersetzung sein. Wenn man sich darüber geeinigt hat, dass Avantgarde Grenzverletzung und -übertretung, durch künstlerische Akte bewusstseinsbildende, revolutionierende Veränderungen 330

wienkultur 1945–1995 der Gesellschaft anstrebt, dann setzt diese Tatsache voraus, dass gesellschaftliche, traditionsorientierte Territorien einen starken Abgrenzungsbedarf haben, sich verletzbar fühlen, gleichzeitig in großem Maße durch Widerspruch ansprechbar sind und mit Gegenmaßnahmen wie Unverstand, Inakzeptanz, Ablehnung, Drohung bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen reagieren. Die immer wieder aufgestellte Behauptung, Hochkultur besäße im Gegensatz zur Avantgarde kein Sprengpotenzial, sehe ich als zu kurz gegriffen. Zeigen doch die jeweiligen zeitbezogenen, unterschiedlich gewachsenen Intentionen der Wiener Festwochen, wie viel Kraft durch bewusstes Hinterfragen, künstlerische Neubewertung und Neugestaltung den Produktionen einer Alternativ- als auch Hochkultur innewohnen kann. Der Anspruch der aktuellen Wiener Festwochenprogrammatik besagte, dass das breit gefächerte, hoch qualifizierte Spielangebot der Wiener Festwochen ein Kunstideenreservoir für die Wiener KünstlerInnen zu sein hatte, wo die gesamte Bandbreite des gegenwärtigen, internationalen Kunstmarktes sowie der internationalen Alternativkunst nahegebracht wurde. Im weitesten Sinn erfüllte damit das Festwochenprogramm durchaus einen ausgeweiteten Bildungsanspruch, der Publikum wie KünstlerInnen mit einschloss.

III  : Was k ann die Kunst können  ? Ein Nachklang Ohne radikale, alternative, ästhetische und nicht ästhetische Kunst, ohne Schönheit und ihr Gegenteil, ohne den Überfluss der Kunst würde des Menschen Bewusstsein verarmen und also seine Fähigkeit, Prozesse zu erfinden und zu gestalten, retardieren, ja vielleicht sogar stagnieren. Der Überfluss eines Kunstobjektes könnte darin bestehen, keinen Anspruch auf eine wie auch immer geartete Ausgerichtetheit, auf einen Zweck hin zu beanspruchen. In vollkommener Anti/Kunst existierend, als radikal subjektiv formuliertes Postulat, als progressive Kunsttheorie, sich selbst und also diesem Anspruch genügend, könnte als Überfluss gelten. Der künstlerische Überfluss könnte Extremfall sein, Rand- und Grenzsituation, Forschungs- und Produktionslage für neues Wissen, eine neue Kunst, neue Schönheit. Aus dem Potenzial der Kreation würde die Kreation selbst, ungebunden und frei als autonomes Ergebnis, von sich sprechen. Im künstlerischen Produkt verwirklichte sich die Optik des Überflusses am sinnfälligsten. Die wiederholte Forderung von KünstlerInnen, der Kunst eine Existenz um ihrer selbst willen zuzugestehen, der Überflusssituation gesellschaftlichen Status zuzuerkennen, hatte oftmals den programmatischen Hintergrund der Kunstproduk331

ulrike renner tion dargestellt. Gerade dort, wo der Kunstmarkt sich einer unmittelbar sozialen, einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entzogen hatte, Kunst in gesellschaftliche Prozesse, ausgenommen in repräsentative, zu integrieren, wurde von KünstlerInnen radikal der Selbstwert der Kunstproduktion und seines Produktionsprozesses, seiner Methoden und Produktionsverfahren behauptet. Andererseits schien es unter den Menschen und ihrer Kulturproduktivität eine eigenartige Verbundenheit zu geben, sodass sie zur selben Zeit etwas Gleiches oder zumindest Ähnliches produzierten und lebten. Es schien also ein kollektives Bewusstsein zu existieren, das Menschen über Kontinente hinweg weltweit und weltumspannend miteinander verband und ähnliche Sachen erfinden ließ. Das hieß, dass die Menschen ein gemeinsames, sich weiter entwickelndes Bewusstsein verband, an dem alle mehr oder weniger mitei­nander teilhatten, das sie einte. Es existierte ein kollektives Bewusstsein, aufgrund dessen zum Beispiel im kulturellen Bereich ähnliche Objekte und Formen geschaffen, ähnliche Rituale praktiziert wurden, andrerseits schienen Gesellschaften unterschiedlichsten Niveaus gleichzeitig nebeneinander zu existieren. Die Jetztwelt ist als eine Zeit anzusehen, die von überaus komplexen Mechanismen, durch eine gegenseitige Durchdringung, einen Austausch und eine Ergänzung völlig unterschiedlicher Erfahrungswelten geprägt ist. Der Austausch, die ständig bewusst oder unbewusst anvisierte Integration existierender Lebens- und Kulturwelten aller Kontinente ist ein bereits gelebtes Faktum, das sich im Bewusstsein vieler Gesellschaftsschichten angesiedelt hat. Es gibt ein kollektives Gedächtnis ganz bestimmter Regionen, Länder, Dörfer, Städte, das über Sprache, Kulturlandschaften, Kunstprodukte sprechend, schreibend, kommunizierend, lebend, weitergegeben wird und für bestimmte Selbstgefühle von kollektiven Einheiten verantwortlich ist. Das sind wir. Wir beziehen unsere Identität, unsere Selbstwertgefühle, auch Ab- und Ausgrenzungsmechanismen sind inkludiert, über Zugehörigkeiten dieses gemeinsamen Gedächtnisses. Aber gleichzeitig existieren Lebenswirklichkeiten, die von solchen kollektiven Gedächtnissen formuliert wurden und werden, in einem dynamischen Austausch. Sie bewegen sich und Anderes. Sie erweitern sich, begegnen existierenden traditionellen Kollektivwelten, tauschen sich aus. Sie verändern sich durch Integration neuartiger Elemente. Fremdes wird zu Eigenem. Kunst und Kultur können das.

A nmerkungen 1 Hannes Androsch und Helmut H. Haschek (Hg.), Österreich. Geschichte und Gegenwart, Wien 1987. 2 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, N.Y.C., November 1945, DÖW Bibliothek 3002, Wien.

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wienkultur 1945–1995

 3 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Österreicher im Exil. usa 1938–1945. Eine Dokumentation, Bd. 2, Wien 1995, S. 712 ff.  4 Wolfgang Greisenegger, »Das Theaterleben nach 1945.«, in  : Literatur der Nachkriegszeit der fünfziger Jahre in Österreich, Wien 1984, S. 223–240.  5 Ulrike Renner, Des österreichischen Theaters Konfliktsituationen von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, unveröffentlichtes Manuskript, Wien 1992, S. 4.  6 Ebd., S. 4.  7 Ebd., S. 5.  8 Ebd., S. 5.  9 Kurier, Wien, 24. Juni 1953. 10 Arbeiterzeitung, Wien, 6. Juli 1953. 11 Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien 1995, S. 40. 12 Peter Roessler, Studien zur Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg im österreichischen Drama der Nachkriegszeit und der 50er Jahre, Köln 1987, S 187. 13 Des österreichischen Theaters Konfliktsituationen, S. 8. 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd., S. 11. 16 Ebd., S. 12. 17 Ulrike Rao-Renner, Das Inszenierte im Werk des Konrad Bayer, Wien 1988, S. 30. 18 Ebd., S. 30. 19 Ebd., S. 15. 20 Ebd., S. 10. 21 Ebd., S. 11. 22 Ebd., S. 11. 23 Ebd., S. 27/28. 24 Ebd., S. 34. 25 Des österreichischen Theaters Konfliktsituationen, S. 20. 26 Karin Cerny, Bitte liebt die Wiener Festwochen  ! Zwischen Donauwalzer und Schlingensief  : 50 Jahre Wiener Festwochen. Intendanten, Programme und Entwicklungslinien, in  : Wiener Festwochen_1951– 2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 19. 27 Folder der Festwochen Wien vom 26. Mai bis 17. Juni 1951, Wien 1951, o. S. 28 Vorprogramm zu den Wiener Festwochen 1951, Wien 1951, o. S. 29 Vorprogramm zu den Wiener Festwochen 1952, Wien 1952, o. S. 30 Karin Cerny, Bitte liebt die Wiener Festwochen  ! Zwischen Donauwalzer und Schlingensief  : 50 Jahre Wiener Festwochen. Intendanten, Programme und Entwicklungslinien, in  : Wiener Festwochen_1951– 2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 20. 31 Ebd. S. 22. 32 »Das schönste Theater von allen«. Ein Gespräch mit Nikolaus Harnoncourt, aufgezeichnet und redigiert von Monika Mertl, in  : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 86–90. 33 André Heller, Ein Splitter aus meiner Erinnerung, in  : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 15. 34 Karin Cerny, Bitte liebt die Wiener Festwochen  ! Zwischen Donauwalzer und Schlingensief  : 50 Jahre Wiener Festwochen. Intendanten, Programme und Entwicklungslinien, in  : Wiener Festwochen_1951– 2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 22.

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ulrike renner 35 Bericht über die Wiener Festwochen 1965, Wien 1965. 36 Ebd., S. 22. 37 Ebd., S. 5. 38 Ebd., S. 8. 39 Ebd., S. 8. 40 Ebd., S. 2. 41 Wolfgang Kralicek, Szenen ohne Szene. Die Wiener Festwochen und die Stadt  : eine komplizierte Beziehung, in  : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 217. 42 Armin Thurnher, Ach, Kulturpolitik  ! Die Wiener Festwochen, kulturpolitisch betrachtet. Ein sehr subjektiver Rückblick von Armin Thurnher, in  : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 238. 43 Wiener Festwochenprogrammheft 1976, Wien 1976. 44 Ebd. 45 Rennbahnexpress, Wien, Dezember 1978. 46 Ebd. 47 Arbeiterzeitung, Wien, 13. Dezember 1978. 48 Karin Czerny, S. 28. 49 Wiener Festwochen 1982. 9. Mai –13. Juni, Wien 1982, S. 53–54. 50 Karin Czerny, S. 34. 51 Vom Anderen Theater, Wien 1982, S. 2. 52 Ebd., S. 24. 53 Ebd., S. 24. 54 Ebd., S. 24. 55 Ulrike Rao-Renner, Das Inszenierte im Werk des Konrad Bayer, Wien 1988, S. 154–155. 56 Wolfgang Kralicek, Szenen ohne Szene. Die Wiener Festwochen und die Stadt  : eine komplizierte Beziehung, in  : Wiener Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Wien 2001, S. 218. 57 Ursula Pasterk, in  : Wiener Festwochen 1991. 11. Mai –16. Juni, Wien 1991, S. 6. 58 Ebd., S. 8. 59 Ebd., S. 11. 60 Ebd., S. 13. 61 Ebd., S. 13. 62 Katalog der Wiener Festwochen 1993, Wien 1993, S. 6. 63 Ebd., S. 6. 64 Ebd., S. 12. 65 Katalog der Wiener Festwochen 1994, Wien 1994, S. 4. 66 Ebd., S. 4. 67 Ebd., S. 4. 68 Katalog der Wiener Festwochen 1995, Wien 1995, S. 5. 69 Ebd., S. 5. 70 Ebd., S. 4. 71 Ebd., S. 4. 72 Ebd., S. 4.

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günther fleck

Die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der Stadt Wien seit Ende des Zweiten Weltkrieges

1. Vorbemerkung

A

ls an mich die Einladung erging, zum Thema Bildung und Wissenschaft in Wien ab 1945 einen Beitrag zu verfassen, hatte ich den ehrgeizigen Plan, mithilfe von Statistiken und historischen Rekonstruktionen der universitären Institutionen in Wien ein umfassendes Bild zu entwerfen. Das von mir zusammengetragene Material hat sich jedoch als derart umfangreich herausgestellt, dass ich mich gezwungen sah, von diesem ursprünglichen Vorhaben abzugehen. Es stellte sich für mich die Frage nach einem alternativen Zugang. Ich habe mich daher nach reiflicher Überlegung entschlossen, den vorliegenden Beitrag aus einer sehr persönlichen Sicht zu verfassen. Selbst Student an der Universität Wien in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts und später als externer Lektor an derselben tätig, habe ich den radikalen Wandel der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft hautnah miterlebt. Es werden, beginnend mit der Erörterung des Doktoratsstudiums nach der »Philosophischen Rigorosenordnung«, die Studienmöglichkeiten und akademischen Laufbahnen als auch die Art und Weise des Studierens erörtert sowie deren gravierende Veränderungen durch den Einfluss der Studienreformen bis in die Gegenwart nachgezeichnet.

2. Das freie wissenschaftliche Studium Ich immatrikulierte im Sommersemester 1973 an der Universität Wien und inskribierte die Fächer Psychologie und (zunächst) Philosophie. Bereits bei meinem ersten Betreten des Hauptgebäudes der Universität Wien sah ich mich mit mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten Parolen von Studentengruppen, vornehmlich linkspolitischer Provenienz, konfrontiert. Es hieß »Wehrt Euch  !« oder »Ihr müsst Euch wehren  !«. Nun stellte sich mir die Frage, wogegen sollte ich mich wehren. Bald fand ich heraus, dass es sich um die Einführung des Diplomstudiums handelte, das ab sofort dem (ebenso neu zu regelnden) Doktoratsstudium vorausging. Nun begann ich mich für diese Thematik näher zu interessieren und konnte erfahren, dass ich mich zu jenen Glücklichen zählen konnte, die noch nach der alten Studien335

günther fleck ordnung ihr Studium betreiben durften. Was aber war nun das Besondere am alten Doktoratsstudium, auch als freies wissenschaftliches Studium bezeichnet  ? Zur Vorgeschichte  : Mit der Eroberung Wiens durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 kam auch der Studienbetrieb an der Uni Wien und den anderen Hochschulen vorübergehend zum Erliegen. Doch schon sehr rasch ging die damalige Provisorische Staatsregierung Renner dazu über, für das Wintersemester 1945/46 die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Studienbetriebs herzustellen. Hierzu zählte auch die Schaffung von neuen rechtlichen Grundlagen. So wurden bereits im September 1945 folgende Verordnungen erlassen  : 164. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung. 165. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die philosophische Rigorosenordnung. 166. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten im Einvernehmen mit dem Staatsamt für soziale Verwaltung vom 3. September 1945 über die pharmazeutische Studienund Prüfungsordnung. 167. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen.1 Die philosophische Rigorosenordnung2 war die Grundlage für das Studium für einen großen Teil der Studierenden ab 1945 bis Ende der Siebzigerjahre. Aufgrund einer sehr großzügigen Übergangsregelung konnten auch nach Einführung des Diplomstudiums etliche Studierende, die ihr Studium gemäß Rigorosenordnung begonnen hatten, noch bis in die frühen Neunzigerjahre ihren Dr. phil. alter Art erwerben. Das freie wissenschaftliche Studium hatte sowohl Sonnen- als auch Schattenseiten. Von den einen hoch gelobt und aus heutiger rückblickender Sicht vielfach verklärt, von den anderen, vor allem jenen, die scheiterten, verteufelt und desavouiert. Einerseits bot es den Studierenden einen heute kaum mehr nachvollziehbaren Freiraum. Dies erforderte allerdings ein sehr hohes Ausmaß an Selbstdisziplin. Die Studierenden waren selbst dafür verantwortlich, wie sie ihr Studium organisierten und gestalteten. Es lag in der Hand des Einzelnen, wie gut er sich auf die Dissertation vorbereitete und wie viel Hintergrundwissen hierzu erworben wurde. Die Gefahr, sich dabei zu verzetteln, war immer mehr oder weniger präsent. Schließlich gab es 336

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien ja keine Kontrollen, und was man dieses Semester nicht erledigte, konnte man sehr leicht auf das nächste oder gar übernächste verlegen. Wenn man einmal vom Begabtenstipendium absieht, gab es keine Aufforderung zu einem Leistungsnachweis. Es waren vielleicht höchstens die Eltern, die gelegentlich nach dem Studienerfolg fragten. Hatte man sich einmal für seine Fächerkombination (Hauptfach und Nebenfach) entschieden, so konnte man in weitgehend beliebiger und sehr freier Form sein Studium gestalten. Im Prinzip waren ja nur acht inskribierte Semester, die Vorlage einer Dissertation und die Ablegung der Rigorosen erforderlich. Pflichtkolloquien u.ä.m. gab es zwar, doch diese hielten sich in geringer Anzahl. Streng genommen waren sie in der Rigorosenordnung auch gar nicht vorgesehen. Viele Institute hatten jedoch gewisse interne Regelungen, wann jemand als Kandidat für eine Dissertation akzeptiert wurde bzw. in das Dissertantenstadium eintreten konnte. So hielten manche Professoren eine sogenannte Dissertantenprüfung ab, die einem den Status »cand. phil.« zuerkannte. Alle Studierenden, die in der Lage waren, den unglaublich großen Freiraum zu nützen und diesen auch zu schätzen wussten, konnten für ihr persönliches Wachstum auf eine Fülle von Ressourcen zurückgreifen. Dazu gehörte u. a. auch der Besuch von Lehrveranstaltungen, die mit den eigenen Fächern kaum etwas zu tun hatten. So berichtet zum Beispiel der bekannte Wiener Meeresbiologe, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker Rupert Riedl (2004) über die Gewinnung einer wichtigen Einsicht in einer Vorlesung der Ägyptologie  : »Ich kann aus meiner eigenen Studien­ erfahrung hinzufügen, dass ich das Wesentlichste, das ich zum Verständnis komplexer Organismen später gebraucht habe, in wenigen Vorlesungen der Ägyptologie gelernt habe  : den zweiseitigen oder rekursiven Vorgang bei der Schriftentzifferung. Vorlesungen, die damals in meinem ›philosophischen Studienbuch‹ noch mit den Kollegs für Biologie aufsummiert wurden.« (S. 38). So etwas ist heute kaum möglich und, falls es vorkommt, eine extreme Rarität. Weitere Ressourcen waren die vielen Diskussionen, die zwischen den Vorlesungen in den Wiener Kaffeehäusern geführt wurden. Meistens waren die Studierenden unter sich, mitunter gesellte sich aber auch Lehrpersonal der Universität hinzu. Zu jener Zeit hatte man sich das meiste Wissen selbst aus den Fachbüchern erarbeitet  ; die Vorlesungen und Seminare dienten lediglich als Rahmen hierzu. Das ausgiebige Selbststudium der Fachliteratur war ein wesentliches Element des freien wissenschaftlichen Studiums  ; man nahm sich aber hierfür auch die notwendige Zeit und die entsprechende Muße. Muße ist etwas, das m. E. der heutigen Bildung und Wissenschaft wesensfremd geworden ist. Mit diesem Phänomen hat sich u. a. auch der Soziologe Peter Atteslander (2007) auseinandergesetzt und bemerkt hierzu  : »Es ist nicht leicht, Musse3 befriedigend zu definieren. Leichter lässt sich sagen, was Musse nicht sein kann  : Hektik, Zwang oder zeitliche Begrenzung. Musse ist ein Innehalten, ein Ausbrechen aus dem Zeit337

günther fleck diktat. Musse ist der Versuch einer auf sich selbst bezogenen geistigen Orientierung, verbunden mit einer Lösung aus allerlei äusseren, oft selbst verordneten Zwängen. Wenn wir gelöst und spielerisch über Zeit nachdenken, für uns Wichtiges von Unwichtigem trennen, wenn es uns gelingt, genügend Ruhe auch vor uns selbst zu finden, kann dies zu Musse führen. Sie allein vermag einen für uns sinnvollen Umgang mit der Zeit ermöglichen.« (S. 68f.). Die große Problematik, die mit dem freien wissenschaftlichen Studium verbunden war, lag in der Möglichkeit des Scheiterns im Dissertantenstadium. Für viele Studierende war es schon sehr schwierig, ein geeignetes Dissertationsthema zu finden und folglich die Arbeit entsprechend zu konzipieren. Manche waren heilfroh, wenn ihnen jemand ein Dissertationsthema anbot. Für andere hingegen war es wiederum undenkbar, sich die Freiheit, selbst ein Thema zu kreieren und zu realisieren, von jemandem nehmen zu lassen. Tatsache ist jedoch, dass viele im Dissertantenstadium hängen geblieben waren und folglich ihr Studium irgendwann abbrachen. Die Folge war oft sehr tragisch, da man eine Menge Zeit und Arbeit investiert hatte und dann vor dem Nichts stand. Es gab ja nur entweder Doktorat oder nichts. Dies war u. a. auch ein Grund für die Einführung des Diplomstudiums. Auch die individuelle Betreuung der Dissertation durch einen (meist) frei gewählten Doktorvater hatte viele Gesichter. Der Erfolg des Studiums hing u. a. auch von der Zuverlässigkeit und dem Wohlwollen des Betreuers ab. Manche Studierenden hatten sehr großes Glück, andere wieder ausgesprochenes Pech. War man mit seinem Doktorvater, aus welchen Gründen auch immer, unzufrieden, konnte man sich in der Regel jemand anderen suchen, falls so eine Person zur Verfügung stand. Persönlich sind mir im Hinblick des Scheiterns im Dissertantenstadium einige im gewissen Sinn tragische Schicksale bekannt.

3. Die Studienreformen Die Studienreformen werden aus rechtlicher Sicht hier nur gestreift, das Hauptaugenmerk gilt wieder den Praxisbedingungen der Studierenden und Lehrenden. Vermutlich irgendwann in den späten Fünfziger- oder frühen Sechzigerjahren begann die Diskussion für Studienreformen, da die alten Studienordnungen aus verschiedenen Gründen als nicht mehr zeitgemäß erachtet wurden. Es können im Hinblick auf den zeitlichen Verlauf zwei große Reformzyklen abgegrenzt werden, die die akademische Landschaft nachhaltig und sehr unterschiedlich geprägt haben. Der erste Zyklus beinhaltete im Wesentlichen die Verabschiedung des Studienbeihilfegesetzes im Jahr 1963, des Allgemeinen Hochschulstudiengesetzes (AHStG) im Jahr 1966 sowie mehrerer Bundesgesetze zur Neuregelung verschiedener Studienrichtungen 338

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien zu Beginn der Siebzigerjahre. Beispielhaft sei hier das Bundesgesetz vom 30. Juni 1971 über geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Studienrichtungen erwähnt.4 Es schuf die Basis für das neu einzuführende Diplomstudium, das jedoch erst mit dem Universitätsorganisationsgesetz aus dem Jahr 1975 (uog 75) in die Praxis umgesetzt werden konnte. Aber auch diese Umsetzung bedurfte der Schaffung von Studienplänen für die einzelnen Studienrichtungen, die im Detail die Struktur der Lehrinhalte, genaue Regelung der ersten und zweiten Diplomprüfung etc. festlegten. Aus diesen Gründen dauerte es noch eine gewisse Zeit, bis tatsächlich in allen Studienrichtungen das Diplomstudium realisiert werden konnte. Der zweite Reformzyklus fand in der Zeit zwischen 1993 und 2002 statt und beinhaltete im Wesentlichen die Einführung des Bologna-Modells sowie die Transformation der alten Universität, der Alma Mater, in eine unternehmerische Universität (s. Abschnitt 4, Wandel der akademischen Einrichtungen).5

3.1 Einführung des Diplomstudiums Die Studierenden sahen sich nun mit einer neuen Studienordnung konfrontiert, die sich in vielen Belangen von der alten Doktoratsstudienordnung sehr unterschied. Da gab es zunächst die Teilung in einen ersten und zweiten Studienabschnitt. Der erste Abschnitt diente vorwiegend der Vermittlung von Basiswissen, der zweite hingegen einer gewissen Spezialisierung. Sowohl der erste als auch der zweite Studienabschnitt mussten mit einer Diplomprüfung abgeschlossen werden (1. Diplomprüfung, in der Regel nach vier Semestern  ; 2. Diplomprüfung, in der Regel nach vier weiteren Semestern). Um zur 2. Diplomprüfung antreten zu können, musste neben der Absolvierung der vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen zusätzlich noch eine Diplomarbeit verfasst werden. Erst nach deren Approbation wurde man zur Ablegung der Diplomprüfung zugelassen. Für einige Jahre waren mit Ausnahme des Psychologiestudiums alle Studienrichtungen kombinationspflichtig (z. B. Politikwissenschaft als primäres Fach, in dem man auch seine Diplomarbeit verfasste, kombiniert mit Soziologie). Das hatte m. E. den Vorteil, dass man über den Tellerrand des eigenen Faches zwangsläufig hinausschauen musste, sowie die Einräumung der Möglichkeit, ein Doktoratsstudium bei Interesse auch im Kombinationsfach anschließen zu können. Diese Regelung fand nach einigen Jahren ein Ende, die Kombinationspflicht wurde aufgehoben. Was bedeutete nun aus der Sicht der Studierenden die Einführung des Diplomstudiums  ? Es waren im Wesentlichen gewisse Verschärfungen der Studienbedingungen (z. B. Einführung von Anwesenheitspflicht bei diversen Lehrveranstaltungen, be339

günther fleck schränkter Zugang zu gewissen Lehrveranstaltungen, genaue Vorschreibung der Reihenfolge der zu absolvierenden Lehrveranstaltungen) als auch der Vorwurf der Verschulung des Studiums, der die Gemüter erhitzte. Dies führte zu massiven Protestbewegungen seitens der Studierenden. Umgekehrt konnte die Anzahl erfolgreicher Studienabschlüsse erhöht werden. Neu war auch die Einführung der akademischen Grade Magister der Philosophie (Mag. phil.) und Magister der Naturwissenschaften (Mag. rer. nat.). Dies führte zunächst in der breiten Öffentlichkeit zu einer gewissen Verwirrung, da dieser akademische Grad bisher als jener der Pharmazeuten und Pharmazeutinnen galt. Es war damals nicht ungewöhnlich, wenn sich jemand mit dem Magistertitel vorstellte und als Antwort erhielt  : Sie sind also ein Apotheker. Die Gewöhnung an den neuen Magister erfolgte jedoch relativ rasch. Eine Ausnahme bildete die damalige Hochschule für Welthandel, die seit dem Wintersemester 1967/68 die Diplomstudienordnung umzusetzen begonnen hatte und deren Studierende nach Studiumsabschluss den akademischen Grad eines Magisters der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Mag. rer. soc. oec.) erhielten, der die älteren Grade wie z. B. Diplomkaufmann oder Diplomvolkswirt ersetzten. Für Studierende der technischen Studienrichtungen wurde zum Abschluss des Diplomstudiums der akademische Grad Diplomingenieur (Dipl.-Ing.) und zum Abschluss eines daran sich anschließenden Doktoratsstudiums der akademische Grad Doktor der technischen Wissenschaften (Dr. techn.) verliehen. Studierende früherer Jahrgänge erhielten bei ihrem Studiumsabschluss vielfach keinen akademischen Grad. Dies betraf vorwiegend alle Studierenden, die sich für ein Lehramtsstudium entschieden hatten, als auch z. B. Studierende der Rechtswissenschaften, die bislang – im Falle der Nicht­ ablegung der Rigorosen – lediglich die Bezeichnung abs. jur. führen durften (analoge Regelungen gab es auch in anderen Studienrichtungen). Der Magistergrad wurde im Nachhinein an alle Absolventen und Absolventinnen verliehen, die aufgrund ihrer zeitlich bedingten früheren Studienabschlüsse keinen akademischen Grad verliehen bekommen hatten und deren Studium einem Diplomstudium entsprach. Parallel zur Einführung des Diplomstudiums begann sich von Semester zu Semester die Anzahl der Studierenden zu erhöhen, die Massenuniversität mit all ihren unerfreulichen Entwicklungen stand vor der Tür. Die Hoffnung, mit der Einführung von verschärften Studienbedingungen den Massenansturm eindämmen zu können, erfüllte sich nicht. Auch für die Lehrenden spitzte sich die Lage zu, stellte sich doch die von Studienjahr zu Studienjahr deutliche Zunahme der Studierenden als wachsendes Problem dar. Es war nicht mehr alles so »locker« wie früher. Mit der Einführung des Diplomstudiums wurde auch das Doktoratsstudium neu geregelt. Ab diesem Zeitpunkt konnte ein Doktoratsstudium, das ursprünglich mit einer Mindestdauer von zwei Semestern, später mit vier und zuletzt mit sechs Se340

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien mestern festgelegt wurde, erst nach Abschluss eines Diplomstudiums begonnen werden. Das Doktoratsstudium nach der philosophischen Rigorosenordnung war im Auslaufen. Für die Praxis bedeutete dies, dass nunmehr die meisten Studierenden nach Abschluss ihres Diplomstudiums in die Berufswelt eintraten und nur ein kleiner Prozentsatz ein Doktoratsstudium nach der neuen Regelung anschloss. Der Titel Doktor begann damit deutlich rarer zu werden.

3.2 Einführung des Bachelor-, Master- und PhD-Studiums – der Bologna-Prozess Im Jahr 1999 trafen sich in Bologna 29 europäische Bildungsminister zur Unterzeichnung der sogenannten Bologna-Erklärung. Es handelt sich dabei um ein politisches Vorhaben, das die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens bis zum Jahr 2010 zum Ziel hatte, das völkerrechtlich nicht bindend ist. Gründe für die Einführung waren Kritik am althergebrachten Humboldt’schen Bildungsideal (z. B. Einheit von Forschung und Lehre, zweckfreie Forschung), das als nicht mehr zeitgemäß erachtet wurde. Weiters wurden die durchschnittlich zu langen Studienzeiten der europäischen Studierenden (das Studium sollte kurz, effektiv und berufsorientiert sein) beklagt. Die Studienabschlüsse sollten europaweit vergleichbar sein und folglich vereinheitlicht werden und die Mobilität der Studierenden sollte erhöht werden. Die Folgen sind weitgehend bekannt  : Man zauderte nicht lange und begann – ohne dass hierfür notwendige und ausreichend fundierte sachliche Diskurse geführt wurden – europaweit das angloamerikanische Studiendesign zu implementieren. Wenn auch mit gewissen Unterschieden zum angloamerikanischen Modell, besteht doch eine weitgehende Analogie, was die Studienabschnitte betrifft. Demnach ist das Studium in drei Teile gegliedert  : in ein Grundstudium, das drei Jahre umfasst und mit dem akademischen Grad des Bachelor abschließt  ; in ein Erweiterungsstudium, das in der Regel zwei Jahre dauert und mit dem akademischen Grad eines Master beendet wird, und in ein Doktoratsstudium, für das mindestens drei Jahre vorgesehen sind. Es muss hier hervorgehoben werden, dass das Masterstudium nicht für alle Absolventen des Grundstudiums gedacht ist. Es gibt bestimmte Kriterien (z. B. Notendurchschnitt beim Grundstudium, vorhandene Studienplätze), die für eine Zulassung des Erweiterungsstudiums maßgebend sind. Hat sich jemand bis zum Master durchgeschlagen, so kann eventuell noch ein Doktoratsstudium angepeilt werden. Dieses ist terminologisch weitgehend in der Kurzform als »PhD-Studium« bekannt und meint den Erwerb des akademischen Grades Philosophiae Doctor nach 341

günther fleck angloamerikanischem Vorbild. Es umfasst eine Vielzahl von Studienrichtungen und ist vor allem für jene gedacht, die eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben. Entsprechend streng werden die Voraussetzungen für die Zulassung gehandhabt. Da gemäß den Bologna-Kriterien das PhD-Studium als wesentlich höher bewertet wird als die älteren Doktoratsstudien unterschiedlichster Provenienz, ist in Deutschland eine hitzige Diskussion entstanden, ob es nicht aufgrund dieser besonderen Qualifikation die Habilitation ersetzen könnte. Das vorläufige Ergebnis dieser Diskussion ist bislang zugunsten der Beibehaltung der Habilitation ausgegangen. In Österreich und damit auch in Wien hat diese Diskussion (außer in sehr kleinen informellen Kreisen) bislang nicht stattgefunden. Heute ist bis auf wenige Ausnahmen der Bologna-Prozess abgeschlossen, so auch in Wien. Die Disputation über die Sinnhaftigkeit des Prozesses hält unvermindert an, wurden doch viele der vorgenommenen Ziele bei Weitem nicht erreicht (z. B. mangelt es nach wie vor an der Mobilität der Studierenden  ; die Studienzeiten sind nicht wirklich kürzer geworden  ; der Bachelor reicht vielfach nicht aus, um einen entsprechenden Job zu bekommen). Für die Studierenden hat die Einführung des Bologna-Modells eine Vielzahl von Problemen gebracht. Zunächst ist die vorgeschriebene und angepeilte Studienzeit für den Bachelor nicht ausreichend, da viele Studierende nebenbei arbeiten. Der sehr dichte Lehrplan lässt in vielen Fällen nicht viel oder keine freie Zeit zu. Durch laufende Erfolgskontrollen, durch Lehrveranstaltungen mit prüfungsimmanentem Charakter etc., sehen sich sehr viele Studierende einem großen Zeitdruck ausgesetzt, der mitunter als sehr belastend erlebt wird. Man büffelt vor sich hin und hat kaum Zeit, die Lehrinhalte kritisch reflektierend zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang sei ein sehr interessantes psychologisches Phänomen erwähnt, von dem mir einige Universitätslehrer berichteten. Die heute Studierenden haben offensichtlich die fast unglaubliche Fähigkeit entwickelt, in kurzer Zeit eine Fülle von Informatio­ nen aufzunehmen, die uns älteren Generationen völlig fremd ist. Dies dürfte e­ inen Bewältigungsmechanismus darstellen, der den Studierenden eine Vielzahl von Prüfungen in kurzer Zeit positiv zu absolvieren erlaubt. Leider ist das gesammelte Wissen bald wieder vergessen. Ein weiteres Problem bringen die in gewissen Studienrichtungen völlig überfüllten Lehrsäle mit sich. Das Verhältnis Lehrende zu Studierenden wird aufgrund rigoroser Sparmaßnahmen zunehmend schlechter. In den letzten Jahren wurden viele Lehraufträge reduziert, die Tendenz ist anhaltend. Insbesondere für die Betreuung von Bachelor- und Master-Arbeiten steht in vielen Studienrichtungen zu wenig wissenschaftliches Lehrpersonal zur Verfügung. Die Studierenden haben gelernt, sich den Bedingungen des Bachelor- und Masterstudiums auf eine ganz besondere Art anzupassen. Der deutsche Wissenschaftler 342

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien Jochen Hörisch (2006) beschreibt im Hinblick auf die Einführung des Bologna-Modells das Auftreten eines neuen Studierenden-Typus, der aus meiner eigenen Erfahrung als externer Lektor an der Universität Wien nun auch hierzulande anzutreffen ist  : »Mit diesem nun wirklich neuen Studiendesign geht denn auch ein gleichermaßen neuer Studierenden-Typus konform, von dem sich die wenigen noch romantisch disponierten Studenten um so befremdlicher abheben. Die klassischen Almer-materStudenten mußten, ob sie wollten oder nicht, eine ›extreme Risikobereitschaft‹ entwickeln. Die deutsche Tradition akademischer Freiheit – als Komplementarität von Lehre und Lernfreiheit gedacht – mutet mindestens bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts Studenten rücksichtslos Selbständigkeit zu, und die in der Unterstellung, daß nur eine solche Situation des völlig Auf-sich-selbst-gestellt-Seins Freiheit respektiert und geistige Freiheit erzeugt. Hingegen ist der rundumerneuerte, dem Bologna-Prozeß entsprechende Studierende schon in jungen Jahren pragmatisch abgeklärt und auf Effizienz, konkret auf das Einsammeln von absolvierten Modul- und ects-Punkten getrimmt. Nichts ist ihm suspekter als das Überflüssige bzw. überflüssig Scheinende. Brauche ich das später, ist das klausurrelevant, kommt das in der Prüfung vor, fördert das meine nachweisbaren Schlüsselfunktionen – so lauten seine Fragen, wenn er mißtrauisch und desillusioniert, bevor er je Illusionen hatte, in einem Seminar oder einer Vorlesung über kulturelles Gedächtnis, Kleists Novellen, Platons Ideenlehre oder Syntax-Theorie sitzt. Sein Verhältnis zur Hochschule ist das eines Kunden zu einem Dienstleistungsbetrieb. Daß er seit geraumer Zeit für überzählig belegte Semester und bald für sein gesamtes Studium eine wenn auch vergleichsweise moderate Gebühr zahlen muß, macht ihn schon heute zum kritischen Verbraucher, der prüft, ob sich die angebotene Ware in der gegenwärtigen und kurzfristig absehbaren Ökonomie mit Gewinn weiterverkaufen läßt.« (S. 51f.). Enthusiastische Befürworter des Bologna-Modells sowie deren Gegner liefern sich nach wie vor heiße Auseinandersetzungen (s. z. B. Eckardt, 2005  ; Schrittesser, 2009  ; Lohmannn et al., 2011  ; Liesner & Lomann, 2009  : Schultheis et al., 2008). Dabei ist zu bedenken, dass jeder Händler seine Ware lobt. Für Jochen Hörisch ist der Bologna-Prozess »… eine exquisite und riskante Bezeichnung für das, was in den letzten Jahren die europäischen Universitäten ergreift und tief umgestaltet. Denn die europäischen Wissenschaftsminister trafen sich, um die Studiengänge und Studienabschlüsse ihrer Länder einander anzugleichen, zu vereinheitlichen und zu verschulen, so als wollten sie ein Muster an Symbolpolitik vor Augen führen, an den emblematisch herausgehobenen ›Erinnerungsorten der Universitätsgeschichte‹  : 1998 an der Sorbonne, 1999 in Bologna, 2001 in Prag und 2003 in Berlin, wo im Jahr 2010, dann also, wenn der Bologna-Prozeß europaweit ›implementiert‹ sein wird, das zweihundertjährige Jubiläum der Humboldt’schen Universitätsreform ansteht. Mit dem, was diese legendären Universitätsnamen suggerieren  : nämlich akademi343

günther fleck sches Selbstbewußtsein, informelle Studienstrukturen, Abwehr von Verschulungstendenzen, Unabhängigkeit der Forschung von Geldgebern, Selbststeuerung der Forschungsprozesse, selbständige Studienplanung und Entkoppelung von direkten Praxisbezügen – mit alldem räumt ausgerechnet der Prozeß gründlich auf, der nach der selbstbewußten und altehrwürdigen Alma mater Bologna benannt ist. Zielt er doch auf eine Modularisierung der Studiengänge, auf kontinuierliche Leistungskon­ t­rolle, auf eine weitgehende Verschulung des Studiums bis zum sechsten Semester, nach dem der Studierende seinen BA/Bachelor-Abschluß erhält.« (S. 48f.).

4. Wandel der ak ademischen Einrichtungen Studierende, die erstmals im Wintersemester 1945/46 ihr Studium aufnahmen, sahen sich mit den gleichen akademischen Institutionen konfrontiert, die auch vor und während des Zweiten Weltkrieges bestanden. Die Universität Wien war damals im Raum Wien die einzige Universität, alle übrigen waren Hochschulen und Akademien. Im Einzelnen existierten neben der Universität Wien (gegründet 1365 als Alma Mater Rudolphina Vindobonensis) die Technische Hochschule (gegründet 1815 als k. k. Polytechnisches Institut, heute Technische Universität Wien), die Hochschule für Welthandel (gegründet 1898 als k. k. Exportakademie, heute Wirtschaftsuniversität Wien), die Hochschule für Bodenkultur (gegründet 1872 als Hochschule für Bodenkultur, heute Universität für Bodenkultur Wien), die Tierärztliche Hochschule (gegründet 1767 als k. k. Pferde-Curen- und Operationsschule, heute Veterinärmedizinische Universität Wien), die Akademie der bildenden Künste (gegründet 1772 als Akademie der bildenden Künste, heute Akademie der bildenden Künste Wien), die Akademie für angewandte Kunst (gegründet 1867 als Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, heute Universität für angewandte Kunst Wien) und die Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien (gegründet 1817 als Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, heute Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Die Transformation der Wiener Hochschulen in Universitäten erfolgte circa ab 1975 im Rahmen des uog 75. Eine Ausnahme im Hinblick auf die Bezeichnung Universität bildet die Akademie der bildenden Künste Wien  ; sie hat ihren Namen beibehalten, jedoch Universitätsstatus. Die Herauslösung der medizinischen Fakultät der Universität Wien und Transformation derselben zur Medizinischen Universität erfolgte erst später (1. Jänner 2004).6 Eine Sonderstellung nimmt die Akademie der Wissenschaften Österreichs (öaw) ein, die ihren Sitz in Wien, im Gebäude der alten Universität, hat. Sie ist die führende Trägerin außeruniversitärer Forschung in Österreich. Sie verfügt über 344

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien mehr als 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Aufgabenspektrum der wissenschaftlichen Forschung ist sehr breit angelegt und beinhaltet Themen aus den Naturwissenschaften, Formalwissenschaften, Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften und der Medizin. Die öaw ist sowohl für etablierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eine hervorragende Forschungsstätte als auch für Doktoranden und Doktorandinnen. Hier werden u. a. auch die Grundbausteine für eine weitere akademische Laufbahn gelegt. Ich selbst verfüge über keine Erfahrung mit jungem oder etabliertem Personal der öaw und kann daher über dessen Lebenswelt keine Auskunft geben.7 Die Transformation der Wiener Hochschulen in Universitäten brachte eine Reihe von gravierenden Veränderungen mit sich, insbesondere im Rahmen des 2. Reformzyklus (dieser beinhaltet das uog 93, das UniStG 97, den Bologna-Prozess 1999, die Einführung von Studiengebühren 2001 und das ug 02). Aus der Fülle der mitunter radikalen Veränderungen sei hier der Wandel der Alma Mater zum gewinnbringenden universitären Unternehmen herausgegriffen. Zunächst sei ein Rückblick gestattet, der die tiefe Kluft von einst und jetzt sehr dramatisch vor Augen führt. In seiner Monografie aus dem Jahr 1968 »Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universität« hob der Grazer Philosoph Ernst Topitsch hervor, dass »… die politische Funktion, welche die Universität als Pflege wertfreier Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft ausüben kann, deutlich erkennbar (wird) – nämlich als Raum institutionell geschützter Freiheit empirisch-rationaler Wahrheitsfindung, wo sowohl die Ideologien der an der Herrschaft Sitzenden wie die der nach der Herrschaft Strebenden gleichermaßen der Kritik ausgesetzt sind, die sie ihrer angemaßten Absolutheitsansprüche entkleidet. Es gibt hier keine ›privilegierten‹ Wahrheiten, die einer Kontrolle durch logische Analyse und erfahrungsmäßige Überprüfung entzogen wären. Ebensowenig gibt es hier – und damit geht die moderne Wissenschaftstheorie über Max Weber hinaus – unkritisierbare Wertungen, vor allem keine mit unbedingter Gültigkeit. Dadurch wird den um die Führung in der Gesellschaft ringenden Gruppen zu Bewußtsein gebracht, daß die in ihren Ideologien enthaltenen Tatsachenbehauptungen nicht endgültig, sondern jederzeit revidierbar sind, und in diese Ideologien eingegangenen Lebensansprüche keinen prinzipiellen Vorrang vor konkurrierenden Lebensansprüchen besitzen. So wird ihnen eine politische Haltung nahegelegt, die eine Lösung der unvermeidlichen sozialen Interessenkonflikte im Rahmen einer für alle Beteiligten annehmbaren und von ihnen anerkannten Friedensordnung sucht.« (S. 50) Man wird im Hinblick auf die gegenwärtige Situation unserer (Wiener) Universitäten sehr leicht an die Verantwortlichkeit der Intellektuellen erinnert, wie sie von Noam Chomsky (1971) propagiert wurde. Demnach haben die Intellektuellen die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken. Was aber, wenn 345

günther fleck diese Form der Intellektualität ausgetrocknet wird bzw. explizit als unerwünscht erklärt wird  ? Was, wenn Nützlichkeitsdenken und Profitmaximierung selbst die Universitäten beherrschen  ? Dann existiert die Universität im Sinne der Alma Mater nicht mehr  ! Bildung und Wissenschaft wird zur Ware, was auch einen gänzlich anderen Charakter der Forschung mit sich bringt (vgl. Krautz, 2009).

5. Wandel der wissenschaftlichen Forschung Mit dem Wandel der alten Universität, der Alma Mater, zur unternehmerischen Universität, die Bildung (falls noch vorhanden) und Ausbildung als Ware behandelt, hat auch die Forschung eine radikale Änderung erfahren. Während früher die Wissenschaftler bei der Generierung von Forschungsfragen und Forschungsprojekten im Sinne der Freiheit von Forschung und Lehre weitgehende Entfaltungsmöglichkeiten hatten, da die Forschungskosten ja von der öffentlichen Hand getragen wurden, steht heute die Drittmittelfinanzierung im Zentrum. Die Fähigkeit zur Drittmitteleinwerbung stellt heute ein zentrales Kriterium für die Aufnahme als Wissenschaftler an einer Universität dar, da sich diese doch nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten finanziell so weit wie möglich selbst erhalten und auch Gewinne erwirtschaften soll. Hierzu bemerkt Jochen Hörisch auf Deutschland bezogen  : »Die Drittmittel-Einwerbung als einziges besoldungsrechtliches Erfolgskriterium für Professoren – das ist auch universitätsgeschichtlich buchenswert. Die vergleichende und umfassende Geschichte der universitären Einwerbung von Forschungsmitteln ist noch nicht geschrieben. Aber auch anekdotische Hinweise vermögen das damit verbundene Problem anzuzeigen. Weder Hans-Georg Gadamer noch Hans Blumenberg noch Niklas Luhmann haben je Drittmittel bei großen Forschungs-Institutionen eingeworben. Bemerkenswerte Werke haben sie wohl nicht dennoch, sondern deshalb hinterlassen  : sie verfügten über Zeit, Konzentration und eben durchaus auch eine freundliche Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen selbst- und fremdgesetzten Zwängen, denen schon der Begriff ›Drittmittel‹ zum Ausdruck verhilft. Daß der Umkehrschluß – wer erfolgreich Forschungsgelder einwirbt, kann kein bedeutendes Werk hinterlassen – unzulässig wäre, zeigt übrigens ein Blick auf die Frankfurter Schule. Horkheimer und Adorno hatten in Zeiten, als dieser Begriff noch nicht kurrent war, bemerkenswert große Erfolge bei der Einwerbung von Drittmitteln. Wer allerdings, um bei diesem Beispiel zu bleiben, den bösen Blick nicht scheut, wird bald feststellen, daß sich die beiden scharfen Kritiker szientistischer Arbeitsteilung ergänzten, indem sie ebendiese Arbeitsteilung virtuos praktizierten. Horkheimer war der frühe und erfolgreiche Wissenschaftsmanager, Adorno derjenige, der ein wirkliches Werk hinterließ.« (S. 58f.). 346

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien In der Tat wird bei Stellenausschreibungen für wissenschaftliche Positionen an den (Wiener) Universitäten die Fähigkeit des Kandidaten oder der Kandidatin im Hinblick auf die Drittmittel-Einwerbung als wichtiges Kriterium explizit gefordert. Ein etwas zynischer Kollege meinte einmal, dass es günstig wäre, wenn man bereits vor der Bewerbung für eine wissenschaftliche Position eine eigene gut gehende Firma zur Verfügung hätte, die man dann gleichsam als Mitbringsel zur Institutsfinanzierung einsetzen kann.

6. Die Fachhochschulen Mit der Gründung von Fachhochschulen (FH) und Fachhochschulstudiengängen in den Neunzigerjahren wurde eine gänzlich neue Ära akademischer Ausbildung ins Leben gerufen. Die Stadt Wien verfügt derzeit über drei Fachhochschulen  : die Fachhochschule bfi Wien GmbH, die Fachhochschule Campus Wien und die Fachhochschule Technikum Wien. Sie dienen einer akademischen Berufsausbildung auf hohem Niveau mit einem Schwerpunkt auf der Verbindung von beruflicher Praxis und angewandter Forschung. Die akademischen Grade, die erworben werden können, sind der Bachelor und der Master. Die Fachhochschulen haben kein Promotion- und Habilitationsrecht. Für den Erwerb des Doktorates muss daher nach wie vor eine Universität besucht werden.8 Die Fachhochschulen stellen zweifelsohne eine große Bereicherung der Bildungslandschaft nicht nur in Wien dar. Bedenkenswert ist allerdings eine gewisse, sich abzeichnende Angleichung der Fachhochschulen und der Universitäten. So werden z. B. die Fachhochschulen in englischer Übersetzung bereits als »Applied Universities« gehandelt. Es ist nicht auszuschließen, dass in naher Zukunft unsere Fachhochschulen zu Universitäten transformiert werden. Ob eine Gleichmachung zweier bislang bewährter akademischer Einrichtungen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen eine sinnvolle Entwicklung mit sich bringen wird, ist sehr fraglich. Die FHStudierenden (Wiens) haben aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Lektor auf einem Fachhochschulstudiengang im Prinzip mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie die Studierenden an den Universitäten (Wiens).

7. Der zweite Bildungsweg und die Bedeutung der (Wiener) Volkshochschulen Viele Menschen hatten und haben aus welchen Gründen auch immer keine Möglichkeit, die Reifeprüfung in der üblichen Zeit abzulegen und ein Universitätsstudium 347

günther fleck zu beginnen. Glücklicherweise hat hier die Provisorische Regierung Renner knapp nach Kriegsende mit der Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen einen rechtlichen Rahmen geschaffen.9 Den Zweck der Ablegung der Berufsreifeprüfung charakterisiert die genannte Verordnung wie folgt  : »Zweck der Berufsreifeprüfung ist es, Personen, die an der Ablegung der Reifeprüfung für Mittelschulen oder einer anderen zum Hochschulstudium berechtigenden Prüfung verhindert waren, aber in reiferem Alter und auf Grund ihrer beruflichen Bewährung oder einer in ernsten Studien betriebenen Beschäftigung mit einem bestimmten Fachgebiete ein Hochschulstudium in dieser Richtung durchführen wollen, die Möglichkeit zu geben, ihre Befähigung und Vorbereitung für dieses bestimmte Studium zu erweisen.« (vgl. Anm. 9) Man konnte mit Ablegung der Berufsreifeprüfung den Zugang für ein bestimmtes Studium erlangen, nicht jedoch einen generellen Zugang, wie er mit der Matura erworben wird. In den Folgejahren wurden die gesetzlichen Grundlagen immer wieder überarbeitet. Heute stellt die Möglichkeit der Ablegung der Berufsreifeprüfung einen nicht mehr wegzudenkenden Weg zu einer höheren Bildung dar. Eine weitaus jüngere Errungenschaft betrifft die Möglichkeit, die Lehre mit dem Abschluss einer Matura (Berufsmatura) zu kombinieren. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Novellierungen bzw. Neufassungen der gesetzlichen Regelungen für den Erwerb der Berufsreifeprüfung und der Berufsmatura. In diesem Zusammenhang spielen die (Wiener) Volkshochschulen eine bedeutende Rolle. (Auf die anderen Ausbildungseinrichtungen wie z. B. bfi und wifi sei hier nur hingewiesen.) Die Stadt Wien verfügt derzeit über 23 Volkshochschulen. Die älteste davon ist die Volkshochschule Ottakring. Es kann die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Erwachsenenbildung nicht hoch genug hervorgehoben werden.10

8. Abschließende kritische Bemerkungen zur Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der Stadt Wien in der Gegenwart Die Diskussionen über den Zustand der Bildungslandschaft in Europa einschließlich Österreichs demonstrieren, dass sich ein Bildungsverlust in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung abzuzeichnen beginnt bzw. zum Teil bereits eingetreten ist. Davon ist auch die Stadt Wien nicht ausgenommen. Dies scheint insofern katastrophal zu sein, als für die Wirtschaft Europas in Zukunft die Fähigkeit zur Er348

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien zeugung hochintelligenter Produkte, für die ein großes Ausmaß an Kreativität und Erfindergeist vonnöten ist, von entscheidender Bedeutung sein wird. Ohne derartige Produktionsleistungen wird sich Europa auf dem internationalen Markt nicht behaupten können. Als Hauptursache wird hierfür die wissenschaftspolitische Linie des Neoliberalismus verantwortlich gemacht, der folgend seiner Maxime der Profitmaximierung fälschlicherweise ein sehr einseitiges und kurzsichtiges Ausbildungskonzept vor allem auf universitärer Ebene favorisiert. So wird seit geraumer Zeit eine Krise der europäischen Universitäten von unterschiedlichsten Seiten konstatiert und die Gefahr des Zusammenbruchs der Universitäten heraufbeschworen. Die Profitmaximierung scheint dem klassischen Bildungsideal, wie es vor allem durch die Humboldt-Universität Jahrzehnte hindurch repräsentiert wurde, zu Leibe zu rücken. In einer Zeit, wo maximaler finanzieller Gewinn unter größtmöglicher Einsparung alles »Unnötigen« zum dominierenden Motiv der westlichen Wirtschaftskultur avanciert, bleibt für Dinge, die nichts abwerfen, bestenfalls ein müdes Lächeln, schlimmstenfalls nur mehr deren Liquidierung übrig. Dies führt zum ersten Kardinalfehler der Wissenschaftspolitik des Neoliberalismus. Was passiert mit jenen Wissenschaften, die für die Wirtschaft und Industrie im Sinne der Profitmaximierung so gut wie nichts beitragen können  ? Folgt man der Zweckrationalität des Neoliberalismus, dann ist letztlich ein Niedergang bzw. Verschwinden dieser Wissenschaften nicht mehr aufzuhalten. Disziplinen wie Sprachwissenschaft, Ägyptologie, Literaturwissenschaft etc. braucht man dann nicht mehr, so meint man. Sie sind unnütz geworden. Dementsprechend geraten die Universitäten durch Kommerzialisierung bzw. Privatisierung unter den Druck der Wissenschaftspolitik (besser  : Ausbildungspolitik) des Neoliberalismus. Dieser setzt seinen Schwerpunkt auf praxisnahe Berufsausbildung unter Eliminierung unnützen Beiwerks. So sollen die Studien kürzer und effizienter sein als früher, die jungen Hochschul- und UniversitätsabsolventInnen nach ihrem Abschluss optimal in die Wirtschaftsmaschinerie eingepasst werden. Funktionale Tüchtigkeit im Sinne der Zweckrationalität wird vehement gefordert. Der zweite Kardinalfehler der Wissenschaftspolitik des Neoliberalismus besteht in der Forcierung von Kurzstudien und der Verschulung der Universitäten. Zu viele Wissensinhalte in zu kurzer Zeit machen eine vertiefende und vor allem kritische Auseinandersetzung mit den Lerninhalten unmöglich. Das Ergebnis ist fragmentierte Vielwisserei, gleichzeitig mangelt es an einem tieferen Verstehen der Sachverhalte und Sinnzusammenhänge. Mit anderen Worten  : Die Wissensinhalte werden vielfach nicht wirklich verstanden. Nun steht außer Zweifel, dass derartige Ausbildungskonzepte im Hinblick auf bestimmte berufliche Anforderungsprofile durchaus eine gewisse Berechtigung haben, 349

günther fleck wenn auch eingeschränkt, und auch einen sinnvollen Beitrag in der akademischen Berufsausbildung zu leisten vermögen. Bedenklich hingegen erscheint die einseitige Zentrierung auf rein funktionelles Anwendungswissen, dem jede Art selbstkritischen Hinterfragens fremd ist. In diesem Zusammenhang kommt es zur Verflüchtigung des Bildungsbegriffs  ; was bleibt, ist reine Ausbildung. Hier ist insbesondere aus wissenspsychologischer Sicht die Gefahr einer sehr einseitigen Ausprägung intellektueller Fähigkeiten zu verorten, die sich langfristig als katastrophal erweisen wird. Bestimmte Fähigkeiten werden im Rahmen funktionsbezogener Ausbildung nicht mehr oder nur sehr mangelhaft entwickelt, die Aneignung eines persönlichen Bildungsniveaus im Sinne eines integrativen Orientierungsrahmens bleibt aus. Es wird dabei verkannt, dass sich der Neoliberalismus selbst das Wasser abgräbt, wenn bei der Ausbildung die Bildung ausgeklammert wird. Die Gefahr, dass Europas kostbarstes Erbe, sein hohes Bildungswesen, verspielt wird, hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Europa kann jedoch wirtschaftlich in Zukunft nur durch die Entwicklung intelligenter Produkte bestehen. Die Frage, die sich stellt, ist  : Wie wird es wohl weitergehen  ? Der Bologna-Prozess ist laut Meinung einer sehr großen Anzahl von Experten (vornehmlich von Befürwortern) nicht mehr rückgängig machbar, und vermutlich ist dies auch nicht sinnvoll. Es gilt, das Beste daraus zu machen und solche Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein zeitgemäßes Bildungsideal wieder salonfähig werden lassen. Welche konkrete Gestalt dieses annehmen wird können, wird noch lange Zeit Gegenstand erhitzter, wenn nicht gar polemischer, Auseinandersetzungen sein.

9. Ausblick Ich habe aus der Sicht meiner persönlichen Erfahrungen sowohl als Studierender als auch als externer Lektor der Universität Wien versucht, den radikalen Wandel der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft ebengenannter Universität nachzuzeichnen. Die Fragen, die sich nun aufdrängen, zielen auf den Entwurf von Szenarien möglicher Weiterentwicklungen. Ist die Zeit, die Bildung als Wert an sich gewürdigt hat, endgültig vorbei, oder wird es zu einer Rückbesinnung auf ältere Bildungs­ideale (unter Ausschluss negativer Charakteristika der Humboldt-Universität) kommen und eine m. E. notwendige Korrektur der totalen Ökonomisierung der Bildung als dringlich erkannt  ? Werden wissenschaftliche Arbeiten, die nicht von Drittmitteln finanziert worden sind, wieder eine entsprechende Geltung bekommen  ? Wird man den wichtigen Stellenwert der sogenannten Orchideenwissenschaften, die von der Industrie und Privatwirtschaft als unwirtschaftlich und daher unnütz 350

die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien gesehen werden, für die Kreativität wissenschaftlichen Arbeitens wieder würdigen und folglich nicht eliminieren  ? Wird es gelingen, den Wissensdurst der Studierenden der Gegenwart (und Zukunft), der für viele ältere akademische Generationen so charakteristisch war, wieder ins Leben zu rufen  ? Wird das sich zunehmend ausbreitende, rein pragmatisch orientierte und vielfach freudlose Studieren den Weg in ein spannendes und erfüllendes zurückfinden  ? Die eben aufgeworfenen Fragen könnten ohne Probleme fortgesetzt werden  ; dies mag dem Leser und der Leserin erspart bleiben. Für eine Rückbesinnung, eingebettet in die sehr umfangreiche und differenzierte universitäre Landschaft Wiens, sind derzeit »noch« zumindest teilweise die materiellen Ressourcen vorhanden. Ob die geistigen Ressourcen, die in den Köpfen und Herzen der Studierenden und Lehrenden zu verorten sind, noch vorzufinden sind, wage ich nicht zu beantworten. Betritt man das neue Institutsgebäude der Universität Wien, vielerorts Tausenden von Studierenden und Lehrenden einfach als nig geläufig, seitens der Universitätsstraße (Haupteingang) und schreitet die Stufen zum ersten Stock empor, kommt man nicht umhin (bevor man sich zum Weitergehen für links oder rechts entscheiden muss), das berühmte Staatsgrundgesetz aus dem Jahre 1867 zu lesen  : »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.«11 Es bleibt zu hoffen, dass dieses für die Bildung und Wissenschaft nicht nur in Wien sondern für die gesamte universitäre Landschaft Österreichs äußerst wichtige Verfassungsgesetz nicht weiter ausgedünnt wird und folglich bei zukünftigen Studierenden gleichsam als sinnentleerte Phrase nur noch Verwirrung zu stiften vermag.

A nmerkungen 1 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1945. Ausgegeben am 26. September 1945. 41. Stück Verordnungen 164 bis 167. 2 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1945. Ausgegeben am 26. September 1945. 41. Stück 165. Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die philosophische Rigorosenordnung. Auf Grund des § 1, B, Punkt 2 und 3, des Hochschulermächtigungsgesetzes, B. G. Bl. Nr. 266/1935, wird verordnet  : § 1. (1) Zur Erlangung des Doktorgrades an der philosophischen Fakultät einer österreichischen Universität ist die Vorlage einer wissenschaftlichen Abhandlung und die Ablegung zweier strenger Prüfungen (Rigorosen) erforderlich. (2) Zweck dieser Prüfungen ist, festzustellen, ob und in welchem Grade eine Befähigung zur wissenschaftlichen Forschung erreicht wurde. (3) Die Zulassung hiezu ist von dem Nachweise abhängig, daß der Kandidat eine in- oder ausländische philosophische Fakultät als ordentlicher Hörer durch vier Jahre besucht habe. (4) Die ausnahmsweise Zulassung solcher Kandidaten, welche diesen Nachweis nicht zu liefern vermögen, kann auf Antrag des betreffenden Professorenkollegiums vom Staats-

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amte für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten erteilt werden. (5) Desgleichen kann in rücksichtswürdigen Fällen das Professorenkollegium die Genehmigung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten zur Vornahme der Begutachtung der wissenschaftlichen Abhandlung bereits im Laufe des letzten Semesters einholen. § 2. (1) Die geschriebene oder gedruckte Abhandlung hat eine wissenschaftliche Untersuchung über ein frei gewähltes Thema aus einem der dem Bereiche der philosophischen Fakultät angehörigen und mindestens durch eine Lehrkanzel vertretenen Fächer zu enthalten. (2) Ausnahmsweise kann das Professorenkollegium auch eine wissenschaftliche Untersuchung über ein Thema aus einem nicht durch eine Lehrkanzel vertretenen Fach zulassen, wenn dieses eine selbständige, in einem nicht schon durch eine Lehrkanzel vertretenen Fache ganz oder zum überwiegenden Teile enthaltene Disziplin darstellt. § 3. (1) Die vorgelegte Abhandlung wird von dem Dekane zwei Referenten zur Begutachtung zugewiesen, und zwar den ordentlichen Professoren und in deren Ermanglung den außerordentlichen Professoren des betreffenden Faches. (2) Eventuell kann der zweite Referent ein ordentlicher oder auch ein außerordentlicher Professor jenes Faches sein, dem die Abhandlung nach ihrem Inhalt zunächst steht. (3) Sind mehr als zwei ordentliche Professoren des betreffenden Faches vorhanden, so wechseln sie in der Begutachtung ab. (4) Der Dekan bestimmt für die Prüfung des wissenschaftlichen Wertes der Abhandlung einen entsprechenden Zeitraum. § 4. (1) Die zur Prüfung der Abhandlung berufenen Professoren erstatten ein begründetes schriftliches Gutachten über dieselbe und sprechen aus, ob der Kandidat zu den strengen Prüfungen zuzulassen sei oder nicht. (2) Stimmen beide Referenten in ihrem Urteil überein, so verkündet der Dekan ihren Ausspruch dem Kandidaten  ; widersprechen sie sich aber in ihrem Urteil, so ist der Ausspruch über die Zulassung des Kandidaten dem Professorenkollegium vorbehalten. (3) Die Zurückweisung einer Dissertation hat die gleiche Wirkung wie eine nicht bestandene strenge Prüfung (§ 9). § 5. (1) Das mündliche Rigorosum besteht aus zwei strengen Prüfungen, und zwar einer zweistündigen und einer einstündigen. (2) Gegenstand der zweistündigen Prüfung ist  : a) ein der philosophisch-historischen Gruppe angehöriges, durch eine Lehrkanzel vertretenes Fach mit einem anderen Fach dieser Gruppe oder b) ein der mathematisch-naturhistorischen Gruppe angehöriges, durch eine Lehrkanzel vertretenes Fach mit einem anderen Fach dieser Gruppe. (3) Die Wahl des zweiten Faches hat mit Rücksicht auf den Inhalt der schriftlichen Abhandlung der Dekan im Einvernehmen mit den Referenten zu bestimmen. Dem Kandidaten steht es frei, in seinem Gesuche das zweite Fach namhaft zu machen. (4) Gegenstand der einstündigen Prüfung ist die Philosophie. Bei dieser Prüfung hat der Kandidat die Kenntnis eines genügend großen, dem Fache, welchem die wissenschaftliche Abhandlung angehört oder angehören soll, naheliegenden Teilgebietes der Philosophie zu erweisen sowie eine angemessene Beherrschung der Gesamtgliederung der Philosophie nach den Hauptproblemen ihrer Teilgebiete und deren bedeutendsten Lösungsversuchen darzutun. (5) Für Kandidaten, deren wissenschaftliche Abhandlung das Gebiet der Philosophie betrifft, ist der Gegenstand der zweistündigen strengen Prüfung die Philosophie, Gegenstand der einstündigen strengen Prüfung ein Fach der philologisch-historischen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Gruppe. Für Kandidaten, deren wissenschaftliche Abhandlung ein Gebiet betrifft, welches, wie zum Beispiel Geographie, zu den Fächern der einen oder anderen Gruppe in Beziehung steht, kann das zweite Fach der einen oder anderen Gruppe angehören. § 6. (1) Der Dekan führt in der Prüfungskommission den Vorsitz. Im Verhinderungsfalle wird er von dem Prodekan vertreten. (2) Die Prüfungskommission besteht außer dem Vorsitzenden  : a) für die strenge zweistündige Prüfung mindestens aus den beiden Referenten der Abhandlung, im höchsten Falle aus diesem und zwei weiteren, also im ganzen aus vier Examinatoren, b) für die einstündige strenge Prüfung aus zwei Examinatoren. (3) Die Examinatoren müssen in der Regel ordentliche Professoren der zu prüfenden Fächer sein. Im Bedarfsfalle sind außerordentliche Professoren der zu prüfenden Fächer und, wenn es

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die bildungs- und wissenschaftslandschaft der stadt wien

an solchen mangelt, Professoren der nächst verwandten Fächer beizuziehen. (4) Der Vorsitzende ist als solcher zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, zu prüfen. § 7. (1) Die strengen Prüfungen sind öffentlich abzuhalten  ; der Entscheidung über den Erfolg der Prüfung geht eine Besprechung über ihr Ergebnis voraus. (2) Die Beurteilung der Leistung bei den einzelnen Prüfern erfolgt durch die Bezeichnung »ausgezeichnet«, »gut«, »genügend« oder »ungenügend«. (3) Wird keine Teilleistung für ungenügend befunden, so entscheidet die Stimmenmehrheit, ob das Gesamtergebnis der Prüfung »ausgezeichnet«, »gut« oder »genügend« ist, wobei ein »genügend« die Zuerkennung der Auszeichnung ausschließt, jedoch mit einem »ausgezeichnet« zusammen auf zwei »gut« ausgeglichen wird. (4) Stimmt nur ein Prüfer für »ungenügend«, so ist die Prüfung nur bei diesem Prüfer zu wiederholen. Eine Reprobation bei dieser Wiederholungsprüfung durch einen Einzelprüfer bedarf der Zustimmung des Dekans. Der Dekan ist berechtigt, sich bei dieser Prüfung durch einen Professor vertreten zu lassen. Bei der Wiederholung der Prüfung vor einem Einzelprüfer ist die Hälfte der vorgeschriebenen Taxe zu entrichten. (5) Wenn sich mindestens zwei Stimmen für »ungenügend« aussprechen, ist die ganze Prüfung zu wiederholen. § 8. (1) Die strengen Prüfungen können in beliebiger Reihenfolge, müssen aber beide an derselben Universität, an welcher die (geschriebene oder gedruckte) Abhandlung eingereicht wurde, abgelegt werden. (2) Hievon kann nur in besonders rücksichtswürdigen Fällen das Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten nach Einvernehmen der betreffenden Professorenkollegien Ausnahmen gestatten. § 9. (1) Die Bestimmung der Intervalle zwischen den beiden strengen Prüfungen ist dem Kandidaten freigestellt. (2) Wird jedoch ein Kandidat bei einer strengen Prüfung reprobiert, so hat ihm die Prüfungskommission den Termin zur Wiederholung dieser Prüfung auf nicht weniger als drei Monate zu bestimmen. (3) Wird er hiebei abermals reprobiert, so ist nur noch eine Wiederholung, und zwar nicht vor Ablauf eines Jahres, zulässig. Wird der Kandidat jedoch nur bei einem Prüfer zum zweiten Male reprobiert, so kann die Wiederholung der Prüfung schon nach Ablauf eines halben Jahres erfolgen. (4) Bei nochmaliger (dritter) Reprobation ist der Kandidat von der Erlangung des philosophischen Doktorates an einer österreichischen Universität wie auch von der Nostrifikation eines im Auslande erworbenen Doktordiploms für immer ausgeschlossen. § 10. Hat der Kandidat die beiden strengen Prüfungen bestanden, so erfolgt die Promotion unter dem Vorsitze des Rektors und im Beisein des Dekans durch einen ordentlichen Professor als Promotor in der Form der herkömmlichen des Dekans durch einen ordentlichen Professor als Promotor in der Form der herkömmlichen Sponsionen, sofern hiegegen kein Hindernis gemäß § 3 der Verordnung vom 9. Juli 1945, St. G. Bl. Nr. 78, obwaltet. Übergangsbestimmungen. § 11. Studierende, die sich für das Rigorosum zur Erwerbung des Grades eines Dr. rer. nat. durch das Studium eines Hauptfaches der mathematisch-naturwissenschaftlichen Gruppe und zweier Nebenfächer derselben Gruppe oder eines Nebenfaches der mathematisch-naturwissenschaftlichen und eines der philosophisch-historischen Gruppe (aber nicht der Philosophie) vorbereitet haben, können, wenn sie ihre Dissertation bis spätestens Ende des Wintersemesters 1945/46 einreichen, das Rigorosum noch mit dieser Fächerkombination ablegen. Sie erhalten aber auch den Grad eines Dr. phil. § 12. Diese Verordnung tritt sofort in Kraft. Gleichzeitig wird die philosophische Rigorosenordnung vom 16. März 1899, R. G. Bl. Nr. 56, in der Fassung der Novellen B. G. Bl. II Nr. 53/1934 und B. G Bl. Nr. 180/1937 aufgehoben. Fischer 3 In diesem Originalzitat wird Musse mit doppeltem »ss« geschrieben, da in der Schweizer Rechtschreibung kein scharfes »ß« vorkommt.

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günther fleck  4 Bundesgesetz vom 30. Juni 1971 über geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Studienrichtungen. In  : Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1971, Ausgegeben am 17. August 1971, 91. Stück, Nr. 326.  5 Quelle  : Hans Pechar  : Österreichische Bildungspolitik seit den 1990er Jahren. IFF, Universität Klagenfurt. Onlinequelle  : Demokratiezentrum Wien – www.demokratiezentrum.org  6 Quelle  : Studium in Österreich. Herausgegeben von der Österreichischen Hochschülerschaft und vom Österreichischen Auslandsstudentendienst. (o. J., ca. 1971) sowie die Webseiten der einzelnen Universitäten Wiens.  7 Für weitere Details siehe http  ://www.oeaw.ac.at/  8 Für weitere Details siehe http  ://www.fachhochschulen.at/ sowie http  ://www.bmwf.gv.at/startseite/hochschulen/  9 Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945 über die Berufsreifeprüfung zum Erwerb der Studienberechtigung an wissenschaftlichen Hochschulen. In  : Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1945, ausgegeben am 26. September 1945 41. Stück, Nr. 167. 10 Für weitere Details siehe http  ://www.vhs.at/ 11 Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. Artikel 17. Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. StF  : RGBL. Nr. 142/1867. Durch Art. 149 Abs. 1 B-VG im Verfassungsrang.

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Filmgeschichte als Sozialgeschichte der Stadt Wien nach 19451

I

m Jahr 1960 begleitete der legendäre russische Kameramann und Regisseur Roman Karmen Nikita Chruschtschow auf seinem Staatsbesuch in Wien und der anschließenden Tour durch Österreich. Sein Film »Österreich begrüßt den Botschafter des Friedens«2 dokumentierte das Ereignis, dem im Jahr darauf das Wiener Treffen des sowjetischen Ministerpräsidenten mit dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy folgte. Wien kehrte damit, wenige Jahre nach Ansiedlung der Internationalen Atom-Energie-Behörde (1957), definitiv in die Reihe der Städte von transnationaler Bedeutung zurück. Nur fünf Jahre lagen zurück, seit auch der letzte sowjetische Besatzungssoldat Österreich verlassen und das Land seine immerwährende Neutralität verkündet hatte. Chruschtschows Besuch in Wien gab sich als Wirtschafts- und Freundschaftsbesuch, doch er diente einem klaren taktischen Ziel  : Wien, die zur Grenzstadt zwischen den Blöcken gewordene Hauptstadt des neutralen Österreich, sollte für einen diplomatischen Kraftakt als Bühne dienen. Langsam, vorsichtig nähert sich Karmens Film der entscheidenden Passage in diesem Unternehmen an  : Ein stets gut aufgelegter, scherzender sowjetischer Premier, der vor österreichischen Industriellen ein ebenso umgängliches und warmherziges Gehabe vorstellt wie bei seinen spontanen, die polizeilichen Sicherungsmaßnahmen düpierenden Kontaktaufnahmen mit der einfachen Bevölkerung, hebt, nachdem er die Herzen der WienerInnen und ÖsterreicherInnen erobert hat, am Ende des Filmes zu einer Drohrede an. Ihr Ziel ist der deutsche Kanzler Konrad Adenauer. Chruschtschow vergleicht ihn mit Hitler, bezichtigt ihn der Kriegshetze und diktatorischer Gelüste, und stellt in Aussicht  : »… wenn er nur einen Finger gegen die sozialistischen Länder krümmt, vernichten wir ihn  !«3 Ein solches Ende ist unerwartet. Doch es ist nicht unvorbereitet. Karmen baut seinen Film in der für ihn und den sowjetischen Avantgardefilm der 1920er- und 1930er-Jahre signifikanten Technik der Oppositionsmontage auf. Auf stimmungsvolle Sequenzen eines touristischen Wien folgen Erinnerungsbilder an die militärische Befreiung der Stadt im April 1945 durch die Rote Armee  ; Einstellungen auf lebensfreudig genießende Menschen in Straßencafés wechseln mit Aufnahmen von Spuren des Kampfes um Wien, mit verblassenden Aufschriften an Häuserecken in zyrillischer Schrift, die noch nach 15 Jahren verkünden  : Wohnblock überprüft, Ge355

siegfried mattl bäude von Minen geräumt. Die Beschaulichkeit, die aufkommt, wenn Karmens Kamera Wienerwald-Wanderer in Dirndl und Lederhose erfasst, bricht sich an Sprachfetzen, die von erregten Passantendiskussionen herandrängen und den Streit über Erinnern und Vergessen gegenüber der so kurz zurückliegenden Zeit des Faschismus tragen. Der sentimentale Tonfall des Kommentars aus dem Off – kurze, oft lyrische Passagen, manchmal erläuternde Kommentare, dann wieder das Bild überschreitende Assoziationen – hält sich durch den Film durch. Doch mit Verlauf des Films kontrastieren immer stärker Rückblenden auf Krieg und (deutschen) Nationalsozialismus, die im Besuch der Gedenkstätte Mauthausen kulminieren, die Hommage an ein an Kultur, Tradition, Landschaft und aufrecht gesinnten Menschen reiches Land und dessen Hauptstadt. Chruschtschow ist der Botschafter des Friedens, ein gewaltbereiter Botschafter, wie wir am Ende erfahren, aber einer, dessen ehrlicher Absicht man vertrauen kann, weil seine Authentizität in den Straßen, den Kulturbauten und Fabriken von den österreichischen Eliten wie der einfachen Bevölkerung vor der Kamera bezeugt wird. Ist »Der Botschafter des Friedens« deshalb zuvorderst das propagandistische Porträt eines Staatsmannes, dem die Kamera stets auf Augenhöhe begegnet, um ihn populär, menschlich zu machen – oder doch das Porträt einer besonderen Stadt und ihres Umfeldes  ? Die für Karmens dokumentarischen Stil typische Kameraarbeit lässt so eine einfache Entscheidung nicht zu. Der bevorzugte Einsatz der Handkamera und die travelling shots rücken uns so nahe ans Geschehen, dass die klassische dramaturgische Dichotomie zwischen dem Protagonisten und der Masse aufgehoben wird. Affektive Bilder – eine junge Frau mit Baby, die von der Fensterbank aus gelangweilt dem Auflauf und den Debatten auf der Straße zusieht, ein Leierkastenmann in der Kärntnerstraße, Bauarbeiter mit nacktem Oberkörper an einer der Wiener Ausfallsstraßen beim Graben von Künetten – unterbrechen die Handlungskontinuität eines Staatsbesuches, Close-ups geben der in den Wochenschauen üblicherweise zur konturlosen Staffage degradierten Bevölkerung mannigfaltige Gesichter, Interviews zeigen individuelle Meinungen, und Orte, bekannte und weniger bekannte, erzählen Geschichten, die nicht auf einen einfachen Plot hin geordnet werden können. »Wir gehen nicht in der chronologischen Reihenfolge vor«, warnt der Kommentar aus dem Off bei Beginn von Chruschtschows Reise durch das Land im eigens für den sowjetischen Staatsgast adaptierten Postautobus. Nachhaltiger als diese lapidare Ankündigung der vermeintlichen Störung einer traditionellen Reportage verrät, ordnet Karmen die Zeit dem Raum unter. Architekturen, Denkmäler, akustische und visuelle Zeichen der Vergangenheit und der Gegenwart bilden eine einzige Textur, die vom poetischen Kommentar strukturiert wird. Ein Pastiche des kollektiven Gedächtnisses tritt darin hervor, das sich aus urbanen Topoi, Panoramen, StadtMythen, erzählten Erinnerungen und Dokumenten zusammensetzt, sich aber stets 356

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt am Aktuellen nährt, am Anstoß durch Handlungen oder Zeichen, die es reizen und in Bewegung bringen, beispielsweise die Plakate, mit denen die katholische Kirche die WienerInnen zum Boykott des Staatsbesuchs aufruft. Solcherart wird »Der Botschafter des Friedens« ein Stadtporträt von Wien, oder doch präziser  : ein dokumentarisches Filmporträt von Wien und den WienerInnen, dessen Singularität in der ständigen Überschreitung der Grenzen zwischen Geschichte und Soziologie, Topos und Nicht-Ort4, Beharrendem und Ephemerem, Spur und Präsenz besteht. Immer wieder kokettiert Karmen mit den redundanten Werbefilmen der Wiener Tourismusindustrie  : Die Adelspalais der Innenstadt, St. Stephan, gemächlich trabende Fiaker, das Heurigenlokal, Praterszenen. Doch statt der Fügung unter das etablierte Narrativ eines Reisetages durch »lovely Vienna« sprengt Karmens dialektische Montage die Szenografie der barock-folkloristischen Touristenstadt. Karmens Kameraführung trägt dazu maßgeblich bei. Der point-of-view bricht an entscheidenden Stellen mit der Konvention, nämlich wenn es gilt, das soziale Geschehen zu erfassen. Dann sucht Karmen mit leicht gesenkter Kameraposition den filmgeschichtlich verpönten Gegenblick der Menschen, um die Intensität des Ausdrucks zu steigern. Oder er verharrt im Fragment, wenn er dingliche Zeichen des sozialen Lebens aufnimmt, ohne in die Totale zurückzukehren, die panoptisches Wissen suggeriert. Als Ergebnis stellt sich ein anderer Raum ein, ein vielfach gekerbter und politisch-ästhetisch umstrittener Raum, wie ihn die übliche Perspektivierung der Architekturen nicht hervorbringen kann.

Neue methodische Ansprüche in der Sozialgeschichte Nach fünfzig Jahren muss ein filmisches Dokument sich zum Monument verdoppeln, müssen zwischenzeitlich verschwundene Alltagsphänomene fremd und rätselhaft und erklärungsbedürftig erscheinen. Und so trägt Karmens Film für den heutigen Betrachter einen »Überschuss« in sich über die Intentionen seines Produzenten hinaus. »Der Botschafter des Friedens« ist (auch) ein Film über Wiener Habitusformen, die sich unter anderem in vestimentären Codes manifestieren, beispielsweise in Kopftüchern und Dirndln. Diese sind omnipräsent, selbst in den eleganten Einkaufsstraßen der City. Sie führen auf eine Alltagspraxis hin, die für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg medial nicht überliefert ist und die sich zwischenzeitlich verflüchtigt hat, nämlich auf die Annäherung an die ländliche Folklore, womit der neue Österreich-Patriotismus unter Beweis gestellt und die Selbstrückstufung einer Metropole auf den Status der Hauptstadt eines Kleinstaates zum Ausdruck gebracht wird  ; in der Popularität der ländlichen Trachten zeigt sich aber auch eine Selbstbeschränkung, eine Konformität an, verglichen mit dem Stellenwert, den großstädti357

siegfried mattl sche Mode für Wien ehedem gehabt hatte, wenn diese auch durch die demonstrative Sachlichkeit der »neuen Frauen« der Zwischenkriegszeit herausgefordert worden war. Umgekehrt klingt in den Bildern der kommunistischen Jugendlichen, die in ihren Blauhemden und roten Halstüchern eine Ehrenformation bei Chruschtschows Kranzniederlegung am Heldendenkmal der Roten Armee bilden, eine inzwischen verschwundene Reminiszenz an die Inszenierung des öffentlichen Raumes durch politisch-soziale Formationen an  : Es gab eine Zeit, in der »Jugend« in Wien öffentlich dominant als uniformierte, organisierte und disziplinierte, durch politische und berufliche Instanzen markierte, in Übergangsrituale eingebundene Generation sichtbar wurde.5 »Der Botschafter des Friedens« ist aber auch ein sozialtopografischer Film, der über den engeren Raum einer internationalisierten Bürgerlichkeit spricht  : über den Glanz und die mondäne Opernpassage, über eine Jeunesse dorée, die mit dem chromblitzenden Cadillac ins italienische Espresso nahe der Albertina fährt, und über das distinguierte Publikum des Terrassencafés am Cobenzl  ; über die Fabrikarbeiterschaft in Floridsdorf und über die Alten, die in den Kommunalbauten besondere Rücksichtnahme finden  ; ein Film, der aus einer spezifischen Perspektive her, derjenigen eines kosmopolitischen Russen, Jahrgang 1906, Wien neben Paris als international tonangebend für die Ästhetik im alltäglichen Leben betrachtet, ein Film aber auch, der versucht, die Stadt als politisches Gemeinwesen zu erfassen.6 Die Verortung des filmischen Dokumentes in einer Sozialgeschichte der Stadt erfordert die Klärung der Bedingungen, unter denen aktuell Historiografie produziert wird. Obgleich die paradigmatischen Auseinandersetzungen der 1980er- und 1990er, die vor allem durch den transdisziplinären »linguistic turn« ausgelöst worden sind, in der institutionellen Praxis zu einer Öffnung der unterschiedlichen historischen Fächer und Spezialdisziplinen gegenüber text- und kulturwissenschaftlichen Methoden und Theorien geführt haben, fehlt es an einem übergreifenden Konzept. Nach wie vor können wir von einer Krise oder einem Zustand der Transformation im Selbstverständnis dominanter historiografischer Programme ausgehen, die einer unsicher gewordenen Kohärenz von Gegenstand und Beschreibung geschuldet ist. Die Konstituierung scheinbar objektiv-realer historiografischer Untersuchungseinheiten durch Sprache und Diskurse steht ebenso zur Disposition wie umgekehrt die Integration vergangener kollektiver Denkweisen und Gefühlswelten in die Rekonst­ ruktion historischer Wirklichkeiten.7 Selbst Hans-Ulrich Wehler, Vertreter der als »Historische Sozialwissenschaft« am meisten avancierten Sozialgeschichte,8 hat eingeräumt, dass die bislang dominierende Orientierung an überpersonellen ökonomischen Prozessen und auf diesen aufbauenden sozialen Konfigurationen unzulänglich sei. Er diagnostizierte den »theoretischen und methodischen Schwachpunkt« der Neuen Sozialgeschichte in der Ignorierung der Kultur im Sinne der Sozialanthro358

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt pologie bzw. der Vernachlässigung jener praktischen – Wehler spricht von »nicht sachlogischen« – Sinnkonstruktionen, die Strukturen und Prozesse interpretieren, in singuläre Handlungen übersetzen und damit modifizieren und mitgestalten. In anderen Worten  : »(D)ie doppelte Konstituierung der Realität  : zum einen durch die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selber, wurde [in der Sozialgeschichte] nicht ernst genommen.«9 Deutet sich darin für die Sozialgeschichte, die sich als Oppositionswissenschaft gegen die historistische Tradition entfaltet hat, immerhin die Möglichkeit an, durch die Erweiterung ihrer Fragestellungen und Forschungsfelder selbstreferenziell vorzugehen, so hat sich die Stadtgeschichte mit einer weitgehenden eigenen Neuerfindung auseinanderzusetzen. Richard Rogers hat dafür in seiner Einleitung zu »Theory, Practice and European Urban History« (1993)10 den Begriff der »analytischen Stadtgeschichte« in Vorschlag gebracht. Diese soll die »urbane Dimension« als eine unabhängige Variable gesellschaftlicher Veränderungsprozesse hervorheben, die vor allem aus der genuinen Interaktionsform in den Städten hervorgeht – Interaktionen zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen, Dingen und (aus sozialen Aktivitäten hervorgegangenen) Wissensbeständen. Damit unterscheidet sich diese neue Konzeption von Stadtgeschichte sowohl von der lokalen narrativen Stadtbiografie wie von der städtischen Sozialgeschichte, die generalisierte Kategorien (wie Demografie, Migration, Hausbesitz u. a. m.) im lokalen Rahmen anwendet.11 Nicht zuletzt unter dem Einfluss des »spatial turn«12 hat sich das Konzept der Stadtgeschichte aus seiner territorialen und topografischen Fundierung gelöst und den sozialen Praktiken zugewandt. Stadt wird dabei als Handlungsraum wie als Konstrukt eines sozialen und kulturellen Ensembles oder Akteurs aufgefasst. Der Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Deutschen Gesellschaft für Stadtgeschichte schlägt deshalb vor  : »Die neue Stadtgeschichtsschreibung basiert auf der Erkenntnis, dass sie es mit der Analyse einer permanenten ökonomischen, sozialen und kulturellen Produktion von Räumen zu tun hat, die in ihrer Historizität zu erforschen ist. Gefragt wird danach, wie Aneignungen im und in Bezug auf Räume vor sich gingen und Identitäten durch Geschlecht, Ethnizität sowie Schichten- und Klassenzugehörigkeit räumlich kons­tituiert und codiert wurden. Räume sind außerdem als wirtschaftlich, sozial und kulturell umkämpfte Arenen zu begreifen, in denen um Einfluss und soziale Positionierung gerungen wurde. Ihre Bebauung, Gestaltung und ihre Institutionen symbolisierten soziale Ungleichheiten, Herrschaft, Emanzipation, Konflikt und Akkulturation in früheren und gegenwärtigen Epochen.«13 Aus der Öffnung der Sozialgeschichte hin zur Kultur und der Wendung der Stadtgeschichte zum Sozialen lässt sich allerdings noch keine Synthese gewinnen, die eine neue regulative Idee in der Historiografie der Stadt begründen würde. Dies wird ins359

siegfried mattl besondere an der Fragestellung deutlich, ob Städten eine »Eigenlogik« zugeschrieben werden kann. Der Begriff der »Eigenlogik«, wie ihn jüngst Helmut Berking und Martina Löw14 zur Diskussion gestellt haben, macht nochmals die partikularen Funktionen von je einzelnen Städten (oder ihrer Eigennamen) innerhalb eines globalen Raumes der Zirkulation von Informationen, Menschen und Gütern stark und hebt die Perspektive über diejenige des lokalen Handlungsraumes der neuen Stadtgeschichte wie die des empirischen Raumes der neuen Sozialgeschichte hinaus, ohne diese zu verwerfen. Hier würde es sich um die Definition jener Schnittstelle handeln, an der einerseits Urbanität als Bedingung des Sozialen betrachtet wird, wie sie andrerseits selbst, mit der Sedimentierung oder Kristallisierung ihres sozialen, politischen und kulturellen Gewebes, als Subjekt oder Akteur in einem anderen Raum auftreten kann. Dieser notwendige Hinweis15 soll allerdings an dieser Stelle nur dazu herangezogen werden, das Forschungsprogramm offen zu halten für die Registrierung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Geschichte der Stadt bzw. für die Ko-Präsenz unterschiedlicher sozialer Formationen  ; selbst unter Einschluss von Anachronismen, oder auch der »lost causes«16, die in einer am Paradigma der »Modernisierung« orientierten Sozialgeschichte ebenso vom Vergessen bedroht sind wie in einer auf Macht- und Identitätskonstellationen fokussierten urban history. Welcher Stellenwert kann in diesem Spannungsfeld der sozialen Geschichte der Stadt (bzw. deren Historiografie) nun dem filmischen Dokument zukommen  ? Resümieren wir die zuvor präsentierten Problemzonen, so kommt dem Film – zunächst am Idealtyp des fiktionalen Films bemessen – eine kardinale Stelle innerhalb der Analyse von Urbanität zu. Der Film kann sogar zu den intrinsischen Elementen von Urbanität gezählt werden, wenn ein »System Stadt« unterstellt wird. Er generiert in Form des Kinos nicht nur neue Orte, die in die materielle und symbolische Textur der Stadt eingreifen, sondern konstruiert urbane Wirklichkeit auf mehreren Niveaus entscheidend mit. Hier wäre die Hervorbringung einer genuin städtischen Wahrnehmung durch das rein optische Bild zu nennen, das, als bewegtes Bild, die Zirkulation von oberflächlichen Zeichen und die Kombinatorik heterogener Eindrücke organisiert. Seine Fähigkeit, gleichzeitig sensorische und symbolische Bilder zu produzieren, d. h. konkrete Orte mit abstrakten Eigenschaften zu verknüpfen, macht den Film auf anonymer und kollektiver Ebene zu einem essenziellen Träger des oben genannten praktischen Sinns, der Strukturen, Prozesse und Räume interpretiert. Schließlich rückt der (narrative) Film mit seinen dramaturgischen Verknüpfungen von Personen, Handlungen und Räumen in den Rang einer komplexen Kartografie auf, die das Allgemeine einer bestimmten Stadt mit ihren Singularitäten amalgamiert und ein zugleich kognitives wie emotionales »Bild« der Stadt produziert.17

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Visual History Aus der Verwobenheit von Bildmedien mit Weltwahrnehmung und -interpretation, als Gegenstand von Kommunikation, aber auch aus ihrer Speicherungsfunktion vergangener Lebenswelten und Handlungen heraus hat kürzlich Gerhard Paul sein Plädoyer für eine »visual history« gehalten – »visual history« als historiografische Konzeption, die sich darum bemüht, »Bilder über ihre zeichenhafte Abbildbarkeit hinaus als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren. Visual history … umfasst das ganze Feld der visuellen Praxis der Selbstdarstellung, der Inszenierung und Aneignung der Welt, sowie schließlich die visuelle Medialität von Erfahrung und Geschichte.«18 In diesem Programm ist jedoch dem Film bzw. den »fotomechanischen Medien« (Siegfried Kracauer) ein besonderer Platz einzuräumen. Unter den verschiedenen Bildmedien unterhalten sie eine einzigartige Beziehung zur Welt, insofern sie dieser, techno-ontologisch gesehen, ohne kulturelle Codierungen entgegentreten. Wenn die (idealtypisch supponierten) a-signifikanten fotomechanischen Bilder auch einer nachträglichen kulturellen Lektüre offen stehen und im Regelfall auch dafür intendiert sind, so erhalten sich in ihnen Wirklichkeitsbestände, die im Gegensatz zu ästhetisch konzipierten Bildgattungen nicht Notwendiges und unter dem Gesichtspunkt von Zweck und Funktion Überflüssiges enthalten. Siegfried Kracauer spricht davon als vom »Abfall« der Geschichte, vom zur Zeit seiner Aufnahme a-Signifikanten, das indes retrospektiv Bedeutung erlangen kann – als Spur einer Potenzialität, die von der Kontingenz der äußeren (wie der sozialen) Wirklichkeit zeugen kann. Als solche wird der zunächst scheinbar bedeutungslose Rest für eine Historiografie der »Mikrohistoire«, wie Kracauer sie ins Auge fasst, überaus relevant  : Geschult an der im fotomechanischen Bild festgehaltenen Virtua­ lität der Vergangenheit will sie die Schemata der Allgemeingeschichte und deren Interesse an idealtypischen Fällen ebenso hinter sich lassen, wie die alle generalisierende Deutung vermeidende archivalische Historiografie.19 Wenn wir zuvor die volle Entfaltung des Wechselverhältnisses von Stadt und Film im Erzählfilm bestimmt haben, so gilt es mit Bezug auf das Verhältnis des Films zur Stadt- und Sozialgeschichte eine Einschränkung zu wiederholen, die Kracauer bereits vollzogen hat. Der Spielfilm als Untersuchungsgegenstand gibt Aufschlüsse über das kulturelle »mapping« einer Stadt und ihres sozialen Raumes, doch tut er dies aufgrund einer ästhetischen Methode, die prinzipiell totale Kontrolle über das Bild voraussetzt. Kracauer hingegen insistiert bei seinen Überlegungen gerade in Abgrenzung davon auf einem Bild, das von seiner Aufnahme und/oder Stellung in einem einzelnen Filmwerk her sich der lückenlosen Sinnschließung, auf die das 361

siegfried mattl Kunstwerk im Regelfall zielt, verweigert. Dieser von Kracauer geforderte »Realismus«, der nicht mit naturnaher »Abbildung« verwechselt werden darf, muss auch in Anwendung gebracht werden, wenn (neue) Stadt- und Sozialgeschichte und Film als vielleicht ungleiche, aber gleichwertige, weil prinzipiell (zur Wirklichkeit und deren Registrierung) »offene« Erkundungsverfahren behandelt werden sollen. Deshalb setzt dieser Beitrag auch an einem Korpus von nicht-fiktionalen Filmen (Dokumentarfilme, Gebrauchsfilme, Auftragsfilme, experimentelle Filme)20 als Analysegegenstand an bzw. wählt daraus filmwissenschaftlich evaluierte Analyseeinheiten wie Einstellung, Sequenz und Episode. Wir werden die Filme weder ausschließlich als neuen Typus von Quelle noch als durch einen ihnen äußerlichen Diskurs vorstrukturiert und auch nicht als Indikatoren einer Geschichte des Mediums selbst behandeln, wenngleich all dies ebenso wie die Frage nach den Effekten und der Ikonizität einzelner Einstellungen uns immer wieder beschäftigen wird. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die visuelle Präsenz von Menschen und Handlungen in den Filmdokumenten eine unmittelbare Verbindung zu Kräfteverteilungen im sozialen und politischen Raum unterhält. Mit ­Jacques Rancière stellen wir eine »Aufteilung des Sinnlichen« an den Beginn unseres Arbeitsprogramms, d. h. die Annahme, dass die ästhetisch festgelegten wie eröffneten Möglichkeiten des Erscheinens oder Auftretens im öffentlichen Raum und die Formen, in denen sich diese Präsenz Ausdruck verschafft, eine prekäre Grenze bilden.21 Die Verteilung von Akteursrollen und deren Zuteilung an legitime Orte bildet den Inhalt der zum jeweiligen Zeitpunkt gegebenen gesellschaftlichen Ordnung, die gleichzeitig immer schon infrage gestellt oder herausgefordert wird durch permissive Praktiken  ; nicht zuletzt durch die Praktiken jenes von Kracauer identifizierten Filmbildes, das sichtbar zugänglich macht, was den Registraturen der etablierten Ordnung notwendigerweise entgehen muss  : den »Ruhm des Beliebigen«, in Jacques Rancières Worten.22 Nach wie vor ist der Status des Films in der Historiografie nicht gesichert, und die unterschiedlichen Niveaus, an denen eine »visual history« als Quellen-, Medienkultur- oder Gedächtnisgeschichte ansetzt, weisen auch nicht in Richtung einer bald zu erwartenden kohärenten Subdisziplin der Geschichtswissenschaft. Mit dem schon in den 1970er-Jahren formulierten Begriff des französischen Sozialhistorikers Marc Ferro wird der Wert der historischen Auseinandersetzung mit Film deshalb zunächst immer noch im Potenzial bestimmt werden, Stoff einer »Gegenanalyse« zu sein – einer Gegenanalyse zu etablierten historiografischen Diskursen.23

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Eine »fertige« Stadt Die noch kaum begonnene und stark fragmentierte Stadt- und/als Sozialgeschichte Wiens nach 1945 nimmt meist die Tätigkeiten und Planungen der Stadtregierung und der Gemeindeverwaltung zum Ausgangspunkt. Beide gemeinsam bilden den zentralen Akteur, aus dessen Perspektive die Stadtentwicklung kohärent rekonstruiert werden kann und auf dessen Position hin auch Gegenbewegungen, selbsttätiges Alltagshandeln, soziale Strukturen sinnvoll bezogen werden können. Aus einer logisch begründbaren Konzeption heraus behandeln die meisten Gesamt- und Überblicksdarstellungen den Zeitraum nach 1945 nicht als genuines neues Stadtregime, sondern beziehen sich explizit oder implizit auf eine historische Matrix, die auf die Zeit Wiens als Haupt- und Residenzstadt der Habsburgermonarchie zurückführt. In der »longue durée« der Großstadt Wien firmieren die Jahre nach 1945 denn auch als »Wiederaufbau« – ein zunächst im materiellen Sinn gemeinter Begriff für die Beseitigung der Kriegsschäden und der Versorgungsnot, der allerdings zur Allegorie geworden ist, um heute ein Ensemble politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller und nicht zuletzt mentaler Verhältnisse zu bezeichnen.24 Diesem Ensemble eine kohärente Form zu setzen, war erst- und letztmals dem Kunsthistoriker Hans Tietze gelungen. In »Wien. Kultur/Kunst/Geschichte« (1931) war es ihm mit der zwischenzeitlich diskreditierten Methode der Kultur- oder Humangeografie gelungen, ein aus »völkischen« Eigenarten einer autochthonen »bairischen« Bevölkerung, katholischem Universalismus, fürstlichem Kunst-Kosmopolitanismus und der von seiner geografischen Lage her vorgezeichneten Funktion einer Handels-Transitstadt das »Wesen« der Stadt, eine durch Zeiten und Wandel beharrende Individualität Wiens zu konstruieren.25 Für das volle semantische Register des Begriffs »Wiederaufbau« bleibt von Tietzes Schau seine überraschende Erkenntnis relevant, wonach Wien am Ende der Habsburger-Herrschaft eine »fertige Stadt« geworden sei – unfähig, und dies in Tietzes Sicht mit gutem Grund und zu ihrem Besten, zur weiteren territorialen Expansion, zur Erfindung neuer urbaner Praktiken, zur Umarbeitung der Bedürfnisse und Nachfrage seiner (nunmehr provinziellen) Umwelt zu neuen künstlerischen und intellektuellen Lösungen  ; erschöpft auch hinsichtlich des Wachstums seiner Bevölkerung. Diese ans Ende ihrer Entwicklung gekommene Stadt konnte sich aber noch vollenden, und für Tietze war sie das auch im Begriffe zu tun – nämlich durch den Kommunalen Wohnbau und die ihm angeschlossene Fürsorge- und Sozialpolitik des »Roten Wien«. Tietzes Urteil, dem sich wohl die meisten seiner Zeitgenossen anschließen konnten, wurde erst von den nationalsozialistischen Machthabern radikal revidiert, die eine massive Gebietserweiterung zur Schaffung von »Groß-Wien« anordneten  ; sie entwickelten als erste ein »Leitbild«, das Wien zur expandierenden Zentralstadt 363

siegfried mattl für Südosteuropa führen sollte.26 Tietzes Resümee, das indes mehr Tiefenstruktur aufwies, implizierte jedoch eine völlig neue und paradoxe kollektive Mentalität. Es repräsentierte eine Umkehr im Zeitbewusstsein, wodurch anstelle der Zukunft die Vergangenheit als Handlungsraum bestimmt wurde. Mit dem Begriff des »Wiederaufbaus« korrespondiert dieses Zeitbewusstsein in mehreren Hinsichten. Zum einen wurde die Wiederherstellung der Repräsentationsräume historischer Kulturen hauptsächlicher Zeichenträger der Wiederkehr städtischer Normalität. Zum anderen sedimentierten die mannigfaltigen gesellschaftlichen Tätigkeiten im »Roten Wien«, die zivilgesellschaftlichen Praktiken der Mitglieder und Funktionäre von Berufs-, Freizeit-, Bildungs- und sozialpolitischen Vereinen wie informellen Gruppen und die mannigfaltigen Ideen, die sie motiviert hatten, zum administrativen Überbau und zur verwaltenden Norm. Die Überführung der sozialen Experimente des »Roten Wien« in eine weitere, vorerst letzte historische Schichtung der Stadt ermöglichte es auch, die gravierenden Veränderungen zu überblenden, die sich im »Wiederaufbau« vollzogen  ; sie begünstigte auch die Verdrängung des nationalsozialistischen Regimes und seiner massiven Einwirkungen auf das gesellschaftliche Netzwerk der Stadt. Die Verfolgungen im Nationalsozialismus, an erster Stelle die Vertreibung der rund 200.000 (wie problematisch auch immer diese »Identifizierung« ist) Juden, weiters der forcierte Assimilierungsdruck auf die Wiener Tschechen, hatten die ethnische, die ethno-kulturelle und die ethno-ökonomische Zusammensetzung Wiens und damit eine der hauptsächlichen Quellen ihres Metropolen-Status zerstört.27 Die im »Wiederaufbau« – exakt  : im öffentlich dominanten Diskurs des »Wiederaufbaus« – erfolgende Selbst-Historisierung Wiens, die Monumentalisierung der sozialen Geschichte in den »historisch wertvollen« Architekturen und früheren künstlerischwissenschaftlichen Werken verknüpfte sich auf friktionsfreie Weise mit der unspektakulären Transformation der sozialräumlichen Struktur  : Mit dem »Wiederaufbau« setzte die Auflösung des traditionellen, sozial und kulturell heterogenen gründerzeitlichen Gefüges von verdichteten Wohn-, Versorgungs- und Arbeitsquartieren zugunsten einer Trennung nach Funktionen ein. Die systematisch angestrebte, wenngleich nur bedingt erfolgreiche Umwandlung des für divergente Alltagspraktiken offenen Straßenraums in eindimensionale Verkehrsadern reduzierte die mit dem Begriff »Urbanität« verbundene Vielzahl an intendierten und spontanen sozialen Interaktionen und förderte die Homogenisierung des sozialen Lebens, genauer gesagt  : Sie schloss die feinteilige Differenzierung der Bevölkerung nicht aus, aber sie schränkte die Möglichkeiten ein, die Unterschiede zu erleben und auszuverhandeln. In der Sprache der modernen Stadtplanung lautete das Ideal »die aufgelockerte Stadt«. Sozialhygienische und demokratische Argumente flossen hier ineinander. Sie hatten der in den 1920er-Jahren forcierten Reformpolitik ein ambivalentes Gepräge verliehen. Das Vokabular und die Methodiken des beginnenden »social enginee364

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt ring« führten ein biopolitisches Potenzial mit sich, das sich grundsätzlich gegen die Diversität des urbanen Lebens richtete. (Es fand sein erstes kompaktes, ins Totalitäre gewendetes Programm in der nationalsozialistischen Stadt- und Regionalplanung, die ständische Raumgliederungen mit der Politik der »ethnischen Säuberung« verknüpfte.) Modellhaft formuliert  : Die Elementarisierung der Lebensbereiche und ihre Organisierung in präzise definierten Räumen -– Siedlungen, Industriezonen, Verwaltungs- und Dienstleistungsviertel, Kulturbezirke, Erholungslandschaften – eröffneten ein größeres Maß an Kontrolle über die Bevölkerung und die Verwandlung von Politik in technokratische Planung. Verbunden damit war der Wunsch nach einer sozialen und kulturellen Konformität, die an die statistischen Typen heranführen konnte, wie sie großmaßstäblicher Planung zugrunde liegen.28

Soziale Dystopien und »Weltstadt« Der im Auftrag der Stadtverwaltung 1952 gedreht Film »Stadt am Morgen«29 legt allerdings nahe, dass dies nicht ohne radikalen Eingriff in das imaginäre Bild der Stadt geschehen konnte. In einer bemerkenswerten Einstellung zu Beginn des Films konfrontiert uns die Kamera mit Bildern, die aus den Slums von »Dritte-WeltStädten« stammen könnten. Eine halbbekleidete Frau geht, einen Wassereimer in der Hand, durch eine Zeile von Holzbaracken. Frauen mit Kindern auf dem Arm schlendern müde den staubigen Weg durch eine wilde Gras- und Hügellandschaft entlang, Männer sitzen untätig am Wegrand. Wäsche flattert auf einer Wäscheleine, ein streunender Hund läuft durchs Bild. Im Hintergrund scheint eine alleinstehende graue Mietkaserne auf. Rauchende Schlote und ein Fabrikgelände kommen in den Blick. Mit zwei, drei Schnitten und langsamen Schwenks, die einer Plansequenz angenähert sind, wird dieses Bild zu einer chaotischen Industrielandschaft verdichtet  : ein vielfach überbautes Gebäudegewirr, dessen rauchende Kamine die Sonne verdunkeln. Dieses wild gewachsene, exotische Stadtviertel, so macht der Kommentar aus dem Off klar, ist entstanden, weil hier Planung fehlte und soziale Einsicht – es ist ein Stadtviertel wilder Siedler, die mit der Zerstörung des Grünraums nicht nur sich selbst schaden, sondern auch der Stadt, da sie ihr das »natürliche« Wachstumsgebiet rauben. Das Wien von »Stadt am Morgen« droht, von Dystopien infiziert und zersetzt zu werden. »Stadt am Morgen« hat mit dem Wien von Roman Karmens »Botschafter« wenig gemein. Hier treffen wir auf eine Stadtfigur, die auf das Äußerste reduziert ist  : auf das Wohnen und auf den Verkehr. Beides sind Probleme, die künftig zu lösen die Aufgabe der Protagonisten des Films ist – der Stadtplaner, der Planungs-Ingenieure, die in einsamer Büroarbeit am Reißbrett die effektivsten Straßen und die optimalen 365

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Abb. 1: Stadt am Morgen

Abb. 2: Stadt am Morgen

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Abb. 3: Wien 1963

Abb. 4: Wien 1963

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Abb. 5: Wien 1963

Lagen für neue Siedlungen entwerfen. Stilistische Anleihen bei der britischen Dokumentarfilmtradition der Grierson-Schule, beim italienischen Neorealismus wie beim film noir – die stummen körperlichen Gesten, das Spiel mit Licht und Dunkel – unterstützen die Tendenz des Films, die Menschen der Stadt auf das Kreatürliche und die bloße leibliche Existenz zu reduzieren. Das großstädtische Leben der Einkaufsstraßen, der Cafés, der Kultur- und Vergnügungs-Etablissements ist ausgelöscht, es findet nur noch als ferner Abglanz in den gemeindeeigenen »Häusern der Begegnung« statt, die immerhin vom Charme amateurhaft gestalteter Auslagen Zeugnis ablegen. Etwas Gespenstisches liegt über diesem Wien, das schon von der Tonspur ausgeht  : ein unsichtbarer, alles wissender Sprecher, der Metamorphosen durchwandert und zur klagenden Stadt selbst wird. Die anonymen Frauen aus der wilden Siedlung, die in ihren Bewegungen mehr Schatten gleichen als lebendigen Menschen, finden ein merkwürdiges Pendant in den Bewohnern der neuen lichtund luftdurchfluteten Siedlungen, aus denen das neue Wien bestehen soll. Auf ihren Balkonen im Liegestuhl, isoliert von anderen Menschen und von jeglichem sozialem Geschehen, gleichen sie Robotern. Oder Gefangenen. Nur die Kinder beim Spiel 368

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt im Kindergarten und die Alten beim Kartenspiel in den Lauben des Gemeindebaus erwecken den Eindruck von Lebendigkeit, wenngleich in einem durch Zäune und Mauern eingehegten Raum. »Stadt am Morgen« zählte zu einer Serie von Filmen, die den gemeinsamen Arbeitstitel »Sozialer Wohnbau« trugen. Auf eine paradoxe Art und Weise zielten diese Filmbilder aber weder auf die Visualisierung schichten- und klassenspezifischer Ungleichheit, wie dies dem Bildprogramm des »Roten Wien« zugrunde gelegen hatte, sondern auf die Eliminierung jeder Idee von partikularen Gemeinschaften, ja von Gemeinschaft überhaupt. Es hat den Anschein, als sollte auch noch jede Reminiszenz an die Kollektivität getilgt werden, die den Gemeindebau des »Roten Wien« gestützt hatte, nicht anders wie die Erinnerung an die metropolitane Tradition verbannt wurde. Selbst die tief verwurzelten Zeichen historischer Identität, die als Arenen vergangener Auseinandersetzungen um Macht und Repräsentation angesprochen werden konnten, wurden umgangen. So vermeidet der Film, während er die eben fertiggestellten Rolltreppen bei der Opernkreuzung unter dem planerischen Gesichtspunkt der Beschleunigung und Effizienzsteigerung des Straßenverkehrs präsentiert, auf exemplarische und signifikante Weise das soziale Geschehen und die sonst obligatorische repräsentative Kadrierung des Opernhauses. Die Vergangenheit Wiens und deren Schichtung wird exklusive als Bürde eines anonymen Geschehens erfasst, nämlich als lichtloser, stickiger Hinterhof, auf dessen schmutzigem Grund Kinder ihre Spiele treiben müssen. Nur der eingangs vollzogene und am Ende des Films wiederholte Schwenk über die Dachlandschaften der Innenstadt spielt nochmals mit der Lokalität und der Individualität Wiens, ohne ihr allerdings einen Eigen­wert zuzuerkennen. In seiner Grundaussage stellte der Film eine Stadt ohne Eigenschaften vor. Das neue Stadtregime, das sich nach 1945 – transnational – im modernen Stadtplanungsdiskurs und den Stadtentwicklungsstrategien abbildete, schien mit der zuvor genannten Selbst-Historisierung Wiens durchaus kompatibel zu sein. Mit Ende des »Wiederaufbaus« trat eine neue Formel auf, die das Moment der Rückkehr wie selbstverständlich stark machte  : »Wien wird wieder [sic  !] Weltstadt«. Das Textdokument, das diese nachfolgend auch in Werbekampagnen umgesetzte Parole präsentierte, kann mit gutem Grund als neues Leitbild angesprochen werden. Es fasste wirtschaftliche, demografische, kulturelle und geografische Aspekte zu einem Maßnahmenkatalog zusammen, der die Investitionspolitik der Stadt in die verschiedenen Formen ihres »Kapitals« steuern sollte. Der Kerngedanke dieses Leitbildes kann folgendermaßen umrissen werden  : Wien sollte im Verbund mit der Linzer und obersteirischen Hüttenindustrie eine eisenverarbeitende Industriestadt werden, die sich zentral auf den zum europäischen Zentralhafen auszubauenden Wiener Hafen stützen würde. Als drittes Fundament sollte die Energiewirtschaft – Donaukraftwerke und Erdölindust369

siegfried mattl rie – forciert werden. Neben den Industriezonen an der Donau sollte die Entwicklung der Stadt vorwiegend im Süden zur »Stadtlandschaft« vorangetrieben werden, die das gewerbliche und industrielle Potenzial im Umkreis der »Ergänzungsstädte« Bruck a. d. Leitha, St. Pölten und Wiener Neustadt zu erschließen gehabt hätte. Das wichtigste Projekt der auf das Gesamtvorhaben berechneten Verkehrsinfrastruktur sollte die Errichtung eines Flug-Großhafens im Marchfeld sein. Die Planungsphilosophie hinter »Wien wird wieder Weltstadt« führte teils das nationalsozialistische Leitbild weiter, insbesondere was die Konzentration auf den Wiener Hafen als Träger der Stadtökonomie und der Industrialisierung anlangte. Teils reagierte sie auch auf die Industriegründungen nach 1938 wie etwa auf den Ausbau des »Industriehorstes Liesing« im Zuge der Gründung der »Flugmotorenwerke Ostmark« und die als Torso hinterlassenen Großvorhaben Donau-Oder-Kanal und Reichsautobahn. Auch die geopolitische Fundamentierung der Funktionsbestimmung Wiens als »zentraler Ort« für Südosteuropa wurde von der nationalsozialistischen Großraum-Politik übernommen  ; freilich reichten die einzelnen Bausteine dieses Konzeptes in die Zeit weit vor der ns-Machtübernahme zurück. Allerdings unterschied sich die Prioritätensetzung von »Wien wird wieder Weltstadt« von der nationalsozialistischen Planung entschieden dadurch, dass sie die Industrialisierung der Stadt forcieren wollte. Die Nationalsozialisten beabsichtigten, ehe der Kriegsverlauf zur Verlagerung der Rüstungsindustrie in den Wiener Raum führte, den Ausbau der »Funktion« Wiens als Handels-, Handwerks- und Dienstleistungsstadt. Sie begründeten dies mit der Berufs- und Betriebsstättenstruktur, dem hohen Anteil qualitativ hochstehender, indes kleinbetrieblich produzierender Unternehmen, die gehobene Konsumgüter herstellten. Gerade vor rivalisierenden Wien-Konzeptionen der ns-Zeit – Mode-, Messe- oder Kultur-Stadt – tritt hervor, dass die »Weltstadt Wien« 1955 als außenwirtschaftlich orientierte Ökonomie basierend auf transnational tätigen Industriekonzernen gedacht worden ist. Der Rückbezug auf den Nationalsozialismus soll keine vordergründige Kontinui­ tät suggerieren. Die Weltstadt-Konzepte aus 1955 könnten ebenso als – allerdings nicht-reflexive – Bruchlinie analysiert werden, mit der auf die vergangene ns-Herrschaft reagiert wurde. Gerhard Meißl hat in einem Essay zur sozioökonomischen Entwicklung Wiens eindrucksvoll beschrieben, wie nach 1945 das us-amerikanische Modell des »Fordismus«, mit seinem Herzstück der großindustriellen Massen- und Massenkonsumgüter-Produktion, als demokratische Alternative zur ns-Kriegswirtschaft verstanden worden ist.30 Weiters sind aktuelle Problemzonen zu beachten, die zu den Überlegungen beigetragen haben müssen. Die Besatzungszeit und die alliierte Zonen-Bildung hatten zu einer drastischen Abwanderung der Industrien aus dem Osten Österreichs in den Westen geführt, während mit Abschluss des Staatsvertrages die sowjetisch kontrollierten Betriebe in und um Wien – und hier insbe370

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt sondere die Erdölindustrie – übernommen und reorganisiert werden mussten.31 Im neuen, nach »Blöcken« geteilten Europa und durch die Begründung der kommunistischen Zentralwirtschaftssysteme war die Option unrealistisch geworden, zentraler Finanz- und Dienstleistungsplatz für Südosteuropa zu bleiben  ; ebenso schwand aber auch die Chance, zentraler Standort für die Verarbeitung südosteuropäischer Agrarprodukte zu werden, wie dies die ns-Planungen für das Gebiet um den Handelshafen vorgesehen hatten. Insofern konnte die grundlegende Umorientierung durchaus vorteilhaft sein, Wien in die regionale Ökonomie einzubauen, statt an der Vision eines imperialen Zentrums festzuhalten. Bedeutsam, um auf die oben genannte Sedimentierung sozialer Aktivitäten in administrative Normen zurückzukommen, ist aber die (zunächst theoretische) Einbettung der Bevölkerungspolitik in dieses Konzept. Als erstes berührt dies den der demografischen Situation zugewiesenen Stellenwert. »(D)ie bevölkerungsbiologische Struktur Wiens«, so hieß es in einer nach den Gräuel der nationalsozialistischen Rasse-Politik befremdenden Sprache, »ist gegenwärtig durchaus ungünstig und es bedarf ernsthaftester grundsätzlicher Anstrengungen, um ein weiteres Abgleiten des Bevölkerungsgefüges von Wien zu verhindern. Wenn den so ausgezeichneten geopolitischen Möglichkeiten des Wiener Raumes eine so geschwächte bevölkerungsbiologische Entwicklung gegenübergestellt ist, so wird dieser Umstand weitgehend alle Planungs- und Entwicklungsüberlegungen für das Wien von morgen beeinflussen müssen.« Und weiter  : »Die Geschichte lehrt, dass dort, wo ein bevölkerungsbiologisches Vakuum eintritt, mit atomarer Kraft andere Bevölkerungskreise einsickern [sic  !], die die wirtschaftlich nicht ausgenützten Möglichkeiten von sich aus wahrnehmen. Sollen die Wiener zusehen, wie sie aus ihrem ureigenen Lebensraum durch biologisch kräftigere Bevölkerung verdrängt werden  ?«32 Dieses in einem denkbar ungünstigen Verhältnis zum Anspruch auf »Weltstadt« stehende Argument bereitete in einem Syllogismus die kardinale Interessenpolitik der Stadtverwaltung auf  : Schuld tragend an der diagnostizierten ungünstigen demografischen Entwicklung sei die schlechte Wohnstruktur und -substanz, die ein Erbe der Gründerzeit sei. Eine »gesunde, natürlich gefügte, wohlproportionierte Gesellschaft« könne nur aus der Beseitigung der bestehenden zu dichten und schlechten Verbauung im geschlossenen Stadtgebiet und dem Wohnbau auf Grünland in offener Bauweise hervorgehen. Der 1958 zum Planungsstadtrat ernannte prominente Architekt Roland Rainer gab dieser Willensbekundung eine Form. Sein »Städtebauliches Grundkonzept für Wien«33 sah die Umsiedlung von Industrie- und Gewerbebetrieben aus den Stadtlagen in Industriezonen im Süden und Osten, die in verdichteter Flachbauweise zu entwickelnde »Bandstadt« entlang der Südachse, den Abbruch von Gründerzeit-Strukturen zur Erzielung von Grünzungen im Stadtgebiet und die Errichtung von Nebenzentren mit »City«-Aufgaben in den Bezirken 371

siegfried mattl vor  ; Stadtautobahnen, Schnellstraßen und Untergrundstraßenbahnen sollten die Verkehrswege effizienter machen und die Stadterweiterung begleiten. Zu den traditionsreichen Ensembles, die diesem Umbau zum Opfer fallen sollten, hätte auch der Wiener Naschmarkt gezählt, der einer Autobahn durch das Wiental weichen sollte. Das demografische Argument wurde so zur eigentlichen Triebkraft hinter dem Projekt, eine Stadt nach den Regeln des Fordismus zu entwickeln. Die mitunter spektakulär anmutenden Umgestaltungspläne dürfen nicht vergessen machen, dass es sich dabei um nichts mehr und nichts anderes als einen Diskurs gehandelt hat. Die Auseinandersetzung mit Diskursen setzt allerdings dort an, wo ihre Macht bestimmt werden soll, über das Sichtbare und das Sagbare zu entscheiden, eine scheinbare »Evidenz« davon zu erzeugen, welche räumlichen Verteilungen von Menschen und Tätigkeiten Sinn haben, und welche nicht. In besonderem Maße werden damit die visuellen und akustischen Programme relevant, die uns Wien sozusagen in unterschiedlichen Aggregatszuständen und aus verschiedenen mentalen Perspektiven her zeigen.

Asyle und Avantgarden Besonders bedeutend wird vor diesem Hintergrund ein Korpus von Wien-Filmen, das im Auftrag der Gemeinde Wien zwischen 1952 und 1964 entstanden ist.34 Diese Gebrauchsfilme präsentierten meist in Reportagestil die sozialen und kulturellen Einrichtungen der Stadt Wien (Kindergärten, Tagesheime, Altenheime, Museen, Theater an der Wien), städtische Unternehmen und Betriebe (Feuerwehr, Müllverbrennungsanlage, Straßenbeleuchtung), Verkehrsbauten und Verkehrsinfrastruktur (Unterführungen, Fußgänger-Übergänge), Neubauten (Ringturm, Stadthalle) und Parkanlagen. Das »moderne« Wien dieser Filme ist das Werk einer im Bild zumeist abwesenden Stadtverwaltung. Maßgebend ist die Sichtbarkeit einer effizienten Organisation großmaßstäblicher öffentlicher Versorgungs- und Dienstleistungen, die für eine unspezifische »Allgemeinheit« erbracht werden. Die für den Gebrauchsfilm nicht unbedingt überraschende Fokussierung auf Handlungen und Situationen, die im urbanen Alltag als Selbstverständlichkeit der Wahrnehmung entzogen sind, stellen sozialhistorisch gesehen dennoch auf drei signifikante Phänomene ab. Zum einen stellen sie den Gedanken der räumlichen Ordnung als polizeiliche Logik35 aus. Sie sprechen von einem massenpädagogischen Programm, das zur Beachtung von Vorschriften und Regeln im öffentlichen Raum insbesondere unter der Prämisse der Interesseneinheit von städtischen Institutionen und Bevölkerung auffordert. Zum Zweiten konzentrieren sie sich, sobald soziale Subjekte ins Spiel kommen, auf zwei demografische Großgruppen, auf Kinder und alte Menschen. Beide Gruppen sind 372

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt in sich weniger differenziert als andere vergleichbare Kohorten und durch eine gehemmte Aktionsfähigkeit gekennzeichnet. Sie sind damit in besonderem Maße dazu geeignet, sowohl die Fürsorglichkeit der Verwaltung als auch den Anspruch sinnfällig zu machen, eine »soziale Stadt« zu sein  ; sozial freilich im Sinne des Versorgungsstaates. Der Asylcharakter von Heimen und Schulen36 schafft einen organischen Übergang zur friktionsfreien Visualisierung einer nach Funktionen geordneten Stadt. Zum dritten integriert das Bildprogramm dieser »sponsored films« die in symbolische Architekturen gebannte Moderne in die Tradition. Neubauten wie Ringturm und Stadthalle werden nicht zuletzt durch die Präsentation als baukünstlerische Solitäre in die Reihe der landmarks aufgenommen, während ihr Verweisungsgehalt auf damit einhergehende zeitgenössische Veränderungen (Dienstleistungsgesellschaft, Konsumkonzentration, Büroarbeit von Frauen) verdrängt wird.37 Ein solches Bildprogramm, das »Moderne« von Wandel abspaltet, bildet sozusagen die Kehrseite zur Bannung der historischen Tiefenschichten und ihrer Erinnerungsfunktion, die man anhand von »Stadt am Morgen« beobachten konnte. Zwei Werbefilm-Serien brechen allerdings aus dieser dem Muster des klassischen Kulturfilms folgenden Reihe von Filmen aus, auch wenn sie innerhalb des zuvor umrissenen Themenfeldes bleiben. In beiden Fällen handelt es sich um zwei- bis dreiminütige Humoresken, die rund um das Figurenrepertoire populärer Rundfunk- und Fernsehstars organisiert waren. Heinz Conrads mimte in 15 Sketches von »Du und deine Stadt« (1958) den mündigen, denkenden und vernünftigen Wiener Bürger, der die keineswegs leichte Aufgabe übernahm, sein ständig unzufriedenes und im Umgang mit den Leistungen der Gemeinde verantwortungsloses Gegenüber (den Kabarettisten Fritz Heller) zu belehren. In der zweiten Serie »Und das alles für mein Geld« (1961) spielte Hugo Gottschlich den grantigen Wiener, der keine der Maßnahmen der Gemeinde (die Pflege der Parkanlagen, die Sicherheitseinrichtungen der zuvor bereits genannten Fußgänger-Übergänge, die Benutzungsvorschriften der Straßenbahn) gelten lassen will, auch wenn seine Dummheit immer wieder bestraft wird. (Der Spot zu neuen Verkehrsampeln brachte nochmals drastisch die Asymmetrie zwischen zwei Akteuren – vernünftige Verwaltung und stereotyp unvernünftiger Wiener Bürger – zum Ausdruck, in diesem Fall die hartnäckige Resistenz des traditionalistischen Bürgers gegen die Einführung »moderner« Regeln (automatische Ampelschaltung), die in Renitenz übergeht  : die Beschwerde, dass die Neuerungen auch noch durch Steuern finanziert wurden.38 Beide Serien, denen noch eine Werbefilmstaffel mit Heinz Conrads unter der Regie von Kurt Steinwender folgte39, schlossen an den spätestens 1873, zur Zeit der Weltausstellung, bereits gut etablierten Topos der »Wiener Typen« an. Obgleich zunächst an bestimmte, vom Verschwinden bedrohte Berufsgruppen (wie die Fiakerfahrer und die Blumenverkäuferin) angelehnt, repräsentierten die »Typen« ein für 373

siegfried mattl Modifizierungen und Aktualisierungen offenes Rollenrepertoire einer imaginären urbanen Folklore. Sie sind deshalb von den sogenannten »Wiener Originalen« zu unterscheiden – vor allem, wie wir später noch sehen werden, wo es dem Dokumentar- und Experimentalfilm um eine exakte Aufnahme des sozialen Raumes gegangen ist. Eingebettet in die »sponsored films« der 1950er- und frühen 1960er-Jahre weist der Auftritt der »Wiener Typen« aber auf die Ambivalenz der Modernisierung und des propagierten Fortschritts hin. Die intendierte Homogenisierung der Bevölkerung wie die Neuordnung des urbanen Raumes nach fordistischen Parametern löst jedenfalls auf der Ebene der visuellen Repräsentation ein Identitätsproblem aus oder lässt eine Lücke sichtbar werden. Auch geht der Entwurf und Plan des »neuen Wien«, der sich auf die Stadtperipherie an der Donau und im weiteren Bereich des Wienerberges erstreckt, nicht ungeteilt in die Alltagserfahrung über. Im engeren Stadtgebiet, d. h. innerhalb des historischen Stadtgebietes und der Gründerzeitviertel, ist die Mobilität gering und sind die sozialen Nahbeziehungen (einschließlich der Diversität, die sie immer schon gekennzeichnet hat) noch stark.40 In singulärer Weise kommt diese Ambivalenz in Edwin Zboneks Film »Wien 1963« zum Ausdruck. Das »neue« Wien setzt sich dramaturgisch gleich mit Beginn des Films vom Bild einer Stadt ab, das von Mumifizierung spricht. Ein letztes Mal wird das Inventar der Postkartenmotive der Ringstraßen-Ära aufgerufen  : Oper, Burgtheater, Rathaus, Stephansdom als urbanes »Herbarium«, als Kultstätte des touristischen Blicks. Diesem ironischen Prolog folgt eine zehnminütige fulminante sensomotorische Bildmontage durch eine Stadt, deren einzige Eigenschaft die ist, modern zu sein – oder besser  : modern (im Sinne von »zeitgemäß«) zu werden. Die Ringpassagen, die Tramway und die Schnellbahn, Baukräne und Fertigteilfabriken, Verkehrskreuzungen, der Ringturm, die Wohnhochhäuser und die Stadthalle sind die wahren Protagonisten Wiens fernab von den imperialen Zeugnissen. Der internationale Stil – ornamentlose Scheiben- und Plattenbauten mit Loggien und durchgehenden Fensterbändern – dominiert den kommunalen Wohnbau und bringt im visuellen Bezug zu zeitgenössischen Projekten wie dem Hotel »Interkontinental« am Stadtpark und dem aez am Eingang der Landstraße einen neuen Stilwillen zum Ausdruck. Der Theater- und Filmregisseur (und spätere Leiter des Filmfestivals »Viennale«) Edwin Zbonek zeigt ein hyperaktives Wien, das sich selbst aus translokalen Funktionen und Regeln aufbaut  ; eine Maschine Le Corbusier’schen Zuschnitts, die permanente und ungestörte Bewegung zwischen funktionalen Orten zu garantieren hat. In dieser internationalen Stadt kann der Film endlich zu sich selbst kommen. Er ist der neue Sinnesapparat, der die Flüsse und Ströme von Menschen, Dingen und Ideen erfassen und gestalten kann. »Wien 1963« beendet die Gewohnheit, die Stadt nach markanten und fixen Orientierungspunkten zu ordnen. Modern sein heißt hier neu sehen lernen. Die Wahrnehmung wird durch rasche rhythmische Schnitte und 374

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt phantome rides auf das Spektakuläre des scheinbar trivialen Stadtalltags orientiert. Der von Carl de Groof komponierte Filmscore unterstützt mit Jazzparaphrasen und grazilen, tänzelnden Motiven zeitgenössischer Klassik das Vorwärtsdrängen der Filmbilder. Geradezu diabolisch nehmen sich in diesem forcierten Bewegungsbild jedoch Sequenzen aus, die einen Riss markieren – einen Bruch im Rhythmus wie in der Tonspur. Etwa zur Mitte unterbricht der Film seine Richtung und führt in den Blindengarten im Wertheimsteinpark. Die eintretende Stille verstärkt den Eindruck, der von den tastenden Händen der blinden Parkbesucher ausgeht. Sie sind von den genuinen visuellen Freuden an der neuen Stadt ausgeschlossen, die durch das sensomotorische Band zwischen filmischem Apparat und Bewegungsflüssen hergestellt werden. Doch das Bild oszilliert. Die haptische Sinnlichkeit der Blinden, die Blumen und Sträucher berühren und ihren Duft einatmen, die mit ihren Stöcken die unterschiedliche Beschaffenheit der Wege und Wiesen ertasten, die sich zu gemeinsamen Spielen zusammenfinden oder auch nur in Sonnenstühlen die Wärme genießen  : Verweisen ihre Handlungen nicht auch auf den Verlust von Erfahrungsmöglichkeiten und auf den Rückzug der voll entfalteten menschlichen Sensibilität in Refugien und Asyle  ? In jedem Fall sind die Blinden (neben den Kindern, die gleichfalls eingeschlossen sind41) die einzig wirklich aktiven Menschen, sowohl in der Aneignung des Raumes als auch in ihrem gemeinschaftlichen Leben. Die anderen sind nicht mehr als Passanten, die sich an die materiellen Prozesse und Strukturen der modernen Stadt zu adaptieren haben, bestenfalls Konsumenten städtischer Dienstleistungen. In die radikale Monotonie und reine Gegenwart des fordistischen Stadtprojekts von »Wien 1963« stürzt ein Jahrzehnt später Ernst Schmidt jr.’s »Wienfilm 1896– 1976« geradezu herein.42 Der Filmkritiker Bert Rebhandl kommentiert  : »Die Stadt, die Ernst Schmidt jr. erforscht, ist selbst nicht modern. Sie wird es erst durch diese Darstellung, in der das Wienerlied und die konkrete Poesie, das selbst gedreht Super– 8-Material und alte Filmaufnahmen aus russischen Archiven gleichwertig behandelt werden. Wien kommentiert sich unentwegt selbst, der Filmkünstler montiert dieses Selbstgespräch so, dass der Unsinn auch Sinn macht, der Tiefsinn weniger.« Der Komplexität des Films wird man am ehesten gerecht, wenn man ihn zunächst als einen Gegen-Mythos interpretiert  : Im Gegensatz zur Chronologie und Linearität, die der Titel suggeriert, sehen wir uns einer Zeit-Raum-Kompression gegenüber, die in einem die Vergangenheit und Aktualität in ein »Wesen der Stadt« – um nochmals an den zuvor genannten Hans Tietze anzuschließen – verwandelt, zum anderen aber durch die Isolierung, Re-Kontextualisierung und Um-Codierung der Elemente, die den Stadt-Mythos bilden, ein permanentes Spiel von Auflösung und Neukonstruktion dieser Identität vorantreibt. »Wienfilm 1896–1976« ist ein Collagefilm  : Bilder und Töne werden auf freie, beliebige Art zusammengesetzt. »Beliebig« bezieht sich in diesem Film auf den freien 375

siegfried mattl und subjektiven Assoziationsfluss der optisch-akustischen Montagesequenzen, nicht auf die formale Struktur des Films und auch nicht auf eine willkürliche oder unkontrollierte Verfahrensweise. In der Tradition der Filmavantgarde stehend, charakterisiert den Film gerade umgekehrt die strenge rhythmische Komposition, die ihm auferlegt wird. Redundante Bildkader von notorischen Denkmälern und Skulpturen werden ebenso wie triviale Bilder des Alltags einer beschleunigten Montage unterworfen, die ihren denotativen Gehalt angreift und die Sensomotorik, die das Medium Film von den Anfängen her mit der Stadt verbindet, ins Zentrum der Beobachtung stellt. Motive und Elemente werden analog einer Partitur zyklisch wiederholt und variiert  : eine Passantenbefragung (»Wem gehört Wien  ?«), sowjetische Dokumentaraufnahmen von der Befreiung Wiens 1945, physiognomische Beobachtungen, Straßenbahnfahrten, Szenen vom Wiener Weihnachtsmarkt, DichterInnen-Lesungen, Wochenschauberichte zum Bürgerkrieg 1934, Armin-Berg-Lieder, Schaufensterdekorationen, zwei aufgeweckt erzählende »arena«-Kinder, ein Schimpanse an der Hand Joe Bergers, der Heldenplatz (in allen seinen politischen, filmischen und touristischen Saisonen), Blicke in einen Hinterhof, Performances der Wiener Aktio­ nisten … Die formale Strenge und die visuellen Experimente des Filmes (stroboskopische Schnitt-Effekte, Einfügung von Negativ-Material, Entkoppelung von Bild und Ton …) erlauben auch Unterbrechungen durch Einstellungen, die von barocker Ironie sprechen, durch Exkurse (wie den zur Psychiatrieanstalt Baumgartner Höhe), ohne einen Raum der Repräsentation zu eröffnen. Die »Beliebigkeit«, von der zuvor die Rede war, liegt deshalb nahe an den Sprachexperimenten der literarischen historischen Avantgarden bei ihrem Bemühen, die Großstadt als delirierenden Zeichenfluss zu erfassen. Der Film – in Wien seit der ersten Aufnahme durch die Brüder Lumière 1896 (»Cinematograph« in der Kärntnerstraße) – hat der urbanen Mannigfaltigkeit allerdings eine mediale Form gegeben, die Sinngenerierung durch Wiederzugänglichkeit der Bewegungsbilder ermöglicht  : »Wienfilm« als unentscheidbares Changieren zwischen Abbild und Konstruktion der Stadt. Gegenüber der scheinbar neutralen Registrierung des »neuen Wien« in »Wien 1963« setzt »Wienfilm 1896–1976« auf ein in hohem Ausmaß artikulationsfähiges Subjekt. Kunst und Alltag, Poetik und Realität verschmelzen dort, wo ihre Versöhnung ursprünglich angedacht worden ist  : in der Avantgarde. Die Avantgarde, insbesondere die Wiener Avantgarde trägt jedoch nicht mehr die geschichtlichen Züge der radikalen Utopie und der Praxis, sondern die der Selbstreflexion. Dem begegnet man zunächst und expliziert in der Einarbeitung von Wien-Filmen Marc Adrians, Dieter Roths, Ernst J. Lauschers, Valie Exports, in den Auftritten der Schriftstellerinnen und Schriftsteller Friedrich Achleitner, Irina David, Pahdi Frieberger, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und anderer, im Arbeits-Porträt Arnulf Rainers und in Auskoppelungen von Otto Mühls Material-Aktionen aus den Aktionisten-Filmen 376

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt Kurt Krens. Diese Kreise der Avantgarde – und dies macht den lokalen Kontext ebenso nötig wie deutlich – konfrontieren uns mit einem vielfältigen Raum und ebensolchen räumlichen Praktiken. Im Gegensatz zu anderen Großstädten ist die Wiener Kunst-Avantgarde (so wie Intellektuelle außerhalb der von den politischen Parteien kontrollierten Öffentlichkeit generell) im sozialen Feld marginalisiert. Sie gleicht in ihrem Lebensstil und den Orten, die sie besetzen kann (kleine Galerien, Café-Häuser), mehr dem Bild der Bohème, als dem der international erfolgreichen, im offiziellen Kunstbetrieb akzeptierten und repräsentierten Nachkriegsmoderne. Deshalb unterhält sie auch eine gewisse Nähe zu den prä-fordistischen proletarischkleinbürgerlichen Gründerzeitquartieren bzw. zeigt ihre Affiziertheit von den in Zeitschichten überformten, etwas devastierten Lebenswelten der »Grätzel« an  : die Mietskasernen in Hernals, die Gegend um den Naschmarkt, der Praterstern, die halb bäuerlich, halb frühindustriell geprägte Peripherie Simmerings oder der Brigittenau. Die marginalisierte Avantgarde interessiert sich (in ambivalenter Manier) vor allem für die Übergangszonen der Stadt, für die liminalen Räume, in denen das Alte nicht mehr stabil und das Neue noch nicht absehbar ist  : vergammelte ImbissBuden, Textil-Discounter mit handgeschriebenen Preisschildern, Zuckerlgeschäfte, triste Schankräume, Nachtklubs, die ihre Neonwerbeschriften schon vor Jahrzehnten übertragen gekauft haben dürften … Sie eröffnen die Opposition zu den zwar äußerlich glänzenden, jedoch sichtlich in der Vergangenheit versunkenen imperialen Kultur- und Touristen-Attraktionen, die dennoch die eine Hälfte der Stadt-Essenz aufspeichern. Demonstrativ ausgeschlossen aus der Stadtwahrnehmung aber bleiben die zuvor genannten Hoffnungsgebiete der Stadtplanung, die neuen Siedlungen und Industrieanlagen in Transdanubien oder entlang der Badener Bahn, die Territorien der neuen Mittelschichten, der zwar fein gestuften, aber habituell aneinander assimilierten qualifizierten ArbeiterInnen, Angestellten, BeamtInnen, technischen und kaufmännischen Kader. Im Tausch dafür kommen andere Porträts ins Bild  : afrikanische Zeitungsverkäufer, Roma und Sinti, Männer und Frauen, deren Idiom ihre Herkunft aus Südosteuropa erkennen lässt. Nochmals erfolgt damit ein Rekurs auf das »Volk«, das – anders als es die institutionelle Politik wahrhaben will – durch seine Diversität, seine differenzierten Tätigkeiten, Gewohnheiten und Erwartungshorizonte die Stadt immer wieder neu strukturiert. Aber im Falle von »Wienfilm 1896–1976« tut es dies nur bedingt, im Status der Passivität, und ohne ein Modernisierungsversprechen zu bergen. Der Blick der Avantgarde erfasst dieses Volk mehr als urbane Folklore, mitunter eher hart an der Grenze zur Karikatur denn als Bestandteil der civitas. Dennoch legt »Wienfilm 1896–1976« Einspruch ein gegen die zeitgenössische Unsichtbarkeit dieser sozialen Existenzen, nicht zuletzt – man könnte auch sagen kollateral – durch die assoziative Nähe zur leitmotivischen Frage nach »Wem gehört Wien  ?«. 377

siegfried mattl Als dynamische soziale Kräfte erweisen sich über den Zeit- und Bildraum des Films hinweg gerade jene beiden Kommunitäten, die zugleich abwesend und anwesend sind – die Aristokratie, deren Repräsentationsbedürfnisse den öffentlichen, physischen Raum der Stadt und seine Entwicklungsmöglichkeiten dauerhaft festgelegt haben, und die Juden. Mehr als zehn Jahre bevor die öffentliche historische Auseinandersetzung um die Zerstörung des Großstadtcharakters Wiens durch die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus einsetzte, fokussierte Ernst Schmidt jr. auf deren zweifache Einschreibung in die Stadtidentität. Das eine Mal sind es die Lieder Armin Bergs, die für eine genuine popular-kulturelle Moderne Wiens einstehen, deren Gestus überdies eine Familienähnlichkeit zur Wiener Nachkriegsavantgarde aufweist, das andere Mal sind es die unkommentierten Sequenzen des verfallenden jüdischen Friedhofs in Währing, die an eine ungetilgte Schuld erinnern. Die kollektive Amnesie angesichts der Gewaltgeschichte, auch jener der Jahre 1914, 1927, 1934, die in »Wienfilm« immer wieder provoziert wird, führt, so könnte ein Resümee lauten, zur sozialen Paralyse.

Krise der Moderne und neue soziale Subjekte Elisabeth Büttner hat zu experimentellen Filmen wie »Wienfilm« festgehalten  : Aus der oppositionellen Haltung der Filmemacher zu einer herrschenden Auffassung der Wirklichkeit (und der Stadt) wird mit der Zeit ein Dokument dieser Wirklichkeit selbst. Die Filmbilder werden zur Spur von entschwundenen Alltagsgeschichten, in die sich der Protest im Wege der formalen Eigenheiten der Filme selbst eingeschrieben hat.43 Diese Filme halten wahrscheinlich zum letzten Mal an einem Wien-Mythos fest, an einer Besonderheit, einer »Atmosphäre«, einem Changieren zwischen metropolitaner Größe und deren popularen Widerlagern, das von den Praktiken, der Raumordnung und dem wohlfahrtsstaatlichen Narrativ des »Neuen Wien« aufgelöst wird. Sie entfalten sich allerdings als Gegen-Mythos, der eine dominante Erzählung voraussetzt. Diese Filme zeigen einen Übergang an, den die Sozialgeschichte zwischenzeitlich auf ihre Art als Krise diagnostiziert hat. Das »goldene Zeitalter« des fordistischen Akkumulationsregimes ging auf der Ebene der Stadtwirtschaft bereits wieder um 1963 zu Ende. Andreas Weigl44 konstatiert für die Jahre danach einen gravierenden Rückfall der wirtschaftlichen Aktivitäten in Wien hinter die gesamtösterreichische Entwicklung. Die Investitionstätigkeit blieb signifikant zurück, während gleichzeitig ein Arbeitskräftemangel bei schlecht bezahlten Arbeitsplätzen mit kurzfristigen Beschäftigungszyklen eintrat  ; der Arbeitskräftemangel führte zur ersten systematischen Werbung um ArbeitsmigrantInnen, vorwiegend aus dem damaligen Jugoslawien und der Türkei. Traditionelle Wiener Gewerbe wie Textil- und 378

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt Lederwaren, aber auch der Einzelhandel, die beide sowohl durch ihre Lage wie ihr Zeitregime maßgebend für die urbane Vitalität und hohe soziale Interaktion in den Gründerzeitvierteln gewesen sind45 – allerdings auch für die Resistenz ihres unzeitgemäßen Erscheinungsbildes, das in »Wienfilm« ethnografisch erforscht wird –, wiesen massive Beschäftigungsverluste auf. Nicht nur dass die mit dem »Weltstadt«Konzept von 1955 verknüpfte Erwartung sich nicht erfüllt hatte, industrielle Großbetriebe würden sich in Wien ansiedeln und mit ihren demografischen und sozialen Effekten die Neustrukturierung der Stadt fördern – vielmehr wurden selbst Wiener Traditionsbetriebe wie die Floridsdorfer Lokomotivfabrik und der Landmaschinenproduzent Hofherr-Schrantz geschlossen oder verlagerten ihre Betriebsstätten in das Wiener Umland. Aus sozialhistorischer Sicht bewirkte dies eine definitive Wende in der Kommunalpolitik, die von der Priorität des sozialen Wohnbaus zur Dominanz der technischen Infrastruktur und städtischer Großprojekte (Planungsbeginn Donauinsel, U-Bahn u. a.), also zur Fokussierung auf »Standortpolitik«, wechselte.46 In Zusammenhang mit der Liberalisierung des Mieterschutzes, der seit seiner Einführung im Jahre 1917 eine kaum zu überschätzende Regulierungs- und soziale Nivellierungsfunktion ausgeübt hatte, eröffnete sich mit dieser Wende die beschleunigte Ausdifferenzierung von Lebensstilen und -chancen und parallel dazu das Potenzial zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Die Frage »Wem gehört Wien  ?«, die in Ernst Schmidt jr.s Film noch als Travestie präsentiert wurde, beantwortete zum selben Zeitpunkt »Arena besetzt« auf ganz andere Weise.47 Herausgegeben von der »Videogruppe Arena« (Josef Aichholzer, Ruth Beckermann, Franz Grafl) fasste die auf Video edierte Dokumentation die Ereignisse während der dreimonatigen Besetzung des Auslandsschlachthofes St. Marx im Sommer 1976 zusammen. Der improvisierte Ausbau des Areals zum selbstverwalteten Kulturzentrum gilt inzwischen als das Gründungsereignis, als Wiener »Mai ’68«, das die traditionellen Strukturen in Politik und Kultur verändert hat. In der wenngleich nicht friktionsfreien Allianz Dutzender Initiativen und Projektgruppen manifestierte sich eine neue politische Subjektivität, die alle denkbaren und praktizierten Identitäten und Orientierung zur Disposition stellt – auch wenn diese innerhalb des gegebenen politischen Rahmens nicht formell bestätigt werden.48 Die Werkstätten, die Kindergruppen, das autonome Frauenhaus und andere Zentren machten in unterschiedlichen Graden sichtbar, dass die administrativen und politischen Strukturen, die auf Großgruppen und -institutionen abstellten, Konflikte mit abweichenden Lebensvorstellungen nicht mehr integrieren konnten. Dabei können wir – insbesondere im städtischen Raum und in der in ihm latent vorhandenen Anomie – von einem Paradox ausgehen  : Während das fordistische Regime die Sicherheit und Berechenbarkeit (um den Preis wachsender Gleichförmigkeit) im sozialen Leben ausbaut, stimuliert es Prozesse der Individualisierung, die zuvor den sozialen Zwängen der ethi379

siegfried mattl schen Gemeinschaften ausgesetzt gewesen waren. Die Signifikanz der »Arena« weit über ihr faktisches Ende hinaus beruht darauf, einen Möglichkeitsraum geschaffen zu haben, in dem auch kontroverse Identitätsmerkmale, Orientierungen und Verhaltensformen öffentlich verhandelt werden konnten. »Arena besetzt« konnte einen Teil dieser Realität, soweit er auf Kleinfilmformaten und Video überliefert worden ist, transparent halten. »Arena besetzt« steht aber auch am Beginn eines neuen und neuartigen lokalen Verhältnisses von Medium und Stadt – ein Neubeginn, der auf die medientechnologische Zäsur von Video rekurriert  : Video als billiges, auf allen Stufen der Bearbeitung autonom und – noch wichtiger – kollektiv verfügbares, einfach und außerhalb eines kommerziellen Distributionssystems zirkulierendes Medium. Das bewegte Bild wird erstmals als explizit politisches Instrument eingesetzt. Es ordnet sich nicht mehr repräsentativen Zwecken unter, sondern wird selbst ein Akteur im Stadtraum. Zugleich streift es auch die ästhetischen, filmautonomen Intentionen ab, welche die beiden zuvor präsentierten Filme charakterisieren. Dieses wie andere vom amerikanischen »direct cinema« ebenso wie vom Aktivismus der französischen, um Jean-Luc Godard versammelten »Gruppe Dziga Vertov« beeinflusste Projekte der Jahre nach 1976 nimmt nicht zufällig von einem konkreten Ort seinen Ausgang. Die Besetzung des Wiener Auslandsschlachthofes und sein temporärer Betrieb als selbstverwaltetes und basisdemokratisches Kulturzentrum fügen sich in eine politische Konstellation ein, in der repräsentativ-demokratische und institutionelle Strukturen und Prozesse grundlegend herausgefordert werden. Das Ziel der neuen Bewegungen ist weder egalitärer noch kompensatorischer Art und deshalb innerhalb der etablierten politischen Regeln nicht verhandelbar – die Forderung besteht in nichts anderem als in der Schaffung von »anderen Räumen«, von physischen Räumen unterschiedlicher Dimension, in denen die Regeln der Präsenz und der Nutzung offen gehalten und von nicht länger sozial-ökonomisch bewertbaren Aktivitäten – auch nicht vom »sozialen Nutzen« – gesteuert werden. Erstmals werden – transnational – städtische Funktionszonen von Allianzen sozial heterogener, in ihrer Zusammensetzung selbst wieder fragiler und Transformationen unterworfener Gruppen als Territorium selbstbestimmter Lebensformen reklamiert. Zum Entwurf dieser Lebensformen zählt die Aufhebung der von der klassischen Moderne vollzogenen Trennung von Arbeit, Wohnen und Kultur in einer künstlerisch-kreativen Subökonomie mit eigener Öffentlichkeit. Innerhalb dieser Praktik ist die Film- bzw. Video-Arbeit sowohl Gestaltungs- wie Ausdrucksform des Kampfes um eine andere Verteilung des urbanen Raumes. Das neue Verhältnis zu Film und Video impliziert bei seinen ProtagonistInnen ein verändertes Verständnis der sozialen Natur des städtischen Raumes. Nicht mehr das Kino, das Teil der urbanen Öffentlichkeit ist und ein Minimum an Gemein380

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt schaftlichkeit voraussetzt, wird als prägender Ort der Erfahrung diagnostiziert, sondern das Fernsehen. Dieses und sein Wahrnehmungsraum unterbinden indes die Formen kollektiver Wahrnehmung. Das Fernsehen – insbesondere solange es nur in der Reichweite begrenzte und staatlich regulierte Sender gibt – schafft eine prekäre Machtkonstellation  : Es etabliert ein Monopol über die Sichtbarkeit, die zuvor wenigstens auf der Ebene der symbolischen Aktion (wie bei Demonstrationen und deren messbarer Mobilisierungsfähigkeit) selbsttätig hergestellt werden konnte.49 Der Anspruch von Kollektiven wie der »Medienwerkstatt Wien« richtete sich deshalb darauf, sozialen und politischen Bewegungen zu einer »Gegenöffentlichkeit« zu verhelfen. Sie stellten das medientechnische Know-how und die Apparaturen zur Verfügung, mit denen solche Bewegungen Kontrolle über die Generierung und Dissemination ihrer eigenen Bilder erreichen und kommunizieren sollten. Diese »Gegenöffentlichkeit« korrespondiert im lokalen Wiener Rahmen aber auch einer sozialgeschichtlich noch auszulotenden Zäsur. In einem Paroxysmus schloss Wien Ende der 1970er/Mitte der 1980er-Jahre in den Künsten, in Lebensstilen und in den urbanen Projekten – und der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde – wieder zu den Metropolen auf. Der Sprung in die Postmoderne und deren Emphase für die Spektakularisierung des Stadtlebens vollzog sich allerdings in einer rätselhaften und diskreten Verknüpfung der Praktiken von (populärkultureller) Avantgarde, Massenmedien, Stadtpolitik und Gegenkultur – rätselhaft deshalb, weil, wie Peter Weibel angemerkt hat, selbst gegensätzliche, einander opponierende Tendenzen in ihrer reinen Koinzidenz zur plötzlichen Verschiebung dominanter Konzepte von Urbanität beigetragen haben.50 Gegenüber dem Pragmatismus der funktionalen Stadt und der Zweckmäßigkeit städtischer Dienstleistungen rückte die Qualität der Stadt als Erlebnisraum und als Ort sozialer Experimente in den Mittelpunkt der Debatte. Als Zentrum der »Re-Urbanisierung« kann die Wiederkehr von Praktiken betrachtet werden, die auf die spontane Aneignung des öffentlichen Raumes für gemeinschaftliche Zwecke, vor allem für Zwecke der – begrifflich von den Akteuren sehr weit gefassten – Kommunikation zielten. Bezeichnenderweise konzentrierten sich diese Aktivitäten auf die historische und gründerzeitliche Stadtstruktur, die im fordistischen Stadtregime gerade wegen ihrer Dichte und Vermischung verfemt worden ist. »Burggarten«, eine Dokumentation der »Medienwerkstatt« aus dem Jahre 1980, hat auf einzigartige Weise die Auseinandersetzung um den Stadtraum festgehalten.51 »Burggarten« entstand aus dem Konzept der »Medienwerkstatt«, im Rahmen der »Festwochen Alternativ« gesellschaftlich marginalisierten Gruppen ein Forum zur Verfügung zu stellen. Initiativgruppen unterschiedlicher Interessen und Anliegen konnten mit Unterstützung der »Medienwerkstatt« eigenständig Videoprojekte entwickeln, die an festen Orten, aber auch in einem mobilen Videobus vorgeführt 381

siegfried mattl wurden. »Burggarten« präsentierte den im Mai 1979 begonnenen Kampf Wiener Jugendlicher um die freie Benutzung des Rasens im Burggarten. Das Video wurde, nachdem sich längere Zeit kein Kollektiv der Aktivisten zusammengefunden hatte, wie es das Konzept der »Medienwerkstatt« vorgesehen hatte, von einer einzelnen Person aus dem Kreis der Burggarten-Besetzer zusammengestellt. Es benutzt eine einfache Dramaturgie zur Montage von Bildmaterial, das über einen Zeitraum von rund einem halben Jahr gedreht worden war  : Aufnahmen einer jugendlichen Pastorale auf dem Rasen des Burggartens wechseln mit der Dokumentation von gewalttätigen Polizeieinsätzen, von Demonstrationen der (Burggarten-)»Bewegung« durch die Innenstadt, einer improvisierten Kabarettvorstellung vor der Orangerie im Burggarten und der »Erstürmung« des Wiener Rathauses am »Tag der offenen Tür«. Vogelgezwitscher aus dem Off und die Verkehrsgeräusche von der nahegelegenen Ringstraße rahmen die langen, meist panoramatischen Einstellungen auf junge Menschen, die im Rasen sitzen oder liegen, Gitarre spielen, einander umarmen. Sie verlangen nach keinem Kommentar. Erst am Ende werden einige knappe Erläuterungen erfolgen, die eine ungefähre zeitliche Bestimmung – 15. März und Anfang Mai 1980 – und eine knappest mögliche Beurteilung (Off-Kommentar  : die »Bewegung« existiert nach einem Jahr trotz zunehmender polizeilicher Gewaltanwendung immer noch) vornehmen. Sonst vertraut das Video völlig auf die Unterlegung von Originaltönen und -geräuschen, denen kein narrativer, sondern nur ein performativer Wert zukommt. Die Montage der Aufnahmen ignoriert die zeitliche Logik der Ereignisse zugunsten des wiederkehrenden Motivs der strukturellen Opposition von Besetzern und Polizei. Während die Besetzer aber ihren Zustand verändern und einmal herumlungernde Gruppe, dann demonstrierende Masse, Publikum, in der Folge wieder spontane Menge sind, agiert die Polizei nach der konstanten taktischen Logik organisierter Gewaltformationen  : Zernierung des Gebietes, Zerstreuung der Menge, exemplarische körperliche Bestrafung mehr oder weniger zufällig herausgegriffener AktivistInnen, Räumung des Ortes. Durch seine zirkuläre Bewegung ordnet sich das Video – konzeptionell oder unbewusst, das muss dahingestellt bleiben – der Eigenart der »Burggarten-Bewegung« auf mehreren Ebenen zugleich unter. Es trägt der Vereinbarung unter den AktivistInnen Rechnung, keine RepräsentantInnen oder SprecherInnen zuzulassen, die die »Bewegung« interpretieren, erläutern und dadurch dominieren könnten. Weiters bringt es zum Ausdruck, dass die »Bewegung« auf detailliertere Forderungen verzichten wollte, deren mögliche unterschiedliche Wertigkeiten – wie im Falle der »Arena« – im Zuge von Verhandlungen mit den politischen Institutionen zu internen Differenzen hätten führen können. Drittens birgt die Zirkelbewegung des Videos die Besonderheit der »Burggarten-Bewegung«, einen Ort für sich zu reklamieren, ohne geregelte Funktionen oder Gebrauchsweisen dafür einzusetzen. Dass dieser Ort ausgerechnet ein innerstädtischer Landschaftsgarten war, wirft – anders als im Falle der 382

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt Forderungen nach autonomen Jugend- und Kulturzentren oder Hausbesetzungen, wenngleich mit diesen eng verknüpft – die Problematik der sozialen Verteilung des Stadtraumes und der Symptomatik der »Burggarten-Bewegung« auf. Die »Burggarten-Bewegung« vollzog eine Umwertung des öffentlichen Raumes nach, die in den 1960er-Jahren in den usa und in Europa – spektakulär in Amsterdams Vondel-Park, in New Yorks Central Park und in San Franciscos Golden Gate Park – eingeleitet worden war. Erstmals trat hier eine sozial und politisch amorphe Gegenkultur ans Leben, die nicht mehr so wie frühere städtische Subkulturen innerhalb eines präzise abgegrenzten räumlich-zeitlichen Gebildes oder aufbauend auf milieugebundenen peer-group-Strukturen agierte, sondern die mit improvisierten Festen, öffentlichem Drogenkonsum, Camp-artigen Behausungen die traditionellen städtischen Trennungen von Öffentlichem und Privatem umstürzte. Die Parks der Hippie-Ära wurden (vorübergehend) zu Schwellenorten, an denen die dominante Vorstellung von Urbanität aufgehoben und deren sozialtechnokratische Aspekte transparent wurden. Gärten und Landschaftsparks hatten zuvor wechselnde Aufgaben zu erfüllen gehabt  : Sie waren Orte der Repräsentation vorwiegend der vermögenden Schichten und Klassen und deren Vorstellungen von Disziplin und Selbstregulation als Grundlage des urbanen Gemeinschaftslebens gewesen. Mit der sozialen Öffnung der Gärten ersetzten in der Folge mehr und mehr behördliche Kontrollmechanismen und Lenkungssysteme die vom bürgerlichen Habitus garantierten Ordnungsregeln, während gleichzeitig der innerstädtische Raum, der einer freien Benutzung offen stand, insbesondere in Straßen und auf Plätzen, dem Verkehr zum Opfer fiel.52 In Wien stiegen Landschaftsparks überdies zu Symbolen der weltstädtischen Rekonstruktion und Reputation auf – wie das Gelände der »wig« (Wiener Internationale Gartenbaumesse) 1964 im Donaupark und der Kurpark Oberlaa (wig 1974). Mit der Besetzung von Gärten und Parks und ihrer widmungsfremden Umnutzung für kollektive spontane Tätigkeiten eroberten sich die aus dem öffentlichen Raum verdrängten (vorwiegend jugendlichen) Gruppen ein Terrain zurück, auf dem die »Kultur des Unterschiedes«, die Richard Sennett als hervorstechende Qualität städtischen Lebens betrachtet, wieder intensiviert werden konnte. »Burggarten« erfasst den Moment, an dem die administrative Lenkung des Stadtlebens, basierend auf der Annahme einer zunehmenden Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit der Bevölkerung, zu Ende geht, an dem das Vertrauen in ein Regieren auf Distanz der komplexeren Ausverhandlung von minoritären Interessen zu weichen beginnt. Die »Burggarten-Bewegung« kann allerdings nicht als Hippie-Retrokultur betrachtet werden. Dazu war sie zu eng mit anderen Aktionsformen und Orten verbunden. So überlagerte sich der Handlungskreis der Burggarten-Besetzer mit den Nachfolgeprojekten der »Arena« (Arena am Inlandsschlachthof, wuk), mit jener der 383

siegfried mattl Hausbesetzerszene, den alternativen Klubs und Cafés (Amerlinghaus, Rotstilzchen), neuen Einrichtungen der »Gegenöffentlichkeit« (»Schwarzhörer«53, die Stadtzeitschriften »Falter« und »Arena Stadtzeitung«) und den »Neuen Sozialen Bewegungen«. Die Signifikanz der »Burggarten-Bewegung« ist deshalb auch nicht allein in den Konzeptionen der Jugendkulturforschung zu erfassen. Die Parallelität zu ähnlichen Bewegungen in anderen europäischen Städten führt vielmehr zu einer primär urbanistischen Perspektive zurück, die mit der Diagnose innerer Widersprüche des fordistischen Stadtregimes verknüpft ist. Mit Rücksicht auf die ohne Kontext inhaltsarme Forderung nach autonomen Räumen der Kommunikation, wie sie oben erwähnt wurde, tritt die Zerstörung von informellen Netzwerken der alten Stadt durch die fordistische Stadtplanung hervor. Diese informellen Netzwerke in den sozial und ökonomisch durchmischten Stadtvierteln umfassten (idealtypisch) Gastwirtschaften, Sport- und Freizeiteinrichtungen (Billard-, Kartenspiel- und andere Klubs in Cafés, Wirtshäusern u. Ä.), Tanzdielen, kleine Geschäfte, Parks und Plätze. Sie boten Raum für lebensweltliche Identitätsbildungen  ; auch dort – oder gerade dort –, wo die »Kultur der Straße« feinere soziale und kulturelle Differenzierungen sinnfällig machte. Die jugend- und subkulturell geprägten peer-groups der präfordistischen »Straßenkultur« gehörten allerdings einer Zeit an, die nicht mehr wiederbelebt werden konnte. Die »Burggarten-Bewegung« und ihr Umgebungsmilieu zeugen vielmehr von der Entstehung eines neuen Akteurs bzw. neuer AkteurInnen  : Es handelt sich nicht länger um die Teil-Inbesitznahme eines sozialen Raumes, dessen dominante Struktur indes erhalten bleibt und dessen informelle Regeln des kollektiven Gebrauchs intakt bleiben, sondern um die Etablierung von neuen Orten mit eigenen Verfahren. Für die Benennung dieser (meist architektonisch eindeutig umgrenzten) Orte autonomer Kommunikation kann der Begriff des Heterotops herangezogen werden.

Destruktion und Chance Die kurze Charakterisierung wäre jedoch unvollständig, und einige der Weichen stellenden Ereignisse54 wären unverständlich, wenn zumindest drei gesamtgesellschaftlich relevante Tendenzen nicht mit herangezogen würden. Einmal wären jene Erosionsprozesse in der Wiener Kommunalpolitik zu beachten, die der sozial­ demokratischen Modernisierungsstrategie den breiten gesellschaftlichen Konsens entzogen, auf den sie sich nach 1945 stützen konnte, weiters ein Wandel in der institutionellen Oppositionspolitik, und drittens schließlich die Rückkehr marktwirtschaftlicher Elemente in die Stadtentwicklung, deren Bannung für mehr als ein halbes Jahrhundert das Credo der Wiener Stadtverwaltung gebildet hatte. 384

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt Überschuldung (Verkehrsbetriebe) und Spekulationsverluste (Bauring) im Konzernbereich der Stadt Wien, der Hauptträger der Stadtentwicklung gewesen war, führten in den 1970er-Jahren zu einer politischen Vertrauenskrise, schränkten aber ebenso den Handlungsspielraum (beispielsweise im öffentlichen Wohnbau) abrupt ein. Kommunale Großprojekte mit massiven Rückwirkungen auf die historische Stadtstruktur (Schnellstraße Flötzersteig, Brigittenauer Brücke, A 24, Schleifung des Naschmarktes im Zuge der Errichtung der projektierten Wientalautobahn) begegneten dem Widerstand lokaler Bürgerproteste, die im Falle der Verbauungspläne für den Sternwartepark sogar stadtübergreifend zu mobilisieren vermochten. Beeindruckende Spekulationsgewinne einiger prominenter Makler aus Insider-Informationen über geplante Siedlungsprojekte der Stadt stürzten die Rathausverwaltung und das Management der gemeindeeigenen Wohnbaufirmen in Legitimationsprobleme.55 Ende der 1970er-Jahre gründeten sich mit der »Alternativen Liste« und der »Kommunalpolitischen Initiative Wien« Wahlinitiativen, die vor dem Hintergrund der großen Erfolge ähnlicher Gruppierung in deutschen Städten die überkommene zentralistische Stadtpolitik infrage stellten. Unter Abschätzung des im herkömmlichen Verständnis (sozial und habituell) »bürgerlichen« Charakters der Protestbewegungen profilierte sich – zweitens – die oppositionelle Volkspartei als Kommunalpartei neuen Typs.56 Unter der Führung Erhard Buseks versuchte sie, an die alten, weitgehend zerstörten Kommunikationsstrukturen der innerstädtischen Stadtquartiere anzuknüpfen und sich über kleinräumig agierende Kulturklubs neu zu erfinden.57 Insbesondere die Organisierung des Wiener Stadtfestes – erstmals 1978 – mit unterschiedlichsten Attraktionen konnte als Manifest einer Wende in der Kommunalpolitik interpretiert werden  : An die Stelle der sozialen und infrastrukturellen Versorgungsaufgaben der Stadt – oder ihnen zur Seite – trat die Konzeption der Stadt als einzigartiger Erlebnisraum. So sollten die affektiven Bezüge zur Stadt und die Identitätsbildung durch die lokale Rückbindung gestärkt und die Logik der Institutionenpolitik geschwächt werden. Gegenüber anderen möglichen Perspektivierungen des neuen konservativen Kurses ist hier zu betonen, dass die Politik der övp in Wien für die neuen, in ihrem Selbstverständnis autonomen und links-alternativen Bewegungen Anschlüsse bot. Diese Anschlüsse betrafen nicht nur die Legitimierung der Spektakularisierung neuralgischer Orte in der Stadt und der Ansprüche auf gelebte und kreativ gestaltbare Räume außerhalb der Kontrolle kommunaler oder kommerzieller Institutionen. Ein Ort wie die Phorushalle im 5. Wiener Gemeindebezirk, eine leerstehende alte Markthalle, die einem Pensionisten-Großheim weichen sollte, konnte nun zum umstrittenen Raum werden  : Nach der temporären Aktion eines »Ideenmarktes«, den die övp hier abhielt, besetzten einige Dutzend Leute aus der »Bewegung« die Halle, um sie (ähnlich der »arena«) als Ort eines autonomen Jugend- und Kulturzentrums zu retten.58 385

siegfried mattl Drittens vollzog sich in den beiden Jahrzehnten zwischen 1970 und 1990 ein struktureller Wandel, dessen Akteure weniger physisch, sondern statistisch sichtbar wurden. In diesem Zeitraum veränderten sich die Grund- und Hauseigentumsverhältnisse und die Gestalt des Bodenkapitals59, das unter sozialhistorischer Perspektive generell eine bedeutende Rolle in der Stadtentwicklung spielt. Die Resistenz der Gründerzeit-Viertel gegen den fordistischen Umbau ging nicht zuletzt auf die eigentümlichen Besitzstrukturen im Althausbestand Wiens zurück. Die überwiegende Zahl der rund 24.000 Altmiethäuser befand sich in Einzel- und Familienbesitz, juristische Personen und Kapitalgesellschaften waren von untergeordneter Bedeutung. Immobilien- und Immobilien-Investment-Fonds, die in anderen europäischen Städten eine wichtige Rolle bei der Altstadtsanierung eingeräumt bekommen hatten, waren in Österreich noch in den frühen 1970er-Jahren nicht existent.60 Die Häuser – unabhängig von ihrer Bausubstanz – waren Bestandteil des symbolischen Kapitals der Familien und wurden, insbesondere unter dem Druck der bestehenden Mietengesetze, nicht vorrangig als Kapitalanlage mit laufendem Ertrag, sondern als langfristige Vorsorgeanlage betrachtet. Mehr als die Hälfte der Hausbesitzer bewohnten auch selbst ihre Häuser oder nutzten sie zu Geschäftszwecken und wandten deshalb besonderes Augenmerk der sorgfältigen Auswahl der (prospektiven) Mieter zu.61 Verkauf, Umwandlung in Eigentum62, Abriss und Neubau und – damit einhergehend – spekulative Bewirtschaftung blieben deshalb vor den 1980ern eine Ausnahmeerscheinung. Der Umstand des breiten pragmatischen Konsenses könnte erklären, warum die Ausnahmeerscheinung Wohnungsspekulation63 (im Vergleich zu anderen Großstädten), die überdies eine starke Verbindung zu den Lebens- und Ausbeutungsverhältnissen der um 1970 verstärkt einsetzenden Arbeitsmigration unterhielt, vergleichsweise starke öffentliche Aufmerksamkeit erregte und ihre Bekämpfung – sei es im Wege der Hausbesetzungen, sei es durch ökonomische Strategien der Gentryfizierung – zu einer Leitparole der neuen urbanen Milieus aufstieg. Zwei Texte von hoher Intensität bieten eine präzise Analyse der Entwicklung Wiens zwischen 1945 und 2000 an. Gerhard Meißls »Ökonomie und Urbanität. Zur wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts« und Lutz Musners »Ist Wien anders  ? Zur Kulturgeschichte der Stadt nach 1945« konstatieren beide von unterschiedlichen Forschungsgegenständen aus eine Zeitgeschichte Wiens als Geschichte einer Transformation in Permanenz. Beide stimmen darin überein, dass die Stadt in den letzten beiden Jahrzehnten den verlorenen Status einer Metropole wiedergewonnen hat  : Metropole verstanden als ein Ort, an dem globale Informations- und Kommunikationsflüsse gebündelt und auf genuine Art und Weise verarbeitet und verändert werden. Beide legen den Nachdruck ihrer Argumentation – und hierin koinzidieren ihre Analysen trotz unterschiedlicher Objekte auf bemerkenswerte Weise – auf soziale und sozial386

filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt räumliche Diversität als urbane Produktivkraft, eine Diversität, die nicht voraussetzungslos gegeben ist, sondern die in einem komplexen Zusammenwirken zwischen Strukturen und Handlungen erzeugt wird  ; in kooperativen oder agonischen Strategien, auf institutioneller wie zivilgesellschaftlicher Ebene. Gerhard Meißls Nachweis des Stellenwerts kleinbetrieblicher, netzwerkförmiger Arbeits- und Wirtschaftsformen in den Neuen Dienstleistungen und den Neuen Technologien als dynamische Kräfte hinter dem Umbau Wiens seit 1990, Lutz Musners Auseinandersetzung mit der Überwindung einer statischen Repräsentationskultur durch Gegenkulturen und Künstler-Bohèmen seit den 1980ern verdeutlichen nochmals das Potenzial einer theoretisch gesättigten und an globalen urbanen Modellen orientierten Historiografie. Dabei bleibt ihr jeweiliges Resümee durchaus ambivalent. Denn die Rückkehr zur Metropole (unter den Bedingungen von Globalisierung und transnationaler Städtekonkurrenz) impliziert sozial- und stadträumliche Konsequenzen, die Differenzen – steigende soziale Ungleichheit – forciert und – durch Spektakularisierung und Festivalisierung des öffentlichen Raumes – Erfahrungsmöglichkeiten beschränkt. Die ephemeren Filme, über die wir gesprochen haben, widersprechen diesen analytischen Befunden nicht. Sie verweisen aber auf eine Leerstelle, die in den Texten notwendigerweise auftritt. Oder besser gesagt  : Sie flankieren sie an zwei offenen Seiten. Wie Laura Frahm kürzlich zum Verhältnis von Film und Stadt gesagt hat  : Der Film bringt den topografischen Raum mit dem topologischen Raum zusammen, er verbindet die Qualitäten ortsbezogener indexalischer Zeichen mit der Möglichkeit permanenter Verschiebungen in den Relationen dieser Orte.64 Während die meisten Texte zur Sozialgeschichte Wiens dem Gebot der räumlichen Verortung sozialer Prozesse durch duale Oppositionen wie Zentrum/Peripherie und Innenstadt/ Vorstadt oder durch den symbolischen Einsatz von Raumfiguren (»Ring«, »Hansson-Siedlung«, »Donauraum«) Rechnung tragen und damit komplexe soziologische Ordnungen bzw. Strukturen generieren, tritt uns die Stadt, so wir einzelne Sequenzen der behandelten ephemeren Filme untereinander in Bezug setzen, als vielfach geschichteter Raum gegenüber, der durch Bewegungen sozialer Akteure geformt und definiert, parzelliert und re-kombiniert wird. Straßen wie die Mariahilferstraße oder der Ring können zur Repräsentation der »harten« Modernisierung der Verkehrsplaner wie der Automobilisten werden (»Stadt am Morgen«, »Wien 1963«, »Und das alles für mein Geld«), aber auch die Appropriations-Taktiken der Konsumenten zeigen (»Der Botschafter des Friedens«, »Wienfilm«)  ; oder die Transformation funktionaler in politisch-öffentliche Räume (»Der Botschafter des Friedens«, »Wien 1963«, »Burggarten«). Afrikanische Zeitungsverkäufer, wilde Siedler, Blinde, Mönche, Verkehrspolizisten können in ihrer Singularität die soziale Mannigfaltigkeit, die Städte konstituiert, sinnfällig machen. Gesten – die notorischen »Fenstergucker«, die debattierenden Passanten, die Ausschilderung von Sonderangeboten – vermitteln die 387

siegfried mattl Atmosphäre oder den mentalen Zustand der Stadt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Jenseits der Identifizierung objektivierter »Kräfte«, die den textlichen Produktionen zugrunde liegt, transportieren die Filme zwei elementare Geschehen  : die Persistenz des Ungleichzeitigen im urbanen Gewebe und die wechselnden Vorstellungen vom Ganzen der Stadt bei den sozia­len Akteuren. Anstelle von Kontinuität und Konstanz in der Stadtbiografie, die nicht ohne Fiktionen erzielt werden können, treten die Brüche hervor, die den Abstand zur Vergangenheit und ihren Schichtungen sinnfällig machen. Doch eben dies zeigt sich als Maßstab des Urbanen. Vielleicht aber ist das aufblitzende Paradox einer aktiven Passivität der WienerInnen, die Anerkennung der Brechung universaler und damit bedrohlich monotoner Regelsysteme an unzeitgemäßen Verhaltensweisen, das Vermächtnis der ephemeren Filme für eine neue Sozial­ geschichte.

A nmerkungen 1 Dieser Aufsatz beruht auf Arbeiten des Forschungsprojektes »FilmStadtWien«, das aus Mitteln des Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (Call »Art(s)&Sciences«) durchgeführt worden ist (Ko­ operationspartner Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft, Österreichisches Filmmuseum, Gustav Deutsch&Hanna Schimek) sowie des FWF-Projektes »Archäologie des Amateurfilms« (P-23093-G21). 2 »Österreich begrüßt den Botschafter des Friedens« (UdSSR 1960, R.+ K.: Roman Karmen, gesichtet im Österreichischen Filmmuseum). 3 Die Drohungen standen in Zusammenhang mit den Plänen der BRD, unter den Schutzschild von NATONuklearwaffen zu kommen. Vgl. Hans Jürgen Küsters  : Adenauers Deutschland- und Nuklearpolitik in der Berlin-Krise 1958–1962, in  : Guido Müller (Hg.)  : Deutschland und der Westen  : internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998, S. 270ff. 4 Gemeint sind eigenschaftslose, rein funktionale Orte, die dem Transit von Personen, nicht ihrer Interaktion dienen. Vgl. Marc Augé  : Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1994. 5 Dies scheint auf den ersten Blick dem Umstand zu widersprechen, dass das Phänomen der »unpolitischen«, konsumkulturell orientierten Jugendlichen die gesellschaftlichen Debatten der 1950er und 1960er tief prägte und einer der fruchtbarsten Forschungsgegenstände einer Sozialgeschichte Wiens geworden ist. In der Praxis agierten gegenkulturelle Strömungen wie die »Halbstarken« allerdings an der Grenze zur öffentlichen Sichtbarkeit und versuchten, unauffällig zu bleiben. Vgl. Vrääth Öhner  : Eine Art von Verschwinden. Jugendkultur und medialer Diskurs, in  : Roman Horak/Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl/Lutz Musner/Otto Penz (Hg.)  : Randzone. Zur Theorie und Archäologie von Massenkultur in Wien 1950–1970, Wien 2004, insb. S. 206ff. 6 Das politische Gemeinwesen definiert sich durch den Streit. In den Stadtmythen hingegen, auch den filmischen, wird gerade dieser Umstand dissimuliert. Besonders bedeutend in Karmens Film scheinen deshalb die Aufnahmen von kontroversen Diskussionen auf Straßen und Plätzen. Zum Verhältnis von Streit und Gemeinwesen vgl. Jacques Rancière  : Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002.

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 7 Vgl. Christoph Conrad/Martina Kessel  : Geschichte ohne Zentrum, in  : dies. (Hg.)  : Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, insb. S. 16  : »Historiker sind sich zunehmend bewusst geworden, dass durch ihre Quellen bestenfalls frühere Konstruktionen von Wirklichkeit nachzuvollziehen oder zu enthüllen sind, aber die Sache selbst nicht abbildbar ist.«  8 Zum Begriff der »Sozialgeschichte«, der auch wegen der Binnendifferenzierung des Faches nicht mehr normativ, sondern institutionengeschichtlich präsentiert wird, vgl. auch Josef Mooser  : Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Gesellschaftsgeschichte, in  : Hans-Jürgen Goertz (Hg.)  : Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 568ff.  9 Hans-Ulrich Wehler  : Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 144/145  ; zur Erweiterung des Feldes der historischen Sozialwissenschaft vgl. exemplarisch die Auseinandersetzung mit einer »Geschichte der Gefühle«, Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialforschung, Jg.35/ Heft 2/ April – Juni 2009, Göttingen 2009, in der soziale Konstitutionsbedingungen und die verhaltenssteuernde Rolle von Gefühlen als möglicher spezifizierter Gegenstand der Sozialgeschichte innerhalb der weiten und spätestens von Norbert Elias konzipierten Geschichte des Zivilisationsprozesses bestimmt werden  ; vgl. insb. die Einleitung von Ute Frevert, S. 198/99. 10 Richard Rogers (Hg.)  : Theory, Practice and European Urban History, Leicester 1993. 11 Rogers rekurriert hier auf H.J. Dyos, den Begründer der Zeitschrift »Urban History«, der die analytische Stadtgeschichte differenziert »from local history to the extent that it is concerned with a more pervasive historical process, and from municipal history in being concerned with vastly more than certain types of local government  ; it differs … from social history in its quite specific commitment to explaining the development of both the urban milieu and its uses, and from sociology in its dominant concern with explaining the urban past  ; it differs from … economic history and geography, in being more interested in the humanistic and functional elements composing the urban scene  ; and it differs … from other historical specialisms, such as agricultural, industrial, business, transport, military, or town-planning history in not being concerned with specific forms of activity …« (zit. n. Rogers, S. 3). 12 Vgl. Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.)  : Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 13 Grundsatzpapier Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung e.V. (Entwurf 2002), www. gsu.tu-darmstadt.de/pdf/POS_Grundsatzpapier.pdf (zuletzt eingesehen 10.2.2008) 14 Helmut Berking/Martina Löw (Hg.)  : Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt/New York 2008  ; insb. Martina Löw  : Eigenlogische Strukturen – Differenzen zwischen Städten als konzeptuelle Herausforderung, ebd., S. 33ff. 15 Notwendig im Rahmen der »global city«-Entwicklung und des city-brandings, vgl. Siegfried Mattl  : City Brandings, in  : Konrad Becker/Martin Wassermair (Hg.)  : Phantom Kulturstadt. Texte zur Zukunft der Kulturpolitik II, Wien 2009. 16 Vgl. Drehli Robnik  : Side by Side als wirkliche Gegner. Zu politischen Einsätzen im Film – Denken von Siegfried Kracauers History, in  : Drehli Robnik/Amália Kerekes/Katalin Teller (Hg.)  : Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer, Wien/Berlin 2013, S. 160–182. 17 Vgl. James Donald  : Imagining the Modern City, London 1999, insb. S. 68  ; David B. Clarke (Hg.)  : The Cinematic City, London/New york 1997  ; Stephen Barber  : projected cities. Cinema and urban space, London 2002  ; Tom Conley  : Carthographic Cinema, Minneapolis/London 2007. 18 Gerhard Paul  : Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in  : ders. (Hg.)  : Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 25. 19 Siegfried Kracauer  : Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt/M. 1971, insb. S. 126ff. zur Mikrogeschichte. 20 In der rezenten filmhistorischen Debatte treten statt Genre-Distinktionen die Gebrauchs- und Auffüh-

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rungsweisen von Filmen in den Vordergrund. Die hier getroffene Auswahl umfasst sogenannte »ephemere« Filme, d. h. Filme, die nicht aus kommerziellen Gründen gefertigt und auch nicht für den etablierten Kinoeinsatz vorgesehen waren. Zu den »ephemeren« oder »orphan« Filmen vgl. Dan Streible  : The State of Orphan Films  : Editor’s Introduction, in  : The Moving Image 9.1 (2009), S. VI – XIX. 21 Jacques Rancière  : Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. Rancières Fokus auf das »ästhetische[] Regime der Kunst« lässt zunächst die Applikation seiner Theorie auf das von uns gewählte Korpus nicht-fiktionaler Filme problematisch erscheinen. Allerdings teilen diese Filmbilder mit der Kunst im engeren Sinne das Potenzial, die stummen, alltäglichen, in der Vormoderne zu keinem legitimen Ausdruck fähigen Dinge zum Gegenstand der Kommunikation zu machen bzw. in den Rang von Erkenntnisgegenständen zu versetzen. Um (vor allem wegen des noch zu bestimmenden Stellenwertes unterschiedlicher »Genres« ephemerer Filme) eine vorschnelle Schließung des Arguments zu umgehen, wollen wir uns hier auf Rancières Erörterung der Funktion moderner Ästhetik beschränken, Sichtbarkeit als Voraussetzung für die Anerkennung nicht länger ethisch oder herrschaftlich fundierter Gemeinschaftsbeziehungen herzustellen. In seinen filmtheoretischen Schriften geht Rancière indes explizit auf die Vergemeinschaftungsfunktion des Filmes ein und identifiziert Dokumentarfilme wie Humphrey Jennings’ »Listen to Britain« (1942) als reinste Form, in der das Soziale (im konkreten Fall  : das Ganze der britischen Gesellschaft) aus der Zusammenführung a-signifikanter Bilder hervorgebracht wird, ohne dass Jennings die interne Trennung ignorieren und eine organische Einheit behaupten müsste. Vgl. Jacques Rancière  : Die Geschichtlichkeit des Films, in  : Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.)  : Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, insb. S. 234/35. 22 Rancière, Aufteilung, S. 53. 23 Marc Ferro  : Der Film als »Gegenanalyse« der Gesellschaft, in  : Claudia Honegger (Hg.)  : Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/M. 1977, S. 254. 24 Vgl. Gustav Bihl  : Wien 1945–2005. Eine politische Geschichte, in  : Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.)  : Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 3. Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006  ; Wolfgang Maderthaner  : Wie Phönix aus der Asche. Wien von 1945 bis 1965 in Bilddokumenten, Wien 2010  ; Karl Vocelka  : Trümmerjahre. Wien 1945–1949, Wien/München 1985. Weitgehend »vergessen« ist allerdings die komplexe Rolle, die der sowjetischen Besatzungsmacht in ihrer Verquickung mit der KPÖ in den ersten beiden Jahren des »Wiederaufbaus« zugekommen ist. Zwei Filme – »Die KPÖ in Bildern« (1946) und »Wiener Brückenbau« (1946) – stellen dies ins Zentrum. »Die KPÖ in Bildern«, eine Kompilation von dokumentarischen Aufnahmen (Heimkehrertransporte, Schutträum-Aktionen kommunistischer Frauen, Massenveranstaltungen der KPÖ unter Teilnahme von Bürgermeister Körner, Kranzniederlegungen an Gräbern von Widerstandskämpfern, Kinder-Weihnachtsfeiern der KPÖ-Sektion Favoriten mit Offizieren der Roten Armee) aus 1945, stellt vor allem auf die politischen Implikationen des »Wiederaufbaus« ab und nutzt diese Parole als Metapher für die von ihr angestrebte antifaschistische Volksfront. »Brückenbauer« (»Wiener Brückenbau«), gedreht als Werbefilm im Auftrag des Ministeriums für Wiederaufbau, unter­ streicht auch auf filmästhetischer Ebene die Kooperation Wiener Firmen mit den Pionieren der Roten Armee bei der Wiedererrichtung der zerstörten Donaubrücken. (»Die KPÖ in Bildern«, Ö. 1946, R.: unbekannt, gesichtet im Österreichischen Filmmuseum  ; »Brückenbauer«, Ö. 1946, P.: Österreichische Wochenschau- und Filmproduktions-KG, Gestaltung  : W.H. Sohm, gesichtet bei Mediawien). 25 Hans Tietze  : Wien. Kultur/Kunst/Geschichte. Mit Aufnahmen von Alexander Exax und anderen, Wien/ Leipzig 1931. 26 Vgl. Siegfried Mattl/Gottfried Pirhofer  : »Großraum Wien«. Stadt- und Regionalpolitik als Element imperialer NS-Politik, unveröffentl. Forschungsbericht (Zukunftsfonds/MA 7), September 2010. 27 Aus der umfangreichen Literatur zur rassistischen Politik der NSDAP in Wien vgl. Gerhard Botz  : Wien

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vom »Anschluß« zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938–39, Wien/München 1978. 28 Vgl. David Kuchenbuch  : Eine Moderne nach menschlichem Maß. Ordnungsdenken und social engineering in Architektur und Stadtplanung – Deutschland und Schweden, 1920er bis 1950er Jahre, in  : Thomas Etzenmüller (Hg.)  : Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 109ff. 29 »Stadt am Morgen« (A. 1952, R.: Albert Quendler, K.: Elio Carniel, gesichtet bei Mediawien). 30 Gerhard Meißl  : Ökonomie und Urbanität. Zur wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in  : Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.)  : Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 3. Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 651 ff. 31 Die starke Präsenz unter Verwaltung der sowjetischen USIA stehender Betriebe führte zu einer Art Boykott Wiens (und Niederösterreichs) seitens der für den Wiederaufbau so bedeutenden westlichen Kredithilfen (Marshallplan). Nur sechs Prozent der gesamtösterreichischen Finanzmittel des »European Recovery Program« (ERP) gingen zwischen 1948 und 1952 nach Wien  ; vgl. Andreas Weigl  : Hinter den Kulissen des Wirtschaftswunders. Kommunale Wirtschaftspolitik im »goldenen Zeitalter« 1953 bis 1973, Wiener Geschichtsblätter Beiheft 1/2011, Wien 2011, S. 6. 32 Wien wird wieder Weltstadt, Wien 1955, S. 147. 33 Roland Rainer  : Städtebauliches Grundkonzept für Wien, in  : Der Aufbau 16 (1961). 34 Die Datierung folgt einem Akt der Magistratsabteilung 7 vom 3. März 1964, in dem eine erste, vorwiegend quantitativ bestimmte Bilanz der Auftragsfilme der Stadt Wien gezogen worden ist. Diese Bilanz weist insgesamt 28 »sponsored films« aus, meist Kurzfilme, die in unterschiedlichen Formaten im Einsatz waren. Neben dem Kinoeinsatz im In- und Ausland erfolgte die Distribuierung auch über Gewerkschaftsund Parteiorganisationen. Das Jahr 1964 macht als Zäsur insofern auch Sinn, als, wie der Akt vermerkt, in diesem Zeitraum die Zusammenarbeit mit dem Fernsehen intensiviert wurde. Diesem Medienwechsel, der im Regelfall ein striktes Längenformat erfordert, steht mit 1963/64 der künstlerische Höhepunkt des städtischen Auftragsfilmes gegenüber. »Wien 1963« (Ö. 1963, R.: Edwin Zbonek, M.: Carl de Groff, gesichtet im Österreichischen Filmmuseum) präsentierte Wien in einem avantgardistischen Stadtporträt von 18 Minuten Länge  ; »Symphonie Wien« (Ö. 1964  ; R.: Albert Quendler, gesichtet bei Mediawien) dramatisierte unter Benutzung der musikalischen Grundform die Geschichte Wiens einschließlich ihrer prähistorischen Vergangenheit. Der 95 Minuten lange Film stellte im Prisma künstlerischer Darstellungen (Theaterspielszenen aus Grillparzer-Stücken mit Josef Meinrad, Tanzstudien zur Schöpfungsgeschichte von Rosalia Chladek u. a.m.) essenzielle Bestandteile des Wien-Mythos nach. Vgl. WStLA, M.Abt. 350, A 15–99, M.Abt. 7 vom 3. März 1964 an den Bürgermeister. 35 Mit polizeilicher Logik meinen wir die Zuteilung von legitimen Handlungen an bestimmte Personen in bestimmten Orten  ; sie ist der »Polizey«-Wissenschaft der Aufklärung nahe verwandt und zielt wie diese auf die möglichst repressionsfreie, auf Einsicht beruhende Unterordnung unter die von den jeweiligen Machtträgern definierten »Allgemeininteressen«. Geradezu parodistisch wirken aus heutiger Sicht die filmischen Repräsentationen der Wiener Polizisten, die – mit ihren weißen Handschuhen und tänzerischen Bewegungen – ein häufiges Motiv der gesponserten und der Tourismusfilme abgaben. In den Auftragsfilmen der Stadt traten sie vorwiegend als Lehrmeister auf, die uneinsichtige WienerInnen geduldig mit den Regeln des modernen Straßenverkehrs vertraut machten. So auch in dem Kurzwerbefilm »Fußgänger-Übergänge« (Archivtitel) aus der Serie »Und das alles um mein Geld« (1961, 1.10 min., P.: Dr. Scheiderbauer, Auftraggeber  : MA 7, gesichtet bei Mediawien), der die neuen automatischen wie von Passanten zu bedienenden Verkehrsampeln propagiert und die Ausgaben dafür (»Ein’s aber ist sicher  : Wo’s Verkehrsampeln gibt, gibt’s keine Verkehrsunfälle mehr  !«) rechtfertigt. Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Bestand Mediawien, Lf. Nr.176 A-C.

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36 Vgl. Erving Goffmann  : Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1963. 37 Einen ganz anderen Blick eröffnet der von Amateurfilmern und Mitarbeitern der »Wiener Städtischen Versicherung« (unter dem Namen »Municipal-Film«) hergestellte Film »Ein Tag im Ringturm« (1962, Wiener Städtische Versicherung, Archiv. Der Film wurde im Rahmen der Ausstellung 175 Jahre Wiener Städtische Versicherung 1999 im Ringturm präsentiert). Dieser Film folgte (nicht ohne Humor) den Wegen, die ein Aktenstück durchlaufen musste. Augenscheinlich wurde dabei die mannigfaltige räumliche Hierarchie, sowohl sozial (vertikal wie nach der Dichte) wie hinsichtlich der geschlechterbezogenen Arbeitsteilung. Der Akt durchlief seine Bahn vom repräsentativen Einzelzimmer des Direktors in den oberen Geschossen über die Mehr-Personen-Zimmer der männlichen Fachbearbeiter hinunter zu den Großraumbüros, in denen Frauen an seriell angeordneten Tischen Schreibarbeiten verrichteten. Einen besonderen Akzent setzten die Schlusseinstellungen, die den aus dem Ringturm zur Straßenbahn eilenden Massen der einfachen Angestellten einen Blick aus dem Turm auf den großzügigen Parkplatz mit den Autos der besser verdienenden Angestellten entgegenstellten. Die für die Filme der 50er und 60er Jahre typische Forcierung von Verkehrssituationen als Symbol für moderne, rastlose Urbanität wurde hier – freiwillig oder unfreiwillig – ironisch gebrochen und sozial codiert. 38 Siehe Anm. 34. 39 Zu dieser Serie ist kein übergreifender Titel tradiert. In 18 Folgen werden im bekannten persönlichen Stil von Conrads Plaudereien Zeitthemen abgehandelt. Dramaturgisch werden auch hier »Wiener Typen« (wie die Gemüse-»Standlerin«) als Übersetzungsfiguren eingesetzt. Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Filmarchiv media wien, Lf. Nr. 197 A–C. 40 Eine leider undatierte und nicht nach Bezirken gegliederte Umfrage des Instituts für empirische Sozialforschung um 1980 bescheinigte den WienerInnen eine außerordentlich hohe Bindung an ihren jeweiligen Wohnbezirk. Nur zehn Prozent konnten sich gut vorstellen auch in einem anderen Bezirk zu leben, elf Prozent wohnten »nicht so gern« im Bezirk. Zit. n. Hannelore Bandel (Hg.)  : 60 Jahre kommunaler Wohnbau, Wien 1983, S. 117. 41 Die Kinder in den Horten und auf den Spielplätzen werden bei Zbonek konsequent in einem Habitat gefilmt, das von Gittern, Zäunen und Mauern strukturiert wird. 42 »Wienfilm«, Ö. 1976, R.: Ernst Schmidt jr. 43 Elisabeth Büttner  : Breviere für unbeugsame Stadtbenutzer. Österreichische Avantgarde macht Wien sichtbar, in  : Wolfgang Kos/Brigitte Huck/Lisa Wögenstein (Hg.)  : Wiener Linien. Kunst und Stadtbeob­ achtung seit 1960, Wien 2004, S. 24. 44 Andreas Weigl  : Hinter den Kulissen des Wirtschaftswunders. Kommunale Wirtschaftspolitik im »goldenen Zeitalter« 1953 bis 1973, Wiener Geschichtsblätter Beiheft 1/2011, Wien 2011. 45 Vgl. die instruktive Studie von Robert Rotenberg  : Time and Order in Metropolitan Vienna. A seizure of Schedules, Washington/London 1992. Rotenberg macht mit seiner Studie darauf aufmerksam, wie sehr scheinbar ganz anderen gesellschaftlichen Systemen zugerechnete Phänomene (Arbeits- und Öffnungszeiten, Steuern, Familienstrukturen) städtische Dichte beeinflussen. So trug etwa die Einführung der Mehrwertsteuer in den 1970er Jahren zusammen mit dem Rückzug einer neuen, gebildeten Generation aus den Familien-Geschäften des Handwerks und Kleinhandels zur rapiden Verschlechterung der Qualität der Hauptstraßen der einzelnen Bezirke bei. (Das Ende der pauschalierten Abgaben veranlasste viele ältere Geschäftsinhaber, die nicht an eine firmengemäße Buchhaltung gewohnt waren, ihr Geschäft früher als geplant aufzugeben.) 46 Vgl. Stadtentwicklung  : Wien, wie es wurde, in  : Wien wirklich. Ein Stadtführer durch den Alltag und seine Geschichte, Wien 1983, insb. S. 17. 47 »Arena besetzt«, Ö. 1977, R.: Ruth Beckermann, Josef Aichholzer, Franz Grafl.

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48 Saskia Sassen  : The Repositioning of Citizenship  : Emergent Subjects and Space for Politics, in  : Berkeley Journal of Sociology, Vol.46/2002, insb. S. 20. Wenn Sassen hierin auch entschieden Bezug nimmt auf Globalisierungsprozesse, so ist doch in der zugrunde gelegten These, wonach die Stadt genuiner Raum der Emergenz von »unvollständigen«, fragmentierten Subjektivitäten ist, ein Zugang zur Erschließung der oben genannten Phänomene gegeben. 49 Für einen kurzen Moment kann das Fernsehen jedoch auch zum Anstoß werden, neue Formen der Partizipation zu erproben. 1974 startete der ORF in Absprache mit der Gemeinde Wien das Projekt »Planquadrat« in Wien-Wieden. Die Bewohner des Wohnblocks um das Haus Margaretenstraße 34 konnten mithilfe technischer Unterstützung durch ein Fernseh-Team an der Umgestaltung ihres Wohnbereiches (Zusammenlegung und Öffnung von Hinterhöfen) arbeiten. Die selbstgestalteten Video-Dokumentatio­ nen, die im ORF ausgestrahlt wurden, dienten auch der Herstellung von Gesprächsplattformen im Gebiet. Vgl. Helmut Voitl/Elisabeth Guggenberger/Peter Pirker  : Planquadrat. Ruhe, Grün und Sicherheit – Wohnen in der Stadt, Wien/Hamburg 1977. 50 Peter Weibel  : Die schnellen Jahre, in  : Martin W. Drexler/Markus Eiblmayr/Franziska Maderthaner (Hg.)  : Idealzone Wien. Die schnellen Jahre (1978–1985), Wien 1998, S. 10/11. 51 »Burggarten«, Ö. 1980, P.: Medienwerkstatt Wien, gesichtet bei Medienwerkstatt Wien. 52 Vgl. zur älteren sozial feinteiligen Zuordnung der Wiener Gärten und Parks Arthur Rössler  : Von Wien und seinen Gärten, Wien 1946  ; zur Koinzidenz von städtisch-administrativer Grünflächenpolitik und Erhöhung von Kontrollmechanismen vgl. Gertraud Koszteczky  : Die Geschichte der Wiener Grünflächen im Zusammenhang mit dem sozialen Wandel ihrer BenützerInnen, Diss., Wien 2007, insb. S. 183ff. 53 »Schwarzhörer« benutzte den neu eingeführten Tonbanddienst-Service der Post, um Abonnenten telefonisch abrufbare Informationen zugänglich zu machen. Ziel war die Verbreitung der in den kommerziellen und staatlichen Medien »unterdrückten« bzw. marginalisierten Nachrichten. Im Frühjahr 1982, kurz vor der Aufkündigung des Vertrages durch die Postdirektion, zählte »Schwarzhörer« angeblich an die 10.000 Abonnenten. Vgl. Die Linke, Nr.13/1982, S. 8. 54 Zu diesen Ereignissen (Besetzung und polizeiliche Räumung der Phorushalle in Wien Margareten am 20. Oktober 1979, erste Verhandlungen über Einrichtung eines Kultur- und Kommunikationszentrums in der Gassergasse in Wien V Ende 1980, aktionistische Jugenddemonstration gegen Häuserspekulation am 1. März 1981, erste Hausbesetzungen) vgl. die reichhaltige Darstellung bei Andreas Suttner  : »Beton brennt«. Territorialisierungskonzepte der Jugendkultur an der Schwelle zur Postmoderne. Vergleich Wien – Berlin – Zürich, Diss., Wien 2009. 55 Die Umwidmung von Brach- in Bauland bescherte den prominenten Grundstücksmaklern Friedrich Babak, Alfred Marek und Josef Machek, die offenkundig aus Beamtenkreisen vorzeitig über Widmungspläne der Stadt informiert worden waren, binnen kürzester Frist Gewinne von mehr als der Hälfte des Kaufpreises, den sie entrichtet hatten. Vgl. Profil, Nr. 29/1978, S. 36ff  ; Nr. 31/1978, S. 15ff  ; Nr. 37/1978, S. 32ff. 56 Im November 1973 hat die ÖVP die seit 1945 bestehende Kooperation mit der SPÖ im Wiener Gemeinderat aufgekündigt. In »Kernfragen« wie dem geplanten Bau der UNO-City sah sie keine Einigungsmöglichkeiten mehr gegeben. Zweifellos spielte dafür der Konflikt um den Sternwartepark in Wien Währing eine wichtige Rolle  : Die Stadtregierung reagierte auf die Protest-Unterschriften von Bürgerinitiativen gegen die Teilverbauung des Parks (Zoologisches Institut der Universität Wien) mit einer Volksbefragung. Trotz der suggestiven Fragestellung, die für den Fall des Institutsbaues gleichzeitig die Öffnung des bislang gesperrten Parks in Aussicht stellte, sprachen sich im Mai 1973 235.000 von 410.000 TeilnehmerInnen an der Befragung gegen die Verbauung aus. Noch mehr als die mehrheitliche Ablehnung überraschte die unerwartet hohe Beteiligung, die ein starker Indikator für die Erosion der traditionellen parteipolitischen Bindung gewesen ist. 57 Seit Beginn der 1970er Jahre, als die Verödung der Wiener City zum Thema wurde, äußerten sich re-

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siegfried mattl nommierte Stadtplaner (Victor Gruen), Psychologen (Erwin Ringel) und Soziologen (Erich Bodzenta) zur Revitalisierungsstrategie. Ihre Vorschläge reichten von Maßnahmen zur Reduktion des Autoverkehrs hin zur öffentlichen Subvention von Klubs und Cafés (als Kommunikations-»Katalysatoren«) und zur Förderung eines neuen Zeitregimes durch Änderung der Ladenschlusszeiten und Einführung eines Abendbetriebes in Museen, Galerien, Kunst- und Antiquitätenläden. Wesentlichen Anstoß zur Auseinandersetzung mit der City gab die hohe Unzufriedenheit der Geschäftsbetreiber, die Kaufkraftabfluss, Überalterung und Verkehrsdichte beklagten. Überdies plante die Stadtregierung noch die Anhebung der Abgaben bei Erweiterungsbauten in der Gastronomie (»Stellplatzgebühr«) um mehr als 100 Prozent. Vgl. Profil, 19.1.1973, S. 22ff. 58 Rund 200 Leute nutzten ein Konzert im Rahmen des »Ideenmarktes«, um die Halle zu besetzen, deren Abriss sie verhindern wollten. Die »Arbeiterzeitung« schrieb sogleich vom Vorbild der »Arena« 1976, doch schon nach wenigen Stunden zwang die Polizei die sechzig Besetzer, die die Nacht vom 20. auf den 21. Oktober in der Halle verbracht hatten, zum Aufgeben. Besonders aggressiv ging die Polizei dabei gegen die rund 300 Sympathisanten – darunter auffallend viele Minderjährige – vor der Halle vor. Vgl. AZ, 22.10.1979, S. 5  ; siehe auch den atmosphärisch dichten Film »Phorushalle« (Ö., 1979, P.: Medienwerkstatt Wien, gesichtet bei Medienwerkstatt Wien), der die Ereignisse am 20.10.1979, insbesondere die Polizeiübergriffe auf dem Platz vor der Phorushalle, kommentarlos festhielt. Im Übrigen ließ die Stadt noch am 22.10. mit dem Abriss beginnen. Ein Kommentar des Herausgebers der »Arbeiterzeitung« sprach von »fragwürdigen Demokratievorstellungen« der Besetzer und ihrer »absurden« Verknüpfung des Protestes mit der Forderung nach »Rasenfreiheit« im Burggarten. (Tatsächlich bestand ein enger Zusammenhang innerhalb der »autonomen« Szene, in der die Burggartenbesetzer einen Fokus bildeten. Vgl. Suttner, a.a.O., S. 270ff.) Der Kommentar verzichtete nicht darauf, das an der Stelle der Phorushalle geplante Seniorenheim als eigentlich ganz in der Logik der sozialen Forderungen der Besetzer liegend anzusprechen. Vgl. AZ, 23.10.1979. 59 So datiert das Vordringen der Immobilienfonds in Wien aus frühestens Mitte der 1980er Jahre, als der erste börsennotierte Fonds (Erste Österreichische Sparkasse) gegründet wurde. Parallel zum rasch wachsenden Büroflächenbedarf nahm die Bedeutung der Fonds als Steuerungsinstrument der Stadtentwicklung zu. Vgl. Reinhard Seiß  : Wer baut Wien  ? Hintergründe und Motive der Stadtentwicklung Wiens seit 1989, Salzburg 2007  ; Büroflächenentwicklung in Wien unter Berücksichtigung internationaler Trends, Beiträge zur Stadtforschung – Stadtentwicklung – Stadtgestaltung Bd. 35, Wien 1992. 60 Vgl. Herbert Loidolt/Gustav Raab  : Liegenschaftsfonds in Österreich. Schriftenreihe der Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen und Planen, Heft 38, Wien 1970, insb. S. 11 und 24. 61 Vgl. Albert Kaufmann/Bernd Hartmann  : Wiener Altmiethäuser und ihre Besitzer, Wien 1984, insb. S.108/09. Die getrennte Auswertung von Motivbereichen nach Hauseigentümern und nach Altmiethäusern (Mehrhausbesitz inkludiert) zeigte als Hauptmotive der Hausbesitzer den Gebrauch für Eigenwohnund Geschäftszwecke und die langfristig sichere Kapitalanlage  ; beides überlagerte sich mit der »emotionellen Bindung« (Kaufmann/Hartmann) (Bewahrung des Familienbesitzes)  ; bei Mehrfachhausbesitz änderte sich symmetrisch die Motivlage und der Kapitalertrag war bedeutender als die emotionelle Bindung. Der hohe Anteil von Eigengebrauch und Familientradition sowie die persönliche Auswahl der Mieter deuten in die Richtung starker Nahbeziehungen innerhalb der Altmiethäuser und implizieren eine hohe soziale Kontrolle. Immerhin wurde als typisch erachtet, dass die Neuvermietung von Altmietwohnungen zu mindest einem Fünftel über informelle Kontakte, also außerhalb des Marktes, erfolgte. Vgl. Ulrike Frühwirth  : Immobilienbüros in Wien – Eine Untersuchung über Standorte, Märkte und Kontaktstrukturen von Dienstleistungsbetrieben, Dipl., Wien 1983, insb. S. 95. (Die Studie kommt zum Ergebnis, dass fünfzig Prozent der Altbauwohnungen durch Büros vermittelt worden sind. Die zugrunde liegenden

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filmgeschichte als sozialgeschichte der stadt Zahlen schließen auch den älteren öffentlichen Wohnbau ein, der über amtliche Stellen vergeben wurde. Die hier genannten zwanzig Prozent informelle Vermittlungen werden deshalb für den privaten Altmietbestand erheblich nach oben korrigiert werden können.) 62 Die Bildung von Wohnungseigentum stellt sozialhistorisch eine der signifikantesten Wenden innerhalb der jüngeren Stadtentwicklung dar. Neuverteilung der Einkommen, Lebensstiländerung und Mietengesetzgebung spielen auf komplexe Weise bei diesem rezenten Phänomen im Kontext der »Gentryfizierung« der älteren Stadtviertel zusammen. 63 Die Wiener »Bau-Tycoons« (Kallinger, Stumpf, Katlein) konzentrierten sich bis 1970 eher auf den geförderten Wohnbau, an dem sie rund 50 Prozent Marktanteil hatten, denn auf die Stadtsanierung. Die Wohnbauförderungsreform 1968 beendete allerdings den quasi automatischen Rechtsanspruch auf die öffentlichen Fördermittel und stärkte die Steuerungsmacht der Stadt. Um der drohenden Benachteiligung gegenüber den gemeinnützigen Bauträgern zu entgehen, einigte sich die private Bau- und Immobilienwirtschaft 1975 mit der Stadt Wien auf das Programm der Stadterneuerung  ; dieses sah auch die Partizipation der Mieter im Falle von Sanierung oder Neubau vor. Das Ausscheren von patriarchalischen Unternehmern wie Adalbert Kallinger aus diesem Konsens mobilisierte deshalb eine neue Allianz von betroffenen Mietern, speziellen Interessengruppen wie ArchitektInnen, WirtschaftsfunktionärInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen. Kallingers Vorhaben, das Haus »Zum großen Jordan« am Judenplatz, eines der ältesten Häuser Wiens, zur »wirtschaftlichen Abbruchsreife« zu führen, gewann damit geradezu symbolischen Wert. Die vorgängigen öffentlichen Konflikte erklären auch, weshalb Kallinger und seine Spekulationshäuser Ziel der Angriffe der Jugendrevolte vom 1. März 1981 wurden. Zur Transformation der Wiener Immobilien- und Entwicklungsstrukturen vgl. Winfried Kallinger  : Wiener Baugeschichte 1970–2010, Hohenems/Wien 2010. Kallingers Binnenperspektive hebt die Bedeutung der Instrumente der Stadterneuerung für die Überwindung der pragmatischen, anti-urbanen Massenbauweise der »Wiederaufbau«-Zeit durch das Zusammenwirken von privaten Bauträgern, Architekten und Stadtpolitikern hervor. 64 Laura Frahm  : Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld 2010. Filmstills: WStLB, Filmarchiv der media wien. Die behandelten Filme sind jetzt teilweise auf den Websites Stadt/FilmWien.at und mediawien-film.at zugänglich

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andreas weigl

Demografischer Wandel in Wien von 1945 bis in das ausgehende 20. Jahrhundert 1. Bevölkerungsentwicklung und -struktur 1.1 Die »doppelte Drehung«1 in der österreichischen Bevölkerungsgeschichte der Zweiten Republik

D

ie demografische Entwicklung Wiens vom Kriegsende 1945 bis in das ausgehende 20. Jahrhundert entzieht sich einer einfachen Kategorisierung. In der öffentlichen Meinung und im Expertendiskurs überwog in Anknüpfung an den Diskurs der Zwischenkriegszeit bis in die 1980er-Jahre das Signum einer schrumpfenden Großstadt.2 In einer in den späten 1950er-Jahren anlässlich der Gebietsänderung von 1954 publizierten offiziösen historischen, geografischen und sozioökonomischen Gesamtschau wurde von einem Mitarbeiter der »Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Planung« nicht ohne biologistischen Unterton sogar eine geradezu apokalyptische Vision an die Wand gemalt  : »Wien scheint die einzige Großstadt zu sein, für welche der Zuzug von außen praktisch aufgehört hat und auch (ohne »Wunder«) nicht mehr einsetzen kann. Diese Stadt steht vor der Entscheidung, entweder aus eigener Potenz die Bevölkerung auf jener Höhe zu halten, welche notwendig ist, sie als lebendiger und gesunden Organismus zu erhalten, oder Wien teilt das Schicksal Roms im Mittelalter  : die Siedler in den Randgemeinden werden ihre Notbauten aus dem Material der Ringstraßenbauten errichten.«3

Diese (Extrem-)Position wurde zwar keineswegs uneingeschränkt geteilt – der Architekt Roland Rainer gelangte in einem wenig später publizierten Planungskonzept sogar zu der der späteren Realität nahe kommenden Einschätzung, die Wiener Bevölkerung würde langfristig in etwa konstant bleiben4 –, doch überwogen insgesamt eher pessimistische demografische Prognosen. Mit der Bevölkerungsentwicklung Wiens in Verbindung stehend wurde in der Zweiten Republik unter anderem auch in rezenten Gesamtdarstellungen unter den Schlagwörtern der »gedrehten Republik«5 und einer »Entprovinzialisierung der Provinz«6 eine Verlagerung des demografischen Schwerpunkts nach Westösterreich konstatiert.7 Bei näherem Hinsehen erweist sich freilich auch dieses Bild als nur bedingt zutreffend. Zwar ist der Bevölkerungsanteil Wiens nach dem heutigen Ge397

andreas weigl bietsstand unzweifelhaft gesunken – nach den Ergebnissen der Volkszählungen von 23,3 Prozent im Jahr 1951 auf 19,3 Prozent im Jahr 2001. Von einem durchgängigen Rückgang konnte allerdings keine Rede sein. Vielmehr konzentrierte sich der Rückgang vor allem auf den Zeitraum von circa 1960 bis Mitte der 1980er-Jahre.8 Dieser Rückgang wird durch die Volkszählungsergebnisse der Jahre 1981 bis 2001 zudem etwas überzeichnet, und zwar einerseits durch gehäufte »Wohnsitzmigrationen« vor und »Rückwanderungen« nach dem Stichtag rezenter Volkszählungen, andererseits durch erhebungsbedingte Schwierigkeiten, die gesamte Ausländerpopulation im Weg einer Volkszählung zu erfassen. Indirekt belegt wird das durch die Ergebnisse der Bevölkerungsstatistik der Statistik Austria auf Basis des 2002 implementierten Bevölkerungsregisters, welches auf Meldedaten beruht. Diese Statistik zeigt einen ungewöhnlich steilen Anstieg der Wiener Bevölkerungszahl, der wohl auch schon für die 1990er-Jahre anzunehmen ist.9 Betrachtet man die gesamte Stadtregion, dann beschränkte sich der Bevölkerungsrückgang ohnehin nur auf die 1970er-Jahre, als die Region von 2,10 auf 2,04 Millionen leicht Einwohner verlor. Um die Jahrtausendwende waren jedoch schon wieder 2,16 Millionen erreicht.10 Jedenfalls wies seit den späten 1980er-Jahren der regionale Trend wieder in eine andere Richtung. Die »gedrehte Republik« drehte sich demografisch zurück nach Ostösterreich.11 Grafik 1: Anteil Wiens an der österreichischen Bevölkerung 1951–2000 (heutiger Gebietsstand)12 Abb. 1: Anteil Wiens an der österreichischen Bevölkerung 1951-2000 (heutiger Gebietsstand) 25,0

20,0

15,0 Anteil Wiens

10,0

5,0

0,0

398

demografischer wandel in wien Die demografischen Anteilsverluste Wiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten allerdings eine Vorgeschichte, die zu einer wesentlich erheblicheren Verschiebung der Bevölkerung von Ost- nach Westösterreich beitrug, als dies dann in der Zweiten Republik der Fall war. Diese Verschiebung beruhte primär auf der Vertreibung und Ermordung nahezu der gesamten jüdischen Bevölkerung Österreichs, die in hohem Maß auf Wien konzentriert war, und kriegsbedingten Wanderungen von Ost- nach Westösterreich. Das lässt sich anhand des Vergleichs der Volkszählung 1939 mit einer Bevölkerungserhebung aus dem Jahr 1946 gut belegen. Demnach sank der Bevölkerungsanteil von »Groß-Wien«, wie es in der ns-Zeit geschaffen worden war, von 29,0 Prozent im Mai 1939 – als bereits rund 120.000 Juden vertrieben worden waren13 – auf 24,5 Prozent 1946 drastisch. Nachdem sich die von Kriegsheimkehrern, Flüchtlingen und Rückwanderern geprägten chaotischen Nachkriegsverhältnisse normalisiert hatten, stieg der Bevölkerungsanteil Groß-Wiens etwas an, und zwar auf 25,5 Prozent im Jahr 1951.14 Trotz dieser Anteilsverluste des Wiener Raumes konnte von einer Verlagerung des Bevölkerungsschwerpunktes nach Westösterreich – bei lange Zeit unbestrittener höherer demografischer Dynamik der westlichen Bundesländer – keine Rede sein, kamen doch alle westösterreichischen Bundesländer (Salzburg, Tirol, Vorarlberg) zusammen im Jahr 2001 etwa auf die Einwohnerzahl von Wien, die gesamte Ostregion jedoch auf fast 3,4 Millionen Einwohner.15 Zudem blieb Wien über den gesamten betrachteten Zeitraum eine ausgeprägte »primate city« mit einem im europäischen Vergleich beträchtlichen hauptstädtischen Bevölkerungsanteil.16 Sieht man von den Wirrnissen der unmittelbaren Zeit nach Kriegsende einmal ab, dann kennzeichnete die Bevölkerungsentwicklung Wiens in der Zweiten Republik nicht ein dauerhafter Schrumpfungsprozess, sondern ein U-förmiger Verlauf. In den 1950er- und 1960er-Jahren lebten innerhalb der heutigen Stadtgrenzen etwas mehr als 1,6 Millionen Einwohner in Wien, ehe in den 1970er-Jahren und in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre ein Rückgang im Ausmaß von etwa 130.000 Einwohnern zu verzeichnen war. Seit den späten 1980er-Jahren hat die Wiener Bevölkerung allerdings wieder zugenommen, wobei um die Jahrtausendwende unter Berücksichtigung der erwähnten Untererfassung der ausländischen Bevölkerung fast jenes Niveau der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht worden sein dürfte.17 Der Beitrag der natürlichen Bevölkerungsbewegung (Geburtenbilanz) und der Wanderung zur Bevölkerungsentwicklung stellte sich dabei wie folgt dar   : Die durchwegs negative Geburtenbilanz, die in den 1950er- und 1970er- und frühen 1980er-Jahren durch besonders ausgeprägte Geburtendefizite gekennzeichnet war, verkleinerte sich in der Folge und mündete auf die Jahrtausendwende zu in eine nahezu ausgeglichene Bilanz.18 Die seit Kriegsende überwiegend positiven Wanderungssalden19 erfuhren durch Suburbanisierungstendenzen seit den 1960er-Jahren 399

andreas weigl eine erhebliche Abschwächung. Auch in der Folge blieben die Inländerwanderungsbilanz und die fast deckungsgleiche Bilanz der Wanderungsströme mit dem näheren und ferneren Umland negativ. Sie wurde jedoch durch massive Migrationsströme aus Südost­europa und der Türkei und in weiterer Folge auch aus anderen Ländern seit den späten 1980er-Jahren mehr als kompensiert. Insgesamt wurden während der 1950er- und 1960er-Jahre negative Geburtenbilanzen weitgehend durch positive Wanderungssalden kompensiert, in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren jedoch nicht.20 Im Lauf der 1980er-Jahre glichen sich Wanderungsbilanz und Geburtenbilanz jedoch zunehmend wieder aus, wobei beide Salden im Vergleich zu den Nachkriegsjahrzehnten deutlich gesunken waren. Im Zuge der Lockerung und späteren Öffnung des »Eisernen Vorhangs«, der Flüchtlingswellen infolge des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien und des österreichischen eu-Beitritts kam es schließlich wieder zu einem deutlichen Wanderungsüberschuss.21 Tab. 1: Bevölkerungsbilanzen Wiens nach dem heutigen Gebietsstand 1934–200122 Jahr

Bevölkerungsstand

Bevölkerungsbilanz

Geburtenbilanz

Wanderungsbilanz

1934

1.935.881

19511

1.616.125

–319.756

–220.600

–99.200

1961

1.627.566

11.441

–103.581

115.022

1971

1.619.885

–7.681

–76.127

68.446

1981

1.531.346

–88.539

–117.256

28.717

1991

1.539.848

8.502

–77.167

85.669

2001

1.550.123

10.275

–28.825

39.100

1 Revision der Gesamtwerte nicht in die Geburten- und Wanderungsbilanz 1934–1951 einbezogen, daher geringfügige Abweichungen zur gesamten Bevölkerungsbilanz.

1.2 Eine »überalterte« Stadt  ? Neben der »schrumpfenden Großstadt« ist auch ein weiteres Signum der Wiener Bevölkerungsentwicklung in der Zweiten Republik nur bedingt zutreffend  : das des »überalterten« Wien. Wohl wurde der Altersaufbau der Wiener Bevölkerung nach 1945 zunächst durch die in höhere Altersgruppen aufrückenden starken Geburten­ jahrgänge vor 1914 geprägt und dieses Aufrücken schon in den späten 1950er-Jahren als »Altersproblem« wahrgenommen.23 Den historischen Höhepunkt des »Überalterungsprozesses« erlebte Wien jedoch schon zu Beginn der 1970er-Jahre mit einem Anteil der 60-Jährigen und Älteren von fast 28 Prozent.24 In den 1970er-Jahren setzte ein bis zur Jahrtausendwende anhaltender Rückgang des Altenanteils und der 400

demografischer wandel in wien entsprechenden »Belastungsquoten«25 ein. Der Anteil der 60-Jährigen und Älteren sank bis auf 21 Prozent.26 Die in den 1950er-Jahren im Sockel deformierte Bevölkerungspyramide, die bis in die 1970er-Jahre eine Glockenform angenommen hatte, näherte sich gegen die Jahrtausendwende wieder einer im Sockel deformierten Pyramidenform.27 Wien ist seit den 1980er-Jahren eine »city beyond aging«.28 Die Stadt hat den großen Alterungsprozess, wie er für alle Industriegesellschaften charakteristisch wurde, im Gegensatz zu den übrigen Bundesländern fürs Erste bereits hinter sich. Aufgrund des »gender gap«, der ungleichen Lebenserwartung von Frauen und Männern, sorgte das Aufrücken größerer Teile der Bevölkerung in höhere Altersgruppen für einen entsprechend hohen Frauenanteil an der Bevölkerung. In Wien haben die Wirkungen der beiden Weltkriege dies noch verstärkt. Die überwiegend männlichen Kriegstoten ließen die sogenannte Sexualproportion, das Verhältnis der männlichen und weiblichen Population, zu Beginn der 1950er-Jahre anschnellen. Auf zehn Wienerinnen kamen im Jahr 1951 nur etwa 7,7 Wiener. Seit den späten 1960ern ist dieser »Frauenüberschuss« kontinuierlich zurückgegangen. Um das Jahr 2000 kamen auf zehn Mädchen und Frauen neun Burschen und Männer.29 Diese ungleichgewichtige Sexualproportion sorgte schon früh für eine deutliche Zunahme der Einpersonenhaushalte und damit der Haushalte insgesamt. Rund 670.000 Haushalten im Jahr 1951 standen etwa 750.000 1991 und bei geringfügig verändertem Erhebungskonzept 770.000 im Jahr 2001 gegenüber.30 Da eine beträchtliche Zahl der Kriegerwitwen nicht mehr heiratete und von den Ehepaaren im höheren Alter zumeist die Männer früher starben als die Frauen, sorgte dies für eine rasche Zunahme der Witwenhaushalte. Der Höhepunkt des altersstrukturbedingten Zuwachses an Einpersonenhaushalten wurde zu Beginn der 1970er-Jahre erreicht. Im Jahr 1971 lebten in rund zwei Dritteln der Wiener Einpersonenhaushalte 60-jährige und ältere Personen.31 Zu den unfreiwilligen älteren Singles der Nachkriegszeit trat seit den späten 1960er-Jahren infolge des Wandels gesellschaftlicher Wertvorstellungen eine andere, zuvor eher selten anzutreffende Kategorie von Singles  : die »freiwilligen« Singles jüngerer Altersgruppen.32 Der Aufstieg des jüngeren, freiwilligen Singles stand im Zusammenhang mit einer rasch voranschreitenden Entdiskriminierung von Alleinlebenden im anonymen urbanen Milieu.33 Im Jahr 1991 erreichte der Anteil der Singlehaushalte unter den Privathaushalten bereits mehr als vierzig Prozent, 2001 fast 45 Prozent.34 Um die Jahrtausendwende lebte bereits rund ein Viertel der jungen Erwachsenen (20- bis unter 35-Jährige) in Singlehaushalten, und nur mehr etwa dreißig Prozent der Einpersonenhaushalte entfielen auf 65-Jährige und Ältere. Nur bei den Frauen im höheren Alter dominierten nach wie vor Witweneinpersonenhaushalte.35 401

andreas weigl

2. Migrationsbewegungen 2.1 Zuwanderung als Wachstumsmotor und »Schrumpfungsbremse« Wie die Bevölkerungsentwicklung so vieler Großstädte wurde auch jene Wiens in der Zweiten Republik in ganz erheblichem Ausmaß von jener der Migrationen bestimmt. Wie schon in der Vergangenheit war es über den gesamten betrachteten Zeitraum wieder ein positiver Wanderungssaldo, der die rezente Migrationsgeschichte Wiens kennzeichnete. Die Zuwanderung übertraf die Abwanderung in der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei in den 1950er-Jahren – im Zeitraum 1951 bis 1961 erreichte der Wanderungsgewinn etwa zwei Drittel des historisch höchsten Wertes am Beginn des 20. Jahrhunderts36 – und 1980er-Jahren die größten Wanderungsüberschüsse zu verzeichnen waren.37 Scheinbar aus dem Rahmen fällt die frühe Geschichte der Wanderungsbewegungen in den ersten Jahren der Zweiten Republik, verlor Wien doch nach dem heutigen Gebietsstand zwischen den Volkszählungen 1934 und 1951 rund 100.000 Einwohner aus den Wanderungsbewegungen. Dieser Verlust beruhte jedoch ausschließlich auf der Zeit vor Kriegsende, und zwar auf der Vertreibung und Ermordung nahezu der gesamten jüdischen Bevölkerung Wiens und Fluchtbewegungen von Ost- nach Westösterreich in der letzten Kriegsphase. Nach dem »Anschluss« dürften etwa 206.000 Juden im Sinn der »Nürnberger Rassengesetze« in Österreich gelebt haben, etwa 190.000 davon in Wien. Die außerhalb Wiens lebenden Juden, wenn ihnen nicht vorher die Flucht gelang, wurden in der Folge vom nationalsozialistischen Regime gezwungen, nach Wien zu ziehen. Insgesamt gelang 127.936 Juden die Flucht durch Auswanderung, alle übrigen wurden bis auf ganz wenige Überlebende38 auf die eine oder andere Weise ermordet oder in den Tod getrieben.39 War auf diese Weise und auch durch Binnenwanderungen innerhalb HitlerDeutschlands – von Mai 1939 bis März 1943 dürfte sich der Wanderungssaldo um –150.000 bewegt haben40 – die Wiener Bevölkerung bereits erheblich geschrumpft, setzte etwa zu Beginn des Jahres 1944 eine weitere Phase erheblicher Wanderungsverluste ein. Schon Ende September 1944 belief sich die Zahl der Evakuierten auf rund 110.000.41 Im Zeitraum Jänner 1944 bis März 1945 dürfte der Wanderungssaldo rund –170.000 betragen haben.42 Mit dem Einsetzen der unmittelbaren Kriegshandlungen rund um Wien wanderten weitere 200.000 Personen aus Wien ab, sodass im Juli 1945 mit 1.323.758 Einwohnern ein Tiefststand der Bevölkerung im 20. Jahrhundert erreicht wurde.43 Seit dem Sommer 1945 strömten jedoch Rückwanderer, Flüchtlinge und heimkehrende Kriegsgefangene in die Stadt zurück. Schon in der zweiten Jahreshälfte 402

demografischer wandel in wien 1945 betrug der Wanderungsüberschuss etwa 270.000, weitere rund 160.000 in den Jahren 1946 und 1947.44 Die Nachkriegswanderbewegungen gingen nun in den darauf folgenden Jahren zurück, doch blieb ein ausgeprägter Wanderungsüberschuss bestehen.45 Tatsächlich zählten also die Jahre 1945–1950 zu jenen in der Zweiten Republik mit den höchsten Wanderungsüberschüssen. Abgesehen von den Rückwanderern aus anderen Teilen Österreichs und österreichischen Staatsbürgern aus der Tschechoslowakei spielten unter den Zuwanderern der ersten Nachkriegsjahre drei Gruppen eine zentrale Rolle  : heimkehrende Kriegsgefangene, überwiegend deutschsprachige Flüchtlinge und Vertriebene aus Ostmittel- und Südosteuropa und andere Displaced Persons (dps). –– Von 1. August 1945 bis Ende 1946 kehrten 65.000 Kriegsgefangene heim, das Gros davon im Jahr 1946. Weitere 15.000 folgten 1947, kleinere Gruppen in den folgenden Jahren bis 1955.46 Insgesamt betrug die Zahl der Kriegsheimkehrer schließlich 85.168.47 –– Die Zuwanderung von aus ehemaligen Teilen Nazi-Deutschlands, aus von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten oder aus Territorien verbündeter autoritärer Regime in mehreren Wellen flüchtenden und zum Teil von Österreich weiterwandernden »Volksdeutschen« hatte ihren Höhepunkt in den Jahren 1945 und 1946, reichte jedoch noch bis in die Folgejahre.48 Der höchste Stand an registrierten »Volksdeutschen« wurde 1947/48 erreicht.49 In Wien wurden Ende 1947 78.428 »Volksdeutsche« und 15.436 »Reichsdeutsche« gezählt.50 Von diesen »Reichsdeutschen« hatten sich zu Kriegsende noch etwa 200.000 in Österreich aufgehalten.51 –– Eine dritte, kleinere Zuwanderergruppe, die allerdings großteils schon während des Krieges erzwungen auf das Gebiet der späteren Republik Österreich gelangt war, bildeten die sonstigen »Displaced Persons« (dps) – zumeist Zwangsarbeiter und Überlebende aus den Konzentrationslagern. Zu ihnen gesellten sich Flüchtlinge aus Osteuropa, die vor dem kommunistischen Terror flohen. Von den dps hielten sich vergleichsweise wenige in Wien auf, weil sie den von der sowjetischen Besatzungsmacht erzwungenen Abtransport in ihre Heimatländer befürchten mussten.52 Zu Jahresbeginn 1948 lag die Zahl der fremdsprachigen dps bei 16.442.53 Sieht man von den chaotischen Migrationsbewegungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre ab, wurden im Lauf der Zweiten Republik die Wien betreffenden Wanderungen zunächst durch eine gewisse Abschwächung und eine stärkere Binnenorientierung charakterisiert. Der Anteil der Wiener, die in Wien geboren wurden, hat sich nach 1945 daher zunächst erhöht. Im Jahr 1934 traf das auf 57,5 Prozent der 403

andreas weigl Wohnbevölkerung zu, 1951 auf 64,2 Prozent und 1971 auf 65,3 Prozent.54 Seit den 1970er-Jahren sorgte jedoch der verstärkte Zuzug von Ausländern für eine Umkehrung dieses Trends. Nach einer Stichprobenuntersuchung betrug der entsprechende Wert 1988 nur mehr 64 Prozent.55 Erst in den 1990er-Jahren fiel dieser Wert infolge der Zuwanderung aus dem Ausland deutlich. Allerdings lässt er sich nicht genau beziffern, da bei der Volkszählung 2001 eine Differenzierung des Geburtsortes nach Bundesländern nicht erfolgte. Der Anteil der aus den österreichischen Bundesländern nach Wien Zugewanderten an der Gesamtbevölkerung blieb in der Nachkriegszeit bis etwa 1970 mit rund 19 Prozent annähernd gleich. Vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren nahm er jedoch deutlich zu. Im Jahr 1988 waren etwa 22 Prozent der Wiener Wohnbevölkerung in anderen österreichischen Bundesländern geboren. Aus den Geburtsjahrgängen 1921 bis 1970 waren gar 27 Prozent innerösterreichisch zugewandert.56 Aufgrund der massiven Zuwanderung aus dem Ausland sank jedoch gegen die Jahrtausendwende der entsprechende Anteil wieder. Die Zuwanderung aus dem Ausland erfuhr im längerfristigen Vergleich aufgrund der geopolitischen Randlage Wiens bis in die 1980er-Jahre einen Bedeutungsverlust, ehe es zu einer Trendwende kam. Im Jahr 1988 – allerdings auf eher wackeliger statistischer Basis57 – waren lediglich weniger als 14 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung im Ausland geboren  ; 1951 waren es noch 17 Prozent gewesen.58 Erst infolge des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien übertraf der Anteil der ausländischen Zuwanderer jenen der unmittelbaren Nachkriegsjahre, nun aber deutlich. Um 2000 waren bereits 24 Prozent der Wiener im Ausland geboren.59 Etwa die Hälfte dieser Teilpopulation war erst nach 1986 zugewandert.60

2.2 Landflucht, Bildungswanderung, Suburbanisierung In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Binnenwanderung innerhalb Österreichs in hohem Maß auf Ostösterreich und dort auf Wien zentriert. Auf die Bundesländer Niederösterreich, Burgenland und Steiermark entfielen durchwegs rund achtzig Prozent und mehr der Zu- und mit Ausnahme der 1950er-Jahre auch der Abwanderung innerhalb Österreichs.61 Diese Binnenwanderung war zunächst von deutlichen Wanderungsgewinnen der Hauptstadt geprägt. Einen absoluten Höhepunkt erlebte die Nahwanderung aus der Ostregion in den 1950er-Jahren. Nachdem schon zu Beginn der 1950er-Jahre im Zeitraum 1951 bis 1953 Wien (nach dem alten Stadtgebiet) etwa 10.000 Einwohner aus den Wanderungen mit Niederösterreich und dem Burgenland gewonnen hatte62, setzte sich diese Migrationsbewegung innerhalb der Ostregion verstärkt fort. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre er404

demografischer wandel in wien reichte das Wanderungsplus von Wien mit Niederösterreich und dem Burgenland fast 50 000.63 Nun kamen rund drei Viertel der Binnenzuwanderer aus Niederösterreich und dem Burgenland.64 In den folgenden Jahrzehnten stellten noch immer das Umland und der ländliche Raum der Ostregion den Haupteinzugsbereich der Wiener Zuwanderung. Erst in den späten 1980er- und in den 1990er-Jahren ging die Bedeutung ostösterreichischer Zuwanderer unter den Binnenmigranten etwas zurück. Vor dem Hintergrund eines rasanten sektoralen Wandels des (ost-)österreichischen Arbeitsmarktes, der unter dem Begriff »Landflucht« in die Diskussion Eingang fand,65 bestimmten die Nahwanderung der 1950er-Jahre Migranten aus dem ländlichen Raum der Ostregion, während unter den urbanen Migranten neben der Ostregion auch die großen Landeshauptstädte eine – allerdings nachrangige – Rolle spielten. Während die Zuwanderung aus dem ländlichen Raum noch zu Beginn der 1970 Jahre einen neuen temporären Höhepunkt erlebte, gewann allmählich die erwerbs- und ausbildungsbedingte Fernwanderung der großen, um 1960 geborenen Baby-Boom-Kohorten aus urbanen Regionen in Österreich an Bedeutung.66 Tab. 2: Richtungsspezifische Binnenwanderungsbewegung im Wiener Raum 1956–199167

Zeitraum

1956–19611

1966–19712

1976–19812

1986–19912

absolut

relativ

absolut

relativ

absolut

relativ

absolut

relativ

49.187

100%

55.902

100%

44.096

100%

46.961

100%

31.139

63%

33.775

60%

26.843

61%

26.535

57%

Burgenland

4.773

10%

5.715

10%

4.151

9%

4.019

9%

Steiermark

4.069

8%

5.270

9%

4.524

10%

5.858

13%

Zuwanderung nach Wien insges. aus NÖ

Oberösterreich

4.234

9%

4.530

8%

3.245

7%

2.502

5%

Kärnten

1.687

3%

2.693

5%

2.319

5%

3.224

7%

Salzburg

1.574

3%

1.788

3%

1.338

3%

2.278

5%

Tirol

1.159

2%

1.439

3%

1.076

2%

1.651

4%

552

1%

694

1%

600

1%

894

2%

Vorarlberg Ausland

39.030

33.827

75.149

Abwanderungen aus Wien insges.

18.620

100%

40.611

100%

55.730

100%

70.189

100%



11.108

59%

28.157

70%

42.508

76%

54.746

78%

788

4%

1.922

5%

3.505

6%

4.536

6%

1.494

8%

2.388

6%

2.164

4%

2.904

4%

Burgenland Steiermark

405

andreas weigl

Zeitraum

1956–19611

1966–19712

1976–19812

1986–19912

absolut

relativ

absolut

relativ

absolut

relativ

absolut

2.114

11%

3.206

8%

2.970

5%

2.795

4%

Kärnten

753

4%

1.264

3%

1.314

2%

1.556

2%

Salzburg

Oberösterreich

relativ

1.089

6%

1.937

5%

1.649

3%

1.578

2%

Tirol

821

4%

1.257

3%

1.102

2%

1.308

2%

Vorarlberg

453

2%

480

1%

518

1%

766

1%

Binnenwanderungsbilanz für Wien

30.567

15.291

–11.634

–23.228



20.031

5.618

–15.665

–28.211

Burgenland

3.985

5.793

646

–517

Steiermark

2.575

2.882

2.360

2.954

Oberösterreich

2.120

1.324

275

–293

Kärnten

934

1.429

1.005

1.668

Salzburg

485

–149

–311

700

Tirol

338

182

–26

343

99

214

82

128

Vorarlberg

1 Die Daten der Volkszählung 1961 sind hinsichtlich der Binnenwanderungsfrage sehr unvollständig, da die Frage auf der Hinterseite des Fragebogens von sehr vielen Personen übersehen wurde. Schätzungsweise dürften die tatsächlichen Absolutwerte etwa doppelt so hoch liegen (Desoye). 2 Im Rahmen der Volkszählungen 1961–1991 wurden alle Personen der Jahrgänge 1955, 1965, 1975, 1985 und älter nach der Wohngemeinde zum 1.1.1956 (1966, 1976, 1986) gefragt.

Insgesamt verlor die Zuwanderung von Ostösterreichern nach Wien an Dynamik. Im langfristigen Vergleich mit den 1950er-Jahren dürfte die Zuwanderung nach Wien bis in die frühen 1990er-Jahre etwa auf die Hälfte des Ausgangsniveaus gefallen sein.68 Das lag einerseits daran, dass aus den traditionellen Herkunftsregionen der Binnenmigranten die Abwanderung an demografische Grenzen stieß, andererseits die massive Ausweitung der Pendlerbewegung – die allerdings auch die zunehmende Suburbanisierung widerspiegelt – Alternativen zur Verlagerung des Wohnsitzes in die Hauptstadt bot.69 Die Wanderungsbiografie eines innerösterreichischen Zuwanderers wurde durch die Migration nach Beendigung der Schulausbildung und zu Beginn der Berufslaufbahn bzw. eines Studiums gekennzeichnet. Nach Beendigung der Erwerbstätigkeit kam es manchmal zu Rückwanderungen zum Ausgangspunkt des Migrations­zyklus.70 Die demografische Struktur der inländischen Zuwanderer erfuhr nur geringe Veränderungen. Zwischen 1961 und 1988 wanderten etwa achtzig Prozent aller Migranten nach Wien im Alter zwischen 16 und dreißig Jahren zu. Die Zuwanderung 406

demografischer wandel in wien älterer Altersjahrgänge spielte nur in den 1950er-Jahren eine größere Rolle. Die Fernzuwanderung zeigt dabei eine klare Konzentration auf das Alter zwischen 18 und zwanzig Jahren, was die hohe Bedeutung ausbildungsbezogener Zuwanderung nach Wien unterstreicht. Während die 1950er-Jahre die »Landflucht« aus jenen Regionen Niederösterreichs, die für das Pendeln unter den damaligen Nahverkehrsverbindungen zu wenig attraktiv waren, prägte,71 bildeten in den 1960er-Jahren das Aufsteigen der starken Jahrgänge der späten 1930er- und frühen 1940er-Jahre in das mobile Alter, der Strukturwandel in alten Industriegebieten sowie ein spürbarer Arbeitskräftemangel am Wiener Arbeitsmarkt zusätzliche wichtige Faktoren. In der Folge gewann im Vergleich zu den 1960er-Jahren auch der Erwerbseintritt als Zuwanderungsmotiv bei den Inländern an Bedeutung.72 Die ungebrochen hohe Konzentration der Binnenzuwanderung auf die jungen Altersgruppen belegt auch die Inländerwanderungsbilanz der 1990er-Jahre. In diesem Jahrzehnt waren die »Twens« die einzige Altersgruppe der inländischen Wiener Bevölkerung, die einen positiven Wanderungssaldo aufwies.73 Damit ist angedeutet, dass die Binnenwanderung nach 1945 nicht nur im Zeichen der Zuwanderung nach Wien stand. Vielmehr gewann im Lauf der 1960er- und 1970er-Jahre der verspätete Suburbanisierungsprozess74 – aufgrund der nur teilweise zurückgenommenen nationalsozialistischen Gebietserweiterung standen zunächst noch genügend Freiflächen im Stadtraum zur Verfügung – an erheblicher Bedeutung für das Wanderungsgeschehen, eine Bedeutung, die er auch in den nächsten Jahrzehnten unverändert behielt.75 Die Anfänge der »Verlagerung von Nutzungen und Bevölkerungen aus der Kernstadt, dem ländlichen Raum oder anderen metropolitanen Gebieten in das städtische Umland bei gleichzeitiger Reorganisation der Verteilung von Nutzungen und Bevölkerung in der gesamten Fläche des metropolitanen Gebiets«76 reichen in die 1960er-Jahre. Noch 1956 bis 1961 war die Wanderungsbilanz Wiens mit dem Umland eindeutig positiv.77 Ein Jahrzehnt später hatten sich jedoch die Abwanderungen in das Umland verdoppelt, und dies wiederholte sich erneut auch in den 1970er-Jahren.78 Auch in den 1980er-Jahren setzte sich die Intensivierung des Suburbanisierungsprozesses fort. Nunmehr verlagerte sich die Abwanderung vom südlichen Niederösterreich in Richtung Weinviertel, das immer mehr zum Hauptabsiedlungsgebiet der aus der Stadt »flüchtenden« Wiener geworden war. Lediglich das Waldviertel bildete auch Ende der 1980er-Jahre ein bevorzugtes Herkunftsgebiet von Zuwanderern nach Wien.79 Aber selbst diese periphere Region Niederösterreichs wurde in den 1990er-Jahren zur erweiterten Suburbanisierungszone und wies nunmehr eine leicht positive Wanderungsbilanz mit Wien auf.80

407

andreas weigl 2.3 Arbeitsmigration aus dem Ausland Die große Rolle, die Wien als Arbeitsort für den zentraleuropäischen Raum bis zum Ende der Donaumonarchie gespielt hatte, war schon in der Zwischenkriegszeit verloren gegangen. Nach der Ausnahmesituation der Kriegsjahre endete die Zuwanderung von Arbeitsmigranten aus Ostmitteleuropa mit der Errichtung des Eisernen Vorhangs. Nicht von ungefähr zeigte die Wanderungsbilanz der ausländischen Bevölkerung noch in den 1950er-Jahren einen negativen Saldo. Im Zeitraum 1951–1961 betrug ihre Wanderungsbilanz –12.537. Der Ausländeranteil erreichte zu Beginn der 1960er-Jahre mit 1,5 Prozent einen Tiefstpunkt.81 Während die Wanderungsbewegungen der ausländischen Bevölkerung in den 1950er-Jahren noch weitgehend unabhängig von der Arbeitsmarktsituation verliefen, machte sich ein immer stärker fühlbarer Arbeitskräftemangel in den »Wirtschaftswunderjahren« bemerkbar. Vor allem im sekundären Segment des Wiener Arbeitsmarktes, bei den schlecht bezahlten Hilfsarbeiten mit geringer Jobkontinuität, wurde er immer spürbarer. In einem innenpolitischen »Kuhhandel«, dem sogenannten »Raab-Olah-Abkommen«, einigten sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf ein Kontingentverfahren nach dem Muster des Schweizer Saisoniermodells, welches die vereinfachte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte im Weg bilateraler Verträge ermöglichen sollte.82 Weil die Beschäftigung der »Gäste« nach dem Rotationsmodell angedacht war und die Wirtschaft boomte, hielt sich der gewerkschaftliche Widerstand in Grenzen, zumal eine sozialrechtliche Gleichstellung mit inländischen Arbeitnehmern im Zeichen des nicht angetasteten »Inländerschutzes« kein Thema war.83 Das »Raab-Olah-Abkommen« hätte freilich nicht ausgereicht, ausländische Arbeitskräfte in das Land zu ziehen, wenn sich nicht die ökonomischen Rahmenbedingungen verändert hätten. Schon in den späten 1950er-Jahren waren einige Tausend jugoslawische Auswanderer nach Österreich zugewandert mit dem Ziel, in klassische Auswanderungsländer in Übersee weiterzuwandern.84 Geht man nach den polizeilichen Meldestatistiken, blieb ein kleiner Teil dieser »Transitwirtschaftsflüchtlinge« in Wien, was man als Indiz für Ansätze einer Arbeitsmigration werten kann.85 Die zunächst in Kontingenten organisierte Zuwanderung sogenannter Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien und später auch aus der Türkei setzte dann mit einer gewissen Zeitverzögerung ab etwa Mitte der 1960er-Jahre verstärkt ein und gewann immer mehr an Dynamik. Zu Beginn der 1970er-Jahre waren bereits rund 50.000 jugoslawische Staatsbürger, jedoch noch kaum Türken, zugewandert. 1973, vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise, war der Höhepunkt der Gastarbeiterzuwanderung erreicht. Rund 75.000 Jugoslawen und 10.000 Türken lebten nun in Wien. Die folgende Phase kann als »Hochblüte des Familiennachzugs« bei gleichzeitigem Be408

demografischer wandel in wien schäftigtenabbau bei den jugoslawischen Arbeitnehmern bezeichnet werden.86 Insgesamt nahm die Zahl der Ausländer jedoch auch bis Mitte der 1980er-Jahre, in einer wirtschaftlich stagnativen Phase, nicht ab, sondern zu. Um 1985 lebten etwa 55.000 Jugoslawen und 28.000 Türken in Wien.87 In den späten 1980er-Jahren begannen sich die Rahmenbedingungen der wienbezogenen Arbeitsmigration erneut zunächst langsam, dann dramatisch zu ändern. Der Fall des »Eisernen Vorhangs«, die Wiedervereiningungskonjunktur in Deutschland und vor allem wachsende nationale Spannungen in Jugoslawien führten zu einem Zuwanderungsschub in den Jahren 1989–1993, der in seiner Dimension beinahe an die Nachkriegsjahre erinnerte und als »Migrationskrise«88 in die österreichische und Wiener Migrationsgeschichte einging. Zwischen 1989 und 1991 kam es kurzfristig zum nahezu ungehinderten Zuzug nach Wien, der durch die einsetzende Flüchtlingswelle aus dem jugoslawischen Raum noch verstärkt wurde. Die Zahl der ausländischen Bevölkerung schnellte im Zeitraum 1989 bis 1993 um rund 80.000 von 144.342 auf 223.577 nach oben.89 Bis zur Jahrtausendwende setzte sich der Anstieg dann vorerst stark gebremst fort, da nunmehr restriktive »Zuwanderungsregimes« installiert wurden. Eine echte politische Zäsur stellte dabei das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes mit 1. 7. 1993 dar. Es deckelte Neuanträge, die nunmehr ausnahmslos aus dem Ausland zu stellen waren, mit einer sehr eng bemessenen Zuzugsquote.90 In den 1990er-Jahren kam es mit Österreichs Beitritt zum ewr und zur eu zu einer allmählichen Veränderung der Herkunftsstruktur der Arbeitsmigranten, die nun vermehrt abseits jeglicher staatlichen Reglementierung aus eu-Ländern zuwanderten, wobei die Zuwanderung deutscher Staatsbürger immer mehr an Bedeutung gewann.92 Ende der 1980er-Jahre besaß der Altersaufbau der jugoslawischen und türkischen Zuwanderer im Erwerbsalter eine ganz ähnliche Struktur wie der der Binnenwanderer, was auf die gemeinsame ökonomische Motivierung der Migration hinweist. Ganz im Gegensatz zu den österreichischen Zuwanderern war der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Teilpopulation mit fast dreißig Prozent jedoch um vieles höher, während Sechzigjährige und ältere Migranten aus den »Gastarbeiterländern« noch selten waren.93 Erst in den 1990er-Jahren rückten auch diese Ausländer in etwas stärkerem Maß in die höheren Altersgruppen auf.94

2.4 Flüchtlingswellen Der Zustrom einer großen Zahl von Flüchtlingen nach Wien gegen Kriegsende und in den Jahren danach war keineswegs ein völlig neues Phänomen der Wiener Migra­ tionsgeschichte, bei Gesamtbetrachtung des 20. Jahrhunderts kann 409

410 344.951

321.866

Lehrlingsausbildung

Allgemeinbildende Pflichtschule

100,0

28,8

30,9

11,7

9,1

6,6

0,8

1,6

10,5

17.110

8.930

5.090

950

791

689

38

80

542

100,0

52,2

29,7

5,6

4,6

4,0

0,2

0,5

3,2

Bosnien/H.

Quelle: Statistik Austria, ISIS-Datenbank; eigene Berechnungen

1.117.836

130.640

Berufsbildende mittlere Schule

Gesamt

101.901

73.812

Berufsbildende höhere Schule

Allgemeinbildende höhere Schule

9.062

17.933

117.671

Österreich

Kolleg, Abiturientenlehrgang

Berufs- und lehrerbildende Akademie

Universität, (Fach-)Hochschule

Höchste abgeschlossene ­Ausbildung

56.393

40.828

10.565

1.823

1.306

916

63

94

798

100,0

72,4

18,7

3,2

2,3

1,6

0,1

0,2

1,4

Serbien/ Montenegro

12.613

6.334

3.658

750

659

431

20

61

700

5,9

5,2

3,4

0,2

0,5

5,5

100,0

50,2

29,0

Kroatien

11.803

3.962

2.898

943

1.630

1.174

115

114

967

33,6

24,6

8,0

13,8

9,9

1,0

1,0

8,2

100,0

Polen

29.292

23.470

3.194

464

1.371

184

12

19

578

1.322.544

100,0

378.193

139.669

118.923

79.784

9.663

18.949

137.702

439.661

10,9

1,6

4,7

0,6

0,0

0,1

2,0

Gesamt

80,1

Türkei

Tab. 3: Wohnbevölkerung im Alter von 15 und mehr Jahren nach Geburtsland und der höchsten abgeschlossenen Ausbildung 2001

andreas weigl

demografischer wandel in wien man geradezu von einer der wesentlichen Kontinuitäten sprechen.95 Tatsächlich wurde dann auch nicht nur die frühe Migrationsgeschichte Wiens in der Zweiten Republik von Zwangswanderungen bestimmt, sondern diese sollten auch in der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen nicht zu unterschätzenden Bestandteil dieser Geschichte darstellen. Dabei kam der geografischen und nach 1945 im »Kalten Krieg« veränderten geopolitischen Lage Österreichs im Allgemeinen und Wiens im Besonderen eine erhebliche Bedeutung zu. Waren es nach Kriegsende ns-Zwangsarbeiter, jüdische kz-Überlebende und Nachkriegsflüchtlinge aus Ostmitteleuropa sowie vertriebene »Volksdeutsche«, die die wichtigsten Flüchtlingsgruppen bildeten, resultierten die Flüchtlingswellen im Zeitraum von 1948 bis 1989 aus der Machtübernahme und Herrschaft kommunistischer Regime in Südost- und Osteuropa. Eine dritte Flüchtlingsgeneration wanderte im Zuge des Bürgerkriegs und Zerfalls Jugoslawiens nicht zuletzt aufgrund der räumlichen Nähe in das Flüchtlingsaufnahmeland Österreich und da im besonderen Maß in die Großstadt Wien zu.96 Im Gegensatz zur Erinnerung im kollektiven Gedächtnis handelte es sich beim überwiegenden Teil der Flüchtlinge vor dem Fall des »Eisernen Vorhangs« mit Ausnahme der »Volksdeutschen« um Transitflüchtlinge, von denen nur ein kleiner Teil in Österreich verblieb.97 So hielten sich nach der Niederwalzung des ungarischen Aufstandes durch die Sowjetarmee 1956/57 von den rund 200.000 Flüchtlingen Ende 1958 nur noch etwa 25.000 in Österreich auf.98 Die überwiegende Mehrzahl der dann letztlich in Österreich verbliebenen Ungarn lebte in Wien. Es dürften etwa 14. 000 gewesen sein.99 Ähnliches galt auch für die Flüchtlinge aus der č ssr im Jahr 1968, von denen 12.000 in Österreich einen Asylantrag stellten.100 Erheblicher war die Zahl der polnischen Flüchtlinge, von denen 1981 29.000 einen Asylantrag stellten. Aber auch unter diesen wanderten im Folgejahr bereits 16.000 in Überseeländer weiter.101 Trotzdem sollte die demografische Wirkung der Flüchtlingswellen keineswegs unterschätzt werden. Im Besonderen galt das für die Flüchtlinge und Vertriebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese Personengruppe stellte kurzfristig mehr als zehn Prozent der Wiener Bevölkerung.102 In ihrer Dimension bescheidener, sorgten die Flüchtlingswellen der Zeit des Ost-West-Gegensatzes und des »Eisernen Vorhangs« dafür, dass in den späten 1980er-Jahren etwa jeder Zehnte zwischen 1961 und 1988 nach Wien zugewanderte Ausländer Flüchtling war.103 Mit dem Ende des Ostblocks und mit Ausbruch des jugoslawischen Bürgerkriegs ging die Dominanz der Transitfunktion verloren. Hatten sich zuvor viele Flüchtlinge gescheut, sich so nahe am »Eisernen Vorhang« niederzulassen, traf das auf die kroatischen, bosnischen und kosovarischen Flüchtlinge der Folgejahre nicht mehr zu. So blieben von den rund 80.000 bosnischen Flüchtlingen etwa 65.000 in Österreich.104 411

andreas weigl Von den bei der Volkszählung 2001 etwa 34.000 mit Geburtsland Bosnien in Wien gezählten Personen105 dürfte ein nicht zu unterschätzender Teil aus dieser Flüchtlingswelle stammen.

2.5 Integration Nicht erst in der Zweiten Republik, aber auch in deren Geschichte war Zuwanderung mit teils erheblichen Integrationsproblemen verbunden, die keineswegs auf die Interaktion zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der Teilpopulation der »Gastarbeiter« beschränkt blieben.106 Auch manche »Volksdeutsche« und politische Flüchtlinge aus der Zeit des »Eisernen Vorhangs« erlebten ihre »Eingliederung« keineswegs immer friktionsfrei. Erheblichen Einfluss besaß offensichtlich der ökonomische und politische Kontext, in dem Flüchtlingsbewegungen stattfanden. Dies wurde vor allem bei der großen Flüchtlingswelle von 1956/57 deutlich. Vor dem Hintergrund des »Kalten Krieges« und der überwundenen Besatzungszeit zeigte die Bevölkerung gegenüber den ungarischen Flüchtlingen teilweise überwältigende Solidarität.107 Nach öffentlichen Aufrufen konnten sich die Hilfsorganisationen in Wien der Berge von Spenden nicht erwehren.108 Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung war so groß, dass im April 1957 schon fast ein Drittel der Flüchtlinge in privaten Unterkünften untergebracht werden konnte und viele Flüchtlinge auch rasch Arbeit fanden.109 Viele »Volksdeutsche«, ungarische, tschechische, slowakische und polnische Flüchtlinge, um nur die wichtigsten Flüchtlingsgruppen zu nennen, verfügten allerdings auch über ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, welches manche Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt überwinden half. Bei der »Gastarbeiterwanderung« war dies nicht der Fall. Es war daher vor allem die Teilpopulation der Gastarbeiter, die mit dem Phänomen der dauerhaften ethnischen Unterschichtung und den daraus resultierenden Folgeproblemen konfrontiert war. Gastarbeiter und deren Familienangehörige nahmen niedrige soziale Positionen ein, die von Einheimischen der Unterschicht aufgegeben wurden.110 Dadurch entstand ein verfestigter subkultureller Dauerzustand, der pathologische Sozialisationsformen in größerem Maßstab begünstigte.111 Eine »ethnische Segmentierung« des Arbeitsmarktes war bereits im Konzept der Gastarbeiter-Anwerbung angelegt.112 Auch wenn gegen Ende der 1960er-Jahre die Kontingente mehr und mehr an Bedeutung verloren, hatten sich bereits »Ausländer- und Inländerbranchen« verfestigt, die sich auch in der Folge kaum veränderten. Innerhalb dieser Branchen mit den höchsten Ausländerquoten waren Gastarbeiter auf schlecht bezahlte, mit hoher Arbeitsbelastung verbundene Jobs verwiesen. Dabei 412

demografischer wandel in wien entwickelten sich allerdings bald Unterschiede. Zwar waren zu Beginn der 1970erJahre Jugoslawen und Türken zu nahezu neunzig Prozent als Hilfsarbeiter tätig, Jugoslawen dabei aber auch häufiger in bestimmten Dienstleistungsberufen.113 Dazu zählte vor allem die Gastronomie, in der türkische Arbeitnehmer keine Rolle spielten.114 Für jugoslawische und türkische Zuwanderergruppen galt eine klare Dominanz der Migration aus bildungsfernen Schichten aus ländlichen Gebieten.115 Das geringe in der Heimat erworbene Bildungsniveau vieler Gastarbeiter und ihrer Familienangehörigen sowie Sprachprobleme von deren Kindern sorgten gemeinsam mit rechtlichen Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt für eine Verstetigung dieser Unterschichtung. Nach den Wiener Enqueten von 1974 und 1981 hatten neun Prozent der jugoslawischen Gastarbeiter keine Schule besucht, acht Prozent waren Analphabeten, und 24 Prozent hatten die Volksschule nicht abgeschlossen.116 Die zugezogenen Kinder hatten in einem zunächst kaum darauf vorbereiteten Schulsystem wenig Bildungschancen. Zu Beginn der 1980er-Jahre blieben in Wien 43 Prozent der türkischen Schulabgänger und 28 Prozent der jugoslawischen ohne Schulabschluss.117 Diese Dominanz wurde erst durch den jugoslawischen Bürgerkrieg, der auch zahlreiche Flüchtlinge aus größeren städtischen Zentren, vor allem aus Bosnien, nach Wien führte, etwas abgeschwächt. So wiesen bosnische Flüchtlinge, bei denen Facharbeiter in fast vierzig Prozent der Fälle vertreten sind, ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau auf.118 Weiter verschärft wurde der Bildungsnachteil durch die überdurchschnittliche Endogamie vor allem unter muslimischen Türken. So heirateten Mitte der 1990erJahre rund 84 Prozent der muslimischen Frauen unter Glaubensangehörigen, jedoch nur etwa zwei Drittel der Katholiken und Serbisch-Orthodoxen.119 Nimmt man die um die Jahrtausendwende in Wien lebenden Migranten zum Maßstab, dann hatten die in der Türkei Geborenen das mit Abstand niedrigste Bildungsniveau.120 Die unterschiedliche Bildungsintegration der verschiedenen Migrantengruppen in der Geschichte der Zweiten Republik spiegelt sich nicht zuletzt in den Bildungsabschlüssen. Im Jahr 2001 besaßen 10,5 Prozent der in Österreich geborenen Bevölkerung einen universitären Bildungsabschluss, während die Akademikerquote unter den in den ehemaligen Gastarbeiterländern Ex-Jugoslawien und Türkei Geborenen marginal, der Anteil von Personen mit Pflichtschul- oder keinem Schulabschluss weit überdurchschnittlich war. Er erreichte 2001 unter den in Serbien und Montenegro Geborenen 72 Prozent, unter den Türken gar achtzig Prozent, während er bei der österreichischen Geburtsbevölkerung (einschließlich der zweiten und dritten Migrantengeneration) 29 Prozent betrug.121 Seit der Migrationswelle Ende der 1980er-Jahre nahm das Bildungsniveau der Zuwanderer allerdings kontinuierlich zu. Abgesehen von der Zuwanderung aus dem 413

andreas weigl westlichen Ausland besaßen die in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren zugewanderten Polen die beste Ausbildung. Sie lag auch weit über dem Durchschnitt in ihrer Heimat.122 Fast jeder Dritte war vor der Migration als Angestellter oder Beamter tätig, ein weiteres Drittel befand sich in schulischer oder universitärer Ausbildung. Ebenso wiesen die in den frühen 1990er-Jahren geflüchteten Bosnier ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau auf. Der Facharbeiteranteil lag unter dieser Migrantengruppe bei fast vierzig Prozent.123

3. Der Wandel des gener ativen Verhaltens 3.1 Der säkulare Rückgang der Fertilität Nach 1945 bewegte sich die Geburtenrate in Wien zunächst auf dem bescheidenen, doch deutlich über dem Geburtentief der 1930er-Jahre liegenden Niveau der späten 1920er-Jahre. Der Nachzieheffekt nach Kriegen zeigte zunächst seine Wirkung. Die erste Hälfte der 1950er-Jahre war dann durch äußerst geringe Fertilitätsniveaus gekennzeichnet.124 In den späten 1950er- und in den 1960er-Jahren sorgte der BabyBoom wie in anderen Teilen Österreichs für einen sehr markanten Anstieg der Fertilität. Ende der 1960er-Jahre setzte jedoch ein entscheidender Abwärtstrend ein. In den späten 1990er-Jahren kamen nur noch etwa 1,3 Lebendgeburten auf eine Frau, während es zu Beginn der 1960er-Jahre noch fast zwei waren. Dennoch, selbst das niedrige Fertilitätsniveau der 1990er-Jahre übertraf jenes der frühen 1950er-Jahre noch um etwa zwanzig Prozent und war mehr als doppelt so hoch wie jenes während des »Geburtentiefs« der 1930er-Jahre.125 Mit Bezug auf den sogenannten »Demografischen Übergang«, den Wechsel von einem hohen vormodernen Fertilitäts- und Mortalitätsniveau auf ein niedriges, kann also kaum von einem posttransitorischen Gleichgewicht gesprochen werden. Die zunehmende Dynamik, die der Rückgang seit den 1970er-Jahren zeigte, und das absehbare dauerhafte Verbleiben weit unter dem Reproduktionsniveau lassen allerdings manche Demografen auch in Österreich von einem »Zweiten demografischen Übergang« mit Bezug auf die Fertilität sprechen.126 Der langfristige Rückgang der Fertilität in Wien nach 1945 war weder international in Bezug auf Großstädte in Industrieländern noch national in Bezug auf die übrigen österreichischen Bundesländer ungewöhnlich. Mit Ausnahme der Phase der Industriellen Revolution haben sich die Bevölkerungen von Großstädten in der Regel nie vollständig reproduziert. Wien bildete hierin keine Ausnahme.127 Die Gesamtfertilitätsrate, die Zahl der Kinder, die ein Geburtsjahrgang Frauen im Lauf ihres Lebens (unter der Annahme konstanter Fertilität) zu erwarten hat, lag selbst in 414

demografischer wandel in wien Zeiten des Baby-Booms nur bei etwa 1,85 und fiel Ende der 1990er-Jahre auf etwa 1,35. Damit war sie freilich nur unwesentlich höher als jene der anderen österreichischen Bundesländer. Grafik 2: Gesamtfertilitätsrate für Wien und Österreich 1961–2000128 Abb. 2: Gesamtfertilitätsrate 1) für Wien und Österreich 1961-2000 3,00

2,50

Rate

2,00

Wien

1,50

Österreich

1,00

0,50 1) Kinder pro 0,00

Jahr

Zur vollen Reproduktion einer Bevölkerung wäre eine Rate von etwas mehr als 2,0 notwendig gewesen. Ungewöhnlich an der Wiener Geburtenentwicklung war hingegen das außerordentlich niedrige Ausgangsniveau der Fertilität in der Zwischenkriegszeit, das in der Zweiten Republik nie auch nur annähernd erreicht oder gar unterschritten wurde. Für manche Beobachter überraschend mag auch die teilweise Konvergenz der Fertilitätsniveaus der übrigen Bundesländer mit dem niedrigen Wiener Niveau seit den späten 1960er-Jahren gewesen sein, obwohl die Angleichung städtischer und ländlicher Fertilitätsniveaus – Folge eines Anpassungsprozesses der Lebensstile – mittlerweile ein europäisches Phänomen darstellt.129 Der Fertilitätsrückgang lässt sich aus zwei voneinander unabhängigen Entwicklungen erklären. Da waren einerseits Änderungen des generativen Verhaltens, die aus der Etablierung entwickelter Industriegesellschaften resultierten und dem »subs­ titutiven« Konsum eine immer größere Rolle bei biographischen Entscheidungen zukommen ließen. Sie bestimmten vor allem das Geburtentief der Nachkriegsjahre und der 1950er-Jahre. Ergänzt und erweitert wurden sie in der Folge durch die Auf415

andreas weigl wertung und Ausweitung der Freizeit und den damit verbunden Wandel des Freizeitverhaltens, der die subjektiven »Kosten« eines Kindes weiter erhöhte. Andererseits gewann eine zunehmende Individualisierung und Deinstitutionalisierung, insbesondere in Bezug auf die Familie, also ein Wertewandel, einen immer nachhaltigeren Einfluss auf kulturell bestimmte Verhaltensänderungen.130 Wiewohl Reaktion auf sozioökonomische Veränderungen, hat dieser Wertewandel als eigenständige Einflussgröße zunehmend tiefer in Intimbeziehungen der Menschen eingegriffen.131 Dieser Wertewandel erwies sich als dominanter Einflussfaktor in den etablierten Wohlstandsgesellschaften seit dem »Geburtentief« der Post–1968er-Epoche.

3.2 Illegitimität gestern und heute Nach formalen Kriterien betrachtet, konnte das traditionelle Familienmodell seit seiner neuerlichen Aufwertung in den Wirtschaftswunderjahren auch und gerade in Wien als etabliert gelten. Wurden in Wien zu Beginn der 1930er-Jahre noch 23 Prozent uneheliche Lebendgeborene gezählt, waren es zu Beginn der 1950er-Jahre 15 und in den 1960er- und 1970er-Jahren gerade einmal zehn Prozent. Das war im Vergleich zum österreichischen Durchschnitt wie schon in der Zwischenkriegszeit ein ungewöhnlich niedriges Ausmaß an Illegitimität.132 Dies und die vergleichsweise häufige Legitimierung unehelicher Konzeptionen während der Schwangerschaft133 deuteten auf die weite Verbreitung des bürgerlichen Familienmodells in allen Bevölkerungsschichten hin.134 Man wird wohl nicht ganz falsch liegen, sie mit der Etablierung der »anständigen« Arbeiterfamilie im Roten Wien in Verbindung zu bringen.135 Erst in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stieg die Illegitimität wieder, und zwar rasant, an, nun aber aus ganz anderen Gründen als mehr als eineinhalb Jahrhunderte zuvor. Bis zur Jahrtausendwende erreichte die laufend steigende Unehelichenquote einen Wert von etwa 25 Prozent. An den regionalen Illegitimitätsdifferenzialen änderte das wenig. Die Unehelichenquote Wiens lag weiterhin unter jener der meisten anderen Bundesländer.136 Der generelle Anstieg des Anteils unehelicher Geburten stand ohne Zweifel in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Trend, biografische Entscheidungen möglichst spät zu treffen. Mit beeinflusst wurde der neue Anstieg der Illegitimitätsraten durch eine familienpolitische und rechtliche Besserstellung unehelicher Kinder im Zuge der sozialpolitischen Reformen der Kreisky-Ära ab Mitte der 1970erJahre.137 Über den gesamten betrachteten Zeitraum waren vorehelich gezeugte Kinder in Österreich häufig. Mit relativ geringen Schwankungen seit den 1950er-Jahren lag ihr Anteil um fünfzig Prozent.138 Auch in Wien konzipierten rund 45–50 Prozent 416

demografischer wandel in wien der Mütter mit Erstgeburten zu einem Zeitpunkt, zu dem sie nicht verheiratet waren.139 Was sich veränderte, war jedoch der bewusste Verzicht eines kleineren Teils der Mütter auf die Ehe. Solche unvollständige Familienformen waren in Wien trotz der vergleichsweise niedrigen Illegitimitätsrate häufiger als in anderen Teilen Österreichs.140 Dadurch wandelte sich das Bild der ledigen Mutter  : Noch in den 1970erJahren wurden die meisten unehelichen Kinder von unter zwanzigjährigen Müttern geboren,141 die dann häufig »Muss-Ehen« eingingen,142 in den 1990er-Jahren von 25- bis unter Dreißigjährigen.143 Vor allem Wienerinnen über dreißig, die ihr erstes Kind unehelich bekamen, entschlossen sich zunehmend für bewusste Ehelosigkeit. Nach einer Studie, die die Situation in den späten 1980er-Jahren zum Gegenstand hat, traf dieser Trend in Wien auf Mütter aller Bildungsstufen mit Ausnahme von Pflichtschulabsolventinnen zu.144 Der fertilitätsreduzierende Effekt der zunehmenden Verbreitung unehelicher Geburten in Wien war nicht zu unterschätzen, denn trotz Enttabuisierung der Illegi­ timität seit der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung der 1970er-Jahre lag die uneheliche Fertilität weit unter dem Niveau der ehelichen.145 In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erreichten die unehelichen Fertilitätsraten selbst im Hauptgebäralter maximal zwanzig Prozent der ehelichen Fertilitätsraten. Bei dreißigjährigen und älteren Frauen näherten sich allerdings die Fertilitätsraten seit den frühen 1970er-Jahren so weit an, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte des ehelichen Fertilitätsniveaus erreicht wurde – dies auf einem sehr niedrigen Niveau, das für die gesamte Geburtenentwicklung bedeutungslos war und ist.146 Dass uneheliche Fertilität trotz einer nahezu vollständigen gesellschaftlichen Akzeptanz im großstädtischen Milieu auch in den 1980er- und 1990er-Jahren noch immer deutlich niedriger ist als eheliche, kann wohl nur mit der ökonomischen Situation unverheirateter Mütter in Verbindung gebracht werden. Illegitimität wirkte also auch in der postmodernen Gesellschaft als fertilitätsmindernd. Als bewusstes, ja gar bevölkerungspolitisches Regulativ generativen Verhaltens hat sie freilich jede Bedeutung verloren.

3.4 Der Aufschub biografischer Entscheidungen Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war ohne Zweifel durch einen Infragestellungsprozess der Familie gekennzeichnet. Dieser Prozess hatte allerdings deutlich diskontinuierliche Elemente. Während die unmittelbare Nachkriegsgeneration generative Verhaltensweisen zeigte, die jenen der Zwischenkriegszeit mit ihrer tiefen Geburtendepression nicht unähnlich waren, schien der Baby-Boom der 1960er-Jahre die Rückkehr zur »Normalität« anzudeuten. Es waren aber die in den 1930er-Jahren geborenen und in der Phase der nationalsozialistischen Diktatur sozialisierten 417

andreas weigl Frauen, die diesen Boom trugen.147 Der gesellschaftliche Wandel, der mit dem Jahr 1968 in der öffentlichen Diskussion verbunden wird, sorgte jedoch bei einem Teil der nachrückenden Generation für eine radikale Abkehr vom traditionellen Familienmodell. Die folgenden Jahrzehnte waren nicht so sehr von einer Pluralisierung, sondern eher von einer Polarisierung der »Familienformen« gekennzeichnet. Nach einer einschlägigen Untersuchung gab es in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre – und wohl auch später – keine dominante Form der Familiengründung in Wien mehr. Zwar waren mehr als drei Viertel aller Wiener Frauen, die in den Jahren 1984 bis 1989 eine Erstgeburt zur Welt brachten, zum Zeitpunkt der Geburt ihres ersten Kindes verheiratet, ein Drittel davon heiratete jedoch erst während der Schwangerschaft. Insgesamt etwa genauso viele brachten uneheliche Kinder zur Welt. Von dem Drittel der ehelich konzipierten Erstgeburten entfiel etwa die Hälfte auf Konzeptionen in den ersten Monaten nach der Eheschließung.148 Ein wichtiger demografischer Effekt der Infragestellung der traditionellen Familie war der biografische Aufschub von Geburten. In den 1950er-Jahren waren es zunächst die jüngeren Altersjahrgänge, die besonders massiv Geburten beschränkten. 1951 betrug die altersspezifische Fertilitätsrate der unter Zwanzigjährigen in etwa soviel wie zur Jahrhundertwende, erreichte aber fast nur die Hälfte des Niveaus der späten 1960er-Jahre. Die Rate der Zwanzig- bis unter 25-Jährigen erreichte zu Beginn der 1950er-Jahre etwa zwei Drittel des Fertilitätsniveaus um 1910, überschritt jedoch jenes der Baby-Boom-Jahre, die vor allem von jüngeren Frauen um zwanzig getragen wurden. Zumindest was ihr generatives Verhalten anlangt, waren sie der Frauengeneration vor dem Ersten Weltkrieg gar nicht so unähnlich. Zum Unterschied zu diesen setzten sie ihre Geburtenbiografien jedoch nicht bis zum dritten, vierten oder bis zu weiteren Kindern fort. Während diese Frauenkohorten ihre Geburtenfolge also mehr oder minder abbrachen, schoben die folgenden (Erst-) Geburten immer mehr auf. Die altersspezifischen Fertilitätsraten bis zum 30. Lebensjahr gingen nun deutlich zurück, während jene älterer Mütter zunahmen. Bei den 25- bis unter Dreißig-Jährigen war der Verlauf allerdings nicht linear. Im Zuge der Erhöhung des Erstgeburtsalters kam es zu einem Anstieg der Fertilität in den späten 1980er-Jahren, der jedoch die altersspezifischen Fertilitätsraten der 1960erJahre bei Weitem nicht erreichte. In den 1990er-Jahren fielen die entsprechenden Raten jedoch wieder deutlich. Die Fertilitätsraten der dreißigjährigen und älteren Mütter hingegen gingen seit den 1980er-Jahren kontinuierlich nach oben. Gegen Ende des Jahrtausends erreichten sie das Fertilitätsniveau dieser Altersgruppen der Baby-Boom-Jahre.149 Zwischen dem Aufschub von Geburten und dem steigenden Bildungsniveau der weiblichen (Erwerbs-)Bevölkerung bestand ein eindeutiger Zusammenhang. Frauen mit höherer formaler Schulbildung zeigten eine überdurchschnittliche Tendenz, 418

demografischer wandel in wien Eheschließung und Kinder später zu planen und zu konzipieren. Es entstand also ein bildungsinduzierter altersspezifischer »Verzögerungseffekt« auf Eheschließung und Fertilität.150 In den späten 1980er-Jahren lag der Anteil der Mütter, die bei ihrer Erstgeburt verheiratet waren, bei den Pflichtschulabsolventinnen bei 44 Prozent, bei den Akademikerinnen bei 62 Prozent.151 Eheliche Geburt war jedoch mit einer Verzögerung der Erstgeburt verbunden, denn auch der biografische Entschluss, zu heiraten, verlagerte sich in höhere Altersgruppen. Das durchschnittliche Heiratsalter stieg in Wien von etwa 1970 bis 2000 um etwa 4,5 Jahre auf rund dreißig beim Bräutigam und 28 bei der Braut an.152 Die Bedeutung des Bildungsniveaus für differenzielles generatives Verhalten wird auch bei der Betrachtung der Fertilitätsdifferenziale zwischen inländischer und ausländischer Bevölkerung deutlich. Der Anteil der Ausländergeburten hat seit den 1970er-Jahren ständig zugenommen. Betrug dieser zu Beginn der 1970er-Jahre lediglich rund neun Prozent, stammte um die Jahrtausendwende bereits jedes vierte Neugeborene in Wien von einer ausländischen Mutter.153 Fertilitätsunterschiede – die Nettoreproduktionsraten differierten beispielsweise im Jahr 1997 zwischen 0,51 bei den Inländerinnen und 0,84 bei den Ausländerinnen – waren vor allem auf die jüngeren Altersjahrgänge zurückzuführen. Bei den Dreißigjährigen und älteren Frauen haben die Fertilitätsunterschiede nach der Herkunft etwas an Bedeutung verloren.154 Vom Fertilitätsrückgang blieb jedoch auch die ausländische Bevölkerung keineswegs unberührt. Die Fertilitätsraten der ausländischen Mütter sanken etwa zur Mitte der 1990er-Jahre unter das für die Reproduktion notwendige Niveau. Ihr Rückgang verlief noch wesentlich rasanter als der der Fertilitätsraten der Inländerinnen. Beispielsweise fiel die Zahl der Kinder pro Frau (Gesamte Fertilitätsrate) im Zeitraum 1981 bis 1997 bei den Inländerinnen um 19 Prozent, bei den Ausländerinnen um 28 Prozent.155 Das durchschnittliche Gebäralter stieg bei den Ausländerinnen in den 1980er- und 1990er-Jahren um 1,7 Jahre auf fast 27, jenes bei den Inländerinnen um 2,2 Jahre auf 28,5.156 Das Familiengründungsverhalten unter den beiden größten Gastarbeiter-Populationen in Wien unterschied sich dabei grundlegend. Während bei Müttern aus dem jugoslawischen Raum eine rasche Anpassung an das generative Verhalten von Inländerinnen mit geringer formaler Ausbildung festzustellen war und lediglich lebensgeschichtlich etwas früher Kinder geboren wurden, verharrten viele türkische Frauen völlig in dem traditionellen Muster generativen Verhaltens ihres Heimatlandes. Fast neunzig Prozent der Erstgeburten von Türkinnen in den späten 1980er-Jahren wurden in der Ehe konzipiert, zumeist in den ersten Monaten nach der Eheschließung.157

419

andreas weigl 3.5 Geburtenrückgang und »mentale« Modernisierung Unabhängig von den Verhaltensänderungen im Kontext positionsspezifischer Provokationen auf der Ebene ökonomischen Kalküls sind Änderungen des generativen Verhaltens im Kontext kommunikationsabhängiger Diffusion seit den späten 1960er-Jahren für den Fertilitätsrückgang immer wichtiger geworden.158 Psychologische Variablen wie persönliche Motive und innerfamiliäre Faktoren rückten mit der in den postmodernen Wohlstandsgesellschaften verbreiteten Personalisierung in den Vordergrund, während ökonomische Einflüsse – zumindest was die prinzipielle Einstellung für oder gegen Kinder anlangt – zusehends in den Hintergrund traten. Als wichtigste Beweggründe für einen Kinderwunsch wurden etwa 1980 von Wienerinnen der Wunsch nach einer vollständigen Familie und die Liebe zum Partner bzw. zu Kindern genannt.159 Wie Befragungen aus den Jahren 1975, 1980 und 1995/96 übereinstimmend bestätigen, veränderte sich das Idealbild der Zweikinderfamilie, wie sie schon in der Zwischenkriegszeit von den Sozialdemokraten idealisiert wurde, kaum.160 Mehr als die Hälfte der im Rahmen eines »Fertility-Surveys« in den Jahren 1995/96 befragten Wienerinnen führten Zwei-Kind-Familien als Idealbild an.161 Auch der Anteil von Frauen, die sich Kinderlosigkeit wünschten, hat sich seit den 1970er-Jahren wenig verändert. 1975 hielten nur rund sieben Prozent den Status der Kinderlosigkeit für ideal.162 Als Motive für Kinderlosigkeit wurde 1980 von fast zwei Dritteln der befragten Frauen vor allem der Wunsch nach Berufstätigkeit und von etwa der Hälfte das Sich-eingeschränkt-Fühlen durch Kinder genannt.163 Im Zuge des Deinstitutionalisierungs- und Individualisierungsprozesses der 1970er, 1980er- und 1990er-Jahre kam es zu einer bemerkenswerten Annäherung der beabsichtigten Kinderzahl unter allen gesellschaftlichen Schichten. Mitte der 1990er-Jahre differierte der Kinderwunsch bei Männern mit Ausnahme der jüngsten Kohorte zwischen 1,56 und 1,75, bei Frauen zwischen 1,70 und 1,98. Nach dem Bildungsabschluss war der Kinderwunsch und Kohorte nur noch bei Frauen mit Pflichtschulausbildung mit 1,86 etwas höher als bei den anderen Bildungsgruppen mit Werten um rund 1,8. Bei Männern bewegte er sich ebenfalls um 1,8. Generell lag der Kinderwunsch bei allen Bildungsstufen in Wien relativ deutlich unter dem österreichischen Durchschnitt, was als Großstadteffekt bewertet werden kann.164 Biografische Opportunitätskosten dürften dabei eine erhebliche Rolle gespielt haben. Im Jahr 1980 wünschten sich im Zuge einer Befragung berufstätige Frauen, die mit ihrem Beruf zufrieden waren, häufig kein oder nur ein Kind.165 Die Bedeutung der Familienplanung im Zeitalter der »Pille« und des »Wunschkindes« sollte allerdings nicht überbewertet werden. Generell überwog in einschlägigen Untersuchungen der Eindruck vielfach »ungeplanter«, jedoch nachträglich akzeptierter erster Schwangerschaften. Sie dürften etwa drei Viertel aller Schwan420

demografischer wandel in wien gerschaften ausmachen.166 Nach dem Familien- und Fertilitätssurvey 1996 war die Verbreitung von Methoden der Empfängnisverhütung mit 46 Prozent bei den befragten Frauen und 41 Prozent bei den Männern nicht allzu hoch. Dieser Prozentsatz stieg allerdings bei jüngeren Frauen auf bis zu 68 Prozent. Als entscheidender Faktor der kontrazeptiven Praxis erwies sich auch im großstädtischen Milieu die Schulbildung des Partners, nicht jedoch Beruf, Alter oder Ehedauer. Hingegen sorgte auch ein bereits realisierter Kinderwunsch im Lebenslauf für die zunehmende Anwendung kontrazeptiver Methoden. Nach dem Fertilitätssurvey gaben immerhin 54 Prozent der Männer und fünfzig Prozent der Frauen, die mit einem Partner zusammenleben, an, in den letzten vier Wochen keine Verhütungsmethoden angewendet zu haben.167 Daraus lässt sich auf eine erhebliche Abtreibungsrate schließen. Nach einer Befragung aus den 1970er-Jahren wurde etwa ein Drittel der Schwangerschaften durch Abtreibung abgebrochen.168 Mitte der 1990er-Jahre gaben nach einer Befragung 13 Prozent der Wienerinnen und fast zwanzig Prozent der Vierzig- bis unter Fünfzigjährigen an, dass sie bereits einen Schwangerschaftsabbruch durchführen hatten lassen.169 Wenn bei der Interpretation dieser Zahlen auch von einer massiven Untererfassung auszugehen ist, so geben sie doch einen gewissen Einblick in die Verbreitung von Schwangerschaftsabbrüchen in Wien.

4. Mortalität 4.1 Steigende Lebenserwartung und »gender gap« Wie in allen Industrieländern ist auch in Wien die Lebenserwartung der Bevölkerung, einem säkularen Trend folgend, seit 1945 ständig angestiegen. Schon zu Beginn der 1950er-Jahre erreichte sie nach dem alten Gebietsstand bei der männlichen Bevölkerung 62, bei der weiblichen 68 Jahre und lag damit bei den Männern um sechs, bei den Frauen um fast sieben Jahre über dem Wert zu Beginn der 1930er-Jahre.170 Innerhalb der heutigen Grenzen kam es von 1961 bis 2001 zu einem Anstieg von 66,7 auf 74,8 Jahren bei den Männern und von 73,3 auf 80,7 bei den Frauen, wobei vor allem ab Mitte der 1980er-Jahre eine deutliche Beschleunigung des ansteigenden Trends bei beiden Geschlechtern festzustellen war.171 Der deutliche Rückgang der Mortalität betraf alle Altersgruppen. Am spektakulärsten fiel er bei Säuglingen und Kleinkindern aus. Auch wenn man von der h ­ ohen Säuglingssterblichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit absieht, fiel diese im Zeitraum von etwa 1950 bis 2000 auf rund ein Neuntel des Ausgangswertes.172 Bei den übrigen Altersgruppen waren die Rückgänge zwar geringer, doch ebenfalls sehr erheblich. Selbst unter den hochbetagten (achtzigjährigen und älteren) Personen fiel 421

andreas weigl die altersspezifische Sterberate bei den Männern fast um die Hälfte, bei den Frauen etwa um ein Drittel.173

Tab. 4: Altersspezifische Sterberaten 1951–1991174 0– unter 15 Jahr

15– unter 45

45– unter 60

60– unter 70

70– unter 80

80 u. älter

männ- weib- männ- weib- männ- weib- männ- weib- männ- weib- männ- weiblich lich lich lich lich lich lich lich lich lich lich lich

1951

3,5

2,9

2,4

2,0

13,2

7,1

40,0

21,4

82,5

63,8

258,2

176,5

1961

3,7

2,6

1,8

1,0

11,8

5,7

35,9

17,6

80,9

53,1

178,2

148,1

1971

2,6

1,7

2,0

1,1

10,8

5,5

36,9

18,0

86,8

52,9

193,8

160,8

1981

1,4

1,0

1,8

1,1

11,2

5,4

30,9

15,6

75,2

44,3

178,0

142,4

1991

1,0

0,9

1,8

0,8

 8,7

4,2

27,1

13,1

58,5

35,4

154,7

121,5

2001

0,7

0,5

1,4

0,6

 7,6

4,1

17,9

 9,1

44,9

27,6

138,7

118,0

1951/2001

–81

–84

–44

–69

–43

–43

–55

–57

–46

–57

–46

–33

Abgesehen von den 1950er-Jahren, in denen die Lebenserwartung von vergleichsweise niedrigem Niveau stark stieg, waren es für die hohen Altersjahrgänge vor allem die letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die eine erhebliche Steigerung der Lebenserwartung brachten. So betrug noch zu Beginn der 1980er-Jahre die weitere Lebenserwartung von achtzigjährigen Wienern rund 5,4, von Wienerinnen 6,7 Jahre. Zwei Jahrzehnte später waren diese Werte jedoch auf 7,1 und 8,4 gestiegen.175 Die männliche Übersterblichkeit, der sogenannte »gender gap«, hat sich bis in die frühen 1990er-Jahre ständig zuungunsten der männlichen Bevölkerung verbreitert und erst gegen Ende des Jahrhunderts auf rund sechs Jahre wieder etwas verkleinert.176 Wie neuere, auf Gesamtösterreich Bezug nehmende Studien belegen, die wohl auch für Wien zutreffend sind, waren die Gründe für die Auseinanderentwicklung der Lebenserwartungen beider Geschlechter komplex. Zum kleineren Teil spielten biologische Vorteile von Frauen eine Rolle, zum überwiegenden Teil war der »gender gap« jedoch auf verhaltensbezogene Einflussgrößen zurückzuführen. Zu diesen Einflussgrößen zählte männliches Risikoverhalten in jüngeren Jahren, wie es sich in der Todesursachenstatistik vor allem in überdurchschnittlich hohen (Verkehrs-)Unfallzahlen spiegelte, und ein deutlich höheres Ausmaß an Suchtmittelmissbrauch.177 Geschlechtsspezifisch stark divergierender Alkoholkonsum ist in Österreich historisch weit zurückverfolgbar. Seit den 1970er-Jahren stabilisierte er sich auf hohem Niveau. Anfang der 1990er-Jahre konsumierten Frauen etwa dreißig Prozent des männlichen Alkoholverbrauchs.178 Beim Nikotinkonsum kam es hingegen zu einer Annäherung des Rauchverhaltens, wenngleich selbst gegen Ende des 422

demografischer wandel in wien 20. Jahrhunderts der Anteil der Raucher unter den Männern mit rund dreißig Prozent recht deutlich über jenen der Frauen mit rund zwanzig Prozent lag.179 Um die Jahrtausendwende dürfte der geschlechtsspezifisch unterschiedliche Suchtmittelkonsum in Summe für etwa ein Jahr des »gender gaps« verantwortlich sein.180 Die zuletzt festzustellende leichte Verringerung des »gender gaps« war zumindest teilweise auf ein größeres Gesundheitsbewusstsein überdurchschnittlich qualifizierter Männer zurückzuführen. Die Tatsache, dass die Lebenserwartung selbst dieser privilegierten Gruppe gegen Ende des 20. Jahrhunderts gerade einmal jene der geringstqualifizierten Frauen leicht überstieg, deutet jedoch auch auf nach wie vor bestehende geschlechtsbezogene »Stressfaktoren« selbst im hochqualifizierten Bereich hin, denen Männer aufgrund ihrer Dominanz in diesem Segment des Arbeitsmarktes weit stärker ausgesetzt waren.181

4.2 Nach dem »epidemiologischen Übergang« An sich war der »epidemiologische Übergang«, der in seiner letzten Phase durch eine systematische Zurückdrängung der Infektionskrankheiten und die überragende Bedeutung degenerativer Erkrankungen gekennzeichnet ist182, bereits in der Zwischenkriegszeit in Wien abgeschlossen. Gegen Kriegsende und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren kam es jedoch kurzfristig zu einem Anstieg des Anteils der Todesfälle an Infektionskrankheiten auf mehr als zehn Prozent. 1947 lag er bei 10,6 Prozent, wobei mehr als drei Viertel dieser Todesfälle auf die (Lungen-) Tuberkulose zurückzuführen waren. Die Ausnahmesituation der Nachkriegsjahre unterbrach allerdings nur einen langfristigen Trend. Schon zu Beginn der 1950erJahre sank der Anteil der Infektionskrankheiten an allen Sterbefällen auf rund sechs Prozent und nahm weiter kontinuierlich ab, um dann ins Marginale zu fallen. Um die Jahrtausendwende betrug ihr Anteil nur mehr rund 0,4–0,5 Prozent.183 Das Vordringen degenerativer Alterserkrankungen zeigte sich im Anstieg des Anteils der Herz- und Kreislauferkrankungen an allen Todesfällen. Er lag zu Beginn der 1950er-Jahre bei 47 Prozent, in den späten 1990er-Jahren jedoch um 55 Prozent. Hingegen hat sich langfristig der Anteil der Krebssterbefälle mit etwas mehr als zwanzig Prozent wenig verändert. Die Bedeutung aller anderen quantitativ bedeutsamen Todesursachengruppen hat abgenommen. Dies galt auch für Unfälle und Vergiftungen.184 Die wesentlichen Einflussfaktoren, die diesen in allen Industrieländern zu beobachtenden Mortalitätsrückgang bestimmten, waren einerseits die grundlegende Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen seit Ende des Zweiten Weltkrieges und die Wirkungen des medizinischen Fortschritts. Große medizinische Erfolge bei 423

andreas weigl der Bekämpfung von Infektionskrankheiten vor allem durch die Entwicklung und Verbreitung von Antibiotika begleitet von einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen – qualitativ verbesserte Ernährungsweisen (Zugang zu kalorienund vitaminreicher Kost), verbesserte Wohnsituation – sorgten insbesondere für verbesserte Überlebenschancen vor allem der jüngeren Altersgruppen. Parallel dazu gelang es, den Kreislauf- und Krebstod mittels moderner medizinischer Methoden hinauszuzögern.

4.3 Ein neuer »urban penalty«  ? Seit etwa der Jahrhundertwende hatten jene Einflussfaktoren, die den »epidemiologischen Übergang« bestimmten, die Sterblichkeitsverhältnisse in den Städten so weit verändert, dass die traditionelle urbane Übersterblichkeit verschwand und die Sterblichkeit unter die ländlicher Regionen fiel. Auch in Wien war die Lebenserwartung bis Mitte der 1930er-Jahre über den österreichischen Durchschnitt angestiegen. Zu Beginn der 1950er-Jahre hatte sich daran noch wenig verändert.185 Sieht man von der Sondersituation der unmittelbaren Nachkriegsjahre einmal ab, die ohnehin die Wiener Bevölkerung überdurchschnittlich Gesundheitsgefährdungen aussetzte, begann sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Waage jedoch wieder zunehmend zuungunsten der großstädtischen Bevölkerung zu neigen. Etwas überspitzt formuliert könnte man von einem Comeback eines allerdings nicht sehr ausgeprägten »urban penalty« sprechen. Immerhin lag gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Lebenserwartung der Wiener Bevölkerung um rund ein Jahr unter dem österreichischen Durchschnitt.186 Schon in der späten Kriegsphase und dann in den Nachkriegsjahren machte sich erneut, wie schon vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, eine deutliche Tbc-Übersterblichkeit in Wien im österreichischen Vergleich bemerkbar. An ­dieser Situa­tion sollte sich bis in die 1980er-Jahre nichts ändern.187 Ebenso war der Rückgang der Säuglingssterblichkeit von einer Verschlechterung der innerösterreichischen Position Wiens seit den 1960er-Jahren geprägt. Hatte Wien in der Zwischenkriegszeit gemeinsam mit Vorarlberg die niedrigste Säuglingssterblichkeitsrate unter allen österreichischen Bundesländern, so büßte die Stadt diese Position in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren völlig ein. Ab der zweiten Hälfte der 1970erJahre war Wien das Bundesland mit der höchsten Säuglingssterblichkeit.188 Bis in die 1990er-Jahre wuchs die Übersterblichkeit Wiener Säuglinge erheblich. Sie hatten nunmehr ein um rund 15 bis 20 Prozent höheres Mortalitätsrisiko als Kinder NichtWiener-Mütter. Verantwortlich dafür waren ausschließlich Sterbefälle von Kindern mit geringem Geburtsgewicht.189 424

demografischer wandel in wien Aber nicht nur bei der Säuglings- und Tbc-Sterblichkeit, die insgesamt eine immer geringere Rolle für die »Überlebensverhältnisse« spielten, sondern auch generell fiel der Anstieg der Lebenserwartung in Wien im innerösterreichischen Vergleich unterdurchschnittlich aus. Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre bestand in Wien im Vergleich zum gesamtösterreichischen Durchschnitt eine ausgeprägte Übersterblichkeit bei der Herz-/Kreislaufmortalität, Blutkrebs bei Männern und Lungenkrebs bei beiden Geschlechtern. Dem stand eine vergleichsweise günstige Situation beim Magenkrebs und bei den Erkrankungen der Atmungsorgane (mit Ausnahme der Neubildungen) gegenüber.190 Noch um 1970 bewegten sich die altersstandardisierten Mortalitätsraten in Wien etwa im Bereich des österreichischen Durchschnitts. Schon zu Beginn der 1980er-Jahre lagen sie jedoch um zwei Prozent darüber. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren verschärfte sich insbesondere die Wiener Übersterblichkeit beim Herzinfarkt und bei allen Krebserkrankungen mit Ausnahme von Prostata- und Gebärmutterkrebs. Sie betrug unter Ausschaltung des unterschiedlichen Altersaufbaus der Bevölkerungen rund zwanzig Prozent.191 Bis zur Jahrtausendwende vergrößerte sich die Wiener Übersterblichkeit auf sechs Prozent. Verantwortlich dafür waren erneut die ausgeprägte Übersterblichkeit der Wiener Bevölkerung im Bereich der Krankheiten des Herz-/Kreislaufsystems und einiger Krebslokalisationen, vor allem beim Lungenkrebs, der um die Jahrtausendwende in Wien um 24 Prozent über der gesamtösterreichischen Sterblichkeit lag. Die weit überdurchschnittliche Lungenkrebssterblichkeit der Wienerinnen lag sogar nahezu fünfzig Prozent über dem österreichischen Durchschnitt.192 Die Gründe für den unterdurchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung in Wien waren komplex. Die deutlich höhere Raucherquote193, die sich in erhöhter Lungenkrebssterblichkeit in der Statistik abbildete, und ein deutlich höheres Maß an Alkoholkonsum194 spielten jedenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ohne Zweifel hatten aber auch andere Faktoren des großstädtischen Lebensstils, Arbeitsmarktes und der Umwelt erheblichen Einfluss.

4.4 Gesundheitspolitik und medizinischer Fortschritt Gerade die epidemiologische Nachkriegsgeschichte kann als die erste Epoche in der Wiener Bevölkerungsgeschichte bezeichnet werden, in der medizinischen Technologien eine erhebliche Bedeutung für den Sterblichkeitsrückgang zukam. Unmittelbar nach Kriegsende brachen in Wien Ruhr-, Paratyphus- und Typhusepidemien aus, die eine erhebliche Zahl an Opfern forderten. Vor allem die Zahl der Ruhr-Sterbefälle war mit fast 3.000 und die der Bauchtyphusfälle mit 700 erheblich.195 Dank massenhafter Typhusimpfungen und – im Fall des Fleckfiebers – des massiven Einsatzes von 425

andreas weigl Desinfektionen mit ddt gelang es allerdings noch im Lauf des Jahres 1945, eine weitere Ausbreitung dieser Epidemien zu verhindern.196 Die Tbc-Sterblichkeit war vor allem 1945 stark angestiegen, fiel jedoch schon 1946/47 sehr rasch.197 Nicht nur Zeitgenossen führten das wohl nicht zu ­Unrecht auf das »vorzeitige Wegsterben« vieler Tbc-Kranker im Hungerjahr 1945 zurück.198 Bei der Tbc-Bekämpfung kamen zunächst traditionelle Methoden der Gesundheitsfürsorge zur Anwendung. Im Herbst 1945 nahmen 16 Tbc-Fürsorgestellen wieder ihren Betrieb auf. Dazu wurden die schon im Krieg intensivierten, aber letztlich kaum effizienten199 Röntgenreihenuntersuchungen zur Früherkennung weiter ausgedehnt.200 Dieser Umstand und die Tatsache, dass sich die Ernährungssituation erst 1948 merklich besserte201, lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass die ­Virulenz der Tbc, wie auch Reihenuntersuchungen bestätigen, schon zuvor gesunken war. Während 1927 noch ein Drittel der sechs- bis siebenjährigen Schulkinder auf Tuberkulintests positiv reagiert hatte, waren es 1946 14,5 Prozent und 1948 13,4 Prozent.202 Erst 1948 begannen nun auch medizinische Innovationen, bei der Tbc-Bekämpfung eine Rolle zu spielen. Massenhafte bcg-Impfungen – Impfungen mit abgeschwächten, apathogenen Mykobakterien – wurden 1948 bei Schulkindern, 1953 bei Säuglingen eingeführt. Allein in diesem Jahr wurden in Wien mehr als 600.000 Säuglingsimpfungen vorgenommen. Schon in den späten 1960er-Jahren erreichte die Durchimpfungsrate bei Säuglingen in Wien 96 Prozent.203 Die Zahl der Neuerkrankungen an aktiver Tuberkulose, die bis 1947 angestiegen war, sank bereits 1950 auf weniger als fünfzig Prozent des Ausgangsniveaus.204 Die Wirkung der bcgImpfung blieb jedoch umstritten. Zwar starb 1970 das letzte Kind in Wien an Tuberkulose  ; der massivste Rückgang aller wichtigen Morbiditäts- und Mortalitätsindikatoren fiel jedoch in die Phase vor Einführung der Massenimpfungen.205 Abseits der Prävention waren es Antibiotika, zunächst das seit 1946 verwendete, mit erheblichen Nebenwirkungen verbundene Streptomycin, und dann seit 1948 verfügbare verbesserte Tuberkulosestatika, die bei Früherkennung die Heilung von Tbc ermöglichten. Ab 1954 konnten rechtzeitig entdeckte Tbc-Erkrankungen praktisch ausnahmslos medikamentös ausgeheilt werden. Bei schweren Erkrankungen blieben jedoch die Erfolge dieser Behandlung gering.206 Ein eindeutiger Zusammenhang lässt sich auch zwischen dem Rückgang der Sterblichkeit der ersten Lebenswochen und den Fortschritten der Frühneonatalmedizin seit den 1970er-Jahren herstellen.207 Die Konzentration entsprechender Forschungs- und Gesundheitsversorgungseinrichtungen in Wien trug möglicherweise dazu bei, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Übersterblichkeit Wiener Säuglinge der ersten Lebenswochen wieder verschwand.208 Aufgrund der geringen Fallzahl von Säuglingssterbefällen relativieren sich allerdings zunehmend Aussagen 426

demografischer wandel in wien zu Mortalitätsdifferenzialen bei der Säuglingssterblichkeit, und der Einfluss von Zufallsschwankungen wird zunehmend erheblicher. Im Gegensatz zum Rückgang der Säuglingssterblichkeit und der Infektionskrankheiten war der Einfluss des medizinischen Fortschritts auf die Entwicklung der Mortalität der degenerativen Erkrankungen, und da vor allem der Herz-/Kreislaufkrankheiten, zwar offensichtlich gegeben  ; er lässt sich jedoch aufgrund der komplexen Wirkungen anderer intervenierender Faktoren kaum isolieren. Die seit Jahrzehnten bestehende ausgeprägte Wiener Übersterblichkeit bei den ischämischen Herzkrankheiten und akuten Myokardinfarkten verweist allerdings darauf, dass trotz rückläufiger Sterblichkeit die Konzentration medizinischer, auch präventionsmedizinischer Einrichtungen auf Wiener Boden bei dieser Todesursachengruppe keinen messbaren Vorteil für die Wiener Bevölkerung erbrachte.209

4.5 Ernährung und Hygiene Für den raschen Rückgang der Sterblichkeit im Nachkriegs-Wien bildeten die internationalen Nahrungsmittelhilfen einen weiteren positiven, wenngleich schwer zu gewichtenden210 Faktor. Geht man von den über Lebensmittelkarten ausgegebenen Kalorienmengen aus, so muss ein Großteil der Wiener Bevölkerung seit Kriegsende unter schwerer Unterernährung gelitten haben. Der Kalorienwert der ausgegebenen Lebensmittel im sowjetisch besetzten Wien bewegte sich im Frühling und Sommer 1945 um rund 1.450 kcal für Arbeiter, 1.100 kcal für Angestellte und weniger als 1.000 kcal für Kinder. Vor dem Krieg war der Kalorienverbrauch pro erwachsener Person zwischen 3.000 und 3.200 kcal gelegen und hatte selbst bei Arbeitslosen etwa 2.500 kcal betragen. Mit dem Eintreffen der West-Alliierten in Wien Ende August 1945 wurden die ausgegebenen Rationen zwar gesteigert, blieben jedoch deutlich unter den für das Überleben notwendigen Werten. Erst im Lauf des Jahres 1947 trat durch us-Hilfe eine entscheidende Besserung ein. Aber selbst am Ende dieses Jahres waren die Durchschnittswerte der Zwischenkriegszeit bei Weitem nicht erreicht.211 Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass sich die Bevölkerung über die gesamte Nachkriegsperiode über den Schwarzmarkt zusätzlich versorgte. Mithilfe dieser zusätzlichen Nahrung scheint 1948 in etwa die ja nicht allzu günstige Ernährungssituation der Vorkriegsperiode wiederhergestellt worden zu sein. Die systematische Verbesserung der Ernährungssituation der Wiener Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht u. a. aus Ergebnissen schulmedizinischer Reihenuntersuchungen hervor. Im Vergleich zu den Nachkriegsjahren hat die Körpergröße Wiener Schulkinder bis Mitte der 1990er-Jahre in allen Altersklassen deutlich zugenommen. Die Zuwächse betrugen zwischen 3,5 Prozent in der 427

andreas weigl ersten Schulstufe bis zu 13,5 Prozent bei männlichen Jugendlichen in der achten Schulstufe. Bei älteren Mädchen waren die Zunahmen geringer. Noch bedeutender fielen die Zunahmen beim Körpergewicht aus. Bei Kindern der vierten und achten Schulstufe erreichten sie in den betrachteten fünf Jahrzehnten zwischen zwanzig und dreißig Prozent.212 Da anthropometrische Maße den Ernährungszustand eines Menschen spiegeln – insbesondere in der hier interessierenden Wachstumsperiode in den ersten Lebensjahren –, ist also von einer deutlichen Verbesserung dieses Ernährungszustandes von Schulkindern seit 1945 auszugehen. Der Ernährungszustand wird allerdings nicht nur von der Regelmäßigkeit, Quantität und Qualität der Ernährung, sondern auch von schweren Erkrankungen beeinflusst.213 Insofern spiegelt der Anstieg der Körpergröße und des Gewichts auch den verbesserten allgemeinen Gesundheitszustand der Schülerinnen und Schüler wider. Die Beseitigung des Mangels wich allerdings der zunehmenden Verbreitung von Adipositas bei Kindern und Erwachsenen. Im Jahr 1991 konnten bereits 8,7 Prozent der Wiener und 9,1 Prozent der Wienerinnen als schwer übergewichtig gelten, 1999 8,2 bzw. 8,7 Prozent. Überdurchschnittlich waren diese Werte allerdings im Bundesländervergleich nicht. Die Diabetessterblichkeit lag daher in Wien in den letzten Jahrzehnten unter dem österreichischen Durchschnitt.214 Der Einfluss hygienischer Bedingungen wurde in den späten 1990er-Jahren bei der Tbc-Verbreitung und -Sterblichkeit deutlich. Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte sich die Tbc-Sterblichkeit in Wien bei altersstandardisierter Betrachtung unter dem österreichischen Durchschnitt bewegt.215 Bis zur Jahrtausendwende verschlechterte sich jedoch die Wiener Situation im innerösterreichischen Vergleich. Nun lag die Sterberate wieder deutlich über dem österreichischen Durchschnitt.216 Ein Zusammenhang mit der gestiegenen Zuwanderung war offensichtlich. Der Anteil der Ausländer an den Neuerkrankungen schwankte zwar stark, zeigte allerdings insgesamt eine steigende Tendenz. Seit Mitte der 1980er-Jahre lag er zwischen 15 und vierzig Prozent, also deutlich über dem Bevölkerungsanteil.217 Dieser hohe Anteil steht zweifelsohne in Zusammenhang mit Infektionen in der Familie infolge ungünstiger Wohnbedingungen.218

5. Sozialr äumliche Entwicklung 5.1 Randwanderung und Gentrifizierung Durch Kriegseinwirkungen waren im Mai 1945 rund 87.000 Wohnungen oder 13 Prozent des verfügbaren Wohnraumes zerstört oder unbenützbar geworden. Nachdem zunächst Tiefbauarbeiten im Vordergrund standen, wurden bald mehr und 428

demografischer wandel in wien mehr Budgets in den Hochbau verlagert. Schon um 1952 waren die leichten Schäden zur Gänze und achtzig Prozent der schweren Schäden beseitigt.219 Parallel dazu lief der kommunale Wohnungsneubau rasch wieder an und übertraf die Wiederaufbauaktivitäten bald um ein Mehrfaches. Etwa Mitte der 1950er-Jahre erreichte der Bau von Gemeindewohnungen bereits die Dimensionen der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre.220 Da die Gebietsänderung von 1954 kleinere Teile der nationalsozialistischen Stadterweiterung von 1938 nicht zurücknahm, bestand zunächst genug innerstädtischer Raum, der den öffentlichen Wohnbauprogrammen zur Disposition offen stand. Die schon in der Zwischenkriegszeit begonnene »Entleerung« des gründerzeitlichen Altbaubestandes ging daher kontinuierlich weiter.221 Im Jahr 1991 lebte nur noch etwas mehr als ein Drittel der Wohnbevölkerung in in der Monarchie errichteten Gebäuden.222 Durch den Zuzug ausländischer Migranten erfuhr dieser Prozess allerdings seit den 1980er-Jahren eine erhebliche Veränderung, weil die »Entleerung« nunmehr von einer gegenläufigen »Auffüllung« begleitet wurde. Beispielsweise im Zeitraum 1984 bis 1993 verlor das dichtverbaute Stadtgebiet zwar etwa 75.000 inländische Bewohner, gewann allerdings 145.000 Ausländer dazu.223 Im Jahr 1995 war jeder dritte Bewohner gründerzeitlicher Problemgebiete Ausländer.224 Die Abwanderung der inländischen Bevölkerung aus dem dichtverbauten Gebiet nahm zunächst die Form einer Randwanderung an. Den Auftakt machten die 1950erJahre. In diesem Jahrzehnt waren es insbesondere die Bezirke Favoriten, Simmering, Meidling, Hietzing und Döbling, die aus der innerstädtischen Wanderung die absolut und relativ größten Zuzüge zu verzeichnen hatten. In Summe wanderten im Zeitraum 1951 bis 1961 rund 54.000 Einwohner von den dichtbebauten Innenbezirken 1 bis 9 und den Bezirken 15 bis 18 in die Randbezirke ab. Die Zentrum-Peripherie-Wanderung war dabei mit der Wohnbautätigkeit hoch korreliert. Wie sich aus der Altersstruktur der Bezirkspopulationen schließen lässt, waren es vor allem junge Ehepaare und Familien, die in die Stadtperipherie umsiedelten.225 Internationalen Beispielen folgend fand der Take-off der Randwanderung jedoch erst in den 1960erJahren statt, in denen sich die Randwanderung fast verdreifachte.226 Dieses Jahrzehnt kann als jenes gelten, in dem der dichtbebaute Stadtkern am stärksten Einwohner verlor. Nun wurden die südlichen und nordöstlichen Randbezirke die wichtigsten Zielgebiete für innerstädtische Zuwanderer.227 Zu Beginn der 1970er-Jahre wohnte bereits fast ein Drittel der Wiener Wohnbevölkerung in den Randbezirken.228 Die Bezirke 12, 13 und 20 verzeichneten freilich nur mehr eine ausgeglichene innerstädtische Wanderungsbilanz. In diesen Bezirken hielten sich nunmehr innerstädtische Zu- und Abwanderung in etwa die Waage, weil die Abwanderung in benachbarte Randbezirke zunahm.229 Nach einem Übergangsjahrzehnt verlor in den 1980er-Jahren die Randwanderung deutlich an Dynamik. Die Gewinne der Stadtrandbezirke und die Verluste des 429

andreas weigl Stadtkerns fielen niedriger aus. Die Mobilitätsverflechtungen der typischen Zuzugsbezirke verstärkten sich. Liesing, Meidling und Favoriten bildeten Mitte der 1980erJahre ein südliches Subsystem, im Osten die Bezirke 2, 20, 21 und 22, ebenso die westlichen Randbezirke.230 Auch Mitte der 1990er-Jahre waren Zuzugsbezirke wie Simmering und Donaustadt nach wie vor stark mit ihren Nachbarbezirken 10 und 21 verflochten.231 Die der Randwanderung und Suburbanisierung gegenläufige »Auffüllung« der dichtverbauten Kernzone erhielt nicht nur durch den Zuzug von Gastarbeiterfamilien in Substandardwohnungen einen erheblichen Schub. Mit der »Altstadterneuerung« wurden seit den 1980er-Jahren mehr und mehr innerstädtische Viertel aufgewertet und erlebten den Zuzug zuerst von »Pionierwanderern« (Studenten, Yuppies), dann von neuen urbanen Ober- und Mittelschichten. Diese Entwicklung verlief allerdings in Wellen. In den späten 1970er-Jahren nahmen die innenstadtgerichteten Wanderungen zu und übertrafen Anfang der 1980er-Jahre die Wanderungen vom dichtbebauten Gebiet an den Stadtrand. Ab Mitte der 1980er-Jahre kehrte sich die Richtung der innerstädtischen Wanderungsströme wieder um, da die Verknappung des Wohnungsangebots im Altbaubestand und die verstärkten Familiengründungen der Baby-Boom-Kohorten einen Shift in Richtung Stadtrandzonen bewirkten.232 Sozialer Wohnbau auch im dichtverbauten Gebiet und die Teilnutzung der aufgewerteten Viertel für Büros verhinderten auch in der Folge eine ausgeprägte Gentrifizierung.233

5.2 Lokale Identitäten Die innerstädtische Migration wurde in Wien durch ein hohes Maß an lokaler Identität geprägt. Wohnungswechsel außerhalb der näheren Wohnumgebung waren in Wien selten. Nach einer Stichprobenuntersuchung auf der Grundlage von Daten aus den Jahren 1967 bis 1970 wechselten 35 Prozent der Migranten in Wien innerhalb des eigenen Bezirks den Wohnort. In 18 Bezirken übertraf die Zahl der innerhalb des Bezirks den Wohnort Wechselnden die der Zuwanderer aus allen anderen Bezirken.234 An diesem Muster änderte sich auch in der Folge wenig. Mitte der 1990erJahre wies vor allem der stark wachsende 22. Bezirk eine besonders ausgeprägte Mobilität innerhalb der Bezirksgrenzen auf. Etwas abgeschwächt hatte sich der Anteil der Migranten im Bezirk an allen innerstädtischen Migranten in den übrigen Stadtrandbezirken. Mit rund vierzig Prozent blieb er jedoch weiterhin ungewöhnlich hoch.235 Mit dem Aufrücken der Kindergeneration der Zuwanderer aus den 1950erJahren in das Hauptmobilitätsalter erhöhte sich allerdings doch die Mobilität über Bezirksgrenzen.236 Diese Generation verließ häufiger ihre Heimatbezirke. So hatte 430

demografischer wandel in wien in den späten 1990er-Jahren etwa der 10. Bezirk, ein typischer Zuwanderungsbezirk der 1950er- und 1960er-Jahre, eine negative innerstädtische Wanderungsbilanz.237 Wenn Bezirksgrenzen überschritten wurden, dann verliefen die Migrationen in zusammenhängenden, voneinander weitgehend isolierten, peripher gerichteten Wanderungssektoren, von denen eine Studie aus den frühen 1980er-Jahren acht identifizieren konnte. Wanderungssubsysteme bildeten einerseits die westlichen Bezirke gemeinsam mit Liesing, die westlichen Außenbezirke, die westlichen Innen- und ihre angrenzenden Außenbezirke, die südöstlichen Innenbezirke und die City, die Landstraße mit den südlichen Außenbezirken, die Leopoldstadt und die Brigittenau mit dem Nordosten sowie Wieden und Mariahilf mit den angrenzenden Außenbezirken Favoriten und Meidling.238 Die Mobilitätssysteme der inländischen und der ausländischen Bevölkerung wiesen in den peripheren Bezirken starke Ähnlichkeiten – z. B. hohe »Bezirkstreue« beim Wohnungswechsel – auf. Gravierende Unterschiede bestanden jedoch in den inneren Bezirken. In diesen Bezirken, in denen die ausländische Bevölkerung in besonders hohem Maß auf gründerzeitliche Substandardwohnungen verwiesen war, löste sich die innerstädtische Migration der Gastarbeiter weitgehend von den Bezirksgrenzen und fluktuierte um vieles stärker als die inländische Bevölkerung.239 Daher unterschieden sich die Mobilitätsraten signifikant. Beispielsweise im Jahr 1997 betrug die innerstädtische Migrationsrate unter Ausländern 129 auf 1.000 der Bevölkerung mit Hauptwohnsitz, die der inländischen Bevölkerung lediglich 63. Im Jahr 1990 lagen die entsprechenden Raten bei 123 und sechzig.240 Neben einer gewissen »Grätzeltreue« beruhten die niedrigen Mobilitätsraten der Inländer – komplementär die hohen Mobilitätsraten der Gastarbeiter – ohne Zweifel auf der wienspezifischen Form der »pseudo owner-occupied property« auf der Basis des Mieterschutzgesetzes von 1922. Zu Beginn der 1980er-Jahre fielen noch immer circa fünfzig Prozent der Wohnungen in diese Kategorie.241 Veränderungen im Mietrecht242 sorgten zwar in der Folge für einen allmählichen Anteilsrückgang, doch haben Mietpreisbildungen außerhalb des freien Marktes – man denke etwa auch an die mehr als 200.000 Gemeindewohnungen243 – den Wiener Wohnungsmarkt insgesamt nachhaltig geprägt.

5.3 Segregation Einschlägige Studien haben bestätigt, dass die sozialräumliche Differenzierung in Wien gemäß den Annahmen der Sozialökologie eine soziale (Einkommen, Stellung im Beruf, Bildung), demografische (Altersaufbau, Familienstrukturen) und ethnische Dimension besitzt. Spielte der demografische Segregationsprozess in den 1960er431

andreas weigl und 1970er-Jahren noch eine wichtige Rolle244, so gewann die ethnische Dimension zusehends an Bedeutung. Sie war durch massive Sukzessionseffekte – durch Suburbanisierung frei gewordene städtische Räume mit geringem Sozialprestige und Wohnstandard wurden durch Ausländer »aufgefüllt« – geprägt.245 Teilt man die städtische Bevölkerung nach dem groben Raster der Bezirkspopulationen, kann Wien unter den Großstädten in den Industriestaaten zu jenen Metropolen gerechnet werden, die ein vergleichsweise schwach ausgeprägtes Segregationsmuster aufweisen.246 Eindeutig identifizierbare Zuwandererbezirke oder -viertel bildeten sich im Lauf der Migrationsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur bedingt.247 Im Zeitraum von etwa 1950 bis 1970 wiesen die Segregationsindizes248 sowohl der im Ausland geborenen Bevölkerung als auch der Bevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft auf ein ausgesprochen niedriges Segregationsniveau hin. Mit den Arbeitsmigrationsschüben zu Beginn der 1970er- und 1990erJahre kam es allerdings zu einer Zunahme der Segregation, die jedoch zu keineswegs besonders hohen Werten führte.249 Von Mitte der 1980er bis Ende der 1990er-Jahre hat sich der Segregationsindex der Gastarbeiter auf Bezirksebene sogar nicht weiter erhöht. 1986 erreichte er mit rund 26 annähernd den gleichen Wert wie 1997.250 Eine Erklärung findet die relativ geringe Segregation auf Bezirksebene in der starken Durchmischung des Stadtgebietes mit gründerzeitlichem und kommunalem Wohnbau von ganz unterschiedlichem Standard. Bei kleinräumiger Betrachtung ergibt sich aber seit den 1970er-Jahren ein Bild zunehmender segregativer Effekte bei den Gastarbeiterpopulationen. Ein Vergleich der Segregationsindizes der Jahre 1972 und 1990 belegt etwa eine Verdreifachung der Segregation. Auf der Ebene der Häuserblöcke waren im Jahr 1990 54 Prozent der maximalen Segregation erreicht.251 Zu Beginn der 1980er-Jahre waren es noch um 45 Prozent gewesen.252 Aus den »ethnischen Kernen« der 1970er-Jahre waren »ethnische Zonen« geworden.253 Damit war allerdings ein gewisser Segregationsplafond erreicht. Zu einer weiteren Zunahme der Segregation kam es in den 1990erJahren nicht mehr. Im Gegenteil  : eine leichte Abschwächung war festzustellen.254 Zu den ringförmig im Stadtraum verteilten Wohngebieten jugoslawischer, türkischer und mit erheblichen quantitativen und zeitlichen Einschränkungen auch osteuropäischer und Arbeitsmigranten aus islamischen Ländern255 zählten in Wien vor allem drei Teilräume  : –– das dichtbebaute Stadtgebiet dies- und jenseits des »Gürtels«, –– die am Wiental bzw. am Donaukanal gelegenen Teile des 5., 2., 20. und 3. Bezirks und –– von abnehmender Bedeutung auch Stadtrandgebiete in der Nähe von (ehemaligen) Industriekomplexen.256 432

demografischer wandel in wien Es bestehen unübersehbare historische Bezüge, was die Zuweisung von Zuwanderern in Stadtteile mit geringerem Sozialprestige betrifft. Ein Beispiel dafür sind die wichtigsten Wohnviertel der türkischen Migranten in Wien in den 1980er- und 1990er-Jahren. Diese konzentrierten sich auf jene Arbeiterviertel des 10., 15., 16. und 20. Bezirks, die schon für die tschechische Arbeitsmigration fast ein Jahrhundert zuvor Wohnzentren dargestellt hatten. Diese Wohngebiete waren in den 1980erund 1990er-Jahren durch einen hohen Arbeiteranteil, überproportional viele Substandardwohnungen und hohe ökologische Belastungen gekennzeichnet.257 Die ethnische Segregation der Gastarbeiter wurde durch legistische und strukturelle Rahmenbedingungen des Wiener Wohnungsmarktes erheblich befördert.258 Die durch legistische Regelungen erzwungene Beschränkung der Wohnungsnachfrage ausländischer Grundschichten auf das zunehmend von Inländern aufgegebene Substandardmilieu im gründerzeitlichen Arbeitermiethausbestand spielte dabei die zentrale Rolle. Die Abdrängung der Gastarbeiter auf ein kleiner werdendes Segment des Wohnungsmarktes hat vor allem in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren an Ausschließlichkeit gewonnen. Nicht von ungefähr hatten zu Beginn der 1980erJahre der Segregationsindex der Gastarbeiter und der der Substandardwohnungen auf Zählbezirksebene einen sehr ähnlichen Wert.259 In den 1990er-Jahren erreichte die Konzentration von Gastarbeiterfamilien im alten Wiener Baubestand mit 85 Prozent bei den jugoslawischen Wohnungsvorständen und 88 Prozent bei den türkischen ein kaum mehr zu überbietendes Ausmaß.260 Mit dieser scheinbar horizontal ethnischen Dimension der Segregation war jedoch die vertikal soziale untrennbar verbunden. »Wird die ethnische Segregation der Grundschichten als Effekt der Unterschichtung … der Dimension des sozialen Status zugerechnet, so erhöht sich die Bedeutung der vertikalen Schichtungsdimension von 38,3 Prozent 1971 auf 39,8 Prozent 1981 und erklärt 1991 mit 60,9 Prozent mehr als die Hälfte der Variation der sozialräumlichen Milieus.«261 Auch innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund kam es zu einer erheblichen Differenzierung der Wohnmilieus nach Geburtsland und Staatsbürgerschaft. Das Ausmaß der Segregation war bei türkischen Staatsbürgern schon zu Beginn der 1970er-Jahre deutlich höher als jenes bei Jugoslawen.262 In den folgenden Jahrzehnten haben sich diese Unterschiede vertieft. Im Jahr 2001 hatte mit Werten von vierzig bis 45 Prozent des maximalen Segregationsniveaus auf der Ebene der Zählbezirke die in der Türkei geborene Bevölkerung mit türkischer Staatsbürgerschaft die mit Abstand höchste Segregation, gefolgt von in Ex-Jugoslawien geborenen Ausländern. Von den österreichischen Staatsbürgern wiesen jedoch nur jene mit Geburtsland Türkei ein signifikant überdurchschnittliches Segregationsniveau auf.263 433

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A nmerkungen  1 Elisabeth Lichtenberger, Österreich. Darmstadt 22002, S. 60 f.  2 H.M. Jolles, Wien – Stadt ohne Nachwuchs. Sozialwissenschaftliche Betrachtungen über den Geburtenrückgang in der alten Donaustadt. Assen 1957  ; Andreas Weigl, »Unbegrenzte Großstadt« oder »Stadt ohne Nachwuchs«  ? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert. In  : Franz X. Eder [u. a.], Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum (Querschnitte 12), Innsbruck [u. a.] 2003, S. 141–200, hier 141 f.  3 Gustav Krall, Die gesellschaftsbiologische Struktur der Stadt Wien nach dem zweiten Weltkrieg. In  : Ferdinand Lettmayer (Hg.), Wien um die Mitte des XX. Jahrhunderts. Ein Querschnitt durch Landschaft, Geschichte, soziale und technische Einrichtungen, wirtschaftliche und politische Stellung und durch das kulturelle Leben, Wien 1958, S. 419–428, hier 420.  4 Roland Rainer, Planungskonzept Wien (»der aufbau« Monographie 13), Wien 1962, S. 32.  5 Heinz Fassmann, Der Wandel der Bevölkerungsstruktur in der Zweiten Republik. In  : Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 60), Wien 21996, S. 395–408, hier 405–407.  6 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Herwig Wolfram [Hg.], Österreichische Geschichte), Wien 1994, S. 47.  7 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Herwig Wolfram [Hg.], Österreichische Geschichte), Wien 1995, S. 497 f.  8 Vgl. dazu Grafik 1.  9 Statistik Austria (Hg.), Bevölkerungsstand inkl. Revision seit 1.1.2002. Wien 2009, S. 160–163. 10 Heinz Fassmann, Gerhard Hatz, Wien – städtebauliche Entwicklung und planerische Probleme. In  : Heinz Fassmann, Gerhard Hatz, Walter Matznetter (Hg.), Wien – städtebauliche Strukturen und gesellschaftliche Entwicklungen, Wien–Köln–Weimar 2009, S. 13–35, hier 26. 11 Fassmann, Wandel der Bevölkerungsstruktur, S. 406 f. 12 Eigene Berechnungen nach Statistik Austria, Demographische Indikatoren 1961–2008. Wien, Österreich, Wien 2009, S. 6  ; Statistisches Jahrbuch Österreichs 58 (2008), Wien 2007, S. 40  ; Statistisches Jahrbuch Wien 1955, S. 306  ; 1959, S. 26. 13 Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zur Geschichte der NS-Gewaltverbrechen 5), Wien 1999, S. 37. 14 Eigene Berechnungen nach Kurt Klein (Bearb.), Historisches Ortslexikon. Statistische Dokumentation zur Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichte. http  ://www.oeaw.ac.at/vid/research/histortslexikon.shtml  ; Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.), Gemeindeverzeichnis von Österreich. Aufgrund einer besonderen Erhebung aus dem Jahre 1946, Wien 21948, S. 9  ; Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.), Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Juni 1951. Textband, Wien 1953, S. 11. 15 Eigene Berechnungen nach Statistik Austria (Hg.), Volkszählung 2001. Wohnbevölkerung nach Gemeinden (mit der Bevölkerungsentwicklung seit 1869), Wien 2002, S. 32–37. 16 Volker Nitsch, City Growth in Europe (Volkswirtschaftliche Schriften 518). Berlin 2001, S. 153. 17 Statistik Austria, Demographische Indikatoren. Wien  ; Statistisches Jahrbuch Österreichs 2008, Wien 2007, S. 40. 18 Hellmut Ritter, Andreas Weigl, Zeitreihen zu Bevölkerung, Gesundheitswesen und Umwelt in Wien 1945–2001. In  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 2002/2–3, S. 26  ; vgl. dazu auch Tab. 1. 19 Für die Rekonstruktion der Wanderungsbewegungen der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Abschnitt 2. 20 Andreas Weigl, Die Wiener Bevölkerung in der Zweiten Republik. In  : Mitteilungen aus Statistik und

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demografischer wandel in wien Verwaltung der Stadt Wien 1984/2, S. 3–13, hier 13  ; Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.), Statistisches Jahrbuch für die Republik Österreich 45 (1994), S. 15. 21 Vgl. dazu Tab. 1. 22 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2003, S. 21, Österreichisches Statistisches Zentralamt, Statistisches Jahrbuch Österreichs NF 58 (2008), S. 40 f.; Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S. 194. 23 Altersprobleme in Wien. Ergebnisse einer Forumsdiskussion. In  : Institut für Wissenschaft und Kunst (Hg.), Die Großstadt Wien als Lebensstätte der Wiener. Ein Arbeitsbericht, Wien 1957, S. 105–110. 24 Josef Ehmer, Zur Stellung alter Menschen in Haushalt und Familie. Thesen auf der Grundlage von quantitativen Quellen aus europäischen Städten seit dem 17. Jahrhundert. In  : Helmut Konrad (Hg.), Der alte Mensch in der Geschichte (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 11), Wien 1982, S. 62–103, hier 91. 25 Bezogen auf Personen im Alter von 15 bis unter sechzig Jahren. 26 Statistik Austria, Demographische Indikatoren Wien, S. 7. 27 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Verein für Geschichte der Stadt Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Stadtgeschichtsforschung (Hg.), Historischer Atlas von Wien. 10. Lieferung, Wien 2005, Karte 3.1.3/8. 28 Wolfgang Lutz, Alexander Hanika, Vienna, a city beyond aging, in  : Popnet 14 (1988), S. 3. 29 Statistik Austria, Demographische Indikatoren, S. 7. 30 Statistik Austria (Hg.), Volkszählung 2001. Textband – Die demographische, soziale und wirtschaftliche Struktur der österreichischen Bevölkerung, Wien 2007, S. 256 f. 31 Albert Kaufmann, Andreas Balog, Daten zur Bevölkerungs- und Sozialstruktur der österreichischen Großstädte (IS-Forschungsberichte 1974/11, Beilage zu IS-Information 1974/12), S. 39. 32 Ehmer, Stellung, S. 92. 33 Leopold Rosenmayr, Die Schnüre vom Himmel. Forschung und Theorie zum kulturellen Wandel (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte Sonderband 14), Wien–Köln–Weimar 1992, S. 254. 34 Eigene Berechnungen nach Statistik Austria, Volkszählung 2001 Textband, S. 256. 35 Hellmut Ritter, Gerlinde Haydn, Ergebnisse der Volkszählung 2001. In  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 2003/1, S. 5–33, hier 14 f. 36 Michael Sauberer, Die Bevölkerungsentwicklung der Bundeshauptstadt Wien vor einem Wendepunkt  ? In  : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie 33 (1989), S. 114–135, hier 117. 37 Vgl. dazu Tab. 1. 38 Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S. 155 f. 39 Moser, Demographie, S. 49 f., 56. 40 Errechnet aus Heinz Günter Steinberg, Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland im Zweiten Weltkrieg mit einem Überblick über die Entwicklung von 1945 bis 1990. Bonn 1991, S. 242, und den Angaben über die jüdische Bevölkerung 1939 sowie die natürliche Bevölkerungsbewegung 1939–1942. 41 Steinberg, Bevölkerungsentwicklung, S. 65 f. 42 Errechnet aus den Angaben zu der mit Lebensmittelkarten versorgten Bevölkerung und der Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung in Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 7 (1943–1945). Wien 1948, S. 27, 321 f. 43 Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien von 1. April 1945 bis 31. Dezember 1947. Wien 1949, S. 446. 44 Eigene Berechnungen auf der Basis von  : Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien von 1. April 1945 bis 31. Dezember 1947. Wien 1949, S. 446. Die dort angegebene Zahl der Rückwanderer berücksichtigt jedoch nicht die Verluste aus der natürlichen Bevölkerungsbewegung und wurde daher korrigiert. Für die Jahre 1946 und 1947 abweichende Wanderungsbilanzen auf der Basis der polizeilichen Melderegister finden sich in  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 8 (1946–1947), S. 79. Sie dürften die Wanderungsbewegungen etwas untererfassen. Nach Schätzung von Olegnik betrug der Wanderungssaldo in den

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andreas weigl Jahren 1941–1945 etwa –170 000, wobei allerdings 1945 bereits wieder ein positiver Wanderungssaldo von etwa 45 000 Personen zu verzeichnen war. Vgl. dazu Felix Olegnik, Historisch-Statistische Übersichten von Wien. Tl.1 (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1956 Sonderheft 1), S. 95. 45 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 12 (1951), Wien 1952, S. 40. 46 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 8 (1946–1947), S. 79. 47 Anton Tesarek, Im Mittelpunkt der Mensch. In  : Karl Ziak (Red.), Wiedergeburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965, Wien-München 1965, S. 35–46, hier 38. 48 Andreas Weigl, Migration und Integration. Eine widersprüchliche Geschichte (Österreich – Zweite Repub­lik. Befund, Kritik, Perspektive 20), Innsbruck–Wien–Bozen 2009, S. 26 f. 49 Gerhard Baumgartner, Verschwiegene Integration 1945–1961. Zur verdrängten Geschichte der größten Veränderung der Bevölkerungsstruktur im 20. Jahrhundert. In  : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie 53 (2009), S. 266–285, hier 269. 50 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 9 (1948), Wien 1950, S. 32. 51 Thomas Albrich, Fremde. Ende 1945. In  : historicum Heft Sommer 1996, S. 23–28, hier 23. 52 Gabriele Stieber, Volksdeutsche und Displaced Persons. In  : Gernot Heiss, Oliver Rathkolb (Hg.), Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914 (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Institutes für Geschichte und Gesellschaft 25), Wien 1995, S. 140–156, hier 142. 53 Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.), Statistisches Handbuch für die Republik Österreich NF 5. Wien 1954, S. 9. 54 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien–Köln 1990, S. 15. 55 Eigene Berechnungen nach Österreichisches Statistisches Zentralamt (Bearb.), Regionale Mobilität. Wanderungen – Pendeln, Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1988 (Beiträge zur Österreichischen Statistik 1.026), Wien 1991, S. 36. 56 John, Lichtblau, Schmelztiegel, S. 15  ; eigene Berechnungen nach Österreichisches Statistisches Zentralamt, Regionale Mobilität, S. 36  ; Elisabeth Aufhauser, Wohnchancen – Wohnrisken. Räumliche Mobilität und wohnungsbezogene Lebensführung in Wien im gesellschaftlichen Wandel (Abhandlungen zur Geographie und Regionalforschung 4), S. 263. 57 Die Ergebnisse entstammen einer Stichprobenerhebung, die tendenziell die ausländische Bevölkerung untererfasst. 58 Statistisches Amt der Stadt Wien (Hg.), Die Häuser-, Wohnungs- und Volkszählung in Wien vom 1. Juni 1951 (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1953 Sonderheft 3), S. 62  ; Regionale Mobilität, S. 36. 59 Gustav Lebhart, Volkszählung 2001  : Geburtsland und Staatsangehörigkeit. In  : Statistische Nachrichten NF 58 (2003), S. 258–265, hier 261. 60 Eigene Berechnungen nach Österreichisches Statistisches Zentralamt, Arbeitskräfteerhebung 1997. 61 Vgl. dazu Tab. 2. 62 Die Binnenwanderung in Österreich. In  : Statistische Nachrichten 9 (1954), S. 399. 63 Unter der Annahme, dass die Binnenwanderungsstatistik der Volkszählung 1961 die Migrationsbewegungen nur etwa zur Hälfte erfasst hatte. Vgl. dazu Tab. 2. 64 Werner Slupetzky, Bevölkerungsentwicklung im Raum Wien 1951–1961–1971. Wien 1974, S. 31. 65 Andreas Weigl, Von der Stagnation zu neuer Dynamik. Die demographische Entwicklung. In  : Peter Melichar, Ernst Langthaler, Stefan Eminger (Hg.), Wirtschaft (Niederösterreich im 20. Jahrhundert 2), Wien–Köln–Weimar 2008, S. 1–49, hier 39. 66 Aufhauser, Wohnchancen, S. 235–243.

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demografischer wandel in wien 67 Desoye, Die Binnenwanderung in Österreich (1956–1961). In  : Statistische Nachrichten 21 (1966), S. 614  ; Österreichisches Statistisches Zentralamt (Bearb.), Volkszählung 1971, 1981, 1991 – Binnenwanderung 1966–1971, 1976–1981, 1986–1991 (Beiträge zur österreichischen Statistik 309/20, 630/25, 1030/25), Wien 1974, S. 70  ; Wien 1985, S. 47  ; 1996, S. 47, 67. 68 Siehe Tab. 2. 69 Sauberer, Bevölkerungsentwicklung, S. 122. 70 Heinz Fassmann, Die Zuwanderung nach Wien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In  : Beiträge zur historischen Sozialkunde 21 (1991), S. 51–57, hier 53. 71 Österreichisches Institut für Raumplanung, Raumordnung in Österreich. Bericht an Bund, Länder und Interessenvertretungen, Wien 1966, S. 20 f. 72 Aufhauser, Wohnchancen, S. 248–250. 73 Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2001/02. Wien 2003, S. 337. 74 Fassmann, Hatz, Wien, S. 26. 75 Weigl, Stagnation, S. 40. 76 Jürgen Friedrichs, Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 170. 77 Österreichisches Institut für Raumplanung (ÖIR), Die Zuwanderung nach Wien. Eine Untersuchung zur Situation der Bundeshauptstadt in der regionalen Bevölkerungsentwicklung (Veröffentlichungen des Österreichischen Instituts für Raumplanung 34), Wien 1969, S. 19. 78 Elisabeth Aufhauser, Peter Findl, Andreas Wörgötter, Die Bedeutung der Wanderungen für die Entwicklung der Bevölkerung Wiens 1934–1987–2020. Wien 1988, S. 29 f.; Slupetzky, Bevölkerungsentwicklung, S. 32. 79 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Regionale Mobilität, S. 30. 80 Andreas Weigl, Ein misslungener demographischer Zwischenspurt. Zur demographischen Entwicklung des Waldviertels von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. In  : Herbert Knittler (Hg.), Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 47), S. 417–477, hier 454. 81 Aufhauser, Findl, Wörgötter, Bedeutung, S. 28. 82 Zusammenfassend Weigl, Migration, S. 35–38. 83 Ljubomir Bratic, Diskurs und Ideologie des Rassismus im österreichischen Staat. In  : Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen 2003/2, S. 37–48, 39 f. 84 Eduard Stanek, Verfolgt, verjagt, vertrieben. Flüchtlinge in Österreich, Wien–München–Zürich 1985, S. 79–81. 85 Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Jahrbuch der Stadt Wien 1960. Wien 1961, S. II, 27  ; 1965, Wien 1966, S. II, 32. 86 Zur Periodisierung des Ausländerzuzugs nach Wien siehe auch im Folgenden Christoph Hofinger, Harald Waldrauch, Einwanderung und Niederlassung in Wien. Sonderauswertung der Befragung »Leben in Wien«, Wien 1997, S. 44. 87 Ritter, Weigl, Zeitreihen, S. 18 f. auf Basis der polizeilichen Meldungen  ; etwas davon abweichende Zahlen auf Basis der Bevölkerungsstatistik in  : Statistik Austria (Hg.), Statistisches Jahrbuch Österreichs NF 58 (2008), S. 50. 88 Rainer Bauböck, Bernhard Perchinig, Migrations- und Integrationspolitik. In  : Herbert Dachs [u. a.] (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch. Wien 2006, S. 726–743, hier 732 f. 89 Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2006. Wien 2007, S. 337. 90 Rainer Bauböck, »Nach Rasse und Sprache verschieden«. Migrationspolitik in Österreich von der Monarchie bis heute (Institut für Höhere Studien, Wien, Reihe Politikwissenschaft 31), Wien 1996, S. 22. 91 Statistik Austria, ISIS-Datenbank  ; eigene Berechnungen.

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andreas weigl  92 Ritter, Weigl, Zeitreihen, S. 19.  93 Fassmann, Zuwanderung, S. 53 f.  94 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Verein für Geschichte der Stadt Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Stadtgeschichtsforschung, Historischer Atlas von Wien 10 Lfg., Karte 3.1.3/8.  95 Andreas Weigl, Habsburg Reloaded  ? Die Spuren der Habsburgermonarchie in der Migrationsgeschichte der Zweiten Republik. In  : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie 53 (2009), S. 213– 227.  96 Zusammenfassend Brunhilde Scheuringer, Österreich als Aufnahmeland. In  : Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien–Köln–Weimar 2010, S. 492–494.  97 Weigl, Migration, S. 33 f.  98 Ibolya Murber, Ungarnflüchtlinge in Österreich 1956. In  : Ibolya Murber, Zoltán Fónagy (Hg.)  : Die ungarische Revolution und Österreich 1956, Wien 2006, S. 335–385, hier 351.  99 Peter Eppel, Béla Rásky, Werner Michael Schwarz, Menekülés Bécsbe. Flucht nach Wien. Ungarn 1956. Magyarország 1956, Wien 2006, S. 72. 100 Heinz Fassmann, Rainer Münz, Einwanderungsland Österreich  ? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen, Wien 1995, S. 34. 101 Stanek, Verfolgt, S. 200, 204. 102 Bernhard Perchinig, Affäre mit begrenzter Hoffnung. Zuwanderung in Wien. In  : Renate Banik-Schweitzer [u. a.] (Hg.), Wien wirklich. Der Stadtführer, Wien 1992, S. 42. 103 Aufhauser, Wohnchancen, S. 251. 104 Rainer Münz, Peter Zuser, Josef Kytir, Grenzüberschreitende Wanderungen. In  : Heinz Fassmann, Irene Stacher (Hg.), Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht. Demographische Entwicklungen – sozioökonomische Strukturen – rechtliche Rahmenbedingungen, Wien 2003, S. 20–66, hier 28. 105 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2003, S. 25. 106 Ausführlich dazu Weigl, Migration, S. 48–92. 107 Ferenc Cseresnyés, Das internationale Flüchtlingsrecht und seine Anwendung. In  : Murber, Fónagy (Hg.), Revolution, S. 387–409, hier 397. 108 Peter Eppel, Wo viele helfen, ist viel geholfen – Ungarn-Hilfe 1956/57 in Österreich. In  : Murber, Fónagy (Hg.), Revolution, S. 431–462, hier 434. 109 Murber, Ungarnflüchtlinge, S. 350. 110 Ingrid Oswald, Migrationssoziologie (UTB 2901), Konstanz 2007, S. 118. 111 Siegfried Pflegerl, Gastarbeiter zwischen Integration und Abstoßung, Wien–München 1977, S. 110–116. 112 Fassmann, Münz, Einwanderungsland Österreich  ?, S. 69–71. 113 Helga Leitner, Gastarbeiter in der städtischen Gesellschaft. Segregation, Integration und Assimilation von Arbeitsmigranten. Am Beispiel jugoslawischer Gastarbeiter in Wien (Campus Forschung 307), Frankfurt/M. –New York 1983, S. 34, 174 f. 114 Gudrun Biffl, Ausländische Arbeitskräfte auf dem österreichischen Arbeitsmarkt. In  : Wifo-Monatsberichte 75 (2002), S. 537–550, hier 542. 115 T. Achatz [u. a.], Ausländische Arbeitskräfte in Österreich – Sozialwissenschaftlicher Teil. In  : Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Wien 1985 (Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 9), S. 31–227, hier 49. 116 Elisabeth Lichtenberger, Gastarbeiter. Leben in zwei Gesellschaften, Wien–Köln–Graz 1984, S. 98, 110. 117 John, Lichtblau, Schmelztiegel, S. 276. 118 Hofinger, Waldrauch, Einwanderung, S. 78 ff. 119 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch Wien 1996, S. 53.

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demografischer wandel in wien 120 Vgl. dazu Tab. 3. 121 Vgl. dazu Tab. 3. 122 Dabei handelt es sich durchaus um ein allgemeines Charakteristikum dieser Migrantengruppe. Vgl. dazu Ewa Grzegorzewska-Mischka, Die polnische Emigration in den 80er Jahren und ihre demographische Struktur. In  : Heinz Fassmann, Josef Kohlbacher, Ursula Reeger  : Die »Neue Zuwanderung« aus Ostmitteleuropa – eine empirische Analyse am Beispiel der Polen in Österreich (ISR-Forschungsberichte 13), Wien 1995, S. 63–68, hier 66. 123 Hofinger, Waldrauch, Einwanderung, S. 78 ff. 124 Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2000. Wien 2001, S. 98. 125 Die Fruchtbarkeit der Wiener Bevölkerung (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1959 Sonderheft 2), S. 17  ; Statistik Austria, Demographische Indikatoren Wien 1961–2008, S. 5. 126 Statistik Austria, Volkszählung 2001 Textband, S. 35. 127 Andreas Weigl, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 1), Wien 2000, S. 65. 128 Statistik Austria, Demographische Indikatoren Wien, Österreich 1961–2008, S. 5. 129 Andreas Weigl, Perspektiven der Wiener Geburtenentwicklung. In  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 1989/2, S. 19–24, hier 20 f.; Michael Sauberer, Jüngste Tendenzen der regionalen Bevölkerungsentwicklung in Österreich (1971–1984). In  : Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft 127 (1985), S. 81–118. 130 Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000 (Forschungsberichte des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld 8). Frankfurt/M. –New York 1984, S. 164, 176. 131 Rosenmayr, Schnüre, S. 260. 132 Alois Haslinger, Uneheliche Geburten in Österreich. Historische und regionale Muster. In  : Demographische Informationen 1982, S. 2–34, hier 7  ; Ritter, Weigl, Zeitreihen, S. 27. 133 Dokumentiert etwa in einer 1974 und 1977 durchgeführten Befragung. Siehe dazu Josef Kytir, Un­ ehelich, vorehelich, ehelich  : Familiengründung im Wandel. Eine empirische Analyse der Erstgeburten österreichischer Frauen 1950 bis 1990. In  : Demographische Informationen 1992/93, S. 29–40, hier 32, 34. 134 Haslinger, Uneheliche Geburten, S. 16. 135 Helmut Gruber, Red Vienna. Experiment in Working-Class Culture 1919–1934, New York–Oxford 1991, S. 176. 136 Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2000. Wien 2001, S. 100. 137 Kytir, Unehelich, S. 34. 138 Kytir, Unehelich, S. 30. 139 Josef Kytir, Formen der Familiengründung in Wien in den Jahren 1984 bis 1989. In  : Österreichische Zeitschrift für Soziologie 17(1992), S. 49–63, hier 53  ; Alois List, Eheschließung und Geburt des ersten Kindes, in  : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1973/4, S. 9–10, hier 10. 140 Josef Kytir, Rainer Münz, Illegitimität in Österreich. In  : Demographische Informationen 1986, S. 14  ; Hellmut Ritter, Lebens- und Familienformen (Ergebnisse des Familien- und Fertilitätssurveys). In  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 1997/3, S. 3–14, hier 11. 141 Rainer Münz, Jürgen M. Pelikan, Geburt oder Abtreibung. Eine soziologische Analyse von Schwangerschaftskarrieren, Wien 1978, S. 21. 142 Österreichisches Institut für Raumplanung, Kinderzahl und soziale Situation von Wiener Familien. Sekundäranalyse einer Repräsentativerhebung, Wien 1976, S. 53. 143 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, S. 53.

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andreas weigl 144 Kytir, Formen, S. 59. 145 Haslinger, Uneheliche Geburten, S. 6. 146 Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S. 195. 147 Elisabeth Schussmann, Kinderwunsch und Kinderzahl in Wien. In  : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1979/4, S. 3–10, hier 7 f. 148 Kytir, Formen, S. 51–54. 149 Fruchtbarkeit der Wiener Bevölkerung, S. 11 f.; Statistik Austria, Demographische Indikatoren für Wien 1961–2008, S. 8–11. 150 Aufhauser, Findl, Wörgötter, Bedeutung, S. 27. 151 Kytir, Formen, S. 57. 152 Statistik Austria, Demographische Indikatoren für Wien 1961–2008, S. 13–16. 153 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1971, S. 41  ; 2001, S. 55. 154 Unpublizierte Arbeitsunterlagen des Österreichischen Statistischen Zentralamtes (jetzt Statistik Austria). 155 Eigene Berechnungen nach diesen Unterlagen. 156 Österreichisches Statistisches Zentralamt. 157 Kytir, Formen, S. 61 f. 158 Linde, Theorie, S. 176. 159 Claudia Bergmann-Rohracher, Kinderwünsche und Motive Wiener Frauen. Ausgewählte Ergebnisse einer psychologischen Untersuchung. In  : Demographische Informationen 1981/2, S. 59–65, hier 59, 64. 160 Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S. 168. 161 Ritter, Lebens- und Familienformen, S. 14. 162 Münz, Pelikan, Geburt, S. 28. 163 Bergmann-Rohracher, Kinderwünsche, S. 64. 164 Ritter, Lebens- und Familienformen, S. 12 ff. 165 Bergmann-Rohracher, Kinderwünsche, S. 62. 166 Münz, Pelikan, Geburt, S. 44. 167 Gabriele Doblhammer, Wolfgang Lutz, Christiane Pfeiffer, Familien- und Fertilitätssurvey (FFS) 1996. Detailergebnisse Wien (Österreichisches Institut für Familienforschung Materialiensammlung 2a), Wien 1997, S. 22 f. 168 Münz, Pelikan, Geburt, S. 45. 169 Doblhammer, Lutz, Pfeiffer, Familien- und Fertilitätssurvey, S. 23. 170 Statistisches Amt der Stadt Wien, Häuser-, Wohnungs- und Volkszählung, S. 147–149. 171 Statistik Austria, Demographische Indikatoren für Wien 1961–2008, S. 5. 172 Eigene Berechnungen nach Statistik Austria, Demographisches Jahrbuch 2000, S. 162. 173 Vgl. dazu Tabelle 4. 174 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1951, S. 53 f.; 1953, S. 300 ff.; 1961, S. 41 ff.; 1971, S. 54 f.; 1981, S. 48 ff.; 1991, S. 63  ; ÖSTAT, Volkszählung 1961, S. 14 ff.; 1971, S. 70 f.; 1981, S. 48 ff.; 1991, S. 2 ff.; 2002, S. 40 f., 70  ; eigene Berechnungen. 175 Statistik Austria, Demographische Indikatoren für Wien 1961–2008, S. 18–20. 176 Statistik Austria, Demographische Indikatoren für Wien 1961–2008, S. 5. 177 Andreas Weigl, Der »gender gap« revisited  : Eine Modellrechnung im Kontext historischer, sozial- und naturwissenschaftlicher Befunde. In  : Martin Dinges (Hg.), Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 27), Stuttgart 2007, S. 41–52, hier 46. 178 Irmgard Eisenbach-Stangl, Eine Gesellschaftsgeschichte des Alkohols. Produktion, Konsum und soziale Kontrolle alkoholischer Rausch- und Genußmittel in Österreich 1918–1984 (Studien zur Historischen

440

demografischer wandel in wien Sozialwissenschaft 17), Frankfurt/M.–New York 1991, S. 130  ; Roman Sandgruber, Frauensachen und Männerdinge. Eine »sächliche« Geschichte der zwei Geschlechter, Wien 2006, S. 47. 179 Sandgruber, Frauensachen, S. 78 f., 81 f. 180 Weigl, Modellrechnung, S. 44 f. 181 Franz Schwarz, Causes of death contributing to educational mortality disparities in Austria. In  : Wiener klinische Wochenschrift 119 (2007), S. 309–317, hier 309. 182 Reinhard Spree, Der »epidemiologische Übergang« in Deutschland. Konkretisierende und differenzierende Anmerkungen. In  : Demographische Informationen 1988/89, S. 32–38, hier 32. 183 Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S. 176  ; eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1999, 2001, S. 73. 184 Martin Hohenegger, Andreas Weigl, Aspekte der Mortalität und Morbidität der Wiener Bevölkerung, in  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 1988, S. 8–19, hier 9  ; eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1999, 2001, S. 72–77. 185 Andreas Weigl, Demographischer Wandel in europäischen Metropolen. In  : Beiträge zur historischen Sozialkunde 30 (2000), S. 117–122  ; Statistisches Amt der Stadt Wien (Hg.), Wiener Sterbetafeln (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien Jg. 1953 Sonderheft 1), S. 8, 10  ; Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch Österreichs 2008, S. 82. 186 Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S. 181 f., 199. 187 Elisabeth Dietrich-Daum, Die »Wiener Krankheit«. Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich, Wien–München 2007, S. 319, 321. 188 Christian Köck, Josef Kytir, Rainer Münz, Risiko »Säuglingstod«. Plädoyer für eine gesundheitspolitische Reform (Schriften des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 8), Wien 1988, S. 38. 189 Josef Kytir, Christian Köck, Epidemiologische Ursachen der überdurchschnittlichen Säuglingssterblichkeit in Wien. In  : Demographische Informationen 1995/96, S. 82–92, hier 82 f., 90. 190 Regionale Unterschiede in der Sterblichkeit in Österreich 1959–1963 (Beiträge zur Österreichischen Statistik 106). Wien 1965, S. 19 ff. 191 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Österreichischer Todesursachenatlas 1978/84 unter besonderer Berücksichtigung der Krebslokalisationen (Beiträge zur Österreichischen Statistik 933). Wien 1989, S. 30 f. 192 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Österreichischer Todesursachenatlas 1988/94. Wien 1998, S. 33  ; Statistik Austria, Österreichischer Todesursachenatlas 1998/2004, Wien 2007, S. 127. 193 Hans Peter Friedl, Regionale Aspekte des Rauchens. Ergebnisse des Mikrozensus September 1986. In  : Statistische Nachrichten 42 (1987), S. 394–397  ; Österreichisches Statistisches Zentralamt, Österreichischer Todesursachenatlas 1988/94, S. 41. 194 Eisenbach-Stangl, Gesellschaftsgeschichte des Alkohols, S. 150. 195 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 7 (1943–45), Wien 1948, S. 46. 196 Die Verwaltung der Stadt Wien 1945–1947, S. 196–202. 197 Ermar Junker, H. Klima, Die Entwicklung der Tuberkulose in Wien seit dem zweiten Weltkrieg. In  : Der Tuberkulosearzt 16 (1962), S. 158–167, hier 159–161. 198 Dietrich-Daum, Sozialgeschichte, S. 318. 199 Dietrich-Daum, Sozialgeschichte, S. 347–349. 200 Ermar Junker, Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien, Wien 1998, S. 68, 70. 201 Jürgen Hörmann, Die Ernährungs- und Versorgungslage in Wien, Ottakring in der Erinnerung von Zeitzeugen (ungedr. phil. Diss.), Wien 2009.

441

andreas weigl 202 H. Klima, Ermar Junker, Tuberkulintestungen in Wien – Rückblick, Ausblick. In  : Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 87/1 (1986), S. 1–4, hier 2 f. 203 Ermar Junker, BCG-Impfung aus heutiger Sicht. In  : Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 91 (1990) 12, S. 3–7, hier 3 f. 204 Ermar Junker, Beurteilung der tatsächlichen Tuberkulosesituation in einer Großstadt (SD aus »8. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Tuberkulose und Lungenerkrankungen« Pörtschach, 23. bis 26. Mai 1965). S. 116  ; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 8 ff. (1945 ff.), Wien 1947 ff. 205 Junker, BCG-Impfung, S. 3 f. 206 Dietrich-Daum, Sozialgeschichte, S. 320, 343. 207 Köck, Kytir, Münz, Risiko »Säuglingstod«, S. 38. 208 Statistik Austria, Demographisches Jahrbuch 2000, S. 169. 209 Statistik Austria, Österreichischer Todesursachenatlas 1998/2004, S. 192–199. 210 Massimo Livi-Bacci, Population and Nutrition. An Essay on European Demographic History, Cambridge [u. a.] 1991, S. 43–47. 211 Magistrat der Bundeshauptstadt Wien (Hg.), Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien 1945–1947. Wien 1949, S. 389–401. 212 Weigl, »Unbegrenzte Großstadt«, S.198. Bei den Angaben handelt es sich zumindest 1985 und 1994 um abgeschnittene Verteilungen. Angesichts der geringen Besetzungszahlen der offenen Altersgruppen wurden grobe Verteilungsannahmen getroffen. 213 Richard H. Steckel, Stature and the Standard of Living. In  : John Komlos, Timothy Cuff (Hg.), Classics in Anthropometric History. St. Katharinen 1998, S. 63–114, hier 69 f. 214 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Todesursachenatlas 1988/94, S. 43 f.; Statistik Austria, Todesursachenatlas 1998/2004, S. 43 f., 182 f. 215 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Österreichischer Todesursachenatlas 1988/94, S. 126–129. 216 Statistik Austria, Demographisches Jahrbuch 2000, S. 159. 217 Ermar Junker, Zur Epidemiologie der Lungenerkrankungen in Wien. In  : Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 91/7–8 (1990), S. 1–4, hier 3 f.; E. Bachinger, M. Csitkovics, K. Wais, Gesundheitsbericht Wien 2004. Wien 2005, S. 156. 218 Ermar Junker, Elisabeth Schmid, Der tuberkulosekranke Ausländer. In  : Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 90/5 (1989), S. 3–7, hier 6  ; Margareta Mahidi, Kurt Vollmann, Wohnverhältnisse nach der Staatsbürgerschaft. Zusatzauswertungen der Großzählung 1991 mit Mikrozensus-Ergebnissen 1997. In  : Statistische Nachrichten NF 54 (1999), S. 17–26, hier 19. 219 Rudolf J. Boeck, Zerstörung und Wiederaufbau. In  : Lettmayer (Hg.), Wien um die Mitte des XX. Jahrhunderts, S. 391–415, hier 392 f. 220 Felix Olegnik, Historisch-Statistische Übersichten von Wien. Tl. 3 (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1958 Sonderheft 1), S. 12  ; Jahrbuch der Stadt Wien 1954. Wien 1955, S. 496 f. 221 Elisabeth Lichtenberger, Wien – Prag. Metropolenforschung, Wien–Köln–Weimar 1993, S. 96. 222 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Häuser- und Wohnungszählung 1991. Hauptergebnisse Wien (Beiträge zur Österreichischen Statistik 1040/9), Wien 1993, S. 81 f. 223 Stadtplanung Wien, Stadtentwickungsplan für Wien 1994 (Beiträge zur Stadtforschung, Stadtentwicklung, Stadtgestaltung 53), Wien 1994, S. 34. 224 Albert Kaufmann, Wohnsituation und räumliche Verteilung von Zuwanderern im Wiener Stadtgebiet. In  : WIR. Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien (217. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), Wien 1996, S. 151–159, hier 158. 225 Richard Gisser, Interne Differenzierung der großstädtischen Bevölkerungsentwicklung, in  : Leopold Ro-

442

demografischer wandel in wien senmayr, Sigurd Höllinger (Hg.), Soziologie – Forschung in Österreich. Methoden, theoretische Konzepte, praktische Verwertung, Wien–Köln–Graz 1969, S. 221–241, hier 228–230. 226 Kaufmann, Balog, Daten, S. 9. 227 Slupetzky, Bevölkerungsentwicklung, S. 10  ; Hellmut Ritter, Die Bevölkerung Wiens. In  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 1993/3, S. 3–21, hier 8. 228 Kaufmann, Balog, Daten, S. 9. 229 Albert Kaufmann, Umfang und Struktur der Wohnungsmobilität. Statistische Erfassung der Wohnungswechsler der sechs österreichischen Großstadtregionen (Publikationen des Instituts für Stadtforschung 25), Wien 1975, S. 106. 230 Hellmut Ritter, Die Wiener Gemeindebezirke  : Bevölkerungsbewegung und -struktur 1951–1986. In  : Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 1987/2, S. 13, 15. 231 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, S. 81. 232 Aufhauser, Wohnchancen, S. 245. 233 Stadtplanung Wien, Stadtentwicklungsplan 1994, S. 102–110. 234 Ingrid Frassine, Beobachtungen zur Wiener Wohnungsmobilität. In  : IS-Informationen 1972/1, S. 5–17, hier 6  ; Kaufmann, Umfang, S. 105. 235 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1995, S. 79. 236 Ritter, Wiener Gemeindebezirke, S. 13. 237 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, S. 81. 238 Gerhard Braun, Heribert Müller, Methoden und Modelle zur Analyse von Wanderungsmatrizen am Beispiel von Berlin (West). In  : Berliner Statistik 35 (1981), S. 143–161, hier 159 f. 239 Lichtenberger, Gastarbeiter, S. 236–243. 240 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1990, S. 47, 79 f.; 1997, S. 45, 83. 241 Günter Heinritz, Elisabeth Lichtenberger, Munich and Vienna – A Cross-national Comparison. In  : Dieselben (Hg.), The take off of suburbia and the crisis of the central city  : Proceedings of the international symposium in Munich and Vienna 1984 (Erdkundliches Wissen. Schriftenreihe für Forschung und Praxis 76), Stuttgart 1986, S. 1–29, hier 13. 242 Von den Wohnungen in vor 1919 errichteten Gebäuden erlaubte das Mietengesetz ab Ende der 1960er Jahre für Nicht-Substandardwohnungen allerdings die freie Mietzinsvereinbarung. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde eine Kategorisierung eingeführt, die größere Wohnungen ausklammerte. Die Zahl der Gründerzeitwohnungen, die von der freien Mietvereinbarung ausgeschlossen sind, nahm daher vor allem als Folge der Stadterneuerung in den 1980er und 1990er Jahren ab. 243 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, S. 236. 244 Heinritz, Lichtenberger, Munich and Vienna, S. 23. 245 Zusammenfassend dazu Gerhard Hatz, Sozialraumstrukturen und sozialer Wandel in Wien 1971–1991. In  : Geographischer Jahresbericht aus Österreich 55 (1996), Wien 1998, S. 57–82. 246 Lichtenberger, Vienna, S. 141. 247 Josef Kohlbacher, Ursula Reeger, Wohnverhältnisse und Segregation. In  : Heinz Fassmann (Hg.), 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001–2006. Rechtliche Rahmenbedingungen, demographische Entwicklungen, sozioökonomische Strukturen, Wien–Klagenfurt (Celovec) 2007, S. 305– 327, hier 308 f. n xij Yi 248 Segregationsidex nach Duncan/Duncan  : S =

1  * 2

| X i 1

1



j

Xj

Y

|

 * 100  

Y 443

andreas weigl xij = Bevölkerung der Teilgruppe j im Zählgebiet i Yi = Gesamtbevölkerung im Zählgebiet i Xj = Gesamtbevölkerung der Teilgruppe j Y = Gesamtbevölkerung 249 Weigl, Migration, S. 75. 250 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1997, S. 45. 251 Rudolf Giffinger, Segregation in Vienna  : Impacts of Market Barriers and Rent Regulations. In  : Urban Studies 35 (1998), S. 1791–1812, hier 1801. 252 Heinritz, Lichtenberger, Munich and Vienna, S. 27. 253 Josef Steinbach, Andrea Holzhauser, Klaus Neudecker, Historische Sozialraumanalyse für das Wiener Stadtgebiet. Eichstätt 2000, S. 26, 43. 254 Kohlbacher, Reeger, Wohnverhältnisse, S. 309 f. 255 Josef Kohlbacher, Ursula Reeger, Ethnische Segregation und Fremdenfeindlichkeit in Wien. In  : Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 141 (1999), S. 19–52, hier 38. 256 Leitner, Gastarbeiter, S. 87–92  ; Wiener Stadt- und Landesarchiv, Verein für Geschichte der Stadt Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Stadtgeschichtsforschung (Hg.), Historischer Atlas von Wien. 10. Lieferung, Karte 3.1.5/8. 257 Giffinger, Turks, S. 58  ; Wiener Stadt- und Landesarchiv, Verein für Geschichte der Stadt Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Stadtgeschichtsforschung (Hg.), Historischer Atlas von Wien. 10. Lieferung, Karte 3.5.1/7–8. 258 Fassmann, Hatz, Wien, S. 28. 259 Lichtenberger, Vienna, S. 144. 260 Mahidi, Vollmann, Wohnverhältnisse, S. 19. 261 Hatz, Sozialraumstrukturen, S. 78 f., hier 79. 262 Giffinger, Segregation in Vienna, S. 1801. 263 Weigl, Migration, S. 77.

444

georg rigele

Mehr, mehr, mehr Energie und Verkehr in Wien 1945–1995 Mit besonderem Dank an Nikolaus Kirstein, Fridolin Krausmann und Georg Schmid

Einleitung

S

tadt bedeutet Dichte in räumlicher und kommunikativer Hinsicht. Die Dichte des städtischen Lebens vervielfacht die Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Die Vielfalt an Möglichkeiten vermehrt die Freiheit in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. In der Stadt entfalten sich die unterschiedlichsten Milieus und Lebensstile. Die städtische Dichte führt zu einem hohen materiellen Austausch. Personen und Güter sind ständig unterwegs. Das städtische Leben hängt von einem ununterbrochenen Energiezufluss ab. Die Stadt ist ein Art Reaktor, der Energie ansaugt, verwandelt und ausstrahlt. Energie und Verkehr sind auf das Engste verwoben. Daher ist es sinnvoll, beide Themen in einem Beitrag zur Geschichte Wiens gemeinsam zu behandeln. Der Verkehr benötigt Energie und die Energiezufuhr in die Stadt ist auf eine komplexe Transport-Infrastruktur angewiesen. Die geografische Lage Wiens bedingt, dass die Heizperiode länger als das halbe Jahr dauert. Holz, Kohle, Erdöl und Erdgas und elektrische Energie in enormen Mengen halten die Stadt warm. An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden das Städtische Elektrizitätswerk, das Städtische Gaswerk und die Städtischen Straßenbahnen gegründet. Damit waren das wichtigste Nahverkehrsmittel und die damaligen leitungsgebundenen Energieträger in einer Hand. Der Industriekomplex des Simmeringer Gaswerks und Elektrizitätswerks bildete fortan die Energiezentrale von Wien. Im Jahr 1949 erhielten die Elektrizitätswerke, Gaswerke und Verkehrsbetriebe durch die Gründung der Wiener Stadtwerke eine zentrale Leitung. Dem großen kommunalen Versorgungskomplex stehen weitere staatliche und private Unternehmen gegenüber. Die Versorgung mit festen und flüssigen Brennstoffen lag und liegt sowohl in staatlichen als auch in privaten Händen. Die Österreichischen Bundesbahnen sind ein Staatsunternehmen, während der Individualverkehr zwar öffentliche Straßen benutzt, sonst aber zum größten Teil privat funktioniert. Auf dem österreichischen Schienennetz fahren seit 2001 auch Güterzüge privater Eisenbahnverkehrsunternehmen. 445

georg rigele Beim Doppelthema Energie und Verkehr gilt im Besonderen, dass sich die administrativen Grenzen der Stadt nicht mit ihren technischen, wirtschaftlichen und funktionalen Grenzen decken. Die städtischen Anlagen zur Wasser- und Stromversorgung reichen tief ins Niederösterreichische und Steirische, was gelegentlich zu Interessenkonflikten mit diesen Bundesländern geführt hat. Der Stromstreit ­zwischen Wien und Niederösterreich um die Versorgung der Wiener Umlandgemeinden durch die Wiener Elektrizitätswerke wurde 1998 beigelegt. Die Steiermark scheiterte beim Versuch, das Wiener Hochquellenwasser zu besteuern. Wie bei anderen vergleichbaren Großstädten auch, liegt der Flughafen seit den frühen Sechzigerjahren außerhalb der Stadt. Der Vienna Airport befindet sich auf dem Gemeindegebiet der südöstlichen Nachbarstadt Schwechat. Viele Fluggäste sind von den ausgedehnten, in der Nacht hell beleuchteten Anlagen der Raffinerie Schwechat fasziniert, die zwischen dem Flughafen und der Wiener Stadtgrenze liegen. Raffinerie und Flughafen Schwechat haben die älteren Anlagen auf dem Wiener Stadtgebiet ebenfalls seit Anfang der Sechzigerjahre ersetzt. Die Bevölkerung einer Stadt wie Wien ist keine konstante Größe. Die Geografin Elisabeth Lichtenberger hat auf Grundlage der Volkszählungsdaten von 1991 errechnet, dass bei einer nominellen Bevölkerung von damals 1,54 Millionen lediglich 1,09 Millionen Menschen ihren ständigen Lebensmittelpunkt in Wien hatten. Einschließlich der temporären, d. h. zeitweise anwesenden oder zeitweise abwesenden Bevölkerung ergibt sich ein Gesamtwert von 2,08 Millionen Menschen, die Wien im Laufe des Jahres 1991 bevölkerten. Wochenpendler, Saisonarbeiter und Studenten, Angestellte internationaler Konzerne, Geschäftsreisende und Touristen, Diplomaten, un-Beamte, Urlauber und Zweithausbesitzer sorgten für ein ständiges Pulsieren und saisonale Schwankungen der Bevölkerungsgröße.1 Die Bevölkerung ist seit 1991 gewachsen, ebenso ihre Mobilität, was die Schwankungsbreite noch weiter vergrößert haben dürfte. Im August wirkt die Stadt leer, im November ist sie voll. Die Wiener Stadtregion steht mit all den Destinationen, zwischen denen sich die Haupteinwohner und temporären Einwohnern bewegen, in Verbindung. Dadurch wird Wien zum Teil dieser Orte und umgekehrt. Die Verflechtung mit dem niederösterreichischen Umland ist so vielfältig und dicht, dass eine größere Stadtregion besteht, die politisch kaum gesteuert wird, weil die Grenzen der Gebietskörperschaften den Stadtraum aufteilen und die politisch Verantwortlichen lediglich in Teilgebieten regieren.

Themenfelder Donaustrom und Fernstr aßen  : In der Geschichte des Verkehrs und der Energieversorgung hat die Donau eine zentrale Rolle gespielt, die sie im 20. Jahrhundert 446

energie und verkehr in wien 1945–1995 verlor. Die Donau verband mit ihren Zuflüssen die westlichen Länder des Habsburgerreiches mit den südöstlichen Ländern. Über die Donau kamen Menschen, Waren, Rohstoffe und Brennholz. 1870–1875 wurde die Donau in Form eines geraden Durchstichs zwischen der Wiener Pforte an der Enge von Leopoldsberg und Bisamberg im Nordwesten und Albern im Südosten der Stadt reguliert. Neben dem 285 Meter breiten Flussbett wurde ein 475 Meter breites, vom Hubertusdamm abgeschlossenes Überschwemmungsgebiet angelegt. Zur weiteren Verbesserung des Hochwasserschutzes ließ die Stadt in den Siebzigerjahren im Überschwemmungsgebiet ein Entlastungsgerinne, die »Neue Donau«, graben und zwischen dem Hauptstrom und Entlastungsgerinne die Donauinsel aufschütten, die die Bevölkerung als Naherholungsgebiet spontan in Besitz nahm. Eine Kaskade großer Laufkraftwerke von der oberösterreichisch-bayrischen Grenze bis Wien trägt zur österreichischen Stromproduktion aus Wasserkraft bei. Das 1998 als jüngstes eröffnete Donaukraftwerk Freudenau, die Staustufe Wien, liegt im Stadtgebiet. Der Umschlag im Wiener Hafen (Freudenauer Hafen) wächst beständig und die touristische Personenschifffahrt ebenso. Obwohl Massengüter wie Kohle oder Getreide sowie in jüngerer Zeit Neuwagen und Container kostengünstig auf dem Wasserweg befördert werden, liegt der Anteil der Donauschifffahrt am Gesamtverkehr nur im einstelligen Prozent­ bereich. Westlich von Wien wies die Donau ursprünglich die Charakteristik eines Gebirgsflusses auf, östlich wird sie zum flachen Strom, der die ungarische Tiefebene durchzieht. Unter den vorautomobilen Fernstraßen gibt es die Linzer Straße nach Westen, aber keine Budapester Straße in die Gegenrichtung. Die wichtigsten historischen Fernstraßen führten nach Norden und Süden, nämlich die Prager Straße, die Brünner Straße und die Triester Straße. Eisenbahn und Kohle  : Die erste Eisenbahnachse durchquerte die Monarchie von den Kohlerevieren des Nordostens über Wien in den Südwesten zum Seehafen Triest. Eine durchgehende Verbindung bestand seit 1859, als die Wiener Verbindungsbahn eröffnet wurde, die die Nordbahn mit der Südbahn verband und heute ein Abschnitt der Schnellbahn-Stammstrecke ist. Rund hundert Jahre lang, von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, war die Kohle der wichtigste Energieträger für eine europäische Großstadt wie Wien. Mit ihr wurden die Dampflokomotiven beheizt, sie brannte in den Kesseln der Industrie und der Elektrizitätswerke und sie wurde in den Gaswerken in Stadtgas und Koks umgewandelt. Kohle und aus ihr gewonnene Produkte dienten zum Heizen der Wohnungen und öffentlichen Gebäude. Die Silhouette der Stadt, auch die der Innenbezirke zwischen der parallel zur Ringstraße verlaufenden »Zweierlinie« (Lastenstraße) und dem Gürtel, wurde von unzähligen Fabrikrauchfängen belebt, aus denen Rauchfahnen aufstiegen. Der markante Geruch des Kohlerauchs lag besonders in der kalten Jahreszeit in der Luft. Am 447

georg rigele Handelskai zeugten Kohlegebirge vom gewaltigen Brennstoffbedarf der Stadt, und die Bahndämme waren mit den Kohlerutschen der Brennstoffhändler gesäumt. Der Güterteil des Nordbahnhofs war ursprünglich ganz vom Kohleumschlag geprägt. In den Sechzigerjahren verlor die Kohle den ersten Platz als Energielieferant. Die Stromerzeugung aus Kohle endete in Wien im Jahr 1970. Die Kohle wurde durch Erdöl und Erdgas ersetzt. Str aßenbahn, Eisenbahn und Strom  : Bis in die Siebzigerjahre konnten in Wien Dampflokomotiven als die Sinnbilder des Eisenbahnzeitalters beobachtet werden.2 Mittelbar fuhr zunächst auch die elektrische Tramway mit Kohle, die in den Kesseln und Turbinen des Kraftwerks Simmering in elektrische Energie umgewandelt wurde. Aber bereits in den Zwanzigerjahren schufen die Wiener E-Werke mit eigenen Kraftwerken und zugekauftem Strom eine zusätzliche Wasserkraft­basis, die den Strom auch auf der Primärenergieseite zur abgasfreien Energie machte. Die Westbahn und die Südbahn als die wichtigsten Hauptstrecken wurden in den Fünfzigerjahren elektrifiziert. Die Eröffnung der Wiener Schnellbahn der Österreichischen Bundesbahnen 1962 war ein Meilenstein der Wiener Verkehrsgeschichte. Seither wurden die restlichen Bahnstrecken elektrifiziert und von der Stadt Wien ein U-Bahn-Netz geschaffen. Die elektrischen Schienennetze im Wiener Raum bilden ein gut ausgebautes Gesamtsystem, dessen Schwäche allerdings darin besteht, die strukturelle Veränderung von zentrierter Radialstadt zu polyzentral aufgelockerter Tangentenstadt nicht ausreichend nachvollzogen zu haben. Entgegen der verbreiteten Redensart von einer chronischen Unterinvestition in die Eisenbahn wurde die Leistungsfähigkeit dieses Verkehrsmittels kontinuierlich gesteigert und die Qualität, wenn auch mit Rückschlägen, verbessert. Ein Meilenstein für den Eisenbahngüterverkehr war der Bau des Zentralverschiebebahnhofs Kledering im Südosten von Wien. Der Personenfernverkehr wurde beschleunigt und verdichtet. Auf der Westbahn und der Südbahn wurde in den Siebzigerjahren der erste Taktfahrplan eingeführt. Der 1991 unter dem Produktnamen nat eingeführte, österreichweite integrierte Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild wurde nach nur fünf Jahren stark verwässert. Die Bundesbahnen bemühten sich nach 1989 redlich, attraktive Zugsverbindungen nach Tschechien, der Slowakei und Ungarn anzubieten. Auto und Öl  : In den Fünfzigerjahren setzte ein Motorisierungsschub ein, der die Stadt zunächst nur oberflächlich, seit den Siebzigerjahren aber tiefgreifend veränderte. Der motorisierte Individualverkehr bzw. die Massenmotorisierung füllte das vorhandene Straßennetz von innen nach außen auf, bis es buchstäblich verstopft war. Dann wurde die Stadt regelrecht umgekrempelt. Das motorisierte Wien rückte an den Rand und ins Umland. Die Massenmotorisierung ermöglichte eine flächige 448

energie und verkehr in wien 1945–1995 Suburbanisierung und war gleichzeitig eine ihrer Ursachen. Mit dem Bau der Südautobahn bildete sich allmählich ein dynamischer Wirtschaftsschwerpunkt in den südlichen Nachbargemeinden von Wien. Die Eröffnung der Shopping City Süd 1976 (mit der ersten ikea-Filiale Österreichs), die der A 23 Wiener Südosttangente 1978 und der Außenringautobahn A21 im Wienerwald 1982 markierten eine grundlegende Verlagerung im Stadtraum. Neben seiner Nutzung als Autotreibstoff begann das Erdöl – zunächst aus inländischer Förderung, bald auch billig importiert – die Kohle in der Raumheizung und als industrieller Brennstoff zu verdrängen. Die Raffinerie Schwechat löste die älteren Raffinerien im Wiener Raum ab. Weder die politisch verursachten Ölkrisen noch die Umweltdebatte und das Argument der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen bremsten den Benzin- und Dieseldurst der fahrenden Bevölkerung ein. Während der Heizölkonsum seinen Höhepunkt überschritten hatte, stieg der Verbrauch von Erdölprodukten auf dem Verkehrssektor stetig an. Kohlegas und Er dgas  : Rund ein halbes Jahrhundert vor der Elektrizität stand in den europäischen Städten Gas als Energieträger zur Verfügung. Das Gas (Leuchtgas, Stadtgas, Kohlegas) wurde in Gaswerken aus Kohle hergestellt. Die Verteilung durch ein unterirdisch verlegtes Leitungsnetz war für die dicht verbaute Stadt ein großer Vorteil. Genutzt wurde Gas als erstes für die Beleuchtung und in weiterer Folge für zahlreiche Anwendungen, für die später auch elektrischer Strom eingesetzt wurde, d. h. als Brennstoff für Motoren, zum Kühlen, Kochen und Heizen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdrängte der elektrische Strom das Gas als Lichtquelle und Energie für stationäre Antriebe. Erdgas wird im Wiener Becken seit den Dreißigerjahren gefördert. Nach 1945 mengten es die Gaswerke dem Kohlegas in wachsenden Anteilen bei. Die größten damals bekannten österreichischen Vorkommen lagerten im Weinviertel nördlich von Wien. Das Inlandsgas deckte den Bedarf bis Mitte der Sechzigerjahre. Erdgas hat von den fossilen Brennstoffen die besten Eigenschaften. Es verbrennt wesentlich sauberer als Kohle oder Erdöl und gelangt durch Leitungen direkt zum Endverbraucher. Österreich war das erste westliche Land, das Erdgas aus der Sowjetunion bezog. Seit dem Beginn des Imports aus der Sowjetunion im Jahr 1968 ist Erdgas für den steigenden Bedarf von Industrie, Kraftwerken und Haushalten ausreichend verfügbar. Die Vergasung von Kohle konnte 1969 beendet werden. Stadtgas wurde noch in der Form von Spaltgas (Erdgas-Luft- bzw. Erdgas-Wasserdampf-Spaltgas) erzeugt und die Endkundenversorgung nach und nach auf Erdgas umgestellt. 1978 war die vollständige Umstellung des Wiener Gasnetzes auf reines Erdgas vollzogen. Die großen zylindrischen Gasbehälter wurden überflüssig. Lediglich die gemauerten Hüllen der Simmeringer Gasometer blieben als Denkmäler stehen. Im Gegensatz zur Stromversorgung, die eine 449

georg rigele weitgehende Systemkontinuität aufweist, bedeutete die Umstellung der Gasversorgung auf Erdgas eine nahezu vollständige Reorganisation des Versorgungssystems. An die Stelle der städtischen Gaserzeugung trat der Erdgasbezug über internationale Pipelines, die ganz Europa durchziehen und bis nach Sibirien, in die Nordsee und nach Nordafrika reichen. Das städtische Gasnetz wurde nach der Erdgas-Umstellung vollständig saniert und modernisiert.

Strukturelle Fr agen und Faktengeschichte Eine zusammenfassende Darstellung der Themen Energie und Verkehr steht vor der Aufgabe, zusammenhängende Dinge aufzulösen und der Reihe nach abzuhandeln. Eine Auflösung nach technischen Kriterien (Energieträger und Verkehrsmittel) ist naheliegend und wird sich wahrscheinlich mit den Erwartungen der Leserinnen und Leser treffen. Parallel dazu gilt es, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten und die wesentlichsten Trends aufzuzeigen. Die Frage sollte geklärt werden, wo Kontinuitäten bestehen und welche Entwicklungsbrüche maßgeblich waren. Auf dem Energiesektor sind die Verschiebungen zwischen den Primärenergieträgern (Biomasse, Kohle, Öl, Gas, Wasserkraft) bei gleichzeitig steigendem Gesamtenergieverbrauch darzulegen und zu kommentieren. Für die Verkehrsgeschichte wird die These aufgestellt, dass das Jahr 1978 der Angelpunkt war, ab dem sich Wien rapide von einer zentrierten in eine ­tangential organisierte Stadt verwandelte, d. h. die tangentialen Merkmale zu überwiegen begannen. Zu den strukturellen Fragen gehören weiters die Verkehrskonzepte und Planungsphilosophien, die von Fachleuten entwickelt wurden und die die Politik beschäftigten. Die Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, der Zerfall der Monarchie und Wiens geschmälerte Rolle als Hauptstadt eines Kleinstaates bremsten das Wachstum der Metropole jäh ab. Ein Teil der Zuwanderer aus den habsburgischen Kronländern kehrte in die nunmehrigen Nachfolgestaaten zurück. Noch drastischer waren die Folgen des Zweiten Weltkrieges wegen der Vertreibung und Auslöschung der jüdischen Bevölkerung, der Überalterung, und die »tote Grenze« im Osten. Wien lag gewissermaßen am Ende einer Sackgasse. Die Modernisierung der Stadt verlief verhalten, Wien verharrte lange in den technischen und räumlichen Strukturen des frühen 20. Jahrhunderts. Erst die ungeheure Dynamik der Massenmotorisierung brach diese Strukturen auf. Ostöffnung und eu-Beitritt ermöglichten einen Entwicklungsschub in alle Himmelsrichtungen und lösten ein neues Bevölkerungswachstum aus. 450

energie und verkehr in wien 1945–1995

Abb. 1: »Niemals vergessen  !« Denkmal Remise Währinger Gürtel. Foto  : Georg Rigele

Krieg und Befreiung, Wieder aufbau In den Jahren 1944 und 1945 wurde Wien von den amerikanischen Luftstreitkräften viele Male bombardiert. Dennoch blieben die öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Spitäler, Verkehrsmittel und die Energieversorgung bis Anfang 1945 mit Einschränkungen funktionsfähig. Am 12. März 1945 entlud eine Flotte aus 225 Bombern vom Typ B-17 »Flying Fortress« und 522 B-24 »Liberator« beim schwersten aller Luftangriffe auf Wien 1.667 Tonnen Bomben über der Stadt. Unter dem Beschuss der deutschen Fliegerabwehr verfehlten sie zum Großteil das Primärziel der Floridsdorfer Erdölraffinerie und zerstörten zahlreiche Gebäude in der Innenstadt, darunter die Oper und die Albertina.3 Es war der siebente Jahrestag des deutschen Einmarschs in Österreich. Das nationalsozialistische Regime übte noch in den letzten Kriegstagen Terror aus. Menschen jüdischer Abstammung, die Jahre in Verstecken überlebt hatten, wurden verraten und ermordet, kz-Insassen auf Todesmärschen erschossen. 451

georg rigele Bei den Straßenbahnremisen erinnern Denkmäler daran, dass viele Straßenbahner im Widerstand waren und für ihren Kampf mit dem Leben bezahlten.4 Die militärische Widerstandsgruppe um Major Carl Szokoll, die eine kampflose Übergabe Wiens erreichen wollte, scheiterte, nachdem ihr Mitglied Major Karl Biedermann am 5. April denunziert worden war und die Pläne aufflogen. Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke wurden am 8. April auf offener Straße gehängt.5 So blieb der Stadt die militärische Einnahme mit Artilleriegefechten und Straßenkämpfen nicht erspart. Nach zeitgenössischen russischen Angaben verlor die Rote Armee im Kampf um Wien vom 3. bis 13. April 18.000 Mann, aufseiten des deutschen Militärs fielen 19.000 Mann.6 2.300 Zivilpersonen starben während der Kämpfe.7 Diese Menschen hätten die verhängnisvollen Tage im April 1945 überlebt, wenn es zur kampflosen Übergabe gekommen wäre. Die schwersten Zerstörungen an der technischen Infrastruktur richteten die Bodenkämpfe an. Beim Versuch, die unabwendbare Niederlage hinauszuzögern, sprengten die Deutschen die Donaukanalbrücken und mit Ausnahme der Reichsbrücke alle Brücken über den Donaustrom. Die Umgebung des Donaukanals im 1. und 2. Bezirk wurde durch Artillerie zerstört. Der Fuhrpark der Straßenbahnen wurde stark dezimiert. Nach dem Abzug der Feuerwehr aus Wien wüteten zahllose Brände unkontrolliert. 471 Menschen, so viele wie in keinem anderen Jahr, fielen 1945 Straßenverkehrsunfällen zum Opfer. Eine Ursache für diese hohe Zahl war die Verdunklung bzw. der Ausfalls der Straßenbeleuchtung. Die Urgroßmutter des Autors wurde 1945 von einem Lastwagen der Deutschen Wehrmacht überfahren und starb an den Folgen. Umso bemerkenswerter ist es, dass nach wenigen Tagen Stillstand das Simmeringer E-Werk wieder in Gang gesetzt wurde und zumindest wichtige öffentliche Einrichtungen wie das Allgemeine Krankenhaus und die beiden großen Brotfabri­ ken (Anker- und Hammerbrot-Fabrik) wieder versorgt wurden. Am 29. April, zwei Tage nach der österreichischen Unabhängigkeitserklärung, fuhren wieder die ­ersten Straßenbahnen in einigen westlichen Außenbezirken, am 9. Juni verkehrte der 360er wieder durchgehend bis Mödling. Der Stadtbahnbetrieb wurde auf der Teilstrecke zwischen den Stationen Hauptzollamt (heute Landstraße) und Hietzing am 27. Mai 1945 wiedereröffnet, Mitte Juli war die ganze Stadtbahn mit Ausnahme des Teilstücks Nußdorfer Straße–Heiligenstadt wieder in Betrieb. Zerstörte Stationen wurde zunächst ohne Halt passiert. Der Weg bis zur vollständigen Normalisierung der Energieversorgung und der Verkehrsverhältnisse war lang und hindernisreich. Im Jahr 1939 war das Streckennetz der Wiener Straßenbahnen 290 Kilometer lang. Ende 1945 wurden 141 Kilometer wieder befahren, Ende 1946 bereits 224 Kilometer. Kohlemangel und extrem kalte Winter erschwerten die Normalisierung. Im Jänner 1947 stellten die öbb den Personenverkehr ein, im März mussten acht Straßenbahnlinien aus Wagenmangel vorübergehend eingestellt werden. 452

energie und verkehr in wien 1945–1995 Im Gegensatz zu anderen, noch schwerer getroffenen Städten wie z. B. Rotterdam oder Düsseldorf wurde Wiens Infrastruktur mit Ausnahme der Fernbahnhöfe so wiederaufgebaut, wie sie war, d. h. die vorhandenen Kraftwerke, Gaswerke, Eisenbahn- und Straßenbahnlinien wieder betriebsfähig gemacht. Straßendurchbrüche, wie sie manchen Architekten und Stadtplanern sinnvoll erschienen waren, sind unterblieben. Auch die Rohrpost, die die wichtigsten Postämter verband, wurde bis 1956 beibehalten. Nur wenige Stadtviertel waren so stark zerstört, dass sie nicht wiederaufgebaut wurden, z. B. die Häuserzeile am Donaukanal beim Schwedenplatz im 1. Bezirk. Bedeutende Einzelobjekte wie der Heinrichhof gegenüber der Oper oder der Südbahnhof wurden durch Neubauten ersetzt. Das Straßenbahnnetz war im Jahr 1949 im Großen und Ganzen wieder funktionstüchtig, Stromabschaltungen infolge Kohlemangels und der Wagenmangel führten aber zu Betriebseinschränkungen. Um die Kohlenot zu lindern, bezogen die Wiener Elektrizitätswerke zusätzlich zur hochwertigen Importkohle auch Braunkohle aus dem wiedereröffneten Neufelder Tagbau und dem neu erschlossenen Tagbau bei Langau im nördlichen Waldviertel.8 Generell legte die österreichische Energiepolitik einen Schwerpunkt auf den heimischen Kohlebergbau. Der zweite und beständigere Schwerpunkt war die Wasserkraft. Die steigende Verfügbarkeit von Wasserkraftstrom aus Westösterreich beendete die Stromknappheit. Durch die Inbetriebnahme der durchgehenden 220-kV-Hochspannungsleitung vom Tauernkraftwerk Kaprun über Ernsthofen zum Umspannwerk Bisamberg im Jahr 1949 und die Fertigstellung des Hauptstufenkraftwerks Kaprun im Herbst 1951 war die Deckung der Lastspitzen gesichert. Ein Zeichen der Normalisierung in Wien war die Wiederaufnahme des Nachtautobusverkehrs 1950, zunächst in den Nächten von Samstag auf Sonntag, ab 1954 täglich. Als eine der letzten Straßenbahnlinien wurde der Abschnitt des 40ers vom Gürtel zur Börse 1953 wieder in Betrieb genommen. Diese Linie wurde allerdings 1960 als eine der ersten auf Autobus umgestellt. Die Stadtbahnteilstrecke Nußdorfer Straße–Heiligenstadt wurde erst 1954 wiedereröffnet, weil die Rekonstruktion der neben den Gleisen des Franz-Josefs-Bahnhofs gelegenen Stadtbahnbögen sehr aufwendig war. (Diese Trasse wurde nach Eröffnung der U6 im Jahr 1995 stillgelegt und später teilweise überbaut. Verkehrsstrategisch bedeutet das, dass eine zukünftige U-Bahn-Verbindung vom Gürtel über Heiligenstadt in Richtung Klosterneuburg unausführbar gemacht wurde, möglicherweise deshalb, weil diesbezügliche Vorschläge von der Opposition kamen.) Für die Wiener Verkehrsinfrastruktur von größter Bedeutung waren die Reparatur der Stadlauer Eisenbahnbrücke und ihre Wiederinbetriebnahme 1947. Die Arbeiter und Techniker der Gaswerke konnten 1945 im Verlauf der Einnahme Wiens zusätzliche Zerstörungen durch die abziehenden deutschen Truppen verhindern und für eine geordnete Übergabe des Betriebs von der nationalsozia453

georg rigele listischen Direktion auf unbelastete Gaswerker sorgen. Die Koblicekgasse im 11. Bezirk erinnert an den Gaswerks-Arbeiter Otto Koblicek, der am 5. April von der ss erschossen wurde, weil er sich der Zerstörung des Simmeringer Gaswerks widersetzt hatte. Vier Tage später war das Gaswerk in den Händen der Roten Armee. Trotz der prekären Versorgungslage wurden die Reparaturen am Gaswerk und am Netz umgehend aufgenommen. Ende 1945 konnten über achtzig Prozent der Gasabnehmer wieder beliefert werden, im April 1946 war das gesamte Netz wieder betriebsfähig, einschließlich der Wiener Umlandgemeinden. 2.100 Schadstellen waren repariert worden. 1947 erreichte die Abgabe Vorkriegsniveau, 1949 konnten die letzten Konsumeinschränkungen aufgehoben werden. Die Wiederinbetriebnahme des großen Scheibengasbehälters im Gaswerk Leopoldau 1952 bildete den Abschluss des Wiederaufbaus der Gaswerke.9

Energie Grafik 1a: Jährlicher Energieverbrauch in Wien 1800 bis 2006 in Peta Joule (PJ)

200

Sonstige Primärenergie Wasserkraft und Fremdenergie

150

Treibstoffe

[PJ/a]

Erdgas

100

Heizöl Kohle Brennholz

50

Futter für Zugtiere Nahrung

1800 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000

0

Daten und Grafik  : Fridolin Krausmann

454

energie und verkehr in wien 1945–1995

Grafik 1b: Jährlicher Energieverbrauch in Wien 1800 bis 2006, Anteile der Primärenergiearten in Prozent

80%

60%

40%

Nahrung Brennholz Heizöl Treibstoffe Sonstige Primärenergie

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

1890

1880

1870

1860

1850

1840

1830

1820

0%

1810

20%

1800

[Anteil am Energieumsatz in Prozent]

100%

Futter für Zugtiere Kohle Erdgas Wasserkraft und Fremdenergie

Daten und Grafik  : Fridolin Krausmann

Der Umwelthistoriker Fridolin Krausmann hat den grundlegenden Wandel der Energieversorgung und des Energieverbrauchs in Wien im 19. und 20. Jahrhundert untersucht.10 In diesem Zeitabschnitt überwog zunächst die Biomasse, hauptsächlich in Form von Holz, pflanzlichem Tierfutter und Nahrung, dann die Kohle. Bei den Anteilen der einzelnen Energieträger am Energieverbrauch fällt auf, dass zwar der Anteil der Nahrung im 20. Jahrhundert allmählich sank, aber nach wie vor eine nicht zu vernachlässigende Größe ausmacht. Die in der Nahrung steckende Energie schlägt in der Wiener Energiebilanz Ende des 20. Jahrhunderts ungefähr gleich zu Buche wie die Energie aus Wasserkraft. Von 1950 bis 1980 hat sich der Energieverbrauch pro Kopf in Österreich etwa verdoppelt und wächst seither nur noch langsam. In einer Gesamtenergiebilanz ist es wesentlich, Nahrung und Nutztierfutter in die Berechnung der Biomasse einzubeziehen und sich nicht auf die Berücksichtigung von Wasserkraft und fossilen Energieträgern bzw. Kernenergie und erneuerbarer Energie wie Windkraft und Solaranlagen zu beschränken.11 Unter den fossilen Energieträgern dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg vorerst noch die Kohle. Stein455

georg rigele kohle wurde zum Großteil aus Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei, zeitweise auch aus den usa und der udssr importiert, Braunkohle im Inland gefördert. Das seit den Dreißigerjahren erschlossene inländische Erdöl und zunehmend importiertes Öl aus der Sowjetunion, dem Nahen Osten und anderen Quellen substituierte einerseits die Kohle und ermöglichte andererseits ein nie dagewesenes Wachstum des Energiekonsums im »Erdölzeitalter«. Als ab 1968 Erdgas aus der Sowjetunion importiert wurde, konnten die Elektrizitätswerke und das Gaswerk ganz auf Kohle verzichten. Da es in Wien keine Hüttenindustrie gab und die Kohlekraftwerke stillgelegt wurden und auch die Haushalte zunehmend auf Öl- und Gasheizungen umstiegen, sank der Kohleverbrauch in Wien auf einen unerheblichen Rest.

Kohle, Stadtgas Die Normalisierung der Versorgung mit festen Brennstoffen nach dem Krieg weist insofern eine Ähnlichkeit mit der Situation nach dem Ersten Weltkrieg auf, als zunächst Transportprobleme gelöst und Lieferbeziehungen erneuert werden mussten. Der Gesamtverbrauch von Braunkohle und Steinkohle verdoppelte sich von 1946 bis 1950 von 828.583 Tonnen auf 1.634.964 Tonnen (berechnet auf Steinkohlebasis). Tabelle 1  : Einfuhr von ausländischer Steinkohle nach Wien in Tonnen (Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg.) Tschechoslowakei

Polen

Deutschland

1946

Jahr

      0

 38.060

377.089

USA

1947

      0

280.837

247.209

1948

228.494

428.830

256.101

1949

337.689

388.174

244.502

1950

256.926

351.308

308.300

1951

162.684

280.981

215.886

177.024

1952

165.404

175.133

165.240

 48.276

1953

162.420

213.186

281.576

 39.249

1954

 97.326

236.162

148.236

199.362

UdSSR

1955

156.689

232.430

 76.828

207.246

1960

 97.744

158.861

 37.250

 25.197

112.188

1963

 88.185

300.545

  4.823

 83.468

150.094

1965

 53.410

383.688

 30.535

  9.253

114.623

119.937

 60.200

1970

456

  1.759

energie und verkehr in wien 1945–1995 1899 hatte das Simmeringer Gaswerk begonnen, Stadtgas zu liefern. Das Stadtgas wurde aus Kohle hergestellt, wobei verschiedene Nebenprodukte anfielen, darunter der als Heizmaterial beliebte Gaskoks. Nach der Eingemeindung von Floridsdorf 1904 wurde das wesentlich modernere Gaswerk Leopoldau errichtet und 1911 eröffnet. Während der ns-Herrschaft übernahmen die Wiener Gaswerke im Jahr 1940 die Gaswerke Wienerberg, Wiener Neudorf und Traiskirchen von der Österreichischen Gasbeleuchtungs-ag, 1942 auch noch das Gaswerk Mödling. Von den kleinen Gaswerken im Süden Wiens wurden alle bis auf Traiskirchen nach der Übernahme stillgelegt. Die Gaserzeugung in Traiskirchen wurde noch bis 1954 fortgesetzt.12 Die Versorgung der Abnehmer erfolgte anschließend von Wien aus. 1954 machten die Wiener Gaswerke dem Gaswerk Baden ein Übernahmeangebot. Diese Expansionsabsicht alarmierte das Land Niederösterreich, weil bereits die Wiener Elektrizitätswerke im südlichen Wiener Becken tätig waren und sich nun auch die Gaswerke im fremden Territorium weiter ausbreiten wollten. Das Land Niederösterreich und die niederösterreichische Landes-Elektrizitätsgesellschaft newag gründeten daraufhin die Erdgas-Vertriebsgesellschaft niogas, die das Badener Gaswerk kaufte und innerhalb weniger Jahre eine Erdgasversorgung für die niederösterreichischen Städte und die Industrie aufbaute.13 Ab 1. Jänner 1949 wurden die Wiener Gaswerke mit den Elektrizitätswerken und den Verkehrsbetrieben in den Wiener Stadtwerken vereinigt. Die Gaswerke firmierten nunmehr bis 1991 unter »Wiener Stadtwerke – Gaswerke«. Ab 1943 mischten die Wiener Gaswerke dem Kohlegas Erdgas aus dem Fördergebiet von Neusiedl a. d. Zaya und Zistersdorf im Weinviertel, Niederösterreich, bei. Das Gasfeld Aderklaa am nördlichen Stadtrand von Wien lieferte bis 1951 ins Gaswerk Leopoldau. Ab 1949 wurde Erdgas aus Matzen, ab 1952 aus Zwerndorf und Baumgarten geliefert. Die Wiener Gasversorgung musste technisch an die höhere Verfügbarkeit von Erdgas angepasst werden. Reines Erdgas hat einen wesentlich höheren Brennwert als Stadtgas und war für die herkömmlichen Gasgeräte ungeeignet. In Spaltanlagen wurde das Erdgas in Spaltgas mit ähnlichen Eigenschaften wie das aus Kohle hergestellte Stadtgas umgewandelt. 1952 ging die Erdgas-Spaltanlage Simmering in Betrieb, 1954 die in Leopoldau. Die verbesserte Wasserdampfspaltung wurde 1955 in Simmering und 1958 in Leopoldau aufgenommen. Spaltgas wurde unter Temperaturen um 800 °C hergestellt, unter denen das im Erdgas überwiegend enthaltene Methan mit Luft oder Wasserdampf chemisch reagiert. Ab 1956 wurde das Erdgas-Wasserdampf-Spaltgas forciert, das einen höheren Wasserstoffanteil enthielt und dessen Heizwert höher war.14 1966 wurde die Stadtgaserzeugung aus Kohle im Simmeringer Gaswerk eingestellt, am 28. August 1969 endete die Kohlegaserzeugung im Gaswerk Leopoldau. 457

georg rigele Die öffentliche Gasbeleuchtung war in Wien bereits 1962 eingestellt und durch elektrische Leuchten ersetzt worden.

Erdgas aus der Sowjetunion 15 Um 1960 zeichnete sich deutlich ab, dass die inländischen Erdgasvorräte den steigenden Bedarf nur noch wenige Jahre decken konnten. Die Erdgasversorger, zunächst die Wiener Gaswerke, die niederösterreichische niogas und die Steirische Ferngas Gesellschaft, machten sich gemeinsam auf die Suche nach Importquellen und gründeten zu diesem Zweck die Austria Ferngas GmbH. Weitere Landes-Ferngasgesellschaften traten der Austria Ferngas später bei. Das größte bekannte Vorkommen Europas war damals das Groningen-Gasfeld in den Niederlanden, das die niederländische Inlandversorgung und den Export nach Frankreich und in die Nachbarländer der Niederlande ermöglichte.16 1956 wurden in Algerien in der Sahara große Gasfelder entdeckt, die über Pipelines mit Verflüssigungsanlagen am Mittelmeer verbunden wurden. 1964 begann die Verschiffung von verflüssigtem Erdgas (lng – Liquified Natural Gas), als die ersten Flüssiggastanker aus Algerien nach Europa ausliefen. Die Austria Ferngas interessierte sich zunächst für GroningenGas und algerisches lng. Letzteres hätte über Triest oder einen jugoslawischen Adriahafen entladen werden sollen. Das Problem, an dem diese Importe scheiterten, bestand in den enormen Kosten für Pipelines, Schiffspassagen, Verflüssigung und die Rückwandlung des lng in gasförmigen Zustand im Zielhafen. Mitte der Sechziger tat sich eine Chance auf, die in der Epoche des Kalten Krieges zunächst unerhört erschien. 1966 signalisierte die Sowjetunion, über einen Erdgas-Export nach Öster­reich verhandeln zu wollen.17 Zu dieser Zeit war eine Pipeline aus den west­ ukrainischen Erdgasfeldern in die Slowakei in Bau, die wenige Kilometer von der österreichischen Grenze enden sollte. Ein Transportproblem bestand somit nicht, weil lediglich eine kurze Verbindung mit der Station Baumgarten an der March im Erdgasfeld Zwerndorf herzustellen war. Ost-West-Erfahrungen bestanden seit 1960 durch die gemeinsame Bewirtschaftung des Erdgasfeldes von Zwerndorf/Vysoka durch die ömv und die slowakische Gesellschaft Nafta Gbely. Aus fördertechnischen Gründen wurde 1966 vereinbart, dass Gas aus dem slowakischen Anteil des Feldes von Österreich aus gefördert werden sollte. Diesem quasi Import folgte 1967 eine Vereinbarung über die Lieferung von slowakischem Erdgas in der Sommerperiode. Dazu wurden Vysoka und Baumgarten mit einer 6,5 Kilometer langen Pipeline verbunden, die im Mai 1968 in Betrieb ging. Dieses kurze Stück Rohr verband das österreichische Erdgasnetz mit dem Netz der Tschechoslowakei und der Sowjetunion und war ein internationaler Meilenstein.18 Die Verhandlungen über sowjetisches 458

energie und verkehr in wien 1945–1995 Erdgas wurden zunächst von der Austria Ferngas mit der sowjetischen Exportgesellschaft Sojuznefteexport geführt und liefen auf eine Vereinbarung hinaus, nach der die Sowjetunion jährlich 1,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu liefern bereit war und als Gegenleistung westliche Pipeline-Ausrüstungen verlangte, die die voest in Zusammenarbeit mit Mannesmann-Röhren liefern sollte. Unabhängig von der Austria Ferngas begann auch die ömv mit den Sowjets zu verhandeln. Die österreichische Bundesregierung musste koordinierend eingreifen und arrangierte eine Lösung, nach der die ömv als Alleinimporteurin auftrat und die in der afg vertretenen Gesellschaften als alleinige Abnehmer und Wiederverkäufer fungieren sollten. Der Abschluss des Importvertrags drohte im letzten Moment zu scheitern, weil sich die Oberösterreichische Ferngasgesellschaft aus dem Abnehmerkonsortium zurückzog, da ihren Gesellschaftern das Risiko einer fix vereinbarten Abnahmemenge zu hoch erschien. Die Generaldirektoren der Wiener Stadtwerke, Karl Reisinger, und der niogas, Rudolf Gruber, entschieden spontan, den oberösterreichischen Anteil für ihre Gesellschaften zu übernehmen, und retteten damit das Zustandekommen. Am 1. September 1968, wenige Tage nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Warschauer-Pakt-Truppen, begann die Einspeisung von Erdgas aus der Sowjetunion ins österreichische Netz. Für die österreichischen Gasunternehmen und ihre Kunden machten sich der sogenannte 1. Russengasvertrag und seine Nachfolgeverträge über mittlerweile mehr als vier Jahrzehnte vielfach bezahlt. Erdgas aus der Sowjetunion ermöglicht die Versorgung großer Industriebetriebe und der Elektrizitätswerke, die auf Kohle und Schweröl verzichten konnten. Dank Erdgas produziert die österreichische Industrie äußerst emissionsarm. Sorgen bereitete den Politikern und Managern auf der Import-Seite die zunehmende Abhängigkeit von einem einzigen Lieferanten, da der Anteil der Inlandsförderung allmählich auf rund ein Fünftel des Bedarfs sank und alle Bemühungen, aus Algerien und dem arabischen Raum Erdgas zu importieren, scheiterten. 1986 konnten Lieferungen aus dem norwegischen Troll-Gasfeld vereinbart werden, die 1993 begannen. Die Sowjetunion war ein zuverlässiger Vertragspartner für ihre Kunden im Westen. Das neutrale Österreich hatte als Test-Kunde gedient und, nachdem dieses Geschäft klaglos in Gang gekommen war, schlossen auch Deutschland, Italien und weitere westeuropäi­ sche Länder Importverträge für sowjetisches Erdgas ab. Die Erschließung riesiger sibirischer Gasfelder sicherte die Lieferfähigkeit auf absehbare Zeit. Der eurasische Doppelkontinent wurde von einem Pipelinenetz überzogen, das in seiner Bedeutung als Infrastruktursystem mit dem Eisenbahnnetz vergleichbar ist.19 Seit 1974 steht die Trans-Austria-Pipeline für den Erdgastransit aus der Sowjetunion durch Österreich nach Italien zur Verfügung.20 Weitere Transitleitungen nach Deutschland und Slowenien folgten. Ausgeförderte ukrainische Lagerstätten dienen ebenso wie ausgeförderte österreichische als unterirdische Erdgasspeicher. Im Gegensatz zu 459

georg rigele Straßen, Eisenbahnen, Kraftwerken und Hochspannungsleitungen ist das ErdgasVersorgungssystem weitgehend unsichtbar und seine Dimensionen und Bedeutung nicht spontan erfassbar. Nach der Jahrtausendwende ließen Interessengegensätze zwischen Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, besonders der seit 1991 unabhängigen Ukraine, die Versorgungssicherheit beeinträchtigt erscheinen. Kurzfristige Lieferunterbrechungen konnten bis dato ohne Schaden für die Gaskunden bewältigt werden. Während die Macht der Sowjetunion auf der militärischen Abschreckung beruhte und das Militär u. a. aus dem Erdgas-Export finanziert wurde, bildeten nach 1991 die Rohstoffe und besonders das Erdgas die Basis für den russischen Großmachtanspruch.21 Die europäische, österreichische und Wiener Energiepolitik setzt weiterhin auf Erdgas, weil es von den fossilen Energieträgern am umweltfreundlichsten ist. Mit der Schließung der Kohlegaserzeugung entfiel der Hauptgrund, den Heizwert des Erdgases technisch abzusenken. In den Jahren 1970–1978 stellten die Wiener Gaswerke ihr Netz auf Erdgas um. Die Umstellung von rund 780.000 Kundenanlagen in Wien und im niederösterreichischen Umland ermöglichte eine Leistungssteigerung des bestehenden Gasnetzes, weil der Heizwert von 4.600 auf 9600 kcal/m³ beim Erdgas angehoben wurde. Ohne Änderungen an den Hausleitungen konnten die Kunden/innen Geräte mit der doppelten Leistung anschließen. Die Auflassung der Spaltanlagen bedeutete einen zusätzlichen Rationalisierungseffekt. Den Kunden wurde die Umstellung durch Subventionen und Gerätetauschaktionen leichter gemacht. Der Gaspreis im Verhältnis zu Heizwert wurde bei der Umstellung nicht erhöht. Er betrug seit 1951 87 Groschen/m³. Nach einer Erhöhung des Heizwertes von 4.200 auf 4.600 kcal/m³ im Jahr 1958 wurde der Preis auf 94 Groschen erhöht, wobei der Preis lediglich dem Heizwert angepasst wurde. 1970 wurde die Preisbemessung von Volumen auf Wärmegehalt umgestellt, damit während der Umstellung auf reine Erdgasversorgung für Stadtgas und Erdgas der gleiche Preis verrechnet werden konnte, nämlich 20,43 Groschen pro 1.000 kcal, was nach wie vor dem Preis von 1951 entsprach.22 Die Preissteigerungen des sowjetischen Erdgases, die dem Ölpreisschock von 1973/74 folgten, beendeten allerdings auch für die Wiener Gaskunden/innen die Periode des konstanten bzw. in Relation zur Kaufkraft sogar sinkenden Preises. Mit der vollständigen Umstellung auf Erdgas hatten sich die Wiener Gaswerke vom Produktions-, Netz- und Vertriebsunternehmen zu einem Netz- und Vertriebsunternehmen gewandelt.23 Die Erdgas-Umstellung war eine technische und organisatorische Großleistung, die jedoch Probleme nach sich zog. Die Verbindungsmuffen der Hauptrohre wurden zunehmend undicht, weil die geteerten Hanfstricke, mit denen die Muffen der gusseisernen Rohre (Graugussrohre) gedichtet waren, unter dem Einfluss des Erdgases austrockneten. Die Alterung der Rohre und eine höhere mechanische Beanspruchung durch den Straßenverkehr führten zu einer Häufung 460

energie und verkehr in wien 1945–1995 von Rohrgebrechen. 1978–1982 investierten die Gaswerke zweieinhalb Milliarden Schilling in die Sanierung des Netzes.24 Die Gasometer als weithin sichtbare Zeichen des Kohlegaszeitalters blieben noch einige Jahre in Betrieb. Als industrielle Zweckbauten standen sie einfach da. Sie waren unübersehbar und wurden trotzdem wenig beachtet. Ihr Verschwinden war eine Zäsur in der Geschichte des Wiener Stadtbildes, die vermutlich nur während der Abbrucharbeiten bemerkt wurde. Bauwerke ähnlicher stiller Präsenz sind die im Zweiten Weltkrieg errichteten sechs Flaktürme. Bau, Stilllegung und Abbruch der Wiener Gasometer25

−− Simmering 1–4, Teleskopbehälter, erbaut 1898/1899, stillgelegt 1985/1986, gemauerte Außenhüllen blieben stehen, 1999–2001 neue Nutzung als Wohn-, Amts- und Geschäftskomplex (»Gasometer-City«) −− Simmering 5, erbaut 1908/09, stillgelegt 1980, abgebrochen 1982 −− Simmering 6, erbaut 1966/68, stillgelegt 1986, abgebrochen 1987 −− Leopoldau 1, erbaut 1911, stillgelegt 1985, abgebrochen 1986–1988 −− Leopoldau 2, erbaut 1929/30, stillgelegt 1984, abgebrochen 1984–1985 −− Baumgarten, erbaut 1934, abgebrochen 1984 −− Brigittenau, erbaut 1911, stillgelegt 1984, abgebrochen 1986/87 −− Baumgarten, erbaut 1934, stillgelegt 1982, abgebrochen 1983/84 −− Wienerberg (auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks), erbaut 1958/60, stillgelegt 1987, abgebrochen 1992 Das Fassungsvermögen der Gasometer reichte von 30.000 Kubikmetern (Baumgartner Gasbehälter) bis zu 300.000 Kubikmeter (Leopoldau 2, Wienerberg, Simmering 6). Die Höhe reichte von 56 Metern (Baumgarten) bis 103 Meter (Wienerberg). Mit diesen Ausmaßen waren die Gasometer wahrhaft mächtige Türme im noch weitgehend hochhauslosen Wien. Der Gasometer Wienerberg prägte vom Süden gesehen die Silhouette der Stadt. Die älteren Teleskopgasbehälter hatten deshalb gemauerte Ummantelungen erhalten, weil die Metallglocke und die teleskopartigen Behälterringe in einem Wasserbecken ruhten und die einzelnen Ringe mit Wasser gegeneinander abgedichtet waren. Das Wasser musste bei Frost geheizt werden. Die Ummantelungsmauern dienten als Wärmeisolierung. 1986 wurde ein 58 Kilometer langer Hochdruckleitungsring um Wien fertiggestellt, der die Gasometer überflüssig machte. Von der Ringleitung aus konnte an mehreren Stellen Gas in die Hauptrohre eingespeist werden. Gleichzeitig diente die Ringleitung selbst als Kurzzeitspeicher. Die noch vorhandenen Graugussrohre wurden zu einem immer größeren Sicherheitsrisiko, weil sich undichte Stellen häuften. 1984 bestand noch mehr als ein Drit461

georg rigele tel des Netzes aus Graugussrohren, die durch Stahlrohre und Rohre aus anderen Materialien ersetzt werden sollten. Ab 1985 standen moderne Kunststoffrohre aus pe (Polyethylen) zur Verfügung. Bei Sanierungsarbeiten an einem alten Hauptrohr auf dem Museumsplatz an der Zweierlinie kam es zu einer schweren Explosion, bei der ein Arbeiter starb. Bis 2000 wurden schließlich sämtliche Graugussrohre durch Stahl- und pe-Rohre ersetzt und damit das Netz vollständig saniert.26 Nach der Sanierung des Leitungsnetzes modernisierten die Gaswerke die Hauptübernahme- und Einspeisepunkte in den ehemaligen Gaswerken Leopoldau und Simmering. Im Jahr 2000 konnte die »Gas-Kernzone Leopoldau« eröffnet werden, 2001 die »Gas-Kernzone Simmering« mit dem Hauptlastverteiler bzw. Haupt-Dispatcher, von dem aus das gesamte Wiener Versorgungssystem gesteuert wird.27 Seit 1991 heißen die Gaswerke »Wiengas« bzw. »Wiengas Wiener Stadtwerke Gaswerke«. 1998 wurden die Stadtwerke reorganisiert und die Gaswerke in »Wiengas GmbH« umbenannt, 2003 in »Wien Energie Gasnetz GmbH«. Hintergrund der Reorganisation war das Inkrafttreten der eu-Erdgas-Binnenmarktrichtlinie, die die Gasnetze für alternative Lieferanten öffnete. Einzelne niederösterreichische Gemeinden, die von den Wiener Gaswerken beliefert wurden, wechselten ab 1989 zur ev n, für die günstigere Tarife sprachen. Da die Gasversorgung nicht dem Zweiten Verstaatlichungsgesetz unterliegt, können sich die von den Wiener Gaswerken versorgten Gemeinden frei entscheiden, ob sie zur ev n wechseln möchten, was z. B. die Stadt Klosterneuburg 1990 tat.28 2002 kam es zur »Österreichischen Gaslösung«  : Die Unternehmen omv, Wiengas, ev n, begas, oö Ferngas GmbH und Linz ag bündelten in der neu gegründeten Econgas GmbH die internationale Erdgas-Beschaffung, den Erdgashandel und das Großkundengeschäft. Die Econgas nahm ihre Geschäftstätigkeit 2003 auf. Anmerkungen zur Grafik 2 (siehe S. 463)  : Bei der Interpretation der Produktions- und Verbrauchszahlen sind die temperaturabhängigen, manchmal sehr starken jährlichen Schwankungen zu berücksichtigen. Der Gasverbrauch durch thermische Kraftwerke hängt auch von der Verfügbarkeit von Wasserkraft ab. Reichlich Niederschlag und warme Winter senken die Gasnachfrage. Der Kohleverbrauch ist der Rohstoff-Indikator für den klassischen Gaswerksbetrieb mit Kohleentgasung und Folgeprodukten wie Koks, Teer oder Benzol. Der Kohleeinsatz endete 1969 dank der ausreichenden Verfügbarkeit von importiertem Erdgas aus der Sowjetunion. Die Übergangsphase, in der an sogenannte Tarifabneh­ mer, d. h. Haushalte und Gewerbebetriebe, Stadtgas in Form von Spaltgas abgegeben wurde, dauerte bis 1978. Die in Kubikmetern sinkende Gasabgabe an Tarifkunden in den Siebzigerjahren ist auf die Erdgas-Umstellung zurückzuführen. Das 462

energie und verkehr in wien 1945–1995

Grafik 2 Gasversorgung durch die Wiener Gaswerke, 1939–2004 Erdgasabgabe gesamt  (strichliert)

Kohle in tausend Tonnen Gas in Mio m³ 2000

2000

1500

1500

1000

Erdgasbezug gesamt

Kohlebezug (helle  Linie)

Erdgasabgabe  E‐ Werke

1000

Stadtgas‐ und Erdgasabgabe  an Tarifabnehmer 500

500

Erdgasabgabe an  Sonderabnehmerer 0 1939

0 1944

1949

1954

1959

1964

1969

Gasversorgung durch die Wiener Gaswerke, 1939–2004 Quelle  : Statistisches Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg., Grafik  : Nikolaus Kirstein

Erdgas enthält rund doppelt so viel Energie wie Stadtgas. Die abgegebene Energie ist bei sinkendem Gasvolumen tatsächlich gestiegen. Nicht zuletzt aus Gründen des Umweltschutzes wurde der Öleinsatz in den Kraftwerken zugunsten von Erdgas verringert. Seit den späten Achtzigerjahren verbrauchen die Kraftwerke mehr Erdgas als die Tarifabnehmer. Die Abnehmerkategorien Gartenbau, Blockheizwerke und Heizwerke von Wohnhausanlagen und Betrieben wurden nicht in die Darstellung übernommen, daher ist die (nicht extra ausgewiesene) Summe von Tarifabnehmern, Sonderabnehmern und E-Werken kleiner als die gesamte Abgabe.

Strom Die Kommunalisierung und Elektrifizierung der Straßenbahnen war das Hauptmotiv für den Einstieg der Stadt in die Versorgung mit elektrischer Energie. In dieser 463

georg rigele Hinsicht gab es wenige Jahre später eine Analogie bei der Gründung des Niederösterreichischen Landes-Elektrizitätswerks. Dieses Unternehmen besorgte die Elekt­ ri­­fizierung der Mariazeller Bahn und belieferte die Industriestadt St. Pölten mit Strom. In weiterer Folge baute das Landes-Elektrizitätswerk ein Verteilnetz auf. Als das Wiener städtische Dampfkraftwerk Simmering im April 1902 die Stromproduktion aufnahm, wurden zunächst die fünf Unterstationen Landstraße, Mariahilf, Leopoldstadt, Rudolfsheim und Währing über 5-kV-Kabel mit Drehstrom beliefert, 1907 folgte Alsergrund und 1909 Floridsdorf. Einige Industriebetriebe im 10. und 20. Bezirk und in der damaligen südlichen Nachbargemeinde Atzgersdorf wurden direkt mit 5-kV-Drehstrom beliefert. In den ab 1925 als Unterwerke bezeichneten Unterstationen waren Motordynamos aufgestellt, die den Drehstrom in 550-V-Gleichstrom für die Straßenbahnen und 2 x 220-V-Gleichstrom für die allgemeine Stromversorgung im Verteilnetz umformten. 1922 begannen Quecksilberdampfgleichrichter, die geringere Umwandlungsverluste verursachen als rotierenden Umformer, diese zu ersetzen. Die Unterstationen bildeten die Netzknoten für das Verteilnetz zu den Stromverbrauchern.29 Unterwerke mit Umformeranlagen sind dort notwendig, wo das Stromsystem geändert werden muss, z. B. von Drehstrom auf Gleichstrom oder von Drehstrom auf Einphasen-Wechselstrom für die Eisenbahn. Im Drehstromsystem der öffentlichen Stromversorgung spricht man von Umspannwerken. Bis 1914 übernahm das Städtische E-Werk alle seit den 1880er-Jahren aktiven privaten Elektrizitätsversorger, die ihre Netze in unterschiedlichen Systemen ausgeführt hatten, darunter die Internationale Elektrizitätsgesellschaft mit dem Dampfkraftwerk Engerthstraße, das 1889 als ZweiphasenWechselstromkraftwerk errichtet wurde und an seine Kunden 110-V-Wechselstrom mit einer Frequenz von 42 Hertz abgab.30 Während die übrigen übernommenen Kraftwerke stillgelegt wurden, baute die Gemeinde Wien das Dampfkraftwerk Engerthstraße zum zweiten Großkraftwerk aus. Die Standardisierung der Netze, die sich zum Teil konkurrenzierend überlagert hatten, dauerte viele Jahre. In Teilen des 10. Bezirks wurde bereits 1902 an die Endkunden 3 x 220-V-Drehstrom abgegeben, 1905 wurde die Drehstromversorgung auf weitere Außenbezirke ausgedehnt. 1909 begann das städtische Elektrizitätswerk, mit dem ersten 28-kV-Kabel eine neue Hochspannungsebene aufzubauen, die die Leistungsfähigkeit des Übertragungsnetzes bzw. Trägernetzes steigerte und die Übertragungsverluste verringerte. Die folgende Ausweitung des Wiener Versorgungsgebiets auf das Umland hatte zwei mitauslösende Faktoren. 1912 kaufte das Wiener E-Werk den Braunkohletagbau in Zillingdorf, nahe Wiener Neustadt, und errichtete im nahen Ebenfurt ein »Onthe-pit«-Braunkohle-Dampfkraftwerk, das 1915/16 in Betrieb ging. Der Kohlebergbau wurde auf Neufeld a. d. Leitha ausgeweitet. 1915 wurde das Umspannwerk Süd (12 Bezirk, Pottendorferstraße) in Betrieb genommen, mit Übertragungslei464

energie und verkehr in wien 1945–1995 tungen von Simmering und Ebenfurth. Zweitens wurde die 1914 eröffnete elektrische Pressburger Bahn vom Kraftwerk Simmering aus mit Fahrstrom beliefert. In diesem Zusammenhang errichtete das Wiener E-Werk ein 16-kV-Überlandnetz, das die Gemeinden südlich der Donau versorgte. Die Anspeisung des wachsenden 16-kV-Überlandnetzes im Süden von Wien erfolgte vom Umspannwerk Süd aus. Ab 1921 wurde zudem die Badnerbahn mit Strom versorgt, wodurch das 1894 eröffnete Dampfkraftwerk in Baden-Leesdorf stillgelegt werden konnte. Nebenbei bemerkt fuhr die Badner Straßenbahn seit 1894 und die Straßenbahn Baden – Bad Vöslau seit 1895 elektrisch. 1907 wurde der durchgehende elektrische Betrieb von der Wiener Oper nach Baden, Josefsplatz, aufgenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Erschließung der inländischen Wasserkräfte für die österreichischen Elektrizitätsunternehmen vordringlich. Die Gemeinde Wien baute Wasserkraftwerke in Opponitz an der Ybbs und an der Zweiten Wiener Hochquellenleitung in Gresten in Niederösterreich, die 1924 und 1926 eröffnet wurden. Eine 110-kVÜbertragungsleitung von Opponitz und Gresten zum Umspannwerk Wien-Nord, die im Westen die Leitung vom oberösterreichischen Kraftwerk Partenstein aufnahm, war ein Kernstück des späteren gesamtösterreichischen Verbundnetzes. Das Gleiche gilt für die 1930 eingeschaltete 110-kV-Übertragungsleitung vom Umspannwerk Ternitz über Ebenfurth zum Umspannwerk Wien-Süd, die den Strombezug von den Wasserkraftwerken der steirischen Landesgesellschaft steweag ermöglichte.31 Den Leitungsabschnitt über den Semmering bis Ternitz betrieb die steweag. Diese Vorgeschichte soll zweierlei deutlich machen. Vor der Gründung der Alpen-Elektrowerke im ns-Staat und deren Überführung in den VerbundKonzern (d. h. die Österreichische Elektrizitätswirtschafts-ag und die Großkraftwerks-Sondergesellschaften) gemäß dem Zweiten Verstaatlichungsgesetz hatten die einzelnen Elekt­rizitätsunternehmen bereits Aufgaben der späteren Verbundgesellschaft erfüllt. Zweitens orientierte sich das Netzgebiet der Elektrizitätsversorger an wirtschaftlichen und technischen Faktoren, aber noch nicht an den politischadministrativen Grenzen von Ländern und Gemeinden.32 1941 schlossen das Wiener E-Werk und die damals als Gauwerke Niederdonau ag firmierende niederösterreichische Landes-Elektrizitätsgesellschaft newag einen Gebietsabgrenzungsvertrag, dem ein Vermögenstausch vorausgegangen war, bei dem Wien seine Anteile an der newag bzw. den Gauwerken abgab.33 Das Wiener E-Werk übernahm von der newag das im Norden im Marchfeld gelegene Versorgungsgebiet innerhalb der 1939 festgelegten Grenzen von »Groß-Wien«. Das Wiener E-Werk trat die im Umkreis der Pressburger Bahn gelegenen Anlagen bis Hainburg an die newag ab.34 Das südliche Wiener Becken blieb beim Wiener Versorgungsgebiet, was nach 1945 zu einem Dauerkonflikt zwischen Wien und Niederösterreich führen sollte. 465

georg rigele Die Inbetriebnahme eines 110-kV-Ölkabels vom Umspannwerk Nord (Floridsdorf) zum Kraftwerk Simmering und dem Umspannwerk Wien Süd im Jahr 1943 bedeutete durch die Erhöhung der Übertragungsleistung und die Verringerung der Übertragungsverluste einen technischen Quantensprung. Die Reorganisation der österreichischen Elektrizitätswirtschaft gemäß dem Zweiten Verstaatlichungsgesetz vom März 1947 bedeutete, dass alle länderübergreifenden Übertragungsleitungen an die Verbundgesellschaft (Österreichische Elektrizitätswirtschafts-ag) abgetreten werden mussten, d. h. das Wiener E-Werk musste die 110-kV-Leitungen aus Ternitz und Opponitz abgeben. In der Nachkriegszeit herrschte Strommangel, weil die Versorgung mit Kraftwerkskohle stockte und der Strombedarf gegenüber der Vorkriegszeit gestiegen war. 1949 brachte die 220-kV-Hochspannungsleitung Kaprun – Ernsthofen der Verbundgesellschaft mit Anschluss an die bereits bestehende 220-kV-Leitung nach Wien wesentliche Erleichterung. Im 1948 neu errichteten Umspannwerk Bisamberg der Verbundgesellschaft übernahmen die Wiener E-Werke den aus dem Verbundnetz gelieferten Strom, der für die Abdeckung der Lastspitzen dringend benötigt wurde. Die Fertigstellung des Hauptstufenkraftwerks in Kaprun mit der Limberg-Sperre 1951, die Inbetriebnahme des Umspannwerks Wien-West 1952 und die Vollendung eines 110-kV-Leitungsrings rund um Wien beendeten die Jahre der Stromknappheit.35 Die Stromspar-Appelle der Nachkriegszeit wurden von der Werbung für mehr Elektrogeräte und höheren Stromkonsum abgelöst. Die Systemvielfalt im Wiener Stromnetz war 1945 nach wie vor beträchtlich. Es gab abgesehen von den verschiedenen Spannungsebenen im Übertragungsnetz auf der Verbraucherseite drei verschiedenen Drehstrom-Systeme (3 x 380/220-V, 3 x 220-V, 3 x 110-V-Drehstrom), zwei verschiedene Wechselstrom-Systeme (2 x 110V, 110-V) und das 2 x 220-V-Gleichstromnetz. 1947 lieferten die Wiener E-Werke noch 42 Prozent der abgegebenen Energie in Form von Gleichstrom, wovon rund ein Drittel auf Bahnstrom für die Verkehrsbetriebe entfiel und der Rest auf das Lichtund Kraftnetz.36 Die technische Vereinheitlichung des Verteilnetzes war ein wichtiges Rationalisierungsziel und erhöhte zudem die betriebliche Sicherheit, weil jede System-Schnittstelle eine Quelle von Störungen sein konnte. Für die Stromkunden war es vorteilhaft, Standard-Elektrogeräte problemlos verwenden zu können. Die Anbieter von Elektrogeräten konnten billiger produzieren, wenn die Notwendigkeit von Systemvarianten ihrer Produkte wegfiel. In Haushalten mit Gleichstromanschlüssen konnten keine Elektrogeräte mit Transformatoren verwendet werden. Ein Bekannter des Autors bekam im Jahr 1955 als Elfjähriger nach einem Krankenhausaufenthalt von seinem Vater eine Modelleisenbahn der österreichischen Marke »Kleinbahn« geschenkt. Zu seiner Enttäuschung hatte die Lokomotive nur einen Uhrwerksantrieb. Erst als das Wohnhaus in der Neustiftgasse ein Jahr darauf auf 466

energie und verkehr in wien 1945–1995 Wechselstrom umgestellt wurde, konnte ein Trafo angeschlossen werden, und der Bub bekam die erste elektrische Lok, ein Modell der damaligen Paradeschnellzugslok der öbb, Baureihe 1010.37 Die Umstellung der Gleichstromnetze auf 220/380-VDrehstrom wurde 1965 abgeschlossen.38 Die thermischen Kraftwerke der Wiener Elektrizitätswerke sind seit der Gründung laufend erweitert und modernisiert worden. Das Kraftwerk Simmering wurde 1902 als kohlebefeuertes Dampfkraftwerk mit Kolbendampfmaschinen eröffnet und ist seither praktisch ununterbrochen erweitert und umgebaut worden. 1908 lief die erste Dampfturbine an. Jeweils im Abstand von wenigen Jahren folgten neue, stärkere Turbinen, die unter immer höherem Dampfdruck arbeiteten. Die Kesselanlagen wurden für verschiedene Brennstoffe eingerichtet. Als energietechnischer Superblock wurde im Jahr 2009 das neue Kraftwerk Simmering 1 in Betrieb genommen, ein kombiniertes Gas- und Dampfturbinenkraftwerk mit WärmeauskOpllung, das bei einer elektrischen Leistung von 700 mw rund 800.000 Haushalte und 7.000 Großkunden mit Strom, sowie mit einer thermischen Leistung von 450 mw rund 200.000 Haushalte mit Fernwärme versorgen kann. Das 1908 von der Internationalen Elektrizitätsgesellschaft übernommene Kraftwerk Engerthstraße wurde seit seiner Erstinbetriebnahme 1890 ebenfalls mehrfach erweitert und verbessert. Da seine zentrumsnahe Lage zunehmend problematisch wurde, legten es die Wiener E-Werke 1966 still. Der ehemals industriell geprägte Teil des 2. Bezirks an der Donau hat sich zum Wohngebiet gewandelt. Zwei weitere thermische Kraftwerke wurden in den Siebzigerjahren nördlich der Donau errichtet. Das Kraftwerk Donaustadt, bestehend aus zwei gleichen Blöcken, ging 1973 und 1975 in Betrieb. Die Ölversorgung erfolgt über eine Rohrleitung aus Schwechat via Simmering. Das Gasturbinenkraftwerk Leopoldau wurde 1974 auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks eröffnet. Es diente zunächst der Abdeckung von Spitzenlast und wurde 1988 zum Gas- und Dampf-Kombiblock mit Kraft-Wärme-Kupplung ausgebaut. Es kann im Vollbetrieb einen Gesamtwirkungsgrad von 86 Prozent erreichen, was für eine thermische Anlage ein hervorragender Wert ist.39 1979 führten die Wiener E-Werke eine neue höchste Spannungsebene ein. Das erste 380-kV-Kabel, zugleich das erste Kabel dieser Spannung in Österreich, verband das Kraftwerk Simmering mit dem Umspannwerk Kendlerstraße.40 1984 wurde es zum Umspannwerk Süd fortgesetzt, 1986 bis Inzersdorf. Von Inzersdorf führt eine 380-kV-Freileitung zum Umspannwerk Südost der Verbundgesellschaft, wo seit 1987 eine Einspeisemöglichkeit mit 380 kV aus dem Verbundnetz besteht.41 Auf einen Mast dieser Leitung wurde 1995 im Gemeindegebiet von Ebergassing ein Sprengstoffanschlag mit linksterroristischem Hintergrund verübt. Der Mast wurde nur leicht beschädigt, weil einer der Sprengsätze vorzeitig detonierte. Die beiden Attentäter wurden dabei getötet.42 467

georg rigele

Tabelle 2  : Brennstoffverbrauch der Wiener Elektrizitätswerke (Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg.) Jahr

Steinkohle (t)

Braunkohle (t)

Heizöl (t)

Erdgas (1000m³)

1950

 62.571

202.976

k.A.

k.A.

1951

 17.841

228.276

 42.163

 91.214

1955

 46.056

185.747

 28.829

222.455

1960

 39.141

113.550

 15.718

296.384

1965

169.305

  5.733

122.415

148.101

1968

177.401

0

258.514

146.278

1970

79.398

0

133.895

439.415

1975

0

0

255.568

458.223

1980

0

0

550.725

255.304

1985

0

0

85.877

673.695

1990

0

0

139.815

844.288

1995

0

0

102.460

793.667

1998

0

0

177.106

836.362

2000

0

0

 21.902

844.684

Bei der Interpretation des Brennstoffverbrauchs der thermischen Kraftwerke ist zu beachten, dass es Schwankungen in der Lagerhaltung gibt und die Verfügbarkeit von Wasserkraft je nach Wasserdargebot beträchtlich schwanken kann. Der einzige Vorzug der Braunkohle bestand darin, dass sie im Inland gefördert wurde. Ihr geringer Heizwert bedingte hohe Transportkosten und ihr hoher Schadstoffgehalt belastete die Luft. »Atomkr aft nein danke«  : Dem größten und unverschuldeten finanziellen Debakel der österreichischen Elektrizitätswirtschaft entgingen die Wiener E-Werke, weil sie sich nicht am Kernkraftwerk Zwentendorf bzw. der Gemeinschaftskraftwerk Tullnerfeld GmbH beteiligt hatten.43 Die Wiener E-Werke hätten die Kapazitäten aus einer eventuellen Beteiligung an Zwentendorf bereits einige Jahre vor der geplanten Fertigstellung benötigt und investierten daher in das Kraftwerk Donaustadt.44 Das nach der Zwentendorf-Volksabstimmung vom 5. November 1978 verabschiedete Atomsperrgesetz erließ ein generelles Verbot der Nutzung von Kernenergie in Österreich.45 Am geplanten zweiten Kernkraftwerk, dem Akw Stein-St. Pantaleon bei Enns an der Donau, war Wien beteiligt. Der Bau hatte noch nicht begonnen und der bereits erworbene Nuklearbrennstoff konnte ohne Verlust weiterverkauft werden.46 468

energie und verkehr in wien 1945–1995

Grafik 3 Stromversorgung durch die Wiener Elektrizitätswerke, 1939‐2005 Erzeugung und Abgabe in GWh

12000

Gesamtverbrauch 10000

8000

Fremdstrombezug

6000

Verkauf 4000

Wasserkraftwerke

2000

Wärmekraftwerke 0 1939

1944

1949

1954

1959

1964

1969

1974

1979

1984

1989

1994

1999

2004

Stromversorgung durch die Wiener Elektrizitätswerke, 1939–2005 Quelle  : Statistische Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg. Grafik  : Nikolaus Kirstein

Anmerkungen zu Grafik 3  : Die Eigenerzeugung aus Wasserkraft blieb bis 1983 auf der 1926 erreichten Schwankungsbreite konstant. 1984 wurde die Beteiligung der Wiener E-Werke am Donaukraftwerk Greifenstein wirksam, 1998 die am Donaukraftwerk Freudenau.47 Seit 1941 beziehen die Wiener E-Werke Strom von den Alpen-Elektrowerken, die 1947 von der Verbundgesellschaft abgelöst wurden. Der Schwerpunkt der eigenen Erzeugung der Wiener E-Werke ist seit jeher auf den thermischen Kraftwerken gelegen. Aufgrund der Kriegszerstörungen und des Kohlemangels dauerte es bis 1954, um die bis dahin höchste Produktion von 1943 zu übertreffen. Die erste neue Hochdruckanlage ging in zwei Etappen 1952 und 1955 in Betrieb. Dann ging das Wachstum bis in die Gegenwart weiter. Der Fremdstrombezug setzt sich überwiegend aus Wasserkraftstrom der Verbundgesellschaft zusammen, enthält aber auch Stromlieferanten wie die Raffinerie Schwechat der ömv. Die Geschichte der Elektrizitäts-Anwendung und der Ursachen für die hohen Zuwächse beim Stromkonsum kann an dieser Stelle nicht bearbeitet werden. Am An469

georg rigele fang standen das elektrische Licht und die »Elektrische«, die Straßenbahn. Neben neuen Anwendungen in den Bereichen der Haushalts-, Medien- und Informationstechnik spielte auch die Substitution anderer Energieträger durch Elektrizität beim Heizen, Kühlen und der Warmwasseraufbereitung eine große Rolle für den Anstieg des Strombedarfs. Aus Umweltgründen umstritten ist in jüngerer Zeit der Mehrverbrauch für Klimaanlagen, die auch in Privathaushalten vermehrt genutzt werden. Österreich trat mit 1. Jänner 1995 der Europäischen Union bei. 1996 wurde die Europäische Binnenmarktrichtlinie für leitungsgebundene Energie beschlossen, die die bisherigen Strom- und Gasversorgungssysteme revolutionierte, weil die Einheit von Produktion, Netz und Vertrieb aufgebrochen wurde. Die Energieversorger mussten ihre Netze für andere Anbieter öffnen und die integrierten Unternehmen in getrennte Gesellschaften auflösen (Legal Unbundling). Der österreichische Strommarkt ist seit Oktober 2001 vollständig geöffnet, der Gasmarkt seit Oktober 2002. Die Wiener Stadtwerke mit den Gaswerken, Elektrizitätswerken und Verkehrsbetrieben (und der Städtischen Bestattung sowie den Heizbetrieben Wien) wurden ab 1998 in einen Konzern umgewandelt, der von der Wiener Stadtwerke Holding ag gesteuert wird. Alleinaktionär ist die Stadt Wien. Die Verkehrsbetriebe wurden zu den Wiener Linien GmbH & Co KG, die Gaswerke, Elektrizitätswerke und Fernwärme firmieren seit 2001 unter dem Dach der Wien Energie GmbH. Ein großer Schritt war 1998 die Gründung der EnergieAllianz Austria GmbH gemeinsam mit der niederösterreichischen ev n (und in weiterer Folge der burgenländischen bewag). Die beteiligten Unternehmen verlegten das Großkunden-Stromgeschäft in die EnergieAllianz und beendeten angesichts der bevorstehenden Marktöffnung ihren jahrzehntelangen Rechtsstreit um die Versorgung der Wiener Umlandgemeinden durch Anerkennung des Status quo. Analog dazu beteiligte sich die Stadtwerke Holding an der EconGas GmbH, die unter Führung der omv (die omv hält 50 Prozent) seit 2003 für das Großkundengeschäft und den internationalen Einkauf und Handel mit Erdgas zuständig ist. Die Wiener Stadtwerke Holding leitet einen Konzern, der 2009 insgesamt 93 Tochterunternehmen und Unternehmensbeteiligungen zählte.48

Öl Die österreichische Erdölindustrie war seit den Dreißigerjahren stark von ausländischen Interessen geprägt. Während der ns-Herrschaft wurde die kriegswichtige Ölindustrie Teil der deutschen Rüstungswirtschaft. Als solchen beschlagnahmte die Sowjetunion die meisten Raffinerien und Förderanlagen. Im Oktober 1945 grün470

energie und verkehr in wien 1945–1995 deten die Sowjets die Sowjetische Mineralölverwaltung smv, in der das gesamte deutsche Erdölvermögen in Österreich zusammengefasst war. Die smv erschloss das größte Weinviertler Ölfeld Matzen, wo die Förderung 1949 begann und 1955 die Höchstmenge erreichte. Die smv nahm dabei keine Rücksicht auf die langfristige Ergiebigkeit der Lagerstätte. Die Bestrebungen der Regierung Renner, die Ölindustrie zu verstaatlichen, scheiterten am Anspruch der Sowjetunion, das Erdöl als Kriegsbeute bzw. Reparationsgut auszubeuten. Das Verstaatlichungsgesetz vom Juli 1946 konnte diesbezüglich erst nach Abschluss des Staatsvertrages umgesetzt werden. Am 13. August 1955 gingen die smv-Betriebe ins Eigentum der Republik Österreich über, die den staatlichen Ölkonzern ömv, Österreichische Mineralölverwaltung ag, gründete. Die Ansprüche der westlichen Ölgesellschaften wurden erst 1960 endgültig geregelt.49 Mit Shell und Mobil, die ihre Verarbeitungsbetriebe in Floridsdorf und Kagran weiter betrieben, wurde die Vereinbarung geschlossen, dass den österreichischen Tochterunternehmen der internationalen Ölkonzerne für zehn Jahre der Vertrieb der Raffinerieprodukte vorbehalten war. Noch während qualitativ hochwertiges Matzener Rohöl gemäß den Bestimmungen des Staatsvertrags an die Sowjetunion geliefert wurde, begannen Gegenlieferungen von sowjetischem Öl nach Österreich, weil die Inlandsförderung den Bedarf von Industrie, Verkehr und Haushalten nicht mehr decken konnte.50 Bis 1945 waren im Wiener Raum sieben Raffinerien aktiv, die alle Ziel von Bombenangriffen waren.51 −− Raffinerie Floridsdorf, 1864 als erste Raffinerie auf dem Gebiet der heutigen Republik gegründet52, 1923 Beteiligung der Royal Dutch Shell, 1929 vollständige Übernahme als Aktiengesellschaft der Shell-Floridsdorfer Mineralölfabrik, stillgelegt 1970 −− Raffinerie Schwechat, Nova Öl- und Brennstoff ag, Februar 1938 Beginn der Rohölverarbeitung53, Neubau ab 1958 −− Raffinerie und Ölhafen Lobau, 1941 Beginn der Destillation von Rohöl, das per Pipeline aus Zistersdorf geliefert wurde, 1944 durch Bomben zu mehr als 80 Prozent zerstört, smv, 1955–1960 an ömv verpachtet, Raffinerie stillgelegt, Öllager weiter betrieben54 −− Raffinerie Moosbierbaum (westlich von Tulln), Betriebsbeginn 1942, smv, omv, stillgelegt 1960 −− Raffinerie Kagran, 1904 errichtet, Vacuum Oil Company, Mobil Oil, stillgelegt 1970 −− Raffinerie Vösendorf, Austria Petroleum ag 1925, stillgelegt 1958 −− Raffinerie Korneuburg, 1926/27 erbaut, smv, ömv, stillgelegt 1961 471

georg rigele Die sowjetische Besatzungsmacht übernahm 1945 die Raffinerien Schwechat, Lobau, Moosbierbaum, Korneuburg und Vösendorf. Die Raffinerie Schwechat hatte die Produktion weniger als einen Monat lang, von 5. April bis 1. Mai 1945, unterbrochen. Die Rohöldestillation wurde dann rasch wieder hochgefahren und weiter ausgebaut. Die Rohölversorgung erfolgte zunächst durch Tankschiffe über die Donau und ab 1946 durch Rohrleitungen vom Öllager Lobau, das die smv zum Zent­ raltanklager für das im Weinviertel geförderte Rohöl ausbaute. Auch in den anderen Raffinerien wurde die Produktion wieder in Gang gesetzt.55 Der stark steigende Bedarf an Erdölprodukten und die Unwirtschaftlichkeit der Aufteilung auf mehrere Raffineriestandorte führten zum Entschluss, eine neue Großraffinerie zu bauen, für die zwei Standorte, nämlich Lobau und Schwechat, infrage kamen. Die Entscheidung für Schwechat fiel auf Grundlage eines Gutachtens56 und wurde durch die gute Zusammenarbeit der ömv mit der Stadt Schwechat begünstigt. Die neue Raffinerie mit einem eigenen Heizkraftwerks wurde 1958–1960 erbaut und seither kontinuierlich erweitert und modernisiert. Die Entscheidung, die Raffinerie Schwechat zur Großraffinerie der ömv auszubauen, hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Entscheidung für den Flughafenausbau, wo der gesamte Linienflugverkehr von und ab Wien auf den Flughafen Wien-Schwechat konzentriert wurde. Die übrigen Raffinerien der ömv wurden bis 1961 stillgelegt, die privaten Raffinerien Floridsdorf und Kagran 1970. Sicherheitsbedenken wegen der Nähe von Flughafen und Raffinerie waren für die beiden Projekte kein Hindernis. Die Anlieferung von importiertem Rohöl ist seit 1970 durch die Adria-WienPipeline möglich, die gegenüber dem Bahntransport und der Donauschifffahrt wirtschaftlicher und sicherer ist. Das Öl wird im Hafen Triest entladen und durch die Pipeline Triest–Ingolstadt über eine Abzweigung in Würmlach, Kärnten, nach Schwechat gepumpt.57 Die Hochkonjunktur der frühen Siebzigerjahre und die Abkehr von der Kohle als Primärenergierohstoff führten zu einem sprunghaften Anstieg der Rohölverarbeitung in Schwechat von rund vier Millionen Tonnen pro Jahr Ende der Sechzigerjahre auf mehr als die doppelte Menge 1973. Drei Viertel dieser Menge wurden importiert. Am 1. Jänner 1973 kostete ein Barrel der Sorte ArabianLight 3,01 Dollar. Die weltpolitischen Folgen des ägyptisch-syrischen Angriffs auf Israel zu Jom Kippur am 6. Oktober 1973 und die Macht des opec-Ölkartells führten zur Ölkrise 1973/74 mit Lieferengpässen und einem Preissprung. Bis 1. Jänner 1974 hatte sich der Preis auf 10,64 Dollar mehr als verdreifacht. Der zweite Ölpreisschock 1979/80 endete mit einer weiteren Verdreifachung des Rohölpreises. Damit war die Zeit des »billigen« Öls zu Ende, aber noch lange nicht das »Erdölzeitalter«. 1965 verkaufte die Republik Österreich ihre Anteile an den Vertriebsgesellschaften Martha und örop an die ömv, die dadurch ins Tankstellengeschäft einsteigen konnte. örop hatte allerdings ein aus der Besatzungszeit herrührendes schlechtes 472

energie und verkehr in wien 1945–1995 Image als »Russenmarke«, weil die smv bis 1955 örop-Tankstellen belieferte. Die ömv besaß eine Lizenz für den Markennamen ar al und erwarb 1968 die Rechte für die Marke elan. Das örop-Tankstellennetz erhielt das neue Label elan. Unter dieser Marke konnte die ömv ihren Marktanteil im Tankstellengeschäft steigern.58 1990 ersetzte die Tankstellenmarke ömv die Marke elan. Auf die generelle Geschichte der Treibstoffversorgung, die Geschichte der Tankstellen, der Autowerkstätten und des Autohandels kann in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht eingegangen werden, obwohl diese Themen für die Verkehrsgeschichte und die Geschichte der Energieversorgung sowie für die Sozialgeschichte des Autofahrens relevant wären. Die ömv wurde in mehreren Schritten mehrheitlich privatisiert. In einem ersten Privatisierungsschritt wurden 1987 15 Prozent des Grundkapitals der ömv an die Börse gebracht. Bis 1994 sank der Staatsanteil unter fünfzig Prozent. In diesem Jahr erwarb die ipic, Abu Dhabi, zwanzig Prozent ömv-Aktien. Der Anteil der Staatsholding öiag beträgt 2010 31,5 Prozent. Die Namensänderung auf omv erfolgte 1995 mit Rücksicht auf den Internationalen Kapitalmarkt, weil im Englischen keine Umlaute gebräuchlich sind. Der Verbrauch von Heizöl nahm bis um 1980 zu, danach wurde das weniger umweltfreundliche Öl in der Raumheizung, der Stromerzeugung und in der gewerblich-industriellen Produktion mehr und mehr durch Erdgas substituiert. Bei der Verbrennung von Erdgas entstehen kaum Schadstoffe, und auch der co 2-Ausstoß ist, gemessen an der Energieausbeute, geringer als bei allen anderen fossilen Brennstoffen. Das wieder populär gewordene Brennmaterial Holz wird als nachwachsende Biomasse in den co 2-Bilanzen zwar als co 2-neutral (»klimaneutral«) gerechnet, ist vom Schadstoffgehalt her aber mit Braunkohle zu vergleichen und daher ein wenig umweltfreundliches Brennmaterial. Während die Energieeffizienz der Industrie und der Elektrizitätserzeugung immer besser wird, steigt der Verbrauch von Benzin und Diesel im Straßenverkehr ungebrochen. Der Straßenverkehr ist die Achillesferse der österreichischen co 2-Bilanz. Seit 1984 gibt es in Österreich bleifreies Benzin zu kaufen, 1987/88 wurde die Katalysatorpflicht eingeführt, die das Abgasproblem bei Autos gelöst hätte, wäre es nicht zum Dieselboom gekommen, auf den die Umweltpolitik erst mit großer Verspätung reagierte. Die Einführung von Partikelfiltern, die Peugeot-Citroën 2000 erstmals auf den Markt brachte und die gegen Ende des Jahrzehnts zum Standard wurden, machte die Dieselflotte langsam sauberer. Die Versorgungssysteme für Wasser, Strom, Gas, Erdölprodukte, Fernwärme und Telekommunikation wurden im Laufe der Jahrzehnte immer stärker integriert und können zunehmend als ein technisches Gesamtversorgungssystem verstanden werden. Durch die Kraftwerke an der ii. Hochquellenwasserleitung entstanden 1912/14 in Wien und 1926 in Gaming, Niederösterreich, Schnittstellen zwischen Strom473

georg rigele und Wasserversorgung. Die Umstellung der Gasversorgung auf Erdgas ermöglichte einen Verbundbetrieb zwischen Gaswerken und E-Werken, bei dem die E-Werke ihren Brennstoffeinsatz auf den saisonalen Grad der Verfügbarkeit des Erdgases abstimmten. Die entsprechende Querverbund-Vereinbarung wurde 1970 abgeschlossen.59 Die Fernwärmeversorgung wurde in den Siebzigerjahren ausgehend von der Müllverbrennungsanlage Spittelau aufgebaut. Strom, Gas, Wärme und Abfallentsorgung sind mittlerweile voll integriert. Dabei ermöglicht die Verbindung von thermischen Kraftwerken und Wärmeversorgung über die Kraft-Wärme-Kopplung der Kraftwerke eine optimale Nutzung der Primärenergie. Die seit den späten Achtzigerjahren verfügbaren Abgasreinigungstechniken haben der Müllverbrennung den Makel der Umweltschädlichkeit genommen. Die omv-Raffinerie Schwechat verfügt über ein leistungsfähiges Heizkraftwerk, das seit 1980 sowohl mit dem Wiener E-Werk und Fernwärmesystem verbunden ist als auch den Flughafen mit Wärme beliefert.60 Die starke Verknüpfung der Versorgungssysteme hat neben dem Effizienzgewinn ihre Sicherheit und Krisenfestigkeit erhöht.

Verkehr Die Ausgaben des Statistischen Jahrbuchs der Stadt Wien nach 1945 geben über verschiedene Arten von Verkehr Auskunft und schließen auch Post und Telekommunikation ein. Statistisch erfasst wurden u. a. der Postverkehr (Briefe, Pakete, Postfinanzdienstleistungen, Rohrpost, Flugpost), der Telegraphenverkehr (Telegraphen in Postämtern, Fernschreiben), der Fernsprechverkehr, die Eisenbahn (Personen- und Güterverkehr, Schnellbahn, Lokalbahnen), Straßenbahn, Stadtbahn, U-Bahn und Linienbusse (Städtische Linienbusse, Postbus, öbb-Busse, privater Linienverkehr), der nicht motorisierte Individualverkehr und der motorisierte Individualverkehr, die Lkw, Busse und sonstigen Straßenfahrzeuge, der Fremdenverkehr, die Luftfahrt und die Schifffahrt. Die Aufzählung der amtlich erfassten Verkehre macht deutlich, dass das Thema sehr viele Bereiche umfasst, die funktional eng verknüpft sind, wenn man beispielsweise an den Versandhandel denkt, wo Post und Telekommunikation – heute das Internet – mit dem Güterverkehr verknüpft sind. Der vorliegende Beitrag wird sich auf den Schienen- und Straßenverkehr konzentrieren, die Luftfahrt und Schifffahrt streifen, die Post und Telekommunikation sowie den Fremdenverkehr hingegen nicht behandeln. Auch der Fußgängerverkehr und der Fahrradverkehr sind für das Stadtleben und die Lebensqualität überaus wichtig, werden im vorliegenden Beitrag aber aus Platzgründen nicht als eigene Themen bearbeitet. 474

energie und verkehr in wien 1945–1995

Abb.2: Die Shopping City Süd im Eröffnungsjahr 1976. Foto  : Lichtbildstelle NEWAG-NIOGAS, Inzinger/EVN Archiv

Stadtr aum und Stadtgrenzen 61 »Wiens funktionale Grenzen bei Nahrungsmitteln und Energieträgern reichen bis Mittelamerika und den Nahen Osten. Die funktionale Grenze des Arbeitskräfteund Wohnungsmarktes wird durch einen Verkehrsverbund »Ost-Region«, der bis ins Burgenland und ins Waldviertel reicht, nachvollzogen. Es wäre daher auch kaum möglich und sinnvoll, Stadtgrenzen auf »materieller«, funktionaler Basis neu zu ziehen. Es wäre aber genauso wenig sinnvoll, über Geschichte und Zukunft der Stadt und deren ökologische Herausforderungen nachzudenken, ohne ihre administrativen Grenzen zu überschreiten.«62 Die Ausdehnung des Stadtraums ist also nicht fix, sondern abhängig vom jeweiligen Bezugspunkt. Einen pragmatischen Anhaltspunkt bietet der »Städteatlas Großraum Wien« von Freytag & Berndt. Wenn man verschiedene Jahrgänge des blauen Buchplans zur Hand nimmt, kann man aus der Erweiterung des Umfangs auf das 475

georg rigele Wachstum der Stadtregion schließen. Das erfasste Gebiet in der Ausgabe von 1988/89 reichte im Norden bis Korneuburg und im Süden bis Guntramsdorf, während der Buchplan 2008 im Norden das Gebiet zwischen Stockerau und Wolkersdorf einbezog und die Gemeinden entlang der Südbahn bis einschließlich Wiener Neustadt. Darüber hinaus enthält die 2008er-Ausgabe Exklaven wie Mistelbach oder Ternitz, die außerhalb des kompakten Kartenbildes liegen.63 Der Buchplan ist für das Handschuhfach eines Autos gedacht. Für Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel würde der gedachte Großraum Wien anders aussehen. Er bestünde aus Bändern entlang der Schnellbahnachsen, die bereits 1962 Gänserndorf und Stockerau erreicht hatten. Der Architekt und Wiener Stadtplaner Wilhelm Kainrath (1939–1986), ein Verfechter des Bandstadtkonzepts, formulierte 1980 eine bis heute unbeantwortete Frage  : »Wie würde sich Wien entwickeln, wenn wir nicht wie gebannt auf die Stadt- und Landesgrenzen starren müssten, wenn wir nicht schon in unseren tiefsten Planerträumen von der wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz zwischen Wien und Niederösterreich verfolgt würden  ? Na, wir würden natürlich völlig anders planen.«64 Die administrativen Stadtgrenzen wurden nach der nationalsozialistischen Stadterweiterung von 1938 im Jahr 1954 schließlich zum Großteil wieder zurückgenommen. Die bereits 1946 geplante Gebietsänderung wurde damals durch ein Veto des Alliierten Rats gestoppt. Vergrößert blieb Wien gegenüber 1938 im Süden mit dem neuen 23. Bezirk Liesing und jenseits der Donau, wo aus der erweiterten südlichen Hälfte von Floridsdorf der neue 22. Bezirk Donaustadt gebildet wurde. Der weltpolitische Ost-West-Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg rückte Wien aus dem Zentrum Mitteleuropas an den Rand der westlichen Hemisphäre. 1978 stellte der Stadtplaner Georg Kotyza fest  : »Wien als Hauptstadt eines neutralen Staates befindet sich in einer extremen Randlage in Bezug auf die europäischen Staaten unseres Gesellschaftssystems und deren Wirtschaftsräume.«65 Das Bedrückende an Kotyzas Befund war, dass in dieser Zeit wohl kaum jemand damit gerechnet hatte, dass sich die Grenzen zu den Ländern im Machtbereich der Sowjetunion je öffnen würden. Die SolidarnośćBewegung und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 wurden nicht als Anfang vom Ende des realen Sozialismus verstanden. Die polnischen Flüchtlinge wurden in Österreich eher reserviert aufgenommen und als Billigarbeiter ausgebeutet. Einer der wenigen, der auf vielen Reisen und mit großem persönlichem Einsatz Oppositionelle und Bürgerrechtsaktivisten in Osteuropa unterstützte, war der övp-Politiker Erhard Busek, während etwa ögb-Präsident Anton Benya nicht einmal bereit war, die Solidarność als gleichberechtigte Gewerkschaft anzuerkennen. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 weckte Österreich aus dem Rollenmuster einer selbst zugeschriebenen Mittlerfunktion zwischen Ost und West. Die österreichische Außenpolitik fokussierte sich auf den eu-Beitritt, für den bei der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler stimmten.66 476

energie und verkehr in wien 1945–1995 Mit dem eu-Beitritt der ehemals sozialistischen Nachbarländer Slowenien, Ungarn, Slowakei und Tschechien sowie des quasi Nachbarlandes Polen am 1. Mai 2004 hatte Österreich endgültig wieder eine offene Lage in Europa zurückgewonnen. Auf die neuen eu-Mitglieder wirkte es höchst befremdlich, dass Österreich weiterhin Soldaten an der »Ostgrenze« patrouillieren ließ, sogar auch noch nach deren Eintritt in den Schengen-Raum Ende 2007 und dem damit verbundenen Wegfall der Grenzkontrollen. Die Abschottung des Arbeitsmarktes bis zum letztmöglichen Zeitpunkt wurde zu Recht als Unfreundlichkeit wahrgenommen. Die durch das Ende der »extremen Randlage« gewonnene Freiheit führte auch zu Angst und Unsicherheit, die politische Hasardeure und Demagogen für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. Die Grenzen im Kopf erweisen sich als zählebig, mitunter wurden mentale Grenzen neu aufgebaut, als die materiellen fielen.

Donau, Brücken, Schifffahrt, Hafen 67 Im Vergleich zu Linz, Budapest, Pressburg/Bratislava oder Belgrad lag Wien von der Donau abgewandt. Die 1962 eröffnete Schnellbahn, die Uno-City, die Donauinsel und die U1 (1982) haben die 1904 bzw. 1938/1954 eingemeindeten Stadtteile nördlich der Donau enger mit dem älteren Wien verbunden. Vielleicht hätten die Habsburger ihr Sommerschloss in Kagran oder am Bisamberg statt in Schönbrunn bauen sollen, um aus Wien eine Stadt an der Donau zu machen. So liegt das historische Wien am Donaukanal, jenem südwestlichen Seitenarm, der sich am ehesten regulieren ließ. Die Donau durchfließt Länder und Gebiete, die von der wirtschaftlichen Dynamik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht alle strukturell profitiert haben. Der Kontrast zwischen Süddeutschland mit seinen Hochtechnologie-Weltkonzernen und den immer noch vom Kommunismus gezeichneten Regionen Bulgariens und Rumäniens könnte kaum größer sein. Christian Reder, Mitherausgeber einer Monografie über die Donau, wies auf das eigenartige Zusammenfallen der Stromkilometer in Wien mit markanten Jahreszahlen hin. (Die Zählung beginnt mit dem Stromkilometer Null an der Mündung ins Schwarze Meer.) Die Wiener Reichsbrücke steht bei Stromkilometer 1929, der nördliche Stadtteil Nußdorf liegt bei Stromkilometer 1934, unweit des 1934 beschossenen Karl-Marx-Hofs.68. Dieser numerische Zufall erinnert an die Krisen Österreichs und der Donauländer. Kriege, Naturereignisse und technische Unglücksfälle haben die Donau immer wieder auf längere Zeit unterbrochen. Zu den extremen Naturereignissen des 20. Jahrhunderts zählten der große Eisstoß von 1929 und das Hochwasser von 1954, das die Kaianlagen und Teile des 2. und 20. Bezirks überschwemmte. 477

georg rigele Eingestürzte Brücken unterbrachen die Donau mehrmals. 1945 wurden die Stadlauer Brücke, die Floridsdorfer Brücke und die Nordbahn- und die Nordwestbahnbrücke zerstört sowie die Tullner Donaubrücke, wodurch sowohl der Eisenbahnverkehr als auch die Donauschifffahrt unterbrochen waren. Im Kosovo-Krieg von 1999 bombardierte die nato die Donaubrücke von Novi Sad in Serbien. Die Brückentrümmer und später eine behelfsmäßige Pontonbrücke unterbrachen die Schifffahrt auf Jahre. Ein Teil des Güterverkehrs wurde von der Bahn übernommen. Erst 2005, nach Fertigstellung einer neuen Brücke, war die Donau wieder frei. Die Interessen der Schifffahrt waren nicht stark genug, um eine raschere Öffnung zu erwirken. Ein in Friedenszeiten höchst ungewöhnliches Ereignis war der Einsturz der ­Wiener Reichsbrücke am frühen Morgen des 1. August 1976. Der Einsturz der 1937 eröffneten Kettenbrücke, die das Stadtbild wie der Stephansdom und das Riesenrad geprägt hatte, war auf Konstruktionsmängel zurückzuführen. Ein Lieferwagenfahrer verlor das Leben. Sofort wurden die anderen Brücken eingehend untersucht mit dem Ergebnis, dass die Floridsdorfer Brücke aus Sicherheitsgründen gesperrt werden musste. Daraufhin schlug die große Stunde der Wiener Schnellbahn, die den Großteil der ausgefallenen Straßenbahn-Kapazitäten übernahm und den Autoverkehr, dem nur noch die Nord- und die Praterbrücke zur Verfügung stand, entlastete. Zusätzlich wurde der über die Stadlauer Brücke fahrende »Stadlauer Pendler« verstärkt und als S80 ins Schnellbahnnetz übernommen. Der Straßenbahnverkehr über die Floridsdorfer Brücke wurde nach einer Verlegung der Gleise auf die stabilere Seite wieder aufgenommen. Für die über die Reichsbrücke führenden Straßenbahnlinien B, Bk, 25 und 26 bauten Pioniere des Bundesheeres eine Ersatzbrücke, die im Oktober eröffnet wurde. Kurz vor Weihnachten 1976 stand auch eine zweispurige Ersatzbrücke für den Autoverkehr zur Verfügung. Bis zur Beseitigung der Trümmer der Reichsbrücke konnten einzelne Schiffe über den Donaukanal ausweichen, der allerdings für mehrteilige Schlepp- und Schubverbände ungeeignet war. Paradoxerweise führte der Reichsbrückeneinsturz nicht zum Rücktritt von Bürgermeister Leopold Gratz, dem die Parteigremien der spö den Rücken stärkten, sondern es musste der Wiener övpObmann Franz-Josef Bauer gehen, weil er die Situation nicht zugunsten seiner Partei zu nutzen verstanden hatte. Zum neuen Wiener övp-Obmann wurde Erhard Busek gewählt. Der Reichbrückeneinsturz führte zu zusätzlichen Ausbaumaßnahmen der Verkehrsinfrastruktur. Beim Bau der 1980 eröffneten neuen Reichsbrücke wurde die U-Bahn im Tragwerk mitberücksichtigt. Die Verlängerung der U1 vom Praterstern über die Reichsbrücke nach Kagran wurde 1982 eröffnet. Als zusätzliche Straßenbrücke wurde stromabwärts von der Nordbahnbrücke die Brigittenauer Brücke gebaut (eröffnet 1982). Die geplant gewesene, zur Brigittenauer Brücke führende Stadtautobahn durch den 20. Bezirk blieb aufgrund von Bürgerprotesten unausgeführt. Weitere Brücken entstanden im Zusammenhang mit dem Bau der U6 nach Floridsdsdorf 478

energie und verkehr in wien 1945–1995 (U-Bahn-Brücke neben der Nordbahnbrücke), dem Bau des Donaukraftwerks Freudenau (Schrägseilbrücke stromauf von der Praterbrücke, seit 2010 als Brücke für die U2) und der Sanierung der Nordbrücke (zweispurige Straßenbrücke, reserviert für den nicht motorisierten Verkehr und Einsatzfahrzeuge). Von den großen Kanalprojekten, die die Donau mit anderen Wasserstraßen verbinden sollten, wurde der Rhein-Main-Donau-Kanal zwischen Bamberg und Kelheim realisiert und 1992 eröffnet. Der Aufschwung der Donauschifffahrt erreichte unter anderem wegen des Jugoslawien-Konflikts nicht das erhoffte Ausmaß.69 Die Donau ist als europäischer Verkehrskorridor vii und Teil der Binnenwasserstraße E 80 eingestuft. Das politische Ziel, die »brach liegenden Ressourcen der Binnenschifffahrt«70 zu nutzen, wurde bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts ähnlich formuliert, damals mit Hoffnung auf einen Donau-Oder- und einen Donau-Elbe-Kanal.71 Das Gütertransportaufkommen auf der Donau betrug 2005 bezogen auf die Tonnage nur ein Zehntel des Aufkommens auf dem Rhein (30 Millionen Tonnen im Vergleich zu 300 Millionen Tonnen), auch in Bezug auf Beförderungsstrecke der Gütermengen ist der Rhein wesentlich frequentierter als die Donau (Donau  : 17 Milliarden Tonnenkm, Rhein  : 90 Milliarden Tonnen-km). Diese Relationen waren ebenfalls schon am Anfang des 20. Jahrhunderts ähnlich. Der schönen Redensart vom verbindenden Charakter der Donau fehlt die materielle Entsprechung. Die Personenschifffahrt ist ein touristisches Saisongeschäft von April bis Oktober. Auf die Geschichte der ddsg, der 1829 gegründeten »Ersten priv. Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft«, die 1880 die weltgrößte Binnenreederei war, kann hier nicht näher eingegangen werden. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, als die ddsg die Hälfte ihrer Flotte an die Nachfolgestaaten abgeben musste und die Wirtschaftsbeziehungen der Donauländer stagnierten, war die Reederei mehr oder weniger ständig in der Krise. 1986 gab die ddsg noch die »Mozart«, ein doppelrümpfiges Kabinenschiff, in Auftrag. 1991 wurde die Gesellschaft in eine ddsg-Cargo GmbH und eine ddsg-Donaureisen GmbH geteilt. Die ddsg-Cargo wurde 1993 an den deutschen Stinnes-Finanzkonzern verkauft, im selben Jahr erfolgte der Verkauf der »Mozart« an die deutsche Reederei Deilmann, was die Aufgabe der Kabinenschifffahrt durch die ddsg bedeutete. 1995 wurde die ddsg-Donaureisen GmbH liquidiert und die Schiffe verkauft. Stinnes verkaufte die ddsg-Cargo GmbH 1997 an die Gerhard Meier ag. Diese verkaufte die ddsg-Cargo GmbH 2007 an die east point holdings limited, die ihre Schifffahrtsaktivitäten noch im selben Jahr in die »Ersten Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft m.b.H.« fusionierte. Durch diese Verschmelzung wurde der traditionsreiche Name der Ersten Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft wieder aktiviert.72 Die ddsg-Cargo GmbH bietet 2007 Frachttransporte über 3.500 Kilometer von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer an, wofür ihr 252 Schiffseinheiten, davon 59 Motorschiffe, zur Verfügung stehen. 479

georg rigele Am linken Donauufer in der nördlichen Nachbarschaft von Wien befand sich die Schiffswerft Korneuburg. Der Tochterbetrieb der ddsg baute seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kähne und seit 1896 Dampfschiffe. 1945–1955 stand die Korneuburger Schiffswerft im Rahmen der usia unter sowjetischer Verwaltung. 1955 wurde die Werft wieder von der ddsg übernommen, 1959 als eigenes Unternehmen »Schiffswerft Korneuburg ag« ausgegliedert und 1974 mit der Linzer Schiffswerft im Rahmen des voest-Konzerns vereinigt. Die wirtschaftliche Grundlage der Korneuburger Werft bildeten regelmäßige Aufträge aus der Sowjetunion. Nach deren Krise und Zusammenbruch musste die Korneuburger Schiffswerft 1993 geschlossen werden. Als letzter Großauftrag wurde das Wiener Schulschiff »Bertha von Suttner« ausgeliefert. Das Schulschiff ist nahe der Floridsdorfer Brücke fest vertäut und dient Wiener Gymnasien als Quartier.73 Die Wiener H afenanlagen liegen im Osten der Stadt und entziehen sich durch ihre Abgeschiedenheit weitgehend der Alltagsbeobachtung. Der Hauptumschlagplatz für Güter aller Art ist der Freudenauer Hafen am südlichen Ende des 2. Bezirks. Stromabwärts davon, am Rand des 11. Bezirks, liegt der Albaner Hafen mit seinen markanten Getreidesilos. Das Hafenbecken wurde 1939 von Zwangsarbeitern ausgehoben. Auf der nördlichen Seite der Donau im 22. Bezirk liegt der Ölhafen mit dem ausgedehnten Tanklager. Der Freudenauer Hafen wurde 1902 eröffnet und diente ursprünglich als Winterhafen für maximal 400 Schiffe.74 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Freudenauer Hafen zum Handelshafen ausgebaut. Eine steigende Bedeutung verdankt er in jüngerer Zeit der Containerschifffahrt und dem Umschlag von Neuwagen. Die höchste Effizienz im intermodalen Verkehr wird beim Umschlag vom Schiff auf Eisenbahn-Ganzzüge, also reine Container- oder Autozüge, die zu einem Zielbahnhof durchgehend in Verkehr gesetzt werden, angestrebt. Die innerstädtischen Länden und Kais am Donaukanal und am Strom haben ihre Bedeutung für die Güterschifffahrt verloren. Der Handelskai am rechten Donauufer zwischen der Brigittenau und der Donaukanaleinmündung waren bis in die Sechzigerjahre ein relevanter Umschlagplatz mit Lagerhäusern und Lagerplätzen für Massengüter wie Kohle. 1912/13 wurde der Getreidespeicher an der Landungshauslände errichtet (1986–1988 in ein Hotel umgebaut), 1916 das benachbarte städtische Kühlhaus in der Engerthstraße, das 1984 geschlossen und anschließend abgetragen wurde. Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde mit dem Bau des DonauOder-Kanals begonnen, und es wurden neue Häfen angelegt. Der beim Thema Erdöl bereits genannte Ölhafen Lobau liegt gegenüber vom Freudenauer Hafen am nördlichen Ufer. Stromabwärts nahe der Hafeneinmündung wäre der Donau-OderKanal in die Donau eingemündet. Die Rohrbrücke »Mannswörth« trägt ein Lei480

energie und verkehr in wien 1945–1995 tungsbündel für Rohöl, Erdgas und verschiedene Erdölprodukte vom Ölhafen zur Raffinerie Schwechat.

Die Fernbahnhöfe75 Zu den städtebaulichen Eigentümlichkeiten Wiens zählt, dass alle gründerzeitlichen Fernbahnhöfe abgebrochen und durch Neubauten ersetzt wurden. Der von Architekt Wilhelm Flattich gestaltete Südbahnhof von 1874 (der über den ersten Südbahnhof von 1842 gebaut wurde) war ein historistischer Prachtbau der Ringstraßenära und in seiner architektonischen Formensprache vergleichbar mit dem Musikvereinsgebäude. Obwohl das Bundesdenkmalamt den Charakter des Südbahnhofs als Baudenkmal herausstrich76 und es möglich gewesen wäre, ihn unter Beibehaltung der historischen Substanz Richtung Süden zu erweitern, entschieden sich die Bundesbahnen bzw. das Verkehrsministerium für einen Neubau.77 Die 1956 eröffnete Bahnhofshalle für Süd- und Ostbahnhof stand auf dem Ghegaplatz, dem als Park gestalteten Vorplatz der bis dahin getrennten Bahnhöfe. Erst nach dem Bau der neuen Halle wurde der alte Südbahnhof abgetragen und die Bahnsteige fertiggestellt, d. h. zur neuen Halle verlängert. Dieser Neubau wurde 2010 ebenfalls abgebrochen zugunsten des neuen Hauptbahnhofs, der ab Ende 2012 schrittweise in Betrieb gehen soll. Beim Abbruch kamen Gewölbe des ersten Südbahnhofs von 1840 und Reste des zweiten Südbahnhofs zutage, die ebenfalls entfernt wurden, um den Baugrund für ein zukünftiges Büro- und Geschäftsviertel von jeglichem Rest frei zu machen.78 Es wäre ein Zeichen von Großzügigkeit und von Denken im Maßstab von Generationen gewesen, eine offene Platzsituation Richtung Belvedere und Innenstadt wiederherzustellen, wie sie bis 1950 bestanden hatte. Jedoch stand die lukrative Verwertung von neu geschaffenem Baugrund auf dem ehemaligen Südbahnhofgelände im Vordergrund, obwohl mit dem Erlös nur ein Bruchteil der Baukosten für den Hauptbahnhof eingespielt werden kann. Platzreserven für Erweiterungen des Gleisfeldes, die in Zukunft notwendig werden könnten, sind nicht vorgesehen. In verkehrsstrategischer Beziehung steht hinter dem Projekt Hauptbahnhof der Gedanke, Wien zum Angelpunkt des internationalen Eisenbahnverkehrs zu machen und durchgehende Zugsverbindungen im Nah- und Fernverkehr zu ermöglichen. Die Züge sollen in Zukunft möglichst nicht in Wien enden, sondern die Stadt durchqueren, etwa als »Railjet« Budapest – Wien – München oder als Schnellbahn Neulengbach – Wien – Bruck an der Leitha. Das Konzept für einen Hauptbahnhof in der Nähe des Südbahnhofs wurde schon in der Nachkriegszeit ausgearbeitet, scheiterte damals aber an den enormen Kosten für die Umlegung der Zulaufstrecken. 481

georg rigele Der unstete und unsentimentale Umgang mit den Wiener Fernbahnhöfen nach 1945 kontrastiert mit der sonst gepflegten historischen Fassade der Stadt. Dafür lassen sich mehrere Gründe finden. Erstens änderte sich die verkehrsgeografische Lage Wiens nach 1945. Wien orientierte sich nach Westen und war nicht mehr die zentraleuropäische Verkehrsdrehscheibe wie vor der Teilung Europas durch den »Eisernen Vorhang«. Der Ost-West-Konflikt machte Wien zur Endstation des Westens. Zweitens wurden die gründerzeitlichen Bahnhöfe, die in den 1850er bis 1870er-Jahren errichtet worden waren, bereits um 1900 zu klein. Der im Zuge des Stadtbahnbaus erweiterte Vorortebahnhof Hütteldorf an der Westbahn war Anfang des 20. Jahrhunderts leistungsfähiger als der Westbahnhof. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Projekt für einen Großbahnhof für die nördlichen Eisenbahnlinien (Franz-Josefs-Bahn, Nordwestbahn, Nordbahn) ausgearbeitet, aber nicht verwirklicht. In der jungen Republik hatten sich die wirtschaftlichen Möglichkeiten und Prioritäten geändert. Während die besagten nördlichen Linien nach dem Zerfall Österreich-Ungarns an Bedeutung verloren und der Nordwestbahnhof sogar geschlossen wurde, konnten der Südbahnhof und der Westbahnhof den angewachsenen Zugsverkehr kaum noch aufnehmen. In Wien fehlte die Generation der modernen Großbahnhöfe, die in europäischen und amerikanischen Großstädten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert errichtet wurden (z. B. die Hauptbahnhöfe in Amsterdam, Frankfurt, Lemberg oder Mailand oder der Grand Central Terminal in New York). Weil eine grundlegende Reorganisation des Eisenbahn-Fernverkehrs nach 1945 aus finanziellen Gründen und aufgrund der unsicheren geopolitischen Situation unterblieben war, fiel zunächst die Entscheidung für einen Neubau des Westbahnhofs. Der ausgebrannte alte Westbahnhof war 1945 behelfsmäßig wieder in Betrieb gegangen, mit nur vier Hallengleisen, aber vollkommen unzureichend. Der 1949 begonnene, zwischen 1951 und 1954 schrittweise eröffnete neue Westbahnhof war sowohl gleisseitig als auch publikumsseitig großzügig ausgestaltet. Seine stadttopografische Lage war gegenüber der Mariahilfer Straße leicht erhöht. Freiflächen umgaben die zweigeschossige Halle und den angebauten Restauranttrakt. Der Bahnhof erfüllte in der Besatzungszeit und auch danach eine wichtige Rolle als Tor zum Westen. Die seit 1952 vollständig elektrifizierte Westbahn war die Hauptachse, die Österreich verkehrstechnisch zusammenhielt. Ebenfalls 1952 wurde die umgestaltete Kreuzung von Gürtel und Mariahilfer Straße fertig. Mit Ausnahme eines »Verkehrsturms«, worunter eine aufgestelzte Kabine verstanden wurde, von der aus ein Polizist die Verkehrsampeln schaltete, und den Haltestellenhäuschen der Straßenbahn war der gesamte Kreuzungsbereich frei von Hochbauten. Der Otto-Wagner-Pavillon mit dem Eingang zur unterirdischen Stadtbahnstation wurde abgetragen. Die neuen Abgänge waren nicht überbaut und daher sehr diskret. Die architektonische Wirkung 482

energie und verkehr in wien 1945–1995 des Westbahnhofs, d. h. auch seine Sichtbarkeit für die Reisenden und die Offenheit der Umgebung, wurde Anfang der Neunzigerjahre durch einen voluminösen U-Bahn-Pavillon zwischen den Gürtel-Fahrbahnen und überbreite Fahnenmasten auf dem Europaplatz vor dem Bahnhof geschmälert. 1994 wurde der Westbahnhof – nicht nur die Halle – per Bescheid ausdrücklich unter Denkmalschutz gestellt. Dennoch wurde der Restauranttrakt 2008 abgebrochen, um einem Immobilienprojekt der öbb Platz zu machen. Die Bahnhofshalle wird durch zwei weit höhere, massige Baukörper der »Bahnhofcity« bedrängt und in ihrer Wirkung stark reduziert. Die Verkehrsbedeutung des Westbahnhofs wird nach der Eröffnung des Hauptbahnhofs sinken, weil die öbb planen, alle internationalen Züge über den Hauptbahnhof zu führen. Der Nordbahnhof blieb bis 1965 als Kriegsruine stehen. 1959 ging zugleich mit der neu gebauten Nordbahnbrücke der neue Bahnhof Praterstern provisorisch in Betrieb, 1962 wurde er fertiggestellt und die Wiener Schnellbahn eröffnet. Als letzter der Fernbahnhöfe des 19. Jahrhunderts wurde der Franz-Josefs-Bahnhof 1974 abgebrochen. Die Gleise wurden mit einem Büro- und Geschäftskomplex überbaut. Der Bahnhof hatte nur noch regionale Bedeutung, wenn man vom Schnellzug »Vindobona« nach Prag und Berlin absieht. Im Jahr 2006 wurde die Schnellbahnstation Bahnhof Praterstern von 1962 im Hinblick auf die Fußballweltmeisterschaft durch einen eleganten Neubau mit einer großen Gleishalle ersetzt. Die Gestaltung des Bahnhofs und seines Vorplatzes geriet zu einem Bauherrenduell zwischen öbb und Stadt Wien, das die Architekten Albert Wimmer und Boris Podrecca gleichsam in einem gestalterischen Stellvertreterkonflikt ausfochten. Nach der Fertigstellung des Bahnhofs wurde der Vorplatz innerhalb des großen Kreisverkehrs nach Plänen von Podrecca umgebaut. Podrecca hatte sich jahrelang vergeblich für das städtebauliche Projekt eines durchgehenden Grünkeils von Nußdorf bis zum Prater eingesetzt. Der Praterstern-Auftrag hatte daher etwas von einem Trostpreis. Ein gewaltig dimensioniertes, auf einer schweren Metall­­konst­ruktion ruhendes Vordach über der Straßenbahnhaltestelle ruiniert das architektonische Erscheinungsbild der Gleishalle. Die große Bahnhofsuhr wurde teilweise verdeckt und aus der Perspektive Praterstraße unlesbar gemacht. Wie schon in den Neunzigerjahren mit dem U-Bahn-Pavillon vor dem Westbahnhof hatte die Stadt offensichtlich auch hier den Drang, ein eigenes Hoheitszeichen vor ein Objekt der Bundesbahn zu setzen.

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Eisenbahninfrastruktur für den Fernverkehr und Güterverkehr Die österreichischen Eisenbahnen konnten sich im internationalen Güterverkehr, d. h. bei Ein- und Ausfuhr von Gütern und im Transit, relativ gut halten, während die Marktanteile der Bahn im österreichischen Binnenverkehr seit den Achtzigerjahren auf rund zehn Prozent gesunken sind. Da seit 1945 die Transportmengen insgesamt sehr stark gewachsen sind, bedeuten sinkende Marktanteile nicht automatisch sinkende Bruttotransportmengen. Deutlich wird das im Transitgüterverkehr, wo der Anteil der Bahn zwischen 1954 und 1994 von 88 Prozent auf 30 Prozent sank, die Tonnage aber von 3,1 auf 11,7 Millionen Tonnen stieg (Straße 25,4 Millionen Tonnen).79 Auch die Güterbeförderung durch die Eisenbahn hat also mengenmäßig zugenommen und Investitionen in die Bahnanlagen notwendig gemacht. Im Wiener Raum sind bedeutende Investitionen in die Eisenbahn-Infrastruktur getätigt worden. Die Elektrifizierung der von Wien ausgehenden Hauptbahnen begann mit der Westbahn (Wien–Salzburg 1952 durchgehend elektrisch), gefolgt von der Südbahn (Wien–Gloggnitz 1956), der Ostbahn (1976), der Nordbahn (1962/1977) und der Franz-Josefs-Bahn (1978). Anfang der Siebzigerjahre wurde die Verbindungsbahn ausgebaut und elektrifiziert, ab 1999 konnte die reaktivierte Floridsdorfer Hochbahn als Verbindung von Nordbahn und Nordwestbahn wieder befahren werden. Im Zusammenhang mit dem Ausbau des Wiener Hafens als intermodales Logistikzentrum wurde die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Verbindung der Donauländebahn von Klein Schwechat zur Donauuferbahn im Freudenauer Hafen ebenfalls reaktiviert und die dortige Donaukanalbrücke neu gebaut. Die bis zum Ersten Weltkrieg bestandene Stadtbahn-Ringlinie über Verbindungsbahn, Donauländebahn und Donauuferbahn könnte in Zukunft als Schnellbahnlinie wieder aufleben. Derzeit dient die Strecke nur dem Güterverkehr. Die für den Eisenbahn-Güterverkehr wichtigste Investition seit dem Wiederaufbau war der Bau des Zentralverschiebebahnhofs Kledering 1975–1986.80 Der Zentralverschiebebahnhof ersetzte sechs Haupt- und drei Nebenverschiebebahnhöfe im Wiener Raum. Mit einer 15-gleisigen Einfahrgruppe und einer 48-gleisigen Reihungsgruppe ist der Zentralverschiebebahnhof für den Verschub von 5.600 Waggons pro Tag ausgelegt. Rationalisierungsnotwendigkeiten, die Marktentwicklung sowie ein hoher Verwertungsdruck auf Bahngrundstücke in guter städtischer Lage sind Gründe, warum der Güterumschlag von der Eisenbahn auf andere Verkehrsmittel immer weiter in die Peripherie bzw. jenen eigenständigen Teil der Stadtregion abrückt, der im vorliegenden Beitrag als die zweite Stadt bezeichnet wird.81 Im Falle der österreichischen Post wurde die Übersiedlung der großen Bahnpostämter in das zentrale Verteilzent­ 484

energie und verkehr in wien 1945–1995 rum Inzersdorf im Jahr 2002 von der kompletten Einstellung der Postbeförderung per Bahn 2004 gefolgt.

Die Wiener Straßenbahn 82 Stadtbild und Lebensgefühl werden in Wien von der Straßenbahn, der Tramway, mitbestimmt. Auch seit die U-Bahn der Straßenbahn den Rang abgelaufen hat, prägt sie in vielen Stadtteilen immer noch das Straßenbild. Die anhaltende Alltagspräsenz der Straßenbahn ist insofern verblüffend, als sie nach 1945 nie sonderlich gefördert wurde. Die Kargheit der Nachkriegsjahre und die traditionelle Fokussierung der Wiener Kommunalpolitik auf den sozialen Wohnbau und die soziale Fürsorge führten dazu, dass in die Wiener Straßenbahnen nach 1945 relativ wenig investiert wurde. Charakteristisch war eine regelrechte Modernisierungsverweigerung der Wiener Verkehrsbetriebe, die bis in Achtzigerjahre anhielt. Von 1902–1903 wurden die Wiener Straßenbahnen elektrifiziert und 1903 von der Gemeinde Wien übernommen. 1907 wurden die mit wenigen Ausnahmen bis heute gültigen Linienbezeichnungen eingeführt. Anfang der Zwanzigerjahre wurden die verbliebenen Dampftramwaylinien nach Mödling, Groß Enzersdorf und Stammersdorf elektrifiziert und als 360er, 317er und 331er ins Linienschema aufgenommen. Im innerstädtischen Netz kam es zu einigen kleineren Ergänzungen. Das Netz der Wiener Stadtbahn, einer eisenbahnmäßig trassierten Hoch- und Tiefbahn, wurde 1903 fertiggestellt, wobei die ursprünglich geplante Abzweigung von der Gürtellinie nach Süden zur Südbahn nicht ausgeführt wurde. Die Stadtbahn wurde mit Dampfloks betrieben und war ins übrige Eisenbahnnetz integriert. Auf ihr wurde auch Güterverkehr abgewickelt, vor allem auf der Vorortelinie. 1924 übernahm die Gemeinde Wien die Wiental- und Donaukanallinie sowie die Gürtellinie und elektrifizierte sie nach dem Straßenbahnsystem. Dadurch ging die Verbindung mit der Eisenbahn verloren, in Hütteldorf mit der Westbahn, in der Station Hauptzollamt/Landstraße mit der Verbindungsbahn und in Heiligenstadt mit der FranzJosefs-Bahn. Gewonnen wurde eine Übergangsmöglichkeit ins Straßenbahnnetz bei der Station Gumpendorfer Straße. Die kombinierte Linie 18G verließ am Niveauübergang von der Tief- zur Hochtrasse die Stadtbahn und fuhr über den Gaudenzdorfer- und Margaretengürtel weiter Richtung Südbahnhof (Ghegaplatz). Sie bildete einen Ersatz für die unausgeführte südliche Fortsetzung der Stadtbahn-Gürtellinie. Die Linie 18G wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Betrieb genommen.83 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das dichte Streckennetz zum größten Teil wieder in den Vorkriegszustand gebracht. Auf Modernisierungen wie etwa die Ver485

georg rigele größerung des Gleisabstands für breitere Waggons oder die Anlage eigener Gleiskörper in ausreichend breiten Straßen wurde weitgehend verzichtet. Eine Ausnahme war der eigene Gleiskörper in der Mitte der 1952/53 ausgebauten Wagramer Straße. Der Wagenpark stammte zum Großteil aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Waggons der Type G aus der Anfangsphase der »Elektrischen« blieben bis um 1960 in Betrieb. Auch die neu beschafften Waggons waren mit einer Ausnahme am technischen Stand der Vorkriegszeit, d. h. es handelte sich um schwach motorisierte Zweiachser, die mit zweiachsigen Beiwagen verkehrten. Diese Zugskompositionen waren nicht nur schwerfällig, sondern auch personalintensiv. Ein Dreiwagenzug benötigte einen Fahrer (auf Wienerisch früher  : »Motorführer«, Betonung auf dem zweiten o) und drei Schaffner/innen als Personal. Fahrerinnen gab es erst seit 1970. In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre wurden nach deutschen Lizenzen modernere Züge gekauft, parallel dazu aber bis Mitte der Sechziger die veralteten Bauarten weiter produziert. Im Jahr 1955 herrschte noch ein derart starker Wagenmangel, dass an 188 Werktagen der planmäßige Wagenauslauf nicht gestellt werden konnte.84 Bei der Ausnahme in der Wagenbeschaffung handelte es sich um die gebraucht erworbenen »Amerikaner«, nur zehn Jahre alte Triebwagen aus Manhattan, die im Rahmen des Marshallplans zu sehr günstigen Konditionen nach Wien kamen und hier von 1950 bis 1969 auf den Floridsdorfer Linien 31, 132, 231 und 331 sowie 17 und 217 verkehrten. Die Amerikaner waren um dreißig Zentimeter breiter als die Wiener Waggons, weshalb sie nur auf ehemaligen Dampftramwaystrecken der Floridsdorfer Linien mit deren größeren Gleisabständen zugelassen waren (und in den letzten Betriebsjahren auf dem großteils eingleisigen 11er). Von einer traditionellen Wiener Tramway unterschieden sie sich durch ihre vierachsige Bauart. Der Wagenkasten ruhte auf zwei zweiachsigen Drehgestellen. Dieses Fahrwerk ermöglichte einen sehr ruhigen Lauf. Bequeme Polsterbänke in der Anordnung 2+2 ergaben ein hohes Sitzplatzangebot von 48 Sitzplätzen gegenüber 42 Stehplätzen – Qualitätsmerkmale, die in Wien bis dahin unbekannt waren. Bei den Wiener Verkehrsbetrieben herrschte aber eine aus der Anfangszeit der Elektrischen herrührende »Vierachser-Phobie«85. Die Chance, weitere moderne gebrauchte Wagen in den usa zu erwerben, z. B. aus Washington, D.C., wurde nicht genutzt. Georg Schmid hat nicht nur in diesem Zusammenhang auf eine österreichische Fixiertheit auf den »deutschen Technokulturkreis« hingewiesen.86 Am 2. August 1960 kam es zum schwersten Straßenbahnunglück in der Geschichte der Wiener Straßenbahnen, als ein 39er ungebremst die abschüssige Billrothstraße stadteinwärts rollte, bei der Einmündung in die Döblinger Hauptstraße entgleiste und voll mit einem Gegenzug kollidierte. Zwanzig Menschen starben, darunter die beiden Fahrer, mehr als hundert Personen wurden verletzt. Für den verheerenden Ausgang des Unfalls war der völlig veraltete Zustand der beteiligten Garnituren ver486

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Abb. 3: Gefährliche Szene beim 38er, um 1960. Foto  : Archiv Fred Koranda im Archiv Prof. Heinz Fink (Abb. aus  : Heinz Fink, Die Cottage- und Heurigentramway, Wien 2008, 68, Abb. 92.) In memoriam Heinz Fink (1943–2013)

antwortlich, deren Wagenkästen in Holzbauweise ausgeführt waren und beim Zusammenprall zersplitterten.87 Für die Fahrgäste hatten die alten Tramways durchaus auch Vorzüge. Zum Teil verkehrten noch Beiwagen aus der Pferdebahnzeit mit offenen Plattformen und so kurzen Achsständen, dass Kinder sie zum Schaukeln bringen konnten (die in Wolfgang Kaisers Buchtitel angesprochenen »Hutscherln«). Alle Waggons bis zur Nachkriegsbaureihe T1 fuhren mit offenen Türen, durch die man auf Plattformen gelangte, von denen man durch Schiebetüren in den Fahrgastraum weitergehen konnte. Die Fenster ließen sich ganz öffnen, sodass eine Straßenbahnfahrt auch im Hochsommer angenehm war. Im Winter, wenn geheizt wurde, verströmten die hölzernen Bänke einen angenehmen Duft. Wem es zu warm war oder wer aus anderen Gründen ausweichen wollte, konnte auf der Plattform stehen. Die Klingelzeichen der Schaffner und der Ruf »Vorwärts  !« bei der Abfertigung des Zuges, der darauf folgende doppelte Klingelschlag des Fahrers vor der Abfahrt und das Grammeln und Brummen der Fahrmotoren, das bei höheren Geschwindigkeiten in ein singendes Geräusch überging, formten eine besondere Soundkulisse in der Umgebung der Straßenbahnstrecken. Sportlichkeit und die Bereitschaft, etwas Verbotenes zu tun, 487

georg rigele vorausgesetzt, konnte man auch zwischen den Stationen auf- oder abspringen. Allerdings überschätzten sich viele und kamen zu Sturz. 1955 verzeichneten die Verkehrsbetriebe 738 Unfälle beim Auf- und Abspringen. Als letzte Baureihe mit offenen Türen wurden die M-Motorwagen nach fünfzig Dienstjahren im Jahr 1978 ausgemustert. Ein besonderes Problem verursachte die 1961 wirksam gewordene »Schleichverordnung«, die Straßenbahnverordnung von 1957. Waggons ohne Magnetschienenbremsen – das sind elektromagnetische Bremsen, die nicht auf die Räder, sondern direkt auf die Schienen wirken – durften statt der bisher erlaubten 40 km/h nicht schneller als 25 km/h fahren. Auf 41 von 62 Linien mussten daraufhin die Fahrzeiten verlängert werden. Unverständlicherweise fuhren auf einigen Linien Fahrzeuge mit und ohne Schienenbremse gemischt, so dass für unnötig viele Linien ein 25-km/hFahrplan galt. Erst 1968 waren alle betroffenen Linien entweder mit entsprechend gebremsten Waggons ausgestattet oder eingestellt (13, 360, 47, 48, 57, 165, 72, 73). Die ohnehin nicht besonders schnelle Wiener Straßenbahn wurde dadurch weiter eingebremst und wirkte in den autobegeisterten Sechzigern auf viele Politiker, Journalisten und die breite Öffentlichkeit wie ein Relikt aus der Vergangenheit, das man so schnell wie möglich loswerden sollte. In den Sechziger- und Siebzigerjahren reduzierten die Verkehrsbetriebe ihr Angebot. Umsteigefreie Direktverbindungen wie beispielsweise die Linien C (Kaisermühlen – Hernals) und F (Währing – St. Marx) wurden eingestellt und Linienüberlappungen aufgegeben. Es herrschte starker Personalmangel, was eine Einschränkung des Angebots erzwang. 1961 fehlten rund 500 Fahrbedienstete.88 Die Fahrgastzahlen sanken von Jahr zu Jahr, allein von 1960 auf 1961 um mehr als sieben Prozent. Im Verwaltungsbericht 1965 wurden die Rationalisierungsbestrebungen der Verkehrsbetriebe mit dem Hinweis belegt, dass die Wagennutzkilometer »durch rigorose Ausnützung des Fassungsraumes der Fahrbetriebsmittel« stärker gesunken waren als die Zahl der Fahrgäste. Das Angebot wurde also noch schneller zurückgenommen, als die Nachfrage sank. Während sich Massenmotorisierung und Suburbanisierung immer deutlicher abzeichneten, wurden die Straßenbahnlinien ins Umland, der 72er nach Schwechat, der 360er nach Mödling und der 317er nach Groß-Enzersdorf, eingestellt. Das Streckennetz der Wiener Straßenbahn war sehr dicht. Die meisten Radial­ linien verbinden bis heute Außenbezirke mit der Ringstraße. Dazu kamen die bereits erwähnten, mit Buchstaben bezeichneten Durchgangslinien, die zwei Radialstrecken über den Ring oder die Lastenstraßen (2er-Linie) verbanden, z. B. der J-Wagen von Ottakring nach Erdberg oder der H2 von Hernals zur Prater Hauptallee. Der H2 ging durch den von Helmut Qualtinger verkörperten Travnicek in die Geschichte des Wiener Cabarets ein. Travnicek, durch sein von Gerhard Bronner gespieltes Ge488

energie und verkehr in wien 1945–1995 genüber um einen Kommentar zur Moskauer Metro gebeten  : »Wos soll i ihna sog’n, wia da H2, wann a durch’n Kursalon durchfoan mecht.« Dank der Durchgangslinien konnten die meisten Wege mit maximal einmal umsteigen zurückgelegt werden. Um 1960 begann die erste Einstellungswelle von Straßenbahnlinien und -strecken. Sinkende Fahrgastzahlen, die Wahrnehmung der Straßenbahn als Hindernis für den Autoverkehr, der Bau der Ringstraßen-Passagen und ein drückender Personalmangel waren die Gründe. Mehrere Durchgangslinien wurden gekappt und Linienüberlappungen zurückgenommen. Einige Straßenbahnlinien wurden auf Autobusbetrieb umgestellt, so der 13er, der als Tangentiallinie mehrere Innenbezirke verband (Südbahnhof–Alserstraße). Von 1961 bis Anfang der Neunzigerjahre fuhren auf der Buslinie 13 (13A) Doppeldeckerbusse, die vom Oberdeck aus eine gute Aussicht auf die vielfältige Geschäftswelt der Innenbezirke boten.89 Die Doppeldecker wurden durch Normalbusse ersetzt. Es hieß, zu wenige Passagiere hätte die Annehmlichkeiten des Oberdecks genutzt, zu viele sich unten zusammengedrängt. In den Normalbussen drängen sich gerechterweise alle. Die Wiedereinführung des 13ers als Straßenbahn oder seine Umstellung auf elektrischen Oberleitungsbus (O-Bus, Trolleybus) wird seit Jahren diskutiert, weil die Busse häufig überfüllt sind und sie die Erwartungen hinsichtlich Flexibilität und Zuverlässigkeit nicht erfüllt haben. Auf den verbliebenen Linien wurden die Intervalle verlängert. Als Reaktion auf den Personalmangel wurden in den Sechzigerjahren schaffnerlose Beiwagen eingeführt, in den Siebzigern schaffnerlose Züge. Am 20. Dezember 1996 fuhr der letzte Schaffner in einem Triebwagen der Type C1 auf der Linie 46. Ein charakteristisches Detail der Wiener Straßenbahnen war bis über das Jahr 2000 hinaus, dass die Triebwagen nicht mit Außen- bzw. Seitenrückspiegeln ausgestattet waren. Die Personalvertretung hatte die Ausrüstung der ab 1959 gelieferten Gelenktriebwagen mit Außenspiegel abgelehnt, weil man dem Fahrpersonal die Verantwortung für Geschehnisse, die womöglich im Rückspiegel zu sehen gewesen wären, nicht zumuten wollte. Der langjährige Österreich-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung Beat Ammann fand diese eigentümliche Weigerung, Verantwortung für die Fahrgäste zu übernehmen, so bemerkenswert, dass er seinen Abschiedsbericht aus Wien unter den Titel »Österreich im Rückspiegel der Wiener Bim« setzte.90 Erst die Straßenbahnverordnung 1999 schrieb ab 2001 für Neubaufahrzeuge Rückspiegel vor. Nach einer Reihe schwerer Unfälle, bei denen Fahrgäste von anfahrenden Straßenbahnen mitgeschleift wurden, rüsteten die Wiener Linien sogar die ältesten Garnituren mit Außenrückspiegeln nach.91 Das Erscheinen des ersten Berichts des Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums« 1972, der die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen aufzeigen wollte, und die von der opec ausgelöste Erdölkrise in Folge des Yom-Kippur-Krieges 1973 bewirkten ein verkehrspolitisches Umdenken bei einem Teil der Bevölkerung und 489

georg rigele ­einigen politischen Entscheidungsträgern. In Wien trat ein verhaltener Stimmungsumschwung zugunsten der Straßenbahn ein. Ein Beschleunigungsprogramm sollte der Straßenbahn gegenüber dem Autoverkehr Vorrang geben. Im Endeffekt wurde aber nur eine einzige Straßenbahnlinie konsequent beschleunigt, nämlich der 49er, der vom Ring durch enge Straßen des 7. Bezirks über den 15. und 14. Bezirk nach Hütteldorf am westlichen Stadtrand führt. Die Beschleunigungsmaßnahmen beinhalteten Abmarkierungen der Geleise, niedrige überfahrbare Asphaltbarrieren am Rand der Gleistrasse (»Stuttgarter Schwellen«), Fahrverbote für den Individualverkehr und bevorrangende Ampelschaltungen. Der Effekt war beeindruckend, weil der 49er objektiv schneller wurde und man als Fahrgast zum ersten Mal das Erlebnis einer zügigen Fahrt genießen konnte. Die meisten anderen Maßnahmen im Streckennetz der Wiener Straßenbahn, die als Beschleunigungsmaßnahmen bezeichnet wurden, dienten im besten Fall der Fahrplanstabilität. Ein Beispiel, wie mit aufwendigen Baumaßnahmen dennoch kein positiver Effekt erreicht wurde, ist der Mitte der Achtzigerjahre erfolgte Umbau des Gersthofer Platzls, so die inoffizielle Bezeichnung eines vorstädtischen Verkehrsknotens im 18. Bezirk bei der Stadtbahnbzw. Schnellbahnstation Gersthof der Vorortelinie, wo sich die Straßenbahnlinien 40 und 41 verzweigen und der 9er die Endstation hat. Die Gersthofer Straße, die im Verlauf einer stark befahrenen Tangentialverbindung durch die westlichen Außenbezirke liegt, wird von den Straßenbahnen mitbenützt bzw. gequert. Vor dem Umbau funktionierte der dichte Verkehr ohne Verkehrsampeln und doch effizient, weil die Straßenbahnen mit Vorrang ohne Wartezeit in die Gersthofer Straße einfahren konnten. Die Schleife des 9ers verlief um die Station der Vorortelinie herum, und die 9er-Garnituren hielten mitten in der Gersthofer Straße ihre Ausgleichszeit ein, was auf den Autoverkehr eine verlangsamende Wirkung hatte, die der Sicherheit der Fußgänger zugute kam. Der Umbau folgte überholten Zielsetzungen, eine vierspurige Durchzugsstraße durch die Außenbezirke zu errichten. Seine Ausführung zeigte, dass, den Bekundungen zur Beschleunigung des öffentlichen Verkehrs zum Trotz, in der Praxis der Autoverkehr bevorzugt wurde. Die Gersthofer Straße wurde verbreitert, mit einem Geflecht von Markierungen überzogen und mit komplexen Ampelanlagen ausgestattet. Das neue Gleis-Layout ist aufwendiger als das alte. Trotzdem führt es zu Selbstbehinderungen der Straßenbahnen, weil nachfolgende Züge häufig nicht in die besetzte, für nur eine Zuglänge ausgelegte Haltestelle einfahren können und Wartezeiten von zwei oder drei Ampelphasen an der Tagesordnung sind.92 Das alte Gersthofer Platzl würde heute vermutlich als Musterbeispiel für »Shared Space« Furore machen.93 Aus Sicht der Fahrgäste besonders ärgerlich war und ist das bewusste Verstreichenlassen von Grünphasen durch die Fahrer/innen, die bei normaler Fahrweise zu früh beim Expedit eintreffen würden. Als Expedit werden in Wien die Betriebsstütz490

energie und verkehr in wien 1945–1995 punkte verstanden, an denen das Fahrpersonal wechselt und der Betrieb der betreffenden Linien überwacht wird. Die überlangen Planfahrzeiten resultierten auch aus dem Entlohnungsschema der Wiener Verkehrsbetriebe, die ihrem Fahrpersonal nur die »Rollzeit«, nicht aber Ausgleichszeiten, das sind betrieblich notwendige Standzeiten, bezahlte. Die Personalvertretung legte sich daher gegen Fahrzeitverkürzungen quer, weil sie zulasten der Bezahlung der Fahrer/innen gegangen wäre. Dieses sowohl die Interessen des Fahrpersonals als auch der Fahrgäste beeinträchtigende Entlohnungssystem wurde erst 2004 reformiert, allerdings auch nicht konsequent, weil eine »Fahrzeitzulage« neu eingeführt wurde, die einen ähnlichen Effekt hat wie die frühere Bezahlung nach »Rollzeit«.94 Am Stadtrand wurden einige Straßenbahn-Neubaustrecken eröffnet, von denen zwei später durch U-Bahn-Linien ersetzt wurden. Für die im Masterplan Verkehr Wien 2003 vorgesehenen neuen Straßenbahnlinien auf den Wienerberg, durch das Nordbahnhofgelände, nach Schwechat und nach Groß-Enzersdorf gab es bis 2010 keine Baubeschlüsse. Hingegen wird im Zusammenhang mit dem städtebaulichen Projekt »Seestadt Aspern« eine neue Querverbindung durch den 22. Bezirk von Kagran über Hirschstetten nach Aspern zur U2-Station Hausfeldstraße) verwirklicht.95 Unter Bürgermeister Helmut Zilk (1984–1994) und seinem Stadtsenat wurde das Angebot der öffentlichen Verkehrsmittel einschließlich der Oberflächenverkehrsmittel verbessert. Dazu gehörten Intervallverdichtungen, auch in den Abendstunden, und eine, wenn auch nicht konsequente, Bevorrangung der Straßenbahn an ampelgeregelten Kreuzungen. Zilks Nachfolger Michael Häupl hingegen vermied nach der Wahlniederlage bei der Gemeinderatswahl 1996 mit Rücksicht auf die Autolobby und die Wähler/innen der rechtsradikalen fpö auf Maßnahmen, die eingefleischte Autofahrer/innen als Einschränkung werten könnten. Im Gegensatz zum internationalen Trend, etwa in den klassischen Auto-Ländern Frankreich und usa, aber auch England, Spanien, Holland oder der Schweiz, und im Vergleich mit Graz, Innsbruck und Linz, schrumpft das Wiener Straßenbahnnetz stetig. Während der Wagenpark seit den späten Neunzigerjahren nach und nach auf einen zeitgemäßen Stand gebracht wird, kam es »zu keinem Ausbau des Straßenbahnnetzes und die von Stadtplanern als notwendig und sinnvoll erachteten Ausbaupläne werden von den Rathauspolitikern nicht mit Nachdruck verfolgt und von Bezirkspolitikern sogar vehement bekämpft«.96 Dem 2004 gegründeten Fahrgastbeirat der Wiener Linien ist es gelungen, die Einführung von zwei neuen Durchgangslinien anzuregen, die seit dem Nationalfeiertag 2008 verkehren. Bei den Linienbezeichnungen gingen die Wiener Linien von den Buchstaben ab. Die neuen Durchgangslinien tragen die Bezeichnung 1 und 2. Der 1er führt von der Prater Hauptallee durch den 3. Bezirk, über den Kai und den 491

georg rigele

Grafik 4  Fahrgastzahlen Wiener Verkehrsbetriebe und Verkehrsverbund Ost‐Region VOR in Mio Fahrten 1000 900

VOR gesamt

800 700 600

Wiener Verkehrsbetriebe gesamt

500 400

U‐Bahn 300

Straßen‐, Stadt‐ und U‐Bahn

Grafik: Nikolaus Kirstein

Straßenbahn

200 100

Autobus 0 1928

1947

1952

1957

1962

1967

1972

1977

1982

1987

1992

1997

2002

2007

Fahrgastzahlen Wiener Verkehrsbetriebe/Wiener Linien und Verkehrsverbund Ost-Region VOR (Millionen Beförderungsfälle) 1928–2008. Quellen  : Krobot 1972, 297–298  ; Öffentlicher Verkehr 1975, S. 39  ; Statistisches Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg; Grafik: Nikolaus Kirstein

Ring bis zur Oper und dann auf der ehemaligen 65er-Strecke zum Stefan-FadingerPlatz in Favoriten. Der neue 2er entspricht von Ottakring bis zur Oper dem ehemaligen J-Wagen, fährt aber über den Ring und Kai weiter, und biegt am Schwedenplatz auf den Ast des früheren N-Wagens in den 2. und 20. Bezirk ein und endet am Friedrich-Engels-Platz. Aus Marketing-Gesichtspunkten wäre es vermutlich klüger gewesen, den 2er als verlängerten J-Wagen zu vermarkten und den 1er als neuen »N-Wagen« zu titulieren oder ihm einen anderen Buchstaben zu geben, weil die Liniensignale 1 und 2 für die unattraktiven, um Ring und Kai kreisenden Linien in Gebrauch waren, die in den Achtzigerjahren eingeführt worden waren. Der neue 1er und 2er sind stark frequentiert und haben sich ausgezeichnet bewährt. Die konservative Fahrzeugbeschaffungspolitik dauerte bis Anfang der Neunzigerjahre, als die letzten sechsachsigen Gelenktriebwagen der Type ausgeliefert wurden. Die Konstruktion der E2 stammte aus den Sechzigern. Sie wurden durch ihre langsame Türschließmechanik zu einem Inbegriff von Trägheit, von der schlechten Be492

energie und verkehr in wien 1945–1995

Grafik 5  Vergleich ÖV‐Auto (Fahrgastzahlen Wiener Verkehrsbetriebe und Pkw‐Zulassungen)

Pkw‐ Zulassungen

Mio Fahrgäste 1000

600.000

Auto 800

Öffentlicher  Verkehr

600

400.000

400

200.000

200

0 1945

0 1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Fahrgastzahlen Wiener Verkehrsbetriebe/Wiener Linien und Pkw-Zulassungen Quelle  : Statistisches Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg.; Grafik: Nikolaus Kirstein

lüftung und schwachen Heizung nicht zu sprechen.97 Erst die von Elin und sgp bzw. Siemens Verkehrstechnik speziell für Wien entwickelten, technisch revolutionären Niederflurfahrzeuge »ulf« (Ultra Low Flor) bedeuteten einen Sprung vorwärts. Die ulfs rollen auf Einzelrädern, die in Portalfahrwerken montiert sind und von über den Rädern stehend gelagerten Motoren angetrieben werden. Diese Spezialkonstruktion ermöglicht einen durchgehenden Wagenboden in nur 19 Zentimeter Höhe über der Schienenoberkante bzw. der Straßenoberfläche. Verbunden mit leicht erhöhten Haltestellen kann eben ein- und ausgestiegen werden, Rollstuhlfahrer können selbstständig in den Waggon hineinrollen. Hervorragendes Beschleunigungsvermögen und eine Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h würden eine deutliche Erhöhung der Reisegeschwindigkeit ermöglichen, allerdings unter der Voraussetzung von eigenen Gleiskörpern, gestrafften Fahrplänen und einem engagierten Fahrstil. Die Schattenseite der ulfs ist ihr gegenüber den Konkurrenzprodukten wesentlich höherer Kaufpreis. Der Ersatz der älteren Garnituren durch ulfs kommt nur 493

georg rigele langsam voran, und die älteren Garnituren werden nicht wie international üblich fahrgastfreundlich modernisiert. Viele andere Straßenbahnbetriebe, in Österreich die von Graz und Linz, haben in ihre älteren Gelenkwagen Niederflur-Segmente eingebaut und sie dadurch heutigen Ansprüchen angepasst. Die höchste Fahrgastfrequenz der Straßenbahn und Stadtbahn zu Friedenszeiten betrug im Jahr 1928 650 Millionen Fahrgäste und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nur im Jahr 1947 knapp erreicht. Das Sinken der Fahrgastzahlen unter 600 Millionen bis 1949 ist mit der Motorisierung nicht hinreichend zu erklären – im Gegensatz zum deutlichen Fahrgastschwund von 1955 auf 1956, der offensichtlich mit der privaten Motorisierung zu tun hat. Die Massenmotorisierung und gleichzeitig zurückgehende Fahrgastzahlen setzten sich bis 1974 fort. Der starke Rückgang bei der Straßenbahn von 1960 auf 1961 korreliert mit dem Attraktivitätsverlust nach Einstellung der Durchgangslinien C, F und L. Der Autobusverkehr spielte bis 1960 hinsichtlich der Beförderungszahlen eine untergeordnete Rolle. Im Nachhall des Ölpreisschocks nutzten im Jahr 1975 erstmals seit 1947 wieder mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel als im Vorjahr. Die Fahrgastzahlen stiegen 1975 von 395 auf 448 Millionen, um dann bis 1977 wieder zu sinken. 1978 ging das erste Teilstück der U1 vom Karlsplatz zum Reumannplatz in Betrieb, und die Fahrgastzahlen stiegen zunächst langsam, ab der Fertigstellung des U-Bahn-Grundnetzes 1982 rapide. Die Einführung der Schülerfreifahrt 1971 und der Trend zu Zeitkarten sicherten den Verkehrsbetrieben eine wachsende Stammkundschaft. 1982 wurde die Jahreskarte eingeführt, eine Netzkarte zum Preis von zehn Monatskarten, die neben der bequemen Nutzung aller öffentlichen Linienverkehrsmittel auch eine Reihe von Sondervergünstigungen bietet. Die Jahreskarte zählt zu den größten Erfolgen der Wiener Verkehrsbetriebe bzw. Wiener Linien. 1985 wurde die hunderttausendste verkauft, 2009 nutzten sie bereits rund 350.000 Stammkundinnen und -kunden. In Wien ist es nach wie vor üblich, auch zu festlichen Anlässen wie einem Opern- oder Konzertbesuch in entsprechender Kleidung öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Mit anderen Worten  : Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist in Wien der Dis­ tinktion nicht abträglich. Im Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien werden auf der Grundlage von Daten der Wiener Verkehrsbetriebe/Linien die Zahlen für Straßenbahn, Autobus und UBahn separat ausgewiesen. Die Wiener Linien operieren mit der Summe von Straßenbahn, Autobus und U-Bahn, wenn sie die Gesamtzahl ihrer Fahrgäste nennen. Diese ist aufgrund des häufig notwendigen Umsteigens um einiges höher als die Zahl der Fahrten von A nach B. Der sensationell anmutende Erfolg der Wiener Linien seit den Achtzigern beruht also zum Teil auf der Erhebungsmethode, die die Fahrten nach Verkehrsmitteln aufteilt. Mehr Umsteigen bedeutet so gerechnet mehr Fahrgäste.98 Der Verkehrsverbund Ost-Region (vor) hingegen scheint Umsteiger 494

energie und verkehr in wien 1945–1995

Tabelle 3  : Fahrgäste Wiener Verkehrsbetriebe nach Fahrscheinarten 1946/1995 (Millionen Beförderungsfälle) Jahr

Einzelfahrscheine

Zeitkarten

gegen Pauschalvergütung

zusammen

1946

538,7

69,5

 8,7

616,9

1950

445,1

74,6

12,0

531,7

1955

425,8

63,1

12,5

501,4

1960

378,6

69,1

15,4

463,2

1965

339,2

48,5

20,8

408,5

1970

182,2

160,9

19,4

362,5

1975

132,0

228,3

12,6

372,9

1980

95,3

252,4

10,8

358,5

1985

54,2

392,3

22,5

469,0

1990

37,4

430,6

19,8

487,8

1995

35,1

514,0

19,0

568,1

nicht automatisch als zusätzliche Fahrgäste zu zählen, weil die statistisch ausgewiesene Summe der beförderten Fahrgäste nach Verkehrsunternehmen größer ist als die ausgewiesene Zahl der beförderten Personen im vor. Für 2008 weist der vor 878,1 Millionen beförderte Personen aus, während die Summe der beförderten Personen nach Verkehrsunternehmen rund 948,1 Millionen ausmacht. Die Verkehrsunternehmen sind die öbb, die Wiener Linien, die Wiener Lokalbahnen, die RaabÖdenburger-Ebenfurther-Eisenbahn roeee und die Regionalbusse.99 Die Zahlen der Wiener Linien und des vor sind also nicht direkt vergleichbar. Im gesamten vom vor bedienten Gebiet leben deutlich über zweieinhalb Millionen Menschen, in Wien über eineinhalb Millionen. Selbst wenn man annimmt, dass die tatsächliche Zahl der Fahrten in Wien 2008 nicht 804 Millionen betrug, wie die Statistik ausweist, sondern aufgrund des Umsteigens nur die Hälfte, also 402 Millionen, ist die Konzentration des öffentlichen Verkehrs auf das Kerngebiet der Großstadt sehr stark ausgeprägt. Die Differenz der Fahrgastzahlen im vor und bei den Wiener Linien betrug 2008 rund 74 Millionen, d. h. selbst unter der Annahme von nur 400 Millionen Fahrten mit den Wiener Linien legt die runde Million Einwohner des restlichen vor-Gebiets nur weniger als ein Fünftel Fahrten (18,4 Prozent) mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück als die gut eineinhalb Millionen in Wien.100 Der hier als zweite Stadt bezeichnete Teil der Wiener Stadtregion mit seinen vom vor nur unzureichend erschlossenen Zwischenräumen und tangentialen Raumbeziehungen fährt Auto, das Land sowieso. 495

georg rigele Eine weitere Veränderung in der Stadt sollte zu keinem allzu großen Optimismus der Verkehrsentwicklung Anlass geben. Die zurückgelegten Distanzen werden immer länger. Behörden und andere Dienststellen der öffentlichen Verwaltung wandern sukzessive aus dem Zentrum an den Rand. Unternehmen verlagern ihre Produktionsstätten und Büros an die Peripherie oder ins Umland. Ganze Industrieviertel haben sich seit den Sechzigerjahren in reine Wohngebiete verwandelt. Ein Beispiel dafür wäre die Krim im 19. Bezirk, ein ehemaliges Industrie- und Arbeiterviertel, wo die Autofabrik Gräf und Stift, die Bensdorp-Schokoladenfabrik, die Uhrenfabrik Schauer, die Danubia-Zählerfabrik und die Großtischlerei Schrom im Umkreis von wenigen hundert Metern produzierten. Viele Arbeiter der Fabriken in der Krim wohnten in den Zinshäusern im selben Viertel und gingen zu Fuß zur Arbeit. Die Unternehmen sind verschwunden oder haben ihre Produktionsstätten in die zweite Stadt verlegt. Auf den Gründen von Bensdorp und Gräf und Stift stehen seit den Achtzigerjahren Wohnanlagen, die hauptsächlich von Jungakademikerfamilien bezogen wurden, sowie ein Seniorenheim. Für die hohe Wohnqualität in einem »guten« Bezirk nehmen die Bewohner lange Wege in Kauf. Wenn Unternehmen den Betriebsstandort wechseln, ziehen die Beschäftigten, wenn überhaupt, nur sehr langsam nach. Die Folge sind längere Wege, die wenn möglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln und sonst mit dem Auto zurückgelegt werden. Der nicht motorisierte Individualverkehr zu Fuß und mit dem Fahrrad ist im Nachteil. Die Verkehrspolitik ist bis dato daran gescheitert, das Wachstum des Gesamtverkehrs und der zurückgelegten Distanzen zu verlangsamen.

Motorisierung Die Massenmotorisierung101 veränderte Wien von Grund auf, weil sie schließlich zur Ausbildung einer vom Auto geprägten randstädtischen Region führte, die die Kernstadt umgibt. Diese neue, zweite Stadt erstreckt sich über mehrere Gebietskörperschaften und wird politisch nicht wirksam gesteuert. Sie ist zwar politischen Einflüssen und Interessen ausgesetzt, funktioniert aber stark eigengesetzlich. Ihre Triebfedern waren zunächst der Zuzug von Wohnbevölkerung und die Verlagerung von Betrieben. Dem folgte ein genuines Wachstum, das nicht mehr in Abhängigkeit zu Entscheidungsfaktoren in der Kernstadt steht. Der in Hannover auf dem Gebiet des Städtebaus und der Landesplanung tätige Geograf Axel Priebs stellte fest  : »Tagtäglich werden in den Stadtregionen von unterschiedlichsten Akteuren raumwirksame Entscheidungen gefällt, die in ihren absehbaren Wirkungen nur beurteilt werden können, wenn es ein klares Leitbild für die Zukunft gibt.«102 Kennzeichen der zweiten Stadt, die Wien umgibt, ist genau das Fehlen eines Leitbildes. Vorboten 496

energie und verkehr in wien 1945–1995 der zweiten Stadt waren zum Beispiel das Siedlungsprojekt Südstadt (»Gartenstadt Süd«) an der Triester Straße bei Mödling in den frühen Sechzigern und die ersten Autobahnteilstücke. Wendemarken waren die Eröffnung der Shopping City Süd 1976 und der Autobahn A23 »Südosttangente« 1978. Die ikea-Filiale in der Shopping City Süd ist auf diesem Weg direkt mit der zweiten Wiener Filiale, ikea Nord, verbunden. Kennzeichen der vollen Ausbildung der zweiten Stadt war die Eröffnung der Wiener Südumfahrung S1 im Jahr 2006, wodurch das dynamische Wirtschaftsgebiet entlang der Südautobahn mit dem Raum Schwechat und seiner Fortsetzung entlang der A4 verschmolz.103 Bis in die Achtziger verlief dieser Prozess zulasten der Kernstadt, die seither aber für neue Bevölkerungsschichten attraktiv geworden ist und eine selbstständige Dynamik entfaltet. Die zweite Stadt hat Eigen­schaften, die der Washington Post-Journalist Joel Garreau für die usa unter dem Begriff »Edge City« subsumiert hat,104 unterscheidet sich vom Edge City-Konzept aber durch ihren diffusen und informellen Charakter. Die von Garreau beschriebenen Edge Cities sind tatsächlich stadtartige Gebilde neuen Zuschnitts, während die zweite Stadt funktional einer dynamischen Großstadt gleichkommt, sich jedoch der unmittelbaren Anschauung entzieht, weil sie keinen politischen Rahmen und keine sinnlich erfassbare Form hat. Althergebrachte Ortsschilder und grüne Wiese zwischendurch tarnen die zweite Stadt. Bevor es zur Verlagerung des automobilen Wien in die neu definierten Räume der zweiten Stadt kam, wurde zunächst die bestehende Stadt mit Autos angefüllt und streckenweise adaptiert. Ein erster deutlicher Motorisierungsschub war in den Dreißigerjahren zu verzeichnen, als die Zahl der Autos stark zunahm, obwohl die allgemeine Wirtschaftslage schlecht war. Das autoritäre Regime unter den Bundeskanzlern Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg förderte die Motorisierung. Der nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 eingesetzte Bürgermeister Richard Schmitz begann, das Wiener Straßennetz in den ehemaligen Vorstädten und Vororten mit sogenannten Assanierungsmaßnahmen durchlässiger zu gestalten. Die Assanierung des Freihausviertels führte zum Durchbruch der Operngasse zur Margaretenstraße im 4. Bezirk. Die Billrothstraße (19. Bezirk) wurde als Zufahrt zur Wiener Höhenstraße verbreitert. Im Zuge der Wientalstraße wurde bei der Stadtbahnstation Hietzing die erste Wiener Straßenunterführung errichtet. In verschiedenen Vorstadtstraßen wurden alte Häuser, die über die Baufluchtlinie in den Straßenraum hineinragten, abgebrochen und zurückversetzte Neubauten errichtet. Diese Maßnahmen erfassten bei weitem nicht alle Engstellen. Noch Mitte der Sechziger bestanden einige Nadelöhre an Hauptverkehrsachsen. So war der Gumpendorfer Gürtel südlich der Gumpendorfer Straße bis 1964/65 durch Häuser unterbrochen, und der gesamte Straßenverkehr wurde in diesem Abschnitt über den äußeren Gürtel geleitet. 497

georg rigele

Abb. 4  : Ausbau des Gumpendorfer Gürtels, aufgenommen von der Stadtbahnstation Gumpendorfer Straße Richtung Süden, 12.11.1964. WSTLA, Fotosammlung, media wien, Fotoarchiv des PID  : 64620/3. 12.11.1964

Die Verbindung des inneren Gürtels vom Margaretengürtel zum Gumpendorfer Gürtel über das Wiental (mit einer Brücke über die Stadtbahnstation Margaretengürtel) wurde 1967 hergestellt. Die Linke Wienzeile war im 15. Bezirk durch ein hineinragendes Haus auf eine einzige Spur verengt.105 Die Grünbergstraße verlief in einem schmalen zweispurigen Einschnitt. 1964, im Jahr ihres Ausbaus auf fünf Fahrspuren, überstieg die Zahl der in Wien zugelassenen Autos die 200.000er-Marke. Der Gürtel wurde über die Gürtelbrücke, welche Gleise des Franz-Josefs-Bahnhofs und den Donaukanal überquerte, Richtung 20. Bezirk verlängert und zur vierspurigen 498

energie und verkehr in wien 1945–1995

Tabelle 4  : Verkehrszählungen Kreuzung Kärntner Straße – Lastenstraße (Zweier­ linie) 1925/1955 (Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1955, S. 468) Fuhrwerke

Hand­ wagen

Fahrzeuge gesamt

315

2.830

512

13.663

1.816

1.292

361

20.082

8.081

720

325

25.108

2.556

720

469

11.391

1.974

3.150

155

86

20.684

3.752

1.651

73

30

27.383

ein Tag im Jahr

Straßenbahnen

Pkw

Lkw

Motorräder

1925

2.791

3.829

1.379

2.007

1932

2.884

6.682

3.767

3.280

1937

2.391

8.573

3.076

1.942

1945

533

2.888

3.477

748

1950

1.809

7.972

5.538

1955

1.955

13.722

6.177

Fahrräder

Grafik 6

Verkehrszählung Karlsplatz in Fahrten

14000 12000 10000 8000 6000 Pkw

4000

Lkw Fahrräder

2000 0 1925

Motorräder Straßenbahnen 1932

Fuhrwerke 1937

1945

Handwagen 1950

1955

Verkehrszählungen Kreuzung Kärntner Straße – Lastenstraße (Zweierlinie) 1925/1955 (Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1955, S. 468); Grafik: Nikolaus Kirstein

499

georg rigele Adalbert-Stifter-Straße Richtung Floridsdorfer Brücke fortgesetzt. 1959 nahmen die öbb die zweigleisige Nordbahnbrücke im Zusammenhang mit dem Bau der Wiener Schnellbahn in Betrieb. Dadurch konnten die Bundesbahnen auf die 1945 provisorisch reparierte Nordwestbahnbrücke verzichten. An ihrer Stelle wurde die Nordbrücke als vierspurige Straßenbrücke errichtet, deren Zubringer rechts und links des Donaukanals verlaufen und kreuzungsfrei in die Gürtelbrücke eingebunden sind. Für die Kreuzung Kärntner Straße–Lastenstraße, das ist die der Opernkreuzung vorgelagerte Kreuzung beim Karlsplatz, liegen Verkehrszählungsdaten vor, die die Umwälzung im Straßenverkehr von den Zwanziger- bis in die Fünfzigerjahre veranschaulichen.106 Anmerkungen zu Tabelle 4/Grafik 6 (siehe S. 499)  : Bis in die Fünfzigerjahre waren Pferdefuhrwerke zur Güterbeförderung in Verwendung. Die Ankerbrotfabrik beispielsweise belieferte ihre Filialen mit Fuhrwerken. Auch Molkereien bedienten sich noch der animalischen Traktion. Im Februar 1949 ließ das Altersheim Lainz seinen »Pferdebetrieb« auf und gab den Wallach »Max«, die Stute »Fini«, zwei weitere Stuten und den Wallach »Michi« an andere Krankenanstalten ab, die offensichtlich noch Verwendung für sie hatten.107 In den Sechzigerjahren befuhr noch ein »Fetzen- und Hadernmann« mit seinem Gespann die Wohngegend des Autors und sammelte Altwaren ein. Anmerkungen zur Grafik 7 (siehe S. 501)  : Die Zahlen veranschaulichen das enorme Tempo, in dem sich die Wiener Bevölkerung motorisierte, und weisen zudem auf strukturelle Verschiebungen und externe Einflüsse wie die beiden Ölpreisschübe von 1973/74 und 1980 hin. Das Wachstum der Motorisierung ging selbst in der Hochkonjunktur weit über das allgemeine Wirtschaftswachstum hinaus. In den Neunzigern flachte das Wachstum der Autozulassungen ab. Eine Sättigung trat um das Jahr 2000 ein. Dies hat zu einem gewissen Grad mit dem Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und einer Reurbanisierung des Lebensstils in der Kernstadt zu tun, aber vermutlich noch mit dem Abwandern des automobilen Wiens in die zweite Stadt außerhalb der administrativen Stadtgrenzen. Bei näherer Betrachtung der Daten aus der Zulassungsstatistik fällt zunächst auf, dass 1945 kaum noch Straßenfahrzeuge angemeldet waren. Die Autobusse waren praktisch nicht mehr vorhanden und der Lastwagenbestand auf einen kleinen Bruchteil des Notwendigen geschrumpft. Die Verluste waren kriegsbedingt (Beschädigungen, Zerstörungen, Verlagerungen), ein Teil der Fahrzeuge wurde von den Besatzungsmächten konfisziert und ein Teil war abgemeldet. Weder Treibstoff noch Ersatzteile waren ausreichend verfügbar. Zunächst stiegen die Lkw-Zulassungen am 500

energie und verkehr in wien 1945–1995

Grafik 7  Motorisierung ab 1943

Zugelassene Kraftfahrzeuge in Wien  800000

700000

600000

500000

PKW

400000

300000

200000

Busse

Motorräder

100000

LKW 1943

1948

1953

1958

1963

1968

1973

1978

1983

1988

1993

1998

2003

0 2008

Zugelassene Kraftfahrzeuge in Wien Quelle  : Statistische Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg.; Grafik: Nikolaus Kirstein

schnellsten. Ende 1948, als große Mengen Hilfsgüter im Rahmen des Marshall-Plans geliefert wurden, war die Lkw-Flotte wieder auf der Höhe von vor den Verlusten zu Kriegsende. 1950 war das erste Jahr, in dem mehr Pkw als Lkw zugelassen waren. Im selben Jahr wurden die Pkw-Zulassungen des Jahres 1937 übertroffen. (13.853 Pkw und 2.157 Taxis, Summe 16.010 am 30. 9. 1937 gegenüber 19.120 Ende 1950). Nun war die materielle Lage der Wiener Bevölkerung 1950 noch keineswegs auf Friedensniveau. Eine kleine Oberschicht motorisierte sich aber bereits. Als die Konjunktur ab 1954 kräftig anzog, schnellten die Autozulassungen derart nach oben, dass dies nicht mit der günstigen Wirtschaftsentwicklung allein zu erklären ist. Vielmehr war der Wunsch nach einem eigenen Fahrzeug bei manchen Menschen so stark, dass sie sich Kaufpreis, Unterhalt und Reparaturen buchstäblich vom Mund absparten. In einer von Kurt Bauer herausgegebenen Sammlung autobiografischer Texte findet sich folgende Passage  : »Und wieder hieß die Devise  : Sparen. Und wo spart eine Hausfrau zuerst  ? Beim Kochen. Und vor jeder Wochenendausfahrt rechneten wir die Kilometer und den Benzinverbrauch aus, um dann doch nicht wegzufahren.«108 501

georg rigele

Tabelle 5  : Bestandene Führerscheinprüfungen, Männer/Frauen Jahr

Kfz (B) Männer

Kfz (B) Frauen

1946

3.788

458

1950

6.377

1.190

Motorrad (A) Männer

2.900

Motorrad (A) Frauen

68

1955

11.104

2.849

3.742

33

1960

15.167

5.375

1.441

44

1965

13.667

7.654

380

61

1970

10.292

7.929

11.18

35

1975

10.745

9.427

2.740

123

1980

10.033

9.831

2.852

317

1990

10.514

11.376

3.505

1.134

1995

8.647

7.467

3.505

1.442

Quelle  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg.

Aus den Zahlen wird deutlich, dass die Fahrprüfung für Männer ab Mitte der Fünfziger zum normalen Ereignis in der Adoleszenz wurde. Die höheren Zahlen von 1965 und 1970 verweisen auf ein Nachholen der Führerscheinprüfung bei älteren Jahrgängen. Ab Mitte der Siebzigerjahre wurde es auch für Frauen selbstverständlich, den Führerschein zu machen. Das Motorrad hingegen ist eine Domäne der Männlichkeit geblieben, obwohl die Bikerinnen aufholen. Die Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren war schockierend hoch. Die Rücksichtslosigkeit, mit der Fußgänger ins Jenseits befördert wurden, wäre ein eigenes Forschungsthema zwischen Rechtsgeschichte und Mentalitätsgeschichte. Das verheerende Jahr 1960 sticht auch wegen des schwersten Straßenbahnunfalls in Wien heraus. Dass die Zahl der Unfallopfer ab 1976 sank und 2008 rund zehn Prozent des Werts von 1960 betrug, verdankt sich einer Reihe von technischen, rechtlichen und medizinischen Verbesserungen. Die Kreuzungen an stark befahrenen Straßen wie dem Gürtel sind längst alle mit Ampeln geregelt, und die schiere Verkehrsdichte erzwingt eine Zurücknahme des Tempos. Ein weiterer wesentlicher Grund dürfte sein, dass Rasen und rücksichtsloses Beharren auf dem Recht des Stärkeren zunehmend gesellschaftlich geächtet werden.

502

energie und verkehr in wien 1945–1995

Grafik 8 Unfallfolgen: Verletzte und Tote im Straßenverkehr in Wien Verletzte

Tote 800

16000

700

14000

600

12000

Verletzte 500

10000

400

8000

300

6000

200

4000

Tote 100

2000

0

0 1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

2005

Verletzte und Tote im Straßenverkehr in Wien Quelle  : Statistisches Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg. Grafik: Nikolaus Kirstein

Ruß statt Blei Die generelle Katalysatorpflicht für Neuwagen galt ab 1. Jänner 1988. Bleifreies Benzin, das die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Abgas-Katalysatoren bildet, wurde in Österreich ab 1984 angeboten. Die Folge waren zunächst immer mehr saubere Benzinautos. Dieser positive Effekt wurde durch den um 1990 einsetzenden Dieselboom konterkariert. Die Beliebtheit der Dieselmotoren ist auf deren geringen Verbrauch zurückzuführen, verbunden mit einer steuerlichen Begünstigung des Dieseltreibstoffs gegenüber Benzin. Die frühere Trägheit des Diesels wurde mit der Einführung der Turbodieselmotoren überwunden. Die Drehmomentcharakteristik des Dieselmotors mit einem starken Durchzugsvermögen im unteren Drehzahlbereich wird von vielen Automobilisten sehr geschätzt. Den Ausstoß krebserregender Rußpartikel und schädlicher Stickoxide scheinen die Dieselfahrer/innen verdrängt oder bewusst in Kauf genommen zu haben. Erst in den letzten Jahren wurde das Rußproblem bei Neuwagen durch die Einführung von Partikelfiltern gelöst, die 503

georg rigele Peugeot/Citroën erstmals im Jahr 2000 für einzelne Modelle anboten. Es wird aber noch Jahre dauern, bis die rußenden Altfahrzeuge verschwunden sein werden. Tabelle 6  : Benzin- und Diesel-Pkw-Bestand in Wien (Statistisches Jahrbuch/Jahrbuch der Stadt Wien, div. Jg.) Jahr

Benzin

1950

19.002

Diesel 22

1955

48.462

944

1960

130.159

3.225

1965

221.328

6.294

1970

310.459

9.394

1975

392.131

11.489

1980

435.222

16.397

1985

470.023

25.573

1990

479.522

67.384

1991

485.437

73.925

1995

476.289

117.537

1999

436.209

192.478

2004

377.248

275.143

Tabelle 7  : Verbrauch an Benzin, Diesel, Flugturbinentreibstoff in Österreich in 1000 t (Statistisches Jahrbuch Österreich 2010, 353) 1970

1980

1990

2000

2008

Benzin

1.574,8

2.436,3

2.552,3

1.980,4

1.835,0

Diesel

1.135,7

1.503,1

2.084,0

4.262,1

6.147,5

41,9

132,6

314,6

570,2

725,2

Flugturbinenkraftstoff

Die relative Sparsamkeit der Dieselfahrzeuge bewirkt wenig, wenn der Gesamtverkehr und Gesamtverbrauch ungebrochen steigen. Das Wachstum bei den Flugreisen und der Luftfracht stellt die anderen Verkehrssektoren in den Schatten.

Passagen und Gar agen In den Fünfzigern wurde die Innenstadt zugeparkt. Wer sein neues Auto etwa gerade noch auf dem Lobkowitzplatz abgestellt hatte, musste einige Wochen später 504

energie und verkehr in wien 1945–1995 vielleicht schon auf die Albertina-Rampe ausweichen, bis auch dort kein freier Platz mehr zu finden war. Im November 1955 konferierten internationale Experten im Rathaus bei der »Ersten Wiener Straßenverkehrsenquete« und legten einen Katalog von Empfehlungen vor. »Einmütig wurde bei den Beratungen gegen das Parken von Kraftfahrzeugen an Straßenrändern Stellung bezogen, weil dies bei der ständig zunehmenden Zahl der Autos als missbräuchliche Verwendung der Straße anzusehen ist, die für den fließenden Verkehr gebaut wurde.«109 Abhilfe sollten neue Verkehrsbauten schaffen  : – Tiefgaragen und Parksilos – kreuzungsfreie Schnellverkehrsstraßen – Expressstraßen – Verbreiterung der Fahrbahnen durch Arkadierungen (d. h. die Verlegung der Gehsteige in Arkaden) Die Empfehlungen der Enquete enthielten auch den Hinweis, »dass der öffentliche Verkehrsbetrieb die leistungsfähigste Beförderungsart bei geringster Beanspruchung der Straßenfläche ist.«110 Der Bau einer U-Bahn wurde wegen der hohen Kosten erst zu einem späteren Zeitpunkt empfohlen. 1958 wurde der nach Plänen von Karl Schwanzer ausgeführte »Autolift« am Neuen Markt eröffnet, ein zwölfgeschossiges Parkhaus bzw. ein »Parksilo« im Sinne der Verkehrsenquete.111 1959 wurden die ersten Kurzparkzonen eingeführt. An der Ringstraße siedelten sich »Autosalons« an. Der Autokauf war eine Angelegenheit, die man in der Innenstadt erledigte. Das Grundstück am Parkring gegenüber dem Stadtpark, auf dem 1985 das Hotel Marriott eröffnet wurde, war davor von der Firma Denzel als Freiluft-Verkaufsfläche genutzt worden. Die Ringstraße wurde in beide Richtungen befahren, und die Opernkreuzung war der verkehrsreichste Ort Wiens. 1953–1955 wurde die Opernpassage gebaut, eine Fußgängerunterführung mit Geschäften, einem Espresso in der Mitte und Rolltreppen an den Aufgängen, die gleichzeitig mit der wieder aufgebauten Staatsoper eröffnet wurde.112 Die Idee, die verschiedenen Verkehrsarten zu entflechten und für Fußgänger, Autos und Bahnen eigene Verkehrsebenen zu schaffen, wurde von Architekten und Stadtplanern seit dem frühen 20. Jahrhundert verfolgt. Der renommierte Architekt und Stadtplaner Karl Brunner wirkte als Leiter der Wiener Stadtplanung 1948–1951 in diesem Sinne. 1951 wurde auf dem Matzleinsdorfer Platz eine zunächst zweispurige Unterführung der Gürtelstraße eröffnet, nach der Wientalstraßenunterführung in Hietzing von 1937 die zweite Wiener Autostraßen-Unterführung.113 Die Opernpassage, auch »Jonas-Grotte« nach Bürgermeister Franz Jonas (1899–1974, Bürgermeister 1951–1965) genannt, war die erste von fünf Ringstraßen-Passagen. In verkehrstechnischer Hinsicht am 505

georg rigele bedeutendsten war und ist die Schottenpassage, auch »Jonas-Reindl« genannt. Die inoffizielle Bezeichnung dieses komplexen Verkehrsbauwerks kommt daher, dass die Umkehrschleife der Straßenbahnlinien aus der Währinger Straße auf der Ebene der unterirdischen Passage liegt und das Innere der Schleife als offene Grünfläche gestaltet wurde, also das Innere des vorgestellten Reindls (ein Kochgefäß) bildet, als dessen Stiel man sich die Abfahrtsrampe vorstellen kann. Auf Straßenniveau direkt über der unterirdischen Schleife befindet sich die Schleife der Linien aus der Alserstraße-Universitätsstraße. Das Jonas-Reindl ist durch einen Eingang direkt mit der Votivgarage verbunden, mit 630 Stellplätzen die erste Tiefgarage Wiens für mehrere hundert Autos. Die Votivgarage schließt baulich direkt an die Rückseite der Straßenbahnschleife und die Abfahrtsrampe in der Währinger Straße an. (1964 folgte mit der Garage am Hof die nächste unterirdische Großgarage, es folgten kontinuierlich weitere, teilweise umstrittene, Hoch- und Tiefgaragen. Schwanzers »Autolift« wurde in den Achtzigerjahren als Störung des Stadtbildes gesehen und abgetragen.) Die Oberflächengestaltung über der Votivgarage mit zeittypischem Gartendesign, Wegführungen und Sitzgelegenheiten strahlte eine charakteristische Atmosphäre aus, die z. B. auch beim Gartenbaukino oder auf dem Flughafen WienSchwechat anzutreffen war, gewissermaßen die Oberfläche der Zeit, die mittlerweile nur noch mit archäologischem Blick auszunehmen ist. Auf das Straßenbahnnetz hatten die Ringstraßen-Passagen einen negativen Einfluss, weil während ihres Baus die Gleisverbindungen von den einmündenden Straßen zum Ring unterbrochen wurden und die über sie verkehrenden Ringlinien eingestellt wurden. Auch dort, wo eine Wiedereinführung nach der Bauvollendung möglich gewesen wäre wie bei der Linie L, unterblieb sie. Ein Übergang aus der Währinger Straße auf den Ring wurde wegen der unterirdischen Endschleife im Jonas-Reindl unmöglich, die Einstellung des F-Wagens unumkehrbar. Die Folge war ein erhöhter Umsteigezwang für die Straßenbahnbenutzer. Das flächenmäßig größte Verkehrsprojekt der Fünfziger war der Umbau des Praterstern zu einem Kreisverkehr 1954–1955. »Die Fußgänger müssen unter die Straße«, hielt das Jahrbuch der Stadt Wien fest, weil die Straßenbahnhaltestellen im Inneren des sechsspurigen Verkehrskreises nur durch Fußgängertunnels erreichbar waren.114 1958 wurde die Ringturmkreuzung umgebaut. Eine Richtungsfahrbahn entlang des Kais wurde als Brücke über die Stadtbahnstation geführt. 1961–1964 wurde die Hietzinger Brücke (Kennedybrücke) durch einen Neubau ersetzt. Auch in diesem Fall umkreisten die neuen Fahrbahnen die Anlagen der öffentlichen Verkehrsmittel. Das ursprüngliche Stationsgebäude der Stadtbahnstation Hietzing wurde dabei abgebrochen wie auch das der Station Meidlinger Hauptstraße. Da keine der Stationen aus dem Büro Otto Wagners gleich war, handelt es sich um unwiederbringliche architektonische Verluste. 506

energie und verkehr in wien 1945–1995 Ein weiteres, ursprünglich sehr anspruchsvoll gestaltetes Verkehrsbauwerk war die 1959 eröffnete Straßen-, Straßenbahn- und Fußgängerunterführung Südtirolerplatz, die 1962 mit der neuen Schnellbahnstation verbunden wurde. Die missglückte Einbindung der 1978 eröffneten U-Bahn-Station Südtirolerplatz, deren Bahnsteige ein gutes Stück stadteinwärts unter der Favoritenstraße liegen, machte die unterirdischen Verbindungen zu einem Labyrinth. Dieser Missstand wurde mehr als dreißig Jahre nach der U1-Eröffnung im Zusammenhang mit dem Bau des Wiener Hauptbahnhofs saniert, indem ein gerader Verbindungsgang von der U1 zum zukünftigen Hauptbahnhof gebaut wurde. Für die Automobilisten gestaltete sich die Fahrt über den Südgürtel durch die Unterführung Südtirolerplatz wesentlich flüssiger als vorher, weil die Kreuzung mit dem Straßenzug Favoritenstraße – Laxenburger Straße entfiel. An der weiteren Geschichte der Ringstraßenpassagen lassen sich verkehrspolitische Trends ablesen. In die Schottenpassage mündet seit 1982 der Hauptausgang der U2-Station Schottentor. Die Opernpassage wurde mit der Karlsplatzpassage und dem U-Bahn-Knoten Karlsplatz (U1, U2, U4) verbunden. In den Achtzigerjahren siedelte sich dort eine offene Drogenszene an, die »Kinder vom Karlsplatz«. Diese verharmlosende Bezeichnung rührte von zahlreichen sehr jungen Abhängigen her. Die Bellariapassage wurde als Teil der 1991 eröffneten U3-Station Volkstheater erneuert. Ab der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre nahm die Stadtverwaltung mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse des nicht motorisierten Individualverkehrs. Der Ringstraßen-Radweg wurde angelegt, und die Fußgängerinnen und Fußgänger erhielten wieder mehr Übergänge über die Ringstraße. Die zwangsweise Verdrängung des Fußvolks in den Untergrund endete allmählich. Selbst die Opernkreuzung und die Schottenkreuzung können mittlerweile wieder offiziell auf Zebrastreifen überquert werden. Die Babenbergerpassage wurde in ein Veranstaltungslokal umgewandelt und die Albertinapassage 2009 gänzlich geschlossen.

Roland R ainer, Planungskonzept Wien115 Das Planungskonzept Wien, das unter der Leitung des Architekten Roland Rainer (1910–2004) ab 1958 erarbeitet wurde, wurde 1961 vom Wiener Gemeinderat einstimmig angenommen und 1962 in Buchform veröffentlicht. Die großformatige Pub­likation wirkt wie ein Künstlerbuch (Grafik von Hans Thomas). Rainer verstand die Stadt noch als auf ein Zentrum ausgerichtetes Gebilde. Die Verkehrsprobleme im Zentrum wollte er durch die Schaffung von Bezirkszentren lösen. Rainer plädierte für die Altstadterhaltung. Die funktionale Entflechtung der Verkehrswege (Fußwege, Straßenbahn, Zubringerautoverkehr, Durchgangsautoverkehr, …) sollte die Leistungsfähigkeit der Stadtverkehrsinfrastruktur erhöhen. 507

georg rigele Das Planungskonzept für die nächsten dreißig bis fünfzig Jahre (d. h. bis 1992 bzw. bis 2012) beruhte auf elf Grundsätzen  : 1. Auflockerung von zu dicht verbauten Stadtgebieten 2. Verdichtung von zu locker verbauten Stadtgebieten 3. Entmischung von gemischt genutzten Wohngebieten (zur Vermeidung von Lärm und Abgasen von Gewerbebetrieben in Wohngebieten) 4. Bildung städtebaulicher Zentren, »Nebencitys« im engeren Stadtgebiet zur Entlastung der Inneren Stadt (verwirklicht in Hietzing und Floridsdorf) 5. Vorsorge für den Raumbedarf der Wirtschaft 6. Vorsorge für den Massenverkehr, um ein weiteres Abwandern von Fahrgästen zu verhindern 7. Vorsorge für den Individualverkehr, Bau leistungsfähiger Schnellverkehrsstraßen 8. Schutz des Stadtbildes. Die Stadt soll nicht dem Verkehr geopfert werden, sondern sich der Verkehr der Stadt anpassen. 9. Landschaftsschutz und Schutz landwirtschaftlicher Interessen 10. Grünflächenplanung 11. Zusammenarbeit mit den anderen Trägern der Planungshoheit in Wien, mit Niederösterreich und den Nachbargemeinden Rainers Konzept war vor allem hinsichtlich Stadtbildschutz und Altstadterhaltung erfolgreich. Er trug dazu bei, dass etwa die Mölkerbastei oder das Blutgassenviertel erhalten geblieben sind. Die Vorschläge zur Verkehrsplanung hingegen wurden nicht nur nicht umgesetzt, sie sollten sich auch nach wenigen Jahren als überholt erweisen, weil Rainer die vom Auto geprägte weiträumige zweite Stadt (Stadtregion) nicht voraussehen konnte. Rainer präsentierte eine Ideallösung für die Kreuzung von Gürtel und Wiental unter dem Titel »Gaudenzdorfer Knoten«, die seinen Planungsansatz beispielhaft illustriert. »Die typische Aufgabe städtischer Verkehrsplanung liegt in der Verknotung der verschiedenen Verkehrswege und Verkehrsmittel zu einer gemeinsam funktionierenden Einheit.« Dem damaligen Projekt nach sollte am Gaudenzdorfer Knoten der Ausgangspunkt der Westautobahn sein, die in einer Wiental-Schnellstraße ihre Fortsetzung in die Innenstadt gefunden hätte. Rainer konzipierte eine Zweiglinie bzw. Verlängerung der Stadtbahn-Gürtellinie von der Station Gumpendorfer Straße über den Margaretengürtel Richtung Meidling. Über der Stadtbahn-Wientallinie situierte er eine Stadtbahnstation in Hochlage, die von ebenfalls aufgestelzten Fahrbahnen für den Durchzugsverkehr des Gürtels flankiert wurde, unter denen auf der einen Seite die Straßenbahntrasse verlaufen wäre und auf der anderen Seite Bushaltestellen und Taxistandplätze gelegen wären. Die Westautobahn und die Wientalschnellstraße wären über dem Wienflussbett an508

energie und verkehr in wien 1945–1995 gelegt worden. Die Fußwege waren zu ebener Erde mit Fahrbahnüberquerungen vorgesehen.116 Unterpflasterstr aßenbahn 117 Um 1960 lehnte die spö-geführte Stadtverwaltung den Bau einer U-Bahn ab, realisierte aber zunächst punktuelle Projekte zur Einführung einer zweiten Verkehrsebene wie die Ringstraßenpassagen oder einzelne Straßen-, Straßenbahn- und Fußgängerunterführungen. Die Straßenbahn wurde 1959 am Südtirolerplatz und 1961 am Schottentor bzw. im »Jonas-Reindl« unter die Erde gelegt. Nach der Eröffnung der Wiener Schnellbahn wurde ein erweitertes Schnellbahnnetz unter Einbeziehung der Stadtbahnstrecken entworfen. Die Straßen­bahnlinien innerhalb des Gürtels sollten eingestellt oder als Unterpflasterstraßenbahnen geführt werden. Am interessantesten wäre eine Innenstadtquerung von der Schottenpassage, wo für einen unterirdischen Weiterbau vorgesorgt war, über den Stephansplatz zur Landstraße gewesen, weil die Innenstadt bis zur Eröffnung der U1 nur mit Autobussen erschlossen war. Als Unterpflasterstraßenbahn, abgekürzt Ustrab, bezeichnete man unterirdisch verlaufende Straßenbahnstrecken, die mittels Rampen mit dem übrigen Streckennetz verbunden waren. Erich Kurz, Autor einer grundlegenden Studie zur Wechselbeziehung von Verkehr und Städtebau in Wien, unterscheidet zwischen Unterpflasterbahnen in »Straßenbahnmanier«, wozu er die unterirdische Schleife Schottentor und die ursprüngliche Straßenbahnunterführung Südtiroler Platz zählt, und der Ustrab in »U-Bahn-Manier«, deren Tunnels auf eine spätere Umrüstung auf U-Bahn vorbereitet sind.118 Moderne Stadtbahnen bzw. Light-Rail-Systeme sind im Gegensatz dazu wesentlich hybrider und können Hoch- und Tiefbahnstrecken mit Strecken im Straßenniveau und durch Fußgängerzonen kombinieren, also sowohl klassische Straßenbahn als auch Stadtschnellbahn oder U-Bahn sein. Lediglich zwei Unterpflasterstrecken in U-Bahn-Manier wurden tatsächlich gebaut, die »Zweierlinie« und die Gürtel-Ustrab, wovon die Zweierlinie zur U-Bahn U2 umgebaut wurde. Den Baubeschluss für die Tieflegung der parallel zur Ringstraße verlaufenden »Zweierlinie« (Linien E2, G2 und H2) zwischen Landesgericht und Secession fasste der Gemeinderat 1962. Hintergrund war weniger eine Verbesserung des Straßenbahnbetriebes als die Gewinnung zusätzlicher Fahrspuren für den Autoverkehr. Während des Baus wurden Vorkehrungen getroffen, die eine spätere Umstellung auf einen U-Bahn-Betrieb ermöglichen sollte. Als die Zweierlinien-Ustrab 1966 eröffnet wurde, hatte die Stadtplanungskommission des Wiener Gemeinderats bereits den Bau einer U-Bahn empfohlen, der 1968 beschlossen und 1969 begonnen wurde. In den Jahren 1964–1969 wurde eine weitere Ustrab-Strecke am Margaretengürtel und Wiedner Gürtel gebaut, deren 2,3 Kilometer langer Hauptabschnitt von der Linie 18 befahren wurde und im Osten in der bereits 1959 eröffneten Unterführung Süd509

georg rigele tiroler Platz endete. Eine unterirdische Zulaufstrecke aus der Wiedner Hauptstraße dient der Einbindung der Radiallinien 62 und 65 bei der Station Kliebergasse und eine Abzweigung führt unter dem Matzleinsdorfer Platz nach Süden, die von Westen vom 6er und von Osten vom 65er (seit 2008 Linie 1) benützt wird. Zudem befährt die Badnerbahn (Lokalbahn Wien – Baden) die Gürtel-Ustrab. Für den Bau der Strecke unter der Wiedner Hauptstraße wurde 1962 die alte Matzleinsdorfer Pfarrkirche St. Florian, auch Floriani- oder Rauchfangkehrerkirche genannt, die in Straßenmitte stand und von der Straßenbahn und der Badnerbahn auf beiden Seiten umfahren wurde, abgebrochen. Proteste, an denen sich auch viele Architekten beteiligten, halfen nichts.119 Beide Unterpflasterstrecken führten nicht zu einer signifikanten Beschleunigung. Auf der Zweierlinie und zunächst auch auf der Gürtel-Ustrab verkehrten veraltete Zweiachser, die bei ihrer Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h durch Schaukel- und Schlingerbewegungen das Gefühl einer höheren Geschwindigkeit vermittelten. Zeitgesteuerte Signale an der unterirdischen Abzweigung Matzleinsdorfer Platz der GürtelUstrab führen zu langen Wartezeiten und einer Selbstbehinderung der Straßenbahn.120

Stadtentwicklungsplan 1984 und neue Planungsgrundsätze Energiekrise, Umweltbewusstsein, neue Urbanität und geänderte Werthaltungen schienen in den Achtzigerjahren eine neue Verkehrspolitik hervorzubringen. Der Stadtentwicklungsplan 1984 war gerade heraus  : »Eine deutliche Bevorzugung des öffentlichen Verkehrs liegt im Allgemeininteresse«, Park & Ride am Stadtrand, Beschleunigung von Bus und Straßenbahn durch eigene Spuren bzw. Trassen. »Lokalen Interessen darf hiebei nur nachgeordnete Bedeutung zukommen.«121 »Die autogerechte Stadt kann und soll es nicht geben.«122 Planungsziele waren u. a. die Verkehrsberuhigung in Wohngebieten, die Förderung des Fuß- und Fahrradverkehrs und der Garagenbau in Wohngebieten in der Absicht, Straßen von parkenden Autos frei zu bekommen. Verkehrsplaner wie Hermann Knoflacher oder Ernst Pfleger propagierten in den Achtzigerjahren einen straßenbaulichen Paradigmenwechsel. Knoflacher, der 1980 im Auftrag der Stadtplanungsabteilung ein Verkehrskonzept für Wien erstellte, beschäftigte sich mit theoretischen Grundlagen der Verkehrsplanung, den menschlichen Sinnen und der Wahrnehmung von Zeit, Raum und Geschwindigkeit, mit menschlichem Verhalten und Lernen. Er plädierte für Chancengleichheit im Verkehrssystem für Fußgänger, Radfahrer und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Knoflacher trat für den Abbau der Privilegien der Autobenützer im Straßenraum und autofreie Bereiche ein. Wohnsammelgaragen statt »Laterndlparkplätzen« soll510

energie und verkehr in wien 1945–1995 ten eine Äquidistanz von Haltestelle und Parkplatz herstellen.123 Wohnsammelgaragen wurden gleichzeitig mit dem Bau der U3 unter der Landstraßer Hauptstraße verwirklicht, allerdings ohne die für die Wirksamkeit des Konzepts notwendige konsequente Aufhebung von Parkplätzen an der Oberfläche. Ernst Pfleger war in den Achtzigerjahren als Verfechter des Straßenrückbaus der Leibhaftige für Autoclubs und ihnen nahe stehende Medien. Zu seinem planerischen Repertoire an »Sofortmaßnahmen für einen menschengerechten Verkehr« zählten Fahrbahnteiler, Gehsteigerweiterungen, Geschwindigkeitsbremsen durch »Schleusen«, den Aufbau einer Torwirkung im Straßenverlauf durch Gehsteigverbreiterungen, Baumpflanzungen, Fahrbahnverschwenkungen und Aufdoppelungen (Erhöhung der Fahrbahn auf Gehsteigniveau). Kreuzungen entschärfte Pfleger ebenfalls mit Aufdoppelungen sowie Fahrbahnversetzungen und Kreisverkehren. Zur Geschwindigkeitsreduktion an gefährlichen Stellen empfahl er Querschwellen. Die Erhöhung der Sicherheit für Fußgänger war erstrangiges Planungsziel.124

Die Wiener Schnellbahn – der große Wurf 125 Ein großer Nutzen für die Allgemeinheit, Erweiterungs- und Ausbauoptionen für die Zukunft und effizienter Einsatz von Steuermitteln zeichnen gelungene öffentliche Investitionen aus. Diese Kriterien treffen auf die Wiener Schnellbahn zu, die 1955 von den öbb projektiert und 1962 auf der Nord-Süd-Durchmesserlinie Meidling–Floridsdorf eröffnet wurde. Diese 13,3 Kilometer lange Stammstrecke entlang der Südbahn, der Verbindungsbahn und der Nordbahntrasse wurde zu einem Yförmigen Netz ergänzt durch die gleichzeitig eröffneten Außenäste von Floridsdorf nach Gänserndorf (Nordbahn, 26,5 Kilometer) und von Floridsdorf bis Stockerau (Nordwestbahn, 21,6 Kilometer). Die Außenäste wurden zunächst stündlich, dann halbstündlich bedient. Auf der Stammstrecke fuhren die Schnellbahnzüge alle Viertelstunden bei einer Fahrzeit von 24 Minuten (2010  : 25 Minuten). Voraussetzung für die Schnellbahn war der Wiederaufbau der Nordbahnbrücke 1959, der Neubau des Bahnhofs Praterstern und eine Neutrassierung der Verbindungsbahn im Bereich des Südbahnhofs. Die Zwischenstationen wurden schrittweise ausgebaut, zuletzt die Station Rennweg, eröffnet 1971 und komplett erneuert für die Abzweigung der Flughafenschnellbahn 2002. Die besonderen Vorzüge der Schnellbahn (seit 2005 als S-Bahn bezeichnet) bestehen in der hohen Reisegeschwindigkeit, der Bequemlichkeit der Fahrzeuge, die als Vollbahnzüge hinsichtlich Fahrzeugbreite, Laufkultur und Geschwindigkeit als Stadtverkehrsmittel konkurrenzlos sind, und vor allem in der durchgehenden Verbindung von Stadt und Umland. Bis 1962 war, wenn man von den Personenzügen der öbb absieht, die Wiener Stadtbahn das einzige übergeord511

georg rigele nete Verkehrsmittel, das eine höhere Reisegeschwindigkeit bot als die Straßenbahn. Betreiber der Schnellbahn sind die Österreichischen Bundesbahnen. Es bestand von Anfang an eine Tarifgemeinschaft mit den Wiener Verkehrsbetrieben, d. h. auf der Schnellbahn-Stammstrecke zwischen Floridsdorf und Meidling waren auch die Fahrscheine der Wiener Verkehrsbetriebe gültig. 1967 wurde die Tarifgemeinschaft bis an die Stadtgrenze (Stationen Liesing, Strebersdorf und Süßenbrunn) ausgedehnt. Eine generelle Tarifeinheit der Wiener Verkehrsbetriebe mit allen Bahnen im Wiener Großraum galt erst im Verkehrsverbund Ost-Region (vor), der nach einem Jahrzehnt Planung 1984 in Kraft trat und zunächst die Wiener Verkehrsbetriebe und die Eisenbahnen umfasste. 1988 wurden die regionalen Autobuslinien in den vor einbezogen. Vor Einführung des vor musste beim Umsteigen in Linien eines anderen Verkehrsunternehmens jeweils ein eigener Fahrschein erworben werden, z. B. beim Umsteigen vom Postbus in die Eisenbahn und bei der Weiterfahrt mit einem städtischen Verkehrsmittel. Eigentümer der Verkehrsverbund Ost-Region GmbH sind die Bundesländer Wien (44 Prozent), Niederösterreich (44 Prozent) und Burgenland (12 Prozent). Teilnehmende Verkehrsunternehmen sind die Wiener Linien, die öbb, die Wiener Lokalbahnen und die Raab-Ödenburger-EbenfurtherEisenbahn ROeEE/GySEV sowie mehrere Busunternehmen. Durch die schrittweise Einbeziehung weiterer Eisenbahnlinien ins Schnellbahnnetz verbesserte sich die Anbindung des Städtebandes entlang der Südbahn bis Wiener Neustadt und des Weinviertels im Fächer der Linien nach Hollabrunn (Retz, Znaim/Znojmo), Mistelbach (Laa an der Thaya) und Gänserndorf (Nordbahn). Neusiedl am See konnte durch eine einfache Maßnahme ins Schnellbahnsystem eingebunden werden, indem eine neue, nach Wien ausgerichtete Abzweigung von der Ostbahn zur Strecke nach Neusiedl errichtet wurde, die die aus k. u. k. Zeiten stammende und nach Ungarn weisende ersetzte. Die Achtzigerjahre brachten den größten Aufschwung der Schnellbahn mit mehreren Linienverlängerungen und der Wiedereröffnung der Stadtbahn-Vorortelinie als S45 im Jahr 1987. Die ­erhalten gebliebenen Stadtbahnstationen Otto Wagners wurden dabei in Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt vorbildlich restauriert. Zwischen Hütteldorf (U4, Westbahn) und Heiligenstadt (U4, Franz-Josefs-Bahn) bietet die Vorortelinie nicht nur eine konkurrenzlos schnelle, sondern als »Gebirgsbahn« in der Stadt auch vom Fahrerlebnis her besondere Verbindung. Durch die Verlängerung bis Handelskai ist die S45 auch mit der Schnellbahn-Stammstrecke und der U6 verknüpft, seit 1998 befindet sich die Endstation der U3 bei der S45-Station Ottakring. Die Wiederinbetriebnahme der Vorortelinie war nicht zuletzt einer breiten Bürgerbewegung zu verdanken.126 Der Ausbau der Schnellbahn zu einem übergeordneten Schnellverkehrssystem im Großraum Wien gelang deshalb, weil der Bund (die Bundesregierung, das Verkehrsministerium) und die Bundesbahnen es als ihre Aufgabe verstanden, 512

energie und verkehr in wien 1945–1995 den Nahverkehr zu verbessern. In den Ausbau der Schnellbahn wurde in den Siebziger- und Achtzigerjahren aus energiepolitischen, umweltpolitischen und raumplanerischen Gründen investiert. Die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland tun sich viel schwerer, gemeinsame Ziele zu definieren und umzusetzen. Während die Schnellbahn der öbb die niederösterreichischen Bezirke Korneuburg und Gänserndorf in den Wiener Großraum einbezog, zogen sich die Wiener Verkehrsbetriebe aus Niederösterreich zurück, indem sie die Straßenbahnlinien 72 nach Schwechat (1962), 360 nach Mödling (1967) und 317 nach Groß-Enzersdorf (1971) einstellten. Die Länder Wien und Niederösterreich hatten sich nicht über die Finanzierung der Betriebskosten einigen können. Die administrative Stadtgrenze, für den alltäglichen Aktionsradius der Stadtbewohner (Arbeit, Schule, Konsum, Freizeit) unerheblich, ist für die Wiener Verkehrsbetriebe bzw. Wiener Linien eine magische Barriere, an der ihre konkreten Planungen halt machen. Im Zusammenhang mit dem Verhältnis Wiens zum Umland und einem größer verstandenen Stadtraum ist das sogenannte Pendeln ein zentrales Thema. Pendler sind Zielpublikum der Verkehrspolitik und der Sozialpolitik und werden als bedürftige Gruppe angesehen, der der Staat mit allerhand Vergünstigungen beizustehen habe. Es hat sich ein aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammendes Verständnis von Pendlern als Nebenerwerbslandwirte und Bewohner strukturschwacher Gebiete gehalten, die ihr Haupteinkommen in der Stadt verdienen. Als Terminus technicus bezeichnet das Pendeln Fahrten zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte über Gemeindegrenzen hinweg. Dieses Verständnis von Pendeln ist sachlich überholt, weil es immer weniger den tatsächlichen Lebensverhältnissen entspricht. Verbesserte Verkehrsverbindungen (Schnellbahn, Autobahn), die Trennung von Wohngebieten und Wirtschaftszonen und die wachsende Bereitschaft, für die Verwirklichung privater Wohnideale längere Wege zur Arbeit in Kauf zu nehmen, führten zu einer allgemeinen Zunahme der Distanzen. Wenn sich eine Familie den Traum vom Einfamilienhaus zwanzig Kilometer außerhalb der administrativen Stadtgrenzen erfüllen konnte, sollte das als Zeichen von Wohlstand und Selbstbestimmung gewertet werden und nicht Thema der Befürsorgung durch Pendlerbeihilfen und sonstige finanzielle Anreize sein. Wenn eine Schnellbahnverbindung zur Verfügung steht, senkt sie bei vergleichsweise moderaten Kosten die Abhängigkeit vom Auto. Eine steuerliche Belohnung für lange Wege scheint in keinem Fall zeitgemäß.

Die Wiener U-Bahn 1978 war ein signifikantes Jahr im Prozess der Teilung in Kernstadt und Randstadt, erste und zweite Stadt, weil die Südosttangente die damalige Peripherie als Zone wirt513

georg rigele schaftlicher Dynamik neu definierte und die U1 die Arbeitervorstadt Favoriten (seit 1874 der 10. Gemeindebezirk) enger an die City band. Fußgängerzone und U-Bahn führten in den Augen mancher Bürgerlicher zu einer Proletarisierung des 1. Bezirks. Für die von 1972 bis 1997 beschafften U-Bahn-Züge (Typen U, U1, U2) fand das politische Marketing im Rathaus die Bezeichnung »Silberpfeile«. Dieser farbliche Niederschlag einer rückwärtsgewandten Utopie wurde von Andrea Dusl treffend analysiert  : »Eine Farbe allerdings hatten alle in blendender Erinnerung  : das Silber der reichsdeutschen Rennautos  ! Das signalisierte Geschwindigkeit, technische Raffinesse und Siegeswillen  ! In einer Melange aus deutschnationaler Technikverklärung und zukunftsgläubigem Modernismus bekamen unsere U-Bahn-Garnituren nicht nur die Farbe, sondern gleich auch den Namen der Mercedes-Boliden aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren  : Silberpfeile.«127 Im Jänner 1968 fasste der Wiener Gemeinderat den Baubeschluss für das Grundnetz der Wiener U-Bahn, im November 1969 begannen am Netzknoten Karlsplatz die Arbeiten an einem Grundnetz mit drei Linien, von denen nur eine ein kompletter Neubau mit dem Charakter einer echten U-Bahn war, nämlich die U1 vom Reumannplatz im 10. Bezirk, quer durch die Innenstadt zum Praterstern im 2. Bezirk. Als U2 wurde die unterirdische Straßenbahn 2er-Linie vom Karlsplatz bis zum Rathaus umgebaut und mit einer Neubaustrecke zum Donaukanal (Schottenring, Verknüpfung mit der U4) über Schottentor/Universität erweitert. Die U4 stellt einen Umbau der Wiental-Donaukanallinie der Stadtbahn von Hütteldorf nach Heiligenstadt dar und war die zweite Systemumstellung auf dieser Stadtbahnlinie. (Die erste war die Elektrifizierung der eisenbahnmäßig betriebenen Dampf-Stadtbahn im Straßenbahnsystem.) Das um die Verlängerung der U1 über die Donau bis Kagran erweiterte Grundnetz wurde zwischen 1978 und 1982 schrittweise eröffnet. Technisch ist die Wiener U-Bahn als Breitprofil-U-Bahn mit seitlicher Stromschiene und Hochbahnsteigen ausgeführt. Hochbahnsteige auf demselben Niveau wie der Boden im Fahrgastraum der Züge sind bei städtischen Schnellverkehrssystemen (Metros, U-Bahnen, Schnellbahnen) international Standard, wurden bei der Wiener Stadtbahn und der Wiener Schnellbahn aber nicht angewendet, weshalb beim Ein- und Aussteigen Stufen zu überwinden waren. Erst die in den Neunzigerjahren eingeführten Niederflurfahrzeuge haben dieses Problem gelöst (Stadtbahntype T/T1 auf der U6, Waggons der Serie 400 der Badnerbahn, Schnellbahn Baureihe 4024/4124 »Talent«). Von Breitprofil spricht man aufgrund der Wagenbreite von 2,65 Metern, die Sitzbänke quer zur Fahrtrichtung mit je zwei Plätzen rechts und links vom Mittelgang ermöglichen. Die um 1900 gebauten älteren U-Bahnen wie die Tube oder die Berliner und New Yorker wurden im Schmalprofil ausgeführt, um mit kleineren Tunnelquerschnitten das Auslangen zu finden. Die Schmalprofil514

energie und verkehr in wien 1945–1995 Züge weisen in der Regel Bänke in Längsrichtung auf. (Die Geleise der meisten UBahnen weltweit sind ungeachtet der Breite des Wagenkastens normalspurig.) Obwohl die Hochbahnsteige ebenes Einsteigen gewährleisteten, wurde die Wiener U-Bahn in der ersten Bauphase nicht rollstuhltauglich und kinderwagengerecht ausgeführt. Der Zugang von der Opernpassage zu den Rolltreppen zur U1 war durch drei Stufen unterbrochen, die erst später mit einer Rampe umgangen wurden. Beim Bau der U3 und der U6 erhielten bereits alle Stationen ebene Zugänge und Aufzüge. Die Linien des Grundnetzes wurden entsprechend nachgerüstet. Auch für Personen ohne Mobilitätseinschränkung verbesserte sich die Benutzbarkeit, weil z. B. an der U4 die Stationen, deren Ausgang an einem Bahnsteigende angeordnet war, zusätzliche Aufgänge mit Liften am anderen Ende erhielten, wodurch man ungefähr 200 Meter Wegstrecke spart, wenn man von der früher unversorgten Seite kommt. Ein schönes Detail war die Öffnung eines direkten Ausgangs vom stadtauswärtigen Bahnsteig zur Donaukanalpromenade in der Station Rossauer Lände. Gerade solche Details tragen viel zur Fahrgästezufriedenheit bei. Im Verhältnis von öffentlichen Oberflächenverkehrsmitteln (Bus, Straßenbahn) und U-Bahnen gibt es zwei gegensätzliche Philosophien. Die U-Bahn kann als übergeordnetes Schnellverkehrsmittel zusätzlich zum Oberflächennetz konzipiert werden. Sie spielt in diesem Fall mit größeren Stationsabständen ihre Schnelligkeit voll aus und entlastet die Oberflächenverkehrsmittel, während das Oberflächennetz mit kurzen Stationsabständen jeweils nahe an tatsächlichen Anfangs- und Endpunkten von Fahrten liegt und für kürzere Strecken benutzt werden kann, aber auch barrierefreie Direktverbindungen anbietet. Die Wiener Verkehrsplanung bzw. die Netzplanung der Wiener Verkehrsbetriebe versteht die U-Bahn hingegen als Ersatz für alle parallel verlaufenden Oberflächenverkehrsmittel, insbesondere parallel verlaufende Straßenbahnlinien. Die Oberflächenverkehrsmittel werden hier als Zubringer zur U-Bahn verstanden. Daraus folgt ein erhöhter Umsteigezwang. Der Historiker Sándor Békési hat die Frage untersucht, warum die U1 am Südbahnhof vorbei trassiert wurde. Er kommt zum Schluss, dass die Bestrebung, die Straßenbahnlinien 66 und 167 in der Favoritenstraße aufzulassen, den Hauptgrund ausmachte. Darüber hinaus ortet er Probleme in der Zusammenarbeit von öbb und Stadt Wien.128 1978 wurde die Straßenbahn in der Favoritenstraße vom Karlsplatz bis zum Reumannplatz eingestellt. Immerhin konnte der O-Wagen nach Protesten wieder nach Favoriten verlängert werden, wo es eine kurze Parallelführung mit der U1 gab. Die Einstellung von E2, G2 und H2 wegen der Eröffnung der U2 bedeutete den Verlust von Direktverbindungen. 1989 wurde der 8er anlässlich der Eröffnung der U6 eingestellt, obwohl es sich bei dieser U-Bahn um eine Umbezeichnung und Verlängerung der Gürtel-Stadtbahn 515

georg rigele handelte, die bis dahin in sinnvoller Ergänzung parallel mit dem 8er betrieben worden war. Bürgermeister Zilk fing die Proteste von Fahrgast-Aktivisten/innen mit einer Volksbefragung im Februar 1990 ab, deren Fragestellung äußerst verwirrend war. Es wurde nämlich gefragt, ob zu einer Reihe von Fragen stadtteilweise Volksbefragungen durchgeführt werden sollten, u. a. ob in den Bezirken 6–9, 12 und 15–19 über Weiterbetrieb oder endgültige Einstellung des 8ers abgestimmt werden sollte. Lediglich 6 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich angesichts dieser Mischung aus einer Verfahrensfrage mit konkreten Themen. Die 6 Prozent stimmten zwar zu 94 Prozent mit »ja«, das reichte dem Gemeinderat aber nicht für weitere Abstimmungen zu den konkreten Themen, weshalb der 8er eingestellt blieb.129 Mit Baubeginn der U3 wurden 1984 der J-Wagen und T-Wagen im 3. Bezirk eingestellt. Eine Wiedereröffnung der Straßenbahn durch die Landstraßer Hauptstraße (T) wäre sinnvoll gewesen, weil die Überlappung durch die U3 nur auf einem Teilstück besteht und nach wie vor eine hohe Fahrgastfrequenz herrscht. Die U3 ersetzte ab 1993 die Linien 52 und 58 in der Inneren Mariahilfer Straße. Kurze Stationsabstände machen die U3 zu einer langsamen U-Bahn. Ausgedehnte Zwischengeschosse (Passagen), die jeweils an die Bahnsteigenden anschließen, bedingen lange Fußwege vom Bahnsteig an die Oberfläche.130 Die U2-Verlängerung führte 2008 zur kompletten Einstellung des 21ers. Die einzigen Ausnahmen vom Wiener Dogma, die U-Bahn als Ersatz für Oberflächenverkehrsmittel zu verstehen, sind die Außenäste der U3, deren bogenförmige, mehrere Oberflächenlinien kreuzende Trassierung tatsächlich den Charakter einer überlagernden Schnellverbindung hat.131

Autobahnen nach, um und durch Wien Die erste Autobahn im Wiener Raum war die Südautobahn. (Nach Abschluss des Manuskripts erschienen: asfinag Autobahnen- und Schnellstraßen-FinanzierungsAktiengesellschaft [Hg.], Das Autobahnnetz in Österreich. 30 Jahre asfinag, Wien 2012.) Ihr Bau wurde 1959 bei Laxenburg begonnen. Das Teilstück von der südlichen Wiener Nachbargemeinde Vösendorf bis Leobersdorf konnte im Mai 1962 eröffnet werden, Ende 1964 war im Süden der wichtige Verkehrsknoten Wiener Neustadt (Richtung Mattersburg, Burgenland, Wechsel, Steiermark, Semmering) erreicht, während im Norden der Knoten Inzersdorf ausgebaut wurde. Von einem »Knoten« ist deshalb die Rede, weil in Inzersdorf nicht nur die Abfahrt zur Triester Straße stadteinwärts angelegt wurde, sondern auch eine Verzweigung in den Altmannsdorfer Ast nach Westen und den Ast Richtung Favoriten, der anschließend als A23 Südosttangente zur Donau verlängert wurde. Im Freytag & Berndt Buchplan 516

energie und verkehr in wien 1945–1995 Wien, Ausgabe 1972, ist der damals bereits fertiggestellte Abschnitt der heutigen A23 bis zur Favoritenstraße noch als Südautobahn bezeichnet. An der 1938 begonnenen Westautobahn wurde ab 1954 in Salzburg und Oberösterreich weitergebaut. Die Westautobahn war ab 1968 durchgehend von Wien-Auhof bis Salzburg befahrbar. Bis zur Einführung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 130 km/h (als Energiesparmaßnahme in Reaktion auf den Ölpreisschock 1974) wurde auf der Westautobahn mitunter sehr schnell gefahren. Fesch war, wer die Strecke von Salzburg nach Wien in weniger als zwei Stunden schaffte. Mit ihrem Porsche 911S, aufgrund seiner exorbitanten Unterhaltskosten »der blaue Götze« genannt, stellte die junge Hoteldirektorin M. M. im Sommer 1972 einen persönlichen Rekord auf  : 1 Stunde 48 Minuten für 292 Kilometer, Durchschnittsgeschwindigkeit 162 km/h (persönliche Mitteilung an den Autor). In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass 1972 2.632 Menschen im Straßenverkehr starben, darunter 768 Fußgänger.132 Der Anfangs- bzw. Endpunkt der Autobahn am westlichen Stadtrand Auhof war nur als Provisorium gedacht, weil die Autobahn durch das Wiental bis zum Gürtel (Kilometer 0,0 am Gaudenzdorfer Knoten in den Planungen der Ära Roland Rainer) geführt werden sollte. Ein zweiter Ast sollte über den Flötzersteig in den 16. Bezirk geführt werden und die Erreichbarkeit der nordwestlichen Bezirke vereinfachen. Diese Pläne gingen noch vom Konzept aus, dass die bestehende Kernstadt bis ins Zentrum von Autobahnen durchdrungen und erschlossen werden sollte. Der Ölpreisschock von 1973/74, das steigende Umweltbewusstsein und die Stärkung einer autokritischen Öffentlichkeit bewirkten einen Stimmungsumschwung gegen Stadtautobahnen. Der Widerstand gegen die Flötzersteig-Autobahn ging Hand in Hand mit Protesten gegen die dioxinhältigen Abgase der Müllverbrennungsanlage Flötzersteig und gegen Pläne, die sogenannten Steinhofgründe, das waren die ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen des psychiatrischen Krankenhauses Baumgartner Höhe (Otto-Wagner-Spital), zu verbauen. Eine diesbezügliche Volksbefragung im März 1980 brachte zwar eine klare Mehrheit (56,6 Prozent für den »Ausbau der Flötzersteig-Bundesstraße«), allerdings nicht in der Variante einer kreuzungsfreien Hochstraße über das Wiental und die Linzer Straße. Es konnte nämlich zwischen einer Hochstraße und einer niveaugleichen Variante gewählt werden.133 Bei derselben Volksbefragung stimmten 77,5 Prozent der Teilnehmenden für eine wirksame Beschleunigung des öffentlichen Verkehrs und die Bevorrangung der Straßenbahn.134 Volksbefragungen in Wien haben unverbindlichen Charakter. Das Rathaus griff das heiße Eisen Flötzersteig-Autobahn trotz der grundsätzlichen Zustimmung der Bevölkerung nicht an, so wie auch die praktische Umsetzung von Beschleunigungsmaßnahmen im öffentlichen Verkehr an lokalen Widerständen des Handels und von Bezirksfunktionären scheiterte. Ein weiterer Grund, warum die Flötzersteig-Autobahn nicht gebaut wurde, liegt in der Verschiebung der wirtschaftlichen Aktivitäten ins südliche Umland Wiens, das seit 1982 über die Wiener517

georg rigele waldautobahn A21 direkt von Westen her angefahren werden kann. Der überwiegende Teil des Verkehrs, insbesondere des Lkw-Verkehrs, zweigt von Westen kommend beim Knoten Steinhäusl auf die A21 ab, um sich beim Knoten Vösendorf auf die zweite Stadt entlang der A2, A23 usw. zu verteilen bzw. im Transit weiterzufahren. Die Wiener Südosttangente A23, kurz »die Tangente«, ursprünglich »NordostAutobahn«, ist die täglich vertraute Bekannte aller Hörerinnen und Hörer des Radiosenders Ö3 in ganz Österreich und natürlich aller Wiener Sender mit Verkehrsmeldungen. Die Tangente führt von Altmannsdorf bzw. vom Knoten Inzersdorf, dem Endpunkt der Südautobahn, durch den 10. Bezirk und anschließend auf Stelzen ungefähr entlang der Grenze von 3. und 11. Bezirk Richtung Donaukanal und weiter durch die Praterauen zur Praterbrücke, die als vierte Wiener Straßenbrücke über die Donau 1967–1970 errichtet wurde. Das letzte Teilstück der Südosttangente wurde 1978 eröffnet. Querte die Tangente Ende der Siebzigerjahre noch Stadtrandrandgebiete und Industriebrachen, ist sie seither zu einer innerstädtischen Autobahn geworden, neben der Gewerbe- und Büro-Immobilien und öffentliche Einrichtungen wie das Österreichische Staatsarchiv gebaut wurden. Von 1980 bis 2000 hat sich der Verkehr auf der Tangente verdoppelt.135 Auf Teilabschnitten wurden Spuren zugelegt. Der mit rund 100 000 Fahrzeugen pro Richtung am stärksten befahrene Abschnitt beim Knoten Landstraße wurde verbreitert, die Praterüberquerung und die Praterbrücke erhielten eine vierte Spur. Trotzdem gehören die Staus auf der Tangente zum Wiener Alltag. Der Polizeioffizier Dieter Sommer porträtierte die Südosttangente aus eigener Berufserfahrung bei der Verkehrspolizei in einem Buch und lieferte darin praxisnahe Analysen. Sommer ist überzeugt, dass die häufigen Behinderungen und Staus in Wirklichkeit bereitwillig in Kauf genommen werden. Er geht so weit, zu argumentieren, dass Staus keineswegs zu einem volkswirtschaftlichen Schaden führen, sondern zu einem Gewinn, weil die Zeit im Stau vielfältig nutzbringend genutzt werden kann. Der Stau schenkt den beteiligten Automobilisten/innen Zeit zur Entspannung zwischen Arbeit und Familie, Zeit für Träume und Gebete, Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen. Seit es Mobiltelefone gibt, bietet der Stau Gelegenheit für Gespräche mit Partnerinnen und Partnern, Kindern, Geschäftsfreunden und Mitarbeitenden – so die Überlegungen von Sommer.136 Die steigende Belastung der Tangente hat zur Forderung geführt, weiter südlich eine Entlastungsstraße zu bauen, deren Anschluss bei der Errichtung des Knotens Vösendorf 1964 bereits berücksichtigt worden war. Die autobahnmäßig trassierte Südumfahrung S1, d. h. die Verlängerung der Wienerwaldautobahn von Vösendorf nach Schwechat, hat eine lange Planungsgeschichte und war aus raumordnungs- und umweltpolitischen Gründen in den Neunzigerjahren sehr umstritten. Das Projekt wurde von den Bürgerinitiativen und den Grünen bekämpft, aber von einer Allianz aus Bürgermeister Michael Häupl, dem niederösterreichischen Landeshauptmann 518

energie und verkehr in wien 1945–1995 Erwin Pröll und den Automobilverbänden öamtc und arbö durchgesetzt und in den Jahren 2001 bis 2006 gebaut. Die Südosttangente erhielt 1993 eine Verlängerung im 22. Bezirk nach Norden, die ihrerseits mit einer 2010 eröffneten halbkreisförmigen Schnellstraße S2 über Süßenbrunn durchs nördliche Umland bis zur Einmündung in die A22 westlich von Korneuburg verlängert wurde. Das Autobahnnetz der zweiten Stadt wurde damit weiter vervollständigt, die zweite Stadt als solche verkehrspolitisch bestätigt.

Fliegen Die zivile Luftfahrt erhielt in Wien im Jahr 1912 in Aspern (damals im 21., heute 22. Bezirk) einen voll ausgestatteten Flughafen mit Hangars, Betankungsmöglichkeiten, Flugfeldbeleuchtung, Wetterbeobachtungs- und Feuerbekämpfungseinrichtungen, Tribünen und Verpflegungsmöglichkeiten. Die Wiener Flugfeld GmbH baute den Flughafen Aspern auf einem von der Gemeinde Wien kostenlos zur Verfügung gestellten Grundstück.137 Vor dem Zweiten Weltkrieg bestand ein Netz aus regelmäßigen Flugverbindungen, die Wien-Aspern mit europäischen Hauptstädten und Wirtschaftszentren verbanden. Im Nationalsozialismus wurden zahlreiche Militärflugplätze in der Wiener Umgebung angelegt. 1943 erreichte der Luftkrieg Österreich, 1944 begannen die Bombardements von Wien, die auch den Flughäfen galten. Nach der Befreiung und Besetzung nutzte die Sowjetunion für zivile Flüge der Aeroflot den Flughafen Bad Vöslau und Aspern als Militärflugplatz. Die Flugplätze der Westalliierten wurden als extraterritoriale Einrichtungen in der sowjetischen Besatzungszone betrieben und durch spezielle Straßenkorridore mit Wien verbunden. Die Amerikaner übernahmen den ehemaligen deutschen Militärflugplatz Langenlebarn östlich von Tulln. Im Juni 1946 landete die erste Langstreckenmaschine der Fluggesellschaft pan am aus New York kommend in Langenlebarn.138 Der ebenfalls als deutscher Militärflugplatz angelegte spätere Flughafen Wien-Schwechat wurde von der Royal Air Force übernommen und von der französischen Besatzungsmacht mitbenutzt. Internationalen Airlines wie die bea, sas, jat, klm, Swissair, Air France und ab 1954 auch die amerikanische pan am nutzten den Flughafen Schwechat für Linienflüge, der sich damit als wichtigster Zivilflughafen herauskristallisierte.139 Für österreichische Staatsbürger, Unternehmen und den österreichischen Staat galt ein alliiertes Luftfahrverbot, das sich bis 1948 sogar auf Modellflugzeuge erstreckte. 1949 wurde der sportliche Segelflug wieder zugelassen. Ein Schritt zur Wiedererlangung der Lufthoheit war die Gründung der »Wiener Flughafenbetriebsgesellschaft mbH« im Jahr 1953, nachdem die Briten schon vorher die Abfertigung der zivilen Flüge österreichischen Angestellten übergeben hatten. Gesellschafter waren die Republik 519

georg rigele Österreich (50 Prozent) und die Bundesländer Wien und Niederösterreich (je 25 Prozent). Fliegen war noch so teuer, dass das Reisepublikum auf Angehörige der Alliierten, wohlhabende ausländische Touristen, wenige Geschäftsreisende und höchste Staatsfunktionäre beschränkt war. Während im Landverkehr die Vorkriegsleistungen relativ rasch wieder erreicht und übertroffen wurden, benötigte die Erholung des Luftverkehrs wesentlicher länger. Auf dem Flughafen Aspern wurden 1936 viermal so viele Flüge abgefertigt als 1952 auf allen österreichischen Zivilflugplätzen zusammen. Im Jahr 1952 wurden in ganz Österreich 38.000 Flugpassagiere abgefertigt, in Zürich vergleichsweise rund 350.000.140 Die Lawinenkatastrophen, die sich im Jänner 1954 in Vorarlberg zugetragen hatten, bewirkten eine weitere Lockerung des Flugverbots. Die Alliierten genehmigten eine Flugrettung mit einigen Motorflugzeugen. Anfang 1955 wurde die »Österreichische Motorflugwacht« gegründet, die sich in der Ungarnkrise 1956 durch zahlreiche Rettungs- und Versorgungsflüge auszeichnete. Einen Monat vor Abschluss des Staatsvertrags hob der Alliierte Rat das Verbot der österreichischen Zivilluftfahrt mit bestimmten Einschränkungen auf. Ehemalige Angehörige von ns-Organisationen wurden von der Pilotenausbildung ausgeschlossen und Flugzeuge aus deutscher oder japanischer Produktion durften nicht beschafft werden. 1955 wurde der Ausbau des Flughafens Schwechat beschlossen. Die Start- und Landebahn 11/29 wurde auf 3000 Meter verlängert und ein modernes Empfangsgebäude errichtet. Es gab auch Stimmen, die sich für Aspern oder Wiener Neustadt einsetzten, aber Schwechat war zu diesem Zeitpunkt bereits als Flughafen des internationalen Linienverkehrs etabliert. 1956 flogen sechzehn Fluglinien Wien-Schwechat an. Aspern blieb der Heimatflughafen für Privatflieger (16.000 jährliche Starts Ende der Fünfzigerjahre) und Austragungsort von populären Flugtagen und Autorennen. Die Gründung der Fluggesellschaft aua (Austrian Airlines Österreichische Luftverkehrs ag) Ende 1957 hatte ein skurriles parteipolitisches Vorspiel. Nach Wiedererlangung der »Luftfreiheit« 1955 wurden eine övp-nahe und eine spö-nahe Fluggesellschaft gegründet, die Air Austria und die Austrian Airways, die aber von den jeweils von der Gegenpartei dominierten Behörden bürokratisch boykottiert wurden mit dem Ergebnis, dass keine von ihnen je ein Flugzeug in die Luft brachte.141 Mit der Fertigstellung des Aufnahmegebäudes 1960 präsentierte sich der Flughafen Wien-Schwechat als moderner Airport. In diesem Jahr frequentierten ihn 409.000 Flugreisende. Die Aussichtsplattform und das Flughafenrestaurant waren beliebte Ausflugziele. Die Verkehrsanbindung des 18 Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Flughafens beschränkte sich auf die damals zweispurige Bundesstraße und die eingleisige Pressburger Lokalbahn, die eine einfache Haltestelle erhielt. Für die Flugreisenden wurde eine Autobusverbindung vom Südtirolerplatz eingerichtet. Ende der Sechziger wurde die Austrian Airlines von einem neuen Management reorganisiert. In den Siebzigern stiegen die Passagierzahlen, das Charter-Geschäft nahm zu, und das Fliegen wurde 520

energie und verkehr in wien 1945–1995 für breitere Schichten erschwinglich. 1973 überstieg die Zahl der Flugreisenden zwei Millionen. Als 1977 die zweite Start- und Landebahn in Schwechat eröffnet wurde, musste Aspern den Flugbetrieb einstellen, weil nunmehr eine Einflugschneise über Aspern führte. Die Verkehrsanbindung an Wien verbesserte sich mit der Eröffnung einer unterirdischen Schnellbahnstation im Jahr 1977 und dem Ausbau der A4 »Flughafenautobahn«, die 1982 zwischen Wien und Fischamend eröffnet wurde. Die Flughafenschnellbahn fuhr zunächst stündlich und vermittelte den Reisenden bis in die Neunzigerjahre Lokalbahnromantik bei einer durchaus annehmbaren Reisezeit. Durch schrittweise Erweiterungen des Flughafens entstand ein architektonisch uneinheitliches bauliches Konglomerat. In der zweiten Hälfte der Siebziger begannen Vorläufer der Billigfluglinien wie Freddy Lakers »Skytrain« und die Montana Austria des Piloten Hans-Jörg Stöckl den etablierten Airlines Konkurrenz zu machen. Beide Unternehmen endeten in der Pleite, erwiesen sich aber trotzdem als Trendsetter. Die Austrian Airlines erhielten durch Niki Laudas Lauda Air 1979 Konkurrenz im Chartergeschäft. 1990 erhielt Lauda eine Linienkonzession. Von den Fünfzigerjahren bis 1989 stieg die Frequenz des Flughafens ziemlich gleichmäßig auf fünf Millionen Passagiere (Abfliegende und Ankommende sowie Transit). In den Neunzigerjahren verlief das Wachstum deutlich schneller. 1998 wurden bereits zehn Millionen Passagiere gezählt – eine Verdoppelung in neun Jahren. Bis zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 stieg der Flugverkehr ungebrochen weiter. Die Öffnung der Grenzen zu den ehemals kommunistischen Nachbarländern wirkte auf den Flughafen als Wirtschaftsstandort höchst stimulierend. Die A4 wurde als erste Autobahn bis an die östliche Staatsgrenze verlängert. Mit dem Aufkommen der Billig-Airlines wurde der Flughafen Bratislava zunehmend interessant für Flugreisende aus dem Wiener Raum.

Resümee Für die Energie- und Verkehrsgeschichte Wiens waren internationale Entwicklungen, politische Willensentscheidungen und die Summe von Partikularinteressen und Zwängen gemeinsam verantwortlich. Von 1945 bis in die Gegenwart gilt für Europa, Österreich und Wien in Bezug auf Energie und Verkehr das Motto dieses Beitrags  : Mehr, mehr, mehr  ! Energieverbrauch und Verkehr haben seit 1945 beständig zugenommen. Bestrebungen, dieses Wachstum im Sinne einer langfristigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und der Schonung der Umwelt zu verlangsamen, waren nur in Teilbereichen erfolgreich. Wien war nach 1945 eine typische mitteleuropäische Großstadt mit starken Kommunalbetrieben. Die Strom- und Gasversorgung wurde nach dem Zweiten Welt521

georg rigele krieg rasch wiederhergestellt und funktioniert seit Anfang der Fünfzigerjahre stabil und zuverlässig. Die Erdöl- und Erdgasvorkommen im Marchfeld und Weinviertel nördlich von Wien ermöglichten eine frühe Abkehr von der Kohle als Primärenergieträger. Während über anderen Städten im Winter noch der Kohlerauch hing, wurde in Wien bereits Erdgas verfeuert. Der erste Erdgas-Importvertrag eines westlichen Landes mit der Sowjetunion 1968 ermöglichte kurz darauf die völlige Abkehr von der Kohlegaserzeugung und der Verfeuerung von Kohle in Wiener Kraftwerken. Die Umstellung der Kundenanlagen auf Erdgas wurde bis 1978 vollzogen. Die Modernisierung des am Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffenen Gasleitungsnetzes nahm noch längere Zeit in Anspruch. Die Stromversorgung beruhte auf den thermischen Kraftwerken der Wiener Elektrizitätswerke und auf dem Bezug von Strom aus dem Netz der Verbundgesellschaft. 1951 wurde das Hauptstufenkraftwerk Kaprun der Tauernkraftwerke vollendet, das über eine 220-kV-Leitung zum Umspannwerk Bisamberg Wien versorgen konnte. Durch die Beteiligung an den Donaukraftwerken Greifenstein und Freudenau konnte Wien eine nennenswerte eigene Wasserkraftbasis aufbauen. Die beiden großen energiepolitischen Konflikte um das Atomkraftwerk Zwentendorf und das Donaukraftwerk Hainburg betrafen die Wiener Elektrizitätswerke als Energieversorgungsunternehmen nur indirekt. Politisch lag Wien als Zentrum der Bundespolitik und Heimat vieler Anti-akw- und HainburgAktivisten mitten im Geschehen. Der Ausbau der Kraftwerke und Leitungsnetze in Wien vollzog sich mit vergleichsweise geringer Anteilnahme der Bevölkerung. Die großen Energiezentralen der Gaswerke- und E-Werke in Simmering wurden seit ihrem Bestehen praktisch ununterbrochen ausgebaut. Die Strom- und Gasversorgung sind unauffällige Dienstleistungen, die von den Kunden wie selbstverständlich vorausgesetzt werden. Wenn auch die Ölversorgung mit Ausnahme des opec-Embargos und des Preisschocks von 1973/74 nie akut gefährdet war, greifen Weltpolitik und Weltmarkt beim fossilen Flüssigbrennstoff durch starke Preisschwankungen direkt in den Alltag ein, d. h. man spürt sie an der Tankstelle sofort, während die jährliche Strom- und Gasabrechnung nur ein matter Spiegel der Primärenergiepreise ist, der zudem von den jeweiligen Wintertemperaturen und den resultierenden Heizkosten verzerrt wird. Verkehrsgeschichtlich steckte Wien bis in die späten Fünfzigerjahre im weiten Kleid der k. u. k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt. Mit dem Bau von Straßenunterführungen, Fußgängerpassagen und Straßenverbreiterungen begann um 1960 ein Modernisierungsprogramm, das der wachsenden Motorisierung Raum schaffen sollte. Eine »autogerechte Stadt« wurde im Rathaus nie angestrebt, die Notwendigkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht infrage gestellt. Allerdings geschah lange Zeit wenig für deren Ausbau. Die Straßenbahn als leistungsfähiges und wirtschaftliches Verkehrsmittel mit beachtlichen Kapazitätsreserven wurde nicht abge522

energie und verkehr in wien 1945–1995 schafft, aber auch nicht modernisiert. Der veraltete Wagenpark hat dazu geführt, dass die Straßenbahn in Wien im Verhältnis zu den anderen Verkehrsmitteln immer langsamer wurde. Ein großer Wurf war die Wiener Schnellbahn, die 1962 als Durchmesserlinie von Meidling nach Floridsdorf mit zwei Außenästen ins nördliche Umland eröffnet wurde. Die Schnellbahn ist das einzige nach 1945 geschaffene öffentliche Verkehrsmittel, das die Realität des größeren Wiener Stadtraums nachvollzieht, während die U-Bahn nur das politische Stadtgebiet bedient. Mit viel Geld des Landes und des Bundes errichtet, erfreut sich die U-Bahn ebenfalls großer Beliebtheit. Seit 1982 steht das Grundnetz zur Verfügung, das laufend erweitert wurde. Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass die Massenmotorisierung zur Herausbildung einer zweiten Stadt geführt hat, die sich um die alte, auf ein Zentrum ausgerichtete Stadt gruppiert hat. Die automobile zweite Stadt ist keine Peripherie der ersten, keine Suburbia, sondern ein quasi städtisches Gebilde mit Betrieben, Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen, Dienstleistungen, Konsumangeboten und Wohnmöglichkeiten, also allem, was Menschen mit einem städtischen Lebensstil benötigen. Eine Ausnahme sind kulturelle Institutionen, die ohne die Dichte der ersten Stadt nicht funktionieren. Wenn von einer guten Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in Wien gesprochen wird, wird das Bestehen der zweiten Stadt ausgeklammert. Eine zunehmend populistische Politik ab Mitte der Neunzigerjahre hat in der Wiener Kommunal- und Bezirkspolitik dazu geführt, dass die sogenannte Parkplatznot die einzige Not zu sein scheint, über deren Bestehen sich Konsens erzielen lässt. Für den Verkehr gilt das »Mehr, mehr, mehr  !« sowohl für die den Autoverkehr als auch für den öffentlichen Verkehr, weil die Distanzen steigen. Berufliche Aktivitäten, Bildung, Konsum und Freizeit verteilen sich auf immer weiter entfernte Orte. Dies kann als Versagen der Planungspolitik interpretiert werden, aber auch als Ausdruck von Freiheit und Wohlstand.

A nmerkungen 1 Elisabeth Lichtenberger, Austria. Society and Regions, Vienna 2000, S. 96–100. 2 Eduard Saßmann, Dampfbetrieb in Österreich. Die Bundesbahndirektion Wien in Farbe ab 1963, Freiburg 2009. 3 Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich ’45, Wien 1995, S. 64–65. 4 Nach Abschluss des Manuskripts erschienen  : Walter Farthofer, Tramway Geschichte(n). Die Wiener Straßenbahner im Kampf gegen den grünen und braunen Faschismus, Wien 2012. 5 Rauchensteiner 1995, S. 164–165. 6 Rauchensteiner 1995, S. 191. 7 Karl Ziak (Redaktion und Gestaltung), Wiedergeburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965, Wien 1965, S. 13. 8 Schienenverkehr aktuell 9/2010, 449–451.

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georg rigele  9 Helmut Ruck/Christian Fell, Gas. Energie für Wien im Wandel der Zeit, Wien 2009, S. 429–433. 10 Fridolin Krausmann, Sonnenfinsternis  ? Wiens Energiesystem im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Karl Brunner/Petra Schneider (Hg.), Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien (Wiener Umweltstudien 1), Wien 2005, S. 140–147. 11 Fridolin Krausmann/Helmut Haberl, The process of industrialization from the perspective of energetic metabolism. Socioeconomic energy flows in Austria 1830–1995, in  : Ecological Economics 41/2002, S. 177–201. 12 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, S. 452. 13 Georg Rigele, Zwischen Monopol und Markt. EVN das Energie- und Infrastrukturunternehmen, Maria Enzersdorf 2004, S. 139–145. 14 Helmut Ruck/Christian Fell, Gas. Energie für Wien im Wandel der Zeit, Wien 2009, S. 466–467. 15 Georg Rigele, Strom – Erdgas – Atom. Drei Schwerpunkte zur Energiegeschichte Niederösterreichs im 20. Jahrhundert, in  : Peter Melichar/Ernst Langthaler/Stefan Eminger (Hg.), Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 2  : Wirtschaft, Wien 2008, S. 405–447, hier S. 425–436  ; Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 494– 503. 16 International Petroleum Encyclopedia 1968, S. 49, 55, Karte S. 50–51. 17 Ruck/Fell, Gas, 2009, 498–499. 18 Friedrich Feichtinger/Hermann Spörker (Hg.), ÖMV–OMV. Die Geschichte eines österreichischen Unternehmens, Wien 1996, S. 150–151. 19 International Petroleum Encyclopedia, div. Jg. 20 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 152–153. 21 Marshall I. Goldman, Petrostate. Putin, Power, and the New Russia. Oxford University Press, New York 2008  ; Karin Kneissl, Der Energiepoker. Wie Erdöl und Erdgas die Weltwirtschaft beeinflussen, München 2006. 22 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 507–509. 23 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 505–533. 24 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 534–537. 25 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 480–489, 547. 26 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 548–551. 27 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 557–566. 28 Alois Brusatti/Ernst A. Swietly, Erbe und Auftrag. EVN. Ein Unternehmen stellt sich vor, St. Pölten 1990, S. 180–181. 29 Eine übersichtliche Darstellung findet sich in  : Hubert Mader, WStW. Elektrizitätswerke. 75 Jahre stadteigene Stromversorgung. Hrsg. v. den Wiener Stadtwerken–Elektrizitätswerken, Wien 1977, S. 13–39. 30 Oskar Vas, Grundlagen und Entwicklungen der Energiewirtschaft Österreichs. Offizieller Bericht des österreichischen Nationalkomitees der Weltkraftkonferenz, Wien 1930, S. 47  ; Wiener Stadtwerke–Elektrizitätswerke (Hg.), 90 Jahre Wiener Elektrizitätswerke. Die Stromversorgung von Wien und Umgebung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, Wien o.J. (um 1990), S. 12–13. 31 Mader, WStW, 1977, S. 39–41. 32 Nach Abschluss des Manuskripts erschienen  : Oliver Rathkolb/Richard Hufschmied/Andreas Kuchler/ Hannes Leidinger  : Wasserkraft. Elektrizität. Gesellschaft. Kraftwerksprojekte ab 1880 im Spannungsfeld (Schriftenreihe Forschung in der VERBUND AGm Band 104) Wien 2012. 33 Rigele, Zwischen Monopol und Markt, 2004, S. 118–121. 34 Mader, WStW, 1977, S. 55. 35 ÖZE 11/1958, S. 128–130. 36 ÖZE 12/1967, S. 710–712.

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energie und verkehr in wien 1945–1995 37 H.S., persönliche Mitteilung an den Autor, 2010. 38 Mader, WStW, 1977, S. 80–81. 39 Wiener Stadtwerke–Elektrizitätswerke (Hg.), 90 Jahre Wiener Elektrizitätswerke, um 1990, S. 102. 40 ÖZE 9/10–1979. 41 Wiener Stadtwerke–Elektrizitätswerke (Hg.), 90 Jahre Wiener Elektrizitätswerke, um 1990, S. 107–108. 42 http  ://www.mediathek.at/akustische-chronik//Popup_32/Ebergassing , 1.11.2010. 43 GKT (Redaktion ), Strom für die Zukunft, Wien 1983. 44 Mader, WStW, 1977, S. 66. 45 GKT, Strom, 1983, S. 203–233. 46 Wiener Stadtwerke–Elektrizitätswerke (Hg.), 90 Jahre Wiener Elektrizitätswerke, um 1990, S. 87–88. 47 Ortrun Veichtlbauer, Donau-Strom  : Über die Herrschaft der Ingenieure, in  : Christian Reder/Erich Klein (Hg.), Graue Donau, Schwarzes Meer, Wien 2008, S. 170–195, hier S. 189–191. 48 Ruck/Fell, Gas, 2009, S. 596–610  ; Wiener Stadtwerke. Geschäftsbericht 2009, S. 109–111. 49 Friedrich Feichtinger/Hermann Spörker (Hg.), ÖMV–OMV. Die Geschichte eines österreichischen Unternehmens, Wien 1996, S. 82–85  ; Oliver Rathkolb, Washington ruft Wien. US-Großmachtpolitik und Österreich 1953–1963, Wien 1997, S. 232–259. 50 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 92. 51 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 101. 52 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 18. 53 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 30. 54 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 43 55 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 76–77. 56 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 97. 57 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 103–104, 160, 166–167. 58 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 168–172. 59 Wiener Stadtwerke–Elektrizitätswerke 1990, S. 86. 60 Feichtinger/Spörker, ÖMV–OMV, 1996, S. 202. 61 William Cronon, Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West, New York 1992  ; John R. Stilgoe, Metropolitan Corridor. Railroads and the American Scene, New Haven 1983  ; Verena Winiwarter, Wo endet Wien  ?, in  : Karl Brunner/Petra Schneider (Hg.), Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien (Wiener Umweltstudien 1) Wien 2005, S. 600–601. 62 Winiwarter, Wo endet Wien, 2005. 63 Freytag-Berndt Städteatlas Wien Großraum, Ausgaben 1988/89 und 2008. 64 Wilhelm Kainrath, Wien morgen. Skizzen und Überlegungen zu einer fröhlichen Utopie, in  : morgen. Kulturzeitschrift aus Niederösterreich 11/1980, S. 31–38, hier S. 34. 65 Georg Kotyza, Stadtentwicklungsplan Wien. Überörtliche Raumordnung. Probleme, Entwicklungstendenzen, Ziele. Hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Geschäftsgruppe Stadtplanung, Wien 1978, S. 3, Karte S. 5. 66 Michael Gehler, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU. Innsbruck 2002. 67 Christian Reder/Erich Klein (Hg.), Graue Donau, Schwarzes Meer. Wien, Sulina, Odessa, Jalta, Istanbul, Wien 2008  ; Die Donau. Facetten eines europäischen Stromes. Katalog zur oberösterreichischen Landesausstellung 1994 in Engelhartszell, hrsg. vom Kulturreferat der OÖ. Landesregierung, Linz 1994. 68 Christian Reder/Erich Klein (Hg.), Graue Donau, Schwarzes Meer. Wien, Sulina, Odessa, Jalta, Istanbul, Wien 2008, S. 18–29. 69 Franz Pisecky, Die Donau im gesamteuropäischen Wasserstraßensystem, in  : Die Donau. Facetten eines

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georg rigele europäischen Stromes. Katalog zur oberösterreichischen Landesausstellung 1994 in Engelhartszell, hrsg. vom Kulturreferat der OÖ. Landesregierung. Linz 1994, S. 227–235. 70 Harald Bollmann/Gerhard H. Gürtlich (Hg.), Donau-Güterschifffahrt quo vadis  ? Tagungsband  ; Kooperationsveranstaltung der Österreichischen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft und der Wirtschaftskammer Österreich (Österreichische Verkehrswissenschaftliche Gesellschaft ÖVG Spezial 79), Wien 2007, S. 21. 71 Paul Kortz (Hg.), Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts. 1. Band, Wien 1905, S. 145. 72 http  ://www.ddsg-cargo.at/unternehmen/, 17.10.2010. 73 Günter Weber (Hg.), Korneuburg und die Schiffswerft 1890–1960, Wien 2001  ; Werkstatt im Fluss (Doris Geml/Meike Kröncke/Birgit Kulterer/Elisabeth Thausing), Schiffbruch/Aufbruch. Über das Erinnern und Befragen eines Ortes. Katalog zur Ausstellung in der ehemaligen Schiffswerft Korneuburg, Braunschweig 1999. 74 Paul Kortz (Hg.), Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts. 1. Band, Wien 1905, S. 314–318. 75 Wolfgang Kos/Günter Dinhobl (Hg.), Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt (Katalog zur 332. Sonderausstellung des Wien Museums), Wien 2006. 76 Präsident Otto Demus nahm die Preisgabe des Südbahnhofs resigniert zur Kenntnis, nicht ohne »nochmals [zu] betonen, dass der Südbahnhof unter allen Wiener Bahnhofsgebäuden jedenfalls die künstlerisch beste Lösung darstellt  ; der Verfasser der Pläne für den 1869–73 aufgeführten Neubau, Hochbaudirektor W. Flattich, hat in seinem Werk die besten Traditionen der durch Theophil Hansen repräsentierten klassizistischen Richtung fortgesetzt und ein Werk geschaffen, das nicht nur in seiner Gesamtanlage, sondern vor allem auch in seinen Einzelheiten, architektonischen Gliederungen, Plastiken usw. eine hoch einzuschätzende Leis­tung darstellt. Jedenfalls kommt dem Bauwerk erheblicher Denkmalwert – auch im Hinblick auf technische Kulturdenkmale – zu.« BDA, Landeskonservatorat Wien, GZ. 9148/50 (Schreiben Präs. Demus an die ÖBBGeneraldirektion vom 6.10.1950) im Akt GZ. 25.175, 1950–, 1100, Wiedner Gürtel 1. Südbahnhof. 77 Georg Rigele, Das Verschwinden der Großbahnhöfe des 19. Jahrhunderts. Abriss und Neubau nach dem Zweiten Weltkrieg. In  : Wolfgang Kos/Günter Dinhobl (Hg.)  : Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt (Katalog zur 332. Sonderausstellung des Wien Museums), Wien 2006, S. 144–151, hier S. 149–151. 78 Christoph Blesl u. a., Zeitschienen II. Der Südbahnhof in Wien (= Bundesdenkmalamt, Abteilung für Bodendenkmale (Hg.), Fundberichte aus Österreich. Materialhefte, Reihe A, Sonderheft 13) Wien 2010. 79 Christian Klösch/Robert Kinnl/Thomas Winkler, Eisenbahn und Güterverkehr. Von den Anfängen 1827 bis zur Gegenwart, in  : Blätter für Technikgeschichte 71/2009, S. 71–149, hier S. 127–128. 80 Klösch/Kinnl/Winkler, Eisenbahn und Güterverkehr, 2009, S. 116–117. 81 Georg Rigele, Die erste und die zweite Stadt. Biografische Notizen aus dem motorisierten Wien, in  : Technisches Museum Wien/Christian Rapp (Hg.)  : Spurwechsel. Wien lernt Auto fahren. Wien 2006, S. 96–103. 82 Georg Schmid, Der Stadtverkehr, in  : Georg Schmid/Hans Lindenbaum/Peter Staudacher, Bewegung und Beharrung. Eisenbahn, Automobil, Tramway  : 1918–1938, Wien, Köln, Weimar 1994, S. 107–157  ; Wolfgang Kaiser, Die Wiener Straßenbahnen. Vom »Hutscherl« zum »Ulf«, München 2004  ; Ernst Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ? Verkehr und Verkehrspolitik in Wien seit 1744 – kritisch betrachtet (Wiener Verkehrsblätter, Sonderband 3), Wien 2009. 83 Schmid, Der Stadtverkehr, 1994, S. 127–138. 84 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, I, S. 264. 85 Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 87. 86 Georg Schmid, Österreich bauen. Konstruktion und Dekonstruktion eines Konzepts, in  : Wolfgang Kos/ Georg Rigele (Hg.)  : Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 103–125, hier S. 111.

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energie und verkehr in wien 1945–1995  87 Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 80.  88 Jahrbuch der Stadt Wien 1961, I, S. 241.  89 Bodo Hell, Stadtschrift, Linz 1983.  90 Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 14./15. Juni 2001, S. 5.  91 Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 245–246.  92 Unter der Brücke der Vorortelinie wurde eine dreigleisige Haltestelle angelegt. Stadtauswärts verzweigen sich die Gleise für 40er/9er und 41er, es besteht aber keine Doppelhaltestelle für 40er/9er, die sich daher häufig gegenseitig behindern, besonders wenn stadtauswärts ein 9er in der Haltestelle steht, ein 40er nicht einfahren kann und ein folgender 41er vom 40er daran gehindert wird, auf sein eigenes Haltestellengleis zu fahren. Stadteinwärts müssen sich alle drei Linien eine Einfachhaltestelle teilen. Fazit  : teuer und schlecht – eine klassische Fehlplanung.  93 http  ://www.shared-space.org/ , 24.1.2011.  94 Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 143.  95 »Netz- und Erschließungsmängel sollen durch folgende Linienverlängerungen beseitigt werden  : Linie 16  : Floridsdorf – Zentrum Kagran – Stadlau – Eßling/Groß Enzersdorf Linie 26  : Strebersdorf – Floridsdorf – Kagraner Platz – Hirschstetten – Aspern (U2) Linie 27  : Großjedlersdorf – Siemensstraße – Kagran Linie O  : Verlängerung durch das Nordbahnhofgelände zum Friedrich-Engels-Platz Linie 65  : Verlängerung über die Wienerbergstraße zum Bahnhof Meidling Linie 67/O  : Erschließung »Monte Laa« Linie 6  : Verlängerung nach Schwechat« http  ://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/shop/broschueren/pdf/mpv2003-kurzfassung.pdf , 31.10.2010  ; Wien aktuell 10/2010, 10.  96 Kaiser, Gegen den Trend, 2008, S. 16.  97 Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 152–155.  98 Vgl. Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 281–282.  99 http  ://www.vor.at/, 22.1.2010. 100 Die Gemeinden im VOR inkl. Stichlinien hatten am 1.1.2009 laut Bevölkerungsregister der Statistik Austria 2.745.408 Einwohner, davon Wien 1.680.266 Einwohner. http  ://www.vor.at/, 22.1.2010. 101 Nach Abschluss des Manuskripts erschienen  : Andreas Weigl, Autos verändern die Stadt. Die Motorisierungswelle der Fünfzigerjahre und ihre Folgen (Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Reihe B  : Ausstellungskataloge, Heft 86), Wien 2012. 102 Alex Priebs, Die europäische Stadt im Wandel – Von Suburbanisierungsprozessen zu Metropolregionen, in  : Michael Gehler (Hg.), Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart. Unter Mitarbeit von Imke Scharlemann, Hildesheim 2011, S. 259–284, hier S. 274. 103 Georg Rigele, Die erste und die zweite Stadt. Biografische Notizen aus dem motorisierten Wien, in  : Technisches Museum Wien/Christian Rapp (Hg.)  : Spurwechsel. Wien lernt Auto fahren, Wien 2006, S. 96–103. 104 Joel Garreau, Edge City. Living on the New Frontier, New York 1991. 105 Jahrbuch der Stadt Wien 1968, S. 194 106 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1950  ; 1955. 107 Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.A. 17-VII–4309/49, Schreiben an die Direktion des Altersheimes Lainz vom 25.2.1949. 108 Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil (Damit es nicht verlorengeht 50), Wien 2003, S. 139 109 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, I, 124.

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georg rigele 110 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, I, 124. 111 Bernd Kreuzer, Die Stadt im Zeichen des Automobils. Wien seit 1945, in Technisches Museum Wien/ Christian Rapp (Hg.)  : Spurwechsel. Wien lernt Auto fahren. Wien 2006, S. 61–75, hier S. 69. 112 Barbara Feller, Die Ringstraße im Wiederaufbau. Repräsentationsgebäude, Autosalons Fußgängerpassagen, in  : Judith Eiblmayr/Iris Meder (Hg.), Moderat Modern. Erich Boltenstern und die Baukultur nach 1945, Ausstellungskatalog des Wien Museums, Salzburg 2005, S. 123–133  ; Kreuzer, Die Stadt im Zeichen des Automobils, 2006, S. 74–75. 113 Kreuzer, Die Stadt im Zeichen des Automobils, 2006, S. 64, 73. 114 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, S. 161–162. 115 Roland Rainer, Planungskonzept Wien. Hg. vom Stadtbauamt der Stadt Wien gemeinsam mit dem Institut für Städtebau der Akademie der Bildenden Künste (der aufbau, Monographie 13), Wien 1962. 116 Roland Rainer, Planungskonzept Wien, 1962., S. 102, Abb. Gaudenzdorfer Knoten. 117 Ernst Kurz, Die städtebauliche Entwicklung der Stadt Wien in Beziehung zum Verkehr (Beiträge zur Stadtforschung, Stadtentwicklung und Stadtgestaltung 6), Wien 1981, S. 164–166  ; Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 103–107  ; Wolfgang Kaiser, Untergrundbewegungen. Die Geschichte der Unterpflastertram in Wien, in  : Straßenbahn Magazin 8/2009, S. 70–78  ; ders., Bemerkenswerte Bruchstücke. Die Unterpflasterstraßenbahn in Wien. 2. Teil, in  : Straßenbahn Magazin 9/2009, S. 68–75. 118 Kurz, Die städtebauliche Entwicklung, 1981, S. 166. 119 Kurz, Die städtebauliche Entwicklung, 1981, 167–169  ; Wolfgang Kos/Christian Rapp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war (Katalog zur 316. Sonderausstellung des Wien Museums), Wien 2004, S. 546– 547 120 Lassbacher, Auf die Bim gekommen  ?, 2009, S. 106–107  ; Kaiser, Bemerkenswerte Bruchstücke, 2009, S. 71. 121 Magistrat der Stadt Wien, Stadtentwicklungsplan Wien. Teil 1. Politische Grundsätze. Entwurf 1984, Wien 1984, S. 30. 122 Magistrat der Stadt Wien, Stadtentwicklungsplan Wien. Teil 1. Politische Grundsätze. Entwurf 1984, Wien 1984, S. 31. 123 Hermann Knoflacher, Verkehrsplanung für den Menschen (Grundstrukturen 1), Wien 1987. 124 Ernst Pfleger, Überleben im Verkehr. Initiativen für eine menschengerechte Verkehrsplanung, Wien 1987, S. 101–116. 125 Alfred Horn u. a., Die Wiener Schnellbahn und ihre Fahrzeuge. Wien 1976  ; Kurz 1981, S. 161–164  ; Wolfgang Kaiser, Wiener Schienennahverkehr. Straßenbahn – Stadtbahn – U-Bahn, München 2008, S. 100–109. Nach Abschluss des Manuskripts erschienen  : Gerhard Arlt/Roman H. Gröger/Gerhard A. Gürtlich, Die Wiener Schnellbahn  : Viele Planungen, einige Versuche, 50 Jahre Betrieb. Wien 2012. 126 Erhard Busek, Wien – ein bürgerliches Credo, 2. Auflage, Wien 1978, S. 126–131. 127 Falter 6/2001, S. 63. 128 Sándor Békési, Die Tradition der Randlage. Wiener Bahnhöfe im Verkehrsnetz der Stadt, in  : Wolfgang Kos/Günter Dinhobl (Hg.), Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt (Katalog zur 332. Sonderausstellung des Wien Museums), Wien 2006, S. 110–119, hier S. 117–118. 129 Josef Rauchenberger (Hg.), Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Politisches Handbuch, Wien 1994, S. 807–811. 130 Georg Rigele, Womit die Wienerinnen und Wiener fahren. Tramways und andere öffentliche Transportmittel von 1945 bis zur Gegenwart, in  : ÖZG Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 11. Jg., Heft 2/2000, S. 93–124, hier S. 108–116. 131 Kaiser, Die Wiener Straßenbahnen, 2004, S. 101  ; Wolfgang Kaiser, Gegen den Trend. Wo bleibt der Tram-Ausbau  ?, in  : Straßenbahn Magazin 8/2008, S. 14–25, hier S. 117.

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energie und verkehr in wien 1945–1995 132 Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie, Umweltbilanz Verkehr. Österreich 1950–1996, Wien 1997, S. 28. 133 Josef Rauchenberger (Hg.), Stichwort Demokratie. 50 Jahre Zeitgeschehen. Politisches Handbuch, Wien 1994, S. 774–775. 134 Rauchenberger, Stichwort Demokratie, 1994, S. 770–771. 135 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2000, S. 157. 136 Dieter Sommer, Die Südosttangente. Wer sie nicht kennt, hat etwas versäumt, Hornstein 2003, S. 32–34. 137 Matthias Marschik, Heldenbilder. Kulturgeschichte der österreichischen Aviatik, Münster 2002, S. 83. 138 Marschik, Heldenbilder, 2002, S. 305. 139 Marschik, Heldenbilder, 2002, S. 317. 140 Marschik, Heldenbilder, 2002, S. 315. 141 Marschik, Heldenbilder, 2002, S. 326.

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irene bandh auer-schöffmann

Ernährungsverhalten und Kochkultur in Wien Essen, Kochen, Lebensmittelnahversorgung und Gaststättenwesen in der Zweiten Republik

D

ie Ernährung ist, wie Hans-Jürgen Teuteberg treffend bemerkt, ein »phénomène total« im Sinne von Marcel Mauss, da letztlich alle Lebenssphären des Menschen irgendwie durch die Nahrungsgewohnheiten kommunikativ vernetzt sind.1 So ergibt sich zwangsläufig ein fast nicht absteckbares Feld für die Forschung. Die Historiografie kann nur vor übervollen Schüsseln kapitulieren. So habe ich in diesem Artikel nur einige Schnitzel (im besten Sinn des Wortes) aus der breiten Palette des Wiener Ernährungsuniversums aufgetischt. Ich beginne mit der Hungerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei ich die Selbstversorgungsstrategien der Wiener Bevölkerung und das offizielle Lebensmittelkartensystem rekonstruiere und darstelle, wie sich diese Hungerjahre in dem kollektiven Gedächtnis der Wienerinnen und Wiener einprägten. Für die Periode der 1950er- und 1960er-Jahre thematisiere ich den Fleischhunger der Wiener und frage danach, wie Konsumenten und Marktamtsbürokratie mit der neuen Konsumkultur umgingen. Die weitreichenden Veränderungen in der Kochkultur und in der Nahversorgung werden ebenso analysiert wie die Kaffeehaus-, Gaststätten- und Beiselkultur in Wien, womit nicht nur die Essenden, sondern auch die, die Essbares kochten und verkauften, einbezogen werden. Weiters frage ich danach, wie sich das Ernährungsverhalten der Wiener Bevölkerung in der Zweiten Republik quantitativ und qualitativ veränderte und ob Wiener andere Ernährungsgewohnheiten hatten als die übrigen Österreicher. Abschließend thematisiere ich noch, wie in der Zweiten Republik neue Nahrungsmittel- und Kochkulturen nach Wien kamen.

Die Hungerjahre im kollektiven Gedächtnis der Wiener Nicht nur aufgrund der schlechteren Versorgungslage in Österreich war der Stellenwert, den die Versorgungskrise in der öffentlichen Diskussion und im politischen Diskurs hatte, ein höherer als in den Siegerstaaten. Während Charles de Gaulle überhaupt nur eine Rede hielt, in der er auf Versorgungsprobleme Bezug nahm und meinte, er sei nicht nach Frankreich zurückgekommen, um Makkaroni-Rationen zu verteilen,2 widmeten Politiker in Österreich in ihren Reden dem Hungern der Be531

irene bandhauer-schöffmann völkerung breiten Raum. Die berühmte Radio-Weihnachtsansprache von Kanzler Leopold Figl aus dem Jahr 1945, in der Figl aufzählte, was die Regierung der Bevölkerung nicht geben könne, hatte für die Bevölkerung einen so hohen emotionalen Gehalt, dass diese Rede später sogar auf Tonträger aufgezeichnet wurde. Hier hatte jemand der Bevölkerung offensichtlich aus der Seele gesprochen. Ebenfalls zu diesen hoch emotional besetzten politischen Aktionen gehörte diejenige, die der Wiener Bürgermeister Theodor Körner anlässlich der Versorgungskrise im Mai 1946 mit seinen Hilferufen an die unrr a setzte.3 Diese andere Gewichtung der Hungerkrise im öffentlichen Diskurs und in den kollektiven Erinnerungen hat mit der Schuldverstrickung in die Gräueltaten während des Nationalsozialismus zu tun, die bei der Wiener Bevölkerung, die sich exzessiv an Beraubung und Erniedrigungsritualen von Jüdinnen und Juden beteiligt hatte, besonders evident war. Zur Abwehr dieser Täter-Erinnerungen wurde nach dem Krieg das Opfertum derjenigen herausgestrichen, die unter den schlechten Lebensbedingungen litten, wozu ganz zentral das Hungern zählte.4 Dazu gehörte auch, dass die Erinnerungszäsuren in mündlichen Berichten über die Hungerzeit viel dramatischer gesetzt werden, als sie etwa in Tagebüchern aufscheinen, die von einer kontinuierlichen Verschlechterung der Versorgungslage schon vor dem Ende des nationalsozialistischen Regimes berichten. Die Versorgungslage für diejenigen Wienerinnen und Wiener, die sich keine zusätzlichen Rationen auf dem Schwarzen Markt beschaffen konnten, war bei Weitem nicht so gut, wie sie von vielen im Kontrast zu nachher erinnert wird. »In dem Moment, wo die Rus­sen einmar­schiert sind, haben wir nichts mehr gekriegt, weil dann ja die deut­sche Verwaltung nicht da war. Aber bis zum Schluss haben wir das Essen gekriegt«, erzählte etwa die Wienerin Berta Niedermeier, die ganz typisch für Frauen, die keine Gegnerinnen oder Opfer des Natio­ nalsozialismus waren, meinte, dass im Natio­nal­sozia­lismus immer gut für sie gesorgt worden wäre.5 Ab 1942 hatte sich die Qualität der Lebensmittel deutlich verschlechtert, und im Herbst 1944 hatten sogenannte »arische Normalverbraucher« nur mehr 2.000 Kalorien pro Person und Tag erhalten, während sie vor dem Krieg noch weit mehr als 3.000 Kalorien zur Verfügung hatten.6 Was in gewisser Weise die Wahrnehmung eines radikalen Bruchs in der Lebensmittelversorgung rechtfertigt, war der Zusammenbruch des Lebensmittelkartensystems. Das nationalsozialistische Lebensmittelkartensystem in Wien wurde fast bis Kriegsende aufrechterhalten. Danach war die Bevölkerung Wiens auf sich allein gestellt, und erst nach einigen Wochen wurde das Lebensmittelkartensystem langsam wieder aufgebaut. Die letzte Lebensmittelkarte des nationalsozialistischen Regimes wurde für den Zeitraum vom 9. bis zum 29. April 1945 ausgegeben, doch diese Karte, die nur mehr Nummernabschnitte und keinen Aufdruck konkreter Lebensmittel hatte, kam nicht mehr zum Einsatz. Symbolträchtig für das Fortwirken des Alten im Neuen wurden auf ihr jedoch die ersten Zuteilungen der neu errichteten Bezirksorga532

ernährungsverhalten und kochkultur in wien nisationen und auch die erste zentrale Zuteilung von Lebensmitteln für Wien insgesamt vorgenommen. Ein weiterer ideologisch aufgeladener Topos in den Erinnerungen der Wiener Bevölkerung an die Hungerjahre sind die Geschichten, die sich um »russische Erbsen« ranken. Das waren getrocknete, wurmige Erbsen, die aus deutschen Wehrmachtsbeständen stammten und von der sowjetischen Armee unmittelbar nach Kriegsende an die Bevölkerung verteilt wurden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit machten sie einen wesentlichen Bestandteil der Zuteilungen aus, und in den Erinnerungen der Wiener Bevölkerung sind sie das Symbol für die Hungerjahre. Niemals zuvor aß die Wiener Bevölkerung – sowohl absolut als auch relativ gesehen – so viele Erbsen wie 1945/46. Unmittelbar nach Ende des Krieges, als die Sowjets das Über­leben der Wiener Bevölkerung durch ihre »Erbsenspende«7 si­cher­ten, gab es kaum andere Lebensmittel aus deutschen Wehr­machts­beständen. Später lag der Grund für den hohen Anteil an Erbsen an den ausgegebenen Rationen in der begreifli­chen Absicht, mit den von der unrr a zur Verfügung gestellten Geldbeträgen mög­lichst viele Kalorien zu importieren.8 Wenn man den Verbrauch der wichtigsten Nahrungs­mittel, die 1946 in Wien offiziell zugeteilt wurden, mit dem Verbrauch des Jahres 1937 vergleicht, ergibt sich, dass die Bevölkerung nur 16,4 Prozent des Zuckerverbrauchs von 1937 zur Verfügung hatte, nur 22,8 Prozent des Fettverbrauchs von 1937, nur 25,4 Prozent des Fleischver­brauchs, nur 72,6 Prozent des Brotver­brauchs. Dafür aber erhielten die Verbraucher über die offiziellen Zuteilungen fast dreimal, 263,8 Prozent, so viel Erbsen, wie die Normalverbrau­cher 1937 konsu­miert hatten. »Wir es­sen fast täglich Erbsen. Außer Brot bekommen wir nichts an­deres und davon sollen wir pro Tag nur 11 dkg essen«, schrieb Frau K. am 11. August 1945 in ihr Tagebuch. Auch der enorme Arbeitsaufwand, den die Erbsenzubereitung für Haus­frauen bedeutete, war ihr mehrmals Eintragungen in ihr Tage­buch wert. So steht z. B. am 29. September 1945  : »Heute habe ich drei Stunden am Morgen damit verbracht aus fast jeder Erbse, ca. 40 dkg, den Wurm herauszu­holen. […] Trotz dieser Ar­beit schmecken die Erbsen noch nicht gut, sie können nicht völlig gereinigt werden. In öffentlichen Küchen, auch Gast­häusern, bleiben die Würmer drinnen, liegen am Boden der Teller.«9 Weil die Erbsenzubereitung eine derartig langwierige Prozedur war, die den Hausfrauen zufiel, prägten sich die Erinnerungen an die »wurmigen, russischen Erbsen« speziell in das Gedächtnis von Frauen ein, die damit auch ihre Ängste vor der sowjetischen Besatzungsmacht thematisierten.10 Die schriftlichen Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die das Wiener Stadt- und Landesarchiv zum Jahr 1945 sammelte, und die autobiografischen Schriften in der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen dokumentieren den Stellenwert der Erbsen im kollektiven Gedächtnis.11 Frauenzeitschriften thematisierten die 533

irene bandhauer-schöffmann Herausforderung für die Hausfrauen, aus diesen Zuteilungen etwas halbwegs Schmackhaftes herzustellen, und sie boten Rezepte an, die von Hausfrauen eingesandt wurden. In der sozialistischen Frauenzeitschrift »Die Frau« vom 16. Februar 1946 wurden diese Kochrezepte mit einer gewissen Resignation kommentiert  : »Aber nur mit Wasser und Erbsen läßt sich nun einmal keine abwechslungsreiche Kost herstellen und die Veröffentlichung von Kochrezepten müßte gänzlich unterbleiben, wenn ausschließlich die den Normalverbrauchern zugeteilten oder frei erhältlichen Lebensmittel verwendet werden dürften.«12

Plündern, Hamstern, Schrebergärten: Formen der Selbstversorgung Nachdem am 13. April 1945 die Kampfhandlungen in Wien beendet waren, stand die Wiener Bevölkerung vor einer Versorgungskrise, denn die noch vorhandenen Lebensmittelvorräte waren von der Deutschen Wehrmacht verteilt oder vernichtet worden, von den sowjeti­schen Truppen be­schlag­nahmt oder von ihnen bzw. der Bevölke­rung geplündert worden. »Die Menge ist losgelassen – man erzählt, dass schon seit vorgestern Lebensmittelläden besonders außerhalb des Gürtels organisiert und laufend geplündert werden. Also es sind nicht die Russen, sondern die Wiener selbst  ! Sechs Jahre Verkaufsbeschränkung und Kartensystem werden jetzt auf einmal wettgemacht.«13 Das vermerkte Josef Schöner in seinem Tagebuch. Die Plünderungen durch die Wiener Bevölkerung hatten solche Ausmaße angenommen, dass die wiederinstallierten Bezirksernährungsämter als erstes die Plünderer aufforderten, das Plündergut zurückzubringen, damit es gerecht verteilt werden könne. Dass Personen, die sich an Plünderun­gen betei­lig­ten, dadurch wenigstens für kurze Zeit ihre Ver­sorgung sichern konnten, war ein Faktum, das auch offiziellen Stellen bestens bekannt war. »Besonders in jenen Gebieten«, berichtete das Marktamt am 25. Mai 1945, »wo keine Plündermöglichkeiten gegeben waren, [wur­de] über die traurige Versorgungslage bitter ge­klagt«.14 Diese Plünderungen von Fabriksgebäuden oder Güterzügen, die unmittelbar zu Kriegsende in wahre Exzesse ausarteten (z. B. wateten Plünderer knietief im Mehl der Anker-Brotfabrik15), und auch die Plünderungen von Wohnungen, deren Bewohner aus der Stadt geflüchtet waren, konnten mit der Wiederherstellung der staatlichen Autorität und Verbesserung der Versorgungslage eingedämmt werden  ; doch insgesamt war die unmittelbare Nachkriegszeit eine Periode, in der Eigentumsdelikte auf der Tagesordnung waren. Für 1945 stehen keine Zahlen zur Verfügung, 1946 wurden 123 Plünderungen in Wien zur Anzeige gebracht, 1947 immerhin noch sieben, danach keine mehr.16 Schleichhandelsdelikte hatten viel länger Konjunktur. 534

ernährungsverhalten und kochkultur in wien

Tab. 1  : Plünderungen und Schleichhandel in Wien, zur Anzeige gebrachte Delikte 1946–195217 1946 Plünderungen Schleichhandel

1947

123

7

22.468

22.616

1948

1949

1950

1951

1952











18.431

4.668

386

70



Während die exzessiven Plünderungen von Lebensmitteln zeitlich und regional begrenzt waren und wohl auch nicht alle, die die Möglichkeit gehabt hätten, sich daran beteiligten, war die Teilnahme am Schwarzen und Grauen Markt eine existenzielle Notwendigkeit für alle Wienerinnen und Wiener. Wer sich die offiziell auf Lebensmittelkarten ausgegebenen Kalorien vor Augen führt, sieht sofort, dass ein Überleben damit nicht möglich war. Die Wiener Arbeiterkammer erhob, dass 1945/46 weniger als ein Drittel der konsumierten Lebensmittel über den offiziellen Weg der Lebensmittelkarten erworben wurde.18 Der beträchtliche Rest wurde über eine erweiterte Selbstversorgung aufgebracht. Dazu gehörte das Erwerben von Lebensmitteln über Kauf oder Tausch bei der bäuerlichen Bevölkerung, die die Differenz von tatsächlicher und offiziell erfasster Ernte – man schätzte dieses Segment in der Landwirtschaft auf 15 bis 20 Prozent der gesamten Ernte19 – an die hungernden Städter absetzen konnte, weiters gelangten Lebensmittel aus dem Ausland nach Österreich, einerseits durch Schmuggel – für Wien besonders interessant war der Schmuggel über die burgenländische Grenze20 –, andererseits durch Personen, die in Österreich lebten, jedoch aus dem Ausland verpflegt wurden, wie die (amerikanischen) Besatzungssoldaten oder die Displaced Persons. Um das ehemalige Rothschild-Spital, in dem in der Nachkriegszeit ein dp-Lager untergebracht war, entstand z. B. rasch ein Schwarzmarkt. Der größte Schwarzmarkt in Wien war am Resselpark und in den angrenzenden Seitenstraßen. Wer genügend Geld oder vermarktbare Tauschgüter wie z. B. Zigaretten hatte, konnte hier alles erwerben. Da die Versorgungssituation in Krisenzeiten in einer Großstadt immer prekärer ist als in ländlichen Gebieten, wo sich mehr Möglichkeiten zur Selbstversorgung auftun, war es nicht überraschend, dass die Schwarzmarktpreise in Wien meistens weit höher waren als in den anderen Bundesländern  : Im August 1945 waren Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt in Wien gegenüber den offiziellen Preisen 264 Mal höher, die für Genussmittel waren 124 Mal höher.21 Die hungernde Bevölkerung verbrauchte zuerst die Sparguthaben, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Ermangelung von Konsummöglichkeiten zwangsweise angelegt wurden, dann wurden – sofern vorhanden – der Familienschmuck und die Wertgegenstände »verfressen«, schließlich kamen Kleidung, Wäsche und Haushaltsgeräte aller Art an die Reihe. Das Wirtschaftsforschungsinsti535

irene bandhauer-schöffmann tut sprach von einem »Entsparungs- und Entgüterungsvorgang«22, wodurch es Ende 1946 zu einem Sinken der Schwarzmarktpreise kam.23 Die Wienerin Margarete K. beschreibt in ihrem Tagebuch, wie sie Mitte Sep­ tember 1945 gegen Kleidung und Haushaltsgeräte Lebensmit­tel auf einem burgen­ ländischen Schwarzmarkt eintauschte  : »Frieda, ich und Gustl hatten nichts ande­ res vor, als am Donnerstag Früh eine Tausch­handels­fahrt nach Neusiedl am See zu unter­nehmen. Dort soll ein regelrech­ter Tauschmarkt statt­finden, ganz ohne Geld. Die Wiener brin­gen hinaus was sie noch entbeh­ren können und schleppen Nah­ rungs­mittel her­ein. Wir hatten in unseren Haus­halten zusammen­getra­gen, was uns leicht entbehr­lich war. Etwa  : 1 Fleischwolf, 1 Schaf­wollrock, 1 Nudelsieb, etc. Wir hatten jeder einen tüch­tigen Rucksack voll. […] Es war nicht mehr fern von Mittag als wir endlich in Neusiedl waren. Der Zug dürfte sich ziem­lich zur Gänze ent­leert haben. Eine Prozession von Menschen be­wegte sich auf den Ort zu. Man brauchte wahr­lich nicht nach dem Weg zu fragen. In Neusiedl saßen die wohlgenährten Bau­ ern, männlich und weiblich, auf ihren Wagen. Von Fleisch, Fett, Eiern war keine Spur. Mehl in allen Schat­tierungen, Brot, ausgepreßter Mohn, Hülsenfrüchte. Abseits boten Russen gegen Anzüge Zucker. Frieda hatte einen Anzug ihres verstor­ benen Vaters mit, sie konnte Zucker bekom­men. Gustl tauschte gar gegen Hemden, Kürbis, Gurken und Erdäpfel ein. Wir alle drei waren redlich erschöpft, als wir alles umgetauscht hat­ten und kamen uns sehr reich vor. Was bedeutet nicht ein Kilo Mehl unter unseren Umständen.«24 Andere waren nicht so glücklich und gingen in die Fänge der zur Schleichhandelsbekämpfung eingesetzten Polizei, wie etwa Julius C., der Eigentümer eines Lkw, der sein Fahrzeug für eine organisierte Schleichhandelsfahrt zur Verfügung gestellt hatte und in den Morgenstunden des 21. März 1946 voll beladen nach Wien zurückkam. Der Wochenbericht der Polizeidirektion Wien vermerkte dazu  : »Auf dem Auto befanden sich 18 Personen, die aus dem Burgenland kommend insgesamt folgende Lebensmittel mit sich führten  : 225 kg Mehl, 1.000 Stück Eier, 50 kg Schmalz, 28 geschlachtete Hühner etc. […]«25 Im März und April 1946 kontrollierte die Wiener Polizei an den Wiener Bahnhöfen und Einfallsstraßen wöchentlich zwischen 3.000 und 4.000 Kraftfahrzeuge, zwischen 600 und 1.000 Pferdefuhrwerke und zwischen 600 und 1.200 Personen. Minutiös wurde aufgelistet, wie viel Schleichhandelsware wöchentlich beschlagnahmt wurde. Es handelte sich dabei um beträchtliche Mengen. In der Woche vom 17. bis 23. März 1946 wurden etwa 640 Liter Wein, 4420 Stück Eier, 1700 kg Mehl, 110 kg Fett, 13.300 kg Kartoffel beschlagnahmt. In der Woche vom 27. September bis 3. Oktober 1946 waren es 100 kg Mehl, 800 kg Kartoffel, 410 kg Gemüse, 270 kg Obst, 50 Stück Eier, 60 kg Getreide, 1500 kg Maiskolben, 100 kg Zwiebel, 1.300 l Most, 1.500 l Wein, 1.300 Stück Zigaretten, 3.400 Saccharin-Tabletten, 40 kg Rin536

ernährungsverhalten und kochkultur in wien derhäute.26 Gegen verdächtige Personen wurden auch Hausdurchsuchungen durchgeführt  : In der Wohnung des Kellners Franz S. im xiii. Bezirk entdeckte die Wirtschaftspolizei im April 1946 beispielsweise 140 kg Schmalz und 30 kg Speck.27 Der Gesellschafter der Leichenbestattung Kienböck aus dem ix. Bezirk war besonders fantasievoll vorgegangen  : Er hatte sich 87 Holzsärge schicken lassen, die mit 700 kg Lebensmitteln gefüllt waren.28 Die illegalen Methoden zur Selbstversorgung hatten eine große Bandbreite, die von der Bezahlung von Arbeitsleistungen in Naturalien (eine Praxis, die auch Betriebe einsetzen mussten, um Arbeitskräfte zu halten), über Tausch im privaten Kreis bis hin zu Schwarzmarktgeschäften mit professionellen Händlern reichte. Hamsterfahrten zu Bauern, um Lebensmittel gegen Waren oder Arbeitsleistungen einzutauschen, waren jahrelang eine weitverbreitete Methode zur Aufbesserung der knappen Rationen und sind der Wiener Bevölkerung bis heute bestens in Erinnerung geblieben. Die elaborierten Erzählungen zu den abenteuerlichen Hamsterfahrten thematisieren zwei Konfliktfelder der Nachkriegszeit  : einerseits das in Hungerzeiten besonders spannungsgeladene Verhältnis zwischen der städtischen und ländlichen Bevölkerung und andererseits das zwischen den Geschlechtern. Nirgendwo lässt sich der Machtzuwachs der Trümmerfrauen-Generation gegenüber den besiegten Heimkehrer-Männern besser aufzeigen als in den Erzählungen über Hamsterfahrten, die paradigmatisch für die enorme Eigeninitiative in der Überlebensarbeit dieser Frauen stehen. Die Überlebensarbeit der Frauen spielte sich zum Großteil innerhalb der gesetzlichen Grenzen oder am Rande des Gesetzes ab  ; Frauen waren, obwohl sie die Hauptlast der Überlebensarbeit und der Selbstversorgung trugen, weniger gesetzesauffällig geworden. Aus einer Analyse der Übertretungen des Bedarfsdeckungsgesetzes (1945/46 bis 1951) und der Preis- und Bewirtschaftungsvorschriften (ab 1952) geht eindeutig hervor, dass die Selbstversorgungsstrategien, die Frauen betrieben, weniger oft in Konflikt mit dem Gesetz kamen. Wichtigstes Requisit bei den Hamsterfahrten war der Rucksack, gegen den im Juni 1946 ein generelles Rucksack-Verbot erlassen wurde  ;29 »Rucksackverkehr« war das Schlagwort für illegale Beschaffungsaktionen schlechthin. Obwohl auch Politikern und den Vertretern der Ernährungsbürokratie bewusst sein musste, dass ohne diese intensive Praxis der Selbstversorgung die Wiener Bevölkerung nicht überleben konnte, thematisierte der offizielle Diskurs nicht die Defizite im staatlichen Lebensmittel-Distributionssystem, sondern das »Ausarten einer völlig mißverstandenen Selbsthilfe«.30 Weniger spektakulär als die illegalen Schwarzmarktgeschäfte und die am Rande der Illegalität vorgenommenen Tauschgeschäfte war die Eigenversorgung der Wiener Bevölkerung durch den Anbau in bestehenden und neu errichteten Kleingartenanlagen. Diese Art des Überlebens durch Subsistenzwirtschaft war in allen Krisenzei537

irene bandhauer-schöffmann

Tab. 2  : Verwaltungsübertretungen des Bedarfsdeckungsgesetzes bzw. der Preis- und Bewirtschaftungsvorschriften in den Bezirken I–XXI31 insgesamt

davon Frauen

1945/46

18.600

4.808

25,85%

1947

13.939

5.326

38,21%

1948

19.532

7.170

36,71%

1949

11.720

2.888

24,64%

1950

1.837

709

38,60%

1951

3.148

913

29,00%

1952

3.389

951

28,06%

1953

2.017

735

36,44%

1954

682

192

28,15%

1955

618

184

29,77%

1956

306

92

30,07%

1957

338

88

26,04%

1958

589

153

25,98%

1959

467

177

37,90%

1960

668

288

43,11%

ten, etwa während der Zeit der Arbeitslosigkeit in den 1930er-Jahren, von Städtern praktiziert worden und sie erfuhr mit der nationalsozialistischen Autarkiewirtschaft weitere Förderung. In der Hungerkrise der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden die Flächen, die als »Notstandsgärten« oder »Ernteländer« dienten, nochmals erweitert. Mit der Ver­ord­nung vom 23. April 1945 wurden von der Ge­meinde Wien alle öf­fentli­chen und privaten zum Anbau ge­eigne­ten, brachlie­genden Flächen be­ schlagnahmt und der Be­völ­kerung als Ernteland zu­gewiesen. So wurden auf städ­ti­ schem Grund die Anbauflächen von 2,4 Millio­nen Quadratmetern auf 3,1 Millionen Quadratmeter und auf priva­tem Grund von 5,5 auf sechs Millionen im Jahr 1945 erhöht, im Jahr 1946 er­folgte eine weitere Vergröße­rung der Erntelandfläche auf städtischem Grund auf 4,33 Mil­lionen Quadratmeter und auf privatem Grund auf rund sieben Millio­nen Quadratmeter.32 Rund 60 000 Familien fanden in diesen vom wiedererrich­teten Sied­lungs- und Klein­gartenamt der Stadt Wien betreuten »Not­ stands­gärten« eine sogenannte »Ernährungsbasis«.33 Trotzdem war die kpö der Meinung, dass noch immer »viele hun­derttausend Quadratmeter Boden brach [lägen]«, ein »Lu­xus«, der nicht geduldet werden könne, wie Gemeinderat Josef Lau­ scher am 14. Februar 1946 kritisierte.34 Die Ausweitung der Erntelandaktion stieß allerdings dort an ihre Grenzen, wo die städtische Bevölkerung nicht über genü­gend 538

ernährungsverhalten und kochkultur in wien kleingärtnerisches Know-how verfügte. In öffentlichen Kundmachungen gab die Magistratsabteilung für Siedlung und Kleingartenwesen Arbeits­anweisungen an die Bebauer und Be­baue­rinnen des Erntelandes aus. Intensiviert wurde diese öffentli­che Unterstützung zur Selbsthilfe im Frühjahr 1947, als in Zusammenarbeit mit den Bundesministerien für Volks­ernährung und Land- und Forstwirtschaft eine Sonderaktion für Gemüse­anbau durchgeführt wurde, die nicht nur die übli­chen detail­ lierten Anweisungen zum Gemüseanbau, sondern auch die Ausgabe von Pflänzchen und Kunstdünger beinhaltete.35 Diese Subsistenzwirtschaft der Wiener Bevölkerung darf nicht unterschätzt werden  : Von den begehrten Lebensmitteln, wie Fleisch, Fett, Zucker, Frischgemüse, die in der Hungerperiode am meisten fehlten, hatte dank der kleingärtnerischen Eigeninitiative nur der Frischgemüseverbrauch in den späten 1940er-Jahren schon wieder das Vorkriegsniveau erreicht.36 Mit der Verbesserung der Ernährungssituation reduzierte sich das gärtnerische und kleintierzüchterische Engagement der Wiener Bevölkerung wiederum auf diejenigen, die einen Garten oder Schrebergarten ihr Eigen nannten. Wie wichtig etwa auch die Kleintierzucht in diesen Gärten war, zeigt der Bericht im Jahrbuch der Stadt Wien 1955, wo im Fototeil nicht nur die üblichen Politikerfotos abgebildet waren, sondern auch kranke Kaninchen, die in diesem Jahr zum Leidwesen der Schrebergärtner erstmals von der gefährlichen MyxomatoseSeuche befallen worden waren.37 Zur Selbstversorgung gehörten natürlich auch die Unmengen an Pilzen, die Wienerinnen und Wiener jährlich sammelten. Minutiös listete das Marktamt jährlich auf, wie viele Kilogramm im Rahmen der amtlichen Pilzbeschau auf Genusstauglichkeit hin inspiziert worden waren. Um nur zwei Zahlen aus den 1950er-Jahren zu nennen  : 1954 ließen die Wiener 832.000 kg Pilze auf ihre Esstauglichkeit untersuchen, 1959 waren es 722.400 kg.38

Die bürokratische Verwaltung des Mangels: Wieder aufbau der Ernährungsbürokratie Die Heterogeni­tät zwischen den Bezirken, die sich aus dem agrarischen Umland oder durch im Bezirk befindliche Lebensmittellager selbst versorgen konnten, und denen, die diese Voraussetzungen nicht hatten39, bildete in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Konfliktfeld zwischen den Bezirksverwaltungen, die zwischen 9. und 14. April 1945 wieder ihre Tätigkeit aufnahmen und natürlich in erster Linie die Überlebenssicherung der Bewohner des eigenen Bezirks im Auge hatten. Den Bezirksernährungsämtern, die nicht bereit waren, Lebensmittel an andere Bezirke oder die zentrale Verwaltung abzugeben, warf man wohl zu Recht »Bezirksegoismus« 539

irene bandhauer-schöffmann vor.40 In der Josefstadt war etwa bis 21. April 1945 die Milchversorgung völlig zusammengebrochen,41 die Bezirkswirtschaftsabteilung Währing wies Ende April 1945 darauf hin, »dass eine weitere wirtschaftliche Abgrenzung der einzelnen Bezirke zu einer Katastrophe in der Ernährung Währings führen muß«.42 Jeder Bezirk organisierte zuerst einmal für sich alleine gegen alle anderen, und die Wiederherstellung eines gerechten Verteilungssystems nahm einige Zeit in Anspruch, weil das seit Mitte April tätige Zentralernährungsamt sich gegenüber den Bezirken anfangs nicht durchsetzen konnte, die bis in den Sommer 1945 und teils sogar bis in den Herbst ihre Kompetenzen nicht an die zentrale Verwaltung abtreten wollten. Bezirksbürgermeister, die Lagerbestände an die zentrale Verwaltung abgaben, ermöglichten die ersten »Aufrufe« auf Lebensmittelkarten, die wieder für die gesamte Wiener Bevölkerung erfolgten. Ab 1. Juni 1945 kann davon gesprochen werden, dass das Lebensmittelkartensystem wieder in Gang gebracht war. Bis zum 21. Juli 1946 hatte aber jede Zone eigene Lebensmittelkarten, die nur zonenweise eingelöst werden durften. Die wenigen Lebensmittel, die in den ersten Monaten auf Lebensmittelkarten zur Verteilung kamen, wurden pro Kopf ausgegeben, Mitte Juli 1945 aber wurde vom Zentralernährungsamt wieder ein differenziertes Lebensmittelkartensystem etabliert, und gleichzeitig wurde für Männer von 14 bis 65 Jahren die Ausgabe von Lebensmittelkarten an den Nachweis der Beschäftigung oder der Meldung beim Arbeitsamt geknüpft. Zwei Monate später, am 20. September 1945, legte das Versorgungskomitee der Alliierten das Einstufungsschema für Lebensmittelkarten fest, das nun vorsah, dass für Kinder bis zwölf Jahre Kinderkarten ausgefolgt wurden, jede erwachsene Person eine Normalverbraucher-Lebensmittelkarte erhielt und an bestimmte Berufsgruppen darüber hinaus noch Zusatzkarten vergeben wurden. Wegen andauernder Proteste von Arbeitern wurde im Mai 1946 mit der Verbrauchergruppenverordnung wieder die Schwerstarbeiter-Zusatzkarte eingeführt, womit wieder wie zur Zeit des Nationalsozialismus zwischen den Schwerund Schwerstarbeitern unterschieden wurde. Die Auseinandersetzungen, welche Berufe diese Zusatzkarten für Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter und Angestellte erhalten sollten, und der Streit darüber, wer die tatsächliche Entscheidungskompetenz hatte, Berufsangehörige in Kategorien einzuordnen, zogen sich über die gesamte Periode der Hungerkrise. Protestaktionen waren ein probates Mittel zur Durchsetzung einer höheren Kalorienzuteilung  : »Betriebsräte, Betriebsdeputationen, ganze Berufsgruppen, oft 50 bis 100 Mann stark erschienen in der Singerstraße [dem Sitz des Prüfungsausschusses] mit dem Verlangen um höhere Einstufung«, berichtete der Prüfungsausschuss, der gemäß der Verbrauchergruppenverordnung vom 14. Mai 1946 die Anträge auf bessere Einstufungen, Zulagenkarten etc. zu behandeln hatte.43 Bis Februar 1948 kam das Einstufungsschema der Alliierten zur Anwendung, erst mit der 37. Versorgungsperiode, ab dem 2. Februar 1948, als die Periode der Lebensmittelkarten ihrem Ende zuging, durften die Landesernährungsämter ihre eigenen österreichischen Richtlinien anwenden.44 540

ernährungsverhalten und kochkultur in wien

Differenzierung und Diskriminierung  : Wer hungerte am meisten  ? In einer Mangelgesellschaft bildete die Festlegung der Berufsgruppen, die Le­bens­ mittelzusatzkarten bekommen sollten, naturgemäß politischen Konfliktstoff. Dass die Nachkriegsgesellschaft, die mit einer hohen Kriminalitätsrate und den für Notzeiten typischen Übertretungen der Bewirtschaf­tungsvorschriften durch Schleichund Schwarzhandel zu kämp­fen hatte, die Exe­kutivorgane bei der Ver­gabe von Lebensmittelkarten bevorzugte, ist verständlich. Die in der Stra­ßen­kontrolle zur Schleichhandelsbekämpfung eingesetzten männlichen Beschäftigten erhiel­ten bis November 1949 pro Person je zwei Normalver­brau­cher- und zwei Arbeiterzusatz­ karten.45 Dass sich in einer Gesellschaft, in der es immer selbstverständlich war, dass in den Familien die Väter die beste und reichlichste Nahrung erhielten, auch in Krisenzeiten diese Diskrepanz zwischen Männern einerseits und Frauen und Kindern andererseits abbildet, ist nicht überraschend.46 Überraschend ist, dass diese Diskriminierung nicht nur auf der informellen Ebene erfolgte, wo Frauen sich als Hausfrauen für die Ernährung der Familienmitglieder verantwortlich fühlten und auf ihnen die ganze Last der Mangelbewältigung lag, sondern dass auch die Vergabe von Lebensmittelkarten nach Geschlechtszugehörigkeit erfolgte. Wenn das Verhältnis von einem angenommenen physiologischen Kalorienbedarf zu den auf Lebensmittelkarten an die jeweiligen Gruppen ausgegebenen Kalorien betrachtet wird, lässt sich eindeutig feststellen, dass Frauen, Kinder und Jugendliche bei der offiziellen Kalorienzuteilung auf Lebensmittelkarten gegenüber den männlichen Schwerst- und Schwerarbeitern benachteiligt waren.47 Die älteren Menschen waren nicht bei den Kalorienzuteilungen (gerechnet im Verhältnis zu ihrem Kalorienverbrauch) benachteiligt, sondern dadurch, dass sie in der Selbstversorgung über den Grauen und Schwarzen Markt nicht so reüssieren konnten. Von der us-amerika­ nischen und englischen Besatzung vorgenommene Gewichtskontrollen der Wiener Bevölkerung ergaben, dass vor allem Personen über 40 Jahre Untergewicht hatten, wobei der Grad des Untergewichts mit zunehmendem Alter anstieg.48 Die patriarchale Interpretation des Satzes »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« traf nicht nur diejenigen, die sich aus Altersgründen nicht mehr am Wiederaufbau beteiligen konnten, sondern auch alle Frauen, deren Erwerbsarbeit generell weniger gut eingestuft wurde als die der Männer, womit sie weniger Lohn und weniger Kalorien verdienen konnten. Die Arbeit im Haushalt, der Hausfrau wie auch der Hausgehilfin, wurde überhaupt nicht als Arbeit gewertet. Wie an Personen, die im Ruhestand waren, wurden an sie keine Zusatzkarten vergeben.49 Diese Einstufung folgte der Logik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und war in keiner Weise durch die tatsächliche Arbeitsleistung der Frauen gerechtfertigt, denn z. B. erhielten Lehrer und Lehrerinnen 541

irene bandhauer-schöffmann auch während der Sommerferien Arbeiterzusatzkarten. Hausgehilfinnen und Hausfrauen mit zwei oder mehr Kindern unter 14 Jahren kamen erst im Mai bzw. Juni 1948 in den Genuss einer Angestelltenzusatzkarte, die aber schon im September wieder eingestellt wurde, da durch die Verbesserung der Ernährung die Angestelltenzusatzkarten generell aufgelassen wurden.50 Erwähnenswert ist auch die Diskriminierung der Frauen durch die Ausgabe von eigenen Frauenraucherkarten, auf denen weniger Zigaretten zugeteilt wurden als auf den für Männern bestimmten Karten, was Frauen in Zeiten der Zigarettenwährung bei Schwarzmarktgeschäften benachteiligte.51 Der Gesundheitszustand der Wiener Kinder während der Hungerperiode war alarmierend  : Vom Gesund­heitsamt der Gemeinde Wien im Sommerhalbjahr 1946 durch­ geführte Reihenunter­suchungen an rund 64.000 Schulkindern ergaben, dass 65 Prozent der Wiener Schulkinder als unterernährt, 25 Prozent sogar als höher­gra­dig un­terernährt zu bezeichnen waren. Gegen Ende des Jahres 1946 hatte sich der Anteil der unter­ ernährten Schulkinder auf 70,7 Prozent erhöht, der der höher­gradig unterernährten auf 32,3 Prozent.52 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren, die den Normalver­brauchern gleichge­stellt waren, allerdings einen weit höhe­ren physiologischen Normalbedarf an Kalorien hatten als Er­wachsene, waren eindeutig am stärksten unterversorgt. Sie konnten auch nach der im November 1946 erfolgten Erhöhung der Rationen von 1.200 auf 1.550 Kalorien nur rund 55 Prozent ihres Bedarfs decken.53 Während Kinder und Jugendliche im Verhältnis zu anderen Grup­pen von Lebens­ mittelkarten­ bezieherinnen und -beziehern durch zu geringe Rationen benachteiligt wa­ren, resul­tierten die Versor­gungs­probleme für Säuglinge nicht nur aus zu geringen, sondern aus ihrem Alter nicht entsprechenden Lebensmittelzuteilungen. Einmal wurde für Säuglinge sogar Sauerkraut auf Lebensmittel­karten zugeteilt  ; ein andermal erhielten sie Malzextrakt, das zu Durchfällen führte.54 Das macht deutlich, wie proble­matisch die weitgehende Aus­grenzung von Frau­en aus der Organisation der Ernährungssi­che­rung war und rief Proteste von Frauen hervor. »Krankheiten der Verdauungs­organe« waren 1946 und 1947 die zweithäufigsten To­desursachen bei Säuglingen in Wien und auch 1948 und 1949 durch den Zusammenhang mit der schlechten Ernährungssituation immer noch die dritthäufigste Todesursache.55 Als ein Indikator für die Auswirkungen der unzulänglichen Ernährung auf den Gesundheits­zustand der Wiener Bevölkerung kann die Entwicklung der Sterblichkeitsrate bei Erwachsenen und Säuglingen genommen werden  : Im Juli 1945 war die Sterblichkeit mehr als dreimal höher als im Durchschnitt des Jahres 1939. Es kam zu einer Erhöhung der Sterbefälle von 14 je tausend im Jahre 1938 auf 36 je tausend im Jahre 1945. Noch stärker aber erhöhten die unzulängliche Ernährung und der völlige Zusammenbruch der Milchversorgung bei Kriegsende die Säuglingssterblichkeit in Wien. Während in Vorkriegszeiten rund 50 Säuglinge je tausend Lebendgeburten starben, waren es im März 1945 260, im April 1945 282, im September 1945 sank die Zahl auf 123. 542

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Bis März 1946 verminderte sie sich weiter auf 90 und stieg im April 1946 wieder leicht auf 98 an.56 Im Jahre 1947 verstarben von je tausend lebendgeborenen Säuglingen 75, 1948 72, 1949 63 und 1950 57.57 Der in der zweiten Hälfte des Jahres 1945 feststellbare Zusammenhang zwischen der allmählichen Besserung der regulären Lebensmittelver­sorgung in Wien und dem Rückgang der Sterblichkeit der Bevölke­rung insgesamt war 1946 nicht mehr gegeben. Die Sterblichkeit bei der erwachsenen Wiener Bevölkerung lag vielfach unter der des Jahres 1939, obwohl die Kalorienzuteilungen zum Teil geringer waren als 1945. Abgesehen davon, dass die am stärksten von Unterernährung in Mitleidenschaft gezogenen Personen wie Alte und Kranke bereits 1945 verstorben waren, lag die Ursache – wie das Wirtschaftsforschungsinstitut vermutete – auch darin, dass der tatsächliche Verbrauch an Nahrungsmitteln die offiziell verteilten Mengen immer mehr übertraf, eine Folge der Versorgung auf dem Schwarzmarkt und der ausländischen Hilfsaktionen.58

Der erfolgreiche K ampf gegen den Hunger Ein Stimmungs­bericht des Po­lizeikommis­sariats Währing vom 23. August 1945 illustriert den Hunger in Wien  : »Die in Wien derzeit herrschende Not ist einfach nicht abzu­leugnen, die Geschäfte tragen die Aufschrift ›Keine Ware‹, die Verkaufstände sind leer und die im Haushalt tätigen Frauen kennen nur einen Gesprächsstoff, der darin gipfelt  : ›Wie und woraus soll man ein Mittag­essen für die Familie herstellen  ?‹ Weinende Frauen sind bei solchen Gelegenheiten keine Selten­heit. Ein Sommer ohne Gemüse, Obst, Kartoffel, von Fleisch- oder Wurstwaren gar nicht zu reden. Ein bevor­stehender Winter ohne Hausbrand und für einen großen Teil der Bevölkerung auch ohne Fenster, das sind die täglichen Sorgen der Wiener, die auf die Dauer – ohne dass es zu Aus­brüchen kommt – kaum tragbar erscheinen dürften. Bettler um Brot sind keine Seltenheit, wobei jedoch zu betonen ist, dass es sich nicht um Berufsbett­ler handelt, sondern dass hier nur der pure Hunger spricht.«59 Wiener und Wienerinnen, die nicht über Betriebsküchen ver­sorgt wurden und z. B. aufgrund von Bombenschäden oder Energiemangel auch keine Möglichkeit hatten, zu Hause etwas zuzubereiten, erhielten warme Mahlzeiten in den Loka­len der wök und der Volksernährung, einer Einrichtung des Volks­ernährungsamtes. Im Frühjahr 1946 wurden von den drei Großkü­chen der wök täg­lich rund 116.000 Portionen, von den zwei Großküchen und dreizehn kleinen Küchen der Volksernäh­rung täglich 45.000 Portionen ausgegeben.60 Die damals 25-jährige Käthe Bernegger war lange Zeit auf die Versorgung durch diese öffentlichen Einrichtungen angewiesen, und erinnert sich in einem lebensgeschichtlichen Interview  : »Da waren zwei bis drei Frauen, vielleicht mehr, die haben in so großen, wie es in Gasthäusern ist, in so gro543

irene bandhauer-schöffmann ßen Reindln ge­kocht, und da bist hingegangen, hast müssen auch ein Markerl geben, und da hast halt dann so einen Schöpfer reinkriegt und drei Erdäpfeln dazu. Das war immer dasselbe Essen. Es war eine Wassersuppe, eine bessere, und dann diese Erbsen, oben sind die Würmerl ge­schwommen, und dann waren die Erd­äpfeln drinnen. Wenn’st einen Hunger hast …« Wer sich die erschreckend niedrigen Kalorienzahlen vor Augen führt, muss zusätzlich noch beachten, dass auch diese geplanten und in Zeitungen veröffentlichten Hungerrationen in Wien oft nicht vollständig »aufgerufen« wurden, d. h. die Menschen konnten die Abschnitte ihrer Lebensmittelkarten gar nicht zur Gänze einlösen, weil einfach die Nahrungsmittel, die zur Ausgabe an die Konsumenten geplant waren, dann etwa durch Lieferschwierigkeiten nicht vorhanden waren. Die nachstehende Grafik zeigt die tatsächlich ausgegeben Rationen für Normalverbraucher in Wien von der 2. bis zur 18. Versorgungsperiode (1. 6. 1945–15. 9. 1946). Grafik_Zugeteilte Kalorien Grafik 1  : Zugeteilte Kalorien pro Tag vom 1. Juni 1945 bis 15. September 194661

Zugeteilte Kalorien pro Tag vom 1. Juni 1945 bis 15. September 1946

2000

Kalorien

1500

1000

500

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Lebensmittelkartenperioden

Die Normalverbraucher erhielten ab September 1945 1.550 Kalo­rien62, doch diese immer noch weit unter dem physiolo­gischen Existenzminimum liegenden Zuteilun­ gen mussten im März 1946 um 10 Prozent, im Mai um 17 Prozent gekürzt werden. 544

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Die heimische Ernte war völlig aufgebraucht und die Lieferun­gen der unrr a (United Nations Relief and Rehabilitation Admi­nistration63), die ab 1. April 1946 die Verantwortung für die Finan­zierung der Ver­sorgung Österreichs übernommen hatte, noch nicht in Österreich eingetroffen. Die »Mai-Krise« brachte einen schlimmen Einbruch in den Kalorienzahlen und mobilisierte österreichische Politiker zu Petitionen an die Weltöffentlichkeit. Am 10. November 1946 wurde der vor­gesehene Kaloriensatz wieder auf 1.550 erhöht.64 Die ersten Monate des Jahres 1947 brachten allerdings wie­derum eine Verschärfung der Ernährungslage. Im April 1947 wurden Journalisten des Wiener Kurier angewiesen, Berichte über den hohen Kalorienverbrauch in den usa, über Festessen und Restau­rants zu unterlassen und weder Fotos von Nahrungs­mitteln noch Kochrezepte zu bringen.65 Die Wiener sollten, während sie zum Frühstück ihren Ersatzkaffee tranken, nicht neidisch in der Morgenzeitung über die amerikanische Überflussgesellschaft lesen. Allen war bewusst, dass die Wiener und Wienerinnen in erster Linie von ausländischen Lebensmittellieferungen lebten, denn die österrei­chische Landwirt­schaft war in der unmittelbaren Nachkriegszeit weit davon entfernt, die Bevölke­rung versor­gen zu können. Die landwirtschaftliche Produktion erreichte erst 1954 das Niveau von 1937.66 Wien war zu über 80 Prozent auf ausländische Nahrungsmittellieferungen angewiesen und verbrauchte 42 Prozent der ausländischen Ernährungshilfe, die nach Österreich kam.67 Die Maispende der Roten Armee und die garioa-Lieferungen (Government and Relief in Occupied Areas) der usa sicherten eine erste rudimentäre Versorgung der Bevölkerung Wiens, im März 1946 startete die care-Paketaktion, im April 1946 begannen die unrr a-Lieferungen der Vereinten Nationen, die die garioa-Lieferungen ablösten. Die frp-Hilfe (Foreign Relief Program, Kongresshilfe) überbrückte die Zeit zwischen dem Auslaufen der unrr a-Hilfe und dem Anlaufen des Marshallplans 1948.68 Nur mithilfe dieser Lebensmittellieferungen, die von den Vereinten Nationen, anderen Staaten und privaten Organisationen organisiert wurden, konnte das Überle­ben gesichert werden. Als die unrr a ihre Tätigkeit in Öster­reich Ende Juni 1947 beendete, hatte sie Waren im Werte von 135,6 Millio­nen Dollar geliefert, wovon 91,8 Prozent auf Lebens­mit­tel und land­wirtschaftli­che Bedarfsgüter entfie­ len.69 Mithilfe von ausländischen Spenden (besonders aus Schweden und Dänemark) wurden Ausspeisungen in Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten von den Besatzungsmächten und den wök (Wiener öffentliche Küchen) durchgeführt. In Schulkellern, in Kindergärten und Gasthäusern wurde für Kinder und Jugendliche gekocht  ; hier mussten die Kinder keine Lebensmittelmarken abgeben, sie erhielten Eintopf, Mehlspeisen, Kakao u. a. m. und durften sich in einem warmen Raum aufhalten. 1946 wurden über 34 Millionen Portionen ausgegeben, 1947 über 38 Millio­ 545

irene bandhauer-schöffmann nen, 1948 beinahe 35 Millionen, danach sank der Bedarf deutlich ab  : von über 16 Millionen im Jahr 1949 auf weniger als 3 Millionen im Jahr 1953.70 Denn die Familien waren wieder in der Lage, für ihre Kinder selbst zu versorgen. Ab 1948 wurde die Lebens­ mit­ telbewirtschaftung nach und nach abge­ baut,71 1950/51 war das erste Nachkriegsjahr mit an­nähernd freier Konsumwahl, 1950 waren Fleisch, Milch und Butter freigegeben worden, Anfang des Jahres 1952 waren nur mehr Zucker, preisgestützte Speisefette, Margarine, Kunstspeisefette und Speiseöl markenpflichtig. Mit dem ersten Quartal 1952 wurden die Mütter-, Kinder- und Selbstversorger-Lebensmittelkarten aufgelassen, es bestand nur mehr eine Kartenart, die zur Vereinfachung für drei Monate ausgegeben wurde.72 Ab 1. Juli 1953 gab es keine Lebensmit­telkarten mehr.73

Fleischhunger Die Lebensverhältnisse blieben länger für breite Bevölke­rungsschichten karg und ärmlich, als die Bilder vom Wirtschaftswunder und den unter­schiedlichen Konsumwellen, die angeblich nach der zweiten Währungsreform eingesetzt hätten, suggerieren.74 Die »Fresswelle der 1950er-Jahre« erreichte die ärmeren Bevölkerungsschichten in Wien erst in den 1960er-Jahren. Der österreichische Fleischjahreskonsum pro Kopf erreichte erst 1956/57 mit 48,3 kg den durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum von 1934/38  ; der Pro-Kopf-Verbrauch des begehrten Schweinefleisches war erst ein Jahr später auf Vorkriegsniveau.75 Während der Verbrauch an pflanzlichen Nahrungsmitteln in Österreich 1952 um 9 Prozent höher lag als 1937, lag der an tierischen Erzeugnissen noch immer um 17 Prozent darunter.76 Das Fleisch blieb die gesamten 1950er- und 1960er-Jahre das Sehnsuchtsobjekt der Konsumentinnen noch viel mehr der Konsumenten, die nun nach den Hungerjahren nicht mehr nur an Kalorien und Sättigung dachten, sondern an das Langentbehrte und Wohlschmeckende. Endlich wollten die Wiener wieder das Wiener Schnitzel auf dem Teller sehen und sich vom Zwangsvegetariertum der Hungerjahre erholen. Heute, wo die öffentliche Meinung Fleisch mit Tötung assoziiert und ein Vegetariertum aus ethischen Gründen sich immer mehr ausbreitet – was sich etwa auch an der Zunahme der vegetarischen Restaurants in Wien ablesen lässt –, ließe sich wohl kein Politiker im Schlachthof fotografieren. Nicht so in den 1960er-Jahren  : Im Fototeil des Jahrbuchs der Stadt Wien aus dem Jahr 1960 steht Stadtrat Bauer stolz neben den Schweinehälften im Schlachthof St. Marx. Dieser extreme Hunger nach Fleisch lässt sich auf der symbolischen Ebene zweifach deuten  : einerseits im Kontext einer geschlechtsspezifischen Zuordnung von Speisen, wo männlich und Fleischkonsum zusammengehören. Für den als Verlierer aus dem Krieg 546

ernährungsverhalten und kochkultur in wien heimkehrenden Mann waren die Wiederherstellung traditioneller Geschlechter- und Familienverhältnisse und die Wiedergewinnung seiner Männlichkeit auch daran erfahrbar, dass er wieder regelmäßig ein großes – und natürlich das größte – Stück Fleisch auf dem Teller hatte. Zweitens lässt sich der Fleischhunger der Nachkriegszeit auch auf der Ebene einer »kulinarischen Völkerpsychologie« lesen, wie sie etwa von Jean-Jacques Rousseau in Anlehnung an die antike Säftelehre entwickelt wurde.77 Die Vorstellung, dass Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel den Volkscharakter bestimmen, verband »weibisch« und »weichlich« mit pflanzlichen Nahrungsmitteln. Die Entstehung eines österreichischen Nationalbewusstseins und die Abkehr vom Vegetarismus als der »Diät der versklavten Völker«78 gehörten hier auf der symbolischen Ebene zusammen. Charakteristisch für die 1950er-Jahre ist eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten gegenüber den Mangeljahren, in denen der Kalorienbedarf hauptsächlich mit pflanzlichen Nahrungsmitteln (wie etwa getrockneten Hülsenfrüchten) gedeckt wurde. Relativ teure und kalorienarme Produkte wurden nun zunehmend den relativ billigen und kalorienreichen Nahrungsmitteln vorgezogen. Obwohl die durchschnittliche Kalorienzahl 1960/61 nur um acht Prozent höher lag als 1950/51, gaben die Konsumenten und Konsumentinnen um fast 30 Prozent mehr für Nahrungsmittel aus.79 »Nicht das ›Fressen‹ zeichnete die ›Freßwelle‹ aus, sondern […] der Wunsch nach dem lang Entbehr­ten, der ›Leckerei‹, dem Besonderen.«80 Da das Besondere nicht in ausreichenden Mengen vorhanden war, um die Nachfrage wirklich zu befriedigen, gab es etwa für den Fleischverkauf die absurdesten Verkaufsbeschränkungen, die den Hunger der Konsumenten kanalisieren sollten. Vom Wirtschaftsdirektorium wurden im Sommer 1951 zwei fleischlose Tage pro Woche verfügt, das hieß, ab 24. August 1951 durften Dienstag und Freitag von Fleischhauern kein Fleisch verkauft und von Privathaushalten und Gastronomiebetrieben keine Fleisch­speisen gekocht werden.81 Ausgenommen aus diesen Beschränkungen war Wildbret, was in Restaurants zu einem Überangebot an Wildgerichten an den fleischlosen Tagen führte, von denen kritische Zeitungsreporter zu berichten wussten, dass es sich nur um einen Etikettenschwindel handelte und die angebotenen Rehschnitzel tatsächlich wie Rindschnitzel schmeckten.82 Die ärmeren Bevölkerungsschichten, wie z. B. die Leserinnen der sozialistischen Frauenzeit­schrift Die Frau, aßen freilich nicht diese »falschen Rehschnitzel«, sondern wurden mit Rezeptvorschlägen dahingehend beeinflusst, den traditionellen Sonntagsbraten z. B. durch Fisch oder Walfleisch zu ersetzen, das mit erp-Geldern nach Österreich geliefert worden war. Unter dem Motto »Es geht auch ohne Fleisch« wird 1952 in der Zeitschrift Die Frau viel Mühe darauf verwendet, die Hausfrauen von ihrer »Fixierung auf das nicht vorhandene Schweinefleisch« abzubringen.83 1952 wurden diese quasi religiösen, magischen Verkaufsbeschränkungen etwas gelockert  : Schweinefleisch durfte nun schon am Freitag nach 16 Uhr gekauft werden. Der Kalbfleischverkauf blieb aber auf Samstag beschränkt, und Speisen aus Kalbfleisch durften nur am 547

irene bandhauer-schöffmann Sonntag verzehrt werden.84 Für weniger begüterte Familien war das Schnitzel einfach unerschwinglich, denn die Händler fanden immer wieder Möglichkeiten, die amtliche Preisregelung zu umgehen.85 Als Reaktion darauf kam es teils zu spektakulären Protestaktionen der Wiener Hausfrauen, wie z. B. im Juli 1951 in der Wiener Groß­markthalle  : »Hunderte Hausfrauen hatten sich in der Großmarkthalle versammelt und erklärten nicht früher weggehen zu wollen, bis die Preise herabgesetzt sind. Ein größeres Aufgebot von Polizei traf in der Markthalle ein. Ein Fleischhauer wurde von den Frauen mit Fleisch­stücken seines eigenen Standes beworfen. […] Um neun Uhr Vormittag erschienen zwei Überfallsauto in der Großmarkthalle. Die Schulmannschaften gingen mit Holzknüppeln gegen die Hausfrauen vor.«86 Anfang der 1960er-Jahre wurde das Fleisch von der Festtags- zur Alltagsspeise. Dieser Prozess, in dem das gekochte, gebratene, gegrillte oder gebackene Fleischstück zum Mittelpunkt einer Mahlzeit wurde, um den sich die Beilagen gruppierten, erfasste alle sozialen Schichten, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. In Wiener Arbeitnehmerhaushalten verbrauchte eine erwachsene männliche Person 1950 und auch 1955 jährlich rund 41 kg Fleisch und Wurstwaren, in den 1960er-Jahren war der Verbrauch auf 48 kg angestiegen, Mitte der 1970er-Jahre erreichte der Fleischverbrauch mit 57 kg seinen Höhepunkt, danach gab es einen leichten Rückgang auf 55 kg 1980 und weiter auf 53,5 kg im Jahre 1985.87 Es folgte wieder einen leichter Anstieg, mehr als die Hälfte des österreichischen Fleischkonsums entfällt auf Schweinefleisch.88 Das Auseinanderklaffen der geschlechtsspezifischen Ernährungsgewohnheiten in der erwachsenen Wiener Bevölkerung kann am deutlichsten am Fleischverzehr gesehen werden. Männer essen nach wie vor wesentlich mehr Fleisch als Frauen  ; ob sie auch häufiger Fleisch essen, darüber gibt es für den Beginn der 1990er-Jahre unterschiedliche Aussagen von zwei Verzehrerhebungen. Während der 1. Wiener Ernährungsbericht keinen signifikanten Unterschied in Bezug auf die Verzehrfrequenz von Fleischspeisen und Fleisch- und Wurstwaren zwischen Männern und Frauen ausmachen konnte, jedoch feststellte, dass Männer bei gleicher Konsumhäufigkeit (durchschnittlich an fünf Tagen pro Woche) rund zwei Drittel mehr an Fleischspeisen und Fleisch- und Wurstwaren verzehrten als Frauen,89 kam eine andere Erhebung auch auf eine unterschiedliche Frequenz. Laut ikus-Verzehrerhebung aßen Männer Anfang der 1990er-Jahre durchschnittlich 5,9 Mal pro Woche Fleischspeisen als Hauptspeisen, Frauen nur 4,6 Mal pro Woche.90 Gegen die Fleischberge, die die Agrarwirtschaft dank der Intensivtierhaltung in der Lage ist, vor den Konsumenten aufzutürmen, entwickelten überwiegend jüngere Frauen zunächst aus gebildeten Milieus seit den 1970er- und 1980er-Jahren Aversionen. Dass sie versuchten, den Fleischanteil an den Mahlzeiten zurückzudrängen, kann auch als Ausdruck geänderter Geschlechterverhältnisse gesehen werden, als Revolte vom Küchentisch aus  : gegen den männlichen Mythos vom kräftigenden Fleischkonsum.91 »Dies scheint«, meint Reinhard Sieder, »mit Fortschritten in der Emanzipation von 548

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Frauen und mit Prozessen der graduellen Veränderung im innerehelichen und innerfamilialen Machtgefüge zusammenzuhängen, denn diese Gegenbewegung ist – so hat die qualitative Analyse der Fälle gezeigt – keineswegs primär gesundheitlich, sondern vor allem geschmacklich motiviert.«92 Anzumerken bleibt, dass der Kampf der Wienerinnen gegen das Fleisch auf einem Terrain stattfindet, das keineswegs so männlich überdeterminiert ist wie etwa in anderen Ländern, denn der männliche Fleischhunger wird durch die klassischen Gerichte der Wiener Küche unblutig gestillt. Dass im Zentrum der Wiener Küche das blutleere, gekochte Rindfleisch steht, das nicht rot wie Fleisch auf dem Teller zu liegen kommt und in der klassischen Anordnung von einer Vielzahl von Beilagen umkränzt und gezähmt wird, kann innerhalb dieses Mythos vom rohen Fleisch und der Männlichkeit auch als weibliche Verfeinerung, als Überbleibsel einer höfischen, nicht aggressiv männlichen Kultur gesehen werden. Die Differenz zu einer amerikanischen Steak-Kultur könnte nicht größer sein. Und das Wiener Schnitzel versteckt seine Fleischlichkeit unter einer Bröselkruste.

Geschützte und kontrollierte Konsumenten Einkaufsbeschränkungen und Preisregelungen prägten nicht nur die Hungerjahre. Ein völlig reglementiertes Verkaufswesen für Lebensmittel, das nicht auf bequemes, zeitökonomisches Einkaufen der Hausfrauen abzielte, sondern auf den Schutz von Gewerbetreibenden, die strikt über ihr Terrain wachten und Überschreitungen, etwa den Verkauf von Semmeln beim Fleischhauer, nicht gestatteten, ließ Konsumentinnen von Geschäft zu Geschäft laufen. Dass die Supermärkte, die alles für die tägliche Versorgung in einem Geschäft boten, als großer Fortschritt begrüßt wurden, ist umso mehr verständlich, wenn wir die räumlichen Einkaufsbeschränkungen der 1950er- und 1960er-Jahre vor Augen haben – von den zeitlichen Beschränkungen wird ja erst Jahrzehnte später in den 1990er-Jahren im Zuge der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten die Rede sein. Um nur ein Beispiel anzuführen  : Mit der Milchwirtschaftsgesetznovelle vom 8. Juli 195393 wurden etwa Bestimmungen über den Kleinverkauf von Milch erlassen. Milch durfte nur mehr in Milchsondergeschäften oder in Milchabgabestellen der landwirtschaftlichen Genossenschaften verkauft werden. Der Lebensmittelkleinhandel musste Ansuchen beim Milchwirtschaftsfonds stellen, und das Marktamt der Stadt Wien prüfte dann den »Bedarf« für eine Milchverkaufsstelle.94 Weit entfernt von einer Liberalisierung des Marktes war man auch hinsichtlich der Preisgestaltung, was während der Mangeljahre sicher im Sinne der Konsumenten war. Die Bundespolizei Wien veröffentlichte in Tageszeitungen »Prangerlisten für Preis549

irene bandhauer-schöffmann wucherer«, die Namen von Groß- und Kleinhändlern anführten, denen wucherische Gewinnspannen nachgewiesen wurden.95 Bis Mitte der 1950er-Jahre waren für viele Lebensmittel zum Schutz des Konsumenten Höchstpreise amtlich vorgeschrieben  : Kindernährmittel, Teigwaren, Bananen und Olivenöl waren zum Beispiel bis 1953 preisgeregelt, Kalbfleisch, Schweinefleisch und die daraus hergestellten Fleischwaren blieben bis 1960 unter der Restriktion amtlicher Höchstpreise  ; Rahm, Obers, Joghurt, Topfen wurden 1957 aus der Preisregelung ausgenommen, Kleingebäck aus Weißmehl erst 1961. Mit einer Vielzahl von Novellen zur Preisregelungsverordnung von 1949 wurden immer mehr Güter aus der amtlichen Höchstpreisregelung ausgenommen96 – sehr zum Bedauern des Wiener Marktamtes  : »Die Möglichkeit, die Preisbildung auf dem Lebensmittelsektor zu beeinflussen«, stand im Jahresbericht 1956, »ist heute infolge der vorgeschrittenen wirtschaftlichen Konsolidierung und der Aufhebung des größten Teiles der preisrechtlichen Bestimmungen im allgemeinen gering. Das Marktamt beobachtet deshalb die so genannten ortsüblichen Preise, um mit Hilfe der im Preistreibereigesetz verankerten Rechtsnormen auf Erzeuger und Händler einzuwirken.«97 Nach dem Abbau der Bewirtschaftungsgesetze waren Ende der 1950erJahre nur mehr bei einzelnen Lebensmitteln die Höchstpreise festgesetzt, für die anderen Waren galt die gesetzliche Bestimmung von »ortsüblichen« Preisen, deren Überschreitung nach dem Preistreibereigesetz98 geahndet wurde. Das hieß für das Wiener Marktamt, dass die Beamten ständig Preiserhebungen und Preisvergleiche anstellen mussten. Neben der Überwachung von Vorschriften gegen unlauteren Wettbewerb, der Kontrolle von Preisauszeichnungen, den Preiserhebungen, den Gewerbeangelegenheiten u. a. m. hatte das Marktamt auch die wichtige Aufgabe der Qualitätskontrolle der Lebensmittel über.99 Dass in den Hungerjahren der kriminellen Fantasie bei Lebensmittelverfälschungen keine Grenzen gesetzt waren, verwundert kaum, aber auch, als sich die Versorgungslage in Wien verbessert hatte, waren diese Kontrollen zum Schutze der Konsumenten unumgänglich. Die lebensmittelpolizeiliche Tätigkeit des Marktamtes erstreckte sich sowohl auf die im Inland erzeugten als auch auf die aus dem Ausland eingeführten Lebensmittel, die, bevor sie in den Verkauf gelangten, überprüft wurden. Wer findig war, umschiffte die Lebensmittelkontrolle des Wiener Marktamtes und deklarierte etwa schlechtes Öl als »technisches Rohöl«, hier konnte das Marktamt nicht unmittelbar zugreifen. »Durch umfangreiche Erhebungen konnte jedoch ermittelt werden, dass solche Öle nach Raffination bestimmungswidrig auch zur Herstellung von Speise-Ölen verwendet wurden«100, wurde 1953 über die Detektivarbeit des Marktamtes berichtet. Im Jahr 1952 überwachte die Lebensmittelpolizei 1.582 Groß- und 23.633 Kleinbetriebe und nahm über 37.000 Lebensmittelproben.101 Kontinuierlich überprüft wurden die Grundnahrungsmittel Milch und Brot, wobei die Milchqualität immer sehr gut war, die Wiener Bäcker 550

ernährungsverhalten und kochkultur in wien aber immer wieder Grund zur Kritik lieferten. »In einzelnen Fällen wurde bei der Innung der Antrag auf Nachschulung der Bäcker gestellt«,102 vermerkte man 1952 im Jahrbuch der Stadt Wien  ; 1955 wurde den Bäckern, die Brot minderer Qualität lieferten, eine »eingehende Beratung durch die Bäckerinnung empfohlen«.103 Die Menge der Lebensmittel, die vom Marktamt der Stadt Wien alljährlich beschlagnahmt wurden und die entweder »nach entsprechender Behandlung wieder als Lebensmittel auf den Markt gebracht oder als Futtermittel verwendet«104 wurden, nahm mit der Verbesserung der Ernährungslage ab. 1954 hatte das Marktamt noch 338.975 kg vegetabilische, 32.706 kg animalische Lebensmittel und 4.026 sonstige Waren beschlagnahmt105, 1969 hatte es nur mehr 87.470 kg vegetabilische, 4.351 animalische Lebensmittel und 661 kg sonstige Waren aus dem Verkehr ziehen müssen.106 Die Zahl der Anzeigen, die das Marktamt einerseits an die Staatsanwaltschaft wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes107 und andererseits an die Verwaltungsbehörden wegen Zuwiderhandelns gegen Bestimmungen der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen vornahmen, blieben weitgehend konstant  : Es waren in den 1950er- und 1960er-Jahren rund 800 pro Jahr.108 Die sich langsam entwickelnde skeptische Einstellung gegenüber den in der Lebensmittelproduktion zum Einsatz kommenden Chemikalien fügte einen ganz neuen Bereich zu den Kontrollaufgaben des Marktamtes. 1962 untersuchte das Wiener Marktamt erstmals auch auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln,109 1963 untersuchte man Obst und Gemüse auf radioaktive Verseuchung,110 im Jahresbericht von 1965 wurde die Notwendigkeit von Untersuchungen auf Rückstände von Schädlingsbekämpfungsmitteln und der Kontrolle der Lebensmittel, die »infolge der Behandlung mit Konservierungsmitteln mit Giftstoffen behaftet sind«, betont.111 Während das Marktamt in den Hungerjahren die vergleichsweise einfache Überprüfung der Genusstauglichkeit der Lebensmittel vornahm, war man nun durch den Chemieeinsatz in der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelerzeugung auch technisch herausgefordert. Die Konsumenten mussten allerdings bis in die 1980er-Jahre warten, bis sie auf der Verpackung nachlesen konnten, welche Farb- und Konservierungsstoffe, Emulgatoren, Enzyme, Geschmacksverstärker etc. in den Lebensmitteln enthalten waren.

Eine neue Konsumkultur: Wahlmöglichkeiten und K auflust Die Verbesserung der Ernährungssituation wurde nicht nur als eine Zunah­me von Kalorien (vorrangig aus Fleisch und tierischen Fetten), sondern in erster Linie als eine Erwei­terung der Kon­sum­möglichkeiten erlebt. Denn Wahlmöglichkeit hat551

irene bandhauer-schöffmann ten die Konsumentinnen und Konsumenten jahrelang keine gekannt  : Was auf den Lebensmittelkarten aufgerufen wurde, musste gekauft werden, es gab keine Alternativen. »Die kümmerliche Erhaltung des Lebens«, schrieb das Wirtschaftsforschungsinstitut 1946, »zwingt dazu, restlos alle rationierten Waren zu kaufen, unabhängig von Geschmackswünschen und Preisrücksichten.«112 Was gegessen wurde, bestimmte sich nach der Höhe des Haushaltsbudgets und nach den Zufälligkeiten der Zusammensetzung der rationierten Lebensmittel. Der Satz »Was auf den Teller kommt, wird gegessen« könnte passend auf »Was auf der Lebensmittelkarte aufgerufen wurde, wurde gegessen« abgewandelt werden. Die Wiener Konsumenten waren darüber hinaus noch benachteiligt, weil die Rationen durch unterschiedliche Waren abgedeckt wurden und daher in den Bundesländern ein unterschiedliches Preisniveau hatten. Für September 1946 schätzte das Wirtschaftsforschungsinstitut, dass in den anderen Bundesländern der Preis für 1.000 Kalorien, die auf Lebensmittelkarten zugeteilt wurden, um ungefähr 25 Prozent niedriger war als in Wien.113 Mitte der 1950er-Jahre registrierten die Wiener Marktamtsbeamten ein neues Konsumverhalten der Bevölkerung, die nun nicht mehr nur viele Kalorien zum niedrigsten Preis kaufen wollte, sondern offensichtlich die sich wieder auftuenden Wahlmöglichkeiten genoss. Kritisch vermerkte man dazu im Bericht des Marktamtes von 1954  : »Leider erschwerten die Verbraucher die Lage nicht selten dadurch, dass sie nicht jene Waren kauften, die zu billigeren Preisen angeboten wurden, sondern, ohne Rücksicht auf den Preis, jeweils nur gewisse Waren bevorzugten.«114 Auch zehn Jahre später, nachdem sich nun tatsächlich für breite Schichten die Möglichkeit zum Konsum eröffnet hatte, geißelte das Marktamt Kaufentscheidungen, die der (Schau-)Lust folgten und sich nicht um die billigsten Preise kümmerten  : »Bei der Beobachtung der Käufergewohnheiten konnte festgestellt werden, dass Hausfrauen bei den Einkäufen schönes Obst und Gemüse bevorzugen, während die Preise ihren Kaufentschluß erst in zweiter Linie beeinflußten. Billigere Obstund Gemüsesorten, die nur geringfügige oder kaum nennenswerte Mängel zeigten, wurden abgelehnt.«115 Zur Eindämmung der lustorientierten Kaufentscheidungen, die von der Waren­ ästhetik verführt, sich nicht um Kalorienwerte, Kaufpreise, Nährwerte etc. kümmerten, setzte das Marktamt zunehmend auf Konsumenteninformation. Radio- und später auch Fernsehsendungen erhielten vom Marktamt genaue Preisinformationen. »Zur Orientierung der Wiener Hausfrau« erfolgte ab 1958 täglich um 8 Uhr 20 eine Durchsage des Marktamtes im Wiener Rundfunk, in der die auf dem Wiener Naschmarkt geltenden Verbraucherpreise der wichtigsten Gemüsesorten verlautbart wurden.116 Ab 1963 informierte die Fernsehsendung »Markt zum Wochenende« über Lebensmittelpreise und machte so einen Preisvergleich für die einkaufenden Hausfrauen leichter.117 552

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Im Jahrbuch der Stadt Wien aus dem Jahr 1964 gab das Marktamt eine ausführliche Darstellung, wie sich das Konsum- und Kaufverhalten der Wiener und Wienerinnen in den letzten Dekaden verändert hatte  : »So wie die Verkaufsmethoden zeigen auch die Käufergewohnheiten gegenüber früheren Jahren gewisse Änderungen. Der steigende Lebensstandard, das Doppelverdienertum [sic  ! Gemeint ist mit diesem pejorativen Begriff die außerhäusliche Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen, Anm. IBS], die Aufklärung durch populärmedizinische Zeitungsartikel und Vorträge, die Motorisierung, eine verstärkte Reklame sowie verschiedene Sendungen im Fernsehen und Radio bewirkten einen Wandel in den Ernährungsgewohnheiten. Die Wiener Küche und die Hausmannskost überhaupt mit reichlicher Verwendung von Schweineschmalz, Soßen, Erdäpfeln, Teigwaren etc. mussten zum größten Teil leichteren und schnelleren Kochmethoden weichen. Der Verbrauch an Geflügel, Eiern, Fleischkonserven, Würsten, Kaffee, Schokolade, alkoholfreien Getränken usw. stieg wesentlich an. Vor allem berufstätige Frauen bevorzugten abgepackte und kochfertige Lebensmittel  ; Tiefkühlgemüse, bei dem das zeitraubende Waschen und Putzen der Ware wegfällt, wird oft dem Frischgemüse vorgezogen. Der Absatz von Kannenmilch sinkt ständig, zumeist wird Flaschenmilch oder Milch in Tetraverpackung verlangt. Die Fleischhauer klagen übereinstimmend über den schlechten Absatz von Speck und Filz, weil die Hausfrauen, die früher fast ausschließlich mit Schweineschmalz kochten, vorwiegend Speiseöl verwenden. Die Nachfrage führte dazu, dass in den Geschäften immer mehr brat-, back- oder grillbereite Nahrungsmittel angeboten werden. Auf den Märkten wird nach wie vor frische Ware bevorzugt. Dem Bestreben, den Einkauf in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen, kommen die Einkaufszentren entgegen  ; in Hietzing und Stadlau-Nord wurden neue Einkaufszentren gebaut. Der Erfolg dieser nach modernen Gesichtspunkten geschaffenen Einkaufsmöglichkeiten kann ihres kurzen Bestandes wegen allerdings noch nicht beurteilt werden.«118

Nahversorgung in Wien: Märkte, Fleischereien, Bäckereien und Greißlereien Kriegsschäden wiesen fast alle Marktplätze und Markthallen auf  ; völlig niedergebrannt waren der Margaretner Markt, der Viktor-Adler-Markt, der Floridsdorfer Markt, die Märkte Im Werd und auf dem Volkertplatz, der Augustiner Markt, der Simmeringer Markt, der Hannovermarkt und der Markt an der Brigittenauer Lände.119 In den 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre gab es in Wien drei Obst- und Gemüsegroßmärkte, drei Detailmarkthallen, 29 Detailmärkte, einen Spezialmarkt für Fische und einen für Fleisch.120 Wien hatte Mitte der 1950er-Jahre 580 Stände in Markthallen, weiter 2.358 Stände auf offenen Märkten und 381 Stände auf Straßenmärkten, 553

irene bandhauer-schöffmann zusätzlich lockten etwa zu Allerheiligen, Weihnachten etc. noch die nicht ständigen Märkte.121 Mitte der 1960er-Jahre hatte man schon einige Detailmärkte abgeschafft und im Auftrag der Stadt Wien führte das Wiener Institut für Standortberatung eine Untersuchung über die Funktion der Märkte durch. Man diskutierte damals allen Ernstes die Absiedlung des Naschmarktes, um dem zunehmenden Straßenverkehr im Wiental Platz zu machen, die Errichtung eines Einkaufszentrums beim Bahnhof Landstraße, die auch tatsächlich erfolgte, und die Verlegung der Markthalle im ix. Bezirk.122 Die Zerstörung des Naschmarktes wurde verhindert, 1972 wurde bloß der Großmarkt, der sich von der Stadtbahnstation Kettenbrückengasse stadtauswärts erstreckt hatte, nach Inzersdorf verlegt. Im selben Jahr wurde aber der Fischmarkt am Donaukanal ersatzlos aufgelassen und der Fleischmarkt von der Landstraße nach St. Marx abgesiedelt. 1979 wurde der Einzelhandelsfleischmarkt in einem Gebäude untergebracht, das auf dem früheren Großmarktareal errichte worden war. Die einzig alte Markthalle Wiens ist heute die Nußdorfer Halle, die nach einer Generalsanierung im Juni 1995 wiedereröffnet wurde.123 Seit dem Beginn der 1960er-Jahre hatte sich die Zahl der Marktstände um zwei Drittel vermindert  : 1995 gab es auf den ständigen Märkten in Wien noch 1.109 Stände. Die größten Märkte der Stadt waren Mitte der 1990er-Jahre der Naschmarkt mit 172 Ständen, der Brunnenmarkt mit 157, der Hannovermarkt mit 90, der alte Meiselmarkt mit 83 und der Victor-Adler-Markt mit 81 Ständen.124 Mit 1. Juni 1962 trat eine neue Marktordnung in Wien in Kraft, die die bis dahin gültige aus dem Jahre 1862 ersetzte, an der schon der Verfassungsgerichtshof Anstand genommen hatte. Die neue Marktordnung nahm auf die entstandenen Spezialgeschäfte auf den Märkten Rücksicht, die es vorher nicht in dem Maß gegeben hatte.125 Dass die Wiener Märkte die Zeit veränderten Kaufverhaltens und die Konkurrenz der Selbstbedienungsläden, von denen es 1964 in Wien schon 212 gab,126 überlebten, war wohl in erster Linie den türkischen Arbeitsmigranten und -migrantinnen zu danken, die den Wiener Märkten ein neues Gepräge gaben und die etwa den Brunnenmarkt zu einem Ort machten, wo orientalische (Koch-)Kultur in Wien erfahrbar wird. Heute ist der Naschmarkt der wichtigste Detailmarkt in Wien, der Ausländern in Wien, Migranten, Österreichern mit Migrationshintergrund und experimentierfreudigen Köchen Zutaten aus aller Welt liefert und darüber hinaus zunehmend auch mit Esslokalen lockt, die Sushi, Tramezzini, aber auch traditionelle Palatschinken anbieten. Für diese typische Vermischung von Esskulturen wurde der Begriff »Wiener Naschmarktküche« geprägt.127 In der Zweiten Republik kam es zu einer radikalen Veränderung der Nahversorgung  : Die kleinen Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien, Fleischgeschäfte, die es bis dahin in Wien an jeder Straßenecke gegeben hatte, nahmen kontinuierlich ab. Manche Gewerbe wie etwa der Pferdefleischhauer starben fast gänzlich aus, 1955 aber gab es in Wien noch 208 Pferdefleischhauer. 554

ernährungsverhalten und kochkultur in wien

Tabelle 3  : Kleinverkaufsstellen für Lebensmittel in Wien in den 1950er-Jahren128 1950

1954

1955

2.249

2.043

1.981

Pferdefleischhauer

158

213

208

Geflügel- und Wildbrethändler

275

239

229

Fischhändler

264

238

240

Sonstige Fleischgeschäfte

152

118

106

Bäcker

815

679

679

Fleischhauer und Fleischselcher

Brot- und Gebäckverschleißer Filialen von Brotfabriken Sonstige Bäckereibetriebe

79

75

74

117

166

174

71

25

65

Zuckerbäcker, Lebzelter u. dgl.

539

525

520

Zuckerwarenverschleißer

902

967

955

Gefroreneserzeuger

155

154

126

Milchmeier

140

70

54

1.035

958

1.018

475

555

586

38

52

49

Gemischtwaren-, Lebensmittel- u. Feinkosthandlungen

6.075

5.413

5.337

Obst- und Gemüsehändler

2.190

1.860

1.822

Milchverschleißer Molkereifilialen Sonstige Milchgeschäfte

Sonstige Lebensmittelgeschäfte Zusammen

154

342

381

15.883

14.692

14.604

1950 hatte es in Wien 15.883 Kleinverkaufsstellen für Lebensmittel gegeben129, bis 1954 war nur eine gering Abnahme auf 14.692 zu verzeichnen gewesen  ; 1955 – nach der Gebietsveränderung – gab es 14.604 Lebensmittelverkaufsstellen im räumlich wieder kleiner gewordenen Wien, 1966 gab es noch 10.051 Lebensmittelverkaufsstellen, 1973 nur mehr 7.135  ; das heißt  : Von Mitte der 1950er-Jahre bis Mitte der 1970er-Jahre hatte sich die Zahl der kleinen Lebensmittelgeschäfte halbiert.130 Insbesondere die kleinen Milchgeschäfte, die noch aus Kannen ausschenkten, entsprachen nicht mehr den Wünschen der Hausfrauen. Mit dem Einzug der Kühlschränke in die Privathaushalte war es auch nicht mehr nötig, jeden Tag frische Milch zu kaufen. Von 1955 bis 1973 reduzierte sich die Zahl der Milchgeschäfte in Wien von 1.657 auf 326. Die kleinen Fleischhauergeschäfte, die in den 1960er-Jahren im Vergleich mit anderen Lebensmittelkleinbetrieben noch besser abschnitten, wurden ganz massiv in ihrer Existenz bedroht, als große Supermarktketten den Fleischverkauf aufnahmen und es ab Ende der 1970er-Jahre üblich wurde, geschnittenes, abgepacktes Fleisch zu 555

irene bandhauer-schöffmann kaufen. Von den mehr als 2.764 Fleischverkaufsstellen, die es Mitte der 1950er-Jahre in Wien gegeben hatte, waren eineinhalb Jahrzehnte später immer noch mehr als die Hälfte vorhanden. Das Einkaufen hatte sich in diesen Jahrzehnten grundsätzlich geändert  : Das Automobil machte den Wochenendeinkauf in einem weit entfernten Supermarkt möglich, die Kühl- und Gefrierschränke erlaubten die Lagerung größerer Mengen von Lebensmitteln zu Hause. Für Gesellschaftsschichten, die nicht mobil waren, wurde jedoch die kontinuierliche Verschlechterung der innerstädtischen Nahversorgung zum Problem. Tabelle 4  : Kleine Lebensmittelgeschäfte in Wien, 1950–1970131 Art des Betriebs

1950

1955

1960

1970

Fleisch u. Fleischwaren

3.098

2.764

2.384

1.772

Bäcker, Zuckerbäcker u. dgl.

2.678

2.593

2.301

1.491

Milch u. Milchprodukte

1.688

1.756

1.721

590

Allgemeiner Lebensmittelhandel

8.419

7.540

6.718

4.703

Die Inhaber der Fleischhauereien, Bäckereien und Zuckerbäckereien waren vorwiegend männlich, die Frauen waren meist mitarbeitende Familienmitglieder, kaum aber Eigentümerinnen oder Miteigentümerinnen. Frauen konnten die Kompetenz, die sie in der Nahrungsversorgung der Familien hatten, nicht professionell in der Nahrungsmittelerzeugung umsetzen  : Bäckereien, Fleischereien, aber auch Gaststätten und Restaurants waren mehrheitlich im Eigentum der Männer, die auf die kompetente (Gratis-)Mitarbeit der weiblichen Familienmitglieder zählen konnten. Kurz nach dem Krieg war der Frauenanteil an den Innungsmitgliedern rund ein Fünftel, einzig die Pferdefleischhauereien, die billiges Fleisch anboten und bald von der Bildfläche verschwinden sollten, hatten mit 27,6 Prozent einen höheren Frauenanteil. Auch der Frauenanteil an den Lehrlingen war 1950 bei dem nicht aussichtsreichen Beruf des Pferdefleischhauers mit 16 Prozent am größten, gefolgt von den Zuckerbäckern mit 12 Prozent. Bei Fleischhauern war der Frauenanteil unter den Lehrlingen rund 10 Prozent, bei Bäckern 9 Prozent.132 Doch schon einige Jahre später sank bei gestiegener Gesamtzahl der Lehrlinge der Frauenanteil an den Lehrlingen  : 1957 war der Frauenanteil unter den Bäckerlehrlingen im Gewerbe nur mehr 1,76 Prozent, bei Fleischern 4,84 Prozent, bei Zuckerbäckern 8,96 Prozent. Die Bäckerlehrlinge in der Industrie waren rein männlich, Fleischerlehrlinge in der Wiener Fleischindustrie waren bis auf eine Ausnahmefrau männlich.133 Es scheint so, als wären weibliche Lehrlinge vor allem in Familienbetrieben zum Zug gekommen, wahrscheinlich in erster Linie dort, wo ein männlicher Erbe fehlte oder während des Zweiten Weltkriegs gestorben war. 556

ernährungsverhalten und kochkultur in wien

Supermärkte, Greißlersterben, Bioläden Im Lebensmittelhandel fanden nach dem Zweiten Weltkrieg Veränderungen statt, die die Handelsstruktur nachhaltig prägten  : Selbstbedienung wurde in Wien 1950 eingeführt, die Verkaufsflächen im Handel vergrößerten sich eklatant, Supermärkte (definitionsgemäß ein Verkaufslokal mit einer Verkaufsfläche von mehr als 400 Quadratmetern) entstanden, und ab den 1970er-Jahren erfolgten die Konzentrationsprozesse auf einige wenige große Anbieter, die dazu führten, dass 1999 die Lebensmittelbranche in Österreich die höchste Konzentration im Einzelhandel aufwies.134 Als in Wien der erste Supermarkt für Lebensmittel mit einer Verkaufsfläche von ca. 700 Quadratmetern am 25. September 1964 in einer Konsumfiliale in der Eichenstraße eröffnet wurde, musste die Polizei die Menschenmassen, die an diesem Ereignis teilnehmen wollten, in Zaum halten.135 1976, in dem Jahr, als die Shopping City Süd in Vösendorf bei Wien eröffnet wurde, waren nur drei Prozent aller Lebensmittelläden in Österreich Supermärkte, sie erwirtschafteten aber bereits 14 Prozent des Lebensmittelumsatzes, was deutlich zum Ausdruck bringt, dass der Wochenendeinkauf nun zunehmend in den autofahrerfreundlichen Verbrauchermärkten getätigt wurde und der Kofferraum den traditionellen Einkaufskorb ersetzt hatte, denn mehr als ein Drittel der Wiener Haushalte besaß 1970 bereits einen Pkw. 1998 gab es in Österreich 1.881 Supermärkte, das waren 26 Prozent aller Lebensmittelgeschäfte.136 In ihnen werden Lebensmittel in ganz anderer Weise für die Käuferinnen und Käufer inszeniert  : Während früher die Verkäuferinnen die gewünschten Waren aus dem Lager holten, hat die Kundschaft nun permanenten Blickkontakt mit den Waren und genießt den Schein von Zeitersparnis, Wahlfreiheit und Fülle.137 In Wien eröffnete im Dezember 1950 das erste Lebensmittelgeschäft mit Selbstbedienung, das aber bei Weitem nicht den heute üblichen Verkaufsstrukturen entsprach, denn Brot, Fleisch, Wurst, Obst, Gemüse, Schokolade und Konditorwaren wurden damals nach wie vor durch Verkäuferinnen abgegeben. 1958 hatten bereits 30 Prozent der Wienerinnen und Wiener schon einmal in einem Selbstbedienungsgeschäft eingekauft, in Wien gab es 23 Geschäfte dieser Art, 17 davon waren Konsumgroßmärkte. 1974 erledigten 70 Prozent der Wienerinnen und Wiener ihre größeren Lebensmitteleinkäufe in Selbstbedienungsgeschäften, 45 Prozent der Befragten auch die alltäglichen Besorgungen.138 Das Konzept der Selbstbedienung setzte sich nicht in allen Bundesländern mit gleicher Schnelligkeit durch. In Wien, wo das Mietrecht kleinen und an sich unrentablen Läden noch ein längeres Überleben auf dem Lebensmittelmarkt sicherte, erfolgte die Kommerzialisierung des Lebensmittelhandels etwas später als im übrigen Österreich.139 Und die Greißler, die sich in Wien ab 1830 etabliert hatten und zu einem zentralen Element der Nahversorgung geworden waren, hielten diese 557

irene bandhauer-schöffmann Position bis Mitte der 1960er-Jahre inne und wurden in den 1970er-Jahren, als das Greißlersterben in den Medien breit diskutiert wurde, auch zu einer Metapher für eine Wiener Tradition und ein Lebensgefühl, das man bedroht sah.140 In den frühen 1980er-Jahren entstand durch die neu eröffneten Naturkost- oder Bioläden eine neue Art von politisch korrekter Lebensmittelversorgung in Wien  : In diesen Lebensmittelgeschäften, von denen es 1982 nur 17, aber ein Jahr später schon 26 in ganz Wien gab, war das Personal oft identisch mit den Ladeninhabern, das DuWort gegenüber den Kundinnen und Kunden war selbstverständlich, oft waren diese auch Anteilsinhaber bzw. Mitglieder des als Gesellschaft bzw. Verein organisierten Ladens. Der »Grünladen«, der biologische Waren ohne Gewinnspanne an die Mitglieder verkaufte, schrieb in einer repräsentativen Selbstdarstellung für das erste »Stadtbuch Wien«, das 1982 veröffentlicht wurde, u. a. folgendes  : »Der Grünladen läßt den Alternativen keine Ausrede mehr, junk food im Großmarkt einzukaufen, war ein Werbespruch für unseren Laden, der den Versuch einer neuen Wirtschaftsform darstellt. […] Der Grünladen versteht sich nicht als Laden für Alternative, sondern als Alternative zu einem System, das uns und die Welt kaputtmacht.«141 Fünfzehn Jahre später war das Etikett »biologisch« aus dem ursprünglichen politischen Kontext herausgelöst worden und »biologische« Lebensmittel waren in den Filialen der Supermarktketten erhältlich.

Kochkultur : Schneller und bequemer im Alltag, inszeniert am Wochenende In der Periode der Zweiten Republik fanden weitreichende Veränderungen in der Nahrungsmittelzubereitung statt. Das Einkaufen, die Vorratshaltung und das Kochen selbst veränderten sich durch technische Innovationen radikal  : durch das Auto wurden Großeinkäufe üblich, die Lebensmittel konnten nun in Kühl- oder Gefrierschränken problemlos gelagert werden, das Kochen war durch die Verbreitung von Elektroherden und in jüngster Zeit der Mikrowellentechnologie einfacher und schneller geworden. Vor dem Hintergrund der kümmerlichen Lebenserhaltung und der primitiven und allen Erfindungsgeist herausfordernden Haushaltsführung der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm sich diese Entwicklung hin zu einer entwickelten Konsumkultur und einer technisierten Kochkultur besonders dramatisch aus. In den Kochbüchern für die breite Masse der Hausfrauen, die bis zu den 1970er-Jahren vorrangig zum Sparen anleiteten, verschob sich der Diskurs hin zur Zeitersparnis, denn nicht mehr das preiswerte Kochen, sondern das schnelle Kochen stand im Vordergrund.142 Obwohl einige wichtige Erfindungen in der Lebensmittelverarbeitung schon im 19. Jahrhundert gemacht wurden, wie etwa das Konservieren von Lebensmitteln in 558

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Dosen, das um 1830 bis 1840 erfolgreich als maschineller Prozess entwickelt wurde, die Mechanisierung der Bäckerei oder die Entwicklung der Kondensmilch143, und obwohl es seit Mitte des 19. Jahrhundert food marketing gab, das qualitativ und quantitativ etwas anderes bedeutete als der Handel vor allem mit Kaffee, Zucker, Gewürzen, Tee, Salz und Alkoholika früherer Perioden, fanden die großen Veränderungen in der industriellen Nahrungsmittelverarbeitung ohne Zweifel erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt.144 Die wichtigsten Veränderungen, die ein schnelleres und bequemeres Zubereiten von Nahrungsmitteln erlaubten, waren die Verbreitung von Gefrierkost und die Entwicklung von Ready-to-eat-meals, die nur mehr aufgetaut werden mussten. Unablässig für die Verbreitung des Convenience Food ist ������������������������������������������������������������������������������ die Ausstattung des Haushalts mit Kühl- und Gefrierschrank und – als letzter Schritt in der Beschleunigung der Nahrungszubereitung – mit Mikrowellentechnologie.145 Die Mikrowellenherde waren seit Beginn der 1970er-Jahre in den usa erhältlich, seit den 1980er-Jahren gehören sie zur Standardausstattung jeder amerikanischen Küche.146 In Österreich wurden sie anlässlich der Mikrozensuserhebung von 1989 erstmals gezählt  : Damals hatten von allen österreichischen Haushalten 18 Prozent einen Mikrowellenherd zur Verfügung  ; bei der nächsten Zählung 1993 hatte sich die Zahl fast verdoppelt.147 In Wien hatten 1993 34 Prozent der Haushalte einen Mikrowellenherd, womit die Wiener Haushalte im Durchschnitt der österreichischen Haushalte lagen. Ab den 1950er-Jahren begannen sich die Kühlschränke in Österreichs Haushalten durchzusetzen, 1951 gab es in 21.200 österreichischen Haushalten einen Kühlschrank, 1957 besaßen lediglich 19,5 Prozent der Wiener Arbeiter- und Angestelltenhaushalte einen Kühlschrank.148 Erst seit dem Ende der 1970er-Jahren, kann davon gesprochen werden, dass fast alle Haushalte einen Kühlschrank, meist auch mit Gefrierfach, besitzen  : 98 Prozent der Haushalte in Wien hatten 1993 ein Kühlgerät (inklusive der Kühl-Gefrier-Kombinationsgeräte), 46 Prozent der Haushalte besaßen zusätzlich noch ein eigenes Gefriergerät und 31 Prozent einen Geschirrspüler. Bei der Ausstattung mit dem zusätzlichen Gefriergerät gibt es eine beträchtliche Stadt-Land-Differenz  : Im Burgenland hatten 1993 80 Prozent der Haushalte eine Kühltruhe.149 Haushalte in Landgemeinden und Kleinstädten gaben generell mehr für Koch-, Küchengeräte und Geschirr aus als jene in Groß- und Mittelstädten. In Groß- und Mittelstädten verwendeten die Haushalte 1,7 Prozent ihrer Gesamtverbrauchsausgaben darauf, auf dem Land 2,2 Prozent.150 Als Gegentendenz zum alltäglichen Mahl, das in den letzten Jahrzehnten für immer mehr Menschen von knappen Zeitbudgets beim Einkaufen, beim Kochen und beim Essen geprägt wurde, entwickelte sich in den 1980er-Jahren in den Mittelschichten eine Bewegung, die Kochen als Hobby stilisierte. Dazu passend erfuhr auch das Küchendesign eine radikale Veränderung, die zum neuen Trend des 559

irene bandhauer-schöffmann Hobby-Kochens als Kompensation zum alltäglichen Fast Food passte. Die Küche war nun nicht mehr der funktionale, mit Resopal beschichtete Arbeitsplatz für die Hausfrau – diese Konzept der Werkstatt für die Hausfrau war schon in den 1920erJahren formuliert worden151, war in den 1950er- und 1960er-Jahren der Wunschtraum vieler Frauen und erlebte seine Realisierung in Wiener Haushalten meistens erst in den 1970er-Jahren –, sondern wieder wie in alten Zeiten eine offene, große Küche, in der auch soziales Leben möglich war. Diese Öffnung des Küchenraumes hin zu den Familienmitgliedern und den Gästen wurde am besten in den Designs der 1990er-Jahre deutlich, die die Arbeitsflächen frei im Raum platzierten und somit die Küche zur Bühne machten, auf der soziales Leben rund ums Kochen inszeniert werden konnte.152 In der unmittelbaren Nachkriegszeit fehlten nicht nur die hochwertigen Nahrungsmittel, sondern auch die Möglichkeiten für eine attraktive Tischgestaltung, in den 1950er- und 1960er-Jahren boomten in den Frauenzeitschriften und Haushaltsratgebern wiederum die Anweisungen für rein dekorative Arbeiten, die auf psychische Reproduktion und die Inszenierung eines glücklichen Familienlebens abzielten. Das üppige, gute Leben musste nun in der Tischdekoration und in der »Ästhetisierung« der Speisen selbst zur Schau gestellt werden. Die beliebten Kalten Platten, die mit Eischeiben, Gurkenfächern, Sardellenringerln, Radieschenröschen etc. verziert wurden, sind ein gutes Beispiel für diese »artifizielle Küche«.153 Vorbereitet wurden die kunstvoll belegten Brote von der Hausfrau, die zur Erleichterung ihrer Doppelbelastung von einer »amerikanischen Küche« träumte, worunter alle Arten von technischen Hilfsmitteln zusammengefasst waren. Erst ab Beginn der 1980erJahre wurde auch in der breiten Öffentlichkeit und nicht nur in frauenbewegten Zirkeln die Mitarbeit des Mannes bei der alltäglichen Hausarbeit (und nicht nur als Hobbykoch an den Wochenenden) diskutiert. Mitte der 1960er-Jahre hatten die Fernsehköche Ernst Faseth, Helmuth Misak und Hans Hofer für die »sehr verehrten Damen« vorgekocht und nur ganz selten wurde ein »… und Sie, meine kochfreudigen [sic  !] Herren« eingeschoben.154 Die Erhöhung der Standards in der Haushaltsführung, der seit den 1950er-Jahren anhaltende Rückgang des Hauspersonals oder der billigen jugendlichen Hausgehilfin, die aus ländlichen Gebieten kam und in den Mittelschichtshaushalten half, brachten für Frauen neue Belastungen. Eine Zeitbudgeterhebung aus dem Jahr 1992 zeigte, dass erwerbstätige Ehefrauen oder Lebenspartnerinnen mit Kindern unter 15 Jahren im Wochenschnitt mit sechs Stunden pro Tag beinahe dreimal so lange mit Haushalts- und Gartenarbeit, handwerklichen Tätigkeiten, Kinder- und Altenbetreuung befasst waren als ihre männlichen (Ehe-)Partner.155 Männer waren nach wie vor Hobbyköche, die aber – obwohl sie die alltägliche Versorgungsleistung in den Familien den Frauen überließen – ganz wesentlich bestimmten, was auf den 560

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Tisch kam. Männer setzten innerhalb des Haushalts ihren Geschmack gegenüber kochenden Frauen stark durch.156

K affeehäuser, Gastwirtschaften und Beiseln In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Lokale in Naschmarktnähe wie Café Museum und Pöchhacker sowie die Kaffeehäuser im I. Bezirk die Orte für überlebenswichtige Kontakte, hier konnte ein Schleichhandelsgeschäft angebahnt werden, und hier konnten Kontakte zu ausländischen Soldaten geknüpft werden, die über all das verfügten, was die Österreicher und Österreicherinnen entbehrten. Immer wieder wurden in den einschlägigen Lokalen Razzien vorgenommen, und die festgenommenen Personen wurden sodann zu zwangsweisem Arbeitseinsatz bei den Schuttaktionen eingesetzt, also zu Aufräumungsarbeiten der Bombenschäden. Am 27. März 1946 nahm man etwa 325 Personen bei einer Razzia in der Friedrichsstraße und den Kaffeehäusern Museum und Pöchhacker fest, 65 Ausländer und 38 Inländer blieben wegen Schleichhandelsdelikten in Haft.157 Typisch für das NachkriegsWien waren auch die Lokale, die den alliierten Soldaten als Clublokale dienten (wie etwa das Café Palmhof für französische Soldaten), zu diesen hatten österreichische Männer keinen Zutritt, Frauen waren dafür umso lieber gesehen und konnten damit rechnen, auf ein Essen eingeladen zu werden, das in anderen Lokalen gar nicht erhältlich war. Auch der »Blauensteiner«, das spätere Stammbeisel des Heimito von Doderer, das eigentlich »Gasthof zur Stadt Paris« hieß, war bis 1948 ausschließlich den Amerikanern vorbehalten gewesen.158 Auch viele der traditionellen großen Hotels waren zunächst von den alliierten Truppen in Beschlag genommen worden, im Hotel Imperial residierten z. B. die Sowjets bis 1955, im Hotel Sacher zunächst die Sowjets, dann bis 1951 die Briten. Als das Sacher wieder als Hotel geführt werden konnte, verstrickten sich die Eigentümer in einen siebenjährigen Tortenkrieg mit der Konditorei Demel, wobei das Wiener Handelsgericht und der Oberste Gerichtshof zu entscheiden hatten, wer das Rezept für die original Sachertorte besaß.159 Die Speisekarte des »Restaurant zum Schillerpark«, das von Josef Smutny in der Elisabethstraße betrieben wurde, führte am 29. Mai 1946 zwei Speisen an, nämlich »Suppe, Eingemachte grüne Erbsen mit 1 Stk. Brot« um 0,80 S und »Suppe, Schinkenfleckerl mit grünen [sic  !] Salat« um 1,50 S, und sie wies die Gäste an, wie mit den Lebensmittelmarken zu verfahren war  : »Bei Bestellung sind die angeführten Marken gleich zu übergeben  !«160 Auswärts Essen gehen – und zwar in ein richtiges Lokal, nicht in eine der Notküchen oder Werksküchen, die aufgesucht werden mussten, weil zu Hause keine Kochgelegenheit vorhanden war – machte den Wienerinnen und Wienern 561

irene bandhauer-schöffmann wieder Spaß, als es ab Oktober 1949 offiziell nicht mehr verpflichtend war, Lebensmittelmarken in Gaststätten und Hotels abzugeben. Schon einige Zeit vorher war es zur Umgehung der Markenabgabepflicht üblich geworden, bei markenpflichtigen (Fleisch-) Speisen eine Ablösegebühr zu verlangen und die Gerichte ohne Marken zu verkaufen.161 Nach den Hungerjahren wurde die individuelle Auswahl- und Gestaltungsmöglichkeit des Mahls besonders wichtig. Die zur Zeit des Mangels zur Versorgung unabdingbaren Werksküchen verloren schnell an Attraktivität, als Mitte der 1950er-Jahre eine private Haushaltsführung und ein Besuch einer Gastwirtschaft wieder problemlos möglich waren  : während es 1950 noch 289 Werksküchen in Wiener Betrieben gegeben hatte, waren es 1952 insgesamt noch 155 und 1954 nur mehr 118.162 Die Ausgaben für Mahlzeiten außer Haus – gemessen an den gesamten Verbrauchs­ ausgaben eines Wiener Arbeitnehmerhaushalts – stiegen kontinuierlich an  : 1953 machten sie 7,2 Prozent aus, 1955 schon 8,4 Prozent, 1957 war ein weiterer Anstieg auf 10,4 Prozent erfolgt. 1960 lagen sie ebenfalls bei rund 10 Prozent, Mitte der 1960er-Jahre bei etwas über 12 Prozent.163 Die Statistiken über die ausgeübten Konzessionen für Gast- und Beherbergungsbetriebe geben Aufschlüsse darüber, wohin die Wienerinnen und Wiener essen und trinken gingen und wie sich das Angebot im kulinarischen Sektor in der Zweiten Republik veränderte.164 Das auffälligste Phänomen ist die enorme Zunahme der Buffets in Wien. Diese dem schnellen Imbiss verpflichteten Buffets hatten von 125 im Jahre 1949 einen Zuwachs auf 1272 im Jahre 1980 erlebt, also sich verelffacht. Und die meisten dieser Imbisslokale hatten nicht das Flair des »Schwarzen Kameel« oder des »Trześniewsky«, die berühmt für ihre Brötchen sind. Dieser rapide Zuwachs an Imbisslokalen setzte mit Beginn der 1960er-Jahre ein und entsprach ganz der allgemeinen Tendenz, das traditionelle Mittagessen durch einen Imbiss zu ersetzen. Die immer knapperen Zeitbudgets, die nicht nur beim Einkaufen und Kochen, sondern auch beim Essen selbst auf Zeitersparnis drängen, führten auch zu einem kontinuierlichen Rückgang der Gastwirtschaften in Wien. Diese hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch einen stetigen Zuwachs erlebt und 1953 mit 3.867 die höchste Zahl erreicht. Danach folgte eine kontinuierliche Abnahme auf 2.480 im Jahre 1980, also eine Verminderung um mehr als ein Drittel. Die reinen Speisewirtschaften, die zahlenmäßig gegenüber den Gastwirtschaften natürlich kaum ins Gewicht fielen, verminderten sich noch dramatischer  : von 116 im Jahre 1948 auf 38 im Jahre 1980, also minus 67 Prozent.165

562

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Grafik 2  : Gastwirtschaft und Kaffeehäuserund in Wien, 1948–1980166 Gastwirtschaften Kaffeehäuser

Wien, 1948-1980

4.500 4.000 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 -

in

1948 1951 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978

Schwarzer Verlauf: Gastwirtschaften; grauer Verlauf: Kaffeehäuser

Von 1947 bis zum Beginn der 1980er-Jahre sank die Zahl der traditionellen Kaffeehäuser in Wien drastisch ab. »Wer heute in dieser Stadt nach den Spuren der legendären Blütezeit der Wiener Kaffeehaus-Kultur sucht«, ist im Stadtbuch Wien 1982 zu lesen, »muß sich an den Anblick von Bankfilialen, Reisebüros, InstantfraßZentren und Drogeriemärkten gewöhnen.«167 In den 1950er-Jahren wurden etliche Ringstraßencafés in Autosalons umgewandelt, 1961 sperrte das Café Herrenhof, ein früher ruhmreiches Literaturcafé, das in der ns-Zeit wie viele Betriebe arisiert worden war, für immer zu. Das »Kaffee­ haussterben«, das für die Wiener Kultur- und Identitätsverlust signalisiert, wurde im Sommer 1997 wieder einmal besonders beklagt, als das traditionsreiche Café Haag in der Schottengasse von Pizza-Hut, einer us-amerikanischen Pizza-Kette übernommen wurde, allerdings nach einigen Jahren wieder in ein traditionelles Kaffeehaus zurückverwandelt wurde. In den Gesamtzahlen über die Kaffeehäuser ist das »Kaffeehaussterben« nicht ablesbar, weil hier ja nicht nur die Traditionsbetriebe, 563

irene bandhauer-schöffmann sondern alle Betriebe mit einer Kaffeehauskonzession gezählt wurden. Von 1948 bis 1980 nahm die Zahl der Kaffeehäuser in Wien von 1.219 auf 1.562 (um 28 Prozent) zu.168 Aufgrund einer gesetzlichen Änderung der Konzessionsbestimmungen verloren die Kaffeehäuser das alleinige Recht auf Kaffeeausschank und die neu entstandenen Espressobuffets standen für Modernität, Effizienz, Schnelligkeit und waren auf dem Markt gegen die Gemütlichkeit des traditionellen Kaffeehauses positioniert. Das erste Espresso in Wien war das Café de l’Europe am Graben, das 1950 eröffnet wurde.169 Hans Weigel schrieb über diese Differenz zwischen dem traditionellen Kaffeehaus und dem modernen Espresso Folgendes  : »Wenn Sie aber Kaffee trinken wollen, gehen Sie in ein Espresso. Dort ist er ein Nutzgetränk, eine Ware. Sie entrichten den Kaufpreis und erhalten das Verlangte in der gewünschten Art  : groß, klein, hell, dunkel, lang, kurz, mit, ohne. Sie kommen, trinken, gehen. Wie anders im Café  !«170 Wichtige Kaffeehäuser der Nachkriegszeit waren das Café Raimund, wo Hans Weigel und der Kreis der von ihm geförderten jungen Schriftsteller und Schriftstellerinnen residierten, und das Hawelka, das in den frühen 1950er-Jahren von Schriftstellern, Malern und Architekten entdeckt wurde. Das Café Prückel und das Café im Volksgarten-Pavillon von Oswald Haerdtl sind architektonisch noch heute Denkmäler dieser Wirtschaftswunderjahre. 1970 entstand mit dem Kleinen Café am Franziskanerplatz ein erstes alternatives Café, ein Vorläufer der in den 1980er-Jahren boomenden Wiener Lokalszene. Im Zeichen des beginnenden Städtetourismus kaufte die Stadt Wien 1979 das Café Schwarzenberg und förderte Renovierungsarbeiten bei Traditionsbetrieben. 1983 erstrahlte das Sperl in neuem Glanz, 1986 wurde das Café Central im Palais Ferstel neu eröffnet, das genauso wie das Griensteidl an einen großen Namen anknüpfte. 1988 wurde das Diglas wiedereröffnet, das man von einem Restaurant wieder in ein Kaffeehaus rückverwandelt hatte, im selben Jahr konnte auch das Café Goldegg nach aufwendigen Renovierungsarbeiten wiedereröffnen.171 In den 1950er-Jahren wollten die Konsumenten nicht nur echten Kaffee und kof­ feinhaltiges Coca-Cola trinken, das ab Dezember 1953 in Österreich allgemein verkauft wurde und bis in die 1990er-Jahre wie die anderen Softdrinks auch ungeheure Zuwachsraten verzeichnete172, sie wollten neben der Anregung auch die gesunde Kräftigung. Milchtrinken war offensichtlich ebenso wichtig für den Wiederaufbau. Ein echtes Phänomen der Mitt- und Endfünfzigerjahre waren die Milchtrinkhallen in Wien. Nachdem man in der unmittelbaren Nachkriegszeit Milch oft entbehren hatte müssen oder nur Magermilch erhielt, waren Milchdrinks eine Art Luxusdrink der noch nicht kalorienbewussten Wohlstandsbürger. Dieser Boom hielt allerdings nur kurz an  : Von den 22 Milchtrinkhallen und Milchbars, die es 1955 gab, waren zehn Jahre später nur sieben übrig geblieben.173 Seit Beginn der 1960er-Jahre fiel der Pro-Kopf-Milchverbrauch drastisch ab. 564

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Das klassische Wiener Kaffeehaus hat mit durchschnittlich 60 Jahren die längste Bestandsdauer aller Lokale, aber auch Gasthäuser und Beiseln mit einer durchschnittlichen Bestandsdauer von 25 Jahren sind traditionsreich. Der Trend zur »Erlebnisgastronomie« hält unvermindert an, und da Lokalen mit Ethno-Küche vom Publikum ein deutlich höherer Erlebniswert zugeschrieben wird, gab es hier in den letzten Jahrzehnten die höchsten Steigerungsraten innerhalb der Wiener Gastronomie. Von 1980 bis 1996 waren die Zuwachsraten bei japanischen und türkischen Lokalen am größten.174 Führend waren allerdings bei den Lokalen mit ausländischer Küche nach wie vor die Pizzerien, die einfachen chinesischen Lokale, die italienischen Spezialitätenrestaurants und griechische Lokale, vor türkischen und japanischen Lokalen. Von allen Speiselokalen in den Bezirken I. bis ix. entfielen 1996 60,5 Prozent auf Lokale mit einem Angebot an österreichischer Küche, 39,5 Prozent auf Lokale mit ausländischer Küche. Von den Lokalen mit ausländischer Küche stellten die italienischen (41 Prozent der Lokale mit ausländischer Küche) und die chinesischen (23 Prozent) die höchsten Marktanteile.175 Bei Restaurants kamen die Anbieter mit ausländischer Küche mit 55 Prozent auf einen noch höheren Prozentsatz als bei den einfachen Speiselokalen. Im Durchschnitt hatten die ausländischen Restaurants aber kleinere Lokale, das heißt sie lagen gemessen an Verabreichungsplätzen (VAP) bei 41,3 Prozent. Tabelle 5  : Restaurants mit ausländischer Küche in den Wiener Bezirken I bis IX im Jahr 1996176 Lokaltyp

Zahl

Verabreichungsplätze

Pizzeria

140

11.602

83

90

6.757

76

Einfaches chinesisches Restaurant

Durchschnitt der VAP

Italienisches Spezialitätenrestaurant

45

3.981

90

Griechisch

32

3.092

100

Türkisch

23

1.639

71

Japanisch

19

1.426

75

Gehobenes chines. Restaurant

16

1.344

84

Balkan u. Osteuropa

13

1.178

126

454

36.796

83

Summe aller ausländischen Restaurants

Von den Fast-Food-Lokalen (gerechnet ohne die Würstelstände, Prater und Märkte) wiesen 1996 33 Prozent keine Spezialisierung auf, Imbissstuben mit Sandwiches und belegten Broten sowie solche mit Pizza(schnitten) stellten mit je 15 Pro565

irene bandhauer-schöffmann zent den zweiten Platz, gefolgt von Schnitzelstuben mit zwölf Prozent. Fast-FoodLokale mit Hamburger-Angebot lagen gleichauf mit solchen, die japanische Speisen anboten.177 Der Schritt vom Mittagessen, bei dem Suppe, Hauptspeise und Nachspeise in der feststehenden Reihenfolge der Gänge verzehrt wurde, zum schnellen Essen der Schnitzel-Semmel oder eines Hamburgers könnte nicht größer sein. Alle Regeln des traditionellen Mahls sind aufgehoben  : Man isst, wenn man Lust und Zeit hat, mit den Fingern ohne Tischmanieren, in einer hierarchielosen Essenabfolge, oft allein.178 Allerdings dauerte es einige Zeit, bis sich die international schon gängige Burgerkultur auch in Wien durchsetzte. McDonald’s eröffnete in Wien die erste Filiale im Jahr 1977 auf dem Schwarzenbergplatz und hatte ziemliche Anlaufschwierigkeiten.179 Ein ganz anderes Esserlebnis boten und bieten die Wiener Beiseln, für die in den 1970er-Jahren unter dem Einfluss des övp-Politikers Jörg Mauthe180 eine Rettungsaktion gestartet wurde.181 Der Begriff Beisel erlebte seit den 1970er-Jahren eine Neudefinition, denn neben den alten Beiseln entstanden Beiseln für ein gehobenes Publikum, das im urigen Ambiente traditionelle Wiener Küche essen wollte. »Der wichtigste Unterschied zwischen dem Nobelbeisl und seinem übel beleumundeten Vorbild liegt wohl darin«, schreiben Hubert Christian Ehalt und Roland Girtler, »dass im alten Beisl der Gast sehr oft stehend, für wenig Geld ein Bier, einen Schnaps oder ein Vierterl (Wein) konsumiert, während er mit dem Wirt und den anderen Gästen plaudert und ›Schmäh führt‹. Häufig geht er nur wegen dieser Kontakte in sein Beisl. Hier hat er Ansprache und Gelegenheit, sich über seine Prob­ leme auszusprechen. Während das Speiseangebot in den alten Beisln sehr beschränkt ist – eine Glasvitrine am Schanktisch enthält mehr oder weniger frische faschierte Laibchen, hartgekochte Eier, Essiggurkerln und einige kaum verderbliche Süßigkeiten –, finden sich auf der Speisekarte der Nobelbeisln neben den üblichen Speisen, die man auch in Restaurants erhält, mehr oder weniger originelle ›Wiener hausgemachte Spezialitäten‹, wie Eiernockerln, Krautfleckerln, Powidltatschkerln usw.«182 In den richtigen Nobelbeiseln kommunizierten die Gäste nicht mehr mit den anderen Gästen, es bildete sich aber mit dem Szene-Beisel (wie etwa dem Lokal Oswald und Kalb in der Bäckerstraße) eine Art Mischtyp zwischen altem Beisel und Speiselokal. Die traditionellen Beiseln werden auch heute noch häufig als Familienbetriebe geführt, wo insbesondere die Wirtinnen ganz hohen Arbeitsanforderungen ausgesetzt sind. Frauen hatten durch die Hausarbeitsnähe der Tätigkeiten in Gaststube und Wirtshausküche einen leichten Einstieg in die Bereiche der niedrigen Gastronomie, ihnen waren aber die Spitzenpositionen (als Küchenchef, Oberkellner etc.) weitgehend versperrt. Frauen stellten 1964 im Wiener Hotel-, Gast- und Schankgewerbe 64,40 Prozent der Angestellten und Arbeiter, aber nur 17 Prozent der Lehrlinge.183 566

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Der Frauenanteil an den tätigen Betriebsinhabern, Mitinhabern und Pächtern war im Hotel-, Gast- und Schankgewerbe mit 46,82 Prozent wesentlich höher als im Durchschnitt der Wiener Betriebe, wo Frauen nur auf 35,48 Prozent kamen.184 Das Beherbergungs- und Gaststättenwesen war nicht nur in Wien traditionell ein typisches Feld für selbständige Frauenerwerbsarbeit. Tabelle 6  : Hotel-, Gast- und Schankgewerbe in Wien 1964185

Gruppenbezeichnung

Betriebe

tätige Betriebsinhaber, tätige Mitinhaber u. tätige Pächter zusammen

Beherbergung

weiblich

mithelfende Familien­ angehörige zusammen

Angestellte u. Arbeiter

Lehrlinge

weiblich

zusammen

weiblich

zusammen

weiblich

301

297

53,87%

145

67,59%

4.056

57,17%

428

19,16%

Schank- u. Speisewirtschaften

2.890

3.000

44,57%

2.010

72,19%

8.470

64,09%

571

15,76%

Kaffeehäuser, Eis­ salons, Espressi

1.048

1.107

51,04%

572

69,93%

2.853

75,60%

135

21,48%

insgesamt

4.239

4.404

46,82%

2.727

71,47%

15.379

64,40%

1.134

17,72%

Quelle: Ergebnisse der nichtlandwirtschaftlichen Betriebszählung 1964, Wien 1968 (= Beiträge zur österreichischen Statistik, Heft 172, hg. vom ÖSTZA, S. 134f.)

Tabelle 7  : Betriebsinhaber und mithelfende Familienmitglieder im Beherbergungsund Gaststättenwesen in Wien 1972186

Betriebe

tätige Betriebsinhaber, tätige Mitinhaber u. tätige Pächter zusammen

Hotels

178

178

Gasthöfe u. Pensionen

161

156

29

26

368

360

2.177 950

Schutzhütten u. Herbergen Beherbergungswesen ­insgesamt Speisewirtschaften Kaffeehäuser, Espressi, Eissalons Schankwirtschaften Gaststättenwesen insgesamt

weiblich 81

%

mithelfende Familienangehörige zusammen

weiblich

%

45,51%

40

30

75,00%

76

48,72%

66

41

62,12%

12

46,15%

4

1

25,00%

169

46,94%

110

72

65,45%

2.308

958

41,51%

963

670

69,57%

1.049

440

41,94%

334

241

72,16%

560

597

246

41,21%

213

142

66,67%

3.687

3.954

1.644

41,58%

1.510

1.053

69,74%

Quelle: Das Beherbergungs- und Gaststättenwesen 1972, Wien 1975 (= Beiträge zur österreichischen Statis­ tik, Heft 376), S. 88

567

irene bandhauer-schöffmann

Tab. 8  : Beherbergungs- und Gaststättenwesen in Wien, 1972187 Betriebe Anzahl Beherbergungs- u. Gaststättenwesen

% Verteilung

4.055

Beschäftigte Anzahl

davon unselbstständige

Unselbstständige in % aller Beschäftigten

24.150

18.216

75,43%

Beherbergungswesen

368

100,00%

5.950

5.480

92,10%

Hotels

178

48,37%

4.942

4.724

95,59%

Gasthöfe und Pensionen

161

43,75%

886

664

74,94%

29

  7,88%

122

92

75,41%

Schutzhütten u. Herbergen

Beherbergungswesen nach Beschäftigtengrößengruppen 0

63

17,12%

84

0

00,00%

1

48

13,04%

114

48

42,11%

2 bis 4

83

22,55%

358

238

66,48%

5 bis 9

66

17,93%

552

468

84,78%

10 bis 19

57

15,49%

860

785

91,28%

20 bis 49

29

  7,88%

989

957

96,76%

50 bis 99

13

  3,53%

906

900

99,34%

9

  2,45%

2.087

2.084

99,86%

368

100,00%

5.950

5.480

92,10%

Gaststättenwesen

3.687

100,00%

18.200

12.736

69,98%

Speisewirtschaften

100 und mehr

2.177

59,05%

12.030

8.759

72,81%

Kaffeehäuser, Espressi, Eissalons

950

25,77%

4.712

3.329

70,65%

Schankwirtschaften

560

15,19%

1.458

648

44,44%

Gaststättenwesen nach Beschäftigtengrößengruppen 0

1.186

32,17%

1.820

0

00,00%

1

822

22,29%

2.063

822

39,84%

2 bis 4

1.107

30,02%

4.573

2.924

63,94%

5 bis 9

307

  8,33%

2.405

1.965

81,70%

10 bis 19

144

  3,91%

2.130

1.932

90,70%

20 bis 49

102

  2,77%

3.159

3.064

96,99%

50 bis 99

15

  0,41%

1.065

1.050

98,59%

4

  0,11%

985

979

99,39%

3.687

100,00%

18.200

12.736

69,98%

100 und mehr

Die Erhebungen des Österreichischen Statistischen Zentralamtes zum Beherbergungs- und Gaststättenwesen aus dem Jahre 1972 erlauben eine detaillierte Analyse der im Betrieb tätigen Inhaber bzw. Inhaberinnen und der mithelfenden Familien­ 568

ernährungsverhalten und kochkultur in wien mitglieder. Am meisten Frauen, nämlich 958, finden sich hier als tätige Inhaberinnen, Mitinhaberinnen oder Pächterinnen in den Speisewirtschaften, hier gibt es auch die meisten weiblichen mithelfenden Familienangehörigen (670 Frauen). Frauen ­konnten hier offensichtlich die dem weiblichen Geschlechtscharakter zugeschriebene Kompetenz für die Versorgung der Familie auch professionell nützen, der Schritt vom Privatherd zur Leitung oder Mitarbeit in einer Speisewirtschaft war nicht sehr groß. Neben den Speisewirtschaften waren auch die Kaffeehäuser, Espressi und Eissalons ein Feld für selbstständige Arbeit von Frauen. In Wien waren 1972 in diesem Bereich 440 Frauen als Inhaberinnen, Mitinhaberinnen oder Pächterinnen und weitere 241 als mithelfende Familienmitglieder aktiv. 1972 hatten von allen Speisewirtschaften, Kaffeehäusern, Espressi, Eissalons und Schankwirtschaften 32,17 Prozent überhaupt keine unselbstständig Beschäftigten, weitere 22,29 Prozent hatten nur eine oder einen Beschäftigten. Das Gaststättenwesen in Wien war in hohem Ausmaß auf Basis kleinster und kleiner Familienbetriebe organisiert, wenn auch in Wien die durchschnittliche Betriebsgröße im Gaststättenwesen (Schank- und Speisewirtschaften, Kaffeehäuser, Eissalons, Espressi etc.) mit 4,8 Beschäftigen pro Betrieb im Jahre 1962 respektive 4,9 im Jahre 1972 höher lag als in Österreich insgesamt, wo das Gaststättenwesen es nur auf 3,2 bzw. 3,3 Beschäftigte pro Betrieb brachte.188

Anteil der Ausgaben für Ernährung in Wiener Haushalten Dass sich der Anteil der Ausgaben für Ernährung und Genussmittel an den gesamten Haushaltsausgaben in den letzten Jahrzehnten drastisch veränderte, lässt sich auf die Hebung des Lebensstandards zurückführen.189 Ganz allgemein gilt  : Je höher das Haushaltseinkommen, desto weniger davon wird für Ernährung ausgegeben, das zusätzlich verfügbare Geld fließt in andere Bereiche. Der prozentuelle Anteil der Haushaltsbudgets, die Haushalte für Wohnen, Verkehr und Telekommunikation aufwenden mussten, stieg dramatisch an. Detaillierte Angaben über den Stellenwert der Ausgaben für Ernährung und Genussmittel in den Haushaltsbudgets und die langfristigen Veränderungen der inneren Struktur der Haushaltsausgaben sind aus den regelmäßigen Erhebungen zum Verbrauch in Wiener Arbeitnehmerhaushalten zu gewinnen.190 Von 1946 bis 1985 haben sich die relativen Ausgaben für Nahrungsmittel an den gesamten Haushaltsausgaben fast halbiert.

569

irene bandhauer-schöffmann

Tabelle 9  : Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und Genussmittel in Wiener Arbeitnehmerhaushalten von 1946 bis 1985 in Prozent der gesamten Haushaltsausgaben191 Jahr

Nahrungsmittel in %

Genussmittel in %

1946

42,0

11,3

1950

44,4

6,3

1955

40,3

4,2

1960

34,1

4,3

1965

30,7

4,4

1970

27,6

4,3

1975

24,0

3,7

1980

25,3

4,4

1982

25,6

4,0

1983

24,1

4,2

1984

24,2

4,3

1985

23,2

3,9

Mit der Hebung der Haushaltseinkommen, der Veränderung der Lebensmittelpreise und mit gesamtgesellschaftlich veränderten Konsumgewohnheiten modifizierten sich auch die Ernährungsbudgets. Diese Differenzierung der Ernährungsausgaben in Wiener Arbeitnehmerhaushalten zeigte z. B. von Beginn der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre folgendes Bild. Von 1970 bis 1985 ging der Anteil für Gemüse, Obst und Marmelade an den durchschnittlichen Verbrauchsausgaben eines Wiener Arbeitnehmerhaushaltes von 13,6 Prozent auf 10,1 Prozent zurück. Einen auffälligen Rückgang gab es auch bei den prozentualen Ausgaben für Fleisch- und Fischwaren, nämlich von 26,6 Prozent auf 19,4 Prozent  ; die prozentualen Ausgaben für Fette und Margarine gingen von 3,0 Prozent auf 2,4 Prozent zurück, die für Butter, Milch, Milchprodukte und Eier von 15,0 Prozent auf 14,2 Prozent, die für alkoholische Getränke verminderten sich von 5,5 Prozent auf 4,0 Prozent. Ausgaben für Getreideerzeugnisse blieben im Wesentlichen gleich. Die Ausgaben für Zucker, Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade, nichtalkoholische Getränke und für Mahlzeiten außer Haus stiegen hingegen gemessen an den gesamten Ausgaben für Ernährung.192

570

ernährungsverhalten und kochkultur in wien

Ver änderungen im Ernährungsverhalten seit den 1960er-Jahren Die sogenannten Ernährungsbilanzen, die das Statistische Zentralamt alle zehn Jahre erstellt, erlauben auf tatsächliches Konsumverhalten keine Rückschlüsse, denn diese ProKopf-Statistiken ebnen alle sozialen, regionalen, beruflichen, geschlechts- und altersmäßigen Unterschiede zu einer makroökonomischen Durchschnittszahl ein.193 In diesen Angaben zum Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln und Getränken ist weiters auch der Konsum ausländischer Touristen in Österreich, nicht aber der von Österreichern im Ausland enthalten. Ablesbar ist allerdings der große Trend des Ernährungsverhaltens in Österreich, etwa das Ansteigen des Verbrauchs von teureren Nahrungsmitteln wie von Fleisch, Käse, pflanzlichen Ölen, Fruchtsäften.194 Die Erhebungen der Wiener Arbeiterkammer in Wiener Arbeitnehmerhaushalten gibt demgegenüber ein differenzierteres Bild, welche Mengen an Nahrungs- und Genussmitteln von einer erwachsenen Person, die männlich und über 20 Jahre alt war, verbraucht wurden. Tabelle 10  : Markanteste Veränderungen im Nahrungs- und Lebensmittelverbrauch in Arbeitnehmerhaushalten in Wien, 1960–1985195 Nahrungs- und Genussmittel

Veränderungen 1960–1985

Kartoffeln

–51,16%

Mehl

–44,02%

Butter

–43,40%

Vollmilch

–40,29%

Schwarzbrot

–40,00%

Weißbrot

–37,72%

Zucker u. -waren

–34,28%

Salz

–31,82%

Obst, frisch

–28,27%

Fleisch, frisch u. konserviert

18,24%

Bohnen- u. Ersatzkaffee

28,57%

Käse, Topfen

31,03%

Bäckerei

50,00%

Kakao, Schokolade

54,05%

Wein

83,78%

Bier

96,13%

Tee

400,00%

Nichtalkoholische Getränke

477,78%

571

irene bandhauer-schöffmann Die großen Rückgänge waren bei Kartoffeln, Butter, Vollmilch, Mehl, Weiß- und Schwarzbrot sowie bei Zucker und Zuckerwaren und beim Salzverbrauch zu verzeichnen. Die größten Steigerungsraten betrafen nichtalkoholische Getränke, Bier, Wein, Kakao und Schokolade sowie Tee und Kaffee. Während Milch- und Butterverbrauch zurückgingen, stieg der Verbrauch an Käse und Topfen. Eine ähnliche Verschiebung hin zu verarbeiteten Produkten mit höherer Geschmacksintensität fand auch bei Zucker und Schokolade statt, denn die Konsumenten aßen weniger reine Zucker- und Zuckerwaren, gleichzeitig erhöhte sich aber der Verbrauch von Schokolade.

Ernährungsverhalten der Wiener Bevölkerung im gesamtösterreichischen Vergleich Lassen sich aus den diversen Konsumerhebungen des Statistischen Zentralamtes Unterschiede im Ernährungsverhalten der Wiener Bevölkerung zum gesamtösterreichischen ablesen  ? Selbstverständlich differierte Konsum und Ernährungsverhalten der ländlichen Bevölkerung von dem der städtischen. Die Konsumerhebung von 1954/55, die den Verbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs untersuchte, brachte zum Vorschein, dass es zum Teil auch massive Unterschiede zwischen der städtischen Bevölkerung Österreichs (berechnet an 39 österreichischen Städten ohne Wien) und Wien gab. Auch wenn bei diesen Vergleichen im Konsumverhalten zu beachten ist, dass Wien die einzige Millionenstadt Österreichs ist und daher Abweichungen auch auf die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen einer Großstadt und den anderen österreichischen Städten zurückzuführen wären, so lässt sich doch auf Wien-Spezifika im Ernährungsverhalten rückschließen. Wie nicht anders zu erwarten, bestätigten diese Konsumerhebungen die Vorliebe der Wiener und Wienerinnen für das Wiener Schnitzel (aus Schwein) und den Heurigen. Bei einer Reihe von Nahrungsmitteln spielten Preis- und Qualitätsunterschiede zwischen Wien und anderen betrachteten österreichischen Städten eine große Rolle. Wiener Haushaltungen konsumierten 1954/55 etwa um 25 Prozent mehr Wurstwaren, gaben aber nur um 14 Prozent mehr dafür aus als die städtischen Haushaltungen in Österreich ohne Wien, d. h. die Wiener und Wienerinnen konsumierten offenbar billiger Wurstwaren. Beim Schweinefleischverbrauch lagen die Wiener Haushaltungen um 50 Prozent vor den Haushaltungen außerhalb Wiens, die Ausgaben, die die Wiener dafür zu tätigen hatten, lagen aber um 65 Prozent über denen außerhalb Wiens. Das lässt den Schluss zu, dass die Wiener Haushaltungen entweder die gleiche Qualität teurer bezahlen oder bessere Qualitäten kaufen. Umgekehrt verhielt es sich bei Menge und Wert des verbrauchten Weins, hier darf angenommen werden, 572

ernährungsverhalten und kochkultur in wien

Tabelle 11  : Mehr- und Minderverbrauch pro Kopf in Wien gegenüber österreichischen Städten ohne Wien, 1954/55 (in Prozent)196 Nahrungsmittel

Mehr- bzw. Minderverbrauch Menge

Wert

Rindfleisch

–13

–8

Schweinefleisch

+50

+65

Kalbfleisch

–30

–25

Wurstwaren

+25

+14

Gemüse

+16

+18

Kartoffel

–13

–12

Südfrüchte

+44

+36

–0

+29

Bohnenkaffee

+33

+34

Wein

+67

+49

Anderes Obst

Tabelle 12  : Nahrungsmittelverbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs 1954/55 (Mengenangaben pro Kopf und Monat in kg)197

Nahrungsmittelgruppen

Nahrungsmittelverbrauch der städtischen Bevölkerung pro Kopf und Monat in kg Österreich

Wien

Österreich ohne Wien

Brot, Gebäck, Brösel

6,44

6,58

6,35

Fleisch- u. Wurstwaren (inkl. Konserven)

3,72

4,18

3,43

Davon  : Rindfleisch

0,58

0,52

0,60

Schweinefleisch

0,73

0,93

0,62

Kalbfleisch

0,33

0,26

0,37

Wurstwaren

0,83

0,95

0,76

Fett (außer Butter)

1,40

1,50

1,32

11,77

11,16

12,11

Milch, Rahm, Obers (in Liter) Butter, Käse, Topfen, Trockenmilch

0,81

0,78

0,83

13,92

14,00

13,88

Kartoffel

6,01

5,47

6,31

Gemüse, Hülsenfrüchte

3,33

3,65

3,16

Südfrüchte u. anderes Frischobst

3,90

4,07

3,81

Konserviertes Gemüse und Obst

0,17

0,18

0,17

Zucker

2,10

2,02

2,14

Eier (in Stück)

573

irene bandhauer-schöffmann

Tabelle 13  : Nahrungsmittelverbrauch der städtischen und bäuerlichen Bevölkerung Österreichs 1964 (Mengenangaben pro Kopf und Monat in kg)198 Nahrungsmittelverbrauch der Bevölkerung nach regionaler ­Gliederung pro Kopf und Monat in kg Nahrungsmittelgruppen

Brot, Gebäck, Brösel

Österr. insg.

Wien

Österr. ohne Wien

Österr. 1 (1)

Österr. 2 (2)

5,41

5,39

5,41

5,31

5,58

Fleisch- u. Wurstwaren (inkl. Konserven)

4,59

4,94

4,36

4,29

4,44

Davon  : Rindfleisch

0,57

0,54

0,59

0,62

0,54

Schweinefleisch

0,97

1,05

0,91

0,83

1,03

Kalbfleisch

0,17

0,15

0,20

0,22

0,16

Wurstwaren

1,17

1,24

1,13

1,13

1,12

Fett (außer Butter)

1,46

1,49

1,42

1,41

1,43

10,25

9,64

10,68

10,45

11,05

Milch, Rahm, Obers (in Liter) Butter, Käse, Topfen Eier (in Stück) Gemüse frisch, Hülsenfrüchte

0,87

0,89

0,86

0,92

0,78

17,50

17,50

17,49

17,69

17,19

2,92

3,16

2,75

2,99

2,37

Gemüse konserviert

0,42

0,43

0,41

0,41

0,41

Kartoffel

4,25

3,94

4,46

4,45

4,48

Obst frisch, einschließl. Südfrüchte

5,43

5,70

5,24

5,31

5,14

Obst, konserviert

0,19

0,18

0,19

0,19

0,18

Zucker

2,05

1,95

2,12

2,09

2,16

(1) Österreich 1  : umfasst alle Städte (aber ohne Wien) und Gemeinden mit 10.000 und mehr Einwohnern, ausgenommen Perchtoldsdorf und Leonding (2) Österreich 2  : umfasst Gemeinden von 2.000 bis 10.000 Einwohnern, soweit die landwirtschaftliche Zugehörigkeit ihrer Bevölkerung zur Land- und Forstwirtschaft unter 20% liegt. (Erklärungen zur regionalen Abgrenzung in  : Konsumerhebung 1964, Übersicht 1.)

dass die Wiener Haushaltungen mehr für weniger Geld erhielten. Obenstehende Tabellen listen die auffälligsten Unterschiede im Verbrauch sowohl wert- als auch mengenmäßig auf. Die Haushaltungen Wiens verbrauchten – laut der Konsumerhebung 1954/55, bei der 7019 Haushaltungen in österreichischen Städten, davon 2817 in Wien, betrachtet wurden – sowohl pro Haushaltung als auch pro Kopf an Konditoreiwaren und Kuchen, an Schweinefleisch, frischen Fischen, Speckfilz, Südfrüchten, Bohnenkaffee, Schokoladewaren und Wein mengenmäßig mehr und gaben auch wertmäßig mehr aus als die Haushaltungen in den übrigen 39 Städten Österreichs. Die Wiener 574

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Haushaltungen hatten auch höhere Ausgaben für Mahlzeiten außer Haus. Hingegen waren die Verbrauchsmengen pro Haushaltung und pro Kopf in Wien gegenüber den 39 Städten u. a. bei Weizenmehl, Rind- und Kalbfleisch, Speck, Schmalz, Kunstspeisefett und Speiseöl, Vollmilch, Kartoffeln, Zucker, Ersatzkaffee und Bier geringer als in Österreich ohne Wien.199 Dass die Wiener mehr Fleisch- und Wurstwaren verbrauchten als die anderen Österreicher, wurde auch durch die Konsumerhebung 1964 wieder bestätigt, allerdings hatte sich der Abstand verringert. Während die Wiener Bevölkerung 1954 im Monat um 0,75 kg mehr Fleisch- und Wurstwaren verbrauchte, waren es 1964 nur mehr 0,58 kg mehr als die nicht in Wien lebenden Österreicher. Ein Vergleich des mengenmäßigen Pro-Kopf-Verbrauches von 1964 mit der Konsumerhebung 1954/55 zeigt, dass im Durchschnitt bei Brot, Milch, Kartoffeln, Gemüse sowie Zucker eine sinkende Tendenz festzustellen war, während sich die Verbrauchsmengen für Fleisch und Wurstwaren um 0,87 kg und für Eier um 3,58 Stück pro Kopf und Monat erhöhten. Die mengenmäßige Pro-Kopf-Quote für Fleisch und Wurstwaren lag in Wien nach wie vor über dem österreichischen Durchschnittswert  ; ebenso der Fettverbrauch.200 Eine auffällige Veränderung war auch der angestiegene Aufwand für Mahlzeiten außer Haus. Von den gesamten Ernährungsausgaben waren 1954/55 in Österreich 6,4 Prozent auf Mahlzeiten außer Haus entfallen, in Wien 7,7 Prozent  ; 1964 waren diese Prozentsätze für Österreich auf 9,55 Prozent und für Wien auf 10,29 Prozent angestiegen.201

Schicht- und geschlechtsspezifische Differenzierung des Ernährungsverhaltens Da die Ernährung ein physiologisches Bedürfnis befriedigt, kann ein bestimmtes Mindestmaß an Ausgaben nicht unterschritten werden  ; d. h. dass in armen Haushalten die Ausgaben für Ernährung eine größere Rolle spielen und einen höheren prozentuellen Anteil am gesamten Budget einnehmen. Je ärmer ein Haushalt ist, desto mehr muss er von den gesamten Verbrauchsausgaben für Ernährung verwenden. 1964 etwa gab ein Haushalt in Wien, der unter 500 öS im Monat zur Verfügung hatte, 66,25 Prozent für Ernährung aus, ein Haushalt, der 2.500 bis 3.000 öS zur Verfügung hatte, gab nur mehr 30,99 Prozent für Ernährung aus, und die reichste Haushaltsgruppe mit über 3.000 öS pro Monat gab überhaupt nur mehr 19,47 Prozent für Ernährung aus.202 Es lässt sich deutlich zwischen Nahrungsmitteln, deren Verbrauch relativ starr war, und solchen, deren Verbrauch relativ elastisch war, d. h. der weitgehend mit dem 575

irene bandhauer-schöffmann verfügbaren Einkommen variierte, unterscheiden. Zu den elastischen Nahrungsmitteln gehörten prinzipiell die teureren Nahrungsmittel und Genussmittel, wie die teureren Fleischsorten, Käse, Butter, Obst, Bohnenkaffee, Wein und Bier. Wer mehr Geld zur Verfügung hatte, aß mengenmäßig mehr Fleisch, Käse etc. und trank mehr Bohnenkaffee und Wein  : Die reichsten Konsumentinnen und Konsumenten verbrauchten pro Kopf und Monat 1954/55 etwa 4,72 kg Fleisch, die ärmsten 2,91 kg  ; auffallend waren auch die Unterschiede bei Käse von 28 dkg zu 14 dkg, bei Butter von 73 dkg zu 34 dkg, bei Obst von 6,07 kg zu 2,83 kg  ; wohingegen reiche wie arme Verbraucherinnen und Verbraucher rund 6 kg Brot pro Kopf und Monat verzehrten. Und natürlich kauften besser verdienende Personen die bessere Qualität.203 Aus den Konsumerhebungen 1954/55 lassen sich auch Differenzierungen zwischen Berufsgruppen ablesen. Die Arbeiter hatten pro Kopf den höchsten Brotverbrauch, wobei sie vor allem Schwarzbrot konsumierten. Von den 6 ¾ kg Brot, die pro Kopf und Monat verzehrt wurden, waren über 5 kg Schwarzbrot. Am meisten Weißbrot aßen die Selbstständigen, die auch bei Fleisch und Fleischwaren, Frischobst sowie beim Eier- und Butterkonsum, also bei den teuren Lebensmitteln, voran­ lagen. Am meisten Gemüse, Kartoffeln und Milch konsumierten Personen, die bereits in Pension waren. Die Angestellten aßen am wenigsten Fleisch von allen sozialen Gruppen. Angestellte und Beamte vor allem in Wien waren führend bei Mahlzeiten außer Haus  ; gemessen an den gesamten Ausgaben für Nahrungsmittel gaben die Wiener Angestellten und Beamten prozentuell am meisten dafür aus und lagen mit 9,7 Prozent ihrer Ernährungsausgaben noch vor den Selbstständigen, die 1954/55 in Wien 8,8 Prozent dafür aufwendeten. Zum Vergleich  : Wiener Arbeiterinnen und Arbeiter gaben 5,5 Prozent ihrer gesamten Ernährungsausgaben für Mahlzeiten außer Haus aus.204 Die Selbstständigen hatten in der Regel nicht nur den mengenmäßig höchsten Nahrungsmittelverbrauch, sondern wendeten hierfür auch die höchsten Beträge auf  ; Angehörige der Arbeiterschaft gaben eine weit geringere Gesamtsumme für Nahrungsmittel aus, ohne dass ihr mengenmäßiger Konsum aber hinter den anderer Gruppen wesentlich zurückblieb, da sie sich eben mit billigeren Nahrungsmitteln (Speck, Pferdefleisch, Schmalz, Margarine) versorgten.205 Bei Betrachtung der Anteile, die die einzelnen Nahrungsmittel bzw. -gruppen an den Gesamtausgaben für Ernährung in den einzelnen sozialen Gruppen hatten, zeigt sich, »dass alle sozialen Gruppen in der Aufwandsverteilung auf die einzelnen Nahrungs- und Genussmittel eine überraschende Gleichförmigkeit aufweisen. Lediglich bei Brot, Bäckerei, Mehl, Teigwaren, Fleisch- und Wurstwaren, Fett, Obst, Zucker, Getränken und Mahlzeiten außer Haus finden Abweichungen von mehr als 1% statt.«206 Das heißt, es gab über alle Schichten hinweg ein wienerisches Ernährungsverhalten. Die regionale Zugehörigkeit prägte das Ernährungsverhalten der Menschen weit mehr als die Schichtzugehörigkeit. Auch in der Konsumerhebung 576

ernährungsverhalten und kochkultur in wien 1964 wurde wiederum ersichtlich, »dass der Aufwand für die meisten Nahrungsmittel sehr geringe Abweichungen zwischen den einzelnen sozialen Schichten aufweist«.207 Nur für Fleisch bzw. Wurstwaren, für Fett, Käse, Topfen sowie für Zucker, alkoholische Getränke und Mahlzeiten außer Haus waren 1964 für die untersuchten österreichischen Haushalte Abweichungen von 1,1 Prozent bis 4,6 Prozent feststellbar. Die größte Differenz lag erwartungsgemäß bei den Mahlzeiten außer Haus.208 Dass die Geschlechtszugehörigkeit das Ernährungsverhalten stark prägte, ist für alle Zeitperioden und alle Kulturen nachgewiesen. Bei den detaillierten Konsum­ erhebungen von 1954/55 und 1964, aber auch bei den Erhebungen der Wiener Arbeiterkammer wurde nach einem geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Konsumverhalten gar nicht gefragt  ; bei den Daten der Arbeiterkammer etwa wurde der Konsum einer Frau nur als statistische Größe, als 0,86 Prozent des Konsums eines erwachsenes Mannes, festgelegt. Für die ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik fehlen daher Daten zum geschlechtsspezifischen Konsumverhalten. Die Konsumerhebung von 1993/94 zeigt, dass alleinlebende erwerbstätige Frauen von ihren Budgets etwas mehr als alleinlebende erwerbstätige Männer für Ernährung ausgeben mussten  : 12,6 Prozent der Ausgaben bei Frauen entfielen auf Ernährung, bei männlichen Singles waren es 12,3 Prozent. Als Erklärung dafür ist einerseits der gender gap im Einkommen von Frauen und Männern anzuführen, andererseits ein geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten. Auch die lang tradierten Klischees über geschlechtsspezifisches Ernährungsverhalten stimmten nach wie vor, wie die Konsumerhebung 1993/94 beweist  : Frauen gaben 1,4 Prozent der Ausgaben für Süßwaren aus, Männer nur 0,8 Prozent. Männliche Singles aßen wesentlich öfter außer Haus am Arbeitsplatz, sie gaben dafür 2,6 Prozent ihrer monatlichen Haushaltsausgaben aus, weibliche Singles nur 1,5 Prozent. Extrem different waren – laut Konsumerhebung von 1993/94 – auch die Ausgaben beim Verzehr außer Haus in der Freizeit  : dafür gaben Männer 7,1 Prozent und Frauen nur 4,5 Prozent aus.209 Für die Pensionistenhaushalte, wo sich das geschlechtsspezifische Gefälle zwischen den verfügbaren Pensionen (Männer haben hier um 35 Prozent höhere Gesamtverbrauchsausgaben als Frauen) extrem auswirkt, lässt sich feststellen, dass Männer absolut mehr für Ernährung ausgeben als Frauen, dass aufgrund der höheren Männerpensionen die prozentuellen Anteile der Ernährungsausgaben bei Männern niedriger sind als die der Frauen.210

Erweiterung des Geschmackshorizonts Die Angebote an Nahrungsmitteln, Herstellungsmethoden und Nahrungsgewohnheiten glichen sich in den letzten zwei Jahrhunderten in den Ländern, die ökonomisch immer weiter zu einer verflochtenen Weltwirtschaft zusammenwuchsen, zu577

irene bandhauer-schöffmann nehmend an und entkoppelten sich von den Bindungen der lokalen und regionalen Nahrungsmittelproduktion. Dieser Prozess der sogenannten »delocalization«211 führte zu einer Erhöhung der Vielfalt im Angebot an Nahrungsmitteln, Zubereitungs- und Herstellungsmethoden sowie im Essverhalten, von der in der Zeit einer entwickelten Konsumkultur nach dem Zweiten Weltkrieg auch die breiten Massen profitieren. Zur Beantwortung der Frage, welche neuen Nahrungsmittel und damit verbunden neuen Essgewohnheiten die Wienerinnen und Wiener in der Zeitperiode der Zweiten Republik kennenlernten, sind drei Themenkreise zu differenzieren  : Lebensmittelrationen und Hilfslieferungen, die aus Nahrungsmitteln bestanden, die der Wiener Bevölkerung fremd waren  ; zweitens die Konfrontation mit neuen Küchen durch Reisen und drittens durch die Konfrontation mit den Ernährungsgewohnheiten der in Wien lebenden Migrantinnen und Migranten bzw. der Personen mit Migrationshintergrund. Nachdem die nationalsozialistischen Programme zur Umerziehung des wiene­ rischen Geschmacks wenig gefruchtet hatten, und sich aus der Ablehnung des deutschen Eintopfs und der Nordseefische geradezu eine Art Patriotismus im Ess­verhalten nachweisen lässt,212 wurden die Wienerinnen und Wiener nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes in der Hungerperiode der unmittelbaren Nachkriegszeit wiederum durch staatliche Intervention mit neuen Produkten vertraut gemacht. Mit den diversen Hilfslieferungen der Alliierten kamen Lebensmittel in die Stadt, die den Menschen so vollkommen fremd waren, dass die Hausfrauen durch Berichte in Tageszeitungen und Frauenzeitschriften informiert wurden, wie z. B. diese nun auf Lebensmittelkarten erhältlichen getrockneten Süßkartoffeln zuzubereiten seien. So manche Wiener Familie kam durch ein Carepaket zum ersten Mal in den Genuss von Ananas oder Corned Beef, eine Erinnerung, die sich tief einprägte. Im Unterschied zu den Hilfslieferungen oder den aus dem Ausland importierten Lebensmitteln, die auf Lebensmittelkarten zum Verkauf kamen und die von den Hausfrauen durch nichts anderes ersetzt werden konnten, weil es in der Mangelzeit eben tatsächlich keine Alternative gab, war die nächste Welle, mit der neue Nahrungsmittel und Gerichte nach Wien kamen, eine, die nicht vom Zwang der Verhältnisse bestimmt war, sondern die von der subjektiven Bereitschaft der Konsumenten, sich auf Neues einzulassen, abhing. Der Öffnung des Horizonts durch Fernreisen, tatsächliche oder bloß durch Lesen miterlebte, entsprach auch eine Öffnung der Münder, die nun nach den Jahren der Abschließung als Teil des ns-Staates und den Jahren des Hungers begierig auf Neues waren. Hand in Hand mit dieser Bereitschaft der Konsumenten, sich auf neue Geschmacksreize einzulassen, und mit ihrem ökonomischen Potenzial, nach der Hungerkrise der Nachkriegsjahre mehr als das unbedingt Notwendige zu kaufen, gingen die Bemühungen der internationalen 578

ernährungsverhalten und kochkultur in wien Lebensmittel- und Getränkekonzerne, sich den österreichischen Markt für ihre Produkte zu erschließen. Nach der ersten Welle, in der das Fremde in Form von Hilfsgütern nach Wien kam, wobei es nicht als Produkt selbst, sondern nur als Kalorienträger nachgefragt wurde, erfolgte diese zweite Welle, die von der (durch Werbung der Lebensmittelund Getränkekonzerne stimulierten) Nachfrage der Konsumenten ausgelöst war, die vielleicht diese Produkte schon durch Kontakt mit Fremden (zu denken ist hier etwa an us-amerikanische Soldaten) oder auf Reisen im Ausland kennengelernt hatten. Diese zweite Welle wird wohl als bis heute andauernde zu charakterisieren sein, denn von den ersten Reisen an die oberitalienischen Strände in den 1950er-Jahren bis zu den Reisen nach Spanien und den heute populären Fernreisen ist allen Reisen gemeinsam, dass sich eine Art touristisches Essverhalten auch im Inland entwickelt. Wer einmal den Geschmackshorizont erweitert hat, wird wahrscheinlich auch im Inland – zur Erinnerung an fremde Länder, die bereist wurden – Lokale aufsuchen, die diese Genüsse bieten können, oder eventuell, und davon geben die Rezepte in diversen Frauenzeitschriften Zeugnis, sogar versuchen, diese Gerichte selbst nachzukochen. 1972 konnten sich 44 Prozent der Wiener Haushalte einen Urlaub leisten, und ein Drittel dieser Personen reiste bereits ins Ausland.213 Zu Beginn der 1950er-Jahre, als die Rezepte in den Frauenzeitschriften zunehmend Beinamen wie »Italienisch«, »Französisch« bzw. »Mailänder Art« trugen, hatten die dazugehörenden Kochanweisun­gen noch wenig mit der authentischen Küche der bezeichneten Regionen oder Länder zu tun, diese Bezeichnungen waren vielmehr Zeichen dafür, dass in die Rhetorik des Essens Internationalität eingedrungen war.214 In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre war »Italienisch« in den Rezeptvorschlägen auch der weniger modernen Frauenzeitschriften weit verbreitet, von den anderen Küchen war dagegen nur vereinzelt die Rede. Die Einbeziehung der Küchen der Welt und vor allem auch der Amerikas begann erst Mitte bis Ende der 50erJahre. Die semiotische Verknüpfung der Rezepte mit Ländernamen ging also nicht Hand in Hand mit der politischen Relevanz der jeweiligen Länder, denn »Amerikanisch« als Attribut auf den Rezeptseiten der Frauenzeitschriften gelangte erst in den 1960er-Jahren zu größerer Bedeutung. In der Gastronomie manifestierte sich diese Amerikanisierung in Hawaii-Toast, Hawaii-Steak und dem Hawaii-Schnitzel. Indem man dem traditionellen Schnitzel die Ananaskrone aufsetzte, wurde der amerikanische Mythos kongenial an die österreichische Kochtradition angebunden – eine ideale Verknüpfung von Tradition und Modernität.215 Die Amerikanisierung – sei es der Traum von der mit Küchengeräten bestückten »amerikanischen Küche« oder die Übernahme us-amerikanischer Ess- und Trinksitten – hatte auch eine Ventilfunktion und erlaubte einen vorübergehenden Ausstieg aus den Restriktionen der österreichischen Traditionen.216 579

irene bandhauer-schöffmann Die dritte Ursache, durch die in der Periode der Zweiten Republik »Neues« in die Wiener Küche kam, waren (Arbeits-)Migrantinnen und Migranten, die ab den 1960er-Jahren vor allem aus südeuropäischen Ländern nach Wien kamen. Selbstverständlich veränderte nicht nur der Tourismus der Wiener und Wienerinnen, sondern auch die Zuwanderung nach Wien den Nahrungsmittelmarkt und das Essverhalten. Während die Vertriebenen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nach Österreich kamen, und die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn wenig Veränderungen brachten, weil diese Vertriebenen aus Gebieten stammten, in denen die Wiener Küche als Küche der Oberschicht genauso beheimatet war wie in Wien, brachte die Migration aus dem früheren Jugoslawien und der Türkei starke Veränderungen, sodass von manchen schon befürchtet wurde, der Kebab hätte die wienerische Wurstsemmel abgelöst. Die Präsenz von Nahrungsmitteln, die typisch für die türkische Küche sind, ist auf den Wiener Märkten, vor allem dem Brunnenmarkt, unübersehbar, und diese Produkte werden beileibe nicht nur für den Markt der Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation erzeugt. Einerseits behielten die Personen mit Migrationshintergrund ihre Nahrungsgewohnheiten in der neuen Heimat bei, sodass in der Folge bald ihre gewohnten Lebensmittel erhältlich waren, Restaurants entstanden und Bäckereien für Fladenbrot etc. von Landsmännern gegründet wurden, um den Bedarf nach Lebensmitteln aus der alten Heimat zu decken, andererseits wurden diese Lebensmittel, da sie über den Markt angeboten wurden, damit aber auch den Wienerinnen und Wienern zugänglich, die dadurch nun mit neuen Lebensmitteln konfrontiert wurden.217 In diesem Klima der vielfältigen Angebote entstanden multikulturelle Konsumentinnen und Konsumenten, die erlebnisorientiert essen und deren Geschmack à la longue nicht mehr an eine regionale Küche gebunden ist, wobei betont werden muss, wie international die Einflüsse waren, die die Wiener Küche hervorbrachten. Der Begriff Amerikanisierung für diese Entwicklung ist insofern zutreffend, als das Multikulturelle selbst, also nicht mehr der Inhalt (Nahrungsmittel, Rezepte, Essverhalten etc.), sondern nur mehr die Möglichkeit zur Auswahl als amerikanische Küche definiert wird.218 Ob die Globalisierung des Geschmacks, womit hier nicht nur gemeint ist, dass Fast Food wie Hamburgers, Pizzaschnitten etc. weltweit erhältlich ist, sondern auch, dass die Konsumenten heute in jeder Metropole gehobene Gerichte jeder Küche ordern können, tatsächlich die Schelte der Kulturpessimisten verdient, ist stark zu bezweifeln. Denn diese Globalisierung ging und geht Hand in Hand mit der Re-Aktivierung der lokalen und regionalen Küchen, die wie die typischen Wiener Beiselgerichte in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebten. »Da die Zubereitung der traditionellen Wiener Speisen aufwendig war, so verlor sich die Gewohnheit, Speisen wie Gulasch, Beuschel und Tafelspitz zu Hause zu kochen. In einer allseits 580

ernährungsverhalten und kochkultur in wien rationalisierten Gesellschaft konnten solche traditionellen Speisen nur noch im Wirtshaus überdauern, warnte eine identitätspolitische Kritik.«219

Schlussbemerkung Nahrungsmittel und Getränke haben bekanntermaßen ein »hohes identitätsstiftendes Potential«220, und weil Essen und Trinken körperliche Erfahrungen sind, wird die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem und die auf Esstraditionen basierende Vergemeinschaftung auf familiärer, regionaler oder nationaler Ebene besonders intensiv und nahe am eigenen Körper verhandelt. Ess- und Trinkkultur zählen zu den elementaren Bestandteilen des österreichischen Selbst- und Fremdbildes.221 Die Wiener Küche nimmt darin eine Sonderstellung ein, da für Wiener und Wienerinnen mit ihrer Küchentradition nicht nur eine Regionalküche zur Disposition steht, sondern die Hauptstadt als Pars pro Toto genommen und der Vergemeinschaftungsanspruch vielfach auf die nationale Ebene übertragen wird. Die Abkehr vom Traditionellen hatte die Liebhaberinnen und Liebhaber der Wiener Küche zu allen Zeiten geschreckt. »Kochbuchautorinnen wie Lydia Beck scheinen sich dieses in Richtung Hawaii-Schnitzel und Hunnenschwert abdriftenden Zeitgeistes durchaus bewußt gewesen zu sein, als sie ihr 1954 erschienenes Kochbuch polemisch ›Die echte Wiener Küche‹ nannte, ganz gewiß im Bewußtsein, dass diese Echtheit allmählich verlorenzugehen drohte«, ist in einem Kochlexikon der Wiener Küche zu lesen, das fünf Jahrzehnte später wieder die Echtheit beschwört.222 Da die Ess- bzw. Trinktradition für die Wiener ein wichtiges Konstitutivum von Identität ist, manifestierten sich Ängste um einen Verlust des Eigenständigen hier besonders deutlich. Nachdem die österreichische Delegation bei den eu-Beitrittsverhandlungen Begriffe wie Rahm, Erdäpfel, Paradeiser, Fisolen, Ribisel etc. schützen konnte,223 wurden in Wien Plakate affichiert, die stolz verkündeten  : »Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat«.224 Und natürlich ging es hier nicht nur um eine traditionelle Beilage zum Wiener Schnitzel, sondern um das wienerische Universum der Gemütlichkeit, um die Idee der ReblausDiplomatie, die schon dem Gründungsmythos der Zweiten Republik eingeschrieben ist, um die Sehnsucht nach der Backhendlzeit, um den Heurigen als Ort der sozialen Verständigung u.  v.  m.225 Doch wer den Mythos freilegen will, müsste in der Lage sein, sich daraus zu entfernen. »… den guten französischen Wein entziffern, heißt sich von jenen absondern, die sich daran erfreuen«, meinte Roland Barthes in den »Mythen des Alltags«.226 Könnte jemand ernsthaft verlangen, der Wiener (Mehlspeis-)Küche zu entsagen  ?

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A nmerkungen  1 Hans-Jürgen Teuteberg, Homo edens. Reflexionen zu einer neuen Kulturgeschichte des Essens, in  : His­ torische Zeitschrift, Band 265, Heft 1, August 1997, S. 1–28, hier S. 7.  2 Claire Duchen, Women’s Right and Women’s Lives in France 1944–1968, London 1994, S. 18.  3 Siehe etwa Wiener Zeitung vom 18. Juni 1946.  4 Vgl. dazu die Ausführungen zum Opferdiskurs im Nachkriegsdeutschland bei Elizabeth Heinemann, The Hour of the Woman  : Memories of Germany’s Crisis Years and the West German National Identity, in  : American Historical Review, Vol. 101, No. 2, April 1996, S. 354–395.  5 Dieses Interview stammt aus dem gemeinsam mit Ela Hornung durchgeführten Projekt »Frauen im Nachkriegs-Wien«. Der Name wurde geändert.  6 Gustavo Corni/Horst Gies, Brot, Butter und Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, S. 572f.; Ulrich Kluge, Kriegs- und Mangelernährung im Natio­ nalsozialismus, in  : Beiträge zur historischen Sozial­kunde 2 (1985), S. 67–73  ; Paul Erker, Ernährungskrise und Nachkriegsgesellschaft. Bauern und Arbeiterschaft in Bayern 1943–1953, Stuttgart 1990, S. 23–36  ; Birthe Kundrus, Loyal, weil satt. Die inneres Front im Zweiten Weltkrieg, in  : Mittelweg. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 6. Jg., Oktober/November 1997, S. 80–93.  7 Was später anlässlich der Staatsvertragsverhandlungen in der Öffentlichkeit als »Erbsenschulden« tituliert wurde, bezog sich nicht auf die 1. Maispende, sondern auf Lebensmittellieferungen der Sowjets, die von Juni bis September an die Wiener Bevölkerung ausgegeben wurden. Vgl. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, Wien 1998, 4. Aufl., S. 175.  8 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung 1/3, 1947, 17f.  9 Unveröffentlichtes Tagebuch von Frau K., in  : WrStLA, HA-Akten, Kleine Bestände 83/3. 10 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Der Topos des sowjetischen Soldaten in lebensgeschichtlichen Interviews mit Frauen, in  : Jahrbuch 1995, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1995, S. 28–44. Zur Roten Armee vgl. Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955, 2 Bde, Graz – Wien 2005. 11 Vgl. Jürgen Hörmann, Die Ernährungs- und Versorgungslage in Wien, Ottakring in der Erinnerung von Zeitzeugen von 1945–1949, unveröffentl. Diss. Wien 2009. 12 Die Frau, Nr. 7, 16. Februar 1946, S. 8. 13 Josef Schöner, Wiener Tagebuch 1944/45, hg. von Eva-Marie Csáky/Franz Matscher/Gerald Stourzh, Wien 1992, S. 138. 14 Situationsbericht über die Lebensmittelversorgung Wiens am 25. 5. 1945 auf Grund der Tagesmeldungen der Marktamtsabteilung. WrStLA, Nachlass Körner 26. 4, 4. 9. 15 Vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee wurde die Ankerbrotfabrik geplündert. Mit den 2.000 Tonnen Mehl, die von der Bevölkerung gestohlen wurden, hätte Wien vier Wochen lang mit Brot versorgt werden können. Die Bäckerinnung versuchte, die Menschen durch eine Plakataktion dazu zu bewegen, die gestohlene Menge zurückzubringen und gegen einen geringen Aufpreis zu Brot zu verarbeiten. Das Plakat ist abgebildet in  : Franz Severin Berger/Christiane Holler, Trümmerfrauen. Alltag zwischen Hamstern und Hoffen, Wien 1994, S. 25. 16 Angaben der Bundespolizei Wien, in  : Jahrbuch der Stadt Wien 1951, S. 284  ; Jahrbuch 1952, S. 283f. 17 Angaben der Bundespolizei Wien, in  : Jahrbuch der Stadt Wien 1951, S. 284  ; Jahrbuch 1952, S. 283f. 18 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung 1/3, 1947, S. 16. 19 Wenn der »Schwarze Markt« freigegeben würde… , in  : Berichte und Informationen, 1. Jg., Heft 32, 6. 12. 1946, S. 1.

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ernährungsverhalten und kochkultur in wien 20 Vgl. zur Ernährungssituation im Burgenland  : Roman Sandgruber, Der Lebensstandard in der ersten Nachkriegszeit, in  : Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahr 1945. Beiträge zur Landesaustellung 1985, Eisenstadt 1985, S. 199ff. 21 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung, 5, 1946, S. 79. 22 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung, 1/6, 1946, S. 14f. 23 Monatsberichte des Instituts für Wirtschaftsforschung, 1/3, 1947, S. 12. 24 Unveröffentlichtes Tagebuch von Frau K., in  : WrStLA, HA-Akten, Kleine Bestände 83/3. 25 Wochenbericht 24.3.–30.3.1946. Wochenberichte der Polizeidirektion Wien, in  : Nachlass Theodor Körner, WrStLA. 26 Anzahl der Kontrollen an Wiener Bahnhöfen und Einfallsstraßen und die dabei beschlagnahmten Schleichhandelswaren, aus den Wochenberichten der Polizeidirektion Wien, für den Zeitraum vom November 1945 bis November 1946, in  : Nachlass Körner, WrStLA. 27 Wochenbericht 16.4.–20.4.1946. Wochenberichte der Polizeidirektion Wien, in  : Nachlass Theodor Körner, WrStLA. 28 Wochenbericht 31.3.–6.4.1946, ebd. 29 Ausführlich zur Begründung dieses Rucksackverbotes siehe  : Wiener Zeitung, 23.6.1946. 30 Zitat des Staatssekretärs für Volksernährung Andreas Korp. Andreas Korp, Um unser tägliches Brot  ! (= Sozialistische Hefte, Folge 3), Wien 1945, S. 10f. Zur Verdammung des »Rucksack-Verkehrs« durch den Wiener Stadtrat für Ernährungsangelegenheiten Rudolf Sigmund, siehe etwa  : Stenographische Berichte der öffentlichen Sitzungen des Wiener Gemeinderates, Sitzung vom 15. Juni 1946, S. 1160, WrStLA. 31 Angaben der Bundespolizei Wien zusammengestellt nach den Veröffentlichungen der Polizeistrafsachen in Wien in den jeweiligen Jahrgängen des Jahrbuches der Stadt Wien. Während der Hungerkrise ist davon auszugehen, dass diese Übertretungen vor allem mit der Lebensmittelversorgung in Zusammenhang stehen. 32 Vgl. Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien vom 1. April 1945 bis 31. Dezember 1947. Verwaltungsbericht, Wien 1949, S. 355. 33 Hans Riemer, Wien baut auf. Zwei Jahre Wiederaufbau, Wien 1947, S. 61. 34 Stenographische Berichte der öffentlichen Sitzungen des Wie­ner Gemeinderates, Sitzung vom 14. Februar 1946, S. 67f. WrStLA. 35 Vgl. Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien vom 1. April 1945 bis 31. Dezember 1947. Verwaltungsbericht, Wien 1949, S. 355f. 36 Wirtschafts- und sozialstatistisches Jahrbuch 1945–1969, hg. von der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1970, S. 448ff. 37 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, S. 219 und 222. 38 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 242  ; Jahrbuch der Stadt Wien 1959, S. 188. 39 Mit der nationalso­zialistischen Ge­bietserweiter­ung, bei der große agrarische Gebiete zu Wien kamen, ver­stärkten sich die struk­turellen Unterschiede zwi­schen städti­schen Innen- und agrari­schen Außenbezirken. Mit der Rückgliederung fielen im September 1954 80 der 97 einverleibten Gemeinden wieder an Niederösterreich zurück. Vgl. Wolfgang Mayer, Die national­sozialistische Gebietsreform, in  : Felix Czeike (Hg.), Wien 1938, Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschich­te, (Sonderrei­he der Wiener Geschichtsblätter 2), Wien 1978, S. 77–87, hier S. 85. 40 Informativ zu dieser bezirksweisen Organisation sind die Lebenserinnerungen von Bruno Sokoll, dem damaligen Ernährungsreferenten in Floridsdorf, vgl. Erlebnis- und Tatsachenbericht aus den letzten Kampftagen um Floridsdorf 1945 und Wiederaufbau bis September 1945, verfasst von Bruno Sokoll, in  : WrStLA, HA-Akten, Kleine Bestände 83/1  ; teils wurden seine Erinnerungen auch veröffentlicht  : Bruno Sokoll, Floridsdorf – Erinnerungen aus 1945, in  : Wien 1945. Beiträge zur Geschichte Wiens 1938–1955, Wiener Geschichtsblätter, 30. Jg. , 1975, S. 94ff.

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irene bandhauer-schöffmann 41 Tätigkeitsbericht der Bezirksvorstehung des VIII. Bezirks vom 28. April 1945, Berichte und Schreiben von Magistratischen Bezirksämtern 1945. Nachlass Körner, WrStLA. 42 Tätigkeitsbericht der Wirtschaftsabteilung Währing, 17. April 1945, Berichte und Schreiben von Magis­ tratischen Bezirksämtern 1945. Nachlass Körner, WrStLA. 43 Zur 25. Sitzung des Prüfungsausschusses, 3. Februar 1949, LEA Wien, A 5. Ordner 5, WrStLA. 44 Erlaß des BMfVE am 5. Dezember 1947, Zl. I/3–17984/47. 45 Schreiben des BMfVE an LEA Wien, 10.10.1949. LEA Wien, A 5, Ordner 5, WrStLA. 46 Vgl. dazu das Kapitel »Patriarchat an Tisch und Herd«, in  : Gert v. Paczensky/Anna Dünnebier, Leere Töpfe, volle Töpfe. Die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München 1994, S. 229–249. Für Österreich vgl. Roman Sandgruber, Das Essen der Arbeiterfrauen. Geschlechtsspezifische Konsumunterschiede in Arbeiterhaushalten, in  : L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 2. Jg., 1991, Heft 1, S. 45–56. Mündliche Zeugnisse für das geschlechtsspezifische Konsumverhalten in der Wiener Arbeiterschaft der Zwischenkriegszeit bringt z. B. Reinhard Sieder, Zur alltäglichen Praxis der Wiener Arbeiterschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Wien 1988, S. 172ff. 47 Monatsberichte des Institutes für Wirtschaftsfor­schung 10/12, 1946, S. 200. 48 Monatsberichte 10/12 (1946), S. 206. 49 Männern gestand man nicht nur mehr, sondern auch andere Speisen zu, denn die Speisenaufteilung folgte den geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen. Vgl. Roman Sandgruber, Das Geschlecht der Esser. In  : Rolf Walter (Hg.)  : Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, 23. –26. April in Greifenwald, Stuttgart 2004, S. 397–407, 383  ; ders., Frauensachen, Männerdinge. Eine »sächliche« Geschichte der zwei Geschlechter, Wien 2006, S. 25ff. 50 Dienstanweisung Nr. 12, vom 16. Februar 1948  ; Dienstanweisung Nr. 31, vom 20. Mai 1948, Dienstanweisung Nr. 43, 6. Juli 1948 in Landesernährungsamt Wien, A5, Ordner 5  ; BMfVE an LEA Wien, 4. September 1948, Zl. 42.714–3/48, LEA Wien, A5, Ordner 53. WrStLA. Ausführlich dazu  : Irene BandhauerSchöffmann, Schlechte Karten für Frauen. Die Frauendiskriminierung im Lebensmittelkartensystem im Nachkriegs-Wien, in  : Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien. Katalog des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1995, S. 41–57. 51 Zu den Frauenraucherkarten vgl. Die Bundesverwaltung der Bundeshauptstadt Wien 1. April 1945 bis 31. Dezember 1947. Verwaltungsbericht 1949, S. 363. Eine Klage gegen diese Frauenraucherkarten vor dem Verfassungsgerichtshof war erfolglos, vgl. Erkenntnis vom 11. Februar 1947, Nr. 1526, in  : Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes, 12. Heft, Jahre 1946 und 1947, Wien 1948, S. 21f. 52 Monatsberichte des Institutes für Wirtschaftsfor­schung 10/12, 1946, S. 207. 53 Monatsberichte des Institutes für Wirtschaftsfor­schung 10/12, 1946, S. 200. 54 AdR, BMfVE, Protokoll über die 15. Sitzung des Ernährungs­beirates im BMfVE vom 2.12.1947, Zl. 9306– 10/48. 55 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1950, S. 68. 56 Monatsberichte 1/6 (1946), S. 50. 57 Ebda. 58 Monatsberichte 10/12 (1946), S. 205f. 59 Stimmungsbericht aus dem örtlichen Wirkungsbereiche des Poli­zeikommissariates Währing, 23.8.1945. WrStLA, Nachlass Körner 4. 21. Poli­zei Tagesberichte. 60 Vgl. den Bericht von Antonie Alt in  : Stenographische Be­rich­te über die öffentlichen Sitzungen des Wiener Gemein­dera­tes, Sit­zung vom 15. Juni 1946, S. 1211f. WrStLA. 61 Berechnet nach  : Durchschnittliche Tageskalorienwerte, Landesernährungsamt Wien, A 5, Ordner 5. WrStLA.

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ernährungsverhalten und kochkultur in wien 62 Hans Riemer, Wien baut auf. Zwei Jahre Wiederaufbau, Wien 1947, S. 43ff, 51ff. 63 UNRRA war ein internationales Hilfsprogramm, das zu 73 Prozent von den USA finanziert wurde. Es war das erste Hilfspro­gramm, das auf ganz Österreich Anwendung fand, und verein­heitlichte die Lebensmittelversorgung. 64 Monatsberichte des Institutes für Wirtschaftsfor­schung 1/6, 1946, S. 49, 60  ; Hans Riemer, Wien baut auf, S. 43ff, 56. 65 Reinhold Wagnleitner, Coca-Colanisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. (Österreichische Texte zur Gesellschafts­kritik 52) Wien 1991, S. 115. 66 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik, Wien 1995, S. 451. 67 Die Ernährungsbilanz Österreichs im Wirtschaftsjahr 1946/47. Beilage 4 zu den Monatsberichten des Institutes für Wirtschaftsforschung 12, 1947, S. 7, 9. 68 Wilfried Mähr, Die amerikanische Finanz- und Wirtschaftshilfe an Österreich in den Jahren 1945–1950, Diss., Wien 1985. 69 Monatsberichte 7, 1947, S. 140. 70 Andreas Weigl, Zwischen Ausspeisung und Fast Food. Zum Wandel der Ernährungsgewohnheiten Wiener Schulkinder nach 1945, in  : Historische Sozialkunde. Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung, 2004, H. 2, S. 13–21, hier 15. 71 Vgl. Erwin Strutzenberger, Die Bewirtschaftungsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg im Ernährungsbereich, Dipl.-Arbeit, Wien 1984  ; Einen Überblick zur Gesetzeslage gibt das Buch des damaligen Ministers für Volksernährung  : Hans Frenzl, Das tägliche Brot. Gesetze und Verordnungen für die österreichische Ernährungswirtschaft, Wien 1947. 72 Jahrbuch der Stadt Wien 1952, S. 173f. 73 Roman Sandgruber, Vom Hunger zum Massenkonsum, in  : Gerhard Jagschitz/Klaus-Dieter Mulley (Hg.), Die »wilden« fünf­ziger Jahre. Gesellschaft, Formen und Gefühle eines Jahrzeh­nts in Öster­reich, St. Pölten – Wien 1985, S. 112. 74 Einen kritischen Blick auf die Fresswelle der 1950er-Jahre in Deutschland wirft Michael Wildt, Am Beginn der ›Konsumgesellschaft‹. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994. Für Österreich siehe  : Roman Sandgruber, Vom Hunger zum Massenkonsum. 75 Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch 1945–1969, hg. von der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Wien 1970, S. 448ff. 76 Roman Sandgruber, Vom Hunger zum Massenkonsum, S. 114. 77 Albert Wirz, »Schwaches zwingt Starkes  : Ernährungsreform und Geschlechterordnung, in  : Hans-Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (= Kulturthema Essen, Band 2), Berlin 1997, S. 438–455, hier S. 440f.; vgl. auch Albert Wirz, Die Moral auf dem Teller, Zürich 1993. 78 Roman Sandgruber, Österreichische Nationalspeisen  : Mythos und Realität, in  : Hans Jürgen Teuteberg/ Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (= Kulturthema Essen, Band 2), Berlin 1997, S. 179–203, hier S. 185. Sandgruber weist auch darauf hin, wie sehr stereotype Bilder über Tschechen mit der böhmischen Mehlspeisküche und die Vorstellung von den heißblütigen Ungarn mit der ungarischen Fleischküche verbunden sind. 79 Roman Sandgruber, Vom Hunger zum Massenkonsum, S. 114. 80 Michael Wildt, Abschied von der ›Freßwelle‹ oder  : die Plura­lisierung des Geschmacks. Essen in der Bundesrepublik Deutsch­land der fünfziger Jahre, in  : Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Berlin 1993, S. 211. 81 Der Abend, 21.8.1951, S. 3  ; Der Abend, 22.8.1951, S. 3.

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irene bandhauer-schöffmann  82 Der Abend, 2.8.1952, S. 2.  83 Brigitte Lichtenberger-Fenz, »Frauenarbeit mehrt den Wohl­stand«. Frauen und das Wirtschaftswunder der 50er Jahre, in  : Zeitgeschichte, 19. Jg., Heft 7/8, Juli/August 1992, S. 227, 231.  84 Jahrbuch der Stadt Wien 1952, S. 173.  85 Besonders schöne Fleischstücke, sogenannte Gustostückerln, waren nicht an die Preisregelung gebunden. Daher hatten Fleischhauer nur mehr Gustostückerl im Angebot. Ähnlich erfinderisch in der Umgehung von Gesetzen zum Schutz der Konsumenten waren die Fleischhändler schon zu Beginn der 1950er Jahre gewesen, als ihnen mit einer teilweisen Liberalisierung des Fleischverkaufs gestattet wurde, so genannte »Überkontingentware« nicht mehr gegen Lebensmittelmarken, sondern frei zu verkaufen. Natürlich gaben die Händler dann gegenüber den Käufern an, dass sie nur mehr die teure »Überkontingentware« hätten. Das führte dazu, dass schließlich der Fleischverkauf »rayoniert« wurde, d. h. Händler waren verpflichtet, den bei ihnen vorgemerkten Kunden das auf Lebensmittelmarken aufgerufene Fleisch zum billigen amtlichen Preis zu verkaufen. Vgl. Wiener Kurier 17.2.1950, S. 3, und 1.3.1950, S. 3.  86 Der Abend, 7.7.1951, S. 1.  87 Daten zusammengestellt nach dem durchschnittlichen Jahresverbrauch eines erwachsenen Mannes in Wiener Arbeitnehmerhaushalten, siehe dazu die jeweiligen Jahrgänge der Jahrbücher der Stadt Wien.  88 Siehe dazu die Datenzusammenstellungen des österreichischen Pro-Kopf-Verbrauches im 1. Wiener Ernährungsbericht, hg. vom WHO-Projekt  : Wien – Gesunde Stadt, Wien 1994, S. 22.  89 Ebd., S. 195.  90 Verzehrerhebung im Rahmen des Projektes »Ernährungskultur in Österreich«, durchgeführt vom IKUS, zit. nach  : Fetter Schwerer Schneller Mehr. Mythen und Fakten vom Essen und Trinken. Ikus Lectures, Nr. 20/21, 3. Jg. 1994, S. 12.  91 Der Inbegriff dieses männlichen Fleischessens ist der Verzehr roher bzw. angebratener, aber noch blutiger Fleischstücke, wie etwa Beef tartare und Steaks. Vgl. dazu Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964 (franz. 1957), S. 36–38. In der US-amerikanischen Frauenbewegung hat sich daher auch ein radikaler Vegetarismus herausgebildet, den es in den europäischen Ländern allerdings (noch) nicht in dem Ausmaße gibt. Vgl. Carol J. Adams, The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory, New York 1990, siehe auch ihren Artikel zu Patriarchat, Brustkrebs und Fleischkonsum, Carol J. Adams, Fleisch und Blut im Feministischen Körper, in  : L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Schwerpunkt Heft Ernährung, 2. Jg., 1991, H. 1, S. 107–117.  92 Reinhard Sieder in  : Fetter Schwerer Schneller Mehr. Mythen und Fakten vom Essen und Trinken. Ikus Lectures, Nr. 20/21, 3. Jg. 1994, S. 11.  93 BGBl. 135/1953.  94 Jahrbuch der Stadt Wien 1953, S. 199.  95 Die erste Prangerliste für Preiswucherer, in  : Wiener Kurier, 18.11.1949, S. 1.  96 Siehe etwa  : Preiseregelungsgesetzesnovelle 1953 BGBl. 66/1953  ; Importpreisverordnungsnovelle 1953 vom 16. Oktober 1953, BGBl. 146/1953  ; Preiseregelungsgesetzesnovelle 1954 BGBl. 121/1954. Detaillierte Auflistungen, welche Lebensmittel nicht mehr preisgeregelt waren, finden sich in den jährlichen Berichten des Wiener Marktamtes im Jahrbuch der Stadt Wien.  97 Jahrbuch der Stadt Wien 1956, S. 220.  98 BGBl. 92/1950.  99 Zur Geschichte des Marktamtes und der Wiener Märkte vgl. Werner T. Bauer, Die Wiener Märkte, Wien 1996. 100 Jahrbuch der Stadt Wien 1953, S. 201f. 101 Jahrbuch der Stadt Wien 1952, S. 175f. 102 Jahrbuch der Stadt Wien 1952, S. 175f.

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ernährungsverhalten und kochkultur in wien 103 Jahrbuch der Stadt Wien 1955, S. 221. 104 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 242. 105 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 242. 106 Jahrbuch der Stadt Wien 1969, S. 254. 107 Das Lebensmittelgesetz von 1951 wurde 1966 novelliert, BGBl. 235/1966. 108 Siehe die Berichte des Marktamtes in den jeweiligen Jahrgängen des Jahrbuchs der Stadt Wien. 109 Jahrbuch der Stadt Wien 1962, S. 208. 110 Jahrbuch der Stadt Wien 1963, S. 164. 111 Jahrbuch der Stadt Wien 1965, S. 181. 112 Monatsberichte 7/9, 1946, S. 123f. 113 Monatsberichte 7/9, 1946, S. 124. 114 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 243. 115 Jahrbuch der Stadt Wien 1965, S. 182. 116 Jahrbuch der Stadt Wien 1958, S. 176. 117 Jahrbuch der Stadt Wien 1963, S. 165. 118 Jahrbuch der Stadt Wien 1964, S. 181. 119 Werner T. Bauer, Die Wiener Märkte. 100 Märkte, von Naschmarkt bis Flohmarkt. Mit einer umfassenden Geschichte des Marktwesens in Wien, Wien 1996, S. 72. 120 Jahrbuch der Stadt Wien 1956, S. 220  ; 1964, S. 182. 121 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 584. 122 Jahrbuch der Stadt Wien 1965, S. 183f. 123 Werner T. Bauer, Die Wiener Märkte, S. 74, 135, 204, 210f. 124 Ebd., S. 194. 125 Jahrbuch der Stadt Wien 1962, S. 206. 126 Angabe nach  : Jahrbuch der Stadt Wien 1964, S. 180. 127 Martina Lassacher, Die Wiener Naschmarktküche, in  : Wiener Geschichtsblätter, 52. Jg., 1997, Heft 3, S. 166–180. 128 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 584  ; 1957, S. 234. 129 Nicht einbezogen sind hier die Kleinverkaufsstellen für Lebensmittel, die an Gast- oder Schankbetriebe angeschlossen waren  ; diese hatten einen gegenläufigen Trend und wiesen sogar eine leichte Zunahme auf. 130 Berechnungen nach den Angaben des Marktamtes in den Jahrbüchern der Stadt Wien. 131 Angaben des Marktamtes, in  : Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 584  ; 1957, S. 234  ; 1964, S. 235  ; 1970, S. 135  ; 1973, S. 157. 132 Vgl. Angaben zu Innungsmitgliedern und Lehrlingen in  : Jahrbuch der Stadt Wien 1950, S. 178f. 133 Vgl. Angaben der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien, in  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1957, S. 216f. 134 Peter Eigner, (Detail-)Handel und Konsum in Österreich im 20. Jahrhundert. Die Geschichte einer Wechselbeziehung, in  : Susanne Breuss/Franz X. Eder (Hg.)  : Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert (= Querschnitte, Bd. 21), Innsbruck–Wien 2006, S. 42–70, hier S. 44. 135 Ein Foto diese Polizeieinsatzes aus der Zeitschrift Die Konsumgenossenschaft Nr. 41/1964, S. 323, ist abgedruckt in Susanne Breuss/Wien Museum (Hg.)  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, S. 193. 136 Ebd., S. 58, 65. Sándor Békési  : Lücken im Wohlstand  ? Einkaufswege und Nahversorgung in Wien nach 1945, in  : Susanne Breuss/Wien Museum (Hg.)  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, S. 38–45, hier 39f. 137 Oliver Kühschelm, Selbstbedienung und Supermärkte. Das Versprechen von Zeitersparnis, Wahlfreiheit

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irene bandhauer-schöffmann und unerschöpflicher Fülle, in  : Susanne Breuss/Wien Museum (Hg.)  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, S. 46–59. 138 Ebd., S. 50f. 139 Sándor Békési,   Lücken im Wohlstand, S. 43. Das erste Selbstbedienungsgeschäft war am 27. Mai 1950 in Linz eröffnet worden. Vgl. Michael John, Vom Krämerladen zum Warenhaus. Zur Etablierung moderner Konsumkultur in einer österreichischen Provinzstadt im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Reinhold Reith/Thorsten Meyer (Hg.)  : Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, Bd. 21), Münster – New York 2003, S. 200. 140 Ebd., S. 40  ; Gerhard Meißl, Vom Stadtgwölb zum Urban Entertainment Center. Zur Entwicklung des Detailhandels seit dem Beginn der Industrialisierung, in  : Historische Sozialkunde 2/2003. 141 Stichwort  : Bioläden, in  : Stadtbuch Wien 1982, hg. vom Falter-Verlag, Wien 1982, S. 127f. Siehe auch Stadtbuch Wien 1983, Wien 1983, S. 186ff. 142 Zu den Kochbüchern vgl. den Ausstellungskatalog der Wienbibliothek, der auf den großen Bestand an Kochbüchern in der Wienbibliothek aufbaut  : Julia Danielczyk/Isabella Wasner-Peter (Hg.), Heut muß der Tisch sich völlig biegn. Die Wiener Küche und ihre Kochbücher, Wien 2007  ; nachfolgende unveröffentlichte Magisterarbeiten beziehen ebenfalls Kochbücher aus Wiener Bibliotheken in ihre Untersuchung ein, Kerstin Maria Gruber, Nahrungsmittelkonsum und Ernährung in Österreich 1945–1965, unveröffentl. Magisterarbeit, Wien 2008  ; Elke Elisabeth Halbmayer, Sind Kochbücher Determinanten des Ernährungsverhaltens der österreichischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts  ? Unveröffentl. Magis­ terarbeit in Ernährungswissenschaften, Wien 2007. 143 Waverly Root and Richard de Rochemeont, Eating in America. New York 1976, S. 158. James P. Johns­ ton, A Hundred Years of Eating  : Food, Drink, and Family Diet in Britain since the Late Nineteenth Century. Montreal 1977, S. 33. 144 Gretel H. Pelto and Pertti J. Pelto, Diet and Delocalization  : Dietary Changes since 1750. In  : Hunger and History. The Impact of Changing Food Production and Consumption Patterns on Society, ed. by Robert I. Rotberg and Theodore K. Rabb. Cambridge 1983, S. 317. 145 Zur Wandlung der materiellen Esskultur und der Rationalisierung der Küchentechnik vgl. u. a. Michael Andritzky (Hg.), Oikos. Von der Feuerstelle zur Microwelle. Haushalt und Wohnen im Wandel, Gießen o. J.; Ulrich Hellmann, Künstliche Kälte. Zur Geschichte der Kühlung im Haushalt, Gießen o. J. 146 Zu diesen Entwicklungstendenzen im Küchendesign vgl. Ellen M. Plante, The American Kitchen 1700 to the Present, New York 1995, S. 275f. 147 Statistisches Jahrbuch 1995, S. 175. 148 Roman Sandgruber, Strom der Zeit. Das Jahrhundert der Elektrizität, Linz 1992, S. 124f. 149 Ergebnisse des Mikrozensus Juni 1993, in  : Statistisches Jahrbuch 1995, S. 178. 150 Konsumerhebung 1993/94, in  : Statistische Nachrichten 2/1997, S. 98. 151 Etwa durch die Frankfurter Küche der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. 152 Ellen M. Plante, The American Kitchen 1700 to the Present, S. 292. 153 Michael Wildt, Am Beginn der »Konsumgesellschaft«. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, S. 234f. 154 Im Rahmen der Sendung »Kunst-Stücke« wiederholte der ORF einige der Sendungen der Fernsehköche aus den 1960er-Jahren. Küchenchef Helmut Misak brachte es als Fernsehkoch der Nation zur Berühmtheit, in seinem Schatten stand Hans Hofer, von dem das Zitat stammt. Der erste Fernsehkoch war Franz Ruhm, der einige Monate, nachdem in Österreich das Fernsehzeitalter begonnen hatte, am 6. Februar 1956 mit einer Kochsendung startete. Als er 1961 aus gesundheitlichen Gründen abtreten musste, folgten ihm drei Köche nach, die jeweils unterschiedliche soziale Schichten mit ihren Kochstunden ansprachen. Vgl. Lisa Wögenstein, Das Triumvirat der »Fernsehküche«. Kochschule und soziale

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ernährungsverhalten und kochkultur in wien Dis­tinktion, in  : Susanne Breuss/Wien Museum (Hg.)  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, S. 90–95. 155 Erhebung des ÖSTZA, zit. nach Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram), Wien 1995, S. 499. 156 Siehe dazu die Umfragen des Projektes »Ernährungskultur in Österreich«, durchgeführt vom IKUS. In  : Fetter Schwerer Schneller Mehr. Mythen und Fakten vom Essen und Trinken. Ikus Lectures, Nr. 20/21, 3. Jg. 1994, S. 29. 157 Wochenbericht 24.3.–30.3.1946. Aus den Wochenberichten der Polizeidirektion Wien, für den Zeitraum von November 1945 bis November 1946, in  : Nachlass Körner, WrStLA. 158 Zum »Blauensteiner« und Doderers Gewohnheit, ausschließlich Achterln zu bestellen, vgl. Wolfgang Fleischer, Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer, Wien 1996, S. 402. 159 Franz Maier-Bruck, Das Große Sacher Kochbuch, Wien 1975, S. 567  ; Firmengeschichten von Sacher, Demel, Imperial finden sich in  : Ingrid Haslinger, Kunde  : Kaiser. Die Geschichte der ehemaligen K. u. K. Hoflieferanten, Ausstellungskatalog, Wien o. J. (1996). 160 Speisekarte aus der Sammlung Anton Staudinger, abgedruckt im Ausstellungskatalog  : Susanne Breuss/ Wien Museum (Hg.)  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, S. 141. 161 Fleischspeisen in Gaststätten frei, in  : Wiener Kurier, 1.10.1949, S. 3  ; Wiener Kurier, 3.10.1949, S. 3. 162 Jahrbuch der Stadt Wien 1954, S. 584. 163 Jahrbuch der Stadt Wien 1957, S. 265  ; 1964, S. 261  ; 1965, S. 249. 164 Eigene Berechnungen auf Basis der ausgeübten Konzessionen für Gast- und Beherbergungsbetriebe in Wien nach den jährlichen Angaben der Kammer der gewerblichen Wirtschaft, Sektion Fremdenverkehr, abgedruckt in den Jahrbüchern der Stadt Wien. Die Zahl der ausgeübten Konzessionen in Wien erlaubt die genauesten Schlüsse  ; die Zahl der Fachgruppenmitglieder ist immer höher, weil sowohl Pächter als auch Verpächter Kammermitglieder sind. 165 Eigene Berechnungen auf Basis der ausgeübten Konzessionen für Gast- und Beherbergungsbetriebe in Wien. 166 Ebd. 167 Stadtbuch Wien 1982, hg. vom Falter-Verlag, Wien 1982, S. 201. 168 Eigene Berechnungen auf Basis der ausgeübten Konzessionen für Gast- und Beherbergungsbetriebe in Wien. 169 Nicole Dietrich, Schnell essen in Wien. Das Entschleunigungsdilemma rund um Espresso, Würstel und Burger, in  : Susanne Breuss/Wien Museum (Hg.)  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, S. 122–128, hier S. 123. 170 Hans Weigel, Kaffee im Café, in  : Monika Obrist (Hg.), Blunzn, Graukas, Zwetschkenröster. Ein literarisches Menü, Wien 2001, S. 168–171, hier S. 169. 171 Vgl. Hans Veigl, Wiener Kaffeehausführer, Wien 1989, 2. Aufl. 1984. Zu den Wiener Kaffeehäusern siehe auch  : Thomas Martinek, Kaffeehäuser in Wien. Ein Führer durch die Wiener Kaffeehäuser, Wien 1990, 3. Aufl. 1996  ; Petra Neumann (Hg.), Wien und seine Kaffeehäuser. Ein literarischer Streifzug durch die berühmtesten Cafés der Donaumetropole, München 1997. 172 Zur Geschichte von Coca-Cola in Österreich vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann, Coca-Cola im Kracherlland, in  : Roman Sandgruber/Harry Kühnel (Hg.), Genuß und Kunst. Kaffee, Tee, Schokolade, Tabak, Cola. Ausstellungskatalog Schloß Schallaburg, Innsbruck 1994, S. 92–101  ; dies., Die Amerikanisierung des Geschmacks. Coca-Cola in Österreich, in  : Historicum, Herbst 1995, S. 22–28. 173 Eigene Berechnungen auf Basis der ausgeübten Konzessionen für Gast- und Beherbergungsbetriebe in Wien.

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irene bandhauer-schöffmann 174 Stefan M. Gergely, Gastro 2000. Zusammenfassung der wichtigsten Trends aufgrund einer Studie über die Wiener Gastronomie, erstellt im Auftrag des WIFI Wien, Wien 1997, S. 25, 61, 76. 175 Ebd., S. 76f. Es handelt sich hier um eine Gesamterhebung der Lokale in den Bezirken I. bis IX. 176 Ebd., S. 79. 177 Ebd., S. 81. 178 Vgl. Das Schnelle Essen – Vom Imbiß zum Fast Food, in  : Die anständige Lust. Von Eßkultur und Tafelsitten, Ausstellungskatalog, hg. von Ulrike Zischka/Hans Ottomeyer/Susanne Bäumler, München 1993, S. 370–377  ; Christoph Wagner, Fast schon Food. Die Geschichte des schnellen Essens, Frankfurt a. M. – New York 1995. 179 Nicole Dietrich, Schnell essen in Wien, S. 127. 180 Jörg Mauthe verfasste auch einen Restaurantführer für Wien  : Jörg Mauthe, …belieben zu speisen, Wien 1962. Der populärste Restaurantführer »Wien, wie es ißt« aus dem Falter-Verlag erschien 1982 erstmals. 181 Stadtbuch Wien 1982, hg. Falter Verlag, Wien 1982, S. 124. 182 Hubert Ch. Ehalt/Roland Girtler, Wiener Beiseln, in  : Essen und Trinken. Kulturjahrbuch 7. Wiener Beiträge zur Kulturwissenschaft und Kulturpolitik, hg. von Hubert Christian Ehalt/Manfred Chobot/Rolf Schwendter, Wien 1988, S. 137–139, hier 139. 183 Ergebnisse der nichtlandwirtschaftlichen Betriebszählung 1964 (= Beiträge zur österreichischen Statistik, Heft 172, hg. vom ÖSTZA), 2. Teil, Wien 1968, S. 134f. 184 Ebd., S. 134ff. 185 Eigene Berechnungen nach  : Ergebnisse der nichtlandwirtschaftlichen Betriebszählung 1964 (= Beiträge zur österreichischen Statistik, Heft 172, hg. vom ÖSTZA), 2. Teil, Wien 1968, S. 134f. 186 Das Beherbergungs- und Gaststättenwesen 1972. Beherbergungsbetriebe – Gaststätten – Kaffeehäuser – Campingplätze (= Beiträge zur österreichischen Statistik, 376. Heft, hg. vom ÖSTZA), Wien 1975, S. 88. 187 Ebd., S. 98. 188 Ebd., S. 42. 189 Vgl. Franz X. Eder, Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert, in  : Ders. u. a. (Hg.)  : Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck–Wien 2003, S. 201–185  ; ders., Vom Mangel zum Wohlstand. Konsumieren in Wien 1945–1980, in  : Die Sinalco-Epoche, S. 24–33. 190 Diese Konsumerhebungen sind genauer als die Daten, die aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gewonnen werden können. Hier wird der Anteil der Verbrauchsgruppe »Nahrungsmittel, Getränke und Tabak« am gesamten privaten Konsum ausgewiesen. Vgl. Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1985, Tab. 10.01, S. 202  ; Statistisches Jahrbuch 1986, Tab. 10.1  ; Statistisches Jahrbuch 1995, Tab. 11.01, S. 174. 191 Vgl. Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1986, Tab. 10.02. 192 Vgl. Tabelle über die durchschnittlichen Verbrauchsausgaben von Arbeitnehmerhaushalten in Wien, in  : Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1986, Tab. 10.04. 193 Zu den Problemen dieser Pro-Kopf-Statistiken vgl. Hans-Jürgen Teuteberg, Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850–1975). Versuch einer quantitativen Langzeitanalyse, in  : Archiv für Sozialgeschichte 19, 1979, S. 331–388  ; wiederabgedruckt in  : Hans-Jürgen Teuteberg/Günter Wiegelmann, Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung, Münster 1986, 2. Auflage, S. 225–280. 194 Vgl. Durchschnittlicher Verbrauch von Nahrungsmitteln und Getränken (einschließlich des Verzehrs außer Haus) pro Kopf und Jahr aus den Ernährungsbilanzen, 1970/71, 1980/81, 1990/91, in  : Statistisches Jahrbuch für die Republik Österreich 1995, S. 174. 195 Zum Jahresverbrauch an Nahrungs- und Genussmitteln einer erwachsenen männlichen Person in Arbeitnehmerhaushalten in Wien 1960–1985 siehe  : Von 1970 bis 1985 siehe Tabelle 10.05 in  : Statistisches

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ernährungsverhalten und kochkultur in wien Handbuch für die Republik Österreich, S. 203  ; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1986, S. 188. Für die Jahre 1960 und 1965 siehe  : Jahrbuch der Stadt Wien 1964, S. 261  ; Jahrbuch 1966, S. 247. Vgl. auch die Tabelle 3, S. 273/274 im Text von Franz X. Eder in diesem Band. 196 Der Verbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1954/55, hg. vom ÖSTZA und Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, Wien 1956, S. 22. 197 Ebd., S. 21. 198 Ebd., S. 21ff. 199 Der Verbrauch der städtischen und bäuerlichen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1964, Wien 1966, S. 21. 200 Der Verbrauch der städtischen und bäuerlichen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1964, S. 20. 201 Konsumerhebung 1954/55, S. 21  ; Konsumerhebung 1964, S. 20. 202 Konsumerhebung 1964, S. 66. 203 Der Verbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1945/55, S. 27. 204 Ebd., S. 23. 205 Ebd., S. 23. 206 Ebd., S. 24. 207 Konsumerhebung 1964, S. 20. 208 Ebd. 209 Konsumerhebung 1993/94. In  : Statistische Nachrichten 8/1997, S. 627ff. 210 Ebd., S. 630. 211 Gretel H. Pelto and Pertti J. Pelto, Diet and Delocalization  : Dietary Changes since 1750. In  : Hunger and History. The Impact of Changing Food Production and Consumption Patterns on Society, ed. by Robert I. Rotberg and Theodore K. Rabb. Cambridge 1983, S. 309–330. Sie definieren diesen zentralen Prozess in der Entwicklung der Lebensmittelproduktion und der Ernährungsgewohnheiten folgendermaßen  : »By ›delocalization‹ we refer to processes in which food varieties, production methods, and consumption patterns are disseminated throughout the world in an ever-increasing and intensifying network of socio-economic and political interdependency.« (S. 309) 212 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann, Wasserspatzen, Haferschnitzel, Graupengulyas, Erbsenlaibchen. Kochen in den Kriegs- und Mangeljahren 1939–1947. In  : Julia Danielczyk/Isabella Wasner-Peter (Hg.)  : Heut muß der Tisch sich völlig biegn. Die Wiener Küche und ihre Kochbücher, Wien 2007, S. 171–205. 213 Ewald Bartunek, Haushaltsreisen. Ergebnisse des Mikrozensus Dezember 1972, in  : Statistische Nachrichten 29 NF (1974), H. 11, S. 724ff, zit. nach  : Franz X. Eder, Vom Mangel zum Wohlstand, S. 32. 214 Michael Wildt, Am Beginn der ›Konsumgesellschaft‹, S. 214ff. 215 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, Von der Erbswurst zum Hawaiischnitzel. Die Hungerkrise im Wien der Nachkriegszeit in ihren geschlechtsspezifischen Auswirkungen, in  : Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Michael Gehler/Rolf Steininger (Hg.), Österreich in den Fünfziger Jahren. Innsbruck 1995, S. 11–34. 216 Zur Amerikanisierung vgl. Victoria de Grazia, The Irresistible Empire  : America’s Advance through Twentieth Century Europe, Cambridge 2005  ; Reinhold Wagnleitner, Coca-Colanisation und Kalter Krieg. 217 Zu den Veränderungen als Resultat von Migration siehe z. B.: Pelto, S. 318f. 218 Siehe etwa die Diskussion, ob Amerika überhaupt eine Küche hat. Während der Historiker Sidney M. Mintz einem alten Konzept von Speisen und Zubereitungsanleitungen verhaftet ist und daher Amerika keine eigenständige Küche zugestehen will, behaupten seine Studenten – wohl mit Recht – das Multikul-

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irene bandhauer-schöffmann turelle sei die amerikanische Küche. Sidney M. Mintz, Tasting Food, Tasting Freedom. Excursions into Eating, Culture, and the Past, Boston 1996, S. 106f. 219 Sylvia Mattl-Wurm  , Vom schnellen Aufstieg des Mayonnaise-Eis und der kurzfristigen Verdrängung der Panier. Wiener Kochbücher 1947–1977, in  : Heut muß der Tisch sich völlig biegn, S. 207–229, hier S. 214. 220 Oliver Kühschelm, Konsumieren und die diskursive Konstruktion nationaler Gemeinschaft, in  : Susanne Breuss/Franz X. Eder (Hg.)  : Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert (= Querschnitte, Bd. 21), Innsbruck – Wien 2006, S. 189–211, hier S. 201. 221 Susanne Breuss, Zur Bedeutung des Kulinarischen für die Konstruktion österreichischer Identität, in  : Hannes Stekl/Elena Mannová (Hg.), Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich, Wien 2003, S. 351–372  ; dies.: Einverleibte Heimat. Österreichs kulinarische Gedächtnisorte, in  : Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austria I. Mensch, Mythen, Zeiten, Wien 2004, S. 301–329. 222 Christoph Wagner, Die Wiener Küche, Frankfurt am Main 1998, S. 53 (Erstveröffentlichung Wien 1996). 223 Eine Liste dieser Austriazismen aus dem Nahrungsmittelbereich ist abgedruckt bei Roman Sandgruber, Österreichische Nationalspeisen, S. 202f. 224 Neben den Plakaten wurden für diese EU-Kampagne des Wiener Bürgermeisters auch Inserate geschaltet, z. B. in Falter Nr. 21, 1994, 40f., zit. nach  : Susanne Breuss/Karin Liebhart/Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich, Wien 1995, S. 126. 225 Siehe z. B. Stichworte »Wein«, »Essen und Trinken« in ebd. 226 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 149.

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irene etzersdorfer

Die Wiener jüdische Gemeinde nach 1945 – eine heterogene Schicksalsgemeinschaft

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n der Diktion der Nationalsozialisten galt Wien bereits Ende 1942 als »judenrein«, wenngleich sich 1943 noch an die 8.000 jüdische MitbürgerInnen, teils versteckt, teils in sogenannten privilegierten Mischehen mit Nichtjuden, teils als Funktionäre und Angestellte der Israelitischen Kultusgemeinde bzw. ihrer Nachfolge­organisation, dem Ältestenrat, in Wien aufhielten. Ihre Zahl sank kontinuierlich auf etwa 2.000 zu Kriegsende, Wien war tatsächlich fast zu einer »Stadt ohne Juden geworden«.1 Was Hugo Bettauer 1922 in seinem Roman von »Übermorgen« 1922 als negative Utopie prognostizierte – Wien als Stadt ohne Juden –, bewegte sich jedoch noch weit unter der Grausamkeitsschwelle der späteren Ereignisse. Die Rea­lität übertrumpfte die Bettauer’sche Fantasie um eine mörderische Dimension, die selbst der literarischen Fiktion einer mit den antisemitischen Klischees seiner Zeit sarkastisch spielenden Autors unbekannt war. In Bettauers Version holte nämlich die Wiener Bevölkerung »ihre« Juden, die sie unter Führung eines charismatischen Diktators lustvoll vertrieben hatte, reuig zurück, denn ihrer Vertreibung folgte der wirtschaftliche Ruin, die kulturelle Verarmung sowie eine gewisse »Verdorfung« der Stadt.2 Jeder Versuch, die Dynamik jüdischen Lebens in Wien nach 1945 zu skizzieren, steht daher im Zeichen der von ÖsterreicherInnen mitverschuldeten Geschichtskatastrophe des Holocaust, die, einem politischen Kalkül folgend, auch von einem Gutteil der Wiener Bevölkerung aktiv oder passiv unterstützt wurde – (Mit-)Verantwortungen, die sowohl auf kollektiver politischer als auch individueller Ebene nach 1945 heftigen psychischen Abwehrprozessen zum Opfer fielen. Daher blieb auch der gesamte Wiederaufbau der Wiener jüdischen Gemeinde von dieser tatkräftigen oder »nur« geistigen Mittäterschaft an den Verbrechen des ns- Regimes belastet, eine Reaktion, die sich in komplexen und hartnäckigen Verleugnungsstrategien von Schuld, Scham und Trauer artikulierte und gleichzeitig auf Reaktionen von Opferscham und unbewusster Überlebensschuld traf.3 Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass erst die Bestimmungen der Nürnberger Rassegesetze aus einer Vielfalt von mehr oder weniger starken und gänzlich unterschiedlich ausdifferenzierten »jüdischen« Identitäten eine durch ein gemeinsames Schicksal bestimmte Opfergruppe formte, die vor 1938 Gemeinsamkeiten geradezu vehement von sich wies und im Grunde auch nach 1945 nicht besaß. Nicht nur waren der Assimilation Verpflichtete schon lange vor 1938 aus der Kultusgemeinde ausgetreten und zählten vor der Übernahme der Nürnberger Rassegesetze nicht mehr 593

irene etzersdorfer zur jüdischen Bevölkerung, auch wenn sie mehrheitlich weiterhin in vorwiegend jüdischen Milieus verkehren mochten, sondern zwischen den unterschiedlichen Milieus des Wiener Assimilationsjudentums, den in unterschiedlichen Emigrations­ wellen aus den ehemaligen Territorien der Habsburgermonarchie »zugereisten« und zum überwiegenden Teil noch orthodox religiös gebundenen »Ostjuden«, den Wiener Reformjuden mit einer aufgeklärten religiösen Bindung sowie den hauptsächlich aus den ostjüdischen Bevölkerungskreisen rekrutierten Zionisten bestanden auch vor 1938 erhebliche soziale und kulturelle Differenzen, darüber hinaus auch mutuelle Ressentiments. Selbst der Konstruktionsversuch einer ›nationalen Gemeinschaft‹ vermochte das Wiener Judentum nicht zu vereinen. Gerade die großen Kulturleistungen des Fin de Siècle wurden mehrheitlich von Personen vollbracht, die sich von der mosaischen Religionsgemeinschaft durch die Übernahme säkularer Diskurse losgesagt hatten und ihre Innovationen – in der Psychoanalyse, Literatur, Wissenschaft, dem Journalismus und der Politik – gerade in Auseinandersetzung von Tradition und Moderne schufen, mit Präferenz für letztere. Darüber hinaus nahm sich ein Teil des Wiener assimilierten jüdischen Bürgertums als Teil der deutschen Kultur wahr, nicht wenige gaben dem Pangermanismus den Vorzug selbst gegenüber der verbreiteten politischen Treue zum konservativen Herrscherhaus und traten im Zeichen von Fortschritt und Freiheit auch deutschnationalen Burschenschaften bei, bis sie vom erstmals 1877 eingeführten »Arierparagraphen« aus diesen Organisationen hinausgedrängt wurden – die Liste reicht von Victor Adler, dem Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, über Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, den Komponisten Gustav Mahler bis selbst zu Theodor Herzl, dem Vater des Zionismus.4 Diese – einseitig intendierte – Synthese von Judentum und deutscher Kultur fand jedoch schon mit dem rabiaten christlich-sozialen Antisemitismus, der als Reaktion auf den sozioökonomischen Wandel des Liberalismus entstanden war, ihr Ende, wenngleich ein politisch orchestriertes Diskriminierungsund Verfolgungsprogramm bis 1938 nicht existierte und die bereits 1848 gegründete Israelische Kultusgemeinde, die 1890 den Status einer halböffentlichen Körperschaft mit dem Recht erhielt, die kulturellen und religiösen Angelegenheiten aller BürgerInnen mosaischen Glaubens zu regeln, erhielt, ihren Agenden relativ ungestört von dem in der Gesellschaft virulenten Antisemitismus nachkommen konnte.5 Allerdings fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bedingt durch liberalere Einwanderungsbestimmungen sowie die bürgerliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz 1867, gefolgt von den um 1880 einsetzenden Pogromen in Russland und Polen, ein massiver Zuzug von – meist armen – jüdischen Bevölkerungsgruppen in die Hauptstadt des Kaiserreiches statt, sodass Wien um das Jahr 1900 den dritthöchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in Europa aufwies. Statutengemäß gehörte jede/r mit ordentlichem Wohnsitz in Wien gemeldete jüdische BürgerIn 594

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 auch der Kultusgemeinde an, unabhängig von der jeweiligen Staatsbürgerschaft. Bis zum Jahre 1938 dominierte innerhalb der Gemeinde das Reformjudentum, während orthodoxe Strömungen trotz des Zuzugs einer großen Anzahl osteuropäischer Juden auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Funktionärseliten der Kultusgemeinde unterrepräsentiert blieben, der orthodoxe Kultus sich jedoch in unzähligen Bethäusern und weltlichen Vereinen auszudrücken vermochte.6 Ebenso blieben zionistische Strömungen innerhalb der Kultusgemeinde bis Anfang der 1930er-Jahre politisch marginalisiert, entfalteten aber gleichfalls ein reges Organisationsleben außerhalb der Gemeindestrukturen und erhielten umso mehr Zustrom, als sich der Antisemitismus in Wien verschärfte. 1932 wählte jedoch gerade die Wiener Gemeinde als eine der ersten jüdischen Gemeinden weltweit mit Dr. Desider Friedmann einen zionistischen Präsidenten. Im März 1938 befanden sich neben den von den Nationalsozialisten als »Glaubens­juden« eingestuften etwa 170.000 Mitgliedern der Kultusgemeinde noch etwa 34.000 bis 50.000 nach den Nürnberger Gesetzen als Juden geltende Personen aus vornehmlich mittelständischen und bildungsbürgerlichen Berufszweigen in Österreich, davon über 90 Prozent in Wien, wo sie etwa zehn Prozent der Wiener Bevölkerung stellten. Ein im September 1939 von der Gestapo angeordnetes und von der Israelitischen Kultusgemeinde erstelltes Verzeichnis der in Wien lebenden Juden registrierte allerdings nur mehr 66.380 Personen jüdischen Glaubens. »Aus dieser Kartei wurden die Namenslisten für die Nisko-Transporte und ab dem Jahr 1941 auch die Namenslisten für die Deportierungstransporte in die Gettos und Vernichtungslager« von der Zent­ralstelle für jüdische Auswanderung zusammengestellt.7 Was in Deutschland zwischen 1933 und 1938 nur schleppend voranging – die Entrechtung, Enteignung, Vertreibung und Deportation –, erfolgte in Wien nach dem März 1938 in rasanterem Tempo, wofür die erzwungene Selbstorganisation der jüdischen Gemeinde bei ihrer Vernichtung mitverantwortlich zeichnete. Von den etwa 33.000 jüdischen Gewerbebetrieben wurden circa 7.000 bereits infolge der nationalsozialistischen Machtergreifung nach dem März 1938 aufgelöst, von den restlichen 26.000 etwa 5.000 Betriebe »arisiert« und die übrigen 21.000 liquidiert, darüber hinaus etwa 60.000 Mietwohnungen entzogen und die jüdische Bevölkerung in Sammelwohnungen im und in der Nähe des 2. Bezirkes konzentriert. Im November 1941 folgte mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die den Vermögensverfall von jüdischen StaatsbürgerInnen, die sich nicht mehr auf deutschem Territorium befanden, festsetzte, auch der Zugriff auf den Besitz der Deportierten.8, 9 Insgesamt gelang etwa 130.000 jüdischen Personen die Flucht aus dem nationalsozialistisch besetzten Österreich, ca. 63.000 wurden in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet und an die 17.000 fielen dem »Euthanasieprogramm« zum Opfer.10 Zu Beginn des Jahres 1941 setzten die großen Deportationswellen aus Wien ein, die 595

irene etzersdorfer von der Israelitischen Kultusgemeinde aufgrund der Zwangskooperation mit dem Referat II-112 des Sicherheitsdienstes (sd) der ss – besser bekannt als Zentralstelle für jüdische Auswanderung oder Eichmann-Referat – selbst zu organisieren waren.11 Denn anders als im »Altreich«, wo die jüdischen Gemeindem ihren öffentlich-rechtlichen Status verloren und in private Vereine umgewandelt wurden, blieb die Israelitische Kultusgemeinde in ihrer rechtlichen Struktur aufrecht. Daher agierten ihre Funktionäre, sofern sie nicht verhaftet oder geflohen waren, weiterhin als Beamte, allerdings nunmehr im Solde der Nationalsozialisten. De facto jedoch war ihnen die Führung der Gemeinde entzogen worden, ihre Vertreter fungierten lediglich als Statisten in einem »Vollzugsorgan der staatlichen Behörde«, gleichzeitig entwickelte sich das 1. Modell eines sogenannten Judenrates. Im November 1942, nach Flucht und Deportation der überwiegenden Mehrheit an Wiener Juden, verfügten die Nationalsozialisten die Auflösung der Kultusgemeinde sowie die Installierung eines Ältestenrates, dem der frühere Amtsdirektor der ikg, Josef Löwenherz, weiter vorstand. In dieser erzwungenen Doppelfunktion des Amtes – einer von den jüdischen Mitgliedern wie den Nationalsozialisten verliehenen »Autorität« – hatte die Kultusgemeinde im Zusammenwirken mit anderen jüdischen Organisationen wie dem Palästina-Amt und dem Dachverband des zionistischen Landesverbandes, zu ihrer eigenen Vernichtung beizutragen, sie geradezu selbst zu organisieren.12 In Ermangelung von Sondermitteln für den Vernichtungsprozess erwies sich die Ausnützung vorhandener jüdischer Strukturen als effizienter Schachzug im Sinne der ns-Logik, und das in Wien erprobte Judenräte-Modell entwickelte sich zum Vorbild für andere Städte. Wie der deutsch-amerikanische Historiker R. Hilberg hervorhob, beruhte tatsächlich ein »beachtlicher Teil des Gesamtprozesses … auf jüdischer Mithilfe – seien es die einfachen Handlangungen einzelner oder die organisierte Tätigkeit der Räte. (…) Es gab auch die institutionalisierte Willfährigkeit der Judenräte, die Hilfskräfte, Büroangestellte, Sachverständige und Spezialisten beschäftigten. Während der Konzentrationsphase übermittelten die Räte die deutschen Forderungen an die jüdische Bevölkerung und händigten den Deutschen die jüdischen Vermögenswerte aus, wodurch sie die Durchschlagskraft der Täter beträchtlich erhöhten«.13 Zwar wurden die Deportationslisten nicht von der Kultusgemeinde, sondern von der nsZentralstelle erstellt, jedoch blieb den Funktio­nären ein kleiner Spielraum für die Manipulation der Deportationslisten, sodass einige Wenige gerettet werden konnten – allerdings zumeist im Austausch gegen andere Personen. Es war gerade diese Dynamik, die nach 1945 im innerjüdischen Selbstreflexionsprozess zu erheblichen Schuldzuweisungen führte und die jüdischen Gemeinden mit einer schweren Hypothek belastete. Hinzu kamen weitere, damit in Zusammenhang stehende Vorwürfe ob der trägen Reaktion der Kultusgemeinde, die erst in den Jahren zwischen 1941 und 1943 erkannte, dass sich hier keine sogenannte Pogromgeschichte wiederholte, 596

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 die es zu ertragen galt, sondern ein industriell betriebener Vernichtungsprozess im Gange war, der die Auslöschung des europäischen Judentums zum Ziel hatte. Tatsächlich war bei Kriegsende von einer der größten jüdischen Gemeinden Europas lediglich eine Transitstelle für jüdische Displaced Persons (dps) aus Osteuropa auf dem (illegalen) Weg nach Palästina, ohne Hoffnung auf eine Wiederbelebung jüdischen Lebens in Wien, übrig geblieben.14 Diese überaus triste Lage der sich damals in Wien sammelnden Überlebenden beschrieb der polnische kz-Überlebende Leon Zelman, später Leiter des Jewish Welcome Service in Wien und selbst einer der Gestrandeten, dem es später gelang, zu einer positiv besetzten Identität als Wiener Jude zu finden  : »Jene, die sich darin fügen mußten, sich hier einzurichten, die sich damit abgefunden hatten, hier zu bleiben, bildeten den Kern der heutigen jüdischen Gemeinde … Langsam formten sich einige für unser damaliges Leben und Überleben wichtige Knotenpunkte in der Stadt. In der Kleinen Pfarrgasse in der Leopoldsstadt – in der russischen Zone also – war die Essensausgabe des joint  ; in der Seittenstettengasse und damit in der internationalen Zone befand sich die Kleiderausgabe …  ; im Café Blumenfeld auf dem Urban-Loritz-Platz trafen sich die Sportler des wieder gegründeten S. C. Hakoah, auch Purimfeste und Zusammenkünfte aller Art fanden dort statt. Aus diesen informellen Treffpunkten und Kommunikationsorten entwickelte sich nach und nach so etwas wie eine lebendige Infra­struktur (…) Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, daß Wien wieder zu einem lebenswerten, wie auch für Juden lebenswerten Platz werde.«15 Trotz der deplorablen Ausgangslage entstand eine neugegründete Israelitische Kultusgemeinde in Wien, diese aber beabsichtigte zunächst lediglich die vollständige Liquidierung jüdischen Lebens in Wien einzuleiten. Finanziell vollständig von der us-amerikanischen Hilfsorganisation des Joint Distribution Committee (joint) abhängig, zählten zu ihren vordringlichsten Aufgaben direkte Überlebenshilfen der in Wien hängen gebliebenen Überlebenden, die Alimentierung von Ausspeisungen, Schulen, Krankenanstalten und die Altenpflege sowie die Instandsetzung der religiösen Stätten. Formal unterstand die ikg bis Ende 1945 dem Ressort des kommunistischen Staatssekretärs Ernst Fischer, später gelangte es unter sozialistische Führung, sodass – ganz im Gegensatz zur politischen Ausrichtung der ikg vor 1938, die eine bürgerliche war – die Riege der Nachkriegsfunktionäre überwiegend aus den Reihen der Kommunisten, Sozialisten und linken Zionisten stammte. Ideologiegemäß traten daher die genuin religiösen Agenden der Kultusgemeinde zugunsten politischer Ziele in den Hintergrund. Eine den Kommunisten nahestehende Einheitsliste übernahm bis 1948 und erneut 1950/51 auch die Führung der Kultusgemeinde, ab 1952 stellte der mit den Sozialisten assoziierte Bund die absolute und ab 1977 die relative Mehrheit im Vorstand.16 Seit 1948 amtierte wieder ein – politisch zionistischer – Oberrabbiner (Akiba Eisenberg) in Wien. Er gab 1983 das Amt an seinen Sohn (Paul Chaim Eisenberg) weiter. Als Ent597

irene etzersdorfer schädigung für die im Novemberpogrom zerstörten 93 Synagogen erhielt die ikg dreißig Millionen Schilling von der Republik Österreich. Da die ikg Funktionäre in ihren linksorientierten politischen Überzeugungen mehrheitlich gegen den amerikanischen joint standen – obgleich sie finanziell völlig von ihm abhängig waren –, entspann sich eine Art »Kalter Krieg« auch innerhalb der jüdischen Gemeinde.17 Gleichzeitig rekrutierte sich der Neuzuzug aus unterschiedlichen Fluchtwellen osteuropäischer Flüchtlinge, welche in religiöser Hinsicht mehrheitlich der in Wien längst überwundenen Orthodoxie anhingen. Sie brachten jedoch auch einen für die Psychohygiene im Nachkriegswien funktionalen Vorteil mit  : Gemäß ihres anderen Erfahrungshorizontes bezogen sich ihre persönlichen traumatischen Erfahrungen nicht vornehmlich auf Wiener MitbürgerInnen, sondern auf Diskriminierungen und Verfolgungen in den ferneren Heimatgebieten, sodass viele im Gepäck auch ein romantisch verklärtes Bild der ehemaligen Kaiserstadt als Fundament einer positiven Wien-Beziehung importierten – ein »kulturelles Kapital« und Vermögen, das ihrer Integration förderlich war, wenngleich es den Erfahrungen der vergleichsweise wenigen Remigranten entgegenstand. Innerhalb der jüdischen Gemeinde blieben ­soziale Zusammenschlüsse oft und lange auf »Landsmannschaften« bezogen. Ende 1945 zählte die Jüdische Gemeinde knapp 4.000 Mitglieder, darunter befanden sich etwa 1.700 Überlebende der Konzentrationslager, 822 Männer und 905 Frauen, allerdings nur rund 250 Remigranten aus Exilländern sowie knapp 2.000 – also 50 Prozent – sogenannte »Restjuden«, worunter ehemalige »Privilegierte« – also jene von den Nationalsozialisten als Funktionsjuden und Funktionsjüdinnen Titulierten, die in Wien – meist zur Altenpflege – verblieben waren, ebenso befanden sich darunter Personen, die sich zum Judentum bekannten, aber im orthodoxen mosaischen Verständnis nicht als jüdisch galten.18 Eine weitere Vergrößerung erfuhr die jüdische Gemeinde durch etwa 3.000 in Wien verbliebene ehemalige Displaced Persons und neue Flüchtlinge aus Polen und Rumänien, 1956 durch weitere aus Ungarn und 1968 aus der Tschechoslowakei, die zumindest temporär in Wien blieben, sowie nach 1988 durch schließlich etwa 5.000 in Österreich eingebürgerte russische Juden, die sich jedoch nur zum Teil als Mitglieder der Kultusgemeinde eintragen ließen.19 Insgesamt schwankte die Mitgliederzahl der Kultusgemeinde nach 1945 zwischen 6.000 und 8.000 Mitgliedern. Unter ihnen befanden sich auch jene zumindest für einige Zeit zurückgekehrten »Alt«-Wiener, insgesamt etwa 5.000 Personen. Einerseits zeugt dies von einer sehr niedrigen Rückkehrrate im Verhältnis zu den etwa 130.000 Vertriebenen, im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern und eingedenk der äußerst schlechten Lebensbedingungen im Wien der Nachkriegszeit handelt es sich dennoch um eine große Anzahl, obgleich diese Zahlen nur Richtwerte darstellen, da bei Weitem nicht alle RückkehrerInnen der Kultusgemeinde beitraten, andere in den Nachkriegsjahren bereits verstarben oder Österreich auch 598

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 wieder verließen. In den Emigrationsländern hemmte der Einfluss vehement der für eine Zuwanderung nach Palästina werbenden zionistischen Organisationen neben anderen Einflussfaktoren wie eine gute Integration im Exilland sowie Berichte über den weiter bestehende Antisemitismus in Österreich, potentielle Rückkehrpläne nach Österreich. Hinzu kam, dass sich nach der Ausrufung des Staates Israel im Mai 1948 für alle Juden die Perspektive einer neuen Existenz in der eigenen, national verfassten Gemeinschaft eröffnete. In Österreich lebende Juden griffen diese Option allerdings nur vereinzelt auf, wie grundsätzlich der Einfluss des Zionismus hierzulande vergleichsweise gering blieb und auch nach 1938 nur 7 Prozent der aus Österreich Vertriebenen – etwa 9.000 Personen – eine neue Heimat in Palästina fanden. Aus Palästina kehrten bis zum Jahre 1952 wieder 787 Personen nach Österreich zurück, die Hälfte hatte bereits ein höheres Lebensalter (über 63 Jahre) erreicht.20 In Bezug auf die Rückkehrmotivationen der »Alt«-Wiener gilt es, vor allem zwei große Gruppen zu unterscheiden  : jene Personen, die am politischen Aufbau Öster­ reichs teilhaben wollten und aufgrund ihrer parteilichen Einbindung sich auch Posten im Nachkriegsösterreich versprechen konnten, und ältere, kranke Personen, deren Integration in den Fluchtländern nicht geglückt war, die sich daher in ihrer Heimat Wien Rente und Fürsorge erhofften, sofern sie ihre österreichische Staatsbürgerschaft beibehalten hatten. In ihrer Mehrzahl stammten die unpolitischen RückkehrerInnen aus Exilländern mit schwierigen Lebensbedingungen, allen voran aus Schanghai, jedoch auch aus Israel/Palästina.21 Rückwanderungsagenden oblagen zur Gänze der Kultusgemeinde, die im Juni 1946 ein eigenes »Wanderungs­referat« einrichtete, das sich der Rückkehr österreichischer Juden aus den Asylländern annahm. Mit äußerst bescheidenen Mitteln und kaum Unterstützung vom österreichischen Staat bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, eine Rückstellung der Mietrechte zu erwirken, versuchte die Kultusgemeinde, Unterkünfte für die kz-Überlebenden und Remigranten zu finden. Dennoch waren viele gezwungen, jahrelang in überfüllten jüdischen Heimen auszuharren, bis geeignete Wohnungen – meist nicht die früheren eigenen – gefunden werden konnten. Wie einem Bericht des Präsidiums der ikg über ihre Tätigkeit in den Jahren 1945–1948 zu entnehmen ist, bedurfte es langwieriger Interventionen bei den Verantwortlichen der Gemeinde Wien, um überhaupt vorübergehende Unterkünfte im Nachkriegswien zu erhalten  : »Erst nach sehr mühevollen Verhandlungen gelang es uns, bei der Gemeindeverwaltung Wien das Prinzip durchzusetzen, dass sie verpflichtet ist, den Heimkehrern, soweit sie Österreicher sind, entsprechende Unterkunft zu verschaffen. Aber erst das Eingreifen des Bürgermeisters Dr. Körner veranlasste das Wohnungsamt der Gemeinde Wien, für alle, die nicht bei ihrer Familie Unterkommen fanden, Hotelzimmer zu beschlagnahmen, vorbehaltlich einer Refundierung der Kosten durch das Finanzministerium.«22 599

irene etzersdorfer Aus Überzeugung kehrten vor allem diejenigen nach Wien zurück, die sich auch im Exil politisch betätigt hatten – darunter mehrheitlich SozialistInnen und KommunistInnen –, deren jüdische Identität jedoch zumeist schon vor 1938 in den Hintergrund getreten war. Ihre Rückkehr korrespondierte auch mit einem gewissen Legitimitationsdruck zum Nachweis des politischen Widerstandes, dem das offizielle Österreich vonseiten der Alliierten in der Moskauer Deklaration ausgesetzt war. Darüber hinaus verwies das politische Engagement der jüdischen RückkehrerInnen auf eine ideelle, über egoistische Interessen hinausgehende Bindung an Österreich, gewissermaßen belegte es Sinn für das Gemeinwohl, das im antisemitischen Diskurs den Juden als vermeintlich »vaterlandslosen Gesellen« stets in Abrede gestellt wurde – wobei es sich im Falle der österreichischen Kommunisten nach 1945 um das politische Ziel einer Moskau-treuen Diktatur handelte. Aufgrund der durch die Moskauer Deklaration legitimierten »Opferthese«-Doktrin, der zufolge Österreich als »okkupierter« Staat zwischen 1938 und 1945 nicht existierte und daher keine Mitschuld am Holocaust zu tragen hatte, unterblieben Rückholprogramme, wenngleich es vonseiten einzelner Funktionsträger – wie etwa dem damals kommunistischen Stadtrat für Kultur- und Volksbildung, Viktor Matejka – große Anstrengungen zur Rückkehr von Wiener Holocaust-Überlebenden gab.23 In diesem Sinne postulierte das offizielle Österreich nach 1945 mit Vorliebe eine »Gleichheit« von Juden und Österreichern als Opfer des Nationalsozialismus und war lange mit Erfolg bestrebt, sich einer gesonderten Kategorisierung der Hauptgruppe von jüdischen Opfern zu widersetzen. Im Regelwerk des 1947 erlassenen Opferfürsorgegesetzes standen Unterstützungsleistungen zunächst den Opfern des politischen Widerstandes zur Verfügung, während »nur« rassisch Verfolgte bis zum Jahre 1969, als auch Flucht als Verfolgungstatbestand anerkannt wurde, außen vor blieben. Gemäß dieser politischen Haltung äußerte sich der erste gewählte Bundeskanzler der Zweiten Republik, selbst politisches kz-Opfer, der christlich-soziale Leopold Figl, im Oktober 1946 in Bezug auf jüdische Rückkehrer  : »Wenn sie zurückkommen, werden sie uns genauso willkommen sein, wie alle anderen Österreicher.« Derselbe Bundeskanzler fügte mahnend an, die Juden mögen sich nicht als Fremdkörper bezeichnen, »sondern als gute Öster­reicher am Wiederaufbau unseres gemeinsamen Vaterlandes mitwirken.«24 Mit solchen Worten, in denen jeglicher Hinweis auf die jüdische Katastrophe unterblieb, suchte der Kanzler, wie auch Politiker anderer Parteien, in überschwänglichen vaterländischen Bekenntnissen eine Gemeinschaft der Opfer ohne die besondere Identität und die Einzigartigkeit des Holocaust heraufzubeschwören.25 In Anbetracht des ungeheuren Elends, das der Krieg verschuldete, käme der österreichischen Politik nun vorrangig die Pflicht zu, sich um eine Normalisierung der Situation, nicht aber um die Befriedigung von »Partikularinteressen« – damit war die Situation der öster­ reichischen Juden gemeint – zu bemühen. Dieser Standpunkt ignorierte freilich, dass 600

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 etwa ein Drittel der erwachsenen ÖsterreicherInnen aktive Nationalsozialisten gewesen waren, viele bei den »Arisierungen« »zugriffen, wo sie nur konnten«26 und darüber hinaus sich an den Verfolgungen sowie am Vernichtungsprozess überzeugt beteiligten, dass es keinen nennenswerten Widerstand gegen die Okkupation gegeben hatte und dass der Antisemitismus bereits in der Zwischenkriegszeit ein manifestes gesellschaftliches Phänomen gewesen war, wenngleich er vor 1938 nicht zum politischen Programm wurde.27 Zu den vordringlichsten politischen Aktivitäten der unterschiedlichen jüdischen Vertretungen – neben der Israelitischen Kultusgemeinde agierten noch zahlreiche andere Vereinigungen, die jeweils unterschiedliche politische Richtungen vertraten – zählte neben der Unterstützung bei der (Re-)Integration der Kampf um Rückstellungen und Entschädigungsleistungen. Schätzungen der Kultusgemeinde zufolge, die ab 1947 Verzeichnisse anlegte, belief sich das entzogene Vermögen auf etwa 150 Milliarden Dollar, wobei ein nicht genau bestimmbarer Teil ins Deutsche Reich verbracht worden war. An die zwanzig jüdische Organisationen unter Führung des »Committee for Jewish Claims on Austria« beteiligten sich an den Verhandlungen mit den österreichischen Regierungen, die zunächst weiterhin auf die Moskauer Deklaration abstellten und nur unter amerikanischem und britischem Zwang ihren Standpunkt zu ändern begannen.28 Zwar galten alle während der nsHerrschaft unter Zwang erfolgten Rechtshandlungen, die natürlichen oder juristischen Personen Vermögen oder Vermögensrechte entzogen, die ihnen am 13. März 1938 zustanden, bereits durch das Bundesgesetz vom 15. Mai 1946 – im Grunde bereits durch die »Londoner Erklärung« vom 5. Jänner 1943 von den Alliierten vorweggenommen – als nichtig, doch ergab sich daraus allein noch keine Restitutionspflicht, geschweige denn ein geregeltes Prozedere ihrer faktischen Umsetzung. Restitutionspflichten der Republik Österreich entstanden sodann aus dem Artikel 26 des österreichischen Staatsvertrages von 1955 – und zwar sowohl zur Individual- als auch zur Kollektivrestitution sowie zur bedingten Entschädigung.29 Es oblag daher dem österreichischen Staat, Vermögensentzieher ausfindig zu machen. Dies wurde über den Erlass der Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung (veav) gewährleistet, parallel dazu konnten die Geschädigten, euphemistisch auch als »Rückstellungsbegünstigte« bezeichnet, über sieben zwischen 1946 und 1949 erlassene Rückstellungsgesetze – innerhalb oft empörend kurzer Fristen – bei entsprechenden Rückstellungskommissionen ihr Vermögen geltend machen. Da jedoch etwa ein Drittel der Vorbesitzer ermordet oder im Exil verstorben war und sich in den Jahren der Rückstellungsgesetzeserlässe nur etwa 10 Prozent der Enteigneten bzw. ihrer Nachkommen in Österreich aufhielten, erfolgten 90 Prozent der Antragstellungen aus 35 verschiedenen Exilländern, davon etwa ein Drittel aus den usa.30 Über teils langwierige und oft mit unglaublichem Zynismus gegen die 601

irene etzersdorfer Enteigneten und ihre Nachkommen ausgetragenen Verfahren wurden insgesamt etwa 70 Prozent des entzogenen Liegenschaftsvermögens rückgestellt, wenn auch oft mit erheblichen finanziellen Verlusten für die jüdischen Opfer. Ca. 30 Prozent verblieben im Eigentum der »Ariseure«, die früheren Eigentümer wurden – meist über außergerichtliche Vergleiche und vor allem bei kleinen Werten – finanziell entschädigt.31 Das 1. Rückstellungsgesetz restituierte Vermögen, die sich in der Verwaltung des Bundes oder der Bundesländer befanden. Darunter fiel auch jener Besitz, der durch verwaltungsbehördliche Verfügung, wie die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. 11. 1941, Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmte, nach 1945 der Verwaltung des Bundes oder der Bundesländer unterstand. Im 2. Rückstellungsgesetz wurde die Rückstellung jener Vermögen geregelt, die sich im Eigentum der Republik Österreich befanden, und betraf vor allem Eigentum, das Nationalsozialisten den ns-Opfern entzogen hatten und aufgrund der Entnazifizierungsmaßnahmen dem Staat zufiel. Unter das 3. RüG fiel das Gros der »Arisierungen«  : Es behandelte entzogene Vermögen, die sich in der Hand von Einzelpersonen, Firmen oder Institutionen befanden. Im Falle immobilen Besitzes bildete die grundbücherliche Verankerung eine sichere Nachweisbasis, die bei mobilem Vermögen nicht oder nur in eingeschränktem Maße gegeben war. Die Gesetze 4–7 stellten mehr oder weniger Ergänzungen für in den ersten drei Gesetzen nicht berücksichtigte Materien dar, wie etwa gelöschte Firmennamen (4. RüG), die Ansprüche juristischer Personen (5. RüG), Marken-, Muster- und Patentrechte (6. RüG) sowie Ansprüche von Dienstnehmern (7. RüG), bei welchen zum Teil keine Rückstellung zu leisten war, sondern die Entziehung und Behinderung der Ausübung geregelt wurde.32 Bei etwa der Hälfte des restituierten Liegenschaftseigentums kam es innerhalb der nächsten zehn Jahre nach der Rückstellung zu einer Wiederveräußerung – und zwar zu Preisen, die weit unter dem Wert vom März 1938 lagen, obwohl die Rückstellung auch dann zwingend war, wenn vonseiten des »Ariseurs« eine angemessene Gegenleistung erbracht wurde, es sei denn, es wurden im Rückstellungsverfahren selbst entsprechende Vergleiche geschlossen. Dies war aufgrund der nunmehrigen oder anhaltenden Zwangslagen der Opfer oft genug der Fall, denn nicht nur zwang die den Opfern auferlegte Verpflichtung zur Rückerstattung des Kaufpreises, soweit dieser zur freien Verfügung gestanden und nicht für Zwangssteuern aufgegangen war, zur Veräußerung des restituierten Gutes, sondern auch die durch Verfolgung und Entwurzelung entstandene Lebenslage erforderte häufig den Wiederverkauf – Umstände, die in den Wiedergutmachungsmaßnahmen keine Berücksichtigung erfuhren. Erblose Vermögen mündeten mit dem Auffangorganisationsgesetz von 1957 schließlich in zwei Sammelstellen, welchen auch die Verwertung des Vermögens oblag – Sammelstelle A übernahm Fälle jüdischer Personen, die am 31. 12. 1937 der israelitischen Religionsgemeinschaft 602

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 angehört hatten und schloss daher jene unter die Nürnberger Rassegesetze fallenden Personen aus, die nicht mehr Mitglieder der Kultusgemeinde waren. Sammelstelle B übernahm jene Fälle, für die Sammelstelle A nicht zuständig war, d. h. erbloses Vermögen der als Juden Verfolgten, die nicht Mitglied der Kultusgemeinde gewesen waren, sowie jenes der politisch Verfolgten.33 Bis spätestens Ende 1947 war für die meisten Restitutionsfragen eine gesetzliche Regelung gefunden worden, die 25.000 bis 30.000 Rückstellungsverfahren ermöglichte. 34 Keiner gesetzlichen Regelung unterlagen jedoch die etwa 60.000 entzogenen Miet­rechte sowie bewegliche Güter, darunter wertvolle Kunstgegenstände, die als sogenanntes »herrenloses Gut« Aufnahme in österreichische Bundesmuseen fanden bzw. an einem eigenen Ort – der Kartause Mauerbach am Stadtrand von Wien – gelagert waren, obwohl in nicht wenigen Fällen es keiner aufwendigen »Provenienzforschung« bedurft hätte, um die Vorbesitzer zu eruieren. Im Falle der Mietrechte verhinderten handfeste politische Interessen quer durch die Parteienlandschaft deren Restitution, zumal die wenigen tatsächlichen Rückkehrer quantitativ kaum ins Gewicht fielen und der Wohnungsbestand durch die Bombardierungen dezimiert war. Trotz mehrerer im Nationalrat eingebrachter Gesetzesentwürfe und »trotz vehementen Drucks seitens der Westalliierten« beharrte die Republik Österreich bis 1956 aus Angst vor der Unpopularität der Rückstellung in der Bevölkerung auf dem Standpunkt, dass diese Rechte bereits erloschen waren.35 Obwohl die Kultusgemeinde wie auch die Stadt Wien fallbezogen Wohnungen für jüdische RückkehrerInnen organisieren konnten, wurde eine Entschädigung für entzogene Mietrechte erst ab 2001 durch eine Kompetenzerweiterung des bereits 1995 errichteten Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (BGBl. Nr. 432/1995) erreicht. Generell dominierte in Bezug auf die praktische Umsetzung wie auch die Konsequenzen so mancher formal korrekt rückgestellter Vermögenswerte unter den Geschädigten große Unzufriedenheit, auch wenn in objektiver Hinsicht Autoren wie Simma u. Folz (2004) zu Recht zu dem Schluss kommen, dass die Republik Öster­reich ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Staatsvertrag größtenteils erfüllte und teilweise darüber hinaus ging.36 Die Rückstellungspraxis wies jedoch nicht nur in Einzelfällen, sondern auch in ihrer Rechtspraxis skandalöse Urteile auf, an deren Parteilichkeit für die »Ariseure« nicht zu zweifeln ist. »Die konkreten Umstände im Zusammenhang mit den Rückstellungsverfahren lassen es nachvollziehbar erscheinen, dass bei vielen Überlebenden und den Erben der Ermordeten in Anbetracht der vorangegangenen Beraubung das Gefühl einer »zweiten Enteignung« aufkam. Die formell hohe Rückstellungsquote sollte darüber nicht hinweg täuschen«.37 Es mag nicht verwundern, dass sich trotz faktisch erfolgter Rückstellungen bei der Mehrheit der Remigranten der Eindruck verdichtete, nach wie vor unwillkommen zu sein – 603

irene etzersdorfer eine Wahrnehmung, die F. Wilder-Okladek (1969) treffend zu beschreiben wusste  : »While laws ensuring indemnification and restitution were promulgated right from the date of capitulation, actual restitution is a story of continuous procrastination, hesitation and delay«.38 Heute gilt als erwiesen, was das offizielle Österreich bis in die 1990er-Jahre konsequent bestritt  : Die Republik Österreich versuchte in manchen Bereichen mit Hinhalte- und Verzögerungstaktiken die Restitution jüdischen Vermögens sowie Entschädigungszahlungen zumindest »in die Länge zu ziehen«39, wodurch etwa bei der Restituierung von Miet- und anderen Bestandsrechten oder der Zwangsarbeiter-Entschädigung, besondere Härten entstanden.40 Erst der Generationenwechsel in Zusammenhang mit der Forcierung zeithistorischer Recherchen bewirkten eine allmähliche Haltungsänderung in Österreich, dessen offizielle Vertreter in den 1990er-Jahren eine zumindest moralische Mitschuld Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus anzuerkennen bereit waren, wie dies auch der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky in einer Parlamentsrede im Jahre 1991 erstmals formulierte. Darüber hinaus boten periodisch auftretende politischen Skandale und Kontroversen um verleugnte ns-Karrieren – sei es die Bestellung von Ministern mit nsVergangenheit, wie es etwa der Kanzler jüdischer Herkunft, Bruno Kreisky, paradoxerweise, jedoch teilweise in Unkenntnis dieser Vergangenheit in den 1970ern vornahm, oder die freundliche Begrüßung des verurteilten ns-Kriegsverbrechers Walter Reder durch den damaligen fpö-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager und schließlich die Affäre um den seine ns Vergangenheit hartnäckig verleugnenden Präsidentschaftskandidaten und früheren Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kurt Waldheim – Gelegenheit zur massenmedialen Dissemination von jenen neuen zeithistorischen Erkenntnissen, die das offizielle Österreich jahrzehntelang zu unterdrücken versuchte – nicht zuletzt deswegen, weil sich die Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die beiden großen Parteien spö und övp in etwa die Waage hielt. Erst die Einrichtung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus im Jahre 1995 – zum 50. Jahrestag der Zweiten Republik – und erst nachdem Bundeskanzler Franz Vranitzky Österreichs Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus 1991 im Parlament anerkannt hatte – ermöglichte eine (symbolische) finanzielle Entschädigung für Mietrechtsentzüge sowie Hausrat und persönliche Wertgegenstände in der Höhe von 7.000 us-Dollar, bis schließlich mit den Ergebnissen der breit aufgestellten, 1998 ins Leben gerufenen österreichischen Historikerkommission sowie von Einzelkommissionen zur Erforschung im Banken- und Sparkassensektor bisherige Lücken in der Entschädigung abgegolten werden konnten und diese Maßnahmen im Washingtoner Abkommen von 2001 ihr vorläufiges Ende fanden. Parallel zu den Restitutionsverhandlungen oblagen dem Nationalfonds auch »erblose« arisierte Kunstgegenstände, während 604

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 parallel das Kunstrückgabegesetz 1998 eine Durchforstung der österreichischen Museumslandschaft bedingte und zur Rückgabe von geraubten Kunstgegenständen führte – verspätete Maßnahmen, die nur mehr eine kleine Gruppe aus der Opfergeneration erreichten. Die Frage nach Identität und Lebensgefühl der jüdischen Bevölkerung in Wien nach 1945 kann nur unter Einbeziehung des Holocausts als »konstitutives Merkmal« jeder Ausprägung jüdischer Identität jenseits gruppenspezifischer oder individueller Bewältigungsstrategien gestellt werden  : »Die Bewältigungsstrategien sind freilich vielfältiger Natur  : Ob sich jemand als Österreicher und Jude fühlt, oder als Jude mit österreichischem Paß  ; ob jemand sein Jude-Sein als inneres Bedürfnis definiert, oder als Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft  ; ob sich jemand als Jude deklariert, oder sein Jude sein lieber verschweigt  : all dies sind Entscheidungen subjektiver Natur.«41 Dem kollektiven »Gemeint Sein« war – anders als vor dem Holocaust – nach 1945 subjektiv auch dann nicht mehr zu entkommen, wenn weder Glauben noch sonstige kulturelle Traditionen an das Judentum banden. Eine objektive Gebundenheit an das Judentum als »Schicksalsgemeinschaft«– »in welcher jeder Jude ist, der, hätte er 1942 gelebt, für den Tod in der Gaskammer in Frage gekommen wäre« –, lag daher den individuellen Lebensentwürfen zugrunde, ganz gleich, ob sie zu einer Annäherung oder völligen Abkehr vom institutionalisierten Judentum führte.42 In diese Auseinandersetzung mischte sich auch die – oft nicht bewusst werdende – Enttäuschung über die von Juden mit der Waffe unterstützten Siegermächte, die dennoch den Juden im Holocaust nicht zu Hilfe kamen. Neben der Zugehörigkeit zur Gruppe der Überlebenden bestand eine weitere Gemeinsamkeit der in Österreich lebenden jüdischen Gemeinschaft in der – je nach Umfeld gelegentlichen bis häufigen – Alltagserfahrung eines perpetuierten Antisemitismus innerhalb der österreichischen Gesellschaft, der, in Zusammenhang mit den verzögerten und bisweilen hostilen Restitutionspraktiken sowie der Erfahrung, dass so manche ns-Mörder unverurteilt unter ihnen lebten, die Tendenz zur Selbstgettoisierung unterschiedlicher jüdischer Gruppen verstärkte und gleichzeitig eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte blockierte.43 Als insgesamt »wackeliges Kartenhaus« aus »schmerzlichen Erfahrungen und hoffnungsvollen Phantasiebildern« beschreibt die Wiener Historikerin Ruth Beckermann die Identitätssuche ihrer jüdischen Umgebung nach 1945, ein Prozess, der zunächst nicht in den erwarteten und verständlichen Anklagen gegen die Täter gipfelte, sondern ähnliche psychische Reaktionsmuster des Vermeidens, Verschweigens und Anpassens zeigte wie auf der Täterseite und auch ähnliche Kritik der »gebundenen Delegierten« in der nächsten Generation am Verhalten der Elterngeneration hervorbrachte.44 »Die Auseinandersetzung mit der Vernichtung der Juden geschah damals in sehr abstrakter und verschämter Weise. Jeder wusste irgendetwas, jeder hatte etwas Komisches an seinen 605

irene etzersdorfer Verwandten bemerkt, doch keiner kannte eine zusammenhängende Familiengeschichte. Alles, was mit der Zeit der Verfolgung zu tun hatte, war mit großer Angst und Scham verbunden. Es war eine Wunde, die man nicht berühren wollte, die man verdeckte und versteckte.«45 Parallel zur Verleugnung der (Mit-)Schuld aufseiten der TäterInnen und MitläuferInnen verbreitete sich auch unter den Opfern eine Mauer des Schweigens, die, zumeist aus Scham oder Schonung gegenüber den eigenen Kindern, eine Auseinandersetzung mit der Generation der Nachgeborenen bis über die 1960er-Jahre hinaus verhinderte. Die alle jüdischen Milieus erfassende gemeinsame Klammer bildete der Staat Israel, seine die Ideale des Zionismus verwirklichenden »neuen Juden«, die zugleich Abschied vom und Antithese zum »Gallut«-Juden verkörperten. Es war dies ein Identifikationsangebot, das auch auf die Nachkriegsgeneration außerhalb Israels einwirkte und – zusammen mit anderen Einflussfaktoren – zu einer Ablehnung der Opfer­stigmatisierung wie auch zu einer Kritik an der Selbstgettoisierung der Überlebendengeneration führte. Die Loyalität zu Israel war jedoch für die Fernbleibenden auch mit Schuldgefühlen behaftet, denn es galt die Entscheidung zu legitimieren, dem Leben in einem (Mit-)Täterland den Vorzug vor der tatkräftigen Unterstützung am Aufbau des als »eigen« empfundenen Staatswesen zu geben und damit die eigenen Nachkommen einer österreichischen Mehrheitsbevölkerung auszusetzen, die in den Juden Projektionsfiguren für die eigene Abwehr von Schuld, Scham und Trauer suchte. Nicht selten griffen die jüdischen Opfer dabei zu den gleichen Abwehrmechanismen wie ihre potenziellen Verfolger, indem sie den Nationalsozia­lismus als überwiegend deutschen Bazillus interpretierten und demgegenüber die Österreicher in Schutz zu nehmen tendierten – eine Haltung, die erst in der zweiten Generation der Überlebenden in Zusammenhang mit einer beginnenden realitätsgerechteren politischen Aufarbeitung der Mitschuld an den ns-Verbrechen in Österreich aufbrach, was durchaus auch zu gesellschaftspolitischen Prozessen führte, die sowohl den Nachgeborenen aus nichtjüdischen Familien als auch den Kindern der Opfer eine differenziertere Sichtweise ermöglichte.46 Daraus resultierende »antifaschistische« Allianzen vor allem mit der politischen Linken hielten in den 1980er-Jahren und über die »Affäre Waldheim« hinaus, führten aber letztlich innerhalb der jüdischen Welt zur Erkenntnis, dass im Zeichen des Sozialismus partikularistische ethnische Identitäten nicht anerkannt werden. Die Desillusionierung über den Kommunismus hatte bereits früher stattgefunden, als kommunistische Parteien in den osteuropäischen Ländern antisemitische Kampagnen starteten und ihre Parteien von jüdischen Funktionären säuberten. Obzwar unter erheblichen Schwierigkeiten – und bis 1960 vorwiegend aus amerikanischen Quellen finanziert –, gelang es der in sich heterogenen Wiener jüdischen Gemeinde, zahlreiche kulturelle und religiöse Institutionen sowie Fürsorgeeinrichtungen aufzubauen. Erst ab Ende der 1970er-Jahre, vor allem aber, als es nach der 606

die wiener jüdische gemeinde nach 1945 »Affäre Waldheim« 1986 galt, dem internationalen Ausland die Existenz einer dynamischen Wiener jüdischen Gemeinde vorzuführen, beteiligte sich der öster­reichische Staat bzw. die Gemeinde Wien verstärkt an der Gründung jüdischer Institutionen wie dem Jewish Welcome Service (1980), dem Wiener Jüdischen Museum (1988) oder dem Jüdischen Institut für Erwachsenenbildung (1989) sowie etlichen Schulen und Weiterbildungszentren wie etwa die Erweiterung der Zwi-Perez-Chajes-Schule um ein Oberstufengymnasium (ab 1983), der Lauder Business School (2005) im Range einer Fachhochschule sowie dem leider erst 1994 gegründeten psychosozialen Zentrum esr a, das sowohl Überlebenden der ns-Verfolgung als auch der jüdischen Bevölkerung insgesamt Hilfe anbietet. Zusammenfassend lässt sich daher behaupten  : Die jüdische Gemeinde in Wien ist nach 1945 nicht »Wiedererstanden«, da Kontinuitäten Shoah-bedingt nur in mikro­skopischem Ausmaß bestanden, es sich eigentlich um keine echten Kontinui­ täten handelte, denn der Zivilisationsbruch, wie er durch die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten verursacht wurde, betraf und »meinte« die gesamte europäische Judenschaft. Wer überlebte und sich nach 1945 zu einem Leben in postnationalsozialistischen Gesellschaften entschloss, nahm auf sich, unter echten und potenziellen Mördern zu leben. Da jedoch die Nürnberger Rassegesetze eine weitaus größere Bevölkerungsgruppe als die mosaische Religionsgruppe umfasste und viele der unter die ns-Kategorie »Juden« fallenden Personen assimiliert waren, d. h. in ihrem Selbstverständnis keine jüdische Identität mehr besaßen, lässt sich eine Abgrenzung auf eine jüdische Wiener Bevölkerungsgruppe auch nach 1945 nicht treffen. Innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde dominierten in unterschiedlichen Wellen erst nach 1945 aus Osteuropa zugezogene Juden, die auch einen anderen Erfahrungshintergrund mitbrachten, während die »Alt-Wiener« Remigranten eine kleine, wenn auch anfangs führende Minderheit ausmachten. In ihren Identitäten zwar äußerst pluralistisch, bildeten neben der Verarbeitung des Holocausts die Auseinandersetzung mit dem »eigenen« Staat Israel sowie der latente Antisemitismus in der österreichischen Bevölkerung gemeinsame Identitätsmomente, die sich jedoch in unterschiedlichen Haltungen ausdrückten. Vonseiten der Republik Österreich wurde der (Wieder-)Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft in Wien nach 1945 weder verhindert noch sonderlich gefördert, die Restitutionen gesetzlich – und freilich unter beträchtlichem alliierten Druck – rasch geregelt, in ihrer Durchführung jedoch oft verschleppt und mit zynischen Haltungen unterlegt. Erst die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte Österreichs im akademischen und öffentlichen Diskurs führte zu einer Sensibilisierung und Intoleranz weiter Bevölkerungsteile für antisemitische Vorurteile, sodass für die jüdische Gemeinde Wiens heute ein Leben in Freiheit und Gleichheit gewährleistet ist. 607

irene etzersdorfer A nmerkungen  1 Doron Rabinovici (2000), Instanzen der Ohnmacht. Univ.-Diss/Univ. Wien. S. 292.  2 Hugo Bettauer (1922), Die Stadt ohne Juden  : ein Roman von übermorgen. Wien.  3 Zur Psychologie der Abwehr von Schuld, Scham und Trauer siehe besonders Alexander und Margarethe Mitscherlich (1967), Die Unfähigkeit zu trauern. München.  4 Zur Kontroverse, ob das Wiener Judentum als Avantgarde der Moderne gelten kann oder ob der Anteil daran kontinuierlich überschätzt wird, siehe u. a. Stephen Beller (1993), Wien und die Juden. 1867–1939. Wien und Carl E. Schorske (1980), Fin-de-Siècle Vienna: Politics and Culture. London.  5 Walter Weitzmann (1990), Die Politik der jüdischen Gemeinde Wiens zwischen 1890 und 1914. In: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak (1990) (Hg.), Eine zerstörte Kultur.Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert. S. 181ff .  6 A.a.O, S. 187.  7 Joseph W. Moser/James R. Moser (2012), Nisko. Die ersten Judendeportationen. Wien. S. 29.  8 Georg Graf (2004), »Arisierung« und Rückstellung von Wohnungen in Wien. Wien (Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission, Band 14).  9 Gerhard Botz (1990), Die Ausgliederung der Juden aus der Gesellschaft. Das Ende des Wiener Judentums unter der NS-Herrschaft (1938–1945). In: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak (1990) (Hg.), Eine zerstörte Kultur.Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert. Buchloe. S. 296. 10 Doron Rabinovici (2000), Instanzen der Ohnmacht. Univ.Diss./unv.Wien, S 72 und S. 92 11 Siehe dazu auch Herbert Rosenkranz (1978), Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945. Wien. S. 71ff. 12 Raul Hilberg (1961), Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin. S. 704. 13 Ebd. 14 Thomas Albrich (1987), Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945–1948. Innsbruck. S. 180ff. 15 Leon Zelman (1995), Vorwort zu Helga Embacher (1995), Neubeginn ohne Illusionen. Wien. S. 15f. 16 Evelyn Adunka, Die Wiener Israelitische Kultusgemeinde nach 1945 und ihre heutigen Probleme. http  :// www.christenundjuden.org/artikel/geschichte/62-adunka-die-wiener-israelitische-kultusgemeindenach–1945. Abgerufen am 10.1.2012. 17 Helga Embacher (1995), Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945. Wien. S. 74ff. 18 A.a.O, S. 101. 19 Ruth Beckermann (1989), Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945. Wien. S. 99. 20 Helga Embacher (1995), Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945. Wien. S. 127. 21 Friederike Wilder-Okladek vermittelte sich 1969 in ihrer Studie »The Return Movement of Jews to Austria after the Second World War. With special Consideration of the Return from Israel. The Hague, folgender Eindruck  : The question whether return to Austria was, indeed, a negative-selective process I was unable to answer. Certain factors, like higher age, discouragement abroad, the many instances when grown up children did not return with their parents may point to this. On the other hand the vigor with which these mainly elderly people re-built on the ashes of their homes and businesses, the high percentage of those working at any age when most other persons would have retired (including women) and their general toughness and longevity, even, after their war-time adventures- all this would refute any negative selection as a base of return. 22 Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1945– 1948. Wien 1948. S. 29/30. 23 Franz Richard Reiter (1994), Wer war Viktor Matejka  ? Dokumente–Berichte–Analysen. Wien.

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die wiener jüdische gemeinde nach 1945 24 Zitiert nach Ruth Beckermann (1990), Illusionen und Kompromisse. Zur Identität der Wiener Juden nach 1945. In: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak (1990) (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Buchloe. S. 358. 25 Raul Hilberg (1961), Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin. S. 705. 26 Peter Böhmer (1999), Wer konnte, griff zu. »Arisierte« Güter und NS-Vermögen im Krauland-Ministerium (1945–1949). Wien. 27 Siehe auch Irene Etzersdorfer (1995), ›Arisiert‹. Eine Spurensuche im gesellschaftlichen Untergrund der Republik. Wien. 28 Helga Embacher (1995), Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945. Wien. S. 139. 29 Artikel 26  : »Vermögenschaften, Rechte und Interessen von Minderheitsgruppen in Österreich. 1. Soweit solche Maßnahmen noch nicht getroffen worden sind, verpflichtet sich Österreich in allen Fällen, in denen Vermögenschaften, gesetzliche Rechte oder Interessen in Österreich seit dem 13. März 1938 wegen der rassischen Abstammung oder der Religion des Eigentümers Gegenstand gewaltsamer Übertragung oder von Maßnahmen der Sequestrierung, Konfiskation oder Kontrolle gewesen sind, das angeführte Vermögen zurückzugeben und diese gesetzlichen Rechte und Interessen mit allem Zubehör wiederherzustellen. Wo eine Rückgabe oder Wiederherstellung nicht möglich ist, wird für auf Grund solcher Maßnahmen erlittene Verluste eine Entschädigung in einem Ausmaß gewährt, wie sie bei Kriegsschäden österreichischen Staatsangehörigen jetzt oder späterhin generell gegeben wird. 2. Österreich stimmt zu, alle Vermögenschaften, gesetzlichen Rechte und Interessen in Österreich, die Personen, Organisationen oder Gemeinschaften gehören, die einzeln oder als Mitglieder von Gruppen rassischen, religiösen oder anderen Naziverfolgungsmaßnahmen unterworfen worden sind, unter seine Kontrolle zu nehmen, wenn, falls es sich um Personen handelt, diese Vermögenschaften, Rechte und Interessen ohne Erben bleiben oder durch sechs Monate nach Inkrafttreten des vorliegenden Vertrages nicht beansprucht werden oder wenn, falls es sich um Organisationen und Gemeinschaften handelt, diese Organisationen und Gemeinschaften aufgehört haben zu bestehen. Österreich soll diese Vermögenschaften, Rechte und Interessen geeigneten, von den vier Missionschefs in Wien im Wege von Vereinbarungen mit der österreichischen Regierung zu bestimmenden Dienststellen oder Organisationen übertragen, damit sie für Hilfe und Unterstützung von Opfern der Verfolgung durch die Achsenmächte und für Wiedergutmachung an solche verwendet werden  ; diese Bestimmungen sind dahin zu verstehen, daß sie von Österreich keine Zahlungen in fremder Währung oder andere Überweisungen an fremde Länder erfordern, die eine Belastung der österreichischen Wirtschaft darstellen würden. Diese Übertragung wird innerhalb von achtzehn Monaten nach Inkrafttreten des vorliegenden Vertrages durchgeführt werden und Vermögenschaften, Rechte und Interessen, deren Wiederherstellung in Paragraph 1 dieses Artikels verlangt wird, einschließen.« 30 Gerhard Melinz/Gerald Hödl (2004), »Jüdisches« Liegenschaftseigentum in Wien zwischen Arisierungsstrategien und Rückverfahren. Wien. S. 134. 31 A.a.O. S. 159. 32 Georg Graf (2000), Die österreichische Rückstellungsgesetzgebung. Eine juristische Analyse. Wien. S. 21. 33 Margot Werner/Michael Wladika (2004), Die Tätigkeit der Sammelstellen. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Wien. 34 Brigitte Bailer-Galanda (2003), Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 3). Wien. 35 So gibt die Historikerin Evelyn Adunka in ihrer im Jahr 2000 erschienenen Studie »Die 4.Gemeinde. Die Geschichte der Wiener Juden von 1945 bis heute«, Berlin, an, dass im Jänner 1947 von ca. 60.000 Woh-

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irene etzersdorfer nungen erst etwa 100 an jüdische Remigranten rückerstattet wurden, während Bedarf nach etwa 1.200 damals bestand. (S. 53) 36 Bruno Simma/Hans-Peter Folz (2004), Restitution und Entschädigung im Völkerrecht. Die Verpflichtungen der Republik Österreich nach 1945 im Lichte ihrer außenpolitischen Praxis. Wien. S. 341ff. 37 Gerhard Melinz/Gerald Hödl (2004), »Jüdisches« Liegenschaftseigentum in Wien zwischen Arisierungsstrategien und Rückverfahren. Wien. S. 210. 38 Friederike Wilder-Okladek (1969), The Return Movement of Jews to Austria after the Second World War. With special Consideration of the Return from Israel. The Hague. p. 57. 39 Dieser Ausspruch bezieht sich auf eine Äußerung von Innenminister Oskar Helmer (1945–1959) aus der 132. Ministerratssitzung vom 9. November 1948 und lautete  : »Was den Juden weggenommen wurde, kann man nicht auf die Plattform ›Großdeutsches Reich‹ bringen. Ein Großteil fällt schon auf einen Teil unserer lieben Mitbürger zurück. […] Ich sehe überall nur jüdische Ausbreitung […] Auch den Nazis ist im Jahre 1945 alles weggenommen worden […] Ich wäre dafür, dass man die Sache in die Länge zieht. […] Die Juden werden das selbst verstehen, da sie im klaren darüber sind, dass viele gegen sie Stellung nehmen.« Siehe das gleichnamige Buch von Robert Knight (1988), »Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen«. Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945–52 über die Entschädigung der Juden. Frankfurt/Main. S. 197. 40 Brigitte Bailer-Galanda (2000), Die Rückstellungsproblematik in Österreich. Referat anlässlich der Tagung »Arisierung und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in West- und Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung«, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am 14. 10. 2000. http  ://www.doew.at/thema/rueckstell/bailer.html. Abgerufen am 1.1.2012. 41 Christoph Reinprecht (1992), Zurückgekehrt. Identität und Bruch in der Biographie österreichischer Juden. Wien. S. 20. 42 Raul Hilberg (1961), Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin. S. 714. 43 Meinungsumfragen zur Einstellung der österreichischen Bevölkerung gegenüber der Rückkehr von Juden wurden in den Publikationen der Kultusgemeinde aufgegriffen. So berichtet »Der Neue Weg. Jüdisches Organ mit amtlichen Mitteilungen der israelitischen Kultusgemeinde« in seiner Nr. 29/30 vom 15. August 1946 von einer Meinungsfrage des Instituts zur Erforschung der öffentlichen Meinung, dass sich 46 Prozent der österreichischen Bevölkerung gegen eine Rückkehr der österreichischen Juden aussprachen und nur 28 Prozent – »zumeist Intelligenzler« – für die Rückkehr optierten. 44 Die Bezeichnung »gebundene Delegierte« stammt von Helmut Stierlin (1980), Eltern und Kinder. Das Drama von Trennung und Versöhnung im Jugendalter. Frankfurt/Main. 45 Ruth Beckermann (1989), Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945. Wien. S. 120. 46 Ruth Beckermann (1989), Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945. Wien. S. 104.

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Architektur in Wien nach 1945*

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auen in Wien bedeutete bis in die späten 1990er fast immer Bauen im historischen Raum. Aus der Spannung zwischen Stadtgeschichte und den Voraussetzungen der Gegenwart entstand zeitgenössische Architektur. Das änderte sich erst, als die Architektur den Rahmen der alten Stadt sprengte – gleichsam »entfesselt« an und über die Donau rückte, die zersiedelten Weichgebiete eroberte und in die gesichts- und geschichtslosen Randgebiete im Osten und Süden ihre Marken zu setzen begann. Paradoxerweise war der Druck des historischen Erbes am mächtigsten zur Zeit seiner teilweisen Zerstörung, nach dem Zweiten Weltkrieg. Große Wunden waren in den Stadtkörper geschlagen, die wichtigsten Monumente wienerischen, ja man kann sagen österreichischen Selbstverständnisses schwer beschädigt. Besonders hatte es die Innere Stadt getroffen  : Stephansplatz, Dom, der Beginn der Kärntner Straße, Albertinaplatz mit Philippshof und Albertina, Oper und Heinrichhof, Burgtheater, Parlament, ganze Partien am Donaukanal, Franz-Josefs-Kai, Passauerplatz bei Maria am Gestade, die Fischerstiege, die Umgebung der Ruprechtskirche/Morzinplatz, Am Hof, Hoher Markt waren teilweise oder völlig den Bomben zum Opfer gefallen. Das erste Jahrzehnt nach 1945 war dem Wiederaufbau gewidmet, man ging daran, die Lücken im Stadtgefüge so rasch wie möglich zu schließen. Es galt nicht nur, dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Vor allem war es wichtig, die alten Symbolbauten, wie Parlament, Oper, Burgtheater, die nun auch für die Identität des neuen Staates stehen sollten, wieder zu errichten. Das geschah mit großer Zurückhaltung und Respekt vor den historischen Baudenkmälern, allen voran dem Stephansdom. Während am Dom selbst »nur«, wenn auch gigantische, denkmalpflegerische Restaurierungsarbeit zu leisten war, stand der zerstörte Raum um den Dom im Brennpunkt stadtplanerischen Interesses. Aufschlussreich dazu ein Zitat Franz Schusters  : »Als im Frühjahr 1945 das Dach der Stephanskirche in Flammen aufging und die Häuser vor ihrer Westseite ausbrannten, da schien nach der ersten Verzweiflung über dieses Unglück allen die Möglichkeit einer gründlichen Umgestaltung der ganzen Umgebung des Domes begrüßenswert. Der Verkehrsmann hoffte auf die Lösung aller Verkehrsnöte, der Städtebauer und Architekt sah endlich die protzigen Hausfassaden der Gründerzeit einfachen, die Vorherrschaft des Stephansdomes achtenden Bauformen weichen  ; die meisten stellten sich aber überhaupt nichts Genaueres vor, sondern warteten nur, dass etwas ›ganz Großes‹ dort geschehen würde.«1 Jedoch  : Trotz großen Interesses der Öffentlichkeit und engagierter Diskussion führender Architekten wie Franz Schuster, Oswald Haerdtl, Max Fellerer, Carl Ap611

ulrike steiner pel, Siegfried Theiss, Hans Jaksch und sogar dem damals in New York lebenden Josef Frank sowie eines Wettbewerbs zur Gestaltung der Häuserfront gegenüber der Westseite des Stephansdomes bereits 1945, scheiterte das Projekt einer durchgreifenden stadtplanerischen (städtebaulichen) Neuordnung des Bereichs Stock-imEisen-Platz/Grabeneinmündung/Domvorplatz. Wagte es ein Hans Hollein Jahrzehnte später, dem Dom den Architekturaufreger der späten 1980er entgegenzusetzen, hatte man kurz nach dem Krieg nicht den Mut und die Mittel zu radikalen Lösungen. Von der ganzen Auseinandersetzung »blieb nichts als ein gesichtsloser Platz mit einer noch banaleren Architektur.«2 Die Architekturkritik sah solch halbherzige Ergebnisse als vertane Chance, »doch die verarmte, zerbombte, hungernde und frierende Nachkriegsgesellschaft hatte zunächst andere Sorgen als architektonische Glaubenskriege zu führen, und für künstlerische Ambitionen herrschte wenig Verständnis. Das heißt mit anderen Worten, die Hauptkriterien für das Bauen waren Wirtschaftlichkeit und Schnelligkeit, und zum Zuge kamen jene Architekten, die diese Qualitäten anzubieten vermochten.«3 Gefragt waren handfeste Konzepte und ein leicht begreifliches Formenvokabular. Oswald Haerdtl, Erich Boltenstern, Eugen Wachberger (Büro Boltenstern), Georg Lippert, Carl Appel, Franz Schuster, Max Fellerer, Otto Niedermoser gehörten zu den an einer Hand abzählbaren Wiener Architekten, die nicht emigriert waren und sich weder politisch noch architektonisch kompromittiert hatten. Unter diesen wurden nun die großen Projekte des Wiederaufbaus aufgeteilt. Bauträger war gezwungenermaßen fast allein die Stadt Wien, was die Monopolisierung begünstigte. Der pragmatische Ansatz des Wiederaufbaus folgte zwar in einfacher Weise den Formgepflogenheiten der traditionellen Wiener Architektur oder nahm auf sie Rücksicht, dennoch war auch er eigenständig stilbildend  : abgeschrägte Eckachsen, in Terrassen zurückgestaffelte Obergeschosse (Beachtung der Bauhöhe der Nachbarbauten), das Wiederaufnehmen eines der wichtigsten Elemente historischer Fassaden, Andeutung des Fensterparapets durch zarte Gitter vor französischen Fenstern (bereits in den 1930er-Jahren von Theiss und Jaksch am Hochhaus/Herrengasse vorgegeben), weit vorkragende, oft durch ein schmales Fensterband abgesetzte »Kranzgesimse« (gesehen bei Otto Wagner) sind durchgängige Motive dieser Jahre. Das entscheidendste Merkmal ist jedoch das beinahe bedingungslose Festhalten an glatten Putzfassaden, klar getrennten Geschossen und schlicht eingeschnittenen Fenstern. Man konnte sich auf das Initialobjekt der Wiener Moderne, das Looshaus, berufen, das sich seinerseits auf die sparsame Ästhetik josephinisch-biedermeierlicher Traditionen bezog. So erstaunt es nicht, dass viele der Neubauten der 1950er-Jahre in fataler Weise ihren historistischen Nachbarn mit »abgeräumten« Fassaden ähneln. Im Großen und Ganzen kann aber gesagt werden, dass sich Neubebauungen wie Am Hof, auf dem Hohen Markt oder Donaukanal aus heutiger Sicht unauffällig in 612

architektur in wien nach 1945 die erhaltene Umgebung eingliedern, dass dies jedoch meist ohne Absicht einer historisierenden »Angleichung« geschah, sondern im vollen (Selbst-)Bewusstsein einer Modernität, die ihr Ziel eben noch nicht erreicht hatte – oder, wie es Achleitner formulierte  : »auf halben Wege zur Moderne stecken geblieben«. »Sicher ist, dass die schwer definierbare Lage zwischen Historismus u. Moderne, zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Rekonstruktion und Neuformulierung, unabhängig von verantwortlichen Architekten, eine echte Widerspiegelung der kulturellen Verhältnisse darstellt.« – »Durch die ›Gebrochenheit der Moderne‹ gab es in der Innenstadt keine konsequenten und radikalen Wiederaufbaulösungen, sondern insbesondere im Umgang mit der historischen Substanz auffallend einfühlsame, wenn auch manchmal farblose Lösungen«.4

Was ist mit der »Gebrochenheit der Moderne« gemeint  ? Der Zweite Weltkrieg bedeutete für die Architektur aus mehreren Gründen einen massiven Einschnitt. Viele Architekten waren gestorben oder emigriert, u. a. Josef Frank (nach Schweden), Ernst Lichtblau, Walter Loos (nach Argentinien), Ernst Plischke (nach Neuseeland), Clemens Holzmeister hielt sich bis 1954 in der Türkei auf. Die in Österreich Verbliebenen, wie Josef Hoffmann (†1956), Lois Welzenbacher (1947–1955 Wien), Franz Schuster, Oswald Haerdtl, Otto Niedermoser, Erich Boltenstern, Siegfried Theiss (der Erbauer des Hochhauses in der Herrengasse), Max Fellerer, hatten in der Nazizeit den Anschluss an die internationale Entwicklung verloren. Architekturtheoretiker sahen noch einen anderen Grund für den Bruch einer kontinuierlichen architektonischen Linie  :5 »Die Wiener Moderne wurde nicht erst durch Nazis und Krieg ins Abseits gedrängt, genauso genommen war ihre kämpferische Zeit eigentlich schon vor dem Ersten Weltkrieg beendet, sodass in der Zwischenkriegszeit eine sehr intellektuelle Kritik der plakativen Tendenzen wie Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, Neues Bauen, Internationaler Stil durch Wiener Architekten wie Adolf Loos, Josef Frank, Oskar Strnad stattfand. So bildete sich aus verschieden Gründen zu Beginn der Dreißigerjahre eine Allianz konservativer Tendenzen und linker fortschrittlicher Kritik gegen die Moderne.« Und »Umso höher ist das Engagement jener Architekten anzusetzen, die vom ersten Tag an versuchten, den Wiederaufbau in eine Entwicklungsperspektive zu stellen, wie etwa Roland Rainer, der mit seinen Büchern »Städtebauliche Prosa« und »Ebenerdiges Wohnen« der Wohn- und Städtebaudiskussion erste Impulse gab. Hier wäre auch die Rolle der vom Wiener Stadtbauamt herausgegebenen Zeitschrift »Der Aufbau« neu zu bewerten, es würde sich dabei zeigen, dass von Anfang an (unter dem Chefredakteur Rudolf J. Böck) verschiedene Fragen des Wiederaufbaus und der Stadtplanung auf 613

ulrike steiner einem hohen Niveau diskutiert wurden, aber den Planern und Architekten die Realität des schnellen Wiederaufbaus buchstäblich davonlief.«6 Eine Folge dieses Pragmatismus war der Kompromiss der ersten Jahre zwischen großzügigen Planungsansätzen und einer nicht ganz so gelungenen Ausführung. Beispiele sind etwa die durchaus attraktive Frei- und Sichtbarmachung der Ruprechtskirche und daneben die mickrige Anlage der Ruprechtsstiege oder die Verwandlung der altehrwürdigen Fischerstiege zu einem bedeutungslosen Durchgang zwischen glatten Neubauten mit vorsichtigen historisierenden Ansätzen (Planung Otto Niedermoser und Hans Pettermaier, 1951, der erste Wohnungsneubau der Gemeinde Wien in der Altstadt). Demgegenüber stehen aber auch bis heute überzeugende Lösungen, wie sie 1952– 58 dem Team Max Fellerer, Eugen Wörle, Felix Hasenörl mit dem »ConcordiaHof« und der Platz- und Stiegenanlage vor Maria am Gestade (Passauerplatz/Concordiaplatz) gelang. Ein feinfühliges Eingehen auf enge gotische Stadtstrukturen ist hier glücklich kombiniert mit der großzügigen Umsetzung neuer Stadtraumvorstellungen. Das vielleicht anspruchsvollste städtebauliche Projekt in dieser Hinsicht ging Hand in Hand mit der Wiedererrichtung der Oper und der Neuordnung ihres Umfeldes  : die Opernpassage. Im Gegensatz zum Opernringhof, der 1955 nach Plänen der Architekten Carl Appel, Georg Lippert und Alfred Obiditsch anstelle des prunkvollen historistischen Heinrichhofes (1861 bis 1863 von Theophil Hansen) nach dessen Teilabriss neu erbaut und wohl wegen seiner Farblosigkeit nie wirklich angenommen wurde, erwies sich die Opernpassage, von der Bevölkerung liebevollspöttisch Jonasgrotte genannt, als großer Wurf. Die denkmalgeschützte Fußgänger­ unterführung unter der Ringstraße auf Höhe der Wiener Staatsoper wurde 1955 eröffnet. Mit dem steigenden Verkehrsaufkommen auf der Ringstraße in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entschloss sich die Wiener Stadtplanung – der damaligen Verkehrsideologie entsprechend –, die Autos nicht mehr durch querende Fußgänger zu behindern, und den Fußverkehr in den Untergrund zu schicken  : Das ovale Bauwerk (Adolf Hoch, Stadtbauamt) erstreckt sich im Verlauf der Kärntner Straße über eine Länge von 56 Metern und im Verlauf der Ringstraße über eine Breite von 51 Metern. Die 2,9 Meter hohe, sanft angekehlte Decke wird in zwei konzentrischen Kreisen von Säulen mit einem Abstand von rund sieben Metern gestützt. Zentrum der mit braunem Marmor verkleideten Fußgängerunterführung ist ein runder, gast­ronomisch genutzter Pavillon, der gemeinsam mit Geschäften und Kiosken den Durchgang zu einem bis heute attraktiven Angelpunkt im Stadtgeschehen machte. Mit der Eröffnung der U-Bahn 1978 wurde er zur Station Karlsplatz und zum Resselpark erweitert (Karlsplatzpassage) und soll in den nächsten Jahren eine Grundsanierung erfahren. Dem Konzept der Opernpassage folgten 1961 die 614

architektur in wien nach 1945 Schottenpassage mit späterer Anbindung zur U-Bahn-Station Schottentor, sowie die Passagen bei der Bellaria- und der Babenbergerstraße. Die Passage bei der Albertina wurde schließlich 1964 eröffnet und wurde 2012 zu einer neuen Nutzung gebracht. Die Oper selbst war 1946 (bis 1955) als erstes großes Wiederaufbauprojekt unter der Leitung von Erich Boltenstern (Abb. 1a/b) in Angriff genommen worden. Bühne, Zuschauerraum, Dach waren zerstört. Im Gegensatz zur Burg wurde der Zuschauerraum (Logentheater mit Galerien) in der ursprünglichen Form belassen, die Pausenräume (Gobelinsaal, Marmorsaal) waren die Schwerpunkte der künstlerischen Neugestaltung. Boltenstern sah seine Schöpfung als »eine Lösung, die außerhalb des Zeitgeschehens in der modernen Architektur liegt, ebenso wenig aber ist es eine historische Rekonstruktion  ; am allerwenigsten aber ist ein Kompromiss zwischen alt und neu«.7 Dem letzten Punkt des Statements möchte man heute nicht mehr so gerne zustimmen. Es war sehr wohl ein Kompromiss zwischen Alt und Neu, wenn auch ein gelungener, der tatsächlich eine eigene Stilsprache entwickelte. Boltenstern lehnte sich in Material und allgemeiner Form an das historistische Original an, verwendete klassische Materialien wie Marmor, Stuck, etc., verzichtete jedoch auf kleinteilige Ornamentik, glättet das klassische Formenrepertoire, ähnlich wie es im Jugendstil geschehen war. Das Ergebnis ist eine gediegene Elegance, die sich in zurückhaltender Formgebung dem Gesamtkunstwerk einfügt. Michael Engelhart gewann den Wettbewerb um den Wiederaufbau des Burgtheaters (1948–1955) vor Haerdtl und Niedermoser, weil er auf den Bestand am meisten Rücksicht genommen hatte. Neu entstanden Zuschauerraum, Bühnenhaus, besondere Bedeutung hatte der technische Ausbau der Bühne. Sichtverhältnisse und Akustik wurden verbessert. Die Neugestaltung der Anräume hielt sich in ähnlichem Rahmen wie bei der Staatsoper bereits vorgeprägt. Etwas anders liegt der Fall beim Parlament, dem dritten Prestigeobjekt des Wiederaufbaus (1955/56), das fast zur Hälfte zerstört war, v. a. das Herrenhaus im Süden. Der Purist Max Fellerer (mit Eugen Wörle) vertrat eine betont denkmalpflegerische Haltung, kam jedoch um die absolute Neugestaltung des Plenarsaales nicht herum. »Inmitten der feierlichen Architektur Hansens ein Konzept aus modernem Geist, ein Saal der Arbeit, ernst und klar, fast durchsichtig, sachlich und höchst gediegen«, befand Roland Rainer 1956.8 Bereits 1948/49 wurden Fellerer (†1957) und Wörle mit einem Wiederaufbau der besonderen Art beauftragt  : der Neubau des Strandbades Gänsehäufel, dessen vor Kurzem sorgsam restaurierte filigrane Sichtbetonkonstruktionen nach wie vor die Augen vieler Badegäste erfreuen. Von 330.000 Quadratmetern Gesamtfläche wurden 25.500 Quadratmeter verbaut. Großzügige Folgeeinrichtungen – Restaurants, Läden, Friseur, Tennisplätze usw. – machen das Bad zu einer kleinen Stadt, aufgelockert und differenziert im alten Baumbestand eingebettet. Es war nicht nur die 615

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Abb. 1a: Wiener Staatsoper. Originaler Zuschauerraum, gestaltet von Romano und Schwendenwein

finanziell bedingte Verwendung einfacher Materialien, die sich wohltuend auf die Bauten auswirkt, sondern es war vor allem das Charakteristikum von Fellerers klarem, etwas »sprödem« Architekturverständnis. Neben einer Reihe abgekommener Bauten in Salzburg und Wien (hier v. a. Geschäftseinrichtungen) waren Fellerer und Wörle ab 1947 am Bau der mit schwedischer Finanzhilfe gebauten Per-Albin-Hansson-Siedlung beteiligt, deren Konzept einer gemischten Reihenhaus- und Stockwerksbebauung mit privaten und öffentlichen Freiräumen noch heute funktioniert. Bauten wie die von Max Fellerer haben es schwer, eine Lobby zu finden. Großteils in den Jahren des Wiederaufbaus nach 1945 entstanden und der schlichten Tradition der Wiener Vorkriegsmoderne verbunden, haben die Bauten Fellerers das Los, vielfach als öde, karg und ärmlich betrachtet zu werden – im Sinne von Josef Frank und seiner Beurteilung durch Hermann Czech als »Architektur, die nur spricht, wenn sie gefragt wird«. Damit bildet Fellerer doch einen stilistischen Kontrapunkt zum charakteristischsten Stilmerkmal der Nachkriegsarchitektur  : eine Geschmeidigkeit der Linienführung, eine Zierlichkeit in den Bau- oder Möbeldetails, das Vermeiden harter Brüche, eine gewisse Gefälligkeit, ein fernes Echo der Formensprache des Jugendstils, Elegance, wenn man will, oder Kitsch und schicker Espresso-Stil, wie Kritiker es nannten. Angesichts der weichen Schwünge der Schwedenbrücke, 1953–55 von Adolf 616

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Abb. 1b: Wiener Staatsoper. Wiederaufbau durch Erich Boltenstern 1946–1955

Hoch als erste Spannbetonbrücke Wiens errichtet, erscheint dieses Urteil ungerecht. Die spezifische Ästhetik der 1950er drückt sich in verspielten Kleinarchitekturen wie der Jubiläumswarte auf der Vogeltennwiese mit ihren runden Podesten, 1954–56 von Hermann Kutschera, ebenso aus wie in einem auf feierliche Repräsentation ausgerichteten Bau, dem Historischen Museum der Stadt Wien am Karlsplatz, 1954–59 von Oswald Haerdtl (Abb. 2). Hier verhilft der Sinn dieses Stils für feine Details und subtil aufeinander abgestimmte Materialien (Marmor, Natursteine, Eloxal) einem an sich eher spröden Bau zu einer künstlerischen Dimension. Deutlich ist in Platzierung, Höhe, der feingliedrigen Fassadengestaltung und im logischen Raumkonzept die Auseinandersetzung mit der Museumsplanung Otto Wagners an derselben Stelle zu erkennen. Haerdtl entwarf auch die Inneneinrichtung bis zur Möblierung des Direktionszimmers selbst und folgte damit der Jugendstilidee vom Gesamtkunstwerk. Im Großen und Ganzen waren es eher kleinere Projekte, die zur Verwirklichung kamen, Restaurants, Cafés, Geschäftsräume, von denen kaum eines erhalten ist, wie etwa das berühmte Espresso Arabia am Kohlmarkt, 1950 ebenfalls von Haerdtl, das wie viele Wiener Traditionsbetriebe ab 2000 den internationalen Modegalerien des Kohlmarktes weichen musste. Haerdtl war bedacht darauf, Kontakte zu seinen potenziellen Bauherren zu pflegen, und aus so einer Beziehung ergab sich 1953 der Auftrag für den Messepavillon auf dem Messegelände in Wien für die Firma Felten 617

ulrike steiner & Guilleaume. Das Gebäude hatte ein einfaches Raumprogramm, bestehend aus einem Besprechungsbereich und einem großzügigen Ausstellungsbereich. Die kompromisslose Glasfassade, die klaren Volumen und der meisterhafte Umgang mit den grafischen Elementen haben dieses kleine Gebäude als Schlüsselwerk der österreichischen Nachkriegsarchitektur positioniert. Der wohl spektakulärste Neubau der frühen 1950er, der auch heute noch im Stadtbild beherrschend ist, war 1953–1955 am Schottenring die Wiener Städtische Versicherung mit dem Ringturm von Erich Boltenstern. Boltenstern war 1928 bis 1934 Assistent bei Oskar Strnad an der Kunstgewerbeschule und von 1934 bis 1938 Assistent von Clemens Holzmeister an der Akademie der bildenden Künste in Wien. 1938 bis 1945, in der Zeit des Nationalsozialismus, galt er als »jüdisch versippt« und hatte berufliche Nachteile. Nach 1945 beim Wiederaufbau in Wien war Boltenstern einer der meistbeschäftigten Planer und vertrat die Konzeption einer gemäßigten Moderne (siehe Oper). Er unterrichtete an der Architekturfakultät der Technischen Hochschule Wien, wo er 1952 eine ordentliche Professur erhielt. Dem Credo aus seinen »Gedanken zur Architektenausbildung« »… Wir sollten nobel und zurückhaltend bauen, nicht brutal und aufdringlich. Der Architekt ist Diener der Allgemeinheit …« entspricht das Ringturmgebäude durchaus, obwohl die Intention des monumentalen Stahlbetonskelettbaues – an den Turm schließen siebengeschossige Trakte um einen Innenhof an – in eine andere Richtung ging. Das »erste Hochhaus von Wien« war als städtebauliche Dominante, als akzentuierter Schlusspunkt der Ringstraße gedacht und zugleich als Ausrufungszeichen, als optimistisches Symbol für den Aufbruch in neue Zeiten. Es ist Boltensterns Verdienst, diesen plakativen Anspruch durch das ruhige Understatement seiner Architekturauffassung einzubinden in Praktikabilität und Zeitlosigkeit. Unweit vom Ringturm an der Rossauerlände setzt sich ein weiterer Bau mit dem historischen Ambiente auseinander, oder stellt sich ihm entgegen. Die Pensionsversicherung für Arbeiter, 1955–57 von Franz Schuster. Auf einem extrem schmalen trapezförmigen Grundstück schiebt sich der glatte Bau mit stark überhöhtem Fronttrakt wie ein Keil zwischen Rossauerkaserne und einen üppigen Jugendstilbau. Befand Achleitner noch in den 1990ern, der Bau »spiegelt die selbstsichere Hilflosigkeit des Funktionalismus der 1950er-Jahre gegenüber der historischen Stadt wider«9, kann man heute die interessanten vertikalen Proportionen des Baus auch in dieser Umgebung stimmig finden und als Solitär im Werk Franz Schusters würdigen, der sonst hauptsächlich im Wohnbau (z. B. Per-Albin-Hansson-Siedlung) tätig war. Ein weiterer Solitärbau, vielleicht weniger von künstlerischem als zeitgeschichtlichem Interesse, ist das Gebäude des Globus-Verlags, der von 1945 bis 1990 der Parteiverlag der Kommunistischen Partei Österreichs war. Der Globus-Verlag errichtete 1954–56 am Höchstädtplatz in Wien-Brigittenau ein großes, modernes Druckerei618

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Abb. 2: Historisches Museum der Stadt Wien, Fassade gegen den Karlsplatz, Oswald Haerdtl, 1954–59

und Verlagsgebäude, das bis 1992 Sitz der kpö und einiger ihrer Teilorganisationen war. Der Entwurf stammte von der namhaften Architektin und Kommunistin Margarete Schütte-Lihotzky. Schütte-Lihotzky war Pionierin, als erste Frau absolvierte sie in Österreich ein Architekturstudium und »erfand« 1926 die erste deutsche Einbauküche, die sogenannte Frankfurter Küche. Sie war Schülerin Oskar Strnads, eines der Vorreiter des sozialen Wohnungsbaus in Wien, und die verschiedenen Facetten des innovativen Sozialwohnbaus, insbesondere die frauenspezifischen (etwa Kindergärten), waren auch ihr fruchtbares, internationales Betätigungsfeld. Nach Krieg (sie wurde sogar vorübergehend zum Tod verurteilt) und Emigration kam sie 1947 zurück nach Wien, wo sie jedoch wegen ihrer politischen Ansichten – sie blieb Kommunistin – keine öffentlichen Aufträge erhielt. Sie konnte in dieser Zeit nur einige private Häuser entwerfen und arbeitete infolgedessen als Beraterin in der Volksrepublik China, in Kuba und in der ddr. Der Globus-Verlag blieb ihr einziges größeres Projekt im Nachkriegsösterreich und muss angesichts ihrer Vorgeschichte enttäuschen. Obwohl sie sich schon in jungen Jahren unter dem Einfluss von Strnad und Loos dem »Design der Funktionalität« verschrieben hatte, sehen wir vor uns einen Bau, der wohl in seinen streng funktionellen Bereichen (Druckerei etc.) diesem 619

ulrike steiner Ideal entsprochen haben mag, in seiner Außenerscheinung jedoch ganz im biederen Rahmen der zeitgenössischen Durchschnittsarchitektur bleibt. Dafür löst ein anderer Solitärbau die Forderung des Funktionalismus »form follows function« voll ein. Mit der Stadthalle gelang Roland Rainer der große Wurf. Als eines der umfangreichsten Nachkriegsprojekte Wiens von 1952 bis 1958 errichtet, folgte sie als einziges der Vorstellung, zeitgemäße Schönheit in Architektur und Design ergebe sich bereits aus deren Verwendungszweck. Allerdings bot sich hier die ideale Voraussetzung, Ästhetik und Funktion zur Deckung zu bringen  : eine Mehrzweckhalle mit Nebenhallen für diverse Sportarten. Die ausgedehnte Anlage ist nur schwer überschaubar, die unterschiedliche Konstruktion der Hallen und Nebenbauten sowie die Freiflächen verhindern eine geschlossene Wirkung. Trotzdem gelang es Rainer, mit dem hundert mal hundert Meter großen Stahldach über der Haupthalle einen starken zentralen Akzent zu setzen. Seine Silhouette mit den von schmalen Streben wie hochgespannten Frontseiten ist so markant, dass sie von der Londoner Grafikagentur Pentagram auch zum Firmenlogo der Stadthalle gemacht wurde. Im Inneren ermöglichen elektrisch ausziehbare Stahlblechtribünen sowie spezielle Vorhangsysteme, die Halle für verschiedenste Veranstaltungen zu verwenden. In den Jahren 1972 bis 1974 wurde zusätzlich für die Schwimmeuropameisterschaft 1974 das Stadthallenbad ebenfalls nach Plänen von Roland Rainer errichtet. Stadthallen-Folgebauten gab es in Bremen 1961 und Ludwigshafen 1962. Roland Rainer ist eine Ausnahmeerscheinung, die über Jahrzehnte hinweg wie ein Monolith das Architekturgeschehen prägte. 1910 geboren, stand er zwischen den Generationen und griff nach dem Krieg als einziger Themen der 1930er-Jahre – Funktionalismus und Gartenstadt ohne »Gebrochenheit« – auf. In unmittelbarem Kontakt zur österreichischen Vorkriegsmoderne strebte er nach Kontinuität in der Architekturentwicklung, orientierte sich am skandinavischen Funktionalismus, aber auch an alten Baukulturen. Nach dem Studium an der Technischen Hochschule in Wien war er ab 1932 selbstständig, 1953/54 Professor an der Technischen Hochschule in Hannover, 1955 in Graz, 1956–80 Leiter der Meisterschule für Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien, 1958–63 Stadtplaner von Wien. Roland Rainer entwickelte in zahlreichen Publikationen eine zusammenhängende Lehre vom Einzelhaus bis zum Städtebau. Für Wohnhäuser propagierte Rainer das naturnahe Wohnen im verdichteten Flachbau und griff Ideen aus der Antike (Atrium­haus) und dem Orient auf (Puchenau bei Linz, 1966–82). Für große öffentliche Bauten verwendete er eine expressiv-konstruktive Sprache als »Ausdruck demokratischer Repräsentation«. Ein impulsgebender Bau Rainers ist das sogenannte Böhlerhaus am Schillerplatz, 1956–58. Es handelte sich ursprünglich um den Erweiterungsbau eines bestehenden 620

architektur in wien nach 1945 Bürohauses der Gebrüder Böhler & Co, eingefügt in die Platzfront. Der Stahlbetonskelettbau mit der kompromisslos entwickelten Metall-Glas-Fassade nimmt jedoch nur in der Simshöhe Rücksicht auf die Nachbargebäude und versucht nicht, den Platz zu schließen. Der Bau scheint über dem ins Dunkle zurückgenommenen Erdgeschoss zu schweben, getragen von einem breiten Balken (Brüstung des Archivgeschosses). Die horizontale Bänderung der Obergeschosse greift ein Leitmotiv der 1930er auf, Direktion und Sitzungszimmer waren im zurückgesetzten Dachgeschoss mit Dachgarten untergebracht. Heute ist der Bau in das benachbarte Hotel integriert (Umbau Rainer/Wehdorn ab 2001), die »spröde Technologieschönheit« der Fassade blieb jedoch erhalten. So klein der Bau ist, hatte er jedoch Signalwirkung. So inspirierte er wahrscheinlich Georg Lippert 1959/61 beim Bau der Bundesländerversicherung am Donaukanal zur ersten vorgehängten Fassade (curtain wall) in Wien (heute abgerissen). Neben der offiziellen, gebauten Architektur entwickelte sich schon bald nach Kriegsende die Gegenwelt einer meist ungebauten Architektur, die sich zunächst in unzähligen Projekten manifestierte. Die Präponenten diese Genres rekrutierten sich beinahe alle aus den Studenten der Meisterklassen von Clemens Holzmeister und Lois Welzenbacher am Schillerplatz. Unter der Ägide dieser großen Meister der Klassischen Moderne entstand so etwas wie eine Talentschmiede, deren Absolventen das Baugeschehen von den 1960er-Jahren bis heute entscheidend beeinflussen sollten. Allein die »Arbeitsgruppe 4« (Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent, Johannes Spalt, anfangs auch Otto Leitner) und die weiteren Holzmeister-Schüler Johann Georg Gsteu, Josef Lackner, Gustav Peichl, Hans Hollein, Anton Schweighofer und Friedrich Achleitner, um nur die bekanntesten zu nennen, und der WelzenbacherSchüler Ottokar Uhl, gehören zu den Schrittmachern der in den 1950er-Jahren sich entwickelnden neuen österreichischen Architektur. Obwohl Holzmeister damals noch in der Türkei lebte und nur selten seine Meisterklasse besuchte, beeindruckte er die Studenten nachhaltig durch seine genialische Art, den Hang zum Barocken, Theatralischen. Darüber hinaus war er tolerant gegenüber den »schöpferischen Phantasien« seiner Eleven, schätzte deren Experimentierfreudigkeit. Jedoch gab es abgesehen von den sporadischen Vorträgen des Meisters über dessen Kunstreisen und sein Lieblingsthema »der Dreiklang der Künste« keinen ideologisch-theoretischen, sondern nur technischen Unterricht. Die jungen Architekten mussten den Anschluss an die österreichische Architektur der Vorkriegszeit selbst finden und ihre eigenen Brücken zur internationalen Gegenwartsarchitektur schlagen. Friedrich Achleitner, der große Theoretiker, Kritiker und Chronist jener Zeit, schildert sehr anschaulich die begierige Suche seiner Generation nach Information, nach Anregungen, internationalem Anschluss. Angeregt durch den schon älteren Kriegsheimkehrer Johannes Spalt, beschäftigte man sich im Selbststu621

ulrike steiner dium mit der Wiener Moderne, verehrte Adolf Loos, Oskar Strnad und Josef Frank. Man benützte Bücher, Zeitschriften und suchte Kontakt zu Kollegen in anderen europäischen Ländern, vor allem in Skandinavien. »Wenn man vom entdeckerischen Aspekt der Beschäftigung mit Architektur absieht, hatte das Ganze den Aspekt des Suchens und Sammelns und einer kritiklosen Heldenverehrung. Die Folge war ein sehr universalistischer Kunstbegriff, der vieles ein- und wenig ausschloss.«10 Es war eine Welt der Projekte, Diskussionen, Wettbewerbe, zukunftsweisenden Entwürfe. Vor allem die Gruppe 4 bildete einen Kristallisationspunkt für die Avantgarde, zu der die gesamte junge Kunstszene Wiens gehörte. Architekten, Maler, Komponisten, Dichterinnen und Dichter, Filmemacher rückten noch nahe zusammen in der wirtschaftlichen Beschränktheit jener Jahre, die jungen Künstler und Studenten an der Akademie hatten sich noch nicht in divergierende Lager begeben  ; egal, welche Stilrichtung man verfolgte, man feierte zusammen (die Atelierfeste waren legendär), man diskutierte zusammen, man arbeitete zusammen. Die Arbeitsgruppe 4 setzte dezidiert auf Teamwork und konnte sich mit ihren zahlreichen Projekten für Wettbewerbe schon früh profilieren. Neben aufsehenerregenden Entwürfen für Bauvorhaben außerhalb Wiens, wie dem preisgekrönten Einbau einer Jugendherberge in eine Ruine in Kapfenberg (1953), der Beethovenhalle in Bonn (1954) oder dem Stadttheater Gelsenkirchen (1954), dem Funkhaus Saarbrücken (1955) oder dem Festspielhaus Bregenz (1955) konnte sich die Gruppe erstmals in Wien beim Wettbewerb um das Wienmuseum am Karlsplatz 1953 in einem Feld hochkarätiger Konkurrenten ( u. a. Holzmeister selbst und Welzenbacher) behaupten (Auszeichnung durch Ankauf ihres Entwurfes). Es folgten 1954 die Wiener Entwürfe für ein Bürohaus am Ballhausplatz und das Postgebäude am Südostbahnhof (beide erfolgreich mit Ankäufen). Nur am Rande erwähnt sei hier die wenig glückliche Auseinandersetzung der Gruppe mit dem Wohnbau der Gemeinde Wien. Hier scheiterten die Experimentierfreudigkeit und das Berufsethos der jungen Architekten trotz »tausender Arbeitsstunden« (Friedrich Kurrent) und zahlloser Entwürfe für verschiedene Anlagen an dem stereotypen Schnellbauprogramm der Stadt Wien. Überhaupt sollte es lange dauern, bis in Wien ein Projekt der Gruppe tatsächlich zur Ausführung kam. Erst mit dem Umbau von Filialen der Zentralsparkasse, 1969/71 in der Reinprechtsdorfer Straße und 1970/74 – und sehr beachtet – am Floridsdorfer Spitz konnte ein Desideratum eingelöst werden  : reale Bauten der »geheimen bestimmenden Kraft der österreichischen Architektur von Mitte der 50er bis Mitte der 60er«11 in Wien stehen zu haben. Der subtile Bezug auf die historische Umgebung macht neben seiner Kühle und Leichtigkeit in Verbindung mit der neuen Opulenz der 1970er vielleicht die große Stärke des Baues aus. Diese Qualität fand auch internationales Echo  : J. van Heuvel bemerkt in der niederländischen Zeitung »Cobuev« anlässlich eines Berichtes über 622

architektur in wien nach 1945 den Bau  : »Wiener Architekten sind fast Kunsthistoriker, wenn es die Architektur betrifft, Spalt und Kurrent sind das ganz besonders.« Dieser letzte Bau der Gruppe 4 verweist in dieser Hinsicht zurück auf ihren ersten tatsächlich realisierten, die Pfarrkirche in Parsch bei Salzburg 1953/56. Auch hier ging es um den Umgang mit dem historischen Erbe, nämlich den Einbau einer Kapelle in das Gewölbe eines Bauernhofes. Aus dieser an sich kleinen Aufgabe entwickelte das Team Spalt/Holzbauer/ Kurrent ein aufsehenerregendes Ensemble Kirche/Pfarrhof, das in seiner beinahe kristallinen Klarheit bereits die Ästhetik der 1960er-Jahre vorwegnimmt. Den Auftrag für die Kirche in Parsch bekam die Gruppe 4 als Teilnehmer der Sommerakademie in Salzburg, wahrscheinlich, weil Holzmeister selbst das Projekt zu gering erschien. Die Akademie wurde 1953 von Oskar Kokoschka und Friedrich Welz gegründet und ist damit die älteste Institution dieser Art in Europa. Ab 1956 leitete Konrad Wachsmann für einige Jahre die Architekturklasse der Sommerakademie, wo er zahlreiche österreichische Architekten für die Idee des industriellen Bauens begeisterte, u. a. Gustav Peichl, Hans Hollein, Friedrich Kurrent, Ottokar Uhl, Hermann Czech. Konrad Wachsmann (1901–1980) war ein deutscher Architekt und Ingenieur jüdischer Abstammung, der 1941 mit Unterstützung Einsteins in die usa emigrierte. Als einer der ersten Architekten beschäftigte er sich ausgiebig mit industrieller Vorfertigung. Ab 1926 war er zunächst Chefarchitekt der auf Holzbauten spezialisierten Firma Christoph & Unmack in Niesky (Oberlausitz). Aus dieser Zeit stammt sein bekanntestes Bauwerk, das Einsteinhaus (1929) in Caputh bei Potsdam, ein schlichtes Sommerhaus in Holzbauweise. In den usa begann er eine intensive Zusammenarbeit mit Walter Gropius. Zusammen entwickelten sie das »Packaged House System«, ein Fertighaussystem in Holzbauweise, mit dem Wachsmann international bekannt wurde. Ein so konstruiertes Haus konnte in weniger als neun Stunden von fünf ungelernten Arbeitern aufgestellt werden. (Trotz der herausragenden Technik wurde das Unternehmen geschäftlich zum Misserfolg.) Wachsmann strebte in seiner Arbeit stets eine universelle Verwendbarkeit der einzelnen Komponenten seiner Konstruktion an  : Mit möglichst wenigen Teilen wollte er eine große Vielfalt an Konstruktionsmöglichkeiten erzielen. Sein Lebenswerk könnte als die Suche nach dem »Universellen Knotenpunkt« bezeichnet werden. Für die Teilnehmer an der Sommerakademie kamen seine Seminare einer Offenbarung gleich. Besonders für die Holzmeisterschüler war der rational konstruktivistische Ansatz der Wachsmann’schen Thesen faszinierend, boten sie doch eine neue Dimension des Bauens an. Der charismatische Konstrukteur setzte einen deutlichen Kontrapunkt zu der romantisch-barocken Künstlerfigur Holzmeister und hob die Architekturdiskussion auf eine neue Ebene – es ging nun nicht mehr »nur« um das formale Endprodukt »Baukunstwerk«, sondern um die Grundlagen und Voraussetzungen des Bauens (Ute Waditschatka, S. 60). Oder, wie Achleitner es leicht 623

ulrike steiner ironisch kommentiert  : »1956 brachte Konrad Wachsmann einen (wie wir glaubten) festen Punkt, um unsere selbst gebastelte architektonische Welt aus den Angeln zu heben.« Allerdings blieb der Ansatz Wachsmanns weitgehend theoretisch, wie vieles noch Theorie blieb in diesen lebendigen, suchenden Jahren an der Wende zu den 1960ern. Der neue technologische Fortschrittsoptimismus wurde bereits gleichzeitig infrage gestellt durch intellektuelle Rebellen wie Friedensreich Hundertwasser mit seinem Verschimmelungsmanifest oder Günther Feuerstein mit seiner Forderung nach experimenteller Architektur.

Wie und was wurde nun wirklich gebaut nach dem theoretischen Aufbruch in die 1960er  ? Letztlich kristallisierte sich aus dem großen Ideenpool ein Stil – trotz aller individuellen Auslegungen der Architekten – der einheitliche Stil der 1960er. Ein Stil, der sich auf die Darstellung der architektonischen Funktion und Konstruktion scheinbar rückhaltlos einlässt, sie jedoch letztlich in seinen besten Ergebnissen dazu benutzt, darüber hinausgehende Botschaften ästhetischer, symbolischer, spiritueller Natur zu vermitteln. Wo das nicht der Fall war, etwa im Massenwohnbau, verkam die funktional dominierte Haltung zu dürrer Flachheit, z. B. zur berüchtigten Ödnis der »Emmentalerbauten«. Das eigentliche Architekturgeschehen spielte sich allerdings ohnehin nicht mehr – wie in der Zwischenkriegszeit – im sozialen Wohnbau ab, sondern erstaunlicherweise am anderen Ende der Nüchternheitsskala  : im Kirchenbau. Das hatte mehrere Gründe. Einer war die Aufbruchsstimmung in der Kirche infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) mit seinen allgemein pastoralen und speziell liturgischen Reformen und den damit einhergehenden Bauaufträgen. Ein weiterer Grund war, dass es hier im Kirchenbau eine interessante und tragfähige Tradition seit der Zwischenkriegszeit gab. Die prominentesten Vertreter waren Rudolf Schwarz, der »rheinische Mystiker«, und eben Clemens Holzmeister, der dominanteste österreichische Lehrer der Generation, die nun zu bauen begann. Vielleicht der wichtigste Grund war aber wohl, dass sich mit dem Kirchenbau eine Gelegenheit bot, relativ frei von allzu praktischen Zwängen neue architektonische Vorstellungen umzusetzen. Wie weit diese Möglichkeit zur freien Entfaltung gehen konnte, zeigt die Kirche Zur Heiligsten Dreifaltigkeit (auch  : Wotrubakirche), erbaut zwischen August 1974 und Oktober 1976 nach Plänen von Fritz Wotruba  : Aufgehäuft aus Betonblöcken wie eine riesige begehbare Plastik, gleicht der Bau eher einem uralten heidnischen Kultplatz als einer christlichen Kirche. 624

architektur in wien nach 1945 Denn »die eigentliche architektonische Diskussion fand merkwürdigerweise zunächst im Kirchenbau statt, ausgelöst durch eine sehr kleine Gruppe reformfreudiger »Neuländer« wie Monsignore Otto Mauer oder Josef Ernst Mayer oder dem damaligen Jesuitenpater Dr. Herbert Muck und dem Herausgeber der »Christlichen Kunstblätter« Dr. Günther Rombold. Besonders motiviert durch Clemens Holzmeister wurde diese Diskussion vor allem im Umfeld der Arbeitsgruppe 4 (neben dem »Einzelgänger« Ottokar Uhl mit seiner Studentenkapelle) geführt, die auch durch ihren Lehrer zum Bauauftrag der Kirche in Parsch/Salzburg kam. Die Aktivitäten hatten in der »Galerie nächst St. Stephan« ihr geistiges Zentrum, wobei es Otto Mauer vor allem um ein neues Verhältnis der Kirche zur modernen Kunst ging. Dieses punktuelle kirchliche Interesse an der Kunst zeichnete eine so große Liberalität aus, dass es in der Folge (bis zum Beginn der 1970er-Jahre) kaum eine architektonische Tendenz gab, die nicht in der Kirche baulich verwirklicht worden wäre. Das ästhetische Spannungsfeld reichte von Rudolf Schwarz bis zur Arbeitsgruppe 4, von Josef Lackner bis zu Johann Georg Gsteu und Ottokar Uhl, von Ferdinand Schuster bis zu Günther Domenig und Eilfried Huth. Beherrscht wurde der Kirchenbau trotzdem von den traditionalistischen Tendenzen, in denen Clemens Holzmeister oder Robert Kramreiter zur Avantgarde« zählten.12 Achleitner – selbst zum engeren Kreis der Gruppe 4 gehörend und damals ein heftiger Verfechter des funktionalistischen Purismus – meinte damit wohl, dass alte Feindbilder dieser Haltung wie das Symbol, das Ritual und der Mythos, sich nicht so einfach aus dem Kirchenbau eliminieren ließen. Selbst die Gruppe 4 kam bei ihrem ersten Versuch mit der Kirche in Parsch nicht ohne diese Elemente aus  : Gerade die betonte Kargheit steigert sich hier zu zeichenhaftem Pathos. Beiden Altmeistern dieser Disziplin, Clemens Holzmeister und Rudolf Schwarz, verdankt Wien zwei seiner bedeutendsten Kirchenbauten der 1960er-Jahre. Die Pfarrkirche Hl. Florian in der Wiedner Hauptstraße (1957–63) von Rudolf Schwarz ist ein Stahlskelett-Betonbau, dessen Konstruktion, Ästhetik und Symbolik sich gegenseitig bedingen. Das Tragwerk des hohen, kastenartigen Baukörpers mit riesigen, dazwischen eingefügten grau-blauen Fensterflächen (Giselbert Hoke) bildet eine feierliche homogene Hülle, die Außenbau und Innenraum vollkommen zur Deckung bringt. Zugleich vermittelt die Semantik der Stützenanordnung eine transzendente Botschaft  : »Die beiden Längswände hängen auf je drei senkrechten Stützen wie Hängebrücken auf ihren Pylonen, nämlich den beiden Eckpfeilern und einem Mittelpfeiler (…) Nach unten folgt dann eine Anzahl von Hängewerken mit einem gemeinsamen Hängepfosten. Zwischen ihnen liegen die schräg abwärts sinkenden Fensterbänder. So wird das Hochschiff gleichsam zu einem Festplatz, um den an Masten Gewinde gehängt sind. So auch wird der

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Bau von Außen zu einem bekränzten Schrein. Das alles ist dem Bau aber nicht hinzugetan, sondern aus einer Konstruktion hervorgebracht, sie liefert selbst das bedeutende Bild. Die tragenden Stützen sind nicht eingespannt, darum mußten die beiden Stirnwände zu starren Scheiben werden, die aus Riegelwerk gebildet sind. Dabei ergab sich vorne eine steigende Gestalt wie ein Baum, der (…) im Altar wurzelt. In die Eingangswand wurde ein Kreuz eingewoben.«13

Ganz anders geht Clemens Holzmeister bei seiner Pfarrkirche Zur Heiligen Familie am Puchsbaumplatz, 1964/66, mit dem Verhältnis von Funktion und Form um. Der Kirchenraum selbst ist eine einfache Sichtbeton-Halle auf vier Pfeilern, und ganz anders als in der Florianikirche von Schwarz mit ihrer bläulichen Lichtmystik kommt das Tageslicht unspektakulär seitlich durch eine Partie Glasbauziegel. Weiter geht aber Holzmeister nicht. Denn der ganze Kirchenraum bezieht sich auf das riesige Mosaik (Carl Unger) an der Altarwand, das mit seinen flammenden Farben dem Raum Atmosphäre, mit seiner Ikonografie Spiritualität verleiht und im Grunde nichts mit der rein architektonischen Funktion zu tun hat. Interessant hingegen ist die Doppelfunktion des Turmes (Abb. 3). Seitlich neben dem kleinen Kubus der Kirche effektvoll inszeniert, ragt er zeichenhaft hoch auf und dient in Wirklichkeit als profanes Treppenhaus (mit der Atmosphäre eines Gemeindebau-Stiegenhauses) des anschließenden schmalen Kopfgebäudes mit Pfarrkanzlei und Pfarrwohnung. Der Schülergeneration Holzmeisters ging es um extremere Lösungen. Johann Georg Gsteu konzipierte das Seelsorgezentrum Baumgarten, Kirche und Nebengebäude in Sichtbeton, 1960 am Puchsbaumplatz 65, unter dem Einfluss Wachsmanns nach einem streng modularen System. Die Grundform ist das Quadrat beziehungsweise der Würfel. Die Maßeinheit ist die Breite eines Schalbrettes  : 75 Zentimeter. Auf diesem quadratischen Raster basieren die Abmessungen aller Gebäude, Innenräume und Einrichtungsgegenstände bis hin zu den Details der Fußbodengestaltung. Den Hauptraum der Kirche bildet ein in der Höhe halbierter Würfel. Die Stahlbetonkonstruktion besteht aus vier Teilen, die zur Mitte hin auskragen und durch Lichtbänder zum Raum verbunden werden. Im Zentrum des quadratisch angelegten Baus befindet sich der Altar auf einem zweistufigen Podest. Die im Quadrat um die Kirche angeordneten Nebengebäude sind in den Maßen so gestaltet, dass die Grundfläche jeweils einem Viertel der Grundfläche der Kirche entspricht. Friedrich Achleitner schrieb über die Architektur der Kirche  : »Johann Georg Gsteu hatte (…) die Auseinandersetzung mit dem Quadrat, dem räumlichen Würfel- auf der Grundlage einer konstruktiven, modularen Ordnung zu einem in sich geschlossenen, sehr komplexen, aber auch alles aus- und abschließenden Raumthema gemacht. Gleichwohl ist mit diesem scheinbar rationalistischen Entwurf ein starker stimmungsvoller und stimmiger Raum gelungen, der kaum mehr überboten werden konnte.« Tatsa626

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Abb. 3: Pfarrkirche Zur Heiligen Familie, Clemens Holzmeister, 1964/66, Puchsbaumplatz

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ulrike steiner che ist, dass bei aller formalen Askese Gsteu nicht ohne Lichtsymbolik auskommt  : Der Kirchenraum bezieht seine enorme Wirkung aus zwei über Wände und Decke verlaufenden Lichtbalken, die sich kreuzförmig überschneiden und die vier Raumkompartimente miteinander verklammern. »Die Pfarrkirche Oberbaumgarten ist einer der wegweisenden Sakralbauten der Nachkriegszeit in Wien. In den Jahren des Zweiten Vatikanums entstanden, stellt sie – als Musterbau der liturgischen Erneuerung – die strengste Raumkonstruktion der 1960er-Jahre dar. Gsteus rationalistischer Ansatz schafft einerseits eine radikale Reduktion der Bauaufgabe ›Kirche‹ auf eine Raumhülle, andererseits erreicht er mit dem ›Lichtkreuz‹ eine kaum zu überbietende sakrale Symbolik.«14 Einen ganz anderen Weg schlug Josef Lackner mit seiner Pfarrkirche in Glanzing, 1966–1970, ein. Hier ist der Außenbau des Sichtbetonbaues nicht nur zurückhaltend-kongruente Hülle für den Sakralraum, sondern entwickelt seine eigene Dynamik. Über der höhlenartigen, offenen Vorhalle steilen sich spitzwinkelig die Partien eines gläsernen Grabendaches auf, zwischen dessen haifischzahnartigen Lamellen das ungefilterte Tageslicht nüchtern in ein ebenso nüchternes Inneres fällt. Weiß lackierte Metallstühle scharen sich im Halbkreis um einen einfachsten Altartisch vor einem Wandkreuz. Lackner interpretiert den Kirchenraum konsequent als Versammlungsraum der Gemeinde und nicht als Ort der des Mysteriums der Fleischwerdung Gottes. Lackner hat damit österreichweit Schule gemacht. Wirklich aufgegangen ist das puristische Konzept jedoch nicht. Die beinahe brutale Trockenheit, Nüchternheit dieser kirchlichen Innenräume verfehlten den Wunsch der Konsumenten (Gläubigen) nach Spiritualität, nach Emotion, nach Symbolen und Metaphern. Die einzige Symbolik war die Symbolik des Lichtes – aber meist eines kalten Alltagslichtes. Glasgiebel und Lichtbänder aus Fensterglas, durch Glasbausteine aufgerissene Wände verleihen diesen Kircheninnenräumen die Atmosphäre einer stillgelegten Fabrikhalle. Wie unzufrieden, nach anfänglichem Stolz, die Pfarrgemeinden mit ihren kalten Kirchen sind, zeigen die hilflosen »Verschönerungsversuche« mit biederen Zimmerpflanzen und Kinderzeichnungen vom letzten Pfarrfest. In dieser Hinsicht interessant ist die Ev. Glaubenskirche in Simmering von Roland Rainer. 1952 ausgezeichnet mit dem ersten Platz beim Wettbewerb für eine evangelische Musterkirche, einer Ausschreibung durch den Evangelischen Oberkirchenrat, diente der Entwurf als Grundlage für die Ausführung 1962/63. Der schachtelförmige Hauptbau ist als Kubus fast so hoch wie lang. Der Raum ist einfach und klar orthogonal strukturiert. Die Materialien, Beton, weißgeschlemmte Ziegel für die Wände, Fichtenholz für die Decke, Asphalt auf dem Boden, oberhalb des Altars ein wandübergreifendes Kreuz aus Glasbausteinen  : Der zeitgenössische Begriff »arte povera« (ursprünglich für Installationskunst) drängt sich auf. Jedoch der Kirchenraum erhält Intensität und Üppigkeit durch eine niedrige Glasfront hinter 628

architektur in wien nach 1945 dem Altar, die den Blick überraschend freigibt nach draußen, auf einen kleinen Hortus conclusus, auf Büsche und Bäumchen, die ohne Kunst-Zutaten dem »Tisch des Herrn« Festlichkeit verleihen. Rechts vom Altar kann nach Bedarf ein niedriger Nebensaal mit Schiebewand zum Hauptraum geöffnet werden. Beide Kirchenräume und weitere Nebengebäude bilden einen Innenhof mit einem acht Meter hohen, einfachen Glockenträger. Ein überdachter Gang vom Eingang bis zum seitlichen Portal der Kirche schließt den Innenhof zum Atrium. Die deutliche bauliche Abgrenzung vom städtischen Umfeld, die idyllische Innenhofatmosphäre des mittleren Rasenplatzes als Kontrapunkt zur spartanisch kühlen Architektur der niedrigen Flachbauten, der Naturbezug, ist charakteristisch für Rainer und lässt die Anlage auch noch 50 Jahre später »frisch und unverbraucht«15 erscheinen. Karl Schwanzer trieb die formale Sparsamkeit mit seiner Christkönig-Kirche in Pötzleinsdorf, 1960/63, am weitesten (Abb. 4). Auch hier bilden Kirche und Pfarrgebäude eine homogene Einheit, deren auffälligstes Element ein sehr hoher, abseits stehender Campanile ist. Die Fassaden der Flachbauten sind in markantem Wechselspiel von Sichtbeton und Klinkermauerwerk gestaltet. Die niedrige Eingangsseite der Kirche, eine durch senkrechte schwarze Eisenlamellen rhythmisierte dunkle, blaue Fensterfront (Gläser von Arnulf Rainer), gliedert sich beinahe unauffällig in die Gesamtanlage ein. Umso größer ist der Überraschungseffekt des Kirchenraumes. Er ist als hohe Halle angelegt, die sich von der breiten Portalseite trapezförmig zum Altar hin verjüngt. Raumbestimmend sind das durchgehende Klinkermauerwerk der fensterlosen Wände und die starke Überhöhung des »Chores«, der mit indirektem Licht von oben durchflutet wird, während das »Schiff« unter der pfeilergestützten Holzdecke im Dämmerlicht liegt. Der gesamte Kirchenraum ist auf den Hauptaltar konzentriert, einen einfachen quaderförmigen Granitblock. Außer einem tragbaren einfachen Metallkreuz war nach den Plänen Karl Schwanzers kein weiterer Schmuck vorgesehen, er vertraute einzig auf die Suggestivkraft von Licht und leerer Wand. (Den Gläubigen erschien dies aber zu karg, sodass sie bald vor allem durch Werke des Bildhauers Franz Barwig jun. nachjustierten, die allerdings in dem souverän nackten Ambiente ziemlich verloren wirken). Schwanzer verfolgt in seinen Kirchenbauten weniger das Konzept »Versammlungsraum«, sondern wie Rudolf Schwarz die Vorstellung eines »Schreines«, eines stillen, abgeschlossenen Meditationsraumes. Das wird auch deutlich in der Gestaltung seiner Eingangsbereiche. Der Schrein öffnet nicht weit seine Tore, man muss den Zugang gleichsam »suchen«. Die Türe (mehr ist es nicht) zur Christkönig-Kirche »verschwindet« in der gleichförmigen Glas-Lamellen-Front und ist nur durch den Türgriff auszumachen. Klassisch schön interpretiert Schwanzer das Motiv der »versteckten Türe« bei der Leopoldauer Pfarrkirche, 1970–72. Der kleine Klinkerbau hat (ebenso wie der nebenstehende Pfarrhaus-Zwillingsbau) die Form 629

ulrike steiner eines niedrigen Zylinders, dessen schlichtes Inneres durch ein schmales Lichtband unter der »schwebenden« Decke erhellt wird. Die Eingangsfront ist hier betont und weit geöffnet, aber nur scheinbar. Dort, wo sich ein Portal auftun müsste, scheint ein innerer Klinkerzylinder den Eingang zu verwehren. Schwanzer setzt hier ein Mauerstück etwas zurückgerückt anstelle einer Öffnung und lässt es erst seitlich mit zwei schmalen, verborgenen Eingangstüren enden. Schwanzer geht bei allem Minimalismus über einen platten Funktionalismus weit hinaus. Für ihn soll Architektur Orientierungen geben, seelisch-geistige Prozesse sichtbar machen und erzeugen. »Der Architekt versucht den Geist der Ordnung und den Sinn der Zusammenhänge in seinen Planungen zu verwirklichen (…) Wir alle haben Augen, die sehen und Empfindungen auslösen, die Gestalten erfassen und ihren Informationsgehalt zu begreifen versuchen. Wenn längst die ursprüngliche Nutzung eines schönen Baues untauglich geworden ist und sich überholt hat, steht das Gebäude noch immer da und erfreut uns. (…) Architektur ist plastisch, sie hat Form, ist Form, mit der Form teilen wir uns mit, genauso wie durch Farbe, Düfte, Töne, Strahlungen und das rätselhafte Fühlen von Sympathie.«16 Karl Schwanzer hatte ähnlich wie Roland Rainer schon seinen Weg gefunden, als der große Aufbruch der Nachwuchsarchitekten am Beginn der 1960er begann. Geboren 1918, schloss er das Studium an der Technischen Hochschule Wien 1941 mit einer Dissertation ab, war 1947–51 Assistent bei Oswald Haerdtl, seit 1949 selbstständiger Architekt in Wien und ab 1959 Professor an der Technischen Hochschule (1965–66 Dekan). Tragischerweise nahm er sich 1975 mit 57 Jahren das Leben. Er war einer der ersten Wiener Architekten, die nach dem Krieg internationale Anerkennung ernteten (Hollein  : Reynolds-Preis  ; Holzbauer  : Wettbewerb Rathaus Amsterdam). U.a. erhielt er 1958 den Grand Prix für Architektur auf der Weltausstellung in Brüssel, 1963 wurde er Ehrenmitglied im Royal Institut of Architects und 1967 im American Institut of Architecture. Er hatte Gastprofessuren in Darmstadt, Budapest, Riad inne und eröffnete 1963 ein zweites Büro in München. Mit seinen Wiener Bauten gelang ihm der Anschluss an internationales Niveau. Das Museum des 20. Jahrhunderts, das »Zwanz’ger-Haus«, war ursprünglich der Österreich-Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel. Die an vier Pylonen hängende Stahlkonstruktion wurde nach der Weltausstellung im Wiener Schweizer Garten wieder aufgestellt, das ursprünglich offene Erdgeschoss verglast und der Innenhof überdacht, sodass das Obergeschoss galerieartig um den freien hohen Mittelraum verläuft. Es entstand eine klar strukturierte, lichtdurchflutete Ausstellungshalle, deren zwanglos-selbstverständliche Atmosphäre dem unkomplizierten Lebensgefühl der »68er-Generation« entsprach. »Architektur erzeugt Stimmungen. (…) Die Architekten besitzen damit ein Instrument, Menschen glücklich zu machen. Ob ein Haus gemütlich, wohnlich ist, ein Gebäude strahlend, einladend, eine Stadt 630

architektur in wien nach 1945

Abb. 4: Pfarrkirche Christkönig-Kirche, Karl Schwanzer,  1960/63, Pötzleinsdorf

schön (dadurch lebenswert und anziehend), liegt in den Händen der Architekten. Die Architektur ist materialisierte Poesie.« Diesem Bekenntnis hat Schwanzer mit seinem »Zwanz’ger-Haus«, das die nächsten Jahrzehnte als einer der wichtigsten Kulturschauplätze Wiens fungierte, Realität verliehen. Ein weiterer Schlüsselbau Schwanzers ist das Bürogebäude der Firma Philips 1962/63, das sogenannte Philipshaus am Wienerberg. Bis zur Errichtung der benachbarten Wienerberg City mit ihren noch höheren Türmen war das Gebäude die Sichtdominante des südlichen Wienerberges und das erste Beispiel für die Verlegung eines großen Verwaltungsgebäudes an den Stadtrand. Die Entscheidung für den exponierten Platz und die für Wien neue, vorgespannte Stahlbetonkonstruktion erfolgte nicht nur aus Mangel an Bau- und Parkplätzen, sondern sicher auch aus Repräsentationsgründen. Zwischen vier Stützen ist der Baukörper so eingespannt, 631

ulrike steiner dass die frei schwebenden Seitenteile wie Flügel an dem leicht überhöhten Mittelteil »hängen«. Vielleicht liegt Achleitner richtig, wenn er in der einprägsamen Silhouette die »Gebärde der ausgebreiteten Arme an einem der exponiertesten Schwellenbereiche der Stadt« sieht. Immerhin steht der Bau gleich neben der Spinnerin am Kreuz, dem berühmten Begrüßungssymbol der Stadt durch die Jahrhunderte, und immerhin ist der Zeichen-Charakter von Schwanzers prominentestem Bau, dem »Vierzylinder-Haus« (bmw-Verwaltungsgebäude) in München, 1973, evident. Vielleicht war es aber vor allem die Faszination des technisch Machbaren, die damals endgültig begann, die Architekten in ihren Bann zu ziehen, und die hier Schwanzer mit der ästhetischen Absicht in vollendeten Einklang brachte. Das technisch Machbare, die Möglichkeiten, die neue Technologien eröffneten, ist das Stichwort für das kühnste technische Projekt der Zeit, den Donauturm. Er wurde 1962–1964 im Zuge der Vorbereitungen zur Wiener Internationalen Gartenschau (wig  64) im Auftrag der Stadt Wien errichtet. Der Holzmeisterschüler Hannes Lintl und der renommierte Statiker Robert Krapfenbauer zeichneten für die Planung verantwortlich. Zum Zeitpunkt der Eröffnung war der Donauturm Europas höchster Stahlbetonturm und Österreichs erster Hochbau, der in gerüstfreier Gleitschalungstechnik errichtet wurde. Die klare Gliederung von Turmschaft, Turmkorb und Antenne wie auch die Bauart als schlanke Röhre in Stahlbetonbauweise ähneln in der Formensprache und der Bautechnik den Türmen nach Vorbild des Stuttgarter Fernsehturms. Statisch gesehen handelt es sich bei dem Turmbauwerk um einen im Baugrund nachgiebig eingespannten Kragträger, dessen hauptsächliche Belastungen das Eigengewicht in Achsrichtung und der Winddruck senkrecht zur Bauwerksachse sind. Während nach Krapfenbauer (1964) die Verkehrslasten keine bedeutende Rolle bei der statischen Berechnung spielten, mussten hingegen Erdbebenlasten und Temperaturunterschiede zwischen der sonnenbestrahlten und der im Schatten liegenden Turmhälfte berücksichtigt werden. Die Knicksicherheiten des Turmschafts wurden unter anderem durch eine Aussteifung des Turmschafts mit drei horizontalen Plattformen erreicht, die als Hauptpodeste fungieren, sowie mit verhältnismäßig leichten Stahlträgern, die gleichzeitig die Podestträger der Stiegenanlage darstellen. Der Schaftdurchmesser beträgt in Geländehöhe zwölf Meter, der Turm verjüngt sich in konkaver Krümmung nach oben hin auf 6,2 Meter Durchmesser in 145 Metern Höhe. Im Weiteren hat der Turmschaft bis zu seinem oberen Ende in 181,95 Metern Höhe einen gleichbleibenden Durchmesser. Auf 150 Meter Höhe umschließt die offene, in Form eines sphärisch gleichseitigen Dreiecks gestaltete Aussichtsterrasse den Turmschaft, wobei die südliche Ecke des Terrassendreiecks in Richtung Stephansdom weist. Knapp darüber befindet sich der zylindrische Turmkorb mit seinen zwei übereinander liegenden Drehrestaurants, die einen Weitblick von achtzig Kilometern bieten und an deren feststehender abgehängter Decke sich radiale 632

architektur in wien nach 1945 Richtungsweiser zu markanten Aussichtspunkten befinden. Die zwei Drehbühnen mit den Tischbereichen der Restaurants und sich mitdrehenden Glasfassaden – eine Weltneuheit. Der Antennen-Stahlmast, über 1,20 Meter in den Turmschaft eingespannt, sichtbar ab 181,95 Meter Höhe, mit seinem zwei Meter hohen Aufbau vollendet die Höhe des Turmes auf 252 Meter. Man kann sich vorstellen, welchen Schub für Prestige und Selbstbewusstsein dieser Turm der Superlative für die junge Republik bedeutete. Aber auch heute noch, obwohl in Nachbarschaft der neueren Büro- und Wohntürme von Donaucity und Wohnpark Alte Donau, imponieren seine Eleganz und die Ausgewogenheit seiner Proportionen – und ist heute noch der höchste Bau Österreichs. Lintl und Krapfenbauer waren in der Folge viel begehrt in techniklastigen Bausparten. In verschiedenen Arbeitsgemeinschaften waren sie an der Planung und Errichtung von Büro- und Verwaltungsgebäuden, Krankenhäusern, Industrieanlagen und Einkaufszentren beteiligt. Krapfenbauer hatte bereits am der Wiederaufbau der Wiener Staatsoper mitgewirkt, er plante u. a. das Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus. Unter Federführung Krapfenbauers sollen im Ganzen 8.000 Projekte entstanden sein  ! Robert Krapfenbauer und Hannes Lintl gehörten zu dem Team, das für die Planung eines weiteren Großprojektes, des neuen akh, 1964–1974, verantwortlich war. Bereits 1957 hatte man den Beschluss gefasst, anstatt des alten Allgemeinen Krankenhauses eine neue große Zentralklinik zu errichten. Der Bau des neuen akh im Alsergrund wurde im Sommer 1964 mit der Krankenpflegeschule inklusive Internat und Personalwohnheimen (drei »Schwesterntürme«) an der Lazarettgasse 14 begonnen. Ab 1968 folgte der zweite Bauabschnitt mit den Universitätskliniken für Kinderheilkunde, Psychiatrie, Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Tiefenpsychologie und Psychotherapie und eines Kindertagesheimes (»Kliniken am Südgarten«). Diese wurden 1974 und 1975 eröffnet. 1970 wurde dann mit der Tiefgarage begonnen und 1974 mit dem Haupthaus. Dieses besteht aus dem Ambulanz- und op-Bereich (51 op-Säle) und zwei großen, insgesamt 22 Stockwerke hohen Bettentürmen, die 2.199 Betten beherbergen. Das neue akh ist ebenso Stadtbild prägend wie der Donauturm, nur ist es nicht so schwerelos. Im Gegenteil, wie zwei bedrohliche Klötze brechen die gigantischen Bettentürme die vergleichsweise zartgliedrige Vorstadtstruktur auf, die Härte der dunklen Kuben nur etwas abgemildert durch das zarte Stahlgitter der die Stockwerke umlaufenden technischen Wartungsbrücken. Im Vergleich zur »Menschlichkeit« in Maßstab und Naturnähe des alten josephinischen akh mit der Heiterkeit seiner baumbestandenen Höfe war das für viele ein Schock. Es mangelte nicht an Kritik von allen Seiten. Heute wird der Bau angenommen, nicht zuletzt, weil er sich als äußerst effizient und durchaus nicht als unmenschlich erwiesen hat. Der weitläufige, durch ein gläsernes Satteldach belich633

ulrike steiner tete Eingangsbereich hat mit Empfangsschaltern, Wegweistafeln, Kiosken, Geschäften, kleinen Cafés das Flair einer Bahnhofs- oder Flughafenhalle und bündelt das enorme Publikumsaufkommen reibungslos. Die einzelnen Krankenstationen sind klein dimensioniert, sehr überschaubar geplant, der Behandlungsablauf vollzieht sich zumeist in kleineren Raumeinheiten, sodass den Patienten der Eindruck einer Massenabfertigung erspart bleibt. Für den in seiner Dimension und Organisation sehr vorausschauend geplanten Eingangsbereich zeichnet Georg Lippert verantwortlich. Lippert, geboren 1908, auch er ein Holzmeisterschüler der frühen Stunde, gehörte zu den am meist beschäftigten Architekten des vorigen Jahrhunderts in Wien. Bereits in den 1930er-Jahren hatte er sich selbstständig gemacht, erreichte aber erst in den 1960er- und 1970er-Jahren neben einer umfangreichen Bautätigkeit in allen möglichen Sparten besonders mit prestigeträchtigen Verwaltungsgebäuden und Bürohäusern seine größte Bekanntheit. Lippert war damals auch langjähriger Vorsitzender des Fachbeirates für Stadtplanung im Sinne der Wiener Bauordnung. Ab 1978 befasste sich sein Atelier (mit zeitweise über 100 Mitarbeitern) vorrangig mit Stadterneuerung, Stadtgestaltung und Gesundheitswesen. In Fragen der Wiener Stadtplanung trat er als Kontrahent zu Roland Rainers Konzeption einer polyzentrischen Struktur auf und engagierte sich verbal, aber auch als Bauschaffender (Bundesländerversicherung 1959, Raiffeisen-ibm-Komplex, Obere Donaustraße 93–95, 1968) im Sinne einer monozentrischen Erweiterung der City über den Donaukanal hinweg. Immer wieder griff er an prominenter Stelle ins Wiener Baugeschehen ein  ; z. B. entstanden 1955 der Opernringhof (mit Carl Appel), das J.-F.-Kennedy-Haus am Beginn der Rotenturmstraße 1964, 1965 das Semperit-Zentrum (anstelle des Palais Erzherzog Rainer) sowie das (dritte) Wiener Dianabad, 1991. Der zu den kommerziell führenden Wiener Großarchitekten zählende Lippert war mit seinen Bauten häufig öffentlicher Diskussion ausgesetzt, etwa mit dem Raiffeisenhochhaus beim Wiener Stadtpark oder der Schließung einer Baulücke am Wiener Schwarzenbergplatz mit einer Stilkopie des im Krieg zerstörten Vorgängerbaus, Bürohaus Mobil Oil, 1980. Besonders heftig kritisiert wurde das Winterthur-Haus, 1973, das als Verbindungsbau zwischen Museum der Stadt Wien und der Karlskirche eine barocke Situation scheinbar wiederherstellen sollte, in seiner architektonischen Hilflosigkeit diesem Anspruch jedoch nicht gerecht werden kann. In der Kritik wird das breit gefächerte Werk Lipperts gerne als Massenware abgetan. Das mag angesichts der Allgegenwärtigkeit seines Architekturbetriebes gerechtfertigt erscheinen. Dennoch gibt es auch in seinem Œuvre Highlights mit subtilerem Charakter. Da ist das Gustinus-Ambrosi-Museum, 1953, am Rande des Augartens, eine kleine erdgeschossige Baugruppe mit Atelier, Wohnhaus, Ausstellungsbau und offener Säulenhalle um einen Gartenhof – ein idyllischer Kunstbezirk, der zugleich »Weihe und Bescheidenheit«17 ausstrahlt und menschlichen Maßstäben 634

architektur in wien nach 1945

Abb. 5: Panorama-Studentenheim, Georg Lippert, 1973, am oberen Verlauf des Donaukanals an der Brigittenauer Lände

folgt. Diese Qualität des »Menschlichen« kommt auch zum Tragen beim PanoramaStudentenheim, 1973, am oberen Verlauf des Donaukanals an der Brigittenauer Lände (Abb. 5). Hier findet das für ein Studentenheim wahrlich luxuriöse Konzept zu einer ungewöhnlich befriedigenden ästhetischen Lösung  : Kleine Gruppen von Studentenzimmern sind großzügigen Sonnenterrassen zugeordnet, die, übereinander gestuft, eine überraschende Pyramiden-Silhouette über dem Wasser ergeben. Diese Terrassenstufen als zugleich wohnliches als auch ästhetisches Element prägen auch einen anderen interessanten Bau zu Ende der 1960er-Jahre, das RZ für Gehirntraumata, 1966–68, von Gustav Peichl. Der kleine Beton-Fertigteil-Bau im Verband des Meidlinger Unfallkrankenhauses liegt etwas abseits im Grünen und holt durch seine breiten Terrassen – auch hier pyramidenartig über drei Stockwerke aufgestuft – die Natur in die Krankenräume. Der sternförmige Grundriss – drei Trakte treffen in stumpfen Winkeln aufeinander – ermöglicht eine bessere Orientierung der Patienten und begünstigt eine überschaubare, kleinteilige Binnenstruktur. Bemerkenswert ist auch hier, wie beim Panoramaheim, die kompromisslose Umsetzung der ästhetischen Vorstellungen der 1960er-Jahre. Klarheit, schnörkellos bis zur Askese getriebene Einfachheit und Übersichtlichkeit, die aus der Funktion erwachsene 635

ulrike steiner Selbstverständlichkeit des Designs, formen sich hier zu überzeugender optischer Schlagkraft. Der Bau ist auch insofern interessant, als Gustav Peichl (allgemein bekannt als der spitzfedrige Karikaturist Ironimus), einer der prominentesten Wiener Architekten, in seiner Heimatstadt bis in die späten 1990er (Millenniumstower) relativ wenig gebaut hat. Geboren 1928, auch er ein Holzmeisterschüler und von 1952 bis 1954 Mitarbeiter im Atelier von Roland Rainer, eröffnete er 1955 sein erstes eigenes Architekturbüro, gründete 1964 die Zeitschrift »Bau – Schrift für Architektur und Städtebau« gemeinsam mit Hans Hollein, Walter Pichler und Oswald Oberhuber. Von 1973 bis 1996 Professor, später Rektor an der Akademie der bildenden Künste, zeichnete er als Architekt sehr viel in Deutschland (Bundeskunsthalle in Bonn, die Kindertagesstätte in Berlin nahe dem Reichstagsgebäude). Die sechs Landesstudios für den orf, 1969–82, in Dornbirn, Eisenstadt, Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg – alle nach demselben Prinzip gebaut – kann man als sein (äußerst gelungenes) Hauptwerk ansehen. Das orf-Zentrum in Wien zeichnete allerdings Roland Rainer. Die »Burg« am Küniglberg ist in vielerlei Hinsicht zum übermächtigen Symbol geworden. Das einst so innovativ geplante Gebäude, 1967–69, war vom baukünstlerischen Standpunkt her bereits leicht antiquiert, als es schließlich 1976 fertig­ gestellt wurde. Die Fertigteilkonstruktion ist in der ästhetischen Thematisierung der Funktion, in der horizontalen Schichtung der Bauteile und nicht zuletzt in der Dominanz von glattem Sichtbeton ein klassisches Kind der 1960er, bei dem es Rainer trotz aller technischen Überfrachtung darum ging, »die Bedeutung und das Wesen dieses Mediums mit seinem gleichzeitig gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Charakter zum Ausdruck zu bringen«. »Der Bau zeigt aber auch die gesuchte Konfrontation zwischen Technik und Landschaft. Ein Beispiel hierfür ist der Blick von der Eingangshalle einerseits über das Wasserbecken in die Weite der Umgebung, andererseits in den zentralen Gerätekomplex mit seinen eindrucksvollen maschinellen Einrichtungen. Der vom Zweck her diktierten Technisierung wurden eine reiche Bepflanzung um die Anlage und eine durch das Reflexionsbecken erzielte Klimaverbesserung entgegengestellt. Die Forderung nach rationeller Konstruktion wirkte auf die Baugestalt vereinheitlichend. Vorfabrizierte Stahlbetonträger bringen in ihrer plastischen Modellierung den statischen Kräfteverlauf zum Ausdruck. Das Gebäudegerüst besteht aus mehreren hundert gleichen, aus schalreinem Stahlbeton gefertigten Parapet-Trägern von 15 m Länge und 1,5 m Höhe. Die Kassettendecken sind ebenfalls vorgefertigt. Auch die wegen der Akustik notwendigen Vollwandkonstruktionen der Studios bestehen aus 1,5 m hohen Elementen  ; sie sind wie bei einem Blockhaus an den Ecken verkämmt. Die sichtbare Führung von Leitungen aller Art erspart Verkleidungen und verstärkt die Verständlichkeit und Aussagekraft des 636

architektur in wien nach 1945 Bauwerkes. Das Gebäude hat keine Fassade im herkömmlichen Sinn, es besteht aus einer sowohl im Äußeren als auch innen offen sichtbaren Konstruktion. Der gesamte Komplex ist in verschiedene Trakte gegliedert, wodurch große unbelichtete Innenzonen vermieden wurden. Zwischen den verbauten Flächen liegen verschiedenartig bepflanzte Höfe und Freiflächen. Der Bau sollte nicht wie eine bedrohliche Maschine wirken  ; deshalb sind auch aus den zentralen technischen Räumen Ausblicke in die Landschaft möglich  ; die Benützer können den Sonnenschutz – die Aluminiumjalousien liegen außen – selbst steuern, die Fenster sind beliebig zu öffnen. Anstatt geschlossener Liftkabinen ermöglichen rundum verglaste Aufzüge einen offenen Ausblick. Im Erdgeschoß liegen u. a. die Eingangshalle, der zentrale Gerätekomplex, Vorführräume, das große Synchronstudio und die edv-Anlage, im ersten Obergeschoß sind um eine zentrale Montagehalle die Produktionsstudios mit den zugehörigen Werkstätten, Ateliers, Labors und Schneideräumen untergebracht. Das tv-Theater, das man über ein Foyer mit Blick über den Süden Wiens erreicht, weist eine 740 m2 große Spielfläche auf und ist mit sechs Farbkameras ausgestattet. Bei der Planung dieses Theaters wurden u. a. die Erfahrungen eines im Juli 1968 in Wien abgehaltenen Symposiums internationaler Bühnenfachleute berücksichtigt. Über dem ersten Obergeschoß befinden sich Büros und Besprechungszimmer. Im Untergeschoß liegen getrennte, begehbare Energie- und Videotonkanäle, welche die technische Verbindung zu der am Nord-Ostrand der Anlage bestehenden Energiezentrale herstellen.«18 Dieses Zitat veranschaulicht eindrucksvoll das Dilemma der 1960er  : Einerseits war da die prinzipiell konstruktiv-funktional orientierte Grundhaltung, die problemorientiert ausgerichtet war, andrerseits gab es den Wunsch nach auch ästhetisch überzeugenden Lösungen. Rainer versuchte häufig, diesen Konflikt durch Hereinnahme von Naturelementen zu entschärfen.

Die nächsten Jahrzehnte sollten andere Wege beschreiten Zugunsten neuer gestalterischer Vorstellungen wurde die Vordergründigkeit der Funktion zurückgenommen, ja verschleiert, rein technische Bauteile verschwanden wieder hinter glatten Außenwänden, rauer Sichtbeton wich spiegelnden Glasflächen. Eine neue Opulenz verdrängte die Sprödigkeit (man war nun versucht zu sagen  : Dürftigkeit) des alten Purismus. Ein Initialbau war dabei das Juridicum 1970–84 von Ernst Hiesmayr (Fassade Josef Schaal). Der Tiroler Hiesmayr, Jahrgang 1920, baute wenig in Wien, war aber ab 1973 hier Dekan der Fakultät für Bauingenieurswesen und Architektur und von 1975 bis 1977 Rektor an der Technischen Universität. Der Neubau der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, nahe der Börse, auf einer räumlich begrenzten Innenstadt637

ulrike steiner parzelle, inspirierte ihn zu einem Bravourstück. Um den Hörsaal mit einer nur gering belastbaren Decke in das Kellergeschoss verlegen zu können und gleichzeitig ein sehr freies Erdgeschoss (ohne Säulen und Träger) zu erreichen, entschied er sich schließlich für eine »Brückenkonstruktion«  : Es wurden vier, jeweils paarige, Türme errichtet (in denen u. a. auch Lift, Toiletten und Versorgungsanlagen untergebracht sind), über welche eine Fachwerkskonstruktion aus Stahl gebaut wurde. Von dieser Konstruktion wurden alle Geschosse abgehängt. Die einzelnen Stockwerksböden sind also nicht von unten hochgebaut, sondern hängen von oben herab. Damit hat man erreicht, auf gleichem Raum mehr Stockwerke unterzubringen und bauen zu können. Die hängenden Säulen werden von warmem Wasser durchlaufen und temperieren somit das Gebäude. Die Hängekonstruktion ist jedoch nicht betont, sondern durch die filigrane Gestaltung der Fassade eher verdeckt. »Man ahnt nur, daß die an den Gebäudestirnen weit ausladenden vier oberen Geschosse nicht nur kragen dürften, dafür ist die Ausladung viel zu groß.«19 Die Optik, besonders die des Außenbaues, ist allerdings beeindruckend. Ebenfalls mit einer Brückenkonstruktion arbeitete Kurt Hlaweniczka (Abb. 6) beim Bau der Unfallversicherungsanstalt, 1972–77, Adalbert-Stifter-Straße 65. Zwischen mächtigen Betonzylindern, die das gesamte technische Equipment beinhalten, eingespannte »Brücken« tragen von oben filigrane Skelette aus Stahlröhren, die ihrerseits abgehängte Bürogeschosse stützen. Beeindruckend und für die Zeit überraschend die ästhetische Wirkung des Gegensatzes zwischen weißgeschlämmten Trägerzylindern und zartblau- durchscheinenden Curtain Walls. Überhaupt begann in den 1970ern eine neue Lust am Schauen, Neuen, Ungewöhnlichen in der Architektur. Ein Paradebeispiel dafür war die uno-City, der Prachtbau des Jahrzehnts. Das Vienna International Centre (vic), allgemein als uno-City bekannt, errichtet 1973 bis 1979 nach den Plänen des Architekten Johann Staber als Amtssitz für die Vereinten Nationen im 22. Wiener Gemeindebezirk, liegt heute im Zentrum der später entstandenen Donau-City. Die Anlage besteht aus sechs Bürotürmen mit der markanten Grundrissform eines Ypsilons, die in Paaren um ein zentrales, rundes Konferenzgebäude angeordnet sind. Dem Grundriss der Anlage liegt eine imaginäre Wabenstruktur (Sechsecke) zugrunde. Die Gebäude sind so angeordnet, dass sie sich so gering wie möglich gegenseitig beschatten. Der Gebäudekomplex ist auf einer Grundfläche von 17 Hektar errichtet, die gesamte Geschoßfläche beträgt 230.000 Quadratmeter, wobei der höchste Turm 28 Geschosse und eine Höhe von 120 Metern aufweist – also eine Anlage von beträchtlichen Dimensionen. Das Sensationelle war allerdings, wie geschmeidig Staber diese Baumassen anordnete, sodass sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig steigern und zugleich leicht und elegant wirken. Dies gelang ihm einerseits durch eine geschickte Staffelung der Bauhöhen, andererseits durch das Sys638

architektur in wien nach 1945

Abb. 6: Unfallversicherungsanstalt, Kurt Hlaweniczka, 1972–77, Adalbert-Stifter-Straße

tem konkaver Curtain-Wall-Geschosse, die auch hier mittels Brückenkonstruktionen zwischen schmale Betonträger eingespannt sind. Das Ergebnis ist eine vor- und zurückschwingende Baugestalt, die besonders im Spiel des Lichtes über der Neuen Donau zu Wirkung kam. Zwei Faktoren schmälern heute die ursprüngliche Intention. Angeblich fühlte sich der Architekt durch die Tragseilbögen der benachbarten alten Reichbrücke zu seinen konkaven Fassaden inspiriert – dieser korrespondierende Effekt ging mit dem Einsturz der Brücke bald nach der Fertigstellung der uno-City leider verloren. Viel schwerer wiegt jedoch der Verlust der freien Sicht auf das einst monolithische Bauwerk durch die dichte (städtebaulich etwas willkürliche) Verbauung der »Platte«. Staber zeichnete noch das Austria Center Vienna, 1982–87, dann trat er leider in der Wiener Architektur nur noch wenig in Erscheinung. Nicht so der Erbauer der Unfallversicherung Kurt Hlaweniczka. Im Gegenteil, gemeinsam mit Kollegen wie Lintl, Harry Glück usw. war er an der Entwicklung eines neuen Bautyps in den späteren 1970ern maßgeblich mitbeteiligt. 639

ulrike steiner Es sind dies Bauten, die die Curtain Walls, die durchgehende Verkleidung der Fassade mit Glas, bis zur letzten Konsequenz treiben. Der gesamte Baublock wird mit Glasflächen überzogen, der Bau wird weniger als Architektur, sondern als skulpturaler Block verstanden, dessen Innenleben hinter den spiegelnden, meist dunkel getönten Glasflächen verschwindet. Angeregt durch internationale Vorbilder entstanden in Wien in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre einige ziemlich spektakuläre Baugruppen, die in ihrer schimmernden Unnahbarkeit abweisend und fast brutal wirken, wie das Internationale Pressezentrum, Wien 19 (Hlaweniczka), oder die Folge von pavillonartigen Kubaturen der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Wien 2 (Hlaweniczka mit Lintl). Den Höhepunkt dieses Stils markiert die Überbauung des Franz-Josefs-Bahnhofs, 1975–80, durch K. Hlaweniczka, K. Schwanzer, H. Glück, F. Requat und T. Rein­ thaller. Im Mittelpunkt stand dabei jedoch nicht der Bahnbetrieb selbst, sondern die möglichst gewinnbringende Verwertung von innenstadtnahen Liegenschaften als Büroflächen. Über den Gleisanlagen wurde eine Betoneindeckelung errichtet und u. a. mit technischem Zentrum der ca, Wirtschaftsuniversität, Naturwissenschaftlicher Fakultät der Universität Wien und Postdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland verbaut. Bemerkenswert ist an dem langgestreckten Baukoloss mit dem pompösen Stiegenaufgang vom Julius-Tandler-Platz her die völlige Formneutralität seiner Multifunktionalität gegenüber. Am verspiegelten Außenbau sind die komplexen Bauaufgaben nicht mehr abzulesen, verschwinden hinter dem Glasvorhang der Fassaden. Ganz andere Wege beschritt das Team Harry Glück & Partner, Kurt Hlawe­ niczka und Requat & Reinthaller allerdings im Wohnbau. Der Wohnpark Alt-Erlaa, 1973–85, das wohl ambitionierteste Wohnprojekt der zweiten Jahrhunderthälfte in Wien, transponiert letztlich die 1960er-Ideologie von der aufgelockerten, durchgrünten, durchlichteten Stadt (Roland Rainer) in die Vertikale. Riesige, hohe Terrassenwohnblöcke zwischen großen Grünflächen, steil ansteigende Grüngärten zu beiden Seiten, Terrassen mit Pflanzentrögen bis ins zwölfte Geschoss, Loggien vom 14. bis zum obersten Stockwerk, Schwimmbäder auf den Dachterrassen, monumentale Gemälde von Georg Eisler, Adolf Frohner, Alfred Hrdlicka, Karl Korab und Fritz Martinz in den Eingangshallen, dichte Infrastrukureinrichtungen erzeugen eine Architekturrealität, die weit entfernt ist von »gesichtslosem Massenverkehr und vom urbanen Leben abgeschlossenen Ebenen«, die Achleitner dem Franz-JosefsBahnhof attestierte.20 Diese Unpersönlichkeit der Glasfronten sollte jedoch bald brüchig werden. Ein kleiner Bau, allerdings in exponierter Lage am Donauufer, das Schifffahrtszentrum Wien (ddsg Mexikoplatz, Handelskai 265), 1979–81, von Heinz Scheide, lässt erste dafür Anzeichen erkennen (Abb. 7)  : auch hier blaue abgerundete glatte Curtain 640

architektur in wien nach 1945

Abb. 7: Schiffahrtszentrum Wien (DDSG), Heinz Scheide, 1979–81, Mexikoplatz, Handelskai

Walls, in drei Stockwerksterrassen um einen weißen Betonzylinder gestaffelt, wie schwebend über dünnen weißen Rundpfeilern. Aber diese Fassade, dieser Außenbau erzählt eine Geschichte, sie ist zum Bedeutungsträger geworden. Wir sehen Schiffsaufbauten um einen weißen Schlot, das »Schweben« des Baukörpers wird zum Gleiten auf dem Wasser, die Bausemantik signalisiert uns »Schiff«  : Wien ist in die Ära der Postmoderne eingetreten. Die Postmoderne in der Architektur ist die entschiedene Gegenströmung zum nackten Funktionalismus. Zentrales Element ist dabei meist die Fassade, sie wird zum Bedeutungsträger des Gebäudes, sie transportiert quasi die Botschaft, die »story« einer Architektur. Das wird durch die Verwendung von Schmuck, Ornamenten, Symbolen oder Versatzstücken historischer Architektur (oft mit einem Augenzwinkern) erreicht. Der verwendete Beton ist kaum sichtbar, da er mit verschiedensten Materialien verziert werden kann. Neben den oft provozierend bunten Farben wird auch gerne Glas verwendet. Charakteristisches Element der Postmoderne ist ein extremer Stilpluralismus, der oftmals in einer Anhäufung von Zitaten verschiedenster Kunstperioden kulminiert. Der Grundsatz, dass in Literatur, Film, Architektur und bildender Kunst nichts 641

ulrike steiner Neues mehr zu schaffen sei (eine Position, die freilich schon Thomas Mann vertrat), führt hier zum spielerischen Umgang mit vorhandenem Material. Die anscheinende »Rückbesinnung« auf Geschichte und Traditionen aber erweist sich als Versuch, die überlieferten Verfahrensweisen zu einem neuen Ganzen zu collagieren. Dabei werden Grenzen zwischen Kitsch und Kunst, Massenkultur und elitärer Kunstauffassung bewusst verwischt21 – einprägsamstes Beispiel  : Las Vegas mit seinen architektonischen Anleihen beim »Alten Kontinent«. Die Postmoderne ist also streng genommen kein »Stil«, sondern eine Haltung der Architekturschaffenden, die sich aus dem immensen Stilpool der Architekturgeschichte bedient, oft mit leichter Hand und Ironie, um etwas Neues, Überraschendes zu gestalten. Denn darum ging es trotz allen theoretischen Überbaues letztlich  : um das Vergnügen des Schauens nach der Ernsthaftigkeit und Spröde der letzten Jahrzehnte, etwas noch nie Gesehenes zu bestaunen, etwas Verspieltes, etwas, das die Phantasie anregte. Bereits 1972 gab es einen Hinweis, wie ausgehungert das Publikum nach optischen Reizen war. Ein Wiener Kandidatenpaar wurde bei der Eurovisionssendung »Wünsch Dir was« mit der Außenummalung seiner Wohnungsfenster durch Friedensreich Hundertwasser überrascht. Die Fenster in einem typischen glatten, faden Gemeindebau der 1950er-Jahre wurden von Hundertwasser mit amorphen Farbblasen umgeben und entpuppten sich als unglaubliche Sensation. Ganze Scharen von Schaulustigen pilgerten nach Dornbach zum Ernest-Bevin-Hof und starrten fasziniert zu besagten Fenstern empor. (Die Spielkandidaten selbst waren seinerzeit mit der Bemalung ihrer Wohnungsfassade im typischen Stil von Hundertwasser, die später durch ein witterungsbeständiges Mosaik ersetzt wurde, überhaupt nicht einverstanden.) Der exzentrische Revolutionär Hundertwasser, Jahrgang 1928, beschäftigte sich, obwohl zunächst durch seine Malerei populär geworden, bereits seit den frühen 1950er-Jahren mit Architekturtheorie und trat für eine natur- und menschengerechtere Architektur ein. Er begann sein Engagement mit Manifesten, Essays und Demonstrationen wie dem »Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur« (1958), in dem er die Ablehnung des Rationalismus, der geraden Linie und der funktionellen Architektur formulierte  ; in den »Nacktreden für das Anrecht auf die dritte Haut« (1967 in München, 1968 in Wien) behauptete Hundertwasser die Versklavung des Menschen durch das sterile Rastersystem der Architektur und durch die Serienfabrikation einer mechanisierten Industrie22 und schließlich in der Rede »Los von Loos – Gesetz für individuelle Bauveränderungen oder ArchitekturBoykott-Manifest« (1968). Hier bezog er sich auf die in der Tradition des österreichischen Architekten Adolf Loos (»Ornament und Verbrechen«) entstandene ratio­ nale, sterile Architektur, die für ihn in ihrer tödlichen Eintönigkeit verantwortlich 642

architektur in wien nach 1945 war für das Elend der Menschen. Er rief zum Boykott dieser Architektur auf, forderte schöpferische Baufreiheit und das Recht zur individuellen Bauveränderung.23 In diesem Zusammenhang prägte er die Begriffe »Fensterrecht« und »Baumpflicht« (1972). In den 1970er-Jahren ließ Hundertwasser erste Architektur-Modelle anfertigen, beispielsweise die Modelle für die Eurovisionssendung »Wünsch Dir was«, mit denen er seine Ideen der Dachbewaldung, der Baummieter und des Fensterrechts veranschaulichte. In diesen Modellen schuf er architektonische Formen wie z. B. das Augenschlitzhaus, das Terrassenhaus und das Hoch-Wiesen-Haus, später kamen die Modelle Grubenhaus, Spiral-Haus, die Begrünte Tankstelle sowie die Unsichtbare und unhörbare Autobahn hinzu. Seit den frühen 1980er-Jahren betätigte sich Hundertwasser als »Architekturdoktor«, wie er sich selbst bezeichnete. Mit dem Bau der Wohnhausanlage der Gemeinde Wien (mit den Architekten Krawina und Pelikan) in der Löwengasse begann seine eigentliche Arbeit im Bereich der Architektur. Das Haus wurde sofort zum Touristenmagneten. Auch Hundertwassers zahlreiche Folgeprojekte in Europa und Übersee (in Zusammenarbeit mit den Architekten Springmann und Pelikan) wurden vom breiten Publikum in der Regel sehr beifällig aufgenommen, von der Architektenschaft und der Fachkritik aber zumeist virulent abgelehnt. Besonders scharf gestaltete sich diese Konfrontation um die Mitte der 1990er-Jahre. Eng verbunden mit Hundertwassers Philosophie einer Architektur in Harmonie mit der Natur war sein ökologisches Engagement (Humusklosett). Seine Architekturen sind unverkennbar und einzigartig, sie spielen mit Unregelmäßigkeiten, bunt glasierten Bauteilen, schiefen Säulchen zum Beispiel, die wie Kinder-Bauklötzchen wirken, farbenfrohen Mosaiken, geschwungenen Linien, unebenen Fußböden, bebuschten Fassadenteilen. Sie wirken in ihrer heiteren, beinahe kindlichen Anarchie wie kleine kostbare Juwelen im Großstadt-Alltagsgrau. In Wien gibt es außer dem Hundertwasser-Krawina-Haus, 1983–85, und dem Hundertwasser-Museum Kunsthaus Wien, 1989–91, die umstrittene Verkleidung der Müllverbrennungsanlage Spittelau, 1988–97. Die thermische Abfallbehandlungsanlage der Fernwärme Wien GmbH, dominierend über dem oberen Donaukanal gelegen, wurde 1971 fertiggestellt. Sie wurde dort platziert, um Wärme für das circa zwei Kilometer entfernte Neue Allgemeine Krankenhaus bereitzustellen. Die fortlaufende Anpassung an den letzten Stand der Rauchgasreinigungstechnik führte zur Nachrüstung mit einer Rauchgas-Nasswäsche (1986–89) sowie einer hochmodernen Entstickungs- und Dioxinzerstörungsanlage (1989). Zur gleichen Zeit wurde die äußere Fassade des gesamten Fernwärmewerks nach einem Großbrand 1987 durch Friedensreich Hundertwasser neu gestaltet und der Schlot mit einer riesigen goldenen Kugel versehen (ursprünglich als eine Art Lampion gedacht, technisch jedoch wohl nicht zu verwirklichen). Man wird in ganz Österreich wohl kein Gebäude finden, das so sehr der Vorstellung der Postmoderne des »dekorierten Schuppens« entspricht. 643

ulrike steiner Der amerikanische Postmodernetheoretiker Robert Venturi weist darauf hin, dass – wie in Las Vegas – einem Gebäude, das eigentlich eine banale Kiste ist, durch eine beliebige Fassade jegliches Aussehen gegeben werden kann. Es gibt keine Verbindlichkeiten Baufunktion–Bauästhetik mehr, es gibt nur noch eine pluralistische Grundhaltung in Bezug auf Methoden und Konzepte. Hier im Kraftwerk Spittelau ist die postmoderne Devise »anything goes« und »form follows fiction« ganz klar verwirklicht. (Das Konzept hat übrigens Nachahmer gefunden − so wurde in Osaka/ Japan eine thermische Abfallbehandlungsanlage in ähnlichem Stil erbaut.) Aber – »Wien ist anders«. Es gibt in Wien nur ein einziges Großgebäude, das die ursprüngliche Idee der Postmoderne, nämlich historische Bauelemente wie kulissenartige Versatzstücke in die zeitgenössische Architektur einzufügen, verwirklicht  : Peter Czernins Bundesländerhaus, 1984–86, eine Mall-artige Anlage nahe des Donaukanals, gegenüber der Urania (Abb. 8). Im Konzept äußerst am Puls der Zeit – Bank, Ministerien, Restaurant, Friseur –, alles unter einem Dach, greift Czernin hier in der architektonischen Umsetzung zu überwunden geglaubten historisierenden Mitteln. Die Flügel der polygonalen Anlage, eingespannt zwischen mächtigen Backsteintürmen mit ägyptisierender Kapitelbekrönung, tragen Plastikverkleidungen, die, mit einiger Nachsicht, von Klimt stammen könnten. Der Bau ist umstritten, aber imponierend. Allein die mittlere Eingangshalle, in der ein ziemlich naturalistischer »Gigant« von Hanak eine weite Glaskuppel zu stemmen scheint, lädt dazu ein, die fast durchwegs negative Meinung der offiziellen Architekturkritik noch einmal zu überdenken. Ein im Gegensatz zum Bundesländerhaus viel bestauntes und gepriesenes kleineres Architekturwerk ist die ehemalige Z-Zweigstelle Favoriten, 1975–79, von Günther Domenig, Favoritenstraße 118. Dabei unterscheidet sich hier Domenig nur in der Auswahl der kulissenhaften Elemente, die er – ganz im Sinne der Postmoderne – in seine Architektur einbaute und sie damit »interessant« machte. Sind es bei Czernin altägyptische oder Klimt’sche Reminiszenzen, so bediente sich Domenig zwar ebenfalls des Jugendstils, vor allem aber der mitunter brutalen Sprache des Funktionalismus. Während die schimmernde silberfarbene Metallfassade im oberen Teil Gaudí-hafte Wellen schlägt, öffnet sie sich im unteren Teil Fischmaul-artig in ein Inneres, das von dicken metallenen Lüftungsschläuchen wie von Adern durchzogen ist, wo sich metallene Tragekonstruktionen beinahe aufdringlich spreizen und riesige stützende Betonhände aus den Wänden wachsen. Hier wird die ehrliche, wenn man will auch naive Haltung des konstruktiven Funktionalismus endgültig ad absurdum geführt. Solche Bauten sind Experimente, wie auch die architekturgewordenen Träume eines Friedensreich Dunkelbunt Hundertwasser. Letztlich spiegeln sie den fröhlichanarchischen Lebensentwurf der Jugendkultur in den 1970ern wider. Sie sind »Hingucker«, fast immer an Stellen etwas im Abseits, die städtebaulich irrelevant sind, 644

architektur in wien nach 1945

Abb. 8: Bundesländerhaus, Peter Czernin, 1984–86, nahe des Donaukanals, gegenüber der Urania

nicht in historische Strukturen eingreifen und so auch keine Verantwortung übernehmen müssen. Ganz anders verhält es sich jedoch mit einem Bau, der zielgenau an den wohl kritischsten Punkt der Wiener Innenstadt gesetzt wurde, dem Haas-Haus, 1985–90, von Hans Hollein, Stock-im-Eisen-Platz 4. Es steht an einem Platz von immenser historischer Perspektive  : an der südwestlichen Ecke des ehemaligen Vindobona, das heißt, hier verlief bis ins mittelalterliche 12. Jahrhundert die Grenze zwischen Stadt und Peripherie. Erst 1190 wurde der Graben (Stadtgraben) zugeschüttet, St. Stephan begann ab 1137 außerhalb der Mauern zu entstehen. Zwischen dem Domfriedhof und dem zum neuen städtischen Zent­rum heranwachsenden Grabenplatz lag der kleine, nur durch enge, kurze Gässchen zu erreichende Rossmarkt (später Stock-im-Eisen-Platz). Diese mittelalterliche Situation änderte sich erst im 18. Jahrhundert mit der Aufgabe des Friedhofs von St. Stephan und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts ganz verwischt (1865–67). Nicht gelöst wurde die uralte Rolle des Gelenkbaues zwischen Graben und den Stadtraumrudimenten Stock-im-Eisen- und Stephansplatz. Im Zuge der Vereinheitlichung dieser Gegend erbauten Sicardsburg und van der 645

ulrike steiner Nüll (die Opernarchitekten) das erste Haas-Haus, einen Eisenständerbau in üppigem Neorenaissance-Dekor. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach den Bombenzerstörungen betonierten Fellner, Appel und Wörle 1952 die halbherzig verschleifende Lösung zwischen Graben-Platzwand und Stephansplatz-Westwand mit ihrem mageren Looshaus-Verschnitt. Heftig unterstützt von Bürgermeister Helmut Zilk erhielt schließlich Hans Hollein von Kommerz Real und der Versicherung »Wiener Verein« den Bauauftrag für das neue Haas-Haus. Hollein, geboren 1934 in Wien, Holzmeisterschüler auch er, studierte außerdem am Illinois Institute of Technology (iit), Chicago (1958–59) Architektur und Städtebau  ; in Berkeley, am College of Environmental Design, erwarb dort 1960 den Master of Architecture. 1967–76 war er Professor für Baukunst an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, dann bis 2002 an der Universität für angewandte Kunst Wien. Gastprofessuren in Los Angeles, Yale und Ohio. Zu seinen wesentlichen Bauten zählen öffentliche Institutionen wie etwa das Städtische Museum Abteiberg, Mönchengladbach, 1972–82, das Museum für Glas und Keramik, Teheran, oder 1977–78 das Museum für Moderne Kunst, Frankfurt. Allein dieses Schlaglicht lässt den Lebenslauf eines Internationalen erkennen. Tatsächlich war das Haas-Haus der erste große Auftrag, den der bereits Fünfzigjährige in seiner Heimatstadt annahm. Allerdings hatte Hollein bereits in den vorangehenden Jahrzehnten durch die Gestaltung von kleineren Geschäften in der Innenstadt Aufmerksamkeit erregt. Zumindest seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehören in Wien der Umbau und die Einrichtung von Geschäften und Lokalen zur Spielwiese und zum Experimentierfeld junger Talente, und es gibt kaum eine Architektenkarriere, die an dieser architektonischen Kleinkunst vorbeiführte. Für die 1960er- und 1970erJahre sind Namen wie Retti oder Schullin als Bauherren und Hollein als Architekt Symbole dieser Szene. Das Kerzengeschäft Retti, 1964/65, Kohlmarkt 12, ein winziger silberfarbener Metallschrein, der Außen und Innen zu einem kostbaren Gehäuse verbindet, in dem die Kerzen nicht wie »Ware«, sondern wie reine Dekorationsstücke wirkten, verblüffte und verzauberte das Publikum. Ein erster Hauch von Märchen, von Aladins Wunderlampe, kurz, von Postmoderne war zu spüren. 1972–73 gestaltete Hollein am Graben 26 für den Juwelier Schullin ein weiteres Schmuckkästchen  : Eine goldverkrustete »Druse« über dem Portal signalisiert »Kostbarkeit« und »Pretiosen«. Das zweite Geschäft für Schullin & Söhne, 1981/82, Kohlmarkt 6, verzichtet bei seiner Fassadengestaltung bereits auf geschäftsspezifische Symbolik, die Türrahmung durch eine fallbeilartige Formation ist rein als dekoratives »Zitat«, als vage an archaische Riten erinnernde Echoform im Sinne der Postmoderne zu verstehen. Das Haas-Haus greift das Thema »Geschäftslokal« in großem Maßstab wieder auf. Es war eine shopping mall und markierte den Höhepunkt der Entwicklung dieses Genres in Wien. Ein Österreicher, der in die usa emigrierte Architekt Victor 646

architektur in wien nach 1945 Gruen, gilt mit seinem 1956 entstandenen Southdale Center bei Minneapolis als Vorreiter heutiger moderner, komplexer Einkaufszentren. War das aez, 1957 von Architekt Joseph Wöhnhart, auf der Überdeckung des Schnellbahnhofes WienLandstraße ein reiner Nutzbau ohne weiterreichenden Anspruch, bemühten sich Wolfgang und Traude Windbrechtinger beim ekzent Hietzing, 1962–64, innerhalb eines Gesamtkonzeptes von Roland Rainer um ein ästhetisch ansprechendes, sozial »anheimelndes« Ambiente. Nahe der Hietzinger Pfarrkirche schufen sie so etwas wie einen künstlichen Dorfplatz, umgeben von Geschäften und Lokalen, ein räumlich begrenztes Konzept, das sich aber bis heute als tragfähig erweist. Das seinerzeit aufsehenerregende Generali Center in der Mariahilfer Straße, 1970–76, von Hannes Lintl und Ferdinand Riedl, griff die Idee einer überschaubaren Markt-Architektur in urbanem Rahmen auf und setzte sie entsprechend der damaligen Technik-Lastigkeit in einem ziemlich rüde wirkenden Funktionalismus um. Nachdem die großen Einkaufszentren dz 1975, scs 1976, die Kaufkraft an die Peripherie zogen, versuchte man mit dem Haas-Haus einen kleinen, aber feinen Gegenpol zu schaffen. Hollein schuf einen wahren Einkaufs-Tempel. Um einen konischen, vom Erdgeschoss bis zur durchscheinenden Kuppel sich öffnenden Innenraum – das »Atrium« – gruppierten sich im Rund exklusive Geschäfte, Lokale, Brunnennischen, kleine Ruheplätze, alles verbunden durch ein unübersichtliches Auf und Ab von Rolltreppen, Treppchen und Stiegenpodesten. Über dem ganzen Verwirrspiel schwebte auf Zehenspitzen ein weiblicher Genius, der in den Händen einen Neon-Regenbogen emporreckte. Leider ist von der postmodernen Dekadenz außer den Restaurantlokalitäten in den obersten Geschossen nicht viel übrig geblieben. (Möglicherweise auch, weil die staunenden Besucher die Käufer überwogen.) Trotzdem war die shopping mall nur ein Vorwand, begründet auf der jüngeren Tradition des Bauplatzes. In Wirklichkeit wollte das neue Wien, das endlich sein Selbstbewusstsein wiedererlangt hatte, ein starkes Signal setzen, mitten im Herzen der Stadt, direkt gegenüber von St. Stephan. Eine wahrlich heikle Aufgabe, die Hollein, soviel steht fest, mit Bravour löste. Zu Hilfe kam ihm, dass für den Neubau die Wiener Bauordnung insofern verändert wurde, dass er nicht mehr zu einer stilistischen Anpassung an die Nachbarhäuser gezwungen war. Er hatte also freie Hand. Trotzdem ging er äußerst sorgsam vor. Als wesentlichste Grundlage sah er die seit dem Mittelalter bestehende Rolle des »Vindobona-sw-Eckes« als »Wackelstein«24 zwischen Graben, Stock-im-Eisen- und Domvorplatz. Es ging ihm um eine elegante Vermittlung dieser nur aus dem historischen Verständnis zu begreifenden uralten örtlichen Gegebenheiten und zugleich um einen festen Anker, der Klarheit in die vage Situation bringen sollte. Die Harmonisierung der unterschiedlichen Bereiche um den neuen Bau bezog sich nicht so sehr auf die barocken kirchlichen Gebäude, die von Churhaus bis Erz647

ulrike steiner bischöfliches Palais den Domprospekt als eine zurückhaltend edle Kulisse östlich hinterfangen, als auf die prunkvollen Gebäude des späteren 19. Jahrhunderts am Graben und Stock-im-Eisen-Platz. Hollein schlug zur traditionellen Mauerwand des Grabens eine Brücke, indem er mit einer Abtreppung anschloss, die langsam die (vorgeblich) feste Mauer in die Glasfassade zum Dom hin übergehen lässt. Hier setzte er nun seinen großen gerundeten Glaserker hin, der dem Dom die Stirn bietet und ihn zugleich als bizarres Zitat reflektiert. Und hier findet der lange Weg seit 1945 zum gültigen Bauen in historischer Umgebung sein Ziel. Trotz der »Lex Hollein« (sprich  : Abänderung der Bauordnung) fügt sich dieser Bau in einer übergeordneten Weise vollkommen in sein Umfeld. Es ist eine, wenn man will, etwas überladene, verspielte Spätzeitarchitektur, die Hollein hier den Spitzenwerken vorangegangener Endzeitarchitekturen – Gründerzeit und Jugendstil – gegenüberstellt. So kann das kokette Flugdach als Antwort auf das Schiff am Dach des Ankerhauses gesehen werden, die fein ziselierte Fassadenstruktur als Resonanz auf die Zartgliedrigkeit des gegenüberliegenden Hauses Stock-im-EisenPlatz/Singerstraße. Und letzten Endes hält es der genial aufschäumenden Spätgotik des Stephansdoms einen kühnen Spiegel vor. Mit den 1990ern begann das moderne Bauen die inneren Stadtbezirke langsam zu verlassen. Abgesehen von den glamourösen Ringstraßengalerien, 1993 von Wilhelm Holzbauer, und dem Museumsquartier geschah im Nahbereich der Altstadt nichts mehr Erwähnenswertes. Und gerade das Museumsquartier, 1998 bis 2001, u. a. von Ortner & Ortner, ein durch den Stadtbildschutz bedingter Torso, der es immerhin zum gemütlichen Jugendtreff gebracht hat, ist das beste Beispiel, wie eng die Grenzen des historischen Architekturerbes gezogen sind. Zeitgenössische Architektur rückte nun endgültig auf Laaer- und Wienerberg, über den Donaukanal, wo Boris Podrecca mit dem Bürogebäude der Basler Versicherung 1990 das erste Mal weltstädtisches Flair an dessen bislang architektonisch dürftige Ostlände brachte (Abb. 9). Aber vor allem wich moderne Architektur an die Donau aus. Spektakuläre Hochbauten entstanden, 1999 der elegante Millenniumstower, von Gustav Peichl, Rudolf F. Weber und Boris Podrecca, singulär aufragend noch am rechten Donauufer, doch vor allem seit 1995 in enger Gruppierung um die uno-City links des Gerinnes auf der »Platte« und an der Alten Donau. Standen in den Jahrzehnten nach dem Krieg zunächst der rasche Wiederaufbau der immensen Zerstörungen der historischen Substanz im Mittelpunkt, danach die Erneuerung und Verbesserung des Altbaumaterials, die Neugestaltung und Begrünung öffentlicher Räume, weiterhin die sensible Bebauung von Lücken, und vor allem der Bau neuer Identitätsmarken (Stadthalle usw.), brach mit dem Schritt an die weite Peripherie eine neue Ära an. Osterweiterung, eu-Beitritt, Städtewettbewerb, Globalisierung und Immobilienspekulation internationaler Kapitalgesellschaften sorgten für einen Bauboom, der als »zweite 648

architektur in wien nach 1945

Abb. 9: Bürogebäude der Basler Versicherung, Boris Podrecca, 1990,  Donaukanal

Gründerzeit« firmiert und an dem durchaus auch wieder Star-Architekten der früheren Jahrzehnte wie Peichl, Hollein und Holzbauer teilhatten. Bereits 1993 zeichnete Wilhelm Holzbauer den Andromeda-Tower, ab 1994 entstand an der Wagramer Straße bzw. Alten Donau eine dicht gedrängte Hochhausgruppe von Peichl gemeinsam mit Coop Himmelblau u. a. Sie stehen am Anfang einer Reihe von ziemlich bezugslos, ohne Kommunikationsräume, nebeneinander hochgezogenen Wohn- und Bürotürmen auf der Platte und Umgebung. Mischek Tower, Ares Tower, Cineplex Palace, izdTower usw., gebaut von einer neuen Architektengeneration, sollten um die Jahrtausendwende folgen und sind noch in Planung.25 Am Schluss sollen zwei Pioniere, zwei Architekten der Gruppe 4 zu Wort kommen  : Friedrich Kurrent, der um die Individualität der Stadt besorgt ist, und Wilhelm Holzbauer, der sehr aktiv in das derzeitige vollkommen international ausgerichtete Baugeschehen integriert ist. Kurrent  : »Ich beurteile die spätere Entwicklung auf der Donauplatte sehr negativ. Da, wo sich jetzt ein Hochhaus an das andere stellt, sollte in unserem Vorschlag Platz für besondere Zwecke sein.« Holzbauer  : »Jede große Metropole hat Hochhäuser, die einander verdecken. So ist New York entstanden, so ist Chicago entstanden. Ich glaube, in 50 Jahren wird alles ineinander verflochten sein … Ist aber trotzdem lebenswert dieses Wien.«26 649

ulrike steiner

A nmerkungen * Dieser Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er soll vielmehr als Versuch verstanden werden, anhand prominenter Bauten und Architekten die Architekturentwicklung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nachzuvollziehen. Ausgeklammert musste dabei die überaus umfangreiche Wohnbautätigkeit bleiben, v. a. weil von hier – anders als in der ersten Jahrhunderthälfte – nur wenige maßgebliche Impulse ausgingen.  1 Friedrich Achleitner, Wiener Architektur, Wien 1996, S. 126.  2 Ebd., S. 130.  3 Ottokar Uhl.  4 Friedrich Achleitner, Wiener Architektur, Wien 1996, S. 132ff.  5 Siehe dazu auch Friedrich Achleitner, Wiener Architektur, Wien 1996, S. 122ff.  6 Friedrich Achleitner, Architektur im 20. Jahrhundert  : Österreich, www.nextroom.at/article.php  ?id=586  ?  7 Zitiert bei Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band III/1, Wien 1.–12. Bezirk, Salzburg/Wien 1990, S. 33.  8 Zitiert ebd., S. 32.  9 Ebd., S. 237. 10 Friedrich Achleitner, Rund um die arbeitsgruppe4, S. 8, in  : Katalog zur Ausstellung arbeitsgruppe4 im Wiener Architekturzentrum, Wien 2010. 11 Sonja Pisarik, Im Vordergrund das Bauen, S. 137, in  : Katalog zur Ausstellung arbeitsgruppe4 im Wiener Architekturzentrum, Wien 2010. 12 Friedrich Achleitner, Architektur im 20. Jahrhundert  : Österreich, www.nextroom.at/article.php  ?id=586. 13 Rudolf Schwarz, Kirchenbau, Welt vor der Schwelle. Heidelberg 1961, zitiert in T. BIieweis, Die Pfarrgemeinde von St. Florian in Wien, 1967. 14 Andreas Zeese, Katalog zur Ausstellung »Heilige Zeiten« im Wiener Architekturzentrum, Wien 2007. 15 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band III/1, Wien 1.–12. Bezirk, Salzburg/Wien 1990, S. 290. 16 Karl Schwanzer, Architektur aus Leidenschaft, Wien/München 1974. 17 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band III/1, Wien 1.–12. Bezirk, Salzburg/Wien 1990, S. 90. 18 Gerhard Weissenbacher, In Hietzing gebaut, Band I, Wien 1996/1999. 19 Ernst Hiesmayr, Juridicum Universität Wien, Wien 1996, S. 10. 20 Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band III/1, Wien 1.–12. Bezirk, Salzburg/Wien 1990, S. 252. 21 Thomas Köster in Wikipedia. 22 Wieland Schmied, Hundertwasser 1928–2000, Catalogue Raisonné, Band 2, Köln 2001/2002. 23 Robert Schediwy, Hundertwassers Häuser – Dokumente einer Kontroverse über zeitgemäße Architektur, Wien 1999. 24 Friedrich Achleitner, Wiener Architektur, Wien 1996, S. 150. 25 Siehe dazu  : August Sarnitz, Wien – Neue Architektur 1975–2005. 26 Interview in  : profil, Nr. 12, 41. Jg. 22, März 2010, S. 66ff. Fotodokumentation Michael Oberer 2012.

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mat thias marschik

Eine (Miss-)Erfolgsgeschichte Fußball in Wien/Sport in Österreich, 1945 bis 1995

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enn es im Folgenden darum geht, ein halbes Jahrhundert Sport in Wien zu porträtieren, so gilt es, zwei wesentliche Entwicklungsstränge zu verfolgen, die den Stellenwert der »Sportstadt« Wien1 in jener Phase nachhaltig beeinflussten und veränderten  : Zum einen war und ist Wien, trotz eines vielfältigen Sportangebots und zahlreicher Erfolge in anderen Sportzweigen, primär eine Stadt des Fußballsports, weshalb der folgende Beitrag, mit manchen Abschweifungen, auf den Fuß­ball fokussieren wird. Doch ist, sowohl innerösterreichisch wie im europäischen und globalen Geschehen, ein sukzessiver Bedeutungsverlust Wiens im Fußball bzw. des Wiener Fußballs zu konstatieren, was auf die generelle Sportkultur in Wien nicht ohne Einfluss blieb. Zum anderen ist in der Zweiten Republik eine allmähliche »Verwestlichung« des nationalen Sportgeschehens zu beobachten, die über die zunehmende »Verösterreicherung« des Fußballs weit hinaus geht und mit der allmählichen Etablierung des Skisports als österreichischer Leitsportart eine Entwicklung des Landes von einer Donau- zu einer Alpenrepublik nicht nur begleitete, sondern maßgeblich mitbestimmte. Die Bedeutung des Wiener Fußballs als Nukleus des Sportgeschehens und der sportlichen Populärkultur der Stadt ist daher – wie auch im Beitragstitel repräsentiert – nicht ohne den Blick auf die Entwicklungen des Sports in Österreich zu diskutieren.2

Ein kursorischer Blick auf die Vorgeschichte Auch wenn bei etlichen Sportzweigen bis heute umstritten ist, wo in der cisleithanischen Reichshälfte der Monarchie denn nun die ersten Aktivitäten gesetzt wurden (beim Fußball kommen da neben Wien auch noch Baden, Graz oder Hohenems in Betracht), war die Metropole Wien doch unzweifelhaft der Geburtsort des modernen organisierten und vereinsmäßig verankerten Sportgeschehens in Österreich.3 Selbst im nordischen und alpinen Skisport oder in der Alpinistik fanden in Wien die ersten Vereinsgründungen statt. So wie sich die Sportidee vom Mutterland Großbritannien konzentrisch über die Zentren Kontinentaleuropas verbreitet hatte, erweiterten sich die Sportpraxen in der Folge von Wien in die »Provinz«.4 651

matthias marschik Schon ab 1880/1890 lässt sich in Wien von einer – freilich noch beschränkten, auf bürgerliche und aristokratische Kreise reduzierten5 – Sportbegeisterung sprechen, die zum einen in der zunehmenden Anwesenheit eines bewundernden Publikums, zum anderen in beginnender Medienpräsenz des Sportes6, zum dritten in der Entstehung etlicher neuer Sportanlagen und nicht zuletzt in der Etablierung einer abseits der Vereinspraxen entstehenden wilden und unorganisierten Sportausübung der männlichen Jugend ihren Ausdruck fand7. Zugleich expandierten die vorerst lokalen Ereignisse rasch über die Stadtgrenzen hinaus und legten – nicht nur, aber besonders im Fußball – den Grundstein für ein die Monarchie überdauerndes Sportdreieck zwischen Wien, Prag und Budapest.8 Noch vor 1914 wurde die bürgerliche Hegemonie durchbrochen, neben Arbeiterklubs entstanden auch ethnisch definierte jüdische und tschechische Vereine. Frauen dagegen, im vormodernen adeligen Sport durchaus präsent, wurden aus den modernen Bewegungskulturen nahezu ausgeschlossen.9 Der Erste Weltkrieg erwies sich als eine wesentliche Triebfeder der Sportbewegung  : Gespielt und geturnt wurde in der Ausbildung und an der Heimatfront, in Kampfpausen und in der Kriegsgefangenschaft.10 Den zweiten wichtigen Beitrag bildete der revolutionäre Elan der Arbeiterschaft, die gerade im Roten Wien auf der Basis vermehrter Freizeit den Sport eroberte, wenn auch organisatorisch streng vom bürgerlichen Sport, der sich gerne »unpolitisch« nannte, getrennt.11 Das war insofern nicht ganz unrichtig, als auch hier das Proletariat die Mehrheit der Aktiven und der Zuschauer12 stellte.13 So entstand in den 1920er-Jahren eine enorm expandierte und ausdifferenzierte Wiener Sportkultur14, die auch aus den Medien nicht mehr wegzudenken war. An ihrer Spitze stand zweifellos der Fußballsport, der ein Massenpublikum anzog und eine zunehmend enge Verbindung zur Bohème und zur Kaffeehauskultur aufbaute.15 Während der proletarische Sport nur anlässlich der 1931 in Wien – im eigens dafür erbauten Praterstadion – veranstalteten Zweiten Arbeiterolympiade für öffentliches Aufsehen sorgte16, gelang dies dem Fußball an jedem Wochenende. 40.000 BesucherInnen bei Meisterschaftsspielen, 80.000 bei Länderkämpfen waren keine Seltenheit. Dieser Erfolg führte bald zum Versuch einer Ökonomisierung, die – jeweils unter der federführenden Figur des Hugo Meisl17 – in der Einführung eines Profibetriebes ebenso bestand wie in Tendenzen der Internationalisierung in Gestalt von Mitropacup (für Vereine) und Svehla-Cup (für Auswahlteams)18. Beide Bewerbe bauten auf traditionelle mitteleuropäische Beziehungen auf, nahmen aber die Europäisierung des Fußballs vorweg.19 Die politischen Veränderungen der Jahre 1933/34 hin zum Ständestaat beendeten zwar sofort die sozialdemokratischen Sportpraxen, zur Etablierung eigenständiger austrofaschistischer Sportkonzepte fehlten allerdings Durchsetzungsfähigkeit wie 652

eine (miss-)erfolgsgeschichte Zeit.20 Weit gravierender wirkte sich der »Anschluss« des März 1938 auf den Sport aus. Das nationalsozialistische Sportkonzept beruhte auf bewusster Instrumentalisierung, Ideologisierung und Indoktrinierung der Bewegungskulturen gerade auch des nicht perfekt mit den ns-Idealen kompatiblen Fußballs.21 Doch so sehr die nsSportführung massiv einzugreifen suchte, es gelang ihr, zwar vieles22, aber nicht alles im österreichischen Sport zu verändern. So wurden die Juden radikal aus dem Sport entfernt, waren hj und BdM mit ihrem intensiven Zwang zu körperlicher Ertüchtigung zum Pflichtprogramm geworden oder wurden die KdF-Sportangebote gern angenommen. Die Konsequenzen einer längerfristigen Indoktrinierung lassen sich nur schwer abschätzen23, doch in den sieben Jahren der ns-Herrschaft in Öster­reich ist es jedenfalls nicht gelungen, das Sportleben radikal umzustrukturieren und etwa die vom Regime ungeliebte Wiener Fußballkultur zum Verschwinden zu bringen.24

Vom Rübenacker zur wm-Medaille: Fußball im »Wiederaufbau« 1945–1954 Noch am 2. April 1945 fand von den fünf in Wien angesetzten Spielen der Gauliga zumindest ein Match statt  : Der wac besiegte die Austria mit 6  :0. Sportveranstaltungen wurden bis in die letzten Kriegstage aufrechterhalten.25 Und schon kurz nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee wurde wieder Fußball gespielt. Am 28. April wurde das erste Spiel angekündigt  : »Dr. Rudolf Müller, nachmals Leiter der Wiener städtischen Büchereien, hatte mit dem russischen Kommandanten des 16. Bezirks ein Spiel auf dem nur wenig beschädigten Helfort-Platz vereinbart. Da Helfort zwei Mannschaften zur Verfügung hatte und – was damals noch wichtiger war – auch die erforderlichen Dressen und Schuhe, fixierte man zwei Spiele  : Sonntag, am 29. April, spielte um zwei Uhr nachmittags die zweite Mannschaft von Helfort gegen ein russisches Militärteam, um vier Uhr trat die erste Mannschaft gegen ein Team der Wiener Tschechen an. Obwohl viele Ottakringer im nahen Wienerwald Holz oder Knoblauchspinat sammelten, kamen Zehntausende Zuschauer zu dieser Fußballpremiere. Es war wie bei einem Länderspiel. Dr. Schärf, damals Obmann von Helfort, begrüßte die Mannschaften, und die Zuschauer gingen so begeistert mit, als würde Österreich gegen den Erbfeind Ungarn spielen«.26 Fortgesetzt wurde das Fußballleben mit zahlreichen Freundschaftsspielen, unter anderem einem »Befreiungspokal«, dessen Finale schon wieder 17.000 Besucher/ innen sah, sodass das »Neue Österreich« schon im Juni einen »Friedensbetrieb im Fußball« konstatierte27. Überall wurden auf behelfsmäßig angelegten Sportanlagen mit oft zweitklassigem Material sportliche Bewerbe durchgeführt, die alle mit enormem Publikumsinteresse rechnen konnten. Am 19. und 20. August wurde das neu 653

matthias marschik formierte Nationalteam (natürlich weiterhin eine Wiener Auswahl) zu zwei freundschaftlichen Länderkämpfen nach Ungarn eingeladen, bei denen die wenig zusammengespielten und unterernährten Wiener zwar sportlich keine Chance hatten, aber die von den Sowjets für die Reise zur Verfügung gestellten Lastwagen mit Lebensmitteln füllen konnten.28 Anfang September begann dann die erste NachkriegsMeisterschaft, die – aufgrund der Reiseschwierigkeiten – auf Wien beschränkt war, aber so wie schon bis 1938 unwidersprochen als österreichische Liga interpretiert wurde. Alte Größe wurde beschworen, wenn das »Neue Österreich« den »Großen Vier« (Rapid, Austria, Vienna und Wacker) eine Spielstärke nachsagte, »wie sie keine andere Großstadt des Kontinents« aufweise.29 Den Höhepunkt des Fußballjahres bildete schließlich das erste Heim-Länderspiel gegen Frankreich im noch schwer bombengeschädigten Praterstadion. Das Antreten der Franzosen, zweifellos eine politische Sensation, war den guten Kontakten der öfb-Spitze zur fifa unter ihrem Präsidenten Jules Rimet geschuldet, der persönlich nach Wien anreiste und der sportlichen Sensation eines österreichischen 4  : 1-Sieges beiwohnte.30 Im zweiten Halbjahr 1945 herrschte speziell in Wien »eine Kultur des alltäglichen Improvisierens und Organisierens«, die terroristischen Dimensionen des Natio­nalsozialismus sollten verdrängt werden, blieben aber »subkutan virulent und prägten eine auf den brutalen Positivismus des Hier und Jetzt eingeengte Arbeitsund Alltagskultur«.31 Das Länderspiel des Dezember 1945 bedeutete daher nicht nur ein kulturelles Signal äußerer Akzeptanz wie innerer Selbstbehauptung, sondern es repräsentierte zugleich einen (politischen) Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit und zugleich eine positive (sportliche) Kontinuität, denn der Fußball war ja selbst in den ns-Jahren weitestmöglich als »unpolitisch« inszeniert und sogar mit Resistenz-Gefühlen ausgestattet worden. Es verdeckte etwa die enorme Zahl gefallener, verwundeter, aus der Gefangenschaft noch nicht heimgekehrter Spieler32 durch die Betonung sportlicher Tradition  : Es sei nichts weniger als ein »Spiel bester Wiener Marke« gewesen, das »an Zeiten des Wunderteams« erinnerte.33 Es war also nicht zufällig gerade der Fußballsport, der – zumindest dem männlichen Wien – zugleich als »unpolitischer« Start ins Sportleben nach der Diktatur bzw. den beiden Diktaturen des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus diente und zugleich ein Anknüpfen an die Zeit vor 1938 bzw. vor 1934 ermöglichte, als fußballerische Erfolge einen der wenigen Marker einer österreichischen nationalen Identität bildeten. Die Begriffe »national«, »männlich« und »unpolitisch« bildeten denn auch den entscheidenden Rahmen des frühen Wiener Nachkriegsfußballs. Eine »unpolitische« Interpretation des Sports34 war nicht nur unabdingbar, um am Sport vor 1938 anzuknüpfen, die Aktivitäten während der ns-Herrschaft aber nicht ausblenden zu müssen  ; es bedeutet zugleich die Durchsetzung der bürgerlichen Sportidee. Es war nicht zuletzt der großkoalitionäre Druck der Mutterparteien, 654

eine (miss-)erfolgsgeschichte der auch die politisch segregierten Sportorganisationen askö und Union zur Überbrückung ideologischer Differenzen zwang.35 Zwar verzichteten der bürgerliche wie der Arbeitersport nicht auf die Wiederherstellung politisch gebundener Sportverbände, doch entstand eine bis heute gültige und in Europa fast einzigartige Konstruktion des Nebeneinander von zwei, ab 1949 drei Dach- und Fachverbänden36, als neben dem askö und der Union auch der asvö (als Vertretung aller Sportvereine, die sich keinem der politischen Lager zugehörig fühlten, also des »Dritten Lagers« einschließlich der ehemaligen Nationalsozialisten, aber nicht der Kommunisten) gegründet wurde. Auf der Strecke blieben dabei jedoch die Ideale des Arbeitersports von Gemeinschaft, Aktivität statt Konsumation, Fairness und dem Primat des Spiels vor dem Sieg. Mit anderen Worten  : Der leistungs- und siegesorientierte, kommerzialisierte Publikumssport war zum generellen Maßstab geworden. Eine »nationale« Bedeutung des Sports war zu Beginn der Zweiten Republik gleichfalls politisches wie kulturelles Gebot. Doch hier erwies sich die Tradition des Wiener Fußballs mit ihrer Konzentration auf die Metropole und ihren »mitteleuropäischen« Kontakten Richtung Osten eher als kontraindiziert zur Repräsentation von Nationalgefühlen. Der Fußball war und blieb wienerisch und konnte auch nach dem allmählichen Wegfall der Reisebeschränkungen nur bei großen Erfolgen auch in der »Provinz« und in den westlichen Bundesländern Begeisterung entfachen. Diese Lücke einer Nationalsportart konnte der alpine Skilauf weit besser füllen und so war es besonders der Auftritt Österreichs bei den Olympischen Winterspielen 1948, der erstmals ein nicht mehr lokales, sondern ein nationales Bewusstsein forcierte.37 Österreich konnte (im Gegensatz zu dem von Olympia ausgeschlossenen Deutschland) seine Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft erleben und daraus eine Bestätigung der Opfertheseableiten. Die vielleicht bedeutsamste war aber die maskuline Komponente des Sports und insbesondere des Fußballs der späten 1940er-Jahre  : Die daheimgebliebenen wie die von der Front oder der Gefangenschaft heimkehrenden Männer fanden eine diffizile, mitunter prekäre Situation vor, in die sie sich nach oft sechs Jahren Kriegsleben nur mehr schwer einfügen konnten, zumal sie sich als Verlierer, Opfer und als Arbeitslose letztlich »entmannt« fühlten.38 In dieser Krisensituation kam die sportliche Betätigung mit ihren maskulin konnotierten Werten von Sieg und Erfolg, von Kraft und Ausdauer gerade recht, um – sich und anderen – Männlichkeit zu beweisen, einerseits in Abgrenzung zu Frauen und anderen Männern, andererseits aber auch im Sinne maskuliner Vergesellschaftung.39 Die Jahre von 1945 bis zum Beginn der 1950er-Jahre waren wohl die Zeit intensivster Maskulinisierung des Sports und männlicher Inszenierungen in der Sportberichterstattung40  : Der Frauensport wurde diffamiert, Sportlerinnen wurden lediglich als Aufputz des »wahren« männlichen Sportes porträtiert. 655

matthias marschik Dennoch (oder trotzdem)  : Die Jahre des »Wiederaufbaus« waren die quantitativ größte Zeit des Wiener Sports, was die Zahl der Aktiven, Vereine und Zuschauer/innen betraf. Fußballspiele wiesen vorher wie auch nachher unerreichte Publikumsresonanz auf – und das betraf nicht nur Spiele der Großklubs oder des Nationalteams.41 Doch war das Wiener Sportgeschehen auch von der Begeisterung für Sportarten geprägt, die sich sonst nur beschränkter Aufmerksamkeit erfreuen durften. Besonders galt das für das Boxen, Radfahren und der Motorsport, allesamt also Sportgattungen, die einerseits als besonders männlich wahrgenommen werden, andererseits nationale Gefühle auszulösen imstande waren  : Kann der Faustkampf als Form des »Frei-Boxens« von der Vergangenheit, aber auch von den Besatzungsmächten interpretiert werden, dann waren die großen Radrennen, allen voran die Tour d’Autriche, Chancen, zumindest in der Berichterstattung das Territorium des Landes virtuell zu bereisen.42 Im Fußball dagegen schien weniger die Zukunft als die Wiederherstellung der Vergangenheit im Mittelpunkt zu stehen. Je mehr Spieler aus der Gefangenschaft heimkehrten, desto mehr übernahmen diese bewährten Kräfte der Vorkriegs- und Kriegsära wieder die entscheidenden Positionen in den Vereinsteams. Die Spielstärke der Vereine stieg ab dem Jahr 1946 merklich an. Obwohl viele Jahre am 1938 vom »Deutschen Reichsbund für Leibesübungen« verordneten Amateurismus festgehalten wurde, hatte sich der Wiener Fußball im »verdeckten Professionalismus« gut eingerichtet. Und ein im Herbst 1945 vom Wiener Fußballverband initiierter »Wiederaufbau-Fonds« half anfangs dabei, die prekäre Sportplatzsituation zu entschärfen43, ehe die Einführung eines (nationalen) Sporttoto-Bewerbes im Jahr 1948 sowohl dem Bau von Sportanlagen wie der Jugendarbeit der Vereine wesentliche neue Impulse verleihen konnte.44 Nicht zuletzt wurde die Praxis ausgedehnter Tourneen und publikumswirksamer Oster- und Pfingstturniere wieder eingeführt, sodass im Vereinsfußball schon bald wieder von »Vorkriegszuständen« gesprochen werden konnte. Der letzte Schritt dazu sollte mit der Wiederbelebung des populären Mitropacups gesetzt werden, doch durch die kommunistische Machtübernahme in Ungarn, Jugoslawien und der Čs (s) r und die Westorientierung Italiens kam es zunächst nur zu einem wenig spektakulären Zentropa-Turnier in Wien im Jahr 1951.45 Die extreme lokale Konzentration des Fußballs auf den Raum Wien hatte zwei wohl nicht ganz zufällige Nebenerscheinungen  : Zum einen erfolgte die im Vergleich zu fast allen anderen europäischen Ländern ohnedies schon sehr verzögerte Einführung eines landesweiten Meisterschaftsbewerbes nur sehr halbherzig, die Wiener Meisterschaft wurde erst 1949 durch Eingliederung der Meister von Nieder- und Oberösterreich sowie der Steiermark zu einer (ostösterreichischen) Staatsliga und erst Mitte der 1950er-Jahre zu einer echten nationalen Liga erweitert, in der freilich vorerst die Wiener Vereine klar dominierten. Und andererseits profitierte das Nationalteam, 656

eine (miss-)erfolgsgeschichte obwohl ausschließlich aus Wienern gebildet, nur zögerlich von der Aufwärtsentwicklung im lokalen Fußballgeschehen. In den späten 1940ern setzte es für die Auswahl zahlreiche Niederlagen, sodass die Zeitungen oft die guten Leistungen der (»Wiener«) Vereinsteams den Niederlagen der (»österreichischen«) Nationalmannschaft kontrastierten. Negativer Höhepunkt war das ruhmlose Ausscheiden des mit großen Erwartungen nach London zu den Olympischen Spielen gereisten Teams, das nach einer 0  : 3-Niederlage gegen Schweden schmachvoll nach Wien zurückkehrte. Die Gründe der Misserfolge wurden in der schlechten Ernährungslage und der Überheblichkeit der Spieler geortet  : Während die großen Stars des Klubfußballs, ein Ernst Happel, Ernst Ocwirk oder Gerhard Hanappi, in ihren Vereinen Woche für Woche hervorragende Spiele lieferten, versagten sie im Team häufig. Vor allem aber wurde das Spielsystem kritisiert, das Festhalten am veralteten »Scheiberlspiel«, während die neuen Spitzennationen längst zum wm-System gewechselt hatten. Fast zehn Jahre lang wurde in Fußballkreisen eine permanente Systemdebatte geführt  : Jeder Erfolg ließ die »Wiener Schule« wiederauferstehen, jede Niederlage kündete das Ende dieser antiquierten Spielweise an. Die Debatten zogen sich bis zum Halbfinale der Weltmeisterschaft 1954, als sich im 1  : 6 gegen Deutschland das unwiderrufliche Ende des Wiener Stils bzw. des »Calcio Danubiano« ankündigte.46 So lässt sich also sagen, dass zwischen 1945 und 1954 eine Wiederbelebung der großen Wiener Fußballzeit gelang, der es allerdings an entscheidenden Elementen der Fußballhochburg der 1930er-Jahre mangelte  : Es fehlte trotz Revitalisierung der Praxis ausgedehnter Tourneen der messbare internationale Erfolg, nicht zuletzt deshalb, weil der »Wiener Stil« mitunter schon anachronistische Züge trug. Und es gelang nicht mehr, die umfassende Einbettung in eine Stadtkultur wiederzubeleben, die Verbindung zur Bohème- und Kaffeehauskultur  : Das lag nicht zuletzt daran, dass die vielen jüdischen Trainer und Spieler, Funktionäre und Journalisten teils – wie Hugo Meisl – gestorben waren, teils den Holocaust nicht überlebt hatten und die Emigrierten nur höchst halbherzig zur Rückkehr aufgefordert worden waren. Dennoch erwies sich das Jahrzehnt nach Nationalsozialismus und Weltkrieg im Nachhinein als Gipfel fußballerischer Begeisterung in Wien. Höhepunkt dieses Spektakels sollte die Weltmeisterschaft in der Schweiz werden, bei der ganz Österreich die Übertragungen via Radio verfolgte. Doch diese Veranstaltung machte deutlich, dass die lokale Fußballkultur nun auch im Fußball sukzessive durch ein sportliches Nationalgefühl verdrängt wurde. Wien war nicht länger der Nabel der (österreichischen) Fußballwelt, wie man noch wenige Jahre zuvor angenommen hatte, als Austrias genialer Regisseur Ernst Ocwirk 1952 zum Weltfußballer gewählt worden war und zum Spielführer europäischer Kontinent-Auswahlen bestimmt wurde.47 Doch bald musste man erkennen, dass Ocwirk nicht nur Gipfel-, sondern auch Schlusspunkt der nationalen wie internationalen Wiener Vorherrschaft im Fußball war. 657

matthias marschik Sportliche Ereignisse und ihre Held/inn/en wurden nach 1945 zum wesentlichen Faktor in der Ausbildung einer österreichischen nationalen Identität.48 Der nun auch im Osten des Landes populäre Skilauf versinnbildlichte den allmählichen Übergang Österreichs von der Donau- zur Alpenrepublik, der Boxsport symbolisierte den harten Kampf um die Akzeptanz Österreichs in der Welt, der Radsport machte es paradigmatisch möglich, das Territorium des Landes zumindest mit dem Finger auf der Landkarte nachzuvollziehen. Und schließlich erbrachte die Akzeptanz Österreichs bei den Olympischen Winterspielen 1948 in St. Moritz und London den Beweis für die Wiederaufnahme des Landes in die internationale Gemeinschaft. Lediglich der dezidiert wienerische Fußball ging in eine andere Richtung  : Während sich Österreich nach Westen orientierte, schaute der Fußball auf sich und gegen Osten. Und im Fußball wollte man auch nicht wahrhaben, dass sich das Schwergewicht des öster­ reichischen Sports in die »Provinz« verlagerte.

Ausverk auf im Wirtschaftswunder: Verösterreicherung und Europäisierung 1955–1965 Die wm 1954 in der Schweiz mit ihrem großen Favoriten, dem »Goldenen Team« Ungarns, sowie den aussichtsreichen Herausforderern Österreich und Tschechoslowakei kann als letztes Aufflackern der einst bewunderten mitteleuropäischen Fußballkultur gelten  ; der Erfolg West-Deutschlands dagegen verkündete – aus Wiener Sicht – ihr Ende (in der deutschen Mitteleuropa-Konzeption dagegen war das Siegertrio mit der br d, Österreich und Ungarn erst die Erfüllung dieser Idee). Vier Jahre später, 1958, schieden die č ssr, Ungarn und Österreich bereits in der Vorrunde aus, neben Weltmeister Brasilien kamen noch die »Westmächte« Schweden, Frankreich und die br d ins Semifinale. Die Auswirkungen der wm 1954 auf den Wiener Fußball waren enorm  : War bis dahin das »Scheiberlspiel« trotz aller System-Diskussionen doch als Garant für Wiener Erfolge gesehen worden, wurde es nun als Quelle des in taktischer Hinsicht rückständigen österreichischen Fußballs interpretiert, der dringend der Modernisierung bedürfe. Die Wiener Starspieler dagegen waren in ganz (West-)Europa begehrt, es kam zum »größten Exodus in der Geschichte des Fußballs«49, als innerhalb weniger Jahre fast alle Teamspieler Österreich verließen.50 Viele von ihnen verdingten sich als Legionäre in Frankreich, andere gingen nach Holland und Schweden, in die Schweiz und nach Deutschland. Ocwirk nahm schließlich ein Engagement in Italien an.51 Diese Abwanderung wirkte sich nicht sofort, aber mittelfristig auf die Wiener Fußballerfolge aus. Mit dem Grazer ak hatte sich in der Saison 1953/54 erstmals ein Provinzverein im Vorderfeld der Meisterschaft etabliert, doch blieb vorerst die 658

eine (miss-)erfolgsgeschichte Wiener Vorherrschaft eklatant, auch wenn nun »auf einem anderen Niveau« gespielt wurde.52 Nicht nur auf der Ebene nationaler Auswahlen, sondern auch auf Klubebene wurde die Westorientierung des Fußballs augenscheinlich  : Ausgangspunkt der (West-)Europäisierung53 war der 1955 erstmals ausgetragene Europacup der Meister, dessen Konzept von der französischen Sportzeitung »L’Equipe« stammte und 1955 vom ein Jahr zuvor gegründeten europäischen Fußballverband (uefa) legitimiert wurde. In der Saison 1955/56 wurde zunächst ein Probebetrieb mit 16 geladenen Teams, darunter auch Rapid, durchgeführt.54 Rapid Wien nahm an den ersten drei Bewerben mit zunächst gutem Erfolg teil, erzwang gegen die Spitzenteams von Real Madrid (1956/57) und ac Milan (1957/58) jeweils Entscheidungsspiele, die jedoch verloren gingen, sodass starke Leistungen ohne zählbaren Erfolg blieben, was anfangs noch als »Wiener Schicksal« interpretiert werden konnte. Als weiterer Schritt der Euro­ päisierung des Fußballs wurde im Jahr 1958 ein Europapokal für Nationalteams gestartet, der Vorläufer der Fußball-em.55 Währenddessen wurde in Wien noch ein Anknüpfen an die (sportlich wie ökonomisch) erfolgreiche Fußballzeit vor 1938 versucht. Die Pläne zur Revitalisierung des Mitropacups waren zunächst am Widerstand der neuen Regimes in Ungarn und der č ssr gescheitert. Als es 1955 zu einer Neuauflage des Bewerbes kam, war das aber gerade den beiden nunmehr kommunistischen Staaten zu verdanken, die großes Interesse an Devisen, aber auch an sportlichen Erfolgen zur Unterstützung des neuen Kurses hatten. Doch nun war das Engagement speziell in Italien und in der Schweiz nur mehr halbherzig56, denn in beiden Staaten hatte eine westeuropäische die frühere mitteleuropäische Orientierung verdrängt. Der »Calcio Danubiano« mit seinem Zentrum Wien hatte so keine Zukunft mehr, und auch der öfb schwenkte Ende der 1950er-Jahre auf die europäische Ausrichtung über  : Die Ideen zum 1960/61 erstmals ausgetragenen Cup der Cupsieger gingen sogar auf einer Wiener Initiative zurück.57 Der Europacup für Nationalteams und die beiden Cupbewerbe für Klubmannschaften schufen eine völlig neue Konstellation im europäischen Spielverkehr und legten neue nationale Wertigkeiten fest. Es ging nicht mehr, wie in den 1930ern, um die Frage einer Hegemonie Englands oder Mitteleuropas, sondern es existierte nun eine – ökonomisch definierte – Vorrangstellung Westeuropas unter strategischer Führung Frankreichs, während sich auf sportlichem Terrain Südeuropa, also Spanien, Italien und Portugal, an die Spitze setzte. Wien war in dieser neuen Fußballordnung, von anfänglichen Teilerfolgen der Vereinsteams abgesehen, nur mehr Nebenschauplatz. Und bald beschränkte sich die Beteiligung auf den retrospektiven Hinweis, dass der italienische und französische Fußball jahrzehntelang von Wiener Vorbildern gelernt hatte und auch Henri Delaunay, der Vater der Europameisterschaft, einst Mitarbeiter Hugo Meisls gewesen sei.58 659

matthias marschik Ab der Mitte der 1950er-Jahre reagierte dann auch das Wiener Publikum auf den Bedeutungsverlust und Leistungsabfall des Wiener Fußballs  : Weit stärker als bei den Bundesländervereinen war eine markante Einbuße bei den Zuschauerziffern zu beobachten, die innerhalb von fünf Jahren fast um die Hälfte zurückgingen. Sportinhärente Motive mögen die Auslöser gewesen sein, die Ursache lag jedoch primär im geänderten Freizeitverhalten weiter Kreise der – urbanen – Bevöl­kerung59  : Beginnender Wohlstand, steigende Einkommen und freier Samstag ließen den »Ausflug ins Grüne« – oft mit dem ersten eigenen Auto – zum bevorzugten Wochenendvergnügen werden60 und wirkten sich massiv auf das »traditionelle männlich-proletarische Wochenendvergnügen Fußball« aus.61 Zwar wurden die Fußballdiskurse in Wien wohl unvermindert häufig und heftig geführt, jedoch war der Besuch auf dem Sportplatz nicht mehr fixer Bestandteil der Fußballbegeisterung. Der Fußball war – neben dem Kino – nicht mehr das einzige leistbare Sonntagsvergnügen, sondern musste sich nun auf einem Markt der Freizeitangebote behaupten. Das betraf besonders die (männliche) Jugend, die sich nun andere Freizeitpraxen aneignete.62 Zur sich entwickelnden Konsumgesellschaft gehörte aber auch, dass mehr als zuvor »der Erfolg zur Kenntnis genommen« wurde.63 War der überzeugte Anhänger bis dahin zu jedem Spiel seines Klubs gegangen, begann er nun auszuwählen  ; der Besuch hing zunehmend von der Bedeutung des Spiels ab. Das bedeutete die sukzessive Ablösung des treuen Vereins- und Bezirksanhängers durch einen »fußballinteressierten Konsumenten«,64 der seinen Lieblingsverein immer öfter zwar verbal, aber nicht mehr durch die Anwesenheit auf dem Sportplatz unterstützte. Damit begannen die Zuschauerziffern in Wien sowohl zwischen großen und kleinen Klubs, aber auch zwischen bedeutenden und weniger spektakulären Matches immer weiter auseinanderzudriften. Eine Folge davon war eine vermehrte Bewerbung und Eventisierung von Fußballspielen, kam das Publikum doch nicht mehr zu jedem Spiel, sondern nur, wenn etwas geboten wurde. In diesen Kontext des Angebots spektakulärer Fußballangebote gehörte auch die Wiener Erfindung des Winterturniers in der Halle, des späteren Stadthallenturniers, das 1959 erstmals ausgetragen und bald zu einer Wiener Institution wurde, die erst Jahre später auch in anderen europäischen Ländern Anklang fand. Events waren etwa Länderspiele gegen prominente Gegner, wenn es dabei um die Qualifikation für eine wm oder wm ging (die ZuschauerInnenzahlen bei freundschaftlichen Länderkämpfen gingen demgegenüber deutlich zurück), oder bedeutende Meisterschaftsspiele, seien es nun die Wiener Derbys zwischen Austria und Rapid oder aber meisterschaftsentscheidende Matches  : 90.726 Zuschauer beim Spiel Öster­reich gegen Spanien im Herbst 1960 bedeuteten Zuschauerrekord im Wiener Stadion, und 74.000 Besucher beim Meisterschaftsdoppel Austria gegen Linzer ask und Wiener Sportclub gegen Rapid im Herbst 1962 sind ein unerreichter Höchst660

eine (miss-)erfolgsgeschichte wert für nationale Spiele. Das war primär auf das Interesse am Linzer Klub, der 1961/62 Vizemeister geworden war, zurückzuführen, wollte man doch den »Provinzlern« die Wiener Überlegenheit demonstrieren. Nicht nur die Attraktivität des lask-Spiels ist Indiz für die »Verösterreicherung« des Fußballsports. Auch die Erfolge der »Ära Decker«, ein Siegeslauf des Nationalteams zwischen Mai 1960 und November 1961 mit insgesamt neun Siegen, die enormes Publikumsinteresse auslösten, können bereits als nationale Leistungsschau interpretiert werden, wenn auch noch unter Wiener Führung. Doch die Steirer Fraydl und Senekowitsch sowie der Vorarlberger Rafreider waren Stützen des Teams. Und der Linzer ask kippte 1965 endgültig die Wiener Hegemonie  : Er wurde der erste österreichische Meister und Double-Gewinner, der aus der »Provinz« kam, auch wenn er sich seine stärksten Kräfte aus Wien geholt hatte.65 Wesentlichen Anteil am lask-Erfolg hatten aber auch »Legionäre«, der Brasilianer Carlos Lima (»Chico«) und der Jugoslawe Luka Lipošinović sowie der tschechoslowakische Trainer František Bufka. Dass alle stärkeren österreichischen Vereine ab dem Beginn der 1960er-Jahre zunehmend Spieler aus dem Ausland verpflichteten, vor allem aus Ungarn und Jugoslawien66, war einem speziell ab 1962 abermals eklatanten Abfall der ZuschauerInnenziffern zuzuschreiben.67 Damit wurde das Bild der 1930er-Jahre endgültig umgekehrt  : Von einem Exporteur von Spielern, die zugleich die Wiener Fußballauffassung in Europa verbreiteten, wurde Österreich zum einem Importeur nicht nur von Akteuren, sondern auch von deren Spielstilen. Wiederum mögen schlechtere Leistungen der Vereine und das Ende der Ära ­Decker den unmittelbaren Anlass für das Ausbleiben des Publikums gebildet haben, die Ursache findet sich jedoch im beginnenden Fernsehzeitalter des Sports.68 Im Gegensatz zum Zeitungsartikel oder zur Radioreportage verhieß das tv nun unmittelbare Teilhabe am Geschehen vom Wirtshaustisch oder von der Couch im eigenen Wohnzimmer. Und anfangs reizte wohl auch die neue Rezeptionsform selbst.69 Das Miterleben von Fußballspielen via Bildschirm war schon am Ende der 1950er-Jahre fixer Bestandteil des tv-Angebotes, und erstmals war dessen Einfluss im April 1958 klar geworden  : Nach der Bekanntgabe der Direktübertragung des Derbys Austria – Rapid kamen lediglich 6.700 ZuseherInnen ins Praterstadion.70 Doch erst zu Beginn der 1960er-Jahre war das Fernsehen in Österreich so weit verbreitet, dass es eine neue Gruppe von Fußballinteressierten produzierte, die dem Ereignis selten vor Ort, aber häufig via Bildschirm beiwohnten. Auch manche ehemalige Stadionbesucher wechselten zu den tv-Konsumenten. Durch den Fernsehfußball veränderten sich die Ansprüche auch der Wiener Fußball-AnhängerInnen, weil im tv oft europäischer Spitzenfußball und globale Sportereignisse (wie etwa Olympische Spiele) übertragen wurden, und es wechselten auch deren Rezeptionsmuster, weil das Stadionumfeld durch das Wohnzimmer 661

matthias marschik oder den Fernsehraum des Sportcafés ersetzt wurde  ; Zeitlupe, Kommentare und Interviews revolutionierten die Erfahrung des Spiels und schufen neue »Realitäten«.71 Der Mediensport veränderte aber auch das Spiel selbst, definierte neue Leistungsnormen und übernahm Medienprioritäten, vom Anpfiff zur besten Sendezeit bis zu fernsehgerechten Fan-Choreografien. Die Reaktion in Österreich hieß ab 1961, dass Live-Übertragungen nur mehr gestattet waren, wenn fünf Tage vor dem Spiel 60.000 Karten verkauft waren. Im Jahr darauf wurden Übertragungen von Länderspielen kurzfristig generell untersagt. Aber schon bald wurde Fernsehfußball in Wien zu einer gewohnten Form des Umgangs mit Fußball und selbst die Gemeinde Wien reagierte darauf mit Matchübertragungen auf Großbildleinwänden in der Wiener Stadthalle.72 Der Fernsehsport verstärkte so die Trends zur Verösterreicherung ebenso wie zur Globalisierung des Sports, etwa in Gestalt internationaler Sportnetzwerke. Und binnen weniger Jahre entstand eine innige Verbindung von Sport und Medien, denn einerseits bedurfte das Fernsehen ebenso des Sports wie die Werbung und das Sponsoring, andererseits kam aber auch der Sport nicht mehr ohne tv aus.73 Die ehemalige Fußballhochburg Wien hatte Mitte der 1960er-Jahre seine unumschränkte nationale Hegemonie ebenso verloren wie seinen besonderen Einfluss auf den (mittel-)europäischen Fußballsport. Wiener Klubs spielten in den Europacups bald eine untergeordnete Rolle, und das Nationalteam ließ nur mehr selten einstigen Glanz aufblitzen. Die Professionalisierung des europäischen Fußballs reihte Österreich in die zweite Garnitur der Nationen ein. Damit konnte sich der Wiener Fußball aus den internationalen Trends der Professionalisierung, Kommerzialisierung und Medialisierung des Fußballsports nicht mehr ausklinken, spielte aber auch keine entscheidende Rolle mehr. Der Wiener Fußball agierte nicht mehr, sondern war gezwungen, auf europäische bzw. globale Vorgaben zu reagieren. Es ging nur mehr um die Hegemonie Wiens in Österreich. Die »Verösterreicherung« des Fußballs, also die »Kombination moderner ökonomischer Strategien des Fußballmanagements mit bornierter antimetropolitaner Haltung und zugleich die Aufhebung der besonderen Widersprüchlichkeiten der alten Wiener Fußballkultur in der Figur des allgemeinen österreichischen Fußballanhängers«,74 war nicht mehr aufzuhalten. Eine Wohlstandsgesellschaft mit geänderten Freizeitaktivitäten und das Fernsehzeitalter mit neuen Rezeptionsmustern bildeten den Rahmen eines Wiener Fußballsports, der seinen bevorzugten Ort weder in Österreich noch in Europa länger behaupten konnte. Der Fußball driftete national wie international nach Westen. So war die Fußball-wm 1958 das erste Großereignis, das als österreichisches, nicht mehr als wienerisches rezipiert wurde  ; das Team wurde nun auch im Westen »als Repräsentant Gesamt-Österreichs angesehen«75. Und während die besten Wiener Fußballer 662

eine (miss-)erfolgsgeschichte nach Westen (oft nach Frankreich, aber zumindest nach Linz) abwanderten, holte sich der Fußball Legionäre aus dem – topografisch oder politisch definierten – Osten. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Österreich durch den politischen Einfluss der övp, aber noch mehr durch stabile konservative Regierungsmehrheiten in den Bundesländern, durch ökonomische Interessen vor allem im Tourismusbereich, aber auch durch große Erfolge im Skisport, aufbauend auf den dreifachen Olympiasieg Toni Sailers, längst den Schwenk von einer Donau- zu einer Alpenrepublik vollzogen76, in der dem Fußball nur mehr der Status eines Wiener Kontrapunkts zukam. So war das »weiße Wunderteam« der Skiläufer/innen zum neuen nationalen Aushängeschild im Sport geworden77, was eine Verschiebung des sportlichen Zentrums von Wien nach Westösterreich mit sich brachte. Mit der Hegemonie des alpinen Skilaufs änderten sich nicht zuletzt auch Wertigkeiten  : So stand Toni Sailer, auch in Wien sowohl durch das Fernsehen als auch durch seine nachsportliche Karriere als Sänger und Schauspieler überaus beliebt, nicht mehr für das Spielerische der Wiener Fußballschule mit ihrem Motto »in Schönheit untergehen«, sondern für Fleiß, hartes Training und den Primat des – in Hundertstelsekunden messbaren – Erfolges.78 Und er repräsentierte durch seine »Authentizität« im Übergang vom Sport- zum Bühnenstar die enge Verwobenheit von Sport und Show.79

Reformen als Weg nach Córdoba: Ökonomisierung und Professionalisierung 1966–1978 Während in Wien über Maßnahmen zur Eindämmung des ZuschauerInnenschwundes diskutiert wurde, war 1963 mit ungeheurem Publikumserfolg die Deutsche Bundesliga installiert worden. So wollte man auch in Wien und Österreich neue Rahmenbedingungen für den Fußball schaffen, um dessen Attraktivität zu heben. Der Reformvorschlag wurde in ein »10-Punkte-Programm« verpackt, das eng mit dem Namen des Austria-Geschäftsführers »Joschi« Walter verbunden war. Die Reform war ein Versuch, das illegale Profitum in den Griff zu bekommen, indem die Spitzenklubs wie Wirtschaftsunternehmen geführt werden sollten. Unter dem Titel des »Lizenzspielers« erfolgte nach fast dreißig Jahren die neuerliche Einführung eines Professionalbetriebes, wobei Ablösesummen sowie Minimal- und Maximalgehälter vom öfb bestimmt wurden.80 Letztlich entstanden jedoch nur neue Formen doppelter Buchführung. Nicht Professionalisierung, sondern Ökonomisierung war die Innovation der Reform. Die Lizenzen für die neue »Nationalliga« wurden nicht mehr nur nach sportlichen, sondern auch nach ökonomischen Kriterien vergeben  : Nur Klubs mit 663

matthias marschik einem Einzugsgebiet von 30.000 Menschen durften in der nun Nationalliga genannten bisherigen Staatsliga spielen, ab 200.000 potentiellen BesucherInnen waren zwei Klubs erlaubt – und das sollte längerfristig auch für Wien gelten. Zudem musste jeder Verein zur Erhaltung der Lizenz im Schnitt 3.000 BesucherInnen haben.81 Das neue System war ein gesamtösterreichisches Konzept, auf Wiener Sonderwünsche wurde nicht mehr Rücksicht genommen. Walters Modell wurde für zukunftsweisend befunden, und im März 1964 wurde er zum Bundeskapitän des öfb ernannt.82 Doch rasch distanzierte er sich aufgrund vieler Verwässerungen vom Reformmodell, bestimmte aber dennoch den Weg des Wiener Fußballs weiter mit  : »Fünf Klubs sind für eine Großstadt wie Wien im Showgeschäft einfach zuviel«, meinte er, und plädierte für Fusionen, leitete sogar Geheimverhandlungen zwischen Austria und Rapid über die Schaffung eines Wiener Großklubs ein.83 Die quantitative Basis des Wiener Spitzenfußballs wurde immer schmäler. Nachdem schon in den 1950ern prominente Vertreter des Wiener Fußballs wie Elektra, ömv Olympia, Slovan oder fac und vor allem der fc Wien aus der obersten Spielklasse verschwanden, erwischte es nun den wac und Schwechat, während Wacker und Simmering ein Paternoster-Dasein zwischen erster und zweiter Liga fristeten. Die Schere zwischen kleinen und großen Klubs ging rasch auseinander, und in Wien sanken die BesucherInnenzahlen drastischer als in der Provinz.84 Der frühere »Wasserkopf Wien« war in der Nationalliga nur mehr durch das Quartett Austria, Rapid, Wr. Sportclub und Vienna vertreten. Das ließ auch die lokale Fußballkultur nicht unbeeinflusst, denn es fielen etliche Lokalderbys ebenso weg wie Besuche von Auswärtsspielen  : Nach Graz, Salzburg oder Linz reisten nur die treues­ten Fans mit. Die Reform beeinflusste aber auch die finanzielle Basis des Wiener Fußballs. Zwar hatte es schon kurz nach der Jahrhundertwende erste Gönner und Mäzene gegeben, doch ab der Mitte der 1960er-Jahre verlagerte sich der Profifußball »von der ursprünglichen sozialen Auseinandersetzung (…) auf die technokratische Ebene des Zweikampfes zwischen Unternehmen«.85 Die Ökonomisierung des Fußballs wurde gerade in Wien offensichtlich und auch öffentlich diskutiert, etwa als die Austria ab 1964 erstmals in Europa Dressenwerbung betrieb, wenn sie auch vorerst ihren Sponsor, die Schwechater Brauerei, nur in Form eines stilisierten Bierglases am Trikot trug.86 Kurz später integrierte die Admira europaweit erstmalig den Sponsor »nö Energie« in den Vereinsnamen. Die größten Anhängerproteste löste allerdings 1971 der Sponsoringvertrag Rapids mit der Zentralsparkasse aus. Man fürchtete nicht zu Unrecht, die Vereine würden etwa durch die Änderungen der Vereinsnamen einen wesentlichen Teil ihres Mythos verlieren, der Fußballsport würde in der »Marktund Warenwelt«87 untergehen. In völliger Umkehrung bisheriger Werte formulierte der neue öfb-Präsident Heinz Gerö bei seinem Amtsantritt im Jahr 1970  : »Der Fußball kann nicht allein von Sponsorfirmen leben, er braucht auch Zuschauer.«88 664

eine (miss-)erfolgsgeschichte Damit verschoben sich die traditionellen Parameter der Wienerischen Anhängertypologie und -topografie  : Die in den 1960er-Jahren konstatierbare »Verbürgerlichung« ließ eine breite (urbane) Mittelstandsgesellschaft entstehen, die auch Klassengegensätze minimierte89 bzw. erst in der ersten »Gastarbeiter«-Welle eine neue Unterschicht entstehen ließ. Bürgerlichkeit und Wohlstand, Mobilität und Fernsehen brachten in einem komplexen Ineinander die traditionelle Bezirksverbundenheit der Anhängerschaft zum Verschwinden, zumindest was die großen Klubs betrifft. So rekrutierte eine immer geringere Zahl von Wiener Spitzenklubs ihre Anhänger/ innen in zunehmender Distanz zum Spielort (man vergleiche etwa die große Popularität von Rapid Wien im südlichen Burgenland). Die Verösterreicherung und Europäisierung des Fußballs führte so zu einer Trennung in zwei Fußballkulturen, wobei sich die erste am Eventcharakter des internationalisierten Geschehens orientiert, die zweite an Relikten des alten Wiener Fußballs. Diese Traditionen fanden die einen nur mehr in den unteren Ligen90, die anderen in einer geänderten Verbundenheit und Identifikation mit ihrem Verein. Gerade bei jenen FußballanhängerInnen, die (noch) regelmäßig in die Stadien gingen, wurde die Differenzierung zunehmend offensichtlich  : Während sich auf den Tribünen die männliche (klein-)bürgerliche Angestelltenkultur91 versammelte, fanden sich in den entstehenden »Fan«-Blöcken nicht zuletzt die Verlierer dieser Modernisierung, die den traditionellen, jedoch obsolet gewordenen Anhängerstatus einforderten und dem Verhältnis von Verein und »Fan« weiterhin (oder wieder) Sinn geben wollten.92 Um die maskuline, körperorientierte, oft proletarische Gemeinschaft, die um den Nukleus des Vereins kreiste, nach innen wie nach außen zum Ausdruck zu bringen, musste diese lautstark und optisch auffällig artikuliert werden  : Fahnen und Transparente, Schals und »Kutten« veränderten nicht nur den Raum des Stadions, sondern bald auch das Stadtbild. In Wien fanden sich erste Hinweise auf die Entstehung einer Fan-Subkultur im Herbst 1967 bei einem Derby Rapids gegen Austria, und einer der Fans soll den – heute selbstverständlich klingenden – Satz formuliert haben  : »Rapid ist kein Verein, Rapid ist eine Weltanschauung.«93 Um 1970 hatte sich der Fußball endgültig zum »österreichischen Nationalsport« entwickelt.94 Das zeigte sich besonders im Nationalteam, wo Ende der 1960er-Jahre ein »Kleinkrieg«95 zwischen Wien und der Provinz ausgetragen wurde, als der Vorarlberger Josef Alge zum Teamchef bestimmt wurde, der bewusst Spieler und Klubs aus den Bundesländern forcierte und erstmals Länderspiele außerhalb Wiens austragen ließ. Unter seinem Nachfolger Leopold Stastny kehrte das Nationalteam wieder zu einer »Wiener Mentalität« zurück. Nicht nur, dass der Slowake Stastny als Vertreter des mitteleuropäischen Fußballs gelten konnte, auch die Mentalität, in freundschaftlichen Begegnungen groß aufzuspielen, um die entscheidenden Matches zu verlieren, konnte als typisches Wiener Schicksal interpretiert werden.96 665

matthias marschik Dennoch bildeten ab 1973 Spieler von Wiener Klubs die Minderheit im Nationalteam. Aber auch in der Nationalliga waren ab der Saison 1966/67 die Bundesländerklubs überrepräsentiert, nicht zuletzt, weil Admira, um den Weiterbestand des Vereines zu sichern, trotz des Doubles in der Saison 1965/66 nach Niederösterreich abwanderte97, Wacker 1971 den Konkurs nur durch eine Fusion mit der Admira abwehren konnte, der wac 1973 mit der Austria fusioniert und wenig später ebenso aufgelöst wurde wie der fc Wien. Innsbruck und Voest Linz, die zwischen 1970 und 1977 sechs von sieben Meistertiteln eroberten, entwickelten sich erfolgreich zu Antipoden des Wiener Fußballs, und Verein wie AnhängerInnen legten oft eine antizentralistische und antiwienerische Haltung und Einstellung an den Tag.98 Vorbild der Tiroler war übrigens kein Wiener Klub, sondern Bayern München. Die Großen nationalen Sportstars jener Jahre waren längst keine Fußballer mehr, sondern hießen Annemarie Pröll, die trotz ihrer burschikosen medialen Darstellung die erste berühmte Sportlerin Österreich wurde (und weiterhin einzige weibliche »Sportikone« ist99), oder Karl Schranz, dessen enthusiastischer Empfang auf dem Wiener Heldenplatz nach dem Ausschluss von den Olympischen Winterspielen 1972 in Sapporo als eine der entscheidenden Szenen einer nunmehr selbstbewussten Nation gesehen wird.100 War Schranz der konservativ-alpine und Pröll der jugendlich-wilde, aber zugleich kumpelhaft-weibliche Star, verkörperte Jochen Rindt das neue hedonistische Sportlerbild der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft. Indem er dieses Bild zum Ideal des James Dean der Formel 1 (»Live fast, die young«) übersteigerte, wurde Rindt zum Star und Idol der sportinteressierten Jugend.101 Der Wiener Fußball dagegen hatte Anfang der 1970er-Jahre mit Existenzproblemen zu kämpfen  : Der Organisationsgrad des Wiener Fußballs stieg massiv an, die Anforderungen an die Infrastruktur wuchsen, weil der Fußball nun gerade nicht mehr zu jenen Sportarten gehörte, die überall ausgeübt werden können. Der Versuch, Talente möglichst früh zu den Klubs zu holen, bedeutete das Ende des Gassen- und Wiesenfußballs. Bis auf die beiden Großklubs Austria und Rapid waren die Vereine dem ökonomischen Druck ebenso wenig gewachsen wie der Konkurrenzsituation und mussten um ihr sportliches wie wirtschaftliches Überleben kämpfen. Da die finanzielle und materielle Unterstützung von Fußballklubs in den Bundesländern deutlich höher war, versuchte auch die Gemeinde Wien fördernd einzugreifen  : Zum einen wurde die Forcierung des Breitensports unter dem Titel der Nachwuchsförderung zu einer Unterstützung des Spitzensports verschoben, zum anderen wurde in die Modernisierung der Sportstätten investiert.102 In Hütteldorf wurde mit dem Bau des Weststadions begonnen, der wfv-x-Platz (Horr-Stadion) und die Hohe Warte wurden völlig renoviert, im Praterstadion wurde eine farbfernsehtaugliche Flutlichtanlage installiert. 666

eine (miss-)erfolgsgeschichte Der Wiener Fußball musste nun den internationalen Prämissen der Modernisierung des (Fußball-)Sports folgen, er konnte sich aus den Vorgaben von Hierarchisierung und Ordnung, Kapitalisierung und Gewinnmaximierung, der Auflösung emotionaler Bindungen und der Inszenierung medialer Ereignisse (auch in den Stadien selbst) nicht länger ausklinken. Damit verschwanden viele Ideale, die gerade auch die »Wiener Fußballschule« charakterisierten, etwa die Verwobenheit von Verein, Spielern und AnhängerInnen, die potenzielle Chancengleichheit, der Festcharakter des Spieles, die Lust am Risiko und am ästhetischen Spielzug.103 Die fußballerische Leistung wurde von einer ästhetisch-weltanschaulichen in eine in Punkten und Siegen quantifizierbare Größe verwandelt. Teil dieser Modernisierung war auch, dass der lange Zeit abseits der männlichen Normen betriebene »unorganisierte« Frauenfußball in eine Vereins- und Verbandsstruktur gebracht, 1973 erstmals eine vom Verband anerkannte Meisterschaft ausgetragen wurde.104 Die – bereits anachronistischen, wiewohl weiterhin wirkmächtigen – Reste der Wiener Fußballschule wurden nur mehr rund um Weihnachten, wenn sich die Wiener Klubs zum »Scheiberln« auf dem Stadthallenparkett trafen, und auf manchen Unterligaplätzen, wo die ballverliebten Wiener Spielertypen nun vermehrt auftraten, hochgehalten. Wien hatte um 1970 seine Hegemonie im (mittel-)europäischen wie im österreichischen Fußball eingebüßt, und die Fans reagierten mit zunehmendem Desinteresse an der Fußballalltagskost. Die Schlussfolgerung lautete, man hätte speziell in Wien die aktuellen ökonomischen und organisatorischen Veränderungen verschlafen und die Konsequenz hieß wieder einmal Reform  : Eine Neuordnung der Struktur des österreichischen Fußballs in Gestalt der »Zehnerliga« sollte Abhilfe schaffen. Die Reduktion der Meisterschaft sollte die Kräfte im österreichischen Fußball konzentrieren, indem ab der Saison 1973/74 die stärksten Teams nun viermal pro Jahr gegeneinander antraten. Die Besetzung erfolgte primär nach regionalen und ökonomischen Prämissen, dann erst nach der sportlichen Leistung. In der Zehnerliga waren daher nur mehr zwei Wiener Klubs vertreten, ebenso zwei aus Linz, während die anderen Bundesländer mit Ausnahme Vorarlbergs einen Klub stellten. Die neue Struktur war Österreich und – daher – antiwienerisch, weil weitere drei Wiener Klubs die oberste Spielklasse verlassen mussten. Immer stärker konzentrierte sich das Interesse des Publikums, der Medien wie der Sponsoren auf Austria und Rapid, die in der Wiener Bevölkerung je etwa vierzig Prozent Sympathisant/ inn/en hatten, während es alle anderen Klubs zusammen auf knapp zwanzig Prozent brachten.105 Das Reformziel wurde nur zum Teil erreicht  : Ein sportlicher Aufwärtstrend wurde bald offensichtlich, obwohl die wirtschaftliche Rezession infolge der Erdölkrise im Fußball zu einem »Aufnahmestopp« von neuen Legionären führte106, ein Zeichen dafür, wie sehr der Fußball bereits an generelle ökonomische Rahmen667

matthias marschik bedingungen geknüpft war. Der Zuschauerschnitt dagegen stieg landesweit nur geringfügig, während er in Wien – auch durch den Wegfall der Derbys gegen die kleineren Wiener Vereine – sogar weiter abnahm. Die ständigen Übertragungen von internationalen Spitzenspielen erhöhten die Erwartungen und verdeutlichten, dass der österreichische Fußball niveaumäßig nicht mithalten konnte. Geprägt war die Meisterschaft daher von der Auseinandersetzung zwischen Wien und den Bundesländern  : So waren – neben den Derbys – die Auswärtsmatches von Rapid und Austria die bestbesuchten Spiele.107 Einen Aufwärtstrend erlebte dagegen das nun auch in Wien als österreichische Auswahl anerkannte Nationalteam. Zu wichtigen Spielen strömten zahlreiche Zuschauer/innen ins Praterstadion. Obwohl sowohl die Qualifikation für die wm 1974 als auch für die em 1976 verpasst wurde, erweckte jedes Antreten bei einer em- oder wm-Qualifikation doch neue Hoffnungen. Insofern waren auch die BesucherInnenzahlen hoch  : 65.000 kam zum Spiel gegen die Türkei, 72.000 gegen die ddr. Als nach zwanzigjähriger Absenz von der internationalen Bühne die Qualifikation für die wm 1978 in Argentinien erfolgreich absolviert wurde, herrschte landesweite Begeisterung. So wollten auch 55.000 BesucherInnen das Vorbereitungsspiel gegen Holland sehen. Der steirische Trainer Senekowitsch hatte für die wm in Argentinien ein »National«-Team zusammengestellt  : Im Aufgebot standen neun Spieler von Wiener Klubs, acht von Provinzvereinen und fünf Legionäre. Die Erreichung des siebenten Endranges und vor allem der »Jahrhundertsieg« gegen Deutschland lösten eine nationale Fußballeuphorie aus108 – und zwar unter völliger Ausblendung der politischen Situation in Argentinien.109 Die Fans strömten nicht nur zum Empfang des Teams mit seinem »Goleador« Hans Krankl auf den Flughafen Schwechat, sondern die ZuschauerInnenzahlen stiegen auch in der Meisterschaft kurzfristig erheblich an  : Es gehörte (wiederum) zum »guten Ton«, auf den Fußballplatz zu gehen, der gesellschaftliche Stellenwert des Fußballs war erheblich gestiegen.110 Das galt vor allem für Wien, wo die Austria durch das Erreichen des Finales im Europacup der Cupsieger 1977/78 und der Rapidler Hans Krankl mit dem Gewinn des »Goldenen Schuhs« als erfolgreichster Torschütze Europas zwei Wiener Triumphe hinzufügten. Mit Krankl und Herbert Prohaska besaß Wien auch wieder zwei Heldenfiguren, die, auch wenn sie später bei anderen Klubs tätig waren, doch stets als Inkarnationen des torgefährlichen Rapidlers und des trickselnden Austrianers gesehen wurden. Für einige Jahre hatte sich Österreich neuerlich einen guten Ruf im europäischen Fußball erworben, und zwar primär auf der Basis der Metropole Wien, die auch national wiederum eine führende Position einnahm, hatten doch Rapid und Austria seit 1977 den nationalen Titel unter sich ausgemacht. Noch einmal war die Wiener Hegemonie im Fußball wiederbelebt worden und eroberte diesem Sport nochmals beträchtlichen gesellschaftlichen Stellenwert.111 668

eine (miss-)erfolgsgeschichte Was gerade im Wiener Fußball aus der kurzen Phase der Euphorie übrig blieb, ist einerseits die immer wieder hervorgeholte »Erinnerungsfigur Córdoba«112, andererseits aber ein neuer Anblick des Stadions, der zugleich in seiner Struktur global und in seiner konkreten Ausgestaltung wienerisch war. Die Stadien waren nicht länger vom Grau oder Braun der Mäntel, sondern von den jeweiligen Klubfarben dominiert  : Trikots und Schals, Fahnen und Transparente prägten die Tribünen  ; die Gesänge und Sprechchöre der jugendlichen Fans verwandelten die Sportplätze für die gesamte Matchdauer in Hexenkessel. Doch mit der neuen Rezeptionskultur zog in Form des Hooliganismus auch eine neue Art von struktureller Gewalttätigkeit in das Stadion und sein Umfeld ein.113

Bescheidenheit mit »Local Heroes«: Fußball im Schatten des Funsports 1979–1995 Die Erfolge der Reform und der Euphorie der Endsiebziger verpufften rasch und nach nur wenigen Saisonen sackte das Fußballinteresse in Wien wie in den übrigen Bundesländern noch deutlich unter den Stand der 1970er-Jahre. Eine erneute Reform versuchte durch eine Erhöhung der Anzahl der Klubs in Form einer Sechzehnerliga (1982–1985) der Fadesse der immer gleichen Spiele entgegenzutreten. Trotz (nationaler) Erfolge von Rapid und Austria kehrten die ZuschauerInnen auch in Wien nicht auf die Sportplätze zurück. Mitte der 1980er-Jahre war deutlich geworden, dass Österreich den kurzfristigen Anschluss an den europäischen Spitzenfußball wiederum verloren hatte. Also folgte nach nur drei Saisonen eine neuerliche Reform  : Nach einem Grunddurchgang mit zwölf Klubs wurden drei Play-Off-Bewerbe um den Meistertitel, den Verbleib in der obersten Liga sowie gegen den Abstieg ausgetragen. Nachdem der Ligabewerb, wie er über siebzig Jahre das Rückgrat des Fußballjahres bildete, zu wenig Spannung versprach, sollte die Dramatik extern verordnet werden, eine Folge der Wandlung des Fußballs zum medialisierten Showsport. Massenbesuch gab es nur mehr bei Schlagerspielen, sei es ein Derby oder eine entscheidende Meisterschaftsbegegnung, sei es ein Europacup- oder ein Länderspiel, das die Qualifikation für einen großen Bewerb versprach. Das Fußballspiel wurde auch in Wien zu einem »Event« unter vielen und musste mit anderen Freizeitalternativen in Wettbewerb treten.114 Um sich erfolgreich zu positionieren, gaben Fußballverbände gerade in den 1980er-Jahren zahlreiche Studien zur Erforschung der Publikumsinteressen in Auftrag. Eine solche Untersuchung aus 1987 ergab etwa, dass 41 Prozent der Österreicher/innen (61 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen) prinzipiell an Fußball interessiert waren. Doch wurde angemerkt, dass die Professionalisierung 669

matthias marschik den Bezug zwischen Fan und Verein in Richtung eines »kritischeren Konsumenten« verschoben habe, der Wertewandel eine aktive Freizeitgestaltung befördere, der tv-Konsum die Rezeptionsmuster verändert habe und das Image des Fußballs (Stichworte  : Arbeitersport und Rowdytum) schlecht sei. Zudem führe mangelhaftes Management der Klubs zu einer mangelhaften Ausschöpfung des BesucherInnenpotenzials.115 In logischer Konsequenz verpflichtete der öfb die Klubs zu Marketingseminaren, auf denen Bayern München als Vorbild fungierte. »Die halbherzige Modernisierung des österreichischen Fußballs im Zuge der weltweiten Modernisierung dieses Sports (…) ist zugleich versuchte Modernisierung und tatsächliche Provinzialisierung.«116 Der österreichische wie der Wiener Fußball besaß nicht das angesichts der Europäisierung notwendige Potential, er war in großem Ausmaß von Subventionen abhängig, konnte aber zu wenig Sponsorgelder lukrieren. Mitte der 1980er-Jahre war die erste Euphorie des Sportsponsoring versandet. Ab nun konzentrierte sich das Interesse auf wenige Großklubs. Während kleinere Vereine kaum Gelder lukrieren konnten, wurden in der obersten Liga die Spon­ sorgelder kräftig erhöht, und die Klubs profitierten von der Suche des Kapitals nach neuen Anlagemöglichkeiten, die im tertiären Sektor, in der Tourismus- und Medienindustrie, aber eben auch im Sport gefunden wurden.117 Im Jahr 1991 wagte Rapid angesichts eines Schuldenberges von 29 Millionen Schilling die Gründung der »Rapid Wien Finanzberatungs-, Werbe- und Veranstaltungs-ag«, an der der Verein nur mehr 25 Prozent besaß, sowie den Gang an die Börse  : 60.000 Stammaktien wurden ausgegeben, doch nach zwei Monaten notierten sie nur mehr mit 700 statt 1.100 Schilling, zwei Jahre später waren sie Makulatur. Erfolgreicher war der Weg des fc Tirol und des sv Salzburg, die mittels massiver Kommerzialisierung zumindest für einige Jahre im internationalen Fußballgeschäft reüssieren konnten. Äußeres Zeichen der Neuorientierung war die Hinwendung des Fußballs zu einem besser situierten Publikum, das – nicht zuletzt auf Kosten der Fans – durch vermehrte Bequemlichkeit und Ausstattung der Stadien, durch vip-Räume und ein expandierendes Sport-Umfeld angesprochen werden sollte. Durch Großbildleinwände in den Stadien, durch Zeitlupe und Wiederholungen auf den tv-Bildschirmen gewann der Sport eine neue Qualität, das »Replay« wurde wichtiger als das reale Geschehen. Dabei lief der Fußball gerade in Wien Gefahr, »in der Zwickmühle zwischen Tradition und Innovation schlussendlich auf der Strecke zu bleiben«118. So wurde das Praterstadion mit wenig Rücksichtnahme auf die Bausubstanz generalsaniert und 1986 mit nur mehr 60.000 Plätzen wiedereröffnet, um im europäischen Fußball konkurrenzfähig zu bleiben und die Chance auf die Zuteilung von Europacupfinali zu wahren.119 Anfang der 1990er-Jahre wurde die in Ernst-Happel-Stadion umbenannte Arena dann auf ein reines Sitzplatzstadion mit 50.000 Plätzen umgebaut. Nicht die »Massen«, sondern ein ausgewähltes Publikum sollte angesprochen 670

eine (miss-)erfolgsgeschichte werden, allerdings durfte gerade im medialisierten Sport nicht auf volle Ränge und die durch Fans erzeugte Stimmung verzichtet werden. Diese Fans wurden allerdings streng segregiert und gingen durch den Übergang zu reinen Sitzplatzstadien ihres gewohnten Umfelds verlustig, was zu massiven Protesten führte, einer der vielen Aspekte der Ende der 1980er-Jahre aufkommenden »zweiten Generation« des Hooliganismus.120 Auch wenn es sich bei den apostrophierten »Hooligans« realiter um eine sehr heterogene Gruppe jugendlicher PlatzbesucherInnen, um »Fans«, um »Ultras« und eben um »Hooligans« im engeren Sinne handelte, denen es primär um die Restituierung individueller wie kollektiver Identitäten, um das Ausleben von Aggressivität und nicht um den Sport oder ihren Klub ging, hatten deren Auftreten in den Stadien und ihre Darstellung in den Medien doch gemeinsame Konsequenzen, vom Rückzug vieler Sponsoren, die sich in publicityträchtigeren Sportarten engagierten, bis zu neuerlich rückläufigen BesucherInnenzahlen in den Stadien. Dieser Effekt wurde freilich durch – im europäischen Vergleich – mittelmäßige Leistungen verstärkt  ; und noch mehr durch schmachvolle Tiefpunkte wie die 0  : 1-Niederlage des Nationalteams im Idrottsplats-Stadion in Landskrona gegen die erstmals in einem internationalen Bewerb antretenden Färöer-Inseln.121 Viele Jugendliche wandten sich Trendsportarten zu, zu denen auch das »StreetSoccer« zu zählen ist, und der Skisport konnte dem Fußball den Rang als beliebtester Sport ablaufen und hielt bei diversen Events der Freestyler oder alpinen Skistars auf künstlich errichteten Schneehügeln auch in Wien Einzug.122 Viele FußballanhängerInnen dagegen wandten sich der »Zweiten Kultur« der Landes- und Unterligen zu. Oft übertrafen Dritt- oder Viertligaklubs die BesucherInnenzahlen von Wiener Zweitligisten und das Gesamt des lokalen Fußballgeschehens die Zuschauerziffern bei Rapid oder Austria.123 Generell stagnierten die BesucherInnenziffern in den Stadien wie auch die Einschaltziffern im tv, vor allem jedoch wuchs die Schere zwischen dem fußballerischen Alltag und den seltenen Spektakeln weiter an  : Während bei großen Spielen die Wiener Stadien zu klein wurden, herrschte beim Fußballalltag oft Leere, und zwar mehr als in vergleichbaren europäischen Städten. Wieder einmal sollte eine Reform Abhilfe schaffen  : Ab der Saison 1993/94 wurde neuerlich eine Zehnerliga installiert. Diese »Konzentration der Kräfte« sollte auch eine Leistungssteigerung bewirken, denn Erfolge zählten mehr denn je, waren aber im österreichischen und Wiener Fußball selten geworden. Auch die Verpflichtung des »Ur«-Wieners Ernst Happel als Teamchef konnte daran wenig ändern. Die Ausnahme war die Saison 1995/96, als Rapid erst im Finale des Europacups der Cupsieger Paris Saint-Germain mit 0  : 1 unterlag. Und immerhin wurde, dank der Erweiterung auf 32 Teilnehmer, die Qualifikation für die wm 1998 geschafft, wo Öster­reich in der ersten Runde ausschied. Der Star dieser Mannschaft war ein Wiener, der allerdings stets umstrittene Toni Polster.124 671

matthias marschik Dennoch hatte die Wiener Fußballkultur weiter an Bedeutung verloren und spielte im europäisierten Spitzenfußball keine wesentliche Rolle, und wenn, dann nur mehr als Veranstaltungsort für Europacup-Endspiele. Die vom Sportamt gestartete Sportplatzoffensive verbesserte zwar die Situation der kleineren Klubs erheblich, doch im Profifußball waren selbst für die beiden Großklubs Rapid und Austria kaum mehr Sponsoren zu finden, die maßgeblich zu Budgets jenseits der zwanzig Millionen Schilling beitrugen. Die Folge war eine weitere Provinzialisierung des österreichischen Fußballs, selbst kleinere Städte wie Mödling und Lustenau, Steyr oder Ried konnten dank lokaler Sponsoren national größere Erfolge erringen als die »zweite Garnitur« der Wiener Klubs.

Resümee Als Roman Horak und ich in den Jahren 1993/94 als nationalen Beitrag zu einem europaweiten Projekt ZuschauerInnenverhalten und -verteilung in österreichischen Stadien untersuchten125, hatte die Publikumsresonanz speziell in Wien einen Tiefpunkt erreicht, und es schien sogar fraglich, ob sich der professionelle Spitzenfußball in dieser Stadt wird halten können. Nur wenige Jahre später hatten das BosmanUrteil von 1996 und das Engagement extrem gewinnorientierter und ebenso potenter Sponsoren aus bis dahin wenig fußballaffinen Bereichen das Geschäft mit dem Fußball potenziert. Und obwohl der Abstand zwischen Wien und anderen Großstädten nicht geringer geworden war, fielen doch auch für den Wiener und österreichischen Fußball mehr als nur Brosamen ab (man denke an die Engagements von Frank Stronach und Dietrich Mateschitz sowie an die Sponsoringtätigkeit expandierender Hedgefonds-Anbieter wie Superfund und Wettbüros wie bwin). Durch die Umwandlung in Aktiengesellschaften und Börsennotierungen wurde der Fußball zu einem Teil der »New Economy« und eines neoliberalen Sportspektakels, das primär auf die »völlige Unterwerfung des Fußballsports unter ökonomische Interessen« gerichtet war.126 Der Stadt Wien ist es gelungen, sich in diese eventisierte Sportlandschaft durch den Ausbau des Ernst-Happel-Stadions zu einem »Fünf-Sterne-Stadion«, durch die Ausrichtung von Europacupfinali und schließlich der Euro 2008 einzuklinken. Freilich haben diese spätmodernen Veränderungen des Fußballsports, die den »Kunden« – nicht mehr  : den Zuschauer oder die Zuschauerin – neu positionieren, viele traditio­nelle AnhängerInnen nicht nur in Wien verunsichert  : Das unmittelbare Erleben, die direkte Auseinandersetzung mit dem Sport, das spontane Involvement in das Ereignis ist nur mehr schwer am eigenen Leib zu spüren. Die Attraktion und Unmittelbarkeit des Spielbesuches, dessen Spannung gerade in seiner Einmalig672

eine (miss-)erfolgsgeschichte keit bestand, das Zusammenspiel zwischen kollektiven und doch ganz individuellen Wahrnehmungen des Geschehens und auch der intensive Diskurs über das konkrete Spiel wie auch über die aus ihm entstandenen Mythen scheinen massiv gefährdet. Aber nicht nur die Stadt, auch ihre Fußballfans haben den Tiefpunkt der 1990er überwunden. Das zeigt nicht nur der neuerliche Boom des sk Rapid und auch des fk Austria, sondern auch die große AnhängerInnenschaft des Nationalteams und ebenso die lokale Attraktivität von Vereinen wie der Vienna oder des Wiener Sportklub. Gerade wenn die Spätmoderne fragile Identitäten produziert, traditionelle Fixpunkte wie Arbeit oder Familie ins Wanken geraten, ist der Fixtermin des Sportplatzes möglicher Rettungsanker und – nach wie vor männlich codierter – Freiraum. Nicht zufällig ist das Fußballstadion ein Ort, an dem rassistischen Gefühlen Ausdruck verliehen wird, von der Ausländerfeindlichkeit gegenüber Schwarzen und »Jugos« bis hin zur öffentlichen Bekundung der Aversion gegen »die Deutschen«. Er ist aber ebenso ein Raum, in dem Maskulinität in all ihren Formen ausgelebt werden kann. Und nicht zuletzt dient der Sportplatz als gesellschaftliche Nische, in der Zugehörigkeiten in einem Wechsel von Spannung und Entspannung produziert und gelebt werden können. Im Sinne spätmoderner Oberflächlichkeit und Beliebigkeit geht es freilich nicht mehr um wie immer konstruierte Realitäten oder Wahrhaftigkeiten. Vielmehr werden lokale und nationale Interessenlagen, so auch die wienerischen Fußballpraxen, nach den jeweiligen Interessen der besten Teams und reichsten Klubs, nach den Bedürfnissen der Wirtschaftslage und der Sponsoren, nach den Vorgaben des Mediensports, aber ein wenig eben auch nach den Wünschen und Intentionen der Fußballanhänger einmal forciert, einmal ausgeblendet. Der Wiener Fußball und seine Tradition wird je nach Gutdünken und Opportunität einmal negiert, einmal bewusst eingesetzt, einmal beim Wort genommen, ein andermal verändert. So lässt sich einmal europäische Solidarität, einmal nationale Gemeinschaft und ein andermal Antimetropolitanismus oder die Überheblichkeit gegenüber der »Provinz« als Quelle fußballerischer Konfrontation und sportlicher Spannung einsetzen. Und beim Derby zwischen Rapid und Austria lässt sich dann der alte Klassenkonflikt des Arbeiterklubs gegen den bürgerlichen Verein zur Erzeugung von Eventatmosphäre verwenden. Präsent bleibt die Wiener Fußballkultur also nur noch als ökonomische, politische oder im Sinne der Identitätskonstruktion verwertbare sportliche Idee. Er tritt endgültig »in die Sphäre der Erzählung, des Symbolischen, des Mythischen« ein. Doch wahrscheinlich ist es ja genau das, was der wienerischen Mentalität am besten entspricht  : der Wiener Fußball nicht als simple Realität, sondern als »ästhetische Modellierung der Wirklichkeit«.127 Eines aber ist gewiss  : Der Wiener Fußball ist politisch, ökonomisch und kulturell im »Westen«128 angekommen. 673

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A nmerkungen  1 Marschik, Matthias  : Phantome der Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urbaner Sportkulturen. In  : Funke-Wieneke, Jürgen/Klein, Gabriele (Hg.)  : Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (Bielefeld 2008a), S. 129–143, hier S. 130.  2 Marschik, Matthias  : Go West  ! Der österreichische Fußball von 1954 bis 1990. In  : Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, 32 (2008b), S. 26–29.  3 Norden, Gilbert  : Breitensport und Spitzensport vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In  : Bruckmüller, Ernst/Strohmeyer, Hannes (Hg.)  : Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs (Wien 1998), S. 56–85  ; Norden Gilbert  : Sport in Österreich. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In  : Marschik, Matthias/Spitaler, Georg (Hg.)  : Helden und Idole. Sportstars in Österreich (Innsbruck/Wien/Bozen 2006), S. 25–39.  4 Marschik, Matthias  : »Provinz« ohne Zentrum  : Sport in Niederösterreich. In  : Kühschelm, Oliver/ Langthaler, Ernst/Eminger, Stefan (Hg.)  : Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 3  : Kultur (Wien/ Köln/Weimar 2008c), S. 437–460.  5 Müllner, Rudolf  : Moderne und Sport. Historische Zugänge zur Formierung des sportlichen Feldes. In  : Marschik, Matthias/Müllner, Rudolf/Penz, Otto/Spitaler, Georg (Hg.)  : Sport Studies (Wien 2008), S. 35– 46, hier S. 44.  6 Müllner, Rudolf  : Sport und Mediatisierung – Österreich vor 1900. In  : Krüger, Arnd/Buss, Wolfgang (Hg.)  : Transformationen  : Kontinuitäten und Brüche in der Sportgeschichte I (Hoya 2002), S. 84–92  ; Marschik, Matthias  : Sport und Moderne. Transformationen der Bewegungskultur. In  : Marschik, Matthias et al. (Hg.)  : Sport Studies (Wien 2008d), S. 23–34, hier S. 25.  7 Marschik, Matthias  : Vom Herrenspiel zum Männersport  : Modernismus – Meisterschaft – Massenspektakel. Die ersten dreißig Jahre Fußball in Wien (Wien 1997), S. 33ff.  8 Skocek, Johann/Weisgram, Wolfgang  : Wunderteam Österreich. Scheiberln, wedeln, glücklich sein (Wien/München/Zürich 1996), S. 78  ; John Michael  : Sports in Austrian Society 1890–1930s  : The ­Example of Viennese Football. In  : Zimmermann, Susan (Hg.)  : Urban Space and Identity in the European City 1890–1930s (Budapest 1995), S. 133–150.  9 Pfister, Gertrud  : Die Anfänge des Frauenturnens und Frauensports in Österreich. In  : Bruckmüller, Ernst/Strohmeyer, Hannes (Hg.)  : Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs (Wien 1998), S. 86– 104. 10 Tauber, Peter  : Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland (Münster 2007)  ; Court, Jürgen  : Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Band 1  : Die Vorgeschichte 1900 – 1918 (Berlin 2008), S. 150ff. Zu Wien und Österreich stehen Detailstudien noch aus. 11 Krammer, Reinhard  : Die Arbeitersportbewegung in Österreich. In  : Krüger, Arnd/Riordan, James (Hg.)  : Der internationale Arbeitersport. Der Schlüssel zum Arbeitersport in 10 Ländern (Köln 1985), S. 85–102. 12 Im folgenden Text wird nicht aus Vereinfachungsgründen, sondern bewusst auf eine geschlechtsneutrale Schreibweise verzichtet, die massive Geschlechterdifferenzen und Ausgrenzungsmechanismen gerade im Bereich des Sports nur verdecken würde. Weibliche Endungen finden sich nur, wo es tatsächlich um Frauen bzw. Frauensport geht. 13 Marschik, Matthias  : »Wir spielen nicht zum Vergnügen«. Arbeiterfußball in der Ersten Republik (Wien 1994). 14 Krammer, Reinhard  : Die Turn- und Sportbewegung. In  : Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt (Hg.)  : Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Band 2 (Graz/Wien/Köln 1983), S. 731–746. 15 Horak, Roman/Maderthaner, Wolfgang  : Mehr als ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien

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eine (miss-)erfolgsgeschichte der Moderne (Wien 1997), S. 113ff.; Maderthaner, Wolfgang/Pfoser, Alfred/Horak, Roman (Hg.)  : Die Eleganz des runden Leders. Wiener Fußball 1920–1965 (Wien 2008). 16 Marschik, Matthias  : »… im Stadion dieses Jahrhunderts«  : Die 2. Arbeiterolympiade in Wien 1931. In  : Christian Koller unter Mitarb. von Janina Gruhner (Hg.)  : Sport als städtisches Ereignis (Ostfildern 2008e), S. 189–210. 17 Hafer, Andreas/Hafer, Wolfgang  : Hugo Meisl oder die Erfindung des modernen Fußballs. Eine Biographie (Göttingen 2007). 18 Marschik, Matthias/Sottopietra, Doris  : Erbfeinde und Haßlieben. Konzept und Realität Mitteleuropas im Sport (Münster/Hamburg/London 2000). 19 Lanfranchi, Pierre  : Fußball in Europa 1920–1938. Die Entwicklung eines internationalen Netzwerkes. In  : Horak, Roman/Reiter, Wolfgang (Hg.)  : Die Kanten des runden Leders. Beiträge zur europäischen Fußballkultur (Wien 1991), S. 163–172  ; Marschik, Matthias  : Mitteleuropa  : Politische Konzepte – sportliche Praxis. In  : Historical Social Research/Historische Sozialforschung 41/1 (2006), S. 88–108  ; Skocek, Johann/Weisgram, Wolfgang/Mauhart, Beppo (Hg.)  : Eine Heimkehr. Die Europameister (Wien 2008), S. 45ff. 20 Marschik, Matthias  : Sport im Austrofaschismus. In  : Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hg.)  : Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur (Münster/London/Wien 20053), S. 372–389. 21 Einen aktuellen Überblick gibt Peiffer Lorenz  : Sport im Nationalsozialismus. Zum aktuellen Stand der sporthistorischen Forschung. Eine kommentierte Bibliografie (Göttingen 20092). Zum Fußball im Besonderen vgl. Peiffer, Lorenz/Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.)  : Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus (Göttingen 2008)  ; Herzog, Markwart (Hg.)  : Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars (Stuttgart 2008). 22 Müllner, Rudolf  : Die Mobilisierung der Körper. Der Schul- und Hochschulsport im nationalsozialistischen Österreich (Wien 1993). 23 Marschik, Matthias  : Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Turia & Kant (Wien 2008f), S. 624ff. 24 Marschik, Matthias  : Vom Nutzen der Unterhaltung. Der Wiener Fußball in der NS-Zeit  : Zwischen Vereinnahmung und Resistenz, Wien 1998  ; Marschik, Matthias  : Between Manipulation and Resistance  : Viennese Football in the Nazi Era. In  : Journal of Contemporary History 34/2 (1999), S. 215–229. 25 Marschik 2008f., S. 431f. 26 Stecewicz, Ludwig  : Trotz Hunger waren die Sportnarren da. In  : Danimann, Franz/Pepper, Hugo (Hg.)  : Österreich im April ’45. Die ersten Schritte der Zweiten Republik (Wien/München/Zürich 1985), S. 263– 265, hier S. 263f. 27 Neues Österreich 9.6.1945. 28 Gogela, Richard  : Lang war der Weg nach Budapest. In  : Strabl, Josef (Hg.)  : Wir Sportreporter. 100 Jahre österreichische Sportpresse (Wien 1980), S. 92–93. 29 Neues Österreich 12.12.1945. 30 Marschik, Matthias  : Eine Art Auferstehung – Österreich–Frankreich 4  : 1. 6. Dezember 1945, Wien – Praterstadion. In  : Marschik, Matthias (Hg.)  : Sternstunden der österreichischen Nationalmannschaft. Erzählungen zur nationalen Fußballkultur (Wien/Berlin 2008g), S. 99–114, hier S. 100. 31 Maderthaner, Wolfgang  : Kultur Macht Geschichte. Studien zur Wiener Stadtkultur im 19. und 20. Jahrhundert (Wien 2005), S. 252. 32 So beklagte etwa die Admira den Verlust von fast sechzig Aktiven, bei Wacker waren 23 Spieler nicht zurückgekehrt und der FC Wien hatte nahezu seine gesamte Kampfmannschaft eingebüßt  : Maier, Martin  : Wir bauen uns ein Schloß aus Druckerschwärze. In  : Strabl 1980, S. 85–92, hier S. 88. 33 Marschik 2008g, S. 109f.

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matthias marschik 34 Marschik, Matthias  : Sport als ›leerer Signifikant‹ – Die Neutralisierung des Sportes als Bedingung seiner kulturellen Bedeutungen. In  : Kurswechsel 10/2 (2004), S. 35–43. 35 Friesenbichler, Georg  : Sport frei  ! Arbeitersport in Wien 1945–1985 (Wien 1985), S. 38. 36 Marschik, Matthias  : Oktroyierte Gemeinschaft. Der Wiederaufbau des österreichischen Sportes am Beginn der Zweiten Republik. In  : Historicum, Winter 1998/99, S. 34–42. 37 Urbanek, Gerhard  : Österreichs Olympiaauftritt 1948. Die Wiederentstehung einer verlorenen Identität (Dipl. Uni Wien 2006)  ; Marschik, Matthias  : Vom Idealismus zur Identität. Der Beitrag des Sportes zum Nationsbewußtsein Österreichs (1945–1950) (Wien 1999), S. 167ff.  38 Hanisch, Ernst  : Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts (Wien/Köln/Weimar 2005), S. 99. 39 Kreisky, Eva  : Fußball als männliche Weltsicht – Thesen aus Sicht der Geschlechterforschung. In  : Kreisky, Eva/Spitaler, Georg (Hg.)  : Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht (Frankfurt/M./New York 2006), S. 21–40, hier S. 33. 40 Marschik, Matthias  : Frauenfußball und Maskulinität. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven (Münster/ Hamburg/London 2003), S. 184. 41 Horak, Roman/Marschik, Matthias  : Vom Erlebnis zur Wahrnehmung. Der Wiener Fußball und seine Zuschauer 1945 – 1990 (Wien 1995), S. 82 und 113. 42 Marschik 1999, S. 90ff. und 139ff. 43 Schidrowitz, Leo  : Geschichte des Fußballsportes in Österreich (Wien/Wels/Frankfurt/M. 1951), S. 279. 44 Marschik 1999, S. 291. 45 Marschik, Matthias  : Mitteleuropa  : Politische Konzepte – sportliche Praxis. In  : Historical Social Research/Historische Sozialforschung 41/1 (2006), 88–108, hier S. 101. 46 John, Michael  : Die »Hitzeschlacht von Lausanne« und andere Spiele Österreichs bei der WM-Endrunde 1954. Schweiz–Österreich 5  : 7. 26. Juni 1954, Lausanne – Stade Olympique de la Pontaise. In  : Marschik 2008g, S. 115–130, hier S. 123. 47 Marschik, Matthias  : Massen – Mentalitäten – Männlichkeit  : Fußballkulturen in Wien (Weitra 2005), S. 103. 48 Haller, Max  : Identität und Nationalstolz der Österreicher. Gesellschaftliche Ursachen und Funktionen. Herausbildung und Transformationen seit 1945. Internationaler Vergleich (Wien/Köln/Weimar 1996), S. 449  ; Thurner, Erika  : Nationale Identität und Geschlecht in Österreich nach 1945 (Innsbruck/Wien/ München 2000), S. 114. 49 Langisch, Karl  : 75 Jahre ÖFB. Eine Dokumentation des Österreichischen Fußball-Bundes (Wien 1979), S. 72. 50 Horak/Marschik 1995, S. 65. 51 Urbanek, Gerhard  : Österreichs Deutschland-Komplex. Paradoxien in der österreichisch-deutschen Fußballmythologie (Diss. Uni Wien 2009), S. 280f. 52 Langisch 1979, S. 73. 53 Hödl, Helmut  : Europabewusstsein im Fußball – ein Produkt der Politik der 50er Jahre  ? Die Anfänge des gesamteuropäischen Fußballs. http  ://www-stud.uni-graz.at/~03hoedlh/europabewusstsein.html (Abruf 9.1.2010). 54 Hesse-Lichtenberger, Ulrich  : Flutlicht und Schatten. Die Geschichte des Europapokals (Göttingen 2005), S. 35ff. 55 Schulze-Marmeling, Dietrich/Dahlkamp, Hubert  : Die Geschichte der Fußball-Europameisterschaft 1960–2008 (Göttingen 2007), S. 35. 56 Marschik/Sottopietra 2000, S. 322ff. 57 Huber, Josef  : Die Geschichte des Wiener Fußballs. 75 Jahre Wiener Fußball-Verband. 1923–1998 (Wien 1998), S. 56.

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eine (miss-)erfolgsgeschichte 58 Skocek, Johann/Weisgram, Wolfgang/Mauhart, Beppo  : Die Europameister. Eine Heimkehr (Wien 2008), S. 112. 59 Horak/Marschik 1995, S. 66. 60 Vgl. etwa Bauer, Kurt (Hg.)  : Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil (Wien/Köln/Weimar 2003). 61 Horak, Roman  : Fußball von Wien nach Österreich. Zehn abschließende Bemerkungen aus kulturalistischer Sicht. In  : Bruckmüller Ernst/Strohmeyer Hannes (Hg.)  : Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs (Wien 1998), S. 156–169, hier S. 165. 62 Spitaler, Georg  : War Sport cool  ? Sportdiskurse und Jugend im fordistischen Wien. In  : Horak, Roman et al. (Hg.)  : Randzone. Zur Theorie und Archäologie von Massenkultur in Wien 1950 – 1970 (Wien 2004), S. 126–148, hier S. 130. 63 Langisch 1979, S. 201. 64 Horak/Marschik 1995, S. 147ff. 65 Praher, Andreas  : Der Aufschwung des LASK nach dem Krieg. In  : John, Michael/Steinmaßl, Franz (Hg.)  : … wenn der Rasen brennt … 100 Jahre Fußball in Oberösterreich (Grünbach 2008), S. 164–176, hier S. 173. 66 Liegl, Barbara/Spitaler, Georg  : Legionäre am Ball. Migration im österreichischen Fußball nach 1945 (Wien 2008), S. 56. 67 Horak/Marschik 1995, S. 67. 68 Bartz, Christina  : Sport – Medium des Fernsehens. In  : Schneider, Irmela/Hahn, Torsten/Bartz, Christina (Hg.)  : Medienkultur der 60er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Band 2 (Wiesbaden 2003), S. 35–50. 69 Bernold, Monika  : Das private Sehen. Fernsehfamilie Leitner, mediale Konsumkultur und nationale Identitätskonstruktion in Österreich nach 1955 (Wien/Berlin 2007), S. 72. 70 Horak/Marschik 1995, S. 38. 71 Gebauer, Gunter  : Geschichten, Rezepte, Mythen. Über das Erzählen von Sportereignissen. In  : Lindner Rolf (Hg.)  : Der Satz »Der Ball ist rund« hat eine gewisse philosophische Tiefe (Berlin 1983), S. 128–145, hier S. 138. 72 Bernold 2007, S. 72. 73 Penz, Otto  : Sport und Medien. Über Mythen, Helden und Affekte. In  : Marschik, Matthias/Spitaler, Georg (Hg.)  : Helden und Idole. Sportstars in Österreich (Innsbruck/Wien/Bozen 2006), S. 75–83  ; Miller, Toby  : Sport, Medien und Globalisierung. In  : Schierl Thomas (Hg.)  : Handbuch Medien, Kommunikation und Sport (Schorndorf 2007), S. 167–179. 74 Horak/Marschik 1995, S. 93. 75 Horak/Marschik 1995, S. 154. 76 Marschik, Matthias/Spitaler, Georg  : Sportstars in Österreich  : Einleitung. In  : Marschik/Spitaler 2006, S. 9–21, hier S. 10. 77 Horak, Roman/Spitaler, Georg  : Soccer and Skiing as Formative Forces  : On the Austria Example. In  : American Behavioral Scientist 46/11 (2003), S. 1506–1518, hier S. 1513. 78 Müllner, Rudolf  : Anton Sailer. Österreichs Sportler des Jahrhunderts. In  : Marschik/Spitaler 2006, S. 242– 258. 79 Spitaler 2004, S. 134. 80 Horak/Marschik 1995, S. 174f. 81 Adrian, Stefan/Schächtele, Kai  : Immer wieder nimmer wieder. Vom Schicksal des österreichischen Fußballs (Köln 2008), S. 130. 82 Marschik, Matthias  : Wiener Austria. Die ersten 90 Jahre (Schwechat 2001), S. 135.

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matthias marschik  83 Huber 1998, S. 84.  84 Horak/Marschik 1995, S. 170.  85 Eschenbach, Rolf/Horak, Christian/Plasonik, Gerhard  : Modernes Sportmanagement. Beispiel Fußball  : Entwicklung eines integrierten Managementsystems (Wien 1990), S. 75.  86 Krumböck, Ruth  : Olet oder non olet. Fußball aus der Sicht der Sponsoren. In  : Skocek, Johann/Weisgram, Wolfgang (Hg.)  : Im Inneren des Balles. Eine Expedition durch die weite Wirtschaftswunderwelt des österreichischen Fußballs (Wien/Stuttgart/Kiel 1994), S. 167–208, hier S. 167.  87 Rigauer, Bero  : Sportindustrie. Soziologische Betrachtungen über das Verschwinden des Sports in der Markt- und Warenwelt. In  : Horak, Roman/Penz, Otto (Hg.)  : Sport. Kult & Kommerz (Wien 1992), S. 185–202.  88 Langisch 1979, S. 105.  89 John, Michael  : Österreich. In  : Eisenberg, Christiane (Hg.)  : Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt (München 1997), S. 65–93, hier S. 86.  90 Marschik, Matthias  : The »Second Culture« of Football. Notes on a »forgotten« Sport. In  : Weiß, Otmar/Schulz, Wolfgang (Hg.)  : Sport in Space and Time (Wien 1994), S.228–235. Vgl. auch Ballesterer Fußballmagazin 17 (2005) mit dem Schwerpunkt  : »Im Unterhaus«.  91 Schulze-Marmeling Dietrich  : Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports (Göttingen 1992), S. 176.  92 Horak, Roman/Reiter, Wolfgang/Stocker, Kurt  : Fußball, Fans und Hooligans. Entwicklung, Zerfall und Restrukturierung der Wiener Fansubkultur. In  : Ehalt, Hubert Ch./Weiß, Otmar (Hg.)  : Sport zwischen Disziplinierung und neuen sozialen Bewegungen (Wien/Köln/Weimar 1993), S. 246–267, hier S. 247.  93 Kleines Volksblatt, 3.9.1967.  94 Horak 1998, S. 165.  95 Langisch 1979, S. 98.  96 Marschik 2005, S. 116.  97 Horak, Roman  : Moving to Suburbia. Stadium Relocation and Modernization in Vienna. In  : Bale, John/ Moen, Olof (Hg.)  : The Stadium and the City (Keele 1995), S. 81–93, hier S. 88.  98 Horak 1998, S. 167.  99 Spitaler, Georg  : Annemarie Moser-Pröll. Österreichs weibliche Skiikone. In  : Marschik/Spitaler 2006, S. 286–293, hier S. 286. 100 Forster, Rudolf  : Karl Schranz. Skirennläufer. In  : Marschik/Spitaler 2006, S. 259–267, hier S. 265  ; Tantner, Anton  : Der »Schranz-Rummel« von 1972. Geschichte, Sport, Krieg und Konstruktion von Nation. In  : ZeitRaum. NF 2/1 (1995), S. 8–33. 101 Spitaler 2004, S. 140f.; Weisgram, Wolfgang  : Tote leben länger. Jochen Rindt, seine Saga und sein Sänger. . In  : Marschik/Spitaler 2006, S. 274–280. 102 Siehe zu den einzelnen Stadien/Sportplätzen die Beiträge in Tröscher, Andreas/Marschik, Matthias/ Schütz, Edgar (Hg.)  : Das große Buch der österreichischen Fußballstadien (Göttingen 2007). 103 Bausenwein, Christoph  : Geheimnis Fußball. Auf den Spuren eines Phänomens (Göttingen 1995). 104 Marschik 2003, S. 192ff. 105 IFES  : Fußball in Wien. Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts für empirische Sozialforschung im Auftrag der Magistratsdirektion der Stadt Wien, Koordinationsbüro (Wien 1980). 106 Liegl/Spitaler 2008, S. 66. 107 Horak/Marschik 1995, S. 81. 108 Wieselberg, Lukas  : Nicht erst seit Córdoba narrisch. Österreich – BR Deutschland 3  :2. 21. Juni 1978, Córdoba – Estadio Córdoba. In  : Marschik 2008g, S. 147–160. 109 Vgl. etwa das anlässlich der WM erschienene Buch mit dem daher durchaus allgemein zugänglichen Wissensstand über Argentinien  : Duve Freimut  : Fußball und Folter. Argentinien ’78 (Reinbek b.H. 1978).

678

eine (miss-)erfolgsgeschichte 110 Wassermair, Michael/Wieselberg, Lukas  : 20 Jahre Córdoba  : 3  : 2 Österreich–Deutschland (Wien 1998), S. 157. 111 Marschik 2005, S. 118. 112 Labitsch, Florian  : Die Narrischen. Sportereignisse in Österreich als Kristallisationspunkte kollektiver Identitäten (Wien/Berlin 2009), S. 78. 113 Horak, Roman  : Things Change  : Trends in Austrian Football Hooliganism Revisited From 1977–1990. In  : the Sociological Review 39/3 (1991), S. 531–548  ; Horak, Roman/Reiter, Wolfgang/Stocker, Kurt (Hg.)  : Ein Spiel dauert länger als 90 Minuten. Fußball und Gewalt in Europa (Hamburg 1988)  ; Horak/ Reiter/Stocker 1993. 114 Marschik, Matthias  : »Heimspiel«  : Sport, Politik und Ökonomie im urbanen Raum. In  : SportZeiten 4/1 (2004), S. 9–32, hier S. 21. 115 ÖFB  : Zuschauerrückgang auf Fußballplätzen. Zusammenfassung OGM Oktober 1986 – Juni 1987 (o.O. 1987). 116 Horak/Marschik 1995, S. 97. 117 Hödl, Gerald  : Zur politischen Ökonomie des Fußballsports. In  : Fanizadeh, Michael/Hödl, Gerald/Manzenreiter, Wolfram (Hg.)  : Global Players – Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs (Frankfurt/M. 2002), S. 13–35, hier S. 14  ; Manzenreiter, Wolfram  : Sport im Konsumkapitalismus. In  : Marschik/Müllner/Penz/Spitaler 2008, S. 112–125, hier S. 119. 118 Horak/Marschik 1995, S. 86. 119 Müllner, Rudolf/Hachleitner, Bernhard/Tröscher, Andreas  : Ernst Happel-Stadion/Praterstadion. In  : Tröscher/Marschik/Schütz 2007, S. 14–21, hier S. 19. 120 Horak/Reiter/Stocker 1993  ; vgl. auch Bale, John  : Raum und Sport. Die topografische Entwicklung des modernen Stadions. In  : Marschik/Müllner/Penz/Spitaler 2008, S. 149–161, hier S. 160. 121 Hackl, Christian  : Die Geschichte vom Mond und den Fischsemmeln. Färöer–Österreich 1  : 0. 12. September 1990. Landskrona, Idrottsplats-Stadion. In  : Marschik 2008g, S. 175–184. 122 Marschik, Matthias  : »Fliegen und Siegen«. Eine Geschichte des Skispringens in Wien. In  : SportZeiten 4/4 (2004), S. 7–25, hier S. 8. 123 Horak/Marschik 1995, S. 109ff.; Marschik 1994. 124 Hummer, Robert  : Verehrt und verachtet. Toni Polster und die österreichische Quälmaschine. In  : Marschik/Spitaler 2006, S. 381–387. 125 Horak, Roman/Marschik, Matthias  : Das Stadion – Facetten des Fußballkonsums in Österreich. Eine empirische Untersuchung (Wien 1997). 126 Hödl 2002, S. 34. 127 Skocek/Weisgram 1996, S. 10 und 49. 128 Hall, Stuart  : Der Westen und der Rest  : Diskurs und Macht. In  : Hall Stuart  : Rassismus und kulturelle Identität (Hamburg 2002), S. 137–179.

679

elisabeth ponocny-seliger

Benennung öffentlicher Verkehrsflächen seit 1945 Wiens Frauen im Schatten berühmter Männer

W

ie viele öffentliche Verkehrsflächen in Wien wurden in den Jahren 1945 bis 1995 neu benannt beziehungsweise umbenannt, wie viele Namen mussten gefunden werden, und wer oder was wurde so mit »Raumpatronanz geadelt«  ? Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit setzte auch ein Bauboom und somit eine Erweiterung des städtischen Areals ein, sodass von 1945 bis 1995 für knapp 2.000 Straßen, Gassen, Wege, Plätze und ähnliches eine Bezeichnung oder auch eine Umbenennung gefunden werden musste, letzteres vor allem, um sie von dunklen Flecken der Vergangenheit reinzuwaschen.1 Für ein knappes Drittel, nämlich gezählte 617 öffentliche Verkehrsflächen, wählte man alte Ried- und Flurnamen (z. B. Biererlgasse im 10. Bezirk, Segengrundgasse im 22. Bezirk), Pflanzen, Tiere und Edelsteine (z. B. Günselgasse im 14. Bezirk, Ammerweg im 14. Bezirk, Diamantgasse im 21. Bezirk u.v.m.). Flüsse in Österreich (z. B. Rabnitzweg im 21. Bezirk), Örtlichkeiten und Ortsbezeichnungen aus Wien und Österreich (z. B. Jedlersdorfer Platz im 21. Bezirk, Heidenreichsteinweg im 21. Bezirk) und Orte aus aller Welt (z. B. Trondheimgasse im 22. Bezirk) sowie Bezeichnungen von Opern und Operetten und Figuren daraus (z. B. Indigoweg im 10. Bezirk, Sarastroweg im 19. Bezirk), aber auch urwienerische Ausdrücke (z. B. Haberergasse im 22. Bezirk). Die restlichen zwei Drittel verteilen sich aber höchst geschlechtsspezifisch, denn 64 Prozent aller Namenspatrone sind männlich – das sind beachtliche 1.235. Im Vergleich dazu sind die vier Prozent weibliche Namenspatroninnen, nämlich gerade einmal 77 Frauen, geradezu verschwindend. Rein statistisch betrachtet sind damit weibliche Straßen-, Gassen- und Wegbezeichnungen in Wien daher eine echte Seltenheit. Wird also der öffentliche Raum (auch) in dieser Hinsicht männlich dominiert  ? Die Gründe für diese Unterrepräsentanz sind vordergründig plausibel – denn um geehrt zu werden, muss man eine öffentliche und normgerechte Persönlichkeit sein, d. h. bestimmte Fähigkeiten an den Tag legen oder Taten erbringen – zum Beispiel im Bereich Kunst, Politik und Wissenschaft – die im öffentlichen Bewusstsein auch die entsprechende Verehrung verdienen. Frauen waren bis in die frühen Siebzigerjahre öffentlich wenig präsent und wenn, nur in ganz eingeschränkten Rollen.2 Prinzipiell kann heute jede Person einen Antrag für eine Benennung an den jeweiligen Bezirk (oder an die Kulturabteilung der Stadt Wien – ma 7) stellen. Die Vorschläge werden dann von einer Kulturkommission des jeweiligen Bezirks geprüft und, wird ein Beschluss gefasst, an die Kulturabteilung der Stadt Wien weiter­geleitet. 681

elisabeth ponocny-seliger Endgültig entschieden wird im Gemeinderatsausschuss für Kultur und Wissenschaft, wobei der zuständige Stadtrat als Letztverantwortlicher zeichnet.3 Benennungshoheit ist aber damit auch eng an Lobbying durch diverse Interessensgruppierungen wie politische Parteien, Gewerkschaften, religiöse Gruppen, Kammern, das Dokumentationsarchiv des Widerstandes und auch Firmen gebunden – die öffentliche Präsenz von Frauen ist da wohl keiner Gruppe ein vorrangiges Anliegen.4 Im Bezirksvergleich gab es im 21, 22., 23. und 10. Bezirk die meisten Benennungen zu vergeben, da in diesen Randbezirken die städtebaulichen Aktivitäten am größten waren. Relative hohe Anteile weiblicher gegenüber männlicher Straßenbenennungen finden sich dabei im 10., 13., 14., 21., 22., und 23. Bezirk, wobei im 9., 10., 13., 14., 15. und 16. Bezirk der relative Anteil weiblicher Raumpatronanz sogar größer ist als der der Männer. Im 21. und 22. Bezirk ist der Männeranteil aber deutlich höher als der Frauenanteil (vgl. Grafik 1). Grafik 1  : Geschlechterverteilung über die Bezirke (© Gender Research) 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1

2

3

4

5

6

7

8

Gesamt

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Frauen

Männer

Anderes

Versucht man, die Namenspatroninnen und -patrone anhand ihrer Verdienste zu kategorisieren, so lassen sich diese – einige Vergröberungen und Überschneidungen in Kauf nehmend – grob zu 18 Kategorien zuordnen (vgl. Abbildung 1), nämlich i) Künstlerinnen und Künstler, ii) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, iii) Politikerinnen und Politiker, iv) Ärztinnen und Ärzte, v) Technikerinnen und Techniker und Erfinderinnen und Erfinder, vi) Gründerinnen und Gründer sowie Mäzeninnen und Mäzene und Spenderinnen und Spender, vii) Widerstandskämpferinnen und -kämpfer und Opfer des Nationalsozialismus, viii) Direktorinnen und Direktoren 682

 

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 beziehungsweise allgemeine Leiterinnen und Leiter, ix) Pädagoginnen und Pädagogen sowie Volksbildnerinnen und Volksbildner, x) Funktionärinnen und Funktionäre von Gewerkschaften, sozialen oder auch frauenspezifischen Vereinigungen, xi) Architektinnen und Architekten, xii) Sportlerinnen und Sportler, xiii) religiös konnotierte Persönlichkeiten (Theologen, Priester, Klosterschwestern), xiv) Juristinnen und Juristen, xv) Pionierinnen und Pioniere sowie Entdeckungsreisende, xvi) Wiener Originalen und »besonderen« Wienerinnen und Wienern, xvii) Publizistinnen und Publizisten sowie Journalistinnen und Journalisten und Personen aus dem Verlagswesen, und letztlich xviii) Wohltäterinnen und Wohltätern.5 Die häufigste Kategorie bildet – gesamt betrachtet – die Gruppe der Künstlerinnen und Künstler  ; sie stellen mit 34 Prozent die größte Gruppe dar (vgl. Grafik 2). Grafik 2  : Alle 18 Kategorien nach Häufigkeit (© Gender Research) 40 35

33,8

25 20

3,2

3,0

2,4

2,4

2,2

1,5

1,5

1,1

0,8

0,5

Justiz

PionierInnen/Entdeckungsreisende

Wir. Originale / Besondere  WienerInnen

Publizistik/Verlagswesen

WohltäterInnen

3,3

Religion/Theologie

3,5

Sport

4,4

Architektur

4,4

FunktionärInnen

5,5

5

Pädagogik/Volksbildung

10

Leitungsfunktionen

13,3 13,2

15

Widerstand

Prozente

30

Technik / Erfindungen

Gründer‐/Mäzenatentum /SpenderInnen

Medizin

Politik

Wissenschaft

Kunst

0

Kategorie

 

Im Geschlechtervergleich (vgl. Abbildung 3) wird jedoch deutlich, dass, während bei den Männern zwar ein knappes Drittel Künstler ist, dies mit annähernd zwei Drittel den häufigsten Anlassfall für weibliche Raumpatronanz bildet. Bei den Frauen handelt es sich dabei überwiegend um Sängerinnen, Schauspielerinnen und Schriftstel683

elisabeth ponocny-seliger lerinnen, bei den Männern machen Schriftsteller, Maler und Grafiker mit Abstand das Gros der Künstler aus, gefolgt von Komponisten und Schauspielern. Numerisch gleichauf mit neun Prozent folgen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und Politiker und Politikerinnen. Bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt es aber nur drei Frauen, nämlich die Naturwissenschaftlerinnen Gerty Cori, Marie Curie und Lise Meitner (siehe später) – das macht gerade einmal vier Prozent, im Gegensatz zu 14 Prozent bei den Männern. Bei den Politikerinnen und Politikern ist das prozentuelle Ungleichgewicht zwar nicht so gravierend – elf Prozent Frauen und 13 Prozent Männer – differenziert man die politische Arbeit jedoch nach Regional-Gemeindepolitik und internationaler Politik, so sieht man, dass nahezu ein Viertel der männlichen Politiker in der Bundes- oder internationalen Politik tätig waren, während das nur auf zwei Frauen zutrifft, nämlich Rosa Jochmann und mit Vorbehalt Prinzessin Carola Wasa (siehe später). Grafik 3  : Die häufigsten Kategorien im Geschlechtervergleich (© Gender Research)

70

65

60

Prozente

50 40

32

30 20

14

10

10

13

4

0 Kunst

Wissenschaft Frauen

Politik

Männer  

Wie sieht es mit den restlichen Kategorien im Hinblick auf geschlechterspezifische Unterschiede aus  ? Wie Abbildung 4 deutlich zeigt, finden sich Frauen überhaupt 684

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 nur bei den Ärztinnen und Ärzten (dabei handelt es sich um Gabriele Possanner und Erna Lesky  ; zu diesen und den im folgenden Genannten siehe später), Widerstandskämpferinnen und -kämpfern (insgesamt sind es vier, nämlich Therese Klostermann, Stefanie Kunke, Marie Murban, Muriel Gradinger), Pädagoginnen und Pädagogen (hier zählt man drei, nämlich Ellen Key, Maria Montessori, Lilli Roubicek), Funktionärinnen und Funktionären (Käthe Leichter, Stefanie Nauheimer und Hedy Urach), Wohltäterinnen und Wohltätern (Bertha von Suttner, Elsa Brändström, Flora Gräfin Fries) und eine besondere, weil besonders alte Wienerin, Anna Migschitz. Die Kategorien Technik und Erfindung, Firmengründung und Mäzenatentum, Direktionsund Leitungsfunktionen, Architektur, Sport, Religion, Justiz und Rechtsprechung, Pioniergeist und Entdeckerfreude, und Publizistik und Verlagswesen enthalten keine weiblichen Personen – ließen sich denn zu diesen Kategorien im Laufe dieser Jahre keine Frauen finden  ? Grafik 4  : Geschlechtervergleich bezüglich der selteneren Kategorien (© Gender Research)

10

6 4 2

Frauen

WohltäterInnen

Publizistik/Verlagswesen

Wir. Originale / Besondere  WienerInnen

PionierInnen/Entdeckungsreisende

Justiz

Religion/Theologie

Sport

Architektur

FunktionärInnen

Pädagogik/Volksbildung

Leitungsfunktionen

Widerstand

Gründer‐/Mäzenatentum /SpenderInnen

Technik / Erfindungen

0 Medizin

Prozente

8

Männer

 

685

elisabeth ponocny-seliger Generell waren in diesen letzten fünfzig Jahren vor allem Gassen (61 Prozent) und Wege (20 Prozent) zu benennen, Straßen machten mit neun Prozent schon eine eher seltene Verkehrsfläche aus und Plätze mussten überhaupt nur fünf  Prozent aus der Taufe gehoben werden. Doch auch hier zeigt sich eine deutliche geschlechtliche Segregation, es gab nämlich überhaupt nur drei »weibliche« Straßen (Kramer-Glöckner-Straße im 13. Bezirk, Bleibtreustraße im 11. Bezirk und Halban-Kurz-Straße im 23. Bezirk) und einen einzigen Platz, wobei sich den eine Frau mit ihrem Ehemann teilt (Muriel-Gardiner-Buttinger-Platz im 10. Bezirk  ; siehe dazu später). Grundsätzlich muss seit 1989 eine Person mindestens ein Jahr tot sein, damit eine Verkehrsfläche nach ihr benannt werden kann, vorher betrug diese Frist, die sogenannte Interkalarfrist, drei Jahre. In der sowjetischen Besatzungszone kamen aber 1945–1955 auch Lebendbenennungen vor.6 Berechnet man, so das Sterbedatum der Persönlichkeiten bekannt ist, die Zeit zwischen Ableben und Benennungsjahr, so verstreichen im Median 22 Jahre, bis eine öffentliche Benennung erfolgt, einige Personen erhielten ihre Benennungen aber noch zu Lebzeiten wie der Heimatforscher Fritz Kastner, der Germanist Anton Pfalz, der Stadtbaudirektor und Techniker Aladar Pecht und der Geologe und Professor an der technischen Hochschule Josef Stiny. Der Weltreisende Marco Polo gefolgt vom herzoglichen Forstmeister zu Hütteldorf Wernhard Schenk von Ried bilden mit 675 beziehungsweise 642 Jahren Differenz zwischen Todes- und Benennungsjahr dabei die Extreme. Hier zeigt sich zwischen den weiblichen und männlichen Namenspatroninnen und -patronen allerdings die Tendenz dahingehend, dass Frauen im Median sechs Jahre früher Namenspatroninnen wurden.7 Unabhängig vom Geschlecht ist aber zu beobachten, dass Funktionärinnen und Funktionäre gefolgt von Politikerinnen und Politikern sowie Juristinnen und Juristen am raschesten Raumpatronanz übernehmen dürfen (im Median nach acht bis zwölf Jahren), während im Vergleich dazu bei Künstlerinnen und Künstlern im Median 25 Jahre vergehen, bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern 28 Jahre und bei Technikerinnen und Technikern schon 34 Jahre. In den folgenden Kapiteln werden nun in Zehn-Jahresschritten frauenpolitisch relevante Entwicklungen in Österreich und speziell in Wien kurz aufgerissen und mit den »weiblichen« Benennungen öffentlicher Verkehrsflächen in Beziehung gesetzt.

1945–1954 Die Kriegszeit und auch noch erste Nachkriegszeit hatte die geschlechtsspezifische Gleichung Frau = Haushalt und Mann = Beruf durcheinandergebracht, denn beide Geschlechter mussten auch die Aufgaben des/der anderen durchführen  ; insbeson686

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 dere hatten Frauen in Abwesenheit ihrer Männer die Familienexistenz zu sichern. Die »Trümmerfrauen« wurden zu einem Symbol dieser Zeit und stehen für eine Ökonomie des Überlebens, sie erinnern an Zerstörung, Mangel und Verlust, aber auch an das große Ausmaß an Arbeit und Verantwortung.8 Doch bald wurden Frauen aus vielen Bereichen des Arbeitsmarktes verdrängt, um den zurückkehrenden Männern Platz zu machen – der Frauenanteil an der Erwerbsarbeit sank, der Anteil der Männer stieg (1948 betrug der Prozentsatz weiblicher Angestellter noch vierzig Prozent, 1949 bereits 27,6 Prozent und 1950 35,4 Prozent).9 Erwerbstätigkeit von verheirateten Frauen mit Kindern wurde in der Öffentlichkeit zunehmend hinterfragt und mögliche negative Konsequenzen für die Kinder wurden diskutiert. Das traditionelle Familienmodell mit dem Mann als Ernährer auf der einen Seite und der Hausfrau und Mutter auf der anderen Seite wurde zur gesellschaftlichen Norm. Am 27. 4. 1945 wurde Helene Postranecky (1903–1995), Funktionärin der kpö, in der provisorischen Regierung Renner Unterstaatssekretärin für Volksernährung und damit das erste weibliche Regierungsmitglied der Zweiten Republik.10 (Zum Zeitpunkt der Drucklegung war sie übrigens nicht Namensgeberin einer öffentlichen Verkehrsfläche.) Die Gesetzgebungsperioden v (19. 12. 1945–8. 11. 1949) und vi (8. 11. 1949– 18. 3. 1953) zählten jeweils neun Frauen im Nationalrat (5 Prozent) und in Periode vii (18. 3. 1953–8. 6. 1956) sind es zehn (6 Prozent)  ; im Bundesrat finden sich in den entsprechenden Perioden keine beziehungsweise jeweils eine Frau (0 Prozent, 2 Prozent und 2 Prozent).11, 12 In Wien zählt man aber in der 5. (25. 11. 1945–9. 10. 1949) und auch 6. Wahlperiode (9. 10. 1949–17. 10. 1954) jeweils 14 Frauen im Wiener Landtag beziehungsweise Gemeinderat. In der Wiener Landesregierung und im Stadtsenat unter Bürgermeister Theodor Körner (Körner i–iii  ; 1944–1951) und auch noch Franz Jonas (Jonas I  ; 1951–1954) gibt es allerdings (noch) keine Frauen.13 Insgesamt elf berühmte Frauen (3 Prozent) kommen in dieser ersten Zeit zu öffentlichen Ehren, nämlich vier Künstlerinnen, eine Wohltäterin, zwei Vorkämpferinnen für Frauenrechte, zwei Pädagoginnen und zwei Widerstandskämpferinnen, wobei eine, nämlich Stefanie Kunke, sich eher indirekt, als Ehefrau des sozialistischen Widerstandskämpfers Hans Kunke, mit ihrem Mann seit 1954 die Kunkegasse im 23. Bezirk teilt. Bei den Männern sind das im Vergleich schon 234 (58 Prozent), nämlich überwiegend Künstler (69) und Wissenschaftler (54) und mit etwas Abstand Politiker (37)  ; die restlichen 156 (39 Prozent) öffentlichen Verkehrsflächen entfallen auf andere Bezeichnungen. Die erste Frau, die ab 1945 im 15. Bezirk Namenspatronin einer Gasse werden durfte, ist die Wohltäterin Flora Gräfin Fries (1814–1882), die sozialpolitisch engagierte Enkelin von Fanny Arnstein. Sie engagierte sich bereits in der 1848er Revolution für die Arbeiterinnen, gründete ein Waisenhaus, ein Arbeiterinnenasyl, eine Kinderbewahranstalt und eine Industrieschule. Die Friesgasse, die von 1938–1945 687

elisabeth ponocny-seliger als Scharnhorstgasse die Floragasse ersetzt hat, leitet somit den Reigen weiblicher Benennungen ein.14 Im Jahr 1949 folgte im 13. Bezirk die ebenfalls in Frauenfragen äußerst engagierte Sozialdemokratin Käthe Leichter (*1895), die 1942 im kz Ravensbrück in der psychiatrischen Anstalt Bernburg/Sale ermordet wurde  ; die KätheLeichter-Gasse ersetzte damit die seit 1943 existente Bezeichnung Horngasse.15, 16 Stefanie Nauheimer (1868–1946) gab als zweite Frauenrechtlerin im Jahr 1952 der Nauheimergasse im 12. und 23. Bezirk ihren Namen. Bei den vier Künstlerinnen handelt es sich um die schwedische Opern- und Konzertsängerin Jenny Lind (1820–1887), die seit 1951 die Jenny-Lind-Gasse im 10. Bezirk benennt. Auch ihr, die mit der Arie Casta Diva aus Bellinis Norma zur gefeierten Diva wurde, sagt man Wohltätigkeit den Armen gegenüber nach.17 Diese Eigenschaft teilte sie mit der Hofopernsängerin Antonie Schläger (1859–1910), die seit 1954 die Lautenschlägergasse im 11. Bezirk patroniert, dem Bezirk, in dem sie sich besonders für die Armen eingesetzt hatte. Das ist bereits ihre zweite Gasse in Wien, denn bereits seit 1933 steht sie auch der Schlägergasse im 13. Bezirk vor.18 Die Schriftstellerin Paula von Preradović (1887 bis 1951), Texterin der österreichischen Bundeshymne und Schriftstellerin mit ausgeprägt katholischer Haltung, erhielt 1954 im 14. Bezirk ihre Gasse, ebenso wie die beliebte Operettensängerin Mizzi Zwerenz (1876–1947), der zu Ehren im selben Jahr im 13. Bezirk der Zwerenzweg benannt wurde. Bei den Pädagoginnen handelt es sich um Ellen Key (1849–1926  ; vgl. Ellen-KeyGasse im 10. Bezirk seit 1951), die das 20. Jahrhundert als Jahrhundert des Kindes propagierte, und die Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870–1952), Begründerin der gleichnamigen Pädagogik. Sie benennt seit 1954 im 23. Bezirk die Montessorigasse.19 Eine thematische Ausnahme zu den vorherigen Frauenbiografien stellt die kpöFunktionärin und Widerstandskämpferin Hedy Urach (*1910) dar, die 1941 verhaftet und wegen Hochverrats 1943 zum Tode verurteilt wurde – sie benennt seit 1949 im 13. Bezirk die Hedy-Urach-Gasse.20 Versucht man, einen Übertitel für diese zehn Frauen zu finden, so zeichnen sie sich alle – bis auf die beiden Widerstandskämpferinnen – in ihren biografischen Darstellungen durch die sehr weiblich konnotierte Eigenschaft der Fürsorge für Arme, Frauen und Kinder aus.

1955–1964 Die traditionelle »Fassadenfamilie« der 50er und frühen 60er Jahre wies den Männern die Produktion und den Frauen den Konsum zu – wo aber eingekauft wurde, 688

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 dort gab es auch Verkäuferinnen. Der Dienstleistungssektor gewann an Bedeutung, ebenso wie eine zunehmende »Amerikanisierung« im Lebensstil. Im Zuge des um die Mitte der 50er Jahre einsetzenden Wirtschaftswunders wurden Haushalte – so es die Familienökonomie zuließ – durch Kühlschränke, Waschmaschinen, Fernseher und Autos bereichert.21 Der Prozentsatz unselbstständig erwerbstätiger Frauen betrug 1951 noch 35 Prozent, im Jahr 1961 war er grade einmal um ein Prozent auf 36 Prozent gestiegen, außerdem begann sich nun bei einem Teil der erwerbstätigen Frauen ein Teilzeitarbeitsmodell zu etablieren.22, 23 Politisch diskutierte man bereits, ob und wie viel Emanzipation einer Ehe zuzumuten sei, denn basierend auf dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 war noch der Mann das juridische Oberhaupt der Familie, dem sich Ehefrau und Kinder unterzuordnen hatten.24 Innerhalb der spö und ihrer Frauenorganisationen wurde diese Hierarchie zunehmend hinterfragt, ebenso wie das Verbot der Schwangerschaftsunterbrechung. Konträr dazu stand es in der övp, wo der Mann als Familienoberhaupt nicht problematisiert wurde, hingegen Schwangerschaftsabbrüche abgelehnt und auch die Rücknahme der Säkularisierung des Eherechts gefordert wurden.25 Der Frauenanteil im Nationalrat betrug in der gesetzgebenden Periode viii (8. 6. 1956–9.6.1959) neun Frauen (5 Prozent), in Periode ix (9.6.1959–14.12.1962) zehn (6 Prozent) und in Periode x (14. 12. 1962–30. 3. 1966) ebenfalls zehn Frauen (6 Prozent)  ; im Bundesrat fanden sich jetzt sechs (12 Prozent), sechs (13 Prozent) und sieben (14 Prozent) Frauen.26, 27 In Wien zählt man in der 7. Wahlperiode (17. 10. 1954–25. 10. 1959) 16 und in der 8. Wahlperiode (15. 10. 1959–15. 10. 1964) 15 Frauen im Wiener Landtag und Gemeinderat. Im Jahr 1959 wurde die vorherige spö-Vorsitzende und Gemeinderätin Helene Potetz erste weibliche Landtagspräsidentin (Amt der 3. Präsidentin) der Zweiten Republik.28 29 Im selben Jahr wurde die spö-Gemeinderätin Maria Jacobi (1910–1976) erste amtsführende Stadträtin für Wohlfahrtswesen in Wien.30 31 Auch bezüglich der Straßenbenennungen sind in dieser Periode immerhin schon 27 Frauen (4 Prozent) zu verzeichnen, denen aber 455 Männer (68 Prozent) gegenüberstehen, und die verbleibenden 28 Prozent entfallen wiederum auf andere Bezeichnungen. Wieder ist die mit Abstand größte Gruppe die der Künstlerinnen, es sind mit 22 mehr als vier Fünftel aller Benennungen dieser Periode – wovon alleine elf im Jahr 1955 im 13. Bezirk zu Ehren kommen und damit auch für den hohen Prozentsatz weiblicher Benennungen in diesem Bezirk verantwortlich zu machen sind. Es sind dies die Schauspielerinnen Marie Anatour (1857–1929  ; Anatourgasse), Hansi Niese (1875–1934  ; Hansi-Niese-Weg)32, Josefine Kramer-Glöckner (1874–1954  ; KramerGlöckner-Straße) – sie ist damit die erste Frau, die seit 1945 eine Straße benennen darf –, die Schauspielerinnen beziehungsweise Soubretten Nina Gned (1811–1874  ; Gnedgasse), Dora Keplinger-Eigenschütz (1876–1949  ; Keplingergasse), Ilika von 689

elisabeth ponocny-seliger Palmay (1859–1945  ; Palmaygasse) und die Operettensängerinnen Annie Dirkens (1869–1942  ; Dirkensgasse), Anna Grobecker (1829–1908, Grobeckergasse), Antonie Link (1853–1931, Linkweg), Gabriele Modl-Toman (–1848  ; Tomangasse), Berta Olma (–1848  ; Olmagasse) und die Opernsängerin und Gattin von Johann Strauß Sohn, Henriette Treffz-Strauß (1818–1878  ; Treffzgasse). Im 23. Bezirk erhielt noch im selben Jahr die Opernsängerin Rosa Papier-Paumgartner (1858–1932) die Papiergasse, und die Opernsängerin Mathilde Marchesi (1826–1913), die vor allem für ihr musikpädagogischen Übungen am Konservatorium Wien bekannt wurde, benennt seit 1957 im 22. Bezirk die Marchesigasse. Im Jahr 1958 kam im 9. Bezirk Kammersängerin Marie Cebotari (1910–1949  ; Cebotariweg) zu Ehren und 1959 schließlich im 10. Bezirk die Primaballerina Luigia Cerale (1859–1937  ; Ceralegasse) und die Opernsängerin Berta Kiurina (1882–1933  ; Kiurinagasse). Die Theater- und Filmschauspielerin Maria Eis (1896–1954  ; Maria-Eis-Gasse im 3. Bezirk) und Burgschauspielerin Professorin Anna Kallina (1874–1948  ; Kallinagasse im 16. Bezirk) erhielten 1960 ihre beiden Gassen, und die gefeierte Mozartsängerin Maria GutheilSchoder (1874–1935  ; Gutheil-Schoder-Gasse im 23. Bezirk) sowie die Schauspielerin Adele Sandrock (1864–1937  ; Sandrockgasse im 21. und 22. Bezirk) folgten 1961. Die Burgschauspielerin Käthe Dorsch (1890–1957) darf schließlich seit 1962 der Käthe-Dorsch-Gasse im 14. Bezirk ihren Namen geben. (Auch bei den Männern machen die Künstler die größte Gruppe aus, es sind aber doch weniger als die Hälfte aller männlichen Benennungen, außerdem dominieren Schriftsteller [z. B. Rilkeplatz im 4. Bezirk seit 1957], Maler und Grafiker [z. B. Darnautgasse im 12. Bezirk seit 1955] sowie Komponisten [z. B. Griegstraße im 20. Bezirk seit 1956] die Gruppe der männlichen Künstler.) Insgesamt zwei Politikerinnen kommen in dieser Periode zu Ehren – bereits 1955 wurde die Gemeinderätin von Inzersdorf Dr. Erika Altwirth im 23. Bezirk Namenspatronin der vorherigen Ferdinandgasse (jetzt  : Altwirthgasse) und 1956 folgt im selben Bezirk die Gemeinderätin von Atzgersdorf Johanna Endemann (1869–1947) – wobei interessanterweise durch ihre Patronanz aus einer Straße (bis 1955 Weinbergstraße) jetzt eine Gasse – Endemanngasse – wurde. Die kommunistische Widerstandskämpferin Therese Klostermann (1913–1944) ersetzte ebenfalls 1955 die Rittergasse (jetzt  : Klostermanngasse) im 23. Bezirk. (Insgesamt fünfzig männliche Politiker wurden in dieser Periode für die Benennung öffentlicher Verkehrsflächen ausgewählt, einer davon beispielsweise 1963 John F. Kennedy, der bereits seit seinem Todesjahr die Kennedybrücke benennt, die den 13. und 14. Bezirk verbindet.) Österreichs erste Ärztin aus dem Jahr 1897, Doktorin Gabriele Possanner (1860– 1941), die ihr Studium in der Schweiz absolvieren musste, um in Österreich alle Prüfungen noch einmal abzulegen, erhielt 1960 – also sechzig Jahre nach der Öffnung der medizinischen Fakultät für Frauen – im 13. Bezirk die Possannergasse. (Auf 690

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 Seiten der Männer finden sich bei den Ärzten immerhin 32, zum Beispiel der Arzt Doktor Oskar Bohr (1858–1935), der der Dr.-Bohr-Gasse im 3. Bezirk seit 1955 seinen Namen gibt.33) Eine interessante Sonderkategorie nimmt Anna Migschitz (1851–1956) ein, die als älteste Bewohnerin von Mauer bereits ein Jahr nach ihrem Tod die Migschitzgasse im 23. Bezirk benennen durfte.34 In dieser Periode erinnert man sich somit überwiegend an Sängerinnen und Schauspielerinnen  ; Frauen in anderen Kategorien sind noch kaum Teil eines gesellschaftspolitischen Bewusstseins, das im öffentlichen Raum Niederschlag findet.

1965–1974 Mit dem Jahr 1968 und den frühen Siebziger Jahren setzte die zweite Welle der Frauenbewegung ein – »das Private ist politisch« wurde zum zentralen »Kampfspruch«. Unbezahlte Haus- und Reproduktionsarbeit wurde genauso hinterfragt wie geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erwerbstätigkeit und Bezahlung. Die Kritik an der hegemonialen Form der Ehe und Familie verknüpfte sich mit einer durch die Pille befreiten Sexualität, wo nun auch begonnen wurde, heteronorme Beziehungsvorstellungen zu hinterfragen – die Heirats- und Geburtenraten sanken, die Scheidungsraten stiegen. Außerdem forderten die Frauen das Recht auf ihren eigenen Körper und damit auch auf legalisierte Abtreibung ein.35 Auch der Hochschulzugang für Frauen wurde unter Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg (1909–1994)36, 37 – sie war zunächst Ministerin ohne geregelten Zuständigkeitsbereich – unterstützt, denn wo noch bis in die 1960er auf drei männliche Hörer eine weibliche Hörerin kam, stiegen nun die Inskriptionszahlen weiblicher Studierender. In Gesetzgebungsperiode xi (30. 3. 1966–31. 3. 1970) zählte man schon zehn (6 Prozent) Frauen im Nationalrat und sechs (12 Prozent) im Bundesrat, in Periode xii (31. 3. 1970–4. 11. 1971) waren es nur acht (5 Prozent) im Nationalrat und neun (17 Prozent) im Bundesrat und in Periode xiii (4. 11. 1971–4. 11. 1975) waren es elf (6 Prozent) im Nationalrat und neun (18 Prozent) im Bundesrat.38, 39 Im Jahr 1966 erhielt Österreich mit der Christ-Gewerkschafterin Grete Rehor (1910–1987) seine erste Ministerin.40, 41 Im Wiener Landtag beziehungsweise Gemeinderat fanden sich in der 9. Wahlperiode (14. 10. 1964–27. 4. 1969) 15 und in der 10. Wahlperiode (27. 4. 1969–21. 10. 1973) 17 Frauen. Auch 1967 blieb das Amt der 3. Landtagspräsidentin in Wien in weiblicher Hand – Helene Potetz übergab an Maria Hlawka.42 Im Jahr 1965 wurde Gertrude Fröhlich-Sandner (1926–2008) in Wien Stadträtin (Kultur, Schulverwaltung und Sport) und 1969 Vizebürgermeisterin und Landeshauptmann– Stellvertreterin.43, 44 Gemeinsam mit Stadträtin Maria Schaumayer (1931–2013) gab 691

elisabeth ponocny-seliger es somit erstmals in der Wiener Landesregierung unter Bürgermeister Bruno Marek drei weibliche Stadträtinnen.45 Allgemein war es eine Zeit des Aktivismus, des Widerstands und der Studentenrevolten. Eine Kultur des Protests entsand, wo auch demonstrativ öffentlicher Raum beansprucht wurde, so zum Beispiel im Rahmen einer Demonstration zum Muttertag am 7. Mai 1971, wo sich Frauen lautstark für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und gegen das Abtreibungsverbot einsetzten.46 Im Hinblick auf die Benennungspraktiken öffentlicher Verkehrsflächen zeigte sich jedoch, dass nur 16 Straßen/ Gassen/Wege, das sind noch immer vier Prozent, in dieser Zeit nach Frauen benannt werden – dem stehen konstante 64 Prozent männliche Benennungen (254) entgegen, und ein knappes Drittel (32 Prozent) bleibt für sonstige Bezeichnungen. Weiterhin war das Gros der weiblichen Namenspatroninnen Künstlerinnen, nämlich neun, aber erstmalig waren auch drei Wissenschaftlerinnen darunter, die alle 1973 zu öffentlicher Raumpatronanz gelangten. So benennt die Biochemikerin Professorin Dr.in Gerty Cori (1896–1957), die gemeinsam mit ihrem Mann Carl Ferdinand Cori 1947 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin erhalten hat, im 21. Bezirk die Corigasse. Dr.in Marie Curie (1867–1934), der 1911 der Nobelpreis für Physik verliehen wurde, benennt im 22. Bezirk die Curiegasse und Dr.in Lise Meitner (1878–1968), die als zweite Frau überhaupt in Physik promovierte und 1936 für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, ebenfalls im 22. Bezirk die Meitnergasse. (Bei den männlichen Benennungen finden sich in dieser Periode auch nur 38 Wissenschaftler, was relativiert an der Gesamtzahl in etwa demselben Prozentsatz wie bei den Frauen entspricht, darunter der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, seit 1973 Namenspatron des gleichnamigen Platzes im 22. Bezirk.) Bezüglich der Künstlerinnen erhielt 1966 die Schauspielerin Ida Roland (1881– 1951), die sowohl am Theater in der Josefstadt als auch am Burgtheater gespielt hat und 1938 nach Amerika flüchtete, im 22. Bezirk ihre Gasse (Rolandgasse), und 1970 wurde auch im 16. Bezirk ein Weg nach ihr benannt. Ein Jahr später, nämlich 1967, wurde im 23. Bezirk die Meierhofgasse nach der Autorin von Heimatromanen und Illustratorin von Kinderbüchern Maria Grengg (1889–1963) umbenannt  ; dass diese Autorin vom Austrofaschismus stark gefördert wurde und offen mit diesem System sympathisierte, war und ist offensichtlich kein Grund, sie als Namensgeberin auszuschließen.47 Im 10. Bezirk gibt die Schriftstellerin Ada Christen (1844–1901) seit 1968 und die berühmte Geigerin und Nichte von Gustav und Alma MahlerWerfel, Alma Rosé (*1903), die 1944 in Ausschwitz ihr Leben lassen musste, wo sie das dortige Mädchenorchester geleitet hatte, seit 1969 einer Gasse ihren Namen. Die Lyrikerin Eugenie Fink (*1891), die 1942 nach Minsk deportiert wurde und dort ums Leben kam, erhielt ebenfalls 1969 im 10. Bezirk ihre Gasse. Im Jahr 1970 wurde neben der bereits oben erwähnten Ida Roland noch die Charaktertänzerin 692

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 und Operettensängerin Louise Kartousch (1886–1964) im 22. Bezirk Namenspatronin einer Gasse. Die Opernsängerin Maria Nemeth (1897–1967) kam dann 1974 im 11. Bezirk mit einer Gasse zu Ehren, ebenso wie die deutsche Lyrikerin Ricarda Huch (1864–1947), die im 10. Bezirk einen Weg benennt. In dieser Zeit sind somit nicht die Sängerinnen und Schauspielerinnen, sondern die Schriftstellerinnen die tragende Gruppe in der Kategorie der Künstlerinnen. (Künstler machen auch bei den Männern die größte Gruppe aus, nämlich ein Viertel, und auch dort sind die Schriftsteller am stärksten vertreten  ; ein Beispiel wäre Max Brod (1884–1968), der seit 1973 die Max-Brod-Gasse im 17. Bezirk benennt.) Die Kinderpädagogin und Pionierin der Montessori-Pädagogik Lilli Roubicek (1898–1966) erhielt 1970 im 10. Bezirk Patronanz über die Roubicekgasse, und seit 1973 benennt Carola Prinzessin von Wasa (1877–1979), im 13. Bezirk den Carolaweg – sie hat sich auch um die Krankenpflege verdient gemacht.48, 49 Trotz des frauenpolitischen Aufwinds finden sich nur zwei Politikerinnen in diesem Zeitabschnitt – seit 1966 heißt die Blumengasse im 23. Bezirk nach der ehemaligen Bezirksrätin von Liesing Josefine Welsch Welschgasse, und seit 1973 benennt die Fürsorgerätin Karla Rupp (1882–1943) den Ruppweg im 21. Bezirk. (Relativ gesehen ist das sogar ein höherer Prozentsatz als bei den Männern, wo es nur 31 Politiker gibt  ; ein Repräsentant wäre der Vizebürgermeister von Wien Leopold Kunschak [1871–1953], nach dem seit 1971 der Leopold-Kunschak-Platz im 17. Bezirk benannt ist.) Versucht man eine Zusammenfassung dieses Zeitabschnitts, so wird vielleicht die beginnende Bildungsexpansion von Frauen deutlich, indem 1973 gleich drei Wissenschaftlerinnen geehrt wurden, außerdem besann man sich in der Gruppe der Künstlerinnen zunehmend auch der Schriftstellerinnen, insbesondere auch solcher, die Opfer der ns-Zeit wurden.

1975–1984 Was waren die gesellschaftspolitischen Auswirkungen dieser zweiten Welle der Frauenbewegung  ? Das Jahr 1975 wurde zum »Internationalen Jahr der Frau« ausgerufen, in Mexiko-City fand die erste un-Weltfrauenkonferenz statt, und die uno erklärte im Anschluss die Jahre von 1976 bis 1985 zur Dekade der Frau. Am 18. Dezember 1979 wurde die Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (cedaw) von den Vereinten Nationen angenommen, Österreich unterzeichnete diese Konvention 1980, und 1982 wurde sie ratifiziert.50 Seit 1. Jänner 1975 gibt es in Österreich eine »Fristenlösung« beim Schwangerschaftsabbruch und eine »Familienrechtsreform«, die die Ehe juridisch in eine Partnerschaft überführte 693

elisabeth ponocny-seliger und auch die Familie enthierarchisierte – Partnerschaften prinzipiell jedoch noch immer ausschließlich heterosexuell auffasste. Im Jahr 1979 trat das »Gesetz über die Gleichbehandlung von Mann und Frau bei der Festlegung des Entgeltes« in Kraft. Die Frauenpolitik begann sich zu institutionalisieren – Kreisky erweiterte 1979 seine Regierung um zwei Staatssekretariate für Frauenfragen, zum einen das Staatssekretariat für Angelegenheiten der berufstätigen Frauen und das Staatssekretariat für allgemeine Frauenfragen mit Johanna Dohnal (1939–2010).51 Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg förderte an den Universitäten Forschungen und Lehrveranstaltungen zu Frauen- und Geschlechterfragen.52 Im Nationalrat fanden sich in der gesetzgebenden Periode xiv (4. 11. 1975–5. 6. 1979) 14 Frauen (8 Prozent), in Periode xv (5. 6. 1979–19. 5. 1983) 18 (10 Prozent) und in Periode xvi (19. 5. 1983–17. 12. 1986) 17 Frauen (9 Prozent), im Bundesrat waren es analog elf (20 Prozent), neun (16 Prozent) und zehn (16 Prozent) Frauen.53, 54 Im Wiener Landtag beziehungsweise Gemeinderat ließen sich in Wahlperiode 11 (21. 10. 1973–8. 19. 1978) 19 Frauen und in Wahlperiode 12 (8. 10. 1978–24. 4. 1983) zwanzig Frauen zählen.55 Hätte man in den Benennungspraktiken dieser Zeit einen Nachhall der Frauenbewegung erwartet, so finden sich mit zehn (6 Prozent) weiblichen Namenspatroninnen, denen 121 (67 Prozent) männliche Namenspatrone gegenüberstehen, zwar zwei Prozent mehr als in den Perioden zuvor, aber doch noch vergleichsweise wenig, um auf eine Bewusstwerdung von Frauen im öffentlichen Raum schließen zu können. Im Vergleich dazu wurden mehr als ein Viertel der Verkehrsflächen nach anderem (Pflanzen, Flurnamen, Örtlichkeiten etc.) bezeichnet. Insgesamt handelt es sich bei den weiblichen Namenspatroninnen dieser Zeit auch ausschließlich um Künstlerinnen, denen auf diese Weise ein öffentliches Denkmal gesetzt wurde. So war es im Jahr 1976 die Schriftstellerin und Kulturhistorikerin Hermine Cloeter (1879–1970), nach der im 14. Bezirk eine Gasse benannt wurde. Im selben Jahr wurde nach der Schriftstellerin Alma Johanna Koenig (*1887), die 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinec ums Leben gekommen ist, im 23. Bezirk etwas verfälscht der Alma-König-Weg benannt. Die beliebte Volksschauspielerin Cilli Löwinger (1877–1949), Mitglied der SchauspielerInnenfamilie Löwinger, erhielt 1979 im 19. Bezirk einen Weg, und die Opernsängerin an der Wiener Staatsoper Rosette Anday (1903–1977), die während der Zeit des Nationalsozialismus mit Auftrittsverbot belegt war, erhielt 1980 im 14. Bezirk ebenfalls einen Weg. Insgesamt drei Künstlerinnen kamen 1981 zu Ehren, zum ersten die Film- und Theaterschauspielerin Hedwig Bleibtreu (1868–1958), nach der im 11. Bezirk die zweite Straße seit 1945 benannt ist. Die Schriftstellerin Enrica von Handel-Mazetti (1871–1955) erhielt im 22. Bezirk eine Gasse ebenso wie die Tänzerin Grete Wiesenthal (1885–1970) im 10. Bezirk. Bei den zwei weiblichen Künstlerinnen, die 1982 Namenspatroninnen einer öffentlichen Verkehrsfläche wurden, handelt es sich um die Burgschauspielerin Wilhelmine Mit694

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 terwurzer (1848–1909), die im 19. Bezirk dem Mitterwurzerweg ihren Namen gibt, und die Burgschauspielerin Else Wohlgemuth (1881–1972), der es während der nsZeit ebenfalls verboten war, aufzutreten, und die im 22. Bezirk eine Gasse benennt. Die Opernsängerin Selma Halban-Kurz (1874–1933) schließlich beendet 1983 die Liste weiblicher Namenspatroninnen dieses Zeitabschnitts – sie darf im 23. Bezirk als dritte Frau seit 1945 eine Straße benennen. (Auch bei den männlichen Namenspatronen machen zwar mit einem Drittel die Künstler – und hier die Maler und Grafiker gemeinsam mit den Schriftstellern – den größten Prozentsatz aus, es sind aber auch alle anderen Kategorien öffentlicher »Anerkennbarkeit« vertreten.) Zusammenfassend ist in diesem Zeitabschnitt bei der Benennung öffentlicher Verkehrsflächen zwar ein leichter Zuwachs berühmter Frauen insbesondere aus dem künstlerischen Bereich zu verzeichnen, aber Frauen in anderen öffentlichen Funktionen sind noch nicht wirklich Teil eines öffentlichen Bewusstseins.

1985–1994 Die Forderungen der zweiten Frauenbewegung wurden – wenigstens in öffentlichen Debatten – zunehmend zum politischen Selbstverständnis, die meisten politischen Parteien führten Frauen-Quoten ein, z. B. beschloss die spö 1985 eine 25 ProzentQuote und erhöhte sie 1993 auf vierzig Prozent  ; die övp folgte dann 1995 mit einer Ein-Drittel-Quote. Der Frauenanteil im Nationalrat stieg sprunghaft mit dem Einzug der Grünen 1986 ins Parlament, die sich bereits bei der Gründung auf ein »Reißverschlusssystem« festlegten.56 Dennoch waren die realen PolitikerinnenQuoten deutlich geringer als diese Vorgaben, so fanden sich in der Gesetzgebungsperiode xvii (17. 12. 1987–5. 11. 1990) einundzwanzig (11 Prozent) und in Periode xviii (5. 11. 1990–7. 11. 1994) sechsunddreißig (20 Prozent) Frauen im Nationalrat, im Bundesrat waren es beide Male 13 Frauen.57, 58 Als erste Frau kandidierte 1986 übrigens Freda Meissner-Blau (*1927) für das Amt der Bundespräsidentin, und 1988 wurde Heide Schmidt (*1948) erste politische Generalsekretärin einer politischen Partei (fpö), 1993 wurde sie dann auch die erste weibliche Parteivorsitzende (lif).59 Im Jahr 1990 wurde dann das Frauenstaatssekretariat in ein Bundesministerium für Frauenfragen umgewandelt, mit Johanna Dohnal als erster Frauenministerin. In Wien fanden sich in der 13. Wahlperiode (14. 4. 1983–9. 12. 1987) 18, in der 14. Wahlperiode (9. 12. 1987–9. 12. 1991) 26 und in der 15. Wahlperiode (9. 12. 1991– 29. 11. 1996) 27 weibliche Mitglieder im Landtag beziehungsweise Gemeinderat. Ingrid Smejkal (*1941) wurde 1987 zweite Vizebürgermeisterin und zweite Landeshauptmann-Stellvertreterin, Margarete Laska (*1951) wurde 1994 erste Vizebürgermeisterin und erste Landeshauptmann-Stellvertreterin.60, 61 Gegen das öffentliche 695

elisabeth ponocny-seliger Ungleichgewicht im Hinblick auf Erwerbsquoten und geschlechtlich segregierten Arbeitsmarkt zu Ungunsten der Frauen wurde aber praktisch wenig getan. Aber es war Thema, denn 1985 wurde – allerdings ohne Sanktionen – verboten, Stellenausschreibungen geschlechtsspezifisch auszuschreiben  ; erst 1992 kam es im Zuge einer Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes dazu, dass Schadensansprüche geltend gemacht werden konnten, Strafen gab es aber nur für Arbeitsvermittler.62, 63 Am Bildungssektor war seit 1987 auch für Mädchen Geometrisch Zeichnen verpflichtend, und Werkerziehung war für beide Geschlechter an den Hauptschulen nicht mehr getrennt. Mit dem Studienjahr 1991/92 begannen erstmals mehr junge Frauen ein Studium, wenngleich der Anteil weiblicher Professorinnen nach wie vor deutlich unter dem ihrer männlichen Kollegen blieb. Seit 1989 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar und 1993 schließlich wurde ein Gleichbehandlungspaket verabschiedet, das unter anderem sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz unter Strafe stellt. Ab den 1990ern ist aber auch ein beginnendes Zurückdrängen öffentlicher frauenpolitischer Aktivitäten zu vermerken, die Zeit des Postfeminismus beziehungsweise die dritte Welle der Frauenbewegung wird eingeläutet.64 Im öffentlichen Bewusstsein fällt in diesem Zeitabschnitt die Anzahl weiblicher Namenspatroninnen mit zwölf (5 Prozent) wieder auf einen niedrigeren Wert im Vergleich zur Vorperiode zurück, während der Vergleichswert berühmter Männer mit 146 (60 Prozent) konstant hoch bleibt – besonders hoch ist in dieser Periode die Anzahl nicht personengebundener Benennungen, nämlich 84 (35 Prozent). Zwei Gemeinde-Politikerinnen kommen in diesem Zeitabschnitt zu Ehren, nämlich die spö-Gemeinderätinnen Antonie Platzer (1890–1981), die seit 1991 die Antonie-Platzer-Gasse im 14. Bezirk benennt, und Hedwig Lehnert (1898–1977), die seit 1993 im 21. Bezirk der Lehnertgasse ihren Namen gibt. Ebenfalls als spöBezirksrätin politisch tätig und als Favoritner Widerstandskämpferin während der ns-Zeit besonders verdienstvoll erhält Marie Murban (1899–1984) im Jahre 1992 in ihrem Bezirk die Patronanz über die Marie-Murban-Gasse. Auch reiht sich in diese Gruppe die Psychoanalytikerin Muriel Gardiner (1901–1985) ein, die während des Verbots der Sozialdemokratie im Widerstand arbeitete und sich jetzt gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Joseph Buttinger, dem Vorsitzenden der Revolutionären Sozialisten, seit 1989 den Muriel-Gardiner-Buttinger-Platz im 10. Bezirk teilt. Die Friedensnobelpreisträgerin von 1905 Bertha von Suttner (1843–1914)65 wäre zwar auch als Schriftstellerin der Kategorie Künstlerinnen zuzuteilen, bildet aber gemeinsam mit Elsa Brändström (1888–1948), die im Ersten Weltkrieg als »Engel von Sibirien« Kriegsgefangene betreute und darüber ein Buch schrieb, eine eigene Kategorie der Wohltäterinnen. Bertha von Suttner benennt jedenfalls seit 1984 im 22. Bezirk die Bertha-von-Suttner-Gasse und Elsa Brändström seit 1987 richtigerweise die Brändströmgasse im 23. Bezirk. 696

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 Die Ärztin und Medizinhistorikerin Erna Lesky (1911–1986), die neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit das medizinhistorische Institut neu gestalten und das Gebäude der medizinisch-chirurgischen Josephsakademie renovieren ließ, teilt sich seit 1994 gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ordinarius für klassische Philologie Albin Lesky (1896–1981), die Leskygasse im 22. Bezirk.66 Die letzten fünf Frauen dieses Zeitabschnitts sind Künstlerinnen, nämlich drei Schriftstellerinnen  : die Autorin und Vizepräsidentin des »Allgemeinen österreichischen Frauenvereins« Rosa Mayreder (1858–1938), seit 1987 Patronin der Mayredergasse im 22. Bezirk, die sozial engagierte Roman-, Kinder- und Jugendbuchautorin Margarete Seemann (1893–1949), die seit 1993 im 12. Bezirk den Margarete-Seemann-Weg benennt, und die sozialistische Schriftstellerin Else Feldmann (*1884), die 1942 im Vernichtungslager Sobibór in Polen ihr Leben lassen musste. Sie gibt seit 1994 der Else-Feldmann-Gasse im 21. Bezirk ihren Namen. Zwei Tänzerinnen, nämlich die Primaballerina der Wiener Staatsoper Julia Drapal (1917–1988), die seit 1992 den Drapal-Pintar-Weg im 14. Bezirk benennt, und die Solotänzerin an der Wiener Staatsoper Christl Zimmerl (1939–1976), seit 1992 Patronin des Zimmerlwegs im 19. Bezirk, beschließen den Reigen der Künstlerinnen. Die berühmten Frauen dieses Zeitabschnitts sind also fast durchweg politisch und sozial motiviert oder haben einen engen Bezug zum ns-Widerstand, was möglicherweise das 1995 beschlossene Bundesgesetz zur Gründung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus vorwegnimmt.67

Ab 1995 Zwar stieg die Frauenerwerbstätigenquote auf über fünfzig Prozent, was aber vor allem auf die steigenden Teilzeitquoten bei Frauen zurückzuführen ist, gleichzeitig wuchs aber auch der Prozentsatz atypischer Beschäftigungsformen insbesondere für Frauen unter dem wirtschaftlichen Leistungs- und Flexibilisierungsdruck einer neoliberalen Wirtschaftswende.68 Im Jahr 1995 fand in Peking die vierte (und bislang letzte) un-Weltfrauenkonferenz statt und der Begriff Gender Mainstreaming wurde erstmals propagiert. Letzterer wurde dann 1997/1999 durch den Amsterdamer Vertrag offizielles Gleichstellungskonzept der eu, und Österreich ist seit Beginn 1995 eu-Mitglied.69 Im Jahr 1997 (7.–14. April) machte das Frauenvolksbegehren »Alles was Recht ist«, das von elf 11 Prozent der Wahlbeteiligten unterstützt wurde, insbesondere auf Frauenarmut und auf das auf männliche Erwerbsbiografien fokussierte Sozialsystem aufmerksam.70 Im selben Jahr trat das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie in Kraft und die Männerbastion »Bundesheer« fiel 1998, indem der ersten weiblichen Soldatin erlaubt war, einzurücken, wenigstens formal 697

elisabeth ponocny-seliger stehen seitdem den Frauen damit alle militärischen Ränge offen. Mit Jänner 2000 wurde in Wien in der Geschäftseinteilung für den Magistrat Gender Mainstreaming verankert.71 Der Frauenanteil im Nationalrat betrug in der Gesetzgebungsperiode xix (7. 11. 1994–15.1.1996) schon vierzig (22 Prozent), in Periode xx (15. 1. 1996– 29.10.1999) siebenundvierzig (26 Prozent) und in Periode xxi (29. 10. 1999–20. 12. 2002) zweiundsechzig (34 Prozent) Personen  ; im Bundesrat waren die vergleichenden Zahlen 14 (22 Prozent), 13 (21 Prozent) und neun (14 Prozent).72, 73 Im Jahr 2000 hatte Österreich dann in Susanne Riess-Passer eine erste weibliche Vizekanzlerin.74 In Wien betrug der Frauenanteil in der 16. Wahlperiode (1996–2001) 35 Frauen und damit 35 Prozent.75 Auch die Bildungsoffensive trug weiter Früchte – im Studienjahr 2000/2001 gab es erstmals mehr weibliche Absolventinnen als Absolventen an Österreichs Hochschulen, wenngleich der Prozentsatz weiblicher Professorinnen weiterhin deutlich unter dem der Männer und die Studienwahl stark geschlechtlich segregiert blieb.76 Bezüglich weiblicher Raumpatronanz ist für das Jahr 1995 noch die Sozialdemokratin, Widerstandskämpferin und kz-Überlebende Rosa Jochmann (1901–1994) zu verzeichnen, sie benennt bereits ein Jahr nach ihrem Tod den Rosa-Jochmann-Ring im 11. Bezirk. Seit 1995 bis einschließlich 2000 kommen dann noch weitere 21 weibliche Namenspatroninnen hinzu und somit verdreifacht sich in dieser Zeit die Frauenquote auf zwölf Prozent, allerdings bei einer noch immer stabilen Männerquote von 61 Prozent. Dabei handelt es sich um zwei politisch engagierte Frauen, nämlich die sozial engagierte övp Bezirksrätin Maria Rekker, die seit 1996 im 10. Bezirk der Maria-Rekker-Gasse ihren Namen gibt, und die »rote Erzherzogin« Elisabeth Marie, die in Folge ihrer bürgerlichen Heirat als Elisabeth Petznek seit 1998 eine Gasse im 14. Bezirk benennt (Elisabeth-Petznek-Gasse). Die Wohltäterin und Schwester der Caritas Socialis Verena Buben (1900–1982), die sich während der ns-Zeit in Wien für nichtarische Katholiken eingesetzt hat, gibt seit 1997 im 9. Bezirk einem Weg ihren Namen. Die Franziskanerin Helene Kafka (*1894), 1943 durch das ns-Regime wegen »landesverräterischer Feindbegünstigung« hingerichtet, 1978 von der Republik posthum mit dem Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs gewürdigt und 1998 durch Papst Johannes Paul II. seliggesprochen, benennt mit ihrem Ordensnamen Maria Restituta seit 2000 im 20. Bezirk als erste Frau alleine einen Platz.77 Als ein weiteres Opfer der ns-Zeit benennt seit 1997 Dwoire Weinfeld (1877–1944), die wie ihr Ehemann Hersch Weinfeld (1871–1942) im kz Theresienstadt umgekommen ist, stellvertretend für jüdische Opfer des Nationalsozialismus im 14. Bezirk den Weinfeldweg. Die verbleibenden 16 Frauen sind Künstlerinnen, dazu zählen die Opernsängerinnen Lotte Lehmann (1880–1976) und Maria Jeritza (1887–1982) – beide emigrierten 698

benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945 während der ns-Zeit in die Vereinigten Staaten, und beide benennen seit 1996 je einen Weg im 22. Bezirk. Des Weiteren sind es eine Operettensängerin, das »Lercherl von Hernals« Betty Fischer (1887–1969), die seit 1999 im 17. Bezirk ebenfalls einen Weg benennt, oder die beliebten Theater- bzw. Film-Schauspielerinnen Marie Andergast (1914–1995  ; Maria-Andergast-Weg im 22. Bezirk seit 1996), Annie Rosar (1888–1963  ; Annie-Rosar-Weg im 22. Bezirk seit 1997), Marianne Schönauer (1920–1997  ; Marianne-Schönauer-Gasse im 19. Bezirk seit 2000) und Blanche Aubry (1921–1986  ; Blanche-Aubry-Weg im 19. Bezirk seit 1998). Im 23. Bezirk wurde 2000 ein ganzes »Schauspielerviertel« benannt, bei dem Alma Seidler (1899– 1977), Marisa Mell (1939–1992), Marte Harell (1907–1996) und Romy Schneider ebenso wie die in den 20er Jahren erfolgreiche Schauspielerin Elisabeth Bergner (1897–1986) vertreten sind. In die Kategorie der Künstlerinnen fällt auch die Solotänzerin, Choreografin und Begründerin des modernen Ausdrucktanzes Professorin Rosalia Chladek, die seit 1997 im 22. Bezirk eine Gasse benennt. Außerdem gibt die Metallbildhauerin und Sozialdemokratin Angela Stadtherr (1899–1983), von der unter anderem der Wetterhahn auf dem Wiener Stephansdom stammt, 1997 im 11. Bezirk einer Gasse ihren Namen. Zwei Schriftstellerinnen kamen nach 1995 zu Ehren, nämlich Vicki Baum (1888–1941), deren Bücher auch den ns-Bücherverbrennungen zum Opfer fielen und die seit 1999 den Vicki-Baum-Platz im 4. Bezirk benennt, und die erfolgreiche Kinder- und Jugendbuchautorin Mira Lobe (1913–1995), die 1936 nach Palästina emigrieren musste, 1950 wieder nach Wien zurückkehrt war und nach der seit 1997 im 22. Bezirk der Mira-Lobe-Weg heißt. Der nun deutliche Anstieg in der Zahl weiblicher Namenspatroninnen in diesen letzten Jahren geschah im Lichte des eu-Beitritts 1990, des Amsterdamer Vertrags 1997/1999 und des ausdrücklichen Bekenntnisses der österreichischen Bundesverfassung 199878 – inwieweit die folgenden Jahrzehnte eine Angleichung der Geschlechter und dabei auch der Benennungs-Quoten im öffentlichen Raum bewirken werden, wird sich zeigen. A nmerkungen 1 Im Rahmen einer 2010 durchgeführten Studie von »Gender Research« wurde die in der Diplomarbeit von Birgit Nemec  : »Straßenumbenennungen in Wien als Medien von Vergangenheitspolitik. 1910–2010. Mit besonderer Berücksichtigung der Gender-Problematik« (2010) angeführte Liste weiblicher Straßenbenennungen um die männlichen Straßenbenennungen basierend auf Peter Autengruber  : »Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung, Herkunft, frühere Bezeichnung« (2010) erweitert. Im Gegensatz zu Birgit Nemec wurden aber literarische weibliche Figuren wie z. B. Medea oder Pamina nicht inkludiert. Insgesamt lassen sich 1929 Namen auf 1925 öffentliche Flächen verteilen  ; dass es mehr Namen als Verkehrsflächen gibt, liegt darin, dass einige Verkehrsflächen nach mehreren Personen benannt wurden. Die Grundgesamtheit für die angegebenen Prozentsätze bezieht sich jedoch auf 1929.

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 2 Vgl. Birgit Nemec  : Straßenumbenennungen in Wien als Medien von Vergangenheitspolitik, 2010, S. 119.  3 Vgl. Peter Autengruber  : Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung, Herkunft, Frühere Bezeichnungen, Pichler, 2010, S. 9.  4 Ebda., S. 11.  5 Diese 18 Kategorien resultieren in Anlehnung an die in Peter Autengruber  : »Lexikon der Wiener Straßennamen«, S. 14ff., und Birgit Nemec  : »Straßenumbenennungen in Wien als Medien von Vergangenheitspolitik«, S. 119, angeführten Kategorien, welche teilweise übernommen beziehungsweise zu übergeordneten thematischen Komplexen zusammengefasst wurden. Wenn eine Person zu mehr als einer Kategorie zugeordnet werden konnte (z. B. Politik, FunktionärInnen, Widerstand), wurde die erste, zentrale Nennung bei Peter Autengruber als Anker verwendet.  6 Vgl. Peter Autengruber  : Lexikon der Wiener Straßennamen, S. 9.  7 Im Mann & Whitney-U-Test resultiert z=2.16, p=.031 (zweiseitig).  8 Johanna Gehmacher und Maria Mesner  : Land der Söhne. Geschlechterverhältnisse in der Zweiten Republik. Studien Verlag, 2007, S. 28.  9 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann, Weibliche Wiederaufbauszenarien, in  : Wolfgang Kos und Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten, Republik, Wien 1996, S. 220. 10 Vgl. Maria Wirth  : Pionierinnen der Frauenbewegung – Frauen in der Politik, http  ://www.demokratiezentrum.org/themen/genderperspektiven/pionierinnen/pionierinnen-gallery.html  ?index=1477 [Zugriff am 21.7.2011]. 11 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat, http  ://www.prod. parlament.gv.at/SERV/STAT/PERSSTAT/FRAUENANTEIL/entwicklung_frauenanteil_NR.shtml [Zugriff am 8.7.2011] 12 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Bundesrat, http  ://www.prod. parlament.gv.at/SERV/STAT/PERSSTAT/FRAUENANTEIL/entwicklung_frauenanteil_BR.shtml [Zugriff am 8.7.2010]. 13 Vgl. dazu Magistrat der Stadt Wien (Hg.)  : Der Gemeinderat der Stadt Wien, der Wiener Landtag, der Wiener Stadtsenat, die Wiener Landesregierung 1945–1985, Wien, 1985. 14 Vgl. Petra Unger  : Frauen in Rudolfsheim-Fünfhaus. Wien, http  ://rudolfsheim-fuenfhaus.gruene.at/uploads/media/Frauendoku1_Rudolfsheim_Fuenfhaus_09_pu.pdf [Zugriff  : 8.7.2011]. 15 Vgl. AK Wien (Hg.)  : Käthe Leichter zum 100. Geburtstag. Texte zur Frauenpolitik. Wien  : AK, 1995. 16 Der Käthe Leichter Preis wird seit 1991 vergeben. 17 Vgl. Eva Rieger  : Jenny Lind, FemBio, http  ://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/jennylind/ [Zugriff am 14.7.2011]. 18 Vgl. Peter Autengruber  : Lexikon der Wiener Straßennamen, S. 170 und S. 245. 19 Ebda., S. 76 und S. 196. 20 Vgl. Alfred Klahr Gesellschaft, Hedwig Urach, http  ://www.klahrgesellschaft.at/KaempferInnen/Urach. html [Zugriff am 14.7.2011]. 21 Vgl. Johanna Gehmacher und Maria Mesner  : Land der Söhne, S. 43–44. 22 Vgl. Statistik Austria  : Volkszählung seit 1900, Tabelle 81. 23 Vgl. Heidi Niederkofler, Kinder, Küche, Zu/Verdienst  : normative Regulierungen des Feldes Erwerbsarbeit in Österreich, in  : Maria Mesner/Margit Niederhuber/Heidi Niederkofler/Gudrun Wolfgruber, Das Geschlecht der Politik, Wien, 2004, S. 244. 24 Vgl. Oskar Lehner  : Familie – Recht – Politik. Die Entwicklung des österreichischen Familienrechts im 19. und 20. Jahrhundert. Springer, 1987, S. 13. 25 Vgl. Johanna Gehmacher und Maria Messner, S. 60–61 26 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat.

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benennung öffentlicher verkehrsflächen seit 1945

27 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Bundesrat. 28 Vgl. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie, Helene Potetz, http  ://www.dasrotewien.at/online/page. php  ?P=11949&PHPSESSID=f091fda2dcce34afba4997997dcfa8e1 [Zugriff am 15.7.2011]. 29 Nach Helene Potetz wurde 1990 im 12. Bezirk ein Hof und 2006 ebenfalls im 12. Bezirk der HelenePotetz-Weg benannt. 30 Vgl. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie, http  ://www.dasrotewien.at/jacobi-maria.html [Zugriff am 14.7.2011]. 31 Ihr zu Ehren wurde 2002 im 3. Bezirk die Maria-Jacobi-Gasse benannt. 32 Dieser Volksschauspielerin zu Ehren wurde bereits 1935 im 19. Bezirk eine Gasse benannt. 33 Nach Peter Autengruber, 2010, gründete Dr. Oskar Bohr seine Praxis bewusst in einer der ärmsten Gegenden Wiens und nahm bei seinen Honorarforderungen auf die Einkommensverhältnisse seiner Patientinnen und Patienten Rücksicht. 34 Vgl. Rathauskorrespondenz, MA 53, http  ://www.wien.gv.at/rk/historisch/1957/oktober.html [Zugriff am 21.7.2011]. 35 Vgl. Johanna Gehmacher und Maria Messner  : Land der Söhne, S. 63ff. 36 Vgl. Renner-Institut, Frauen machen Geschichte, http  ://www.renner-institut.at/frauenmachengeschichte/sozdemokratinnen/firnberg.htm [Zugriff am 14.7.2011]. 37 Sie erhielt übrigens 2001 im 10. Bezirk eine Straße und 2010 im 22. Bezirk sogar einen Platz. 38 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat. 39 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Bundesrat. 40 Vgl. Republik Österreich, Parlament, http  ://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_01563/ [Zugriff am 14.7.2011] 41 Nach Grete Rehor ist zwar keine Straße, Gasse oder Weg benannt, dafür aber der Grete-Rehor-Park im 1. Bezirk. 42 Vgl. Magistrat der Stadt Wien  : Der Gemeinderat der Stadt Wien, der Wiener Landtag, der Wiener Stadt­­senat, die Wiener Landesregierung 1945–1985. 43 Vgl. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie, http  ://www.dasrotewien.at/froehlich-sandner-gertrude. html [Zugriff am 14.7.2011]. 44 Ihr zu Ehren wurde 2010 die Gertrude-Fröhlich-Sandner-Straße im 10. Bezirk benannt. 45 Vgl. Magistrat der Stadt Wien  : Der Gemeinderat der Stadt Wien, der Wiener Landtag, der Wiener Stadtsenat, die Wiener Landesregierung 1945–1985. 46 Vgl. Brigitte Geiger und Hanna Hacker  : Donauwalzer. Damenwahl, 1989, S. 14. 47 Vgl. Elisabeth Spitzer. Bildende Kunst bei Maria Grengg. Untersuchung des Romans Die Flucht zum grünen Herrgott im Kontext der völkischen Familien- und Kunstzeitschrift Der getreue Eckart. Wien  : Universität Wien, 2010. 48 Vgl. Manfred Berger  : Jüdische Förderinnen der Pädagogik Maria Montessoris – Ein Beitrag zur Geschichte der Montessori-Pädagogik im deutschsprachigen Raum (Deutschland und Österreich) unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Werk vier ausgewählter Frauen jüdischer Herkunft. Das Kind 2001, Heft 29/30, S. 88ff. 49 Vgl. Georg von Schimpff  : Aus dem Leben der Prinzessin Carola von Sachsen, Leipzig/Berlin, 1898. 50 Vgl. Bundesministerium für Frauen, http  ://www.frauen.bka.gv.at/site/5548/default.aspx [Zugriff am 21.7.2011]. 51 Seit 2004 wird an junge Wissenschaftlerinnen der Johanna-Dohnal-Preis für Forschung in für Frauen untypischen Bereichen oder an feministischen Themen verliehen. 52 Vgl. Johanna Gehmacher und Maria Mesner  : Land der Söhne, 64ff. 53 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat.

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elisabeth ponocny-seliger 54 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Bundesrat. 55 Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.)  : Der Gemeinderat der Stadt Wien, der Wiener Landtag, der Wiener Stadtsenat, die Wiener Landesregierung 1945–1985. 56 Vgl. Brigid Weinzinger  : Förderung von Frauen in der Politik, http  ://www.gabriele.heinisch-hosek.spoe. at/mediaarchiv//287/se_c_u_re/Foerderung_von_Frauen_in_der_Politik_Maerz_2008/Statement_Wein zinger.pdf [Zugriff am 12.7.2011]. 57 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat. 58 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Bundesrat. 59 Vgl. Gertraud Diendorfer und Petra Mayrhofer (Hg.)  : Geschlechtergeschichte – Geschlechterpolitik – Gender Mainstreaming, Bd. 26, 2006, S. 14–17. 60 Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.)  : Der Gemeinderat der Stadt Wien, der Wiener Landtag, der Wiener Stadtsenat, die Wiener Landesregierung 1945–1985. 61 Vgl. Magistratsdirektion der Stadt Wien (Hg.)  : Wiener Gemeinderat, Wiener Landtag. Register zu den Sitzungen der Funktionsperiode 1991–1996. Teil 2  : Personenregister. Wien 1998. 62 Vgl. Bundeskanzleramt (Hg.)  : Geschlechtergerechte Stellenausschreibung, 2009, S. 24. 63 Erst das Gleichbehandlungsgesetzt aus dem Jahr 2004 sieht im Falle einer Verletzung des Gebots der geschlechtsneutralen Stellenausschreibung auch für ArbeitgeberInnen Strafen vor. Vgl. Bundeskanzleramt  : Geschlechtergerechte Stellenausschreibung, S. 24. 64 Vgl. Johanna Gehmacher und Maria Mesner  : Land der Söhne, S. 84. 65 Bertha von Suttner scheint insgesamt fünf Mal in der Umbenennungsdatenbank auf und war bereits 1914 auf Grund ihrer Verdienste für eine Benennung im Gespräch. Vgl. Birgit Nemec  : Straßenumbenennungen in Wien als Medien von Vergangenheitspolitik, S. 121. 66 Vgl. Kurt Ganzinger, Manfred Skopec und Helmut Wyklicky (Hg.)  : Festschrift für Erna Lesky zum 70. Geburtstag, 1981, Wien, S. 193–203. 67 Vgl. Albert Sternfeld  : Betrifft  : Österreich. Von Österreich betroffen, Wien, 2001, S. 118. 68 Vgl. Frauenbericht, 2010, S. 437. 69 Vgl. Bundesministerium für Frauen, Gender Mainsteaming, http  ://www.frauenratgeberin.at/cms/frauenratgeberin/stichwort_detail.htm  ?doc=CMS1233766153276&index=G [Zugriff am 14.7.2011]. 70 Vgl. Renner-Institut, Frauen machen Geschichte, http  ://www.renner-institut.at/frauenmachengeschichte/ volksbg/frauenvbg.htm [Zugriff am 12.7.2011] 71 Vgl. Wien.at, Gleichstellungspolitische Gesamtstrategie in Wien, http  ://www.wien.gv.at/menschen/gendermainstreaming/strategie.html [Zugriff am 14.7.2011]. 72 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat. 73 Vgl. Republik Österreich, Parlament  : Entwicklung des Frauenanteils im Bundesrat. 74 Vgl. Gertraud Diendorfer und Petra Mayrhofer, S. 17. 75 Vgl. Barbara Steininger  : Der Wiener Landtag – das unbekannte Wesen im Mehrebenensystem, in  : Ferdinand Opll (Hg.), Festschrift für Peter Csendes, Studien zur Wiener Geschichte, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Band 60, Wien 2004, S. 316. 76 Vgl. Frauenbericht, 2010, S. 103ff. 77 Die frühere Platzbezeichnung – Muriel-Gardiner-Buttinger-Platz im 10. Bezirk – wurde an ein Ehepaar vergeben. 78 Bund, Länder und Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann. Maßnahmen zur Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten sind zulässig. Österreichische Bundesverfassung, Art. 7, Abs 2 B-VG

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Wien als internationales Zentrum1

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it dem un-Zentrum nahe der Reichsbrücke jenseits der Donau – der »unoCity«, wie sie allgemein genannt wird – ist Wien heute unbestritten ein internationales Zentrum und gilt neben New York, Genf und Nairobi als eine der vier »un-Hauptstädte«. Die dadurch gewonnene Internationalität wirkt wohl auch im Alltag, trug sicher dazu bei, dass die österreichische Hauptstadt seit den Sechzigerjahren bunter, vielfältiger wurde. Man kann davon ausgehen, dass die starke internationale Präsenz in Wien ein wesentlicher Grund ist, warum in Wien mehr Staaten diplomatisch vertreten sind, als es der Größe des Landes entspräche, eben stärker der multi- als der bilateralen Beziehungen wegen2 – was wieder der Stadt und dem Staat (und nicht zuletzt dessen ohnedies stets bedürftigen Finanzen) zugute kommt.

Vom Wiener Kongress zu den Wiener Schiedssprüchen Nun könnte man natürlich anführen, dass Wien, immerhin bis 1918 Hauptstadt eines der bedeutendsten Reiche Europas und damit der damaligen Welt, immer schon eine gewisse internationale Tradition gehabt hat. Wer denkt da nicht an den Wiener Kongress von 1814–15, der in der allgemeinen Wahrnehmung vor allem getanzt, in Wirklichkeit jedoch die Grundlagen für ein neues Ordnungssystem nach den devastierenden Napoleonischen Kriegen gelegt hat – für ein System, dem es immerhin gelang, ein im Großen und Ganzen friedliches Jahrhundert zu ermöglichen, das bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 dauerte.3 Lag es an der im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig sinkenden Bedeutung der Donaumonarchie innerhalb des »Europäischen Konzerts« der Mächte, dass Wien nach 1815 nicht mehr zum Zen­ trum der internationalen Politik wurde  ? Die wichtigen Kongresse und Konferenzen dieser Zeit fanden in Berlin (1878 und 1884/85), in London (1913) oder in Paris statt. Der Internationale Telegraphenverein geht auf die erste Internationale Telegraphenkonferenz in Paris 1865 zurück (immerhin fand die zweite Konferenz 1868 in Wien statt), der Weltpostverein wurde 1874 in Bern gegründet. Wenigstens der Internationale Meteorologische Kongress 1873 tagte in Wien (die eigentliche Gründungsversammlung der gleichnamigen Organisation war 1879 in Rom). Alle drei genannten Organisationen sind heute Teil des Netzwerks der Vereinten Nationen. Ebenfalls 1873, im Jahr des Meteorologischen Kongresses, war Wien Schauplatz der fünften Weltausstellung, auf der über 35 Staaten und rund 53.000 Unternehmer vertreten waren.4 Im Gefolge dieser großen Ausstellung wurde das »Drei-Kaiser703

erwin a. schmidl Abkommen« zwischen Österreich-Ungarn, Russland und dem Deutschen Reich geschlossen, in dem die drei Mächte übereinkamen, etwaige Differenzen durch Gespräche zu bereinigen und so »den gegenwärtig in Europa herrschenden Friedenszustand zu befestigen«.5 Im August 1873 fand der Internationale Patent-Kongress in Wien statt. Allerdings wurde die Wiener Weltausstellung vom großen Börsenkrach im Mai 1873, einer Cholera-Epidemie in Wien und von finanziellen Problemen überschattet. Ausgaben von fast zwanzig Millionen Gulden standen Einnahmen von nur 4,26 Millionen gegenüber  ; es kamen 7,25 statt der erwarteten zwanzig Millionen Besucher. Vielleicht trug auch diese Erinnerung zu einer gewissen Skepsis des Wiener Publikums internationalen Aktionen gegenüber bei  ? Andererseits standen zahlreiche Großvorhaben – wie die Donau-Regulierung, der Bau der ersten Hochquellen-Wasserleitung oder des Nordbahnhofs – ebenso wie andere öffentliche und private Bauten wenigstens zeitlich in einem gewissen Zusammenhang mit der Weltausstellung. Danach wurde es eher still um Wien als internationales Zentrum. Nach 1918, als Hauptstadt der kleinen Republik (Deutsch-)Österreich, schien Wien überhaupt zum Schattendasein als überdimensionierter »Wasserkopf« der Alpenrepublik verdammt. Der mit den Pariser Friedensverträgen von 1919/20 geschaffene Völkerbund hatte seinen Sitz in Genf. Immerhin aber tauchte im Oktober 1927 in einigen Zeitungen die Idee einer Verlegung nach Wien auf, das in seinem barocken Glanz anscheinend einigen internationalen Vertretern einladender erschien als das calvinistische Genf. Genf war abgelegen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren (vor dem Bau des Völkerbund-Palasts) wenig angenehm, und man wähnte sich fast im Belagerungszustand  : »Is there no other city where one can dance  ?«6 Die Idee war kaum ernst gemeint, doch erkannte Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel (1876–1932) darin zu Recht »eine Frage der ganz großen Politik« – und eine Gefahr  : Eine Verlegung des Völkerbund-Sitzes nach Wien hätte wohl eine Neutralisierung Österreichs bedeutet und damit Seipels eigene Visionen einer »gesamt-mitteleuropäischen« Politik und eines größeren Österreich infrage gestellt. Möglicherweise aus ähnlichen Überlegungen schien dagegen der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš (1884– 1948) zeitweise Wien als Sitz des Völkerbundes zu präferieren.7 1928 war diese Idee freilich schon längst wieder Geschichte. Allerdings wurde Wien zu dieser Zeit zum Ausgangspunkt der »Paneuropa-Bewegung« von Richard (Graf) Coudenhove-Kalergi (1894–1972). Zwei der vier Paneuropa-Kongresse (im Mai 1926 und im Mai 1935) fanden in der Wiener Hofburg statt, außerdem die drei Wirtschafts-Konferenzen 1933 und 1934, die Donau-Konferenz 1935 und die Agrar-Konferenz 1936.8 Die Bundeskanzler Seipel und nach ihm Engelbert Dollfuß (1892–1934) waren (Ehren-)Präsidenten der österreichischen Paneuropa-Union. 704

wien als internationales zentrum Erst nach dem »Anschluss« und der Eingliederung in das Deutsche Reich im März 1938 wurde Wien wieder Schauplatz der Weltgeschichte  : Im »Ersten Wiener Schiedsspruch« sprachen am 2. November 1938 (im Gefolge des Münchner Abkommens einen Monat zuvor) das Deutsche Reich und Italien die teilweise ungarisch bewohnten Gebiete der Tschechoslowakei (d. h., den Süden der Slowakei und die heute zur Ukraine gehörende »Karpato-Ukraine« im Osten) Ungarn zu, nachdem Polen schon im Oktober das Gebiet um Teschen (Cieszyn bzw. Český Těšín) besetzt hatte. Und am 30. August 1940 erhielt Ungarn im »Zweiten Wiener Schiedsspruch« einen Teil Siebenbürgens von Rumänien zurück. Beide Regelungen wurden nach dem für die Achsenmächte fatalen Ende des Weltkrieges 1945 rückgängig gemacht und die beiden Wiener Schiedssprüche aus der Erinnerung an die internationale Rolle Wiens getilgt. Dafür wurde Wien nach 1945 in ganz anderer Weise zum »internationalen Schauplatz«  ; waren hier doch alle vier alliierten Besatzungsmächte mit ihren Hochkommissariaten vertreten. Die Innere Stadt war überdies »internationale Zone«, deren Verwaltung monatlich zwischen den Alliierten wechselte.

Österreich und die uno Umso wichtiger schien für das 1945 wiedererstandene Österreich eine aktive Rolle im Rahmen der noch während des Krieges gegründeten neuen Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organization, uno), um mit der Freiheit auch die (Wieder-)Anerkennung durch die Staatengemeinschaft zu erreichen.9 Dabei konnte Österreich durchaus an eine Tradition der aktiven Mitwirkung in der Vorläufer-Organisation der uno, dem 1919/20 im Zuge der Pariser Friedenskonferenz gegründeten Völkerbund, anknüpfen.10 Österreichs Mitgliedschaft im Völkerbund erlosch 1938 mit der Annexion durch das Deutsche Reich  ; der Völkerbund selbst bestand allerdings nominell bis 1946. Österreich bemühte sich daher im April 1946 (in logischer Fortführung der Argumentation, dass der »Anschluss« von 1938 null und nichtig sei) um die Teilnahme an der letzten Völkerbundversammlung, wurde aber nur als Beobachter zugelassen.11 Die österreichischen Bemühungen um die Aufnahme in die Vereinten Nationen liefen parallel zum Ringen um den Staatsvertrag.12 Als Kuriosum sei an den Vorschlag des einstigen sozialdemokratischen Staatssekretärs Dr. Julius Deutsch (1884– 1968) erinnert, der während des Weltkriegs in den usa im Exil lebte und im Oktober 1944 Wien als Sitz der neuen Weltorganisation anbot. Diese Idee wurde im Herbst 1945 auch im österreichischen Außenamt (damals  : Staatskanzlei – Auswärtige Angelegenheiten) kurz ventiliert – u. a. trat dort der Diplomat Dr. Franz Matsch für 705

erwin a. schmidl diesen Vorschlag ein.13 Franz (von) Matsch (1899–1973) war ein Sohn des bekannten Künstlers Franz Edler von Matsch (1861–1942), eines Künstlerkollegen der Brüder Gustav und Ernst Klimt (1862–1918 bzw. 1864–92). Er hatte Österreich schon in der Zwischenkriegszeit beim Völkerbund in Genf vertreten und wurde später erster Vertreter Österreichs bei den Vereinten Nationen. Staatskanzler Dr. Karl Renner erhoffte sich Ende 1945 von der Weltorganisation eine Garantie der österreichischen Unabhängigkeit und spekulierte Anfang 1946 – bereits als Bundespräsident – sogar mit einer Unterstellung Österreichs unter den Treuhandschaftsrat (Trusteeship Council) der Vereinten Nationen.14 Diese Ideen waren naturgemäß irreal, doch begann die Tätigkeit der uno in Österreich schon im August 1945, als die Nothilfe- und Wiederaufbau-Verwaltung der Vereinten Nationen (United Nations Relief and Rehabilitation Administration, unrr a) beschloss, Österreichs Wiederaufbau zu unterstützen.15 Jedenfalls  : Die Aufnahme in die uno war 1946/47 wichtigstes Ziel der österreichischen Außenpolitik. Dabei lag eine Mitgliedschaft noch vor dem Abschluss des Staatsvertrages durchaus im Bereich des Möglichen – theoretisch wäre dies mit dem Zweiten Kontrollabkommen der Alliierten vom 28. Juni 1946 vorstellbar gewesen, in dem Österreich wenigstens ein gewisses Mindestmaß an staatlicher Souveränität zugestanden wurde.16 Ein Jahr später, am 24. Juni 1947, beschloss die Bundes­ regierung, einen Beitrittsantrag zu stellen, der am 2. Juli im un-Generalsekretariat überreicht wurde. Im Sicherheitsrat wurde daraufhin erörtert, inwieweit Österreich bis zum Abschluss eines Friedensvertrages – ungeachtet der bekannten Formulierung der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, wonach Österreich Hitlers erstes Opfer gewesen wäre – noch als Feindstaat im Sinne der un-Charta zu gelten habe. Diese Frage wurde vor allem von Australien angesprochen, das aus der raschen Aufnahme eines ehemaligen Feindstaates ein Präjudiz für eine frühe Mitgliedschaft Japans befürchtete. Schließlich scheiterte die Aufnahme am 21. August 1947 am Veto der Sowjetunion vor dem Hintergrund des beginnenden »Kalten Krieges«, während die usa einen österreichischen Beitritt befürwortet hatten.17 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass die Idee einer künftigen Neutralität Österreichs früh auftauchte, im österreichischen Außenamt (damals noch Teil des Kanzleramtes) jedoch gerade im Hinblick auf die angestrebte Mitgliedschaft bei der uno zunächst sehr zurückhaltend gesehen wurde. Da diese aus der Kriegskoalition gegen die Achsenmächte entstand, war unmittelbar nach dem Krieg umstritten, ob ein neutraler Staat überhaupt Mitglied werden könnte.18 Während das neutrale Schweden (zusammen mit Afghanistan und Island) der uno dann doch im November 1946 beitrat, unterstützte die Schweiz die Aktivitäten der Vereinten Nationen zwar stets finanziell und mit Personal, trat der uno aber erst am 10. September 2002 bei. 706

wien als internationales zentrum Unbeschadet der Diskussion um eine Mitgliedschaft in der uno wurde Österreich bereits in den vierziger Jahren in zahlreiche internationale Organisationen entweder wieder zugelassen (so 1946 in den Weltpostverein) oder neu als Mitglied aufgenommen – so 1947 in die Kulturorganisation der uno (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, unesco) sowie in die Landwirtschaftsorganisation fao (Food and Agriculture Organization), 1948 in die Weltbank.19 1952 appellierte Brasilien vor der uno an die Mächte, die Staatsvertragsverhandlungen zu beschleunigen. Am 17. Dezember 1952 konnte Außenminister Dr. Karl Gruber (1909–95) als erster österreichischer Vertreter vor der un-Generalversammlung auftreten, und drei Tage später verabschiedete die Generalversammlung eine Resolution im Sinne des brasilianischen Antrages.20 Dennoch sollte es noch drei Jahre dauern, bis es – nach Abschluss des Staatsvertrages von Wien am 15. Mai 1955 und aufgrund einer kanadischen Initiative – möglich wurde, Österreich am 14. Dezember 1955 in der X. Generalversammlung zusammen mit fünfzehn anderen Aufnahmewerbern als Mitglied in die Vereinten Nationen aufzunehmen.21 Nur am Rande soll erwähnt werden, dass zwei Österreicher schon davor wichtige Positionen im un-System eingenommen hatten  : Dr. Arthur Breycha-Vauthier (1903–86) arbeitete seit 1928 in der Bibliothek des Völkerbundes und leitete ab 1945 die daraus entstandene un-Bibliothek in Genf. Dr. Egon Ranshofen-Wertheimer (1894–1957), der ebenfalls längere Zeit beim Völkerbund gearbeitet hatte, wirkte im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende in den un-Kommissionen für Korea, Somaliland und Eritrea.

Die uno in Wien Kaum ein Jahr Mitglied, gelang Österreich bereits 1956 ein bemerkenswerter Coup. In diesem Jahr war die Internationale Atomenergie-Agentur (International Atomic Energy Agency, iaea) gegründet worden und Österreich bot Wien als Sitz der neuen Organisation an. Die Vorbereitungs-Konferenz in New York nahm dieses Angebot am 23. Oktober 1956 an. Die erste Generalkonferenz fand vom 1. bis zum 23. Oktober 1957 im Wiener Konzerthaus statt. Der frühere österreichische Außenminister, Botschafter Dr. Karl Gruber, wurde am 2. Oktober 1957 einstimmig zum Präsidenten dieser ersten Generalkonferenz gewählt.22 Zu den als Sitz der Organisation angebotenen Gebäuden gehörten das Palais Epstein (damals Sitz des Stadtschulrates), der Opernring-Hof und das Spital der Kaufmannschaft  ; schließlich wurde als Übergangslösung, bis zum Bezug der Räume in der Hofburg, die Musikakademie als Sitz ausgewählt.23 Damit war ein wichtiger Schritt hin zur Etablierung Wiens als »Sitzstadt« der Vereinten Nationen getan. Es wäre allerdings falsch, hinter diesem Erfolg ein be707

erwin a. schmidl wusstes Programm der Regierung oder des Außenministeriums in Wien zu vermuten. Ganz im Gegenteil legen es die Akten sogar nahe, dass man in Wien der Initiative des österreichischen Ständigen Vertreters bei den Vereinten Nationen in New York, des Botschafters Franz Matsch, wenig Chancen gab und vom Erfolg fast ein wenig überrascht war. So stellt sich die Frage, wie sehr der Weg hin zur un-Sitzstadt Wien eine zufällige Entwicklung oder doch ein geplanter Prozess war. Hochrangige Akteure wie Botschafter Dr. Friedrich Bauer (geb. 1930, seit 1956 im diplomatischen Dienst, u. a. Generalsekretär im Außenministerium) betonen die Nachwirkungen des »Schocks der Ungarnkrise« von 1956. Eine effektive Verteidigung gegen einen Angriff des Warschauer Paktes schien kaum möglich. Wien sollte zur »offenen Stadt« erklärt werden, um zu vermeiden, im Kriegsfall zerstört zu werden  ; auch die Erklärung zum »international anerkannten Schutzgebiet« wurde 1958 angedacht.24 In diesem Zusammenhang lag der Schluss nahe, Wien durch die Präsenz internationaler Organisationen zusätzlich abzusichern  ; man erwartete sich davon »einen erhöhten Schutz gegen allfällige Aggressionspläne«.25 Später sprach Bruno Kreisky von den zwei Panzer-Divisionen, die ihm die uno-City ersetzen würde (und die das österreichische Bundesheer ohnedies nie hatte).26 Bereits hinter der iaea-Initiative aber einen von vornherein ausgereiften Plan zu vermuten, Wien als un-Sitz zu etablieren, scheint – nach Ansicht des Autors dieses Beitrags – zu weit zu gehen. Eher dürfte es so gewesen sein, dass dieses Programm »Sicherheit durch Internationalität« schrittweise gewachsen ist. Für Österreichs Geltung innerhalb der uno war insgesamt wohl weniger die österreichische Außenpolitik als solche maßgeblich, sondern vielmehr die Tatsache, dass an der Vertretung in New York stets hervorragende Diplomaten amtierten, von den Botschaftern bis zu den jungen Attachés und Sekretärinnen, die ihre Aufgaben mit viel Engagement und Geschick erfüllten.27 Immerhin erreichten drei der Ständigen Vertreter Österreichs (Dr. Kurt Waldheim [1918–2007], Dr. Thomas Klestil [1932–2004] und Dr. Peter Jankowitsch [geb. 1933]) hohe und höchste Funktionen als Bundespräsidenten bzw. Außenminister, Waldheim war überdies un-Generalsekretär von 1972 bis 1981. Bereits 1959 wurde der in der uno hochangesehene Franz Matsch zum Vorsitzenden des Politischen Ausschusses der Generalversammlung gewählt – die Austria Presse-Agentur berichtete geradezu überschwänglich  : »Die Schlusssitzung gestaltete sich zu einem, in dem Haus am East River noch selten erlebten Triumph für den Vorsitzenden dieser wichtigsten Körperschaft des Völkerforums. […] In Worten wärmsten Lobes zollten die Vertreter der usa, der Sowjetunion, der europäischen, lateinamerikanischen, afro-asiatischen und volksdemokratischen Staaten Botschafter Dr. Matsch Anerkennung dafür, dass unter seinem Vorsitz die diesjährigen Arbeiten des Politischen Ausschusses überaus erfolgreich 708

wien als internationales zentrum verlaufen seien.«28 Zu den Ergebnissen gehörte die einstimmige Annahme der Resolution 1472 (xiv) über die Zusammenarbeit in Weltraumfragen.29 Dies führte in weiterer Folge zur Einrichtung des Sonder-Ausschusses für Weltraumfragen (United Nations Committee on the Peaceful Uses of Outer Space, ab 1962) sowie einer eigenen, für Weltraumfragen zuständigen Sektion (Division) des un-Sekretariats. Der österreichische Vertreter in New York übernahm traditionell seit 1959 den Vorsitz des Weltraum-Ausschusses. Die Sektion wurde 1992 zu einer eigenen Organisationseinheit erweitert (United Nations Office for Outer Space Affairs, unoosa) und residiert seit 1993 in Wien. Damit erhielt Wien für die Weltraum-Aktivitäten der Weltorganisation eine zentrale Bedeutung.

Wiener Konventionen und Wiener Gipfel Neben dieser – für einen kleinen Staat wie Österreich doch eher ungewöhnlichen – führenden Rolle in Weltraumfragen waren es bereits in den Sechzigerjahren drei wichtige Konferenzen, die die Bedeutung Wiens als internationales Zentrum betonten. Es waren dies die Konferenzen über die Weiterentwicklung und Kodifizierung der diplomatischen und konsularischen Beziehungen, die vom 2. März bis 14. April 1961 bzw. vom 4. März bis 22. April 1963 in der Hofburg stattfanden, sowie die Konferenz über das Vertragsrecht (26. März bis 24. Mai 1968 und 9. April bis 22. Mai 1969) – man sprach sogar von Wien als der »Hauptstadt der Kodifizierungen«.30 Am 18. April 1961 wurde das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (Convention de Vienne sur les Relations Diplomatiques – in der englischen Abkürzung vcdr) in Wien unterzeichnet. Es ist seit dem 24. April 1962 in Kraft und regelt den diplomatischen Verkehr sowie die diplomatischen Immunitäten.31 Zwei Jahre später folgte das Wiener Übereinkommen über die konsularischen Beziehungen (Convention de Vienne sur les Relations Consulaires, vccr), das am 24. April 1963 unterzeichnet wurde und am 19. März 1967 in Kraft trat.32 Im Außenministerium, das in beiden Fällen als Depositar der Schlussakte fungierte, resümierte Minister Dr. Bruno Kreisky (1911–90) nicht ohne Stolz  : »Die nunmehr zweite weltweite Konferenz der Vereinten Nationen in Wien hat somit den guten Ruf, den Wien u. a. auch auf Grund des ausgezeichneten Konferenzzentrums in der Hofburg als Konferenzstadt und Österreich als Konferenzland besitzt, weiter gefestigt. Die Konferenz der Vereinten Nationen im Jahre 1961 endete mit der Unterzeichnung einer Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen. Nach den Wiener Kongressakten des Jahres 1815 war dies das erste internationale Vertragsinstrument, in dem der Name Wien ein Bestandteil des offiziellen Titels wurde. […] Ich überschätze keineswegs die Bedeutung solcher Akte internationaler Courtoisie. Wenn aber in Hinkunft das 709

erwin a. schmidl stete Zitat Wiens in allen Fragen des diplomatischen und konsularischen Verkehrs bei vielen Personen noch verbunden ist mit der angenehmen Erinnerung an Wien, dann verbindet sich der Name unseres Landes sowohl mit der Tradition erfolgreicher Konferenzen als auch mit dem Begriff einer gewissen Heimstätte einer Kodifikation des Völkerrechts, an der erstmalig auch die neuen Staaten teilgenommen haben. Dies ist für den österr[eichischen] good will gerade in den jungen Staaten nicht ohne Bedeutung.«33 Auch volkswirtschaftlich waren die Konferenzen, wie der Ballhausplatz betonte, durchaus »von Nutzen«  : Die Kosten für die Konferenz über konsularische Beziehungen betrugen zehn Millionen Schilling, denen volkswirtschaftlich zusätzliche Einnahmen von circa dreißig Millionen, und dies »in einer fremdenverkehrsmäßig ruhigen Jahreszeit (März/April)« gegenüberstanden.34 Als Folge der Konferenz 1968/69 wurde 1969 die Wiener Konvention über das Vertragsrecht (Convention de Vienne sur le Droit des Traités bzw. Vienna Convention on the Law of Treaties, vclt, die »treaty of treaties«) beschlossen  ; alle drei Konventionen gelten als Meilensteine in der Kodifikation internationalen Rechts.35 Diese Abkommen wurden von der 1947 eingerichteten Völkerrechts-Kommission (International Law Commission, ilc), einem Unterorgan der un-Generalversammlung, ausgearbeitet. In dieser Kommission war Österreich von 1957 bis 1966 durch den bekannten Völkerrechtler Univ.-Prof. Dr. Alfred Verdroß-Droßberg (1890–1980) vertreten.36 Professor Verdroß wurde 1961 einstimmig zum Präsidenten der Konferenz über diplomatische Beziehungen gewählt, sein jüngerer Kollege Univ.-Prof. Dr. Stephan Verosta (1909–98) 1963 zum Präsidenten der un-KonsularKonferenz.37 1968/69 fanden außerdem die un-Konferenzen über Fragen des Weltraums und des Straßenverkehrs in Wien statt.38 Wien wurde auch außerhalb des un-Systems zur wichtigen Begegnungsstätte im »Kalten Krieg«. Am 3. und 4. Juni 1961 trafen in Wien der sowjetische kp-Generalsekretär Nikita S. Chruschtschow (1894–1971) und der junge us-Präsident John F. Kennedy (1917–63) zu einem Gipfeltreffen zusammen. Obwohl dieser Begegnung ein durchschlagender Erfolg hinsichtlich der internationalen Entspannung versagt blieb, festigte er doch die Rolle Wiens als Drehscheibe, wo »Weltpolitik gemacht« wird, wie dies der stolze Gastgeber, Bundespräsident Dr. Adolf Schärf (1890–1965), formulierte.39 Am 18. Juni 1979 kam es in Wien neuerlich zu einem us-sowjetischen Gipfeltreffen, diesmal zwischen dem us-Präsidenten James Earl (»Jimmy«) Carter (geb. 1924) und seinem Gegenspieler Leonid Iljitsch Breschnew (1906–82) anlässlich der Unterzeichnung des zweiten Abkommens zur Beschränkung strategischer Waffen. Die »Zeit« fragte damals skeptisch  : »Können Carter und Breschnjew mit dem salt [ii]-Abkommen die Entspannung beleben  ?« und erwartete einen »Wiener Gipfel ohne Träumerei«.40 710

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Wien als Sitz der opec Die Betonung der internationalen Rolle Wiens war zweifellos ein wesentliches Element der österreichischen Außenpolitik, die lange von Bruno Kreisky – zunächst als Staatssekretär (1953–59), dann als Außenminister (1959–66) und zuletzt als Bundeskanzler (1970–83) – geprägt wurde. Allerdings war man auch vorsichtig  : 1961 schlug die Sowjetunion (als Teil ihrer Bemühungen, die Rolle des Westens in der uno zu schwächen41) eine Verlegung des un-Hauptquartiers von New York nach Wien vor. Den Anlass boten rassistische und fremdenfeindliche Vorfälle gegen die diplomatischen Vertreter der jungen afrikanischen Staaten in New York. Natürlich ging es der udssr unter anderem darum, Österreich aus seiner engen Anlehnung an die Westmächte zu lösen. Eine derartige Entwicklung lag aber keineswegs in österreichischem Interesse, und Kreisky ignorierte daher diesen Wunsch Moskaus. Die österreichischen Diplomaten wurden angewiesen, sich in dieser Angelegenheit »rezeptiv« zu verhalten.42 Hingegen gelang es in den Sechzigerjahren, Wiens Rolle als Sitzstadt internationaler Organisationen in anderer Weise zu betonen. 1965 verlegte die 1960 gegründete Organisation Erdöl exportierender Staaten (Organization of the Petroleum Exporting Countries, opec) ihren Sitz von Genf nach Wien. Die opec war 1960 auf Anregung Saudi-Arabiens als Kartell der Förderländer in Bagdad gegründet worden, um den Verfall der Ölpreise (in den Fünfzigerjahren aufgrund der Erschließung neuer Quellen) zu stoppen. Der Sitz befand sich zunächst am Dr.-Karl-Lueger-Ring gegenüber der Universität. Dieses opec-Hauptquartier war im Dezember 1975 Schauplatz der Geiselnahme durch den Terroristen »Carlos« (Ilich Ramírez Sánchez, geb. 1949), die drei Todesopfer forderte.43 1977 wurde das opec-Hauptquartier an den Donaukanal verlegt, 2009 in ein neues Gebäude nahe der Börse. Ein Teil der opec-Büros, darunter vor allem der opec-Fonds für internationale Entwicklung (ofid), befindet sich seit 1982 am Parkring 8, im 1864–68 nach Plänen Theophil von Hansens (1813–91) erbauten Palais des Erzherzogs Wilhelm Franz Karl, dem Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens.

Auf dem Weg zur uno-City Während die opec eine internationale Organisation außerhalb des un-Systems darstellt, kam es wenig später zur Ansiedelung einer weiteren un-Organisation in Wien. 1966 wurde von der Generalversammlung die Organisation für industrielle Entwicklung (United Nations Industrial Development Organization, unido) als Organ der Generalversammlung mit Sitz in Wien gegründet.44 Sie bezog zunächst 711

erwin a. schmidl ein provisorisches Quartier im der Gemeinde Wien gehörenden »Felderhaus« in der Ebendorferstraße 2  ; zusätzliche Büros wurden im Studentinnenheim in der Lerchenfelder Straße bereitgestellt. Im Herbst 1967 wurden außerdem Bürogebäude in Fertigteilbauweise im nahegelegenen Weghuber-Park vor dem Palais Trautson (dem Sitz des Justizministeriums) zwischen der Lerchenfelder Straße und der Neustiftgasse errichtet. Der entsprechende Vertrag wurde am 7. Juli 1967 unterzeichnet.45 Dies war eine provisorische Unterbringung, da bereits die Errichtung eines eige­ nen uno-Zentrums an der Wagramer Straße in Kaisermühlen in Aussicht genommen war. Wenig überraschend dauerte der Bau der uno-City deutlich länger als die zunächst erwarteten vier bis fünf Jahre  ; die wenig ansehnlichen Baracken mit ihren blaugrauen Fassade-Elementen vor dem Palais Trautson wurden erst Ende der Siebzigerjahre entfernt. Bevor wir zur Errichtung des Wiener un-Zentrums kommen, muss die zunehmende Rolle Österreichs innerhalb der Vereinten Nationen insgesamt angesprochen werden. Seit 1960 beteiligte sich Österreich – anfangs mit einem Sanitätskontingent im Kongo, seit 1964 mit Sanitätern und Polizisten in Zypern, ab 1967 mit Beobachtern und ab 1972/73 mit einem, dann zwei Infanterie-Bataillonen – an den Friedensoperationen der Vereinten Nationen und gehörte während des »Kalten Krieges« zu den führenden Truppenstellern.46 Dies und das hohe Ansehen, das Österreichs diplomatische Vertreter in New York genossen, war wesentlich auch für die Bemühungen für Wien als Sitzstadt der uno. Dabei positionierte sich Österreich zunehmend als Freund der Staaten der Dritten Welt, wie dies in einer Rede Botschafter Matsch’ schon am 13. Dezember 1960 zum Ausdruck kam  : Die österreichische Delegation werde, so führte er aus, die von 43 Staaten aus Afrika und Asien vorgeschlagene Resolution über die Unabhängigkeit für koloniale Länder und Völker unterstützen  :47 »Diese Delegationen sprechen in eigener Sache – einer gerechten Sache – und wir unterstützen sie mit Freuden. Mein Land gehörte nie zu jenen, die man heute Kolonialmächte nennt. Auch die alte österreichisch-ungarische Monarchie besaß keine Kolonien. […] Das österreichische Volk jedoch, hat immer den Kampf der Völker und Nationen, die nicht die volle Freiheit besaßen, mit größter Sympathie verfolgt. […] Wir wissen den Wert der Freiheit aus eigener Erfahrung zu schätzen. Siebzehn lange Jahre waren wir unserer Freiheit beraubt, und ich glaube, dass man nie etwas so sehr zu schätzen weiß, als wenn man es verloren hat. Auch glauben wir, dass die Freiheit ebenso unteilbar wie der Friede ist und dass, solange es Nationen und Völker gibt, die nicht dasselbe Maß der Freiheit genießen, dessen wir uns erfreuen, auch unsere eigene Freiheit nicht gesichert ist.«48 Das mochte zwar nicht immer so ganz der historischen Wahrheit entsprechen (und auch nicht immer dem westlichen Standpunkt), trug aber zur Beliebtheit der Alpenrepublik innerhalb der uno bei. Immerhin war es mit Unter712

wien als internationales zentrum stützung der »neu-souveränen« Staaten (und gegen den erklärten Willen der westlichen Länder) gelungen, dass Österreich im Herbst 1960 die Unterstützung der un-Generalversammlung für den Schutz der österreichischen (deutschsprachigen) Bevölkerung in Südtirol erreichte.49 Die Unterstützung der Staaten der »Dritten Welt« war auch in der Folge – bei den Bestrebungen, un-Organisationen nach Wien zu bringen, ebenso wie bei der Kandidatur Kurt Waldheims für das Amt des un-Generalsekretärs (1971) und bei der österreichischen Kandidatur um einen nichtständigen Sitz im Weltsicherheitsrat – wichtig. Anlässlich der ersten Überlegungen im September 1970, sich um einen Sitz im Sicherheitsrat zu bewerben, befürchtete der Außenpolitische Arbeitsausschuss der övp unter Vorsitz Dr. Franz Karaseks (1924–86), des ehemaligen Kabinettschefs des Bundeskanzlers Klaus, daher, durch das »Bemühen [um die] Hilfe außereuropäischer Staaten […] bestehe die Gefahr, dass Österreich ohne Notwendigkeit an Sympathie bei den europäischen Staaten einbüßt. […] In der österreichischen Außenpolitik [wurde] bisher jede Tendenz zu einer neutralistischen Außenpolitik strikt abgelehnt.«50 Die övp fürchtete offensichtlich im Gefolge des Regierungswechsels 1970 (von der övp- zur spö-Alleinregierung) einen Kurswechsel der österreichischen Außenpolitik weg von der traditionell prowestlichen Linie. Tatsächlich setzte Kreisky als Kanzler die von ihm bis 1966 als Außenminister entwickelte (und auch unter der övp-Alleinregierung praktizierte) »aktive Neutralitätspolitik« fort, allerdings wurde diese ab 1970 »systematisch ausgebaut und formuliert«, wie sich der damalige Kabinettschef im Außenministerium, Botschafter Dr. Gerald Hinteregger (geb. 1928), erinnerte.51 Dadurch ergab sich wohl eine gewisse Verschiebung der Schwerpunkte hin zur Dritten Welt. In den ersten Jahren der österreichischen un-Präsenz war es neben Franz Matsch vor allem Gesandter bzw. Botschafter Dr. Heinrich Haymerle (1910–90), der als Politischer Direktor (1956–60 und 1964–65) und als Ständiger Vertreter in New York (1968–70) die österreichische un-Politik prägte. Vor ihm war Botschafter Waldheim österreichischer un-Botschafter. 1969 wurde mit Legationsrat Dr. Kurt Herndl (geb. 1932) ein Österreicher in eine höhere politische Funktion im un-Sekretariat ernannt, als Direktor der Sektion für den Sicherheitsrat (Security Council Affairs Division).52 1971 wurde der Ständige Vertreter Österreichs, der vormalige Außenminister (und spätere Bundespräsident) Dr. Kurt Waldheim, zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt, ein Amt, das er über zwei Amtsperioden, von 1972 bis 1981, innehatte. Ebenfalls Teil der österreichischen un-Politik war die Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im un-Sicherheitsrat – für einen neutralen Staat angesichts der weitreichenden Kompetenzen des Sicherheitsrates eine nicht unheikle Sache. Nach der innenpolitischen Kritik von 1970 verschob Österreich seine Kandidatur um zwei 713

erwin a. schmidl Jahre.53 1973/74 war es so weit  ; am 16. Jänner 1973 nahm erstmals ein Österreicher, Botschafter Dr. Peter Jankowitsch, an einer Sitzung des Rates teil. Als Bilanz der ersten Mitgliedschaft im Sicherheitsrat betonte Jankowitsch 1974, Österreich habe dies tun können, »ohne dadurch seine Unabhängigkeit und seinen Status als ständig neutraler Staat zu verletzen. Ein Großteil seiner Mitarbeit erfolgte im Rahmen der ›stillen Diplomatie‹, wobei Österreich oft eine vermittelnde Rolle spielte« – was ja durchaus dem liebgewonnenen österreichischen Selbstbild entspricht, wenn auch nicht immer der Realität.54 In der Folge gehörte Österreich noch zweimal, 1991/92 und 2009/10, dem Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied an. Der langjährige Leiter der un-Abteilung des Außenministeriums, Botschafter Dr. Walther Lichem (geb. 1940), einer der profiliertesten österreichischen onusiens (wie die un-Diplomaten nach der französischen Abkürzung onu gern genannt werden), meinte, dass Österreich diese regelmäßige Mitgliedschaft in Abständen von knapp zwei Jahrzehnten auch künftig verfolgen sollte.

Das un-Zentrum in Wien Die Siebzigerjahre sahen die Errichtung des Vienna International Centre in Wien. Das un Office Vienna (unov), wie es un-amtlich heißt, geht auf eine österreichische Initiative aus dem Jahre 1967 zurück, als die övp-Alleinregierung unter Bundeskanzler Dr. Josef Klaus (1910–2001) die Politik Kreiskys einer starken internationalen Präsenz intensiv fortsetzte. Die Stadt Wien stellte das Grundstück neben dem Donaupark (einem Relikt der Internationalen Garten-Schau von 1964) zur Verfügung. In einem internationalen Architekten-Wettbewerb erzielte 1969 der Entwurf des argentinischen Architekten César Pelli (geb. 1926) den ersten Platz. Nach dem Regierungswechsel von Klaus zu Kreisky 1970 wurden die Projekte neu überarbeitet und der Bürokomplex schließlich nach den Plänen des ursprünglich nur viertgereihten Kärntners Johann Staber (1928–2005) von 1973 bis 1979 errichtet. Dies war zweifellos ein erstrangiges Prestigeprojekt Kreiskys und ein »Schwerpunkt der österreichischen Außenpolitik«55 – später tauchte auch die Bezeichnung »Kreisky-Grad« auf. Die övp – mittlerweile in Opposition – argumentierte nicht gegen den Bau selbst, wohl aber gegen seine Dimension.56 Es zeigte sich rasch, dass die unido ihren Raumbedarf deutlich überhöht angegeben hatte  ; dazu kam, dass in Folge der weltweiten Ölkrise 1973/74 auch die internationalen Organisationen ihre Budgets reduzieren mussten. iaea und unido zusammen würden das Gebäude nicht füllen können. Daher versuchte Österreich ab 1973, weitere un-Organisationen für 714

wien als internationales zentrum Wien zu gewinnen. Auch eine Verlegung der opec in das neue Zentrum wurde angedacht, schien aber schon wegen ihrer Stellung außerhalb des un-Systems wenig sinnvoll. Schließlich kamen einige kleinere Organisationen wie die un-Kommission für die Vereinheitlichung des internationalen Handelsrechts (un Commission on International Trade Law, uncitr al) oder die un-Postverwaltung für Europa nach Wien. 1978 wurde auch das 1948 gegründete un-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (un Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, unrwa) wegen der Unruhen im Libanon von Beirut nach Wien transferiert. Es blieb fast zwei Jahrzehnte in Wien  ; im Zuge des Osloer Friedensprozesses wurde es 1996 nach Gaza verlegt.57 In New York und in Genf opponierten Vertreter internationaler Organisationen allerdings heftig gegen eine mögliche Übersiedlung nach Wien – so wurde nach dem Einsturz der Wiener Reichsbrücke (1. August 1976) in New York kolportiert, man könne die uno-City nur per Boot erreichen.58 In weiterer Folge erwies sich dieses Unglück allerdings insofern als positiv, als man bei der Planung der neuen Reichsbrücke von vornherein die U-Bahn einbeziehen konnte. Das enorme Bauvorhaben (und später der Betrieb) der uno-City wurde durch die eigens geschaffene Internationale Amtssitz- und Konferenz-Zentrum Wien Aktien-Gesellschaft (iakw-ag) getragen, in der der Bund (mit dem Außenministerium als Koordinator) und die Stadt Wien vertreten waren bzw. sind. Nicht ohne Stolz meinte der in den ersten Jahren mit der Generalplanung betraute Botschafter Dr. Friedrich Bauer, dass der Voranschlag eingehalten werden konnte und es – anders als bei späteren Großbauten wie dem Allgemeinen Krankenhaus – zu keinen Korrup­ tionsvorwürfen kam. Mit den teils schwierigen Verhandlungen mit den internationalen Organisationen, aber auch mit österreichischen Parteien und Institutionen wurde Dr. Thomas Klestil betraut, bis 1975 österreichischer Generalkonsul in Los Angeles (davor war er Sekretär bei Bundeskanzler Klaus gewesen  ; später wurde er Generalsekretär im Außenministerium und zuletzt Bundespräsident). Ihm zur Seite stand ab 1976 Dr. Alexander Christiani (geb. 1940), der Klestil 1978 als Leiter der für Amtssitzfragen zuständigen Abteilung I.6 im Außenministerium nachfolgte, als dieser als österreichischer Vertreter nach New York ging. Christiani war von 1970 bis 1975 in New York gewesen und hatte dort Österreichs erste Mitgliedschaft im un-Sicherheitsrat mitgestaltet. Positiv erlebte er die volle Rückendeckung durch den Bundeskanzler und den Außenminister, denen das internationale Zentrum in Wien Anliegen und Prestigeprojekt zugleich war. In den Verhandlungen mit den Organisationen ging es nicht nur um das Gebäude und den Betrieb, sondern auch um Infrastruktur und Verkehrsanbindung. Wichtig war auch die Gründung einer internationalen Schule (die 1978 auf Basis der früheren 715

erwin a. schmidl englischen Schule in Grinzing entstand  ; 1984 bezog sie ihr jetziges Quartier in der Straße der Menschenrechte im 22. Bezirk). Am 23. August 1979 wurde die Anlage feierlich eröffnet und mit 1. Jänner 1980 offiziell als un Office Vienna (unov, neben New York und Genf dritter Standort des un-Sekretariats – 1996 kam Nairobi dazu) in Betrieb genommen. Eigentümer des Gebäudekomplexes sind die Republik Österreich (zwei Drittel) und die Gemeinde Wien (ein Drittel). Er ist den Vereinten Nationen gegen eine symbolische Jahresmiete von einem Schilling auf 99 Jahre vermietet. Die Betriebskosten werden von den einzelnen Organisationen selbst getragen, die Erhaltungs- und Renovierungskosten des Gebäudes von Österreich. Im unov arbeiten mehr als 4.000 Mitarbeiter internationaler Organisationen. Das 17 Hektar große Gelände hat exterritorialen Status und wird von den »un Guards« (der un-eigenen Wach- und Schließgesellschaft) bewacht.59 Durch die U-Bahn (Linie U1) ist die uno-City seit 1982 von der Innenstadt leicht erreichbar. Nach den Vorstellungen der Siebzigerjahre errichtet, musste allerdings im gesamten Gebäude ab 2004 eine großangelegte Asbest-Sanierung durchgeführt werden. Gleich anschließend an das un-Zentrum wurde zwischen 1982 und 1987 das ebenfalls von Staber entworfene Austria Center Vienna als größtes KongressZentrum Österreichs errichtet.60 Dagegen gab es allerdings heftige Proteste und sogar ein von 1,36 Millionen Österreichern unterschriebenes Volksbegehren (die größte Beteiligung eines Volksbegehrens in der Zweiten Republik überhaupt  !).61 In der Praxis zeigte sich eine enge Verbindung zwischen den internationalen Organisationen und der Abwicklung großer Konferenzen – beide profitieren von den jeweiligen Erfahrungen und der Infrastruktur. Dazu zählt die Möglichkeit, für größere Konferenzen auf die Übersetzerdienste der Organisationen zurückgreifen zu können. Das un-Zentrum in Wien ist heute wohl unbestritten eine Bereicherung der Stadt und – durch die Anwesenheit der mehr als 4.000 internationalen Beamten und ihrer Familien – auch finanziell ein Gewinn für Stadt wie Staat. Durch großzügige Regelungen (wie die Steuerbefreiung auch im Ruhestand) wurde die Ansiedelung von finanziell großteils potenten Ausländern zusätzlich gefördert. Nach der deutschen »Wiedervereinigung« von 1989/90 und der Verlegung der meisten Bundesbehörden von Bonn nach Berlin Anfang der Neunzigerjahre gab es Überlegungen, un-Büros von Wien nach Bonn zu transferieren. Dazu kam es nicht  ; in den Neunzigerjahren wurden sogar mehrere neue un-Büros in Wien angesiedelt. Bereits erwähnt wurde das seit 1993 in Wien befindliche un-Büro für Weltraumfragen (unoosa). 1997 entstand das un Office for Drug Control and Crime Prevention (seit 2002 un Office on Drugs and Crime, unodc) aus der Zusammenlegung zweier bis dahin getrennter un-Büros  ; es dient der weltweiten Vorbeugung und 716

wien als internationales zentrum Bekämpfung von Drogenmissbrauch und schweren transnationalen Verbrechen wie Menschenhandel.62 Ebenfalls 1997 entstand – mit der Tätigkeit der iaea zusammenhängend – die Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization, ctbto), die sich allerdings vorerst noch in einer Vorbereitungsphase befindet und erst mit Inkrafttreten des Vertrages über den Stopp von Kernwaffen-Tests voll aktiv werden kann  ; bis dahin arbeitet sie als »Vorbereitungs-Kommission« an der Errichtung eines weltweiten Systems der Überwachung von Kernversuchen. Dieser Vertrag wurde bereits am 10. September 1996 von der un-Generalversammlung angenommen, bisher aber nur von 41 der 44 Kerntechnik-Staaten unterzeichnet und von 36 ratifiziert.63 Am 11. November 2011 wurde ein Verbindungsbüro des 1998 eingerichteten un-Büros für Abrüstungsfragen (un Office for Disarmament Affairs, unoda) in Wien eröffnet, das den Kontakt zu den hiesigen un-Dienststellen, aber auch zu anderen einschlägig aktiven Organisationen wie der osze erleichtern soll.

Rüstungskontrollen und Beschränkungen Tatsächlich verliefen zahlreiche Bemühungen zur Rüstungskontrolle außerhalb des Systems der uno. Bereits in den Sechzigerjahren begann man, in Ost wie West die Gefahren des weltweiten Rüstungswettlaufs und des atomaren Hochrüstens zu erkennen, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen enormen wirtschaftlichen Belastungen.64 Wesentliche Anstöße erhielt der Entspannungsprozess 1969 durch die neue usAdministration unter Richard Nixon (1913–94). In Helsinki und Wien fanden die Verhandlungen zur Begrenzung strategischer Waffen (Strategic Arms Limitation Talks, salt i) statt, die zum Vertrag über die Limitierung von Raketenabwehr-Systemen (Anti-Ballistic Missiles Treaty, abm) führten  ; dieser wurde am 26. Mai 1972 in Moskau von Präsident Nixon und dem sowjetischen Führer Leonid Iljitsch Breschnew unterzeichnet.65 In weiterer Folge wurde die Zahl der Interkontinental-Raketen sowie von U-Boot-gestützten Raketen auf dem Stand von 1972 eingefroren. Die Verhandlungen über strategische Waffen wurden 1972–79 in einer zweiten Runde in Genf fortgesetzt (salt ii)  ; am 18. Juni 1979 wurden die salt ii-Verträge – diesmal in Wien, wie schon erwähnt von Breschnew und Carter – unterzeichnet. Darin wurden neben den Langstrecken- auch die Mittelstrecken-Raketen begrenzt, außerdem wurde eine Begrenzung der Anzahl der Mehrfachsprengköpfe vereinbart. Der Vertrag wurde wegen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan (Dezember 1979) von den usa nicht ratifiziert, aber von beiden Seiten weitgehend eingehalten. 717

erwin a. schmidl Am 30. Oktober 1973 begann in Wien eine weitere Verhandlungsrunde, die Gespräche über die gegenseitige Verminderung von konventionellen Streitkräften (Mutual and Balanced Force Reductions, mbfr). Obwohl diese Verhandlungen ­Anfang 1989 nach sechzehn Jahren ergebnislos abgebrochen wurden, waren sie eine wichtige Grundlage für die folgenden Gespräche, die 1989/90 den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (kse-Vertrag, am 19. November 1990 in Paris unterzeichnet) ermöglichten. Die besondere Rolle Wiens als Verhandlungsort in den Siebziger- und Achtzigerjahren führte dazu, dass Journalisten über mögliche künftige Abkürzungen wie ­»sacher tart« (als Akronym für »Strategic And Comprehensive High-level Expert Round of Talks on the Arms Reduction Treaty« oder so ähnlich) witzelten.

Das iasa in Laxenburg Ebenfalls auf Bemühungen der Entspannungsphase des »Kalten Krieges« geht eine weitere bemerkenswerte internationale Initiative zurück  : das zum Informationsaustausch zwischen Ost und West geschaffene Internationale Institut für Angewandte System-Analyse (International Institute for Applied Systems Analysis, iiasa) mit Sitz in Laxenburg bei Wien. Schon 1966 meinte us-Präsident Lyndon B. Johnson (1908–73), Wissenschaftler der usa und der Sowjetunion sollten doch zusammenarbeiten, um den wirklich großen Herausforderungen (von der Energieversorgung bis zum Umweltschutz) gemeinsam begegnen zu können. Sein Sicherheitsberater McGeorge »Mac« Bundy (1919–96), ehemaliger Dekan der Harvard University, kontaktierte daraufhin den dortigen Mathematik-Professor Dr. Howard Raiffa (geb. 1924), der 1972 erster Direktor des auf diese Initiative zurückgehenden iiasa wurde. Von Raiffa stammte auch der bewusst inhaltsleere Name als Kompromiss zwischen den Wünschen von Ost und West (»Call it applied systems analysis, because nobody will know what it means.«).66 Auf sowjetischer Seite wurde das Projekt von Dr. Jermen (Dzhermen) M. Gvishiani (1928–2003), dem stellvertretenden Vorsitzenden des Staatskomitees des Ministerrates der udssr für Wissenschaft und Technologie und Schwiegersohn des sowjetischen Premiers Alexei Kossygin (1904–80), unterstützt  ; sein Sohn Alexei Dzhermenovich Gvishiani (geb. 1948) ist derzeit der russische Vertreter bei der iiasa. Es wurde schließlich ein multilaterales Projekt mit einem amerikanischen Direktor und einem sowjetischen Vorsitzenden des Leitungsrates. Ursprünglich in Sussex geplant, dann in Fontainebleau (wo durch die Übersiedlung der nato nach Belgien Kapazitäten verfügbar waren), setzte sich schließlich dank der Bemühungen Botschafter Dr. Friedrich Bauers das österreichische Angebot durch, da die Amerikaner 718

wien als internationales zentrum (trotz anfänglicher Vorbehalte gegen das »dilapidated schloss in Laxenburg«) von diesem »Habsburg Disneyland« entzückt waren  ; dazu kam das Angebot der Steuerbefreiung.67 Zurückblickend beurteilte es der erste Direktor Raiffa als »fantastically appropriate«, nicht zuletzt wegen der symbolischen Lage in einem neutralen Staat. Der Gründungsvertrag des iiasa wurde im Oktober 1972 in London unterzeichnet. Der Betrieb in Laxenburg begann 1973, obwohl die Arbeiten am Schloss erst 1976 abgeschlossen waren. Untergebracht ist das iiasa im »Blauen Hof« (so benannt nach einem Vorbesitzer, Sebastian von Ploenstein/Blauenstein), der auch als Konferenzzentrum dient. Gemischte Teams von Forschern aus den beteiligten Ländern arbeiten an gemeinsam formulierten Projekten. Obwohl von den teilnehmenden Staaten finanziert, sind diese nicht durch politische, sondern durch wissenschaftliche Institutionen vertreten (Österreich durch die Akademie der Wissenschaften). Mit dem Ende des Ost-WestKonflikts 1989/90 erlebte das iiasa eine Phase der Krise (so wurde hinterfragt, ob sich diese Institution nicht inzwischen überholt hätte), bestand aber fort und erweiterte das Spektrum der Projekte. Derzeit (Anfang 2013) hat es zwanzig Mitgliedsstaaten. In Laxenburg arbeiten rund 200 Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen an mehrjährigen Projekten  ; seit 1973 waren es an die 4.000 Wissenschaftler aus über sechzig Staaten. Kreisky dürfte die Absicht gehabt haben, mit dem iiasa gewissermaßen ein wissenschaftliches »zweites internationales Standbein« in Laxenburg zu errichten.68 Dazu passte es, dass 1978/79 – auf Initiative des Bundeskanzlers – das Österreichische Institut für Internationale Politik (oiip) ebenfalls in Laxenburg errichtet wurde. Als Thinktank für außen- und sicherheitspolitische Fragen gedacht, übersiedelte es später allerdings nach Wien (zuerst in die Operngasse  ; derzeit ist es in der Berggasse beheimatet). Dafür residiert seit März 2011 eine weitere internationale Organisation in Laxenburg, die Internationale Anti-Korruptions-Akademie (International Anti-Corruption Agency, iaca). Sie geht auf die gemeinsame Initiative des un-Büros für Drogen und Verbrechen (unodc), des eu-Amtes für Betrugsbekämpfung (olaf) und der Interpol zurück, um durch Lehre, Networking und Forschung gegen Korruption und Betrug zu wirken. Die Gründungskonferenz der iaca fand am 2. September 2010 in der Hofburg in Wien statt  ; die Büros befinden sich im Palais Kaunitz in Laxenburg.

Wien als Sitz der ksze/osze Zurück in die Siebzigerjahre  ! Neben dem iiasa sollte Wien für eine weitere Initiative der Entspannung und der besseren Beziehungen zwischen Ost und West eine 719

erwin a. schmidl Rolle spielen, für die von der Sowjetunion seit den Fünfzigerjahren immer wieder vorgeschlagene »europäische Sicherheitskonferenz«. Mit ihr wollte die Sowjetunion ihren Besitzstand nach 1945 ein für allemal absichern. Schließlich kam es – auf Grundlage einer finnischen Initiative von 1969 – zu Verhandlungen, die zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (ksze) führten. Die Gespräche wurden von 1971 bis 1975 in Helsinki und Genf geführt und mit der »Schlussakte von Helsinki« am 1. August 1975 abgeschlossen. Die österreichische Bundesregierung stand diesen Gesprächen anfänglich – so wie die meisten anderen Regierungen und Außenministerien auch – skeptisch gegenüber. Wirkliche Verbesserungen in Fragen der Menschenrechte erhoffte man sich von der bewährten »stillen Diplomatie«, nicht von einer großen Konferenz.69 Immerhin bemühte man sich österreichischerseits, die Konferenz, wenn sie schon stattfinden sollte, wenigstens nach Wien zu bringen (was nicht gelang). Allerdings war es gerade dieses Desinteresse der Ministerien, das es den engagierten jüngeren Diplomaten ermöglichte, in den Verhandlungen Ergebnisse zu erreichen – wie es der damalige österreichische Delegierte Dr. Franz Ceska (geb. 1936) ausdrückte, erkannten die westlichen und neutralen Diplomaten, dass ihren östlichen Kollegen rasch die Argumente ausgingen.70 Letztlich zeigte schon das Bemühen um die Anerkennung der Grenzen von 1945 deren mangelnde Legitimität.71 Im Rückblick wurde die ksze zu einem wichtigen Element zur Überwindung des Ost-West-Konflikts und damit zur Beendigung des »Kalten Krieges«. Wesentlich dafür war die Institutionalisierung des ksze-Prozesses durch die Folgekonferenzen – diese fanden 1977–79 in Belgrad und 1980–83 in Madrid statt. Dabei gilt es als Verdienst Österreichs, dass die Konferenz in Madrid trotz der parallelen »zweiten heißen Phase« des »Kalten Krieges« (im Gefolge der sowjetischen Afghanistan-Invasion 1979 und der Kontroversen um die Stationierung von Mittelstrecken-Raketen in Europa) nicht platzte. Es folgte 1984–86 die Konferenz über Sicherheits- und Vertrauensbildende Maßnahmen in Stockholm und 1986–89 die dritte Folgekonferenz der ksze in Wien. Diese war auch Ausgangspunkt für das ksze-Gipfeltreffen in Paris am 19. November 1990  : Die Charta von Paris gilt als das entscheidende Dokument der Überwindung des Ost-West-Konflikts. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa (kse-Vertrag) unterzeichnet.72 Mit einem »Ausschuss Hoher Beamter« wurde die Grundlage für die Umwandlung des Konferenz-Prozesses zu einer internationalen Organisation gelegt, die formal in Budapest 1994 als Organisation für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (osze) begründet wurde. Wien spielte in diesem Zusammenhang nicht nur als Verhandlungsort für Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen eine Rolle – das entsprechende »Wiener Dokument« wurde am 28. November 1994 verabschiedet –, sondern auch 720

wien als internationales zentrum zunehmend als Sitz der Institutionen. Nicht zuletzt wegen der Nähe zu den 1991 beginnenden Kriegen in Südosteuropa wurde das Krisen-Verhütungs-Zentrum (k vz) der ksze ab März 1991 in Wien eingerichtet  ;73 es folgte am 22. September 1992 das ksze-Forum für Sicherheitskooperation (fsk) in Wien mit einem neuen Mandat für die Rüstungskontrolle in Europa. Auch das Generalsekretariat befindet sich in Wien, das damit zu Recht als Hauptsitz der osze bezeichnet werden kann. Die Wiener Büros der ksze bzw. osze befanden sich anfangs im »Hochhaus« in der Herrengasse (einem bemerkenswerten, 1930–32 nach Plänen von Siegfried Theiss [1882–1962] und Hans Jaksch [1879–1970] errichteten Bau), dann in den noblen RingstraßenGalerien. Seit 2007 residiert die osze im schräg gegenüber dem »Hochhaus« gelegenen, neu renovierten Palais Pálffy in der Wallnerstraße, das bis 1989 das Allgemeine Verwaltungsarchiv beherbergt hatte. An die Bedeutung Wiens für die osze wird jeder Wien-Besucher durch die bunten Flaggen am Heldenplatz, neben dem Eingang zum Konferenz-Zentrum in der Hofburg, erinnert. Nicht Teil der osze, aber im Zusammenhang mit den Bemühungen um Rüstungskontrolle zu sehen ist das »Wassenaar-Abkommen« über Exportkontrollen von konventionellen Waffen und »dual use«-Gütern (jenen Gütern und Technologien also, die für zivile wie für militärische Zwecke anwendbar sind). Es wurde als Nachfolger des aus der Zeit des »Kalten Krieges« stammenden Coordinating Committee on Multilateral Export Controls (cocom, mit Sitz in Paris – dieses lief mit März 1994 aus) am 19. Dezember 1995 im niederländischen Wassenaar ausgearbeitet. Die ersten Vollversammlungen aller 33 teilnehmenden Staaten fanden im April, Juli und Dezember 1996 in Wien statt. Das Sekretariat dieser Behörde befindet sich in Wien, in der Mahlerstraße 12 im Ersten Bezirk. Derzeit gehören dem Wassenaar-Arrangement 41 Staaten an. Ähnlich wie bei der ksze/osze gilt das Konsensprinzip.74

Wien im Dialog der Religionen  ? Gerade wenn es um politisch heftig diskutierte Fragen wie die Integration islamischer Ausländer geht, wird gerne die Tradition der beiden Türkenbelagerungen 1529 und 1683 und ihrer erfolgreichen Abwehr bemüht. Dabei war Österreich, war die Habsburgermonarchie stets Bollwerk und Brücke zugleich zum Osten und Südosten. Mit dem Islamgesetz von 1912 erhielt die moslemische Religion in Österreich früher offiziellen Status als in den meisten anderen Ländern Europas. Daran anknüpfend wurde – in unmittelbarer Nähe zur uno-City – schon in den Siebzigerjahren eine erste Moschee in Wien errichtet. Das teilweise von Saudi-Arabien finanzierte Islamische Zentrum am Hubertusdamm wurde am 20. November 1979, dem islamischen Neujahrstag, feierlich eröffnet – für einen aufstrebenden 721

erwin a. schmidl Baumeister namens Richard Lugner (geb. 1932) wurde dieses Bauvorhaben der Beginn einer schillernden Karriere in Wirtschaft und Klatschspalten. 32 Jahre später, am 13. Oktober 2011, stiftete der saudische König Abdullah bin Abdulaziz al-Saud ein nach ihm benanntes Internationales Zentrum für interreli­ giösen und interkulturellen Dialog. Dieses soll im Palais Sturany am Schottenring 21 (in der ehemaligen Bibliothek der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien) seine Heimat finden. Dem Vernehmen nach war es ein persönlicher Wunsch des Königs, dieses Zentrum in Wien (und nicht in Genf, London oder Madrid, die ebenfalls im Gespräch waren) zu errichten. Angesichts der aktuellen politischen Diskussionen war dieses Projekt freilich – auch in der islamischen Welt – alles andere als unumstritten.75

Wien und Europa Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (eu) begann 1995 ein neuer Abschnitt auch der Geschichte Wiens. Getreu dem Grundsatz, dass in jedem Mitgliedsstaat eine wichtigere eu-Agentur angesiedelt sein sollte, wurde Wien 1997 als Sitz der Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (eumc) gewählt – wie manche Beobachter damals meinten, nicht zuletzt als symbolische Aktion im Hinblick auf die Aktivitäten der erstarkenden fpö unter Jörg Haider (1950–2008).76 Mit 1. Jänner 2007 wurde diese Beobachtungsstelle zur eu-Menschenrechts-Agentur (eu Agency for Fundamental Rights, fr a) umgewandelt.77 Sie ist eine beratende Institution der eu. An dieser Stelle soll nur kurz erwähnt werden, dass Außenpolitik natürlich nicht nur auf Bundesebene geschieht. So wie die anderen Bundesländer verfolgt auch Wien eine Art »Stadt-Außenpolitik«, auf die allerdings hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann. Dabei geht es in erster Linie um die Beziehungen zu den Nachbarstaaten bzw. größeren Städten in der Nachbarschaft (wie Pressburg/ Bratislava/Pozsony in der Slowakei oder Budapest in Ungarn). Österreichische Politiker übernahmen auch im Europarat, der heute 47 Staaten umfasst und dem Österreich seit 1956 angehört, wichtige Aufgaben. So waren mit dem ehemaligen Außenminister Lujo Tončić-Sorinj (1915–2005), Franz Karasek (1924–86) und Walter Schwimmer (geb. 1942) immerhin drei Österreicher Generalsekretäre des Europarates (in den Perioden 1969–74, 1979–84 bzw. 1999–2004). Ebenfalls nur am Rande erwähnt werden sollen hier die internationalen Aktivitäten österreichischer Politiker – zuerst von Bruno Kreisky im Rahmen der Sozialistischen Internationale (SI), dann von Außenminister Dr. Alois Mock (geb. 1934) in der 1978 in Salzburg gegründeten Europäischen Demokratischen Union (edu) bzw. 722

wien als internationales zentrum der 1983 entstandenen Internationalen Demokratischen Union (idu). Mock war von 1979 bis 1998 Präsident der edu und auch (1983–86) erster Präsident der idu. Im Zusammenhang mit der Neuordnung Europas nach der »Wende« von 1989/90 schienen sich neue Möglichkeiten für regionale Kooperationen abzuzeichnen, in denen Wien ebenfalls – in unterschiedlicher Form – eine Rolle spielte. So entstand im November 1989 auf österreichische Initiative (insbesondere des Wiener Vizebürgermeisters und späteren Vizekanzlers Dr. Erhard Busek [geb. 1941], der stets vehementer Vertreter einer »mitteleuropäischen« Politik war) die »Pentagonale« zur Vertiefung der wissenschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit zwischen Italien, Jugoslawien, Österreich, der Tschechoslowakei und Ungarn.78 Mit dem Beitritt Polens wurde daraus die »Hexagonale«, die infolge des Zerfalls Jugoslawiens ab 1992 zur Zentraleuropäischen Initiative (zei/cei) mutierte, der heute achtzehn Staaten angehören. Allerdings verloren diese Initiative so wie die verschiedenen Vorstellungen eines neuen »Mitteleuropa« ab 1989 schnell an Bedeutung gegenüber den intensiven (und erfolgreichen) Bemühungen Österreichs um die »West-Integration« im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union.79 In der Folge verlor Wien auch Institutionen, die für die kulturelle und wissenschaftliche Kooperation mit unseren ost- und südosteuropäischen Nachbarn wichtig waren – so wurde Ende 2006 das renommierte, 1964 gegründete Ost- und Südosteuropa-Institut in Wien geschlossen. Dieser Entwicklung steht allerdings die äußerst erfolgreiche wirtschaftliche Expansion österreichischer Unternehmen in diesen Raum gegenüber.80 Betrachtet man Wien zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so ist die österreichische Hauptstadt zweifellos eine Stadt mit hoher Lebensqualität. Diese beruht zum Teil auf der internationalen Rolle, die Wien seit den Sechzigerjahren in verschiedener Weise spielte. Man kann hier wohl durchaus von einer »Erfolgsbilanz« sprechen, auch wenn diese Entwicklung nicht geradlinig geplant war, sondern sich vielfach dynamisch ergeben hat. Die Präsenz der internationalen Organisationen führte zur Etablierung zahlreicher lateinamerikanischer oder afrikanischer Vertretungsbehörden, die ansonsten wohl nicht hier wären  ; diese trugen ihrerseits wieder zur »Internationalität« und Lebensqualität dieser Stadt bei, die – obwohl längst nicht mehr Hauptstadt eines großen Reiches – dennoch ein wichtiges Zentrum geblieben ist.

A nmerkungen 1 Für die Anregung zu diesem Aufsatz danke ich Prof. Dr. Michael Dippelreiter sehr herzlich, für ihre Ergänzungen und Kommentare danke ich den Botschaftern i.R. Dr. Friedrich Bauer, Univ.-Prof. Dr. Franz Cede, Dr. Alexander Christiani und Dr. Walther Lichem, weiters Gesandtem Dr. Rudolf Agstner, Botschafter Dr. Helmut Freudenschuß, Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Mueller, Frau Botschafter Dr. Isabel

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erwin a. schmidl Rauscher und Ministerialrat Priv.-Doz. Dr. Helmut Wohnout. Ohne ihre Hilfe und Unterstützung wäre dieser Beitrag nicht in dieser Form möglich gewesen – für etwaige Fehler oder Versäumnisse aber ist ausschließlich der Autor verantwortlich  !  2 Die Ansiedlung ausländischer Vertretungsbehörden wird vom Bund und der Stadt Wien auch durch ein eigenes Unterstützungsprogramm gefördert. Zum Hintergrund der österreichischen UN-Politik vgl. zuletzt Günther Unser, Prioritäten setzen  : Die UN-Politik Österreichs, der Schweiz und Liechtensteins, in  : Vereinte Nationen 60/2 (2012), 51–58.  3 Es ist hier nicht der Ort, näher auf den Wiener Kongress einzugehen. Zur Begründung des relativ stabilen Systems des 19. Jahrhunderts, das sich von der instabilen »balance of power« des 18. Jahrhunderts so deutlich unterschied, vgl. vor allem Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763–1848 (= The Oxford History of Modern Europe, Oxford et al.: Oxford University Press/Clarendon, 1994). Das System von 1814/15 war immerhin so stabil, dass es nicht nur mehrere Revolutionen und vergleichsweise begrenzte Kriege (wie etwa 1854–56, 1859, 1864, 1866, 1870/71 oder die Konflikte im Balkanraum) überdauerte, sondern sogar die Entstehung neuer regionaler Mächte – wie Italiens oder des Deutschen Reiches – wenigstens für einige Jahrzehnte verkraftete.  4 Vgl. dazu Jutta Pemsel, Die Wiener Weltausstellung von 1873 (Wien–Köln  : Böhlau, 1989).  5 Am 6. Juni unterzeichneten Franz Joseph I. und Alexander II. die Schönbrunner Konvention. Wilhelm II. trat diesem Vertrag am 22. Oktober 1873 bei. Für Bismarck war dies ein wichtiger Schritt zur Aussöhnung mit Österreich-Ungarn (sieben Jahre nach Königgrätz 1866  !) und zugleich der Versuch, durch die Einbindung Russlands einer russisch-französischen Allianz zuvorzukommen.  6 Dazu detailliert Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel  : Christian Statesman in a Time of Crisis (Princeton N.J.: Princeton University Press, 1972), 320–323.  7 Ebd., 325f. Vgl. auch Klaus Emmerich, Unterwegs zum Frieden  : 50 Jahre Österreich in den Vereinten Nationen (Wien  : Ueberreuter, 2005), 101.  8 Dazu ausführlich Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas  : Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren (Wien – Köln – Weimar  : Böhlau, 2004). Für den Hinweis auf die Paneuropa-Kongresse danke ich meinem Freund und Kollegen MinRat Priv.Doz. Dr. Helmut Wohnout sehr herzlich.  9 In diesem Beitrag wird die übliche Abkürzung UNO bzw. UN- verwendet. Im Bereich des Außenministeriums ist allerdings weiterhin die Abkürzung »VN« (für Vereinte Nationen) gebräuchlich und wird gelegentlich auch von anderen Ressorts übernommen. Zur österreichischen Außenpolitik generell sei auf das zweibändige Standardwerk von Michael Gehler verwiesen  : Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik  : Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts (Innsbruck–Wien–Bozen  : StudienVerlag, 2005)  ; außerdem Elisabeth Röhrlich, Kreiskys Außenpolitik  : Zwischen österreichischer Identität und internationalem Programm (= Zeitgeschichte im Kontext 2, Göttingen  : V&R unipress/Vienna University Press, 2009). 10 Die Völkerbundsatzung wurde am 28. April 1919 von den 32 Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges beschlossen und trat gleichzeitig mit dem Friedensvertrag von Versailles, am 10. Jänner 1920, in Kraft. Die konstituierende Sitzung der Bundesversammlung fand am 15. November 1920 in Genf statt. 11 Vgl. dazu Wolfgang Strasser, Österreich und die Vereinten Nationen  : Eine Bestandsaufnahme von 10 Jahren Mitgliedschaft (= Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und Internationale Beziehungen 1, Wien – Stuttgart  : Braumüller 1967), 9  ; sowie Erwin Matsch, Österreich und der Völkerbund, in  : Conturen 1/94, 78–85. Vgl. jetzt auch den ausführlichen Beitrag von Guenther Steiner, »Wieder Teil der Weltgemeinschaft sein …« – Österreichs Beitrittsprozess zu den Vereinten Nationen 1945–1955, in  : Demokratie und Geschichte  : Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich 13/14 (2009/10  ; Wien – Köln – Weimar  : Böhlau, 2011), 353–382, hier 357f.

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wien als internationales zentrum 12 Dazu vor allem Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit  : Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der OstWest-Besetzung Österreichs 1945–1955 (= Studien zu Politik und Verwaltung 62, Wien – Köln – Graz  : Böhlau, 5., durchgesehene Aufl. 2005)  ; Rolf Steininger, Der Staatsvertrag  : Österreich im Schatten von deutscher Frage und Kaltem Krieg 1938–1955 (Innsbruck – Wien – Bozen  : StudienVerlag, 2005), Josef Leidenfrost, Die UNO als Forum für den österreichischen Staatsvertrag  ? Vom Wiener Appell 1946 bis zur Brasilien-Initiative 1952  ; in  : Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung  : Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag (Graz – Wien – Köln  : Styria 1991), 261–275  ; Arnold Suppan/Gerald Stourzh/Wolfgang Mueller (eds.), Der österreichische Staatsvertrag 1955  : Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität (= Archiv für österreichische Geschichte Bd. 140, Wien  : Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2005). Audrey Kurth Cronin, Great Power Politics and the Struggle over Austria, 1945–1955 (= Cornell Studies in Security Affairs, Ithaca – London  : Cornell, 1986), 169f, sieht im fehlenden Einfluss der UNO auf die österreichischen Staatsvertragsverhandlungen ein Beispiel für das Versagen der Weltorganisation dort, wo Großmachtinteressen direkt berührt sind. 13 Julius Deutsch, Ein weiter Weg  : Lebenserinnerungen (Zürich – Leipzig – Wien  : Amalthea, 1960), 373f  ; vgl. Karl Mauk, Österreich und die UNO 1945–1955 (phil.Diss. Wien 1981), 94–101. 14 Renners Rede vor dem Nationalrat am 19. Dezember 1945 war der letzte Auftritt des 75-jährigen Staatsmannes als Staatskanzler  ; tags darauf wurde er von der Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt. Walter Rauscher, Karl Renner  : Ein österreichischer Mythos (Wien  : Ueberreuter, 1995), 356–359, 365  ; Strasser, Österreich und die Vereinten Nationen (wie Anm. 11), 7  ; Steiner, Teil der Weltgemeinschaft (wie Anm. 11), 356. 15 Diese »Österreichhilfe der Vereinten Nationen« setzte schließlich im Februar 1946 ein, obwohl der Vertrag zwischen Österreich und der UNRRA über die Hilfslieferungen erst am 5. April 1946 unterzeichnet wurde – nach längeren Auseinandersetzungen zwischen Westalliierten und Sowjets. Vgl. dazu Mauk, Öster­reich und die UNO (wie Anm. 13), 58ff, 66–69. 16 Ebd., 120, 125–135  ; vgl. auch Heinrich Blechner, Österreichs Weg in die Vereinten Nationen  ; in  : Österreichische Zeitschrift für Außenpolitik 1/6 (September 1961), 351–356  ; sowie Rudolf Agstner, Der Österreichische Beobachter bei den Vereinten Nationen 1947–1955  ; in  : Die Vereinten Nationen und Österreich 40/1 (1991), 11–19. 17 Die Debatte über die Aufnahme Österreichs wurde in der UN-Generalversammlung im Herbst 1947 fortgeführt und in den folgenden Jahren fortgesetzt. Detailliert dazu  : Strasser, Österreich und die Vereinten Nationen (wie Anm. 11), 11–21  ; Mauk, Österreich und die UNO (wie Anm. 13), 137–164 und 179–194. Das Ansuchen in  : Eva-Maria Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität  : Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955 (= Schriftenreihe der österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und internationale Beziehungen 10, Wien 1980), S. 150, Dok. Nr. 57. 18 Mauk, Österreich und die UNO (wie Anm. 13), 122f. In den vorbereitenden Gesprächen 1945 war Frankreich davon ausgegangen, dass Neutralität und UN-Mitgliedschaft einander ausschließen müssten. 19 Vollständige Liste bei Strasser, Österreich und die Vereinten Nationen (wie Anm. 11), 10  ; vgl. auch Mauk, Österreich und die UNO, 115–117, 165–178. Anders als der Völkerbund akzeptierten die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), der Weltpostverein (UPU – österreichische Mitgliedschaft seit 1875  !) und die Internationale Fernmeldeunion (ITU) den österreichischen Anspruch, die Mitgliedschaft wäre durch den »Anschluss« 1938 nicht erloschen, sondern habe nur geruht. 20 GV-Resolution 613 (VII) vom 20.12.1952. Strasser, Österreich und die Vereinten Nationen, 23–28  ; vgl. Agstner, Beobachter (wie Anm. 16), 11f  ; Mauk, Österreich und die UNO, 203f, 210–233  ; Csáky, Dokumentation (wie Anm. 17), S. 280–284, Dok. Nr. 112f. Zunächst hatte sich Österreich um indische Unterstützung bemüht, um die Staatsvertragsfrage vor die UNO zu bringen  ; nach der Ablehnung Indiens wandte sich Außenminister Gruber – mit Erfolg – an Brasilien.

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erwin a. schmidl 21 GV-Resolution 995 (X)  ; Strasser, Österreich und die Vereinten Nationen, 30–33  ; Mauk, Österreich und die UNO, 245–255  ; Csáky, Dokumentation, S. 448, Dok. Nr. 192. Im Internet unter http  ://daccess-dds-ny. un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/104/75/IMG/NR010475.pdf  ?OpenElement  ; eingesehen am 5.3.2012. Die anderen Aufnahmekandidaten waren Albanien, Bulgarien, Ceylon, Finnland, Irland, Italien, Jordanien, Kambodscha, Laos, Libyen, Nepal, Portugal, Rumänien, Spanien und Ungarn, d. h. überwiegend ehemalige »Feindstaaten« des Zweiten Weltkriegs und ehemalige Kolonien. 22 Günther Unser, Die UNO  : Aufgaben – Strukturen – Politik (= Beck-Rechtsberater im dtv, München  : dtv, 7. neubearb. u. erweit. Aufl., 2004), 267f, mit weiteren Literaturangaben  ; vgl. auch die Dokumente der Preparatory Commission im Bestand Sir Bryan Urquhart (UN-Archiv New York  : DAG–1/2.3.: Boxes 13–21). 23 Für ergänzende Informationen danke ich Herrn Botschafter i.R. Dr. Hans Thalberg (1916–2003), der bei den österreichischen Bemühungen um die Wahl Wiens als Sitzort der IAEA eine wesentliche Rolle spielte. 24 Vgl. die Beiträge von Manfried Rauchensteiner, Sandkästen und Übungsräume  : Operative Annahmen und Manöver des Bundesheers 1955–1979  ; sowie Hannes Philipp, Der Operationsfall »A«  : Gesamtbedrohung im Zeichen der Raumverteidigung, 1973–1991, in  : Manfried Rauchensteiner (ed.), Zwischen den Blöcken  : NATO, Warschauer Pakt und Österreich (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek 36, Wien – Köln – Weimar  : Böhlau, 2010), 253–323 (das Zitat »Schutzgebiet«  : 259) bzw. 325–386. 25 Gerald Hinteregger, Im Auftrag Österreichs  : Gelebte Außenpolitik von Kreisky bis Mock (Wien  : Amalthea, 2008), 160. 26 Horst Pleiner, Strategisches Denken im Alpenraum aus österreichischer Sicht von 1955 bis in die Gegenwart, in  : Dieter Krüger – Felix Schneider (eds.), Die Alpen im Kalten Krieg  : Historischer Raum, Strategie und Sicherheitspolitik (= Beiträge zur Militärgeschichte 71, München  : Oldenbourg, 2012), 131–157, hier 142. 27 Es ist hier nicht möglich, sämtliche Namen zu nennen, doch soll dieser Aspekt besonders betont werden. 28 Vgl. die APA-Meldung vom 12.12.1959  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung. html  ?dossierID=AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=6075/390177/1 &source=dossier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. 29 Siehe http  ://www.oosa.unvienna.org/oosa/SpaceLaw/gares/html/gares_14_1472.html  ; eingesehen am 5.3.2012. 30 Vgl. dazu den Beitrag von Franz Cede und Christina Binder, Is there an Austrian Contribution to the Codification of International Law  ?, in  : Ulrich Fastenrath u. a. (eds.), From Bilateralism to Community Interest  : Essays in Honour of Judge Bruno Simma (Oxford – New York  : Oxford University Press, 2011), 649–664. 31 Text  : http  ://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx  ?src=TREATY&mtdsg_no=III–3&chapter=3&lang= fr  ; eingesehen am 5.3.2012. 32 Text  : http  ://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx  ?src=TREATY&mtdsg_no=III–6&chapter=3&lang= fr  ; eingesehen am 5.3.2012. 33 Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (in der Folge  : ÖStA/AdR), Bestand BMfaA, II-Pol 1963, Karton 872  : UN 521/1–641  ; Mappe 521/1 (orange), Nr. 37. 34 Ebd. 35 Vgl. Cede/Binder, Austrian Contribution (wie Anm. 30). 36 Nach ihm gehörten der Völkerrechts-Kommission zwei weitere österreichische Völkerrechtler an, die Professoren Dr. Stephan Verosta (1909–98  ; in der ILC 1977–81) und Dr. Gerhard Hafner (geb. 1943  ; in der ILC 1997–2001). 37 Vgl. die Akten dazu (wie Anm. 33), Mappe 521/1 (orange), Nr. 2–21. 38 Cede/Binder, Austrian Contribution (wie Anm. 30). Verglichen mit den bedeutenden Konferenzen der

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wien als internationales zentrum Sechzigerjahre waren manche der späteren Tagungen deutlich weniger erfolgreich  ; die damals verhandelten »Wiener Konventionen« kamen entweder gar nicht zustande oder traten mangels ausreichender Ratifizierungen (noch) nicht in Kraft. Dies waren 1975 die Konvention über die Vertretung von Staaten gegenüber internationalen Organisationen, 1978 und 1983 jene über die Staatennachfolge und 1986 die Konvention über das Vertragsrecht gegenüber und zwischen internationalen Organisationen (VCLT II). 39 Gehler, Außenpolitik (wie Anm. 9), Bd. I, 219. Zum Wiener Gipfel 1961 vgl. bes. Monika Sommer/Michaela Lindinger (eds.), Die Augen der Welt auf Wien gerichtet  : Gipfel 1961 Chruschtschow – Kennedy (Innsbruck – Wien – München – Bozen  : StudienVerlag, 2005), 14–31  ; und Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan u. a. (eds.), Der Wiener Gipfel 1961  : Kennedy – Chruschtschow (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 12, Innsbruck – Wien – Bozen  : StudienVerlag, 2011). Vgl. darin auch den Beitrag von Franz Cede, Wien als Schauplatz des Gipfels kein Zufall, 809–818. 40 Die Zeit, 15. Juni 1979 (online unter  : http  ://www.zeit.de/1979/25/wiener-gipfel-ohne-traeumerei  ; eingesehen am 5.3.2012). 41 Vgl. dazu auch Wolfgang Mueller, A Good Example of Peaceful Coexistence  ? The Soviet Union, Austria, and Neutrality 1955–1991 (= Zentraleuropa-Studien 15, Wien  : Akademie der Wissenschaften, 2011), 217. Später unterstützte die Sowjetunion Österreichs Vorschläge hinsichtlich der Verlegung von UN-Organisationen nach Wien ebenso wie die Kandidatur Dr. Kurt Waldheims für den UN-Generalsekretär. 42 Als Begründung für die von der Sowjetunion und mehreren Staaten der Dritten Welt gewünschte Verlegung des Sitzes der UNO in einen neutralen Staat wurden neben der Diskriminierung nicht-weißer Diplomaten in den USA die politische Wünschbarkeit eines neutralen Sitzortes genannt sowie mögliche Einsparungen gegenüber dem teuren New York. Eigentliches Ziel war es natürlich, die besondere Rolle der USA in der UNO zurückzudrängen. (Vgl. dazu die Akten der österreichischen Vertretung in New York, BMaA  : ÖVNY 15/4, Zl. 1433-A/61). Zu Kreiskys damaliger Sicht der österreichischen Neutralität in der UNO vgl. seine Rede in Zürich am 4. Mai 1960 (Kreisky-Reden 1 [Wien  : Österr. Staatsdruckerei 1981], 142ff) sowie die Ausführungen in seinem Buch  : Die Herausforderung  : Politik an der Schwelle des Atomzeitalters (Düsseldorf – Wien  : Econ 1963, Neuauflage Wien – Frankfurt – Zürich  : Europaverlag o.J., um 1965), bes. 97ff. 43 Dazu und zu den Hintergründen jetzt ausführlich Thomas Riegler, Im Fadenkreuz  : Österreich und der Nahostterrorismus 1973 bis 1985 (= Zeitgeschichte im Kontext 3, Göttingen  : V&R unipress/Vienna University Press, 2011), bes. 125–138. 44 In Umsetzung der Erklärung von Lima wurde die UNIDO zur 16. Sonderorganisation der UNO umgewandelt. 45 APA-Meldung vom 3.7.1967  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung.html  ?dossierID= AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=6075/1013140/1&source=doss ier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. 46 Vgl. dazu als Überblick Erwin A. Schmidl, Going International – in the Service of Peace  : Das österreichische Bundesheer und die österreichische Teilnahme an Friedensoperationen seit 1960 (Graz  : Vehling, 2010). Durch die zunehmende Beteiligung an NATO- und EU-Missionen und den Abzug der beiden UN-Bataillone von Zypern 20 01 und vom Golan 2013 ging die Bedeutung Österreichs als Truppensteller allerdings innerhalb der UNO in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zurück. 47 Diese Resolution wurde am 14. Dezember als 1514. (XV) Resolution der Generalversammlung angenommen (http  ://daccess-dds-ny.un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/152/88/IMG/NR015288. pdf  ?OpenElement  ; eingesehen am 2. 4. 2012). 48 APA-Meldung vom 14.12.1960  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung.html  ?

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erwin a. schmidl dossierID=AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=6075/474310/1&sour ce=dossier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. 49 Vgl. dazu, neben den Arbeiten von Rolf Steininger und Michael Gehler zu Südtirol, auch Erwin A. ­Schmidl, Blaue Helme, Rotes Kreuz  : Das österreichische UN-Sanitätskontingent im Kongo, 1960 bis 1963 (= PeacekeepingStudien 1, Innsbruck – Wien – Bozen  : StudienVerlag, 2. überarb. u. erg. Aufl. 2010), Kap. 3. 50 APA-Meldung 11.9.1970  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung.html  ?dossierID= AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=6075/1320058/1&source=doss ier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. Zur österreichischen Außenpolitik vgl. neben der genannten grundlegenden Arbeit von Michael Gehler (wie Anm. 9) auch Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates  : Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (= Österreichische Geschichte 1890–1990, Wien  : Ueberreuter, 1994), bes. 455f und 470. 51 Hinteregger, Im Auftrag Österreichs (wie Anm. 25), 150. 52 APA-Meldung vom 10.1.1969  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung. html  ?dossierID=AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=6075/1151488/ 1&source=dossier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. 53 APA-Meldung vom 5.10.1970  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung. html  ?dossierID=AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=6075/1327289/ 1&source=dossier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. 54 APA-Meldung vom 19.12.1974  ; http  ://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/meldung. html  ?dossierID=AHD_19551215_AHD0001&deskriptor=DO_UNO_1&meldungsID=17454/201671/ 1&source=dossier_meldungen.html  ; eingesehen am 5.3.2012. Vgl. dazu auch die Erinnerungen Jankowitsch’, Das Problem der Äquidistanz  : Die Suche der Zweiten Republik nach Außenpolitischen Leitlinien, in  : Rauchensteiner (ed.), Zwischen den Blöcken (wie Anm. 24), 450–495, bes. 476–481. 55 Hinteregger, Im Auftrag Österreichs (wie Anm. 25), 160  ; vgl. Röhrlich, Kreiskys Außenpolitik (wie Anm. 9), 276–282. 56 Dazu ausführlich  : Hinteregger, Im Auftrag Österreichs, 160–170. 57 http  ://de.wikipedia.org/wiki/Hilfswerk_der_Vereinten_Nationen_f%C3%BCr_Pal%C3%A4stinaFl%C3%BCchtlinge_im_Nahen_Osten  ; eingesehen am 5.3.2012. Im zunächst sehr vielversprechenden Palästina-Friedensprozess der Neunzigerjahre spielte Wien kaum eine Rolle  ; immerhin fand hier die erste Zusammenkunft der Arbeitsgruppe über Wasserversorgung und -Ressourcen statt. Den Vorsitz führten die USA und Österreich, das von Botschafter Dr. Christiani als dem zuständigen Abteilungsleiter im Außenministerium vertreten wurde. 58 Für diesen Hinweis danke ich Botschafter i.R. Dr. Alexander Christiani sehr herzlich. 59 Unser, UNO (wie Anm. 22), 185f, 338f  ; Helmut Volger, UN Office Vienna, in  : ders. (ed.), A Concise Ency­ clopedia of the United Nations (Leiden – Boston  : Nijhoff, 2nd. rev. ed. 2010), 757–759  ; vgl. auch http  ://www. unvienna.org/ sowie http  ://de.wikipedia.org/wiki/Vienna_International_Centre  : eingesehen am 5.3.2012. 60 Die Wahl der englischen Bezeichnung erfolgte nicht zuletzt, um den deutschen Ausdruck »KonferenzZentrum« (mit der möglichen, wenig einladenden Abkürzung KZ) zu vermeiden. 61 http  ://de.wikipedia.org/wiki/Austria_Center_Vienna  ; eingesehen am 5.3.2012. Allerdings hatte schon das ursprüngliche (ÖVP-)Angebot von 1967 die Ergänzung des Amtssitzes durch ein autonomes KonferenzZentrum, das für die größeren Konferenzen notwendig war, enthalten. Manche empfanden den vehementen Protest der ÖVP gegen den Bau des Konferenz-Zentrums daher gewissermaßen als »Kindesweglegung«. 62 http  ://en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_Office_on_Drugs_and_Crime  ; eingesehen am 5.3.2012. 63 Vgl. dazu http  ://de.wikipedia.org/wiki/Kernwaffenteststopp-Vertrag und http  ://de.wikipedia.org/wiki/ Organisation_des_Vertrags_%C3%BCber_das_umfassende_Verbot_von_Nuklearversuchen  ; eingesehen am 5.3.2012.

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wien als internationales zentrum 64 Zu den ersten Maßnahmen gehörten die Verträge über das Verbot von oberirdischen Nuklearversuchen (5. August 1963, zwischen den USA, Großbritannien und der UdSSR), über die friedliche Nutzung des Weltraums (27. Jänner 1967) sowie über die Non-Proliferation (Nicht-Weitergabe) von Nuklearwaffen (1. Juli 1968, inzwischen von 189 Staaten unterzeichnet). 65 Die USA und die Sowjetunion einigten sich auf nur je zwei ABM-Stützpunkte mit maximal hundert Abwehr-Raketen. Es mag befremden, dass eine Begrenzung der Defensiv-Kapazität einen Durchbruch bei den Rüstungsbeschränkungen bedeutete – letztlich ging es aber darum, durch die begrenzte Abwehr-Kapazität weiterhin die Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag und damit jene gegenseitige Vernichtungsmöglichkeit zu gewährleisten, die seit den Fünfzigerjahren den Frieden in Europa gesichert hatte, und so den Drang zum Erstschlag zu bremsen. 1974 wurde in einem Zusatzprotokoll nur noch eine ABM-Stellung erlaubt. 2002 traten die USA einseitig vom ABM-Vertrag zurück, um den Aufbau ihrer »Raketenabwehr« – »Missile Defence« – zu ermöglichen. 66 Vgl. dazu den ausführlichen und amüsanten Text der Erinnerungen Raiffas anlässlich des 20-jährigen Bestehens der IIASA 1992  : http  ://www.iiasa.ac.at/docs/history.html  ; eingesehen am 3.4.2012. Darin schildert er auch, wie monatelang um einzelne Begriffe gefeilscht wurde. 67 Für seine Informationen zur Geschichte des IIASA danke ich Botschafter i.R. Dr. Friedrich Bauer sehr herzlich. Neben Laxenburg waren anfänglich auch andere Orte in der Umgebung Wiens im Gespräch, so Rohrau oder Schloss Hof. Für Laxenburg sprach die schnellere Verkehrsanbindung. 68 Für diesen Hinweis danke ich Botschafter i.R. Friedrich Bauer sehr herzlich. 69 Ein weiterer Grund für diese Zurückhaltung war die Verquickung des KSZE-Prozesses mit der heiklen »deutschen Frage«, d. h. der Anerkennung der DDR. 70 Botschafter i.R. Dr. Ceska betonte dies bei einem Workshop an der Landesverteidigungsakademie Wien im September 2009. Ich verweise hier auf ein längeres Forschungsprojekt, in dessen Rahmen die grundlegende Arbeit von Dr. Thomas Fischer entstand  : Neutral Power in the CSCE  : The N + N States and the Making of the Helsinki Accords 1975 (Baden-Baden  : Nomos for the Austrian Institute for International Affairs, 2009). Zur österreichischen Haltung in der Vorbereitungsphase vgl. auch Benjamin Gilde, »Kein Vorreiter«  : Österreich und die humanitäre Dimension der KSZE 1969–1973, in  : Helmut Altrichter/Hermann Wentker (eds.), Der KSZE-Prozess  : Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990 (= Zeitgeschichte im Gespräch 11, München  : Oldenbourg, 2011), 41–50. 71 Wie sich Botschafter i.R. Dr. Bauer erinnerte, erkannte der Westen diese »Hebel-Wirkung« allerdings erst im Laufe der Verhandlungen. Da der Osten auf den »Korb 1« (Prinzipien, darunter die Grenzen und die territoriale Integrität) großen Wert legte, konnte der Westen beim »Korb 3« (u. a. Menschenrechte und Kontakte über die Grenzen hinweg) viele Forderungen durchsetzen. 72 Als 1989 das Mandat für die CFE-Verhandlungen ausgearbeitet wurde, sprach man zunächst von »Conventional Armed Forces in Europe«. Das hätte aber abgekürzt »CAFE« ergeben, und man wollte vermeiden, dass dann von den »CAFE talks in Vienna« gesprochen würde. Also ließ man das »A« entfallen. Für diesen Hinweis danke ich Brigadier Hofrat i.R. Univ.-Doz. DDr. Heinz Vetschera sehr herzlich. 73 Vgl. »The Conflict Prevention Centre enters its third decade«, OSCE Magazine 4/2011, 3  ; für ergänzende Hinweise danke ich Brigadier Hofrat i.R. Univ.-Doz. DDr. Heinz Vetschera und Hofrat Dr. Wilfried Aichinger. 74 Vgl. die Dokumentensammlung  : http  ://www.wassenaar.org/publicdocuments/2012/Basic%20Documents%202012.pdf, eingesehen am 3.4.2012. 75 Vgl. den Bericht »Dialogzentrum der Saudis in Wien löst hitzige Debatte aus« von Christian Ultsch und Erich Kocina (Die Presse, 4.10.2011  ; online unter http  ://diepresse.com/home/panorama/religion/698385/ Dialogzentrum-der-Saudis-in-Wien-loest-hitzige-Debatte-aus). 76 Errichtet mit Verordnung (EG) Nr. 1035/97 des Rates vom 2. Juni 1997 (ABl. L 151 vom 10.6.1997 und

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erwin a. schmidl C 194 vom 25.6.1997  ; http  ://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do  ?uri=OJ  :L  :1997  :151  :0001  :00 07  :DE  :PDF, eingesehen am 3.4.2012). 77 Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates vom 15. Februar 2007 (ABl. L 53/1 vom 22.2.2007  ; http  ://fra. europa.eu/fraWebsite/attachments/reg_168–2007_de.pdf, eingesehen am 3.4.2012). 78 Zuerst gehörten der »Quadragonale« nur Italien, Jugoslawien, Österreich und Ungarn an  ; die ČSSR/ ČSFR folgte wenig später. Vgl. dazu auch Martin Eichtinger, Österreichische Außenpolitik in Zentralund Osteuropa nach dem Annus mirabilis 1989, in  : Ilona Slawinski/Joseph P. Strelka (eds.), Österreichs Wissenschaft und Kultur im Ausland  : Impulse und Wechselwirkungen (Bern u. a.: Peter Lang, 1996), 103–122, hier bes. 117f. 79 Zu den Hintergründen und zur Genese des »Briefs nach Brüssel« vgl. ausführlich Martin Eich­tin­ ger/Helmut Wohnout, Alois Mock  : Ein Politiker schreibt Geschichte (Wien – Graz – Klagenfurt  : Styria, 2008), bes. 170–189. 80 Nicht weniger als 13. 000 Manager aus den ehemaligen Oststaaten nahmen Anfang der Neunzigerjahre an Internship-Programmen in Österreich teil. Für diesen Hinweis danke ich Botschafter i.R. Dr. Walther Lichem.

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Autorinnen und Autoren

Irene Bandh auer-Schöffmann, Dr., Universitätsdozentin für Zeitgeschichte, unterrichtet an den Universitäten Wien und Klagenfurt. Sie habilitierte sich mit »Entzug und Restitution im Bereich der Katholischen Kirche« (Wien/München 2004)  ; 2006 Gastprofessur an der University of Michigan in Ann Arbor, 2010 an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, derzeitiges Forschungsgebiet  : Linksterrorismus während der 1970er-Jahre. Mich ael Dippelreiter, Prof. Dr., Studium der Geschichte und Kunstgeschichte, Lehrgang für internationale Studien. Derzeit bei der OeAD-GmbH mit dem Aufbau einer wissenschaftlichen Dokumentationsstelle betraut. Herausgeber mehrerer Bücher zur Zeit- bzw. Regionalgeschichte, Verfasser zahlreicher Artikel, auch zur Geschichte der Bukowina. M artin Dolezal, Mag. Dr., Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien. Nach seiner Promotion arbeitete er mehrere Jahre am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Universität München, wo er 2011 habilitierte. Seit 2009 ist er als Universitätsassistent am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wahlforschungsprojekt autnes (Austrian National Election Study) tätig. Dolezal beschäftigt sich vor allem mit Fragen der Wahl- und Parteienforschung sowie mit verschiedenen Formen »unkonventioneller« politischer Partizipation. Fr anz X. Eder, Univ.-Prof. Dr., Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Arbeitsschwerpunkte  : Geschichte der Familie, der Arbeitsorganisation und Bevölkerungsstruktur, der Haushaltseinkommen und des Konsumierens, der Sexualität, des Körpers und der Sinne  ; Arbeiten zur historischen Diskursanalyse, zur Computeranwendung in der historischen Forschung und Lehre sowie zum Einsatz neuer Medien. Veröffentlichungen u. a.: »Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität«. München, 2. erw. Aufl. 2009  ; »Historische Diskursanalysen. Theorie, Genealogie, Anwendungen« (Hg.). Wiesbaden 2006  ; »Konsumieren in Österreich – 19. und 20. Jahrhundert« (Hg. gem. mit Susanne Breuss). Wien/Innsbruck/Bozen 2006. 731

autorinnen und autoren Peter Eigner, ao. Univ.-Prof. Mag. Dr., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien. Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien, seit 1994 dort beschäftigt, 2001 Habilitation. Forschungsschwerpunkte  : Geschichte der europäischen Industrialisierung, Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung in der Habsburgermonarchie bzw. Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Stadtentwicklung und Stadtwirtschaft Wiens 19. und 20. Jahrhundert. U.a. Mit­ herausgeber des Werkes »Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938«. Wien 1991  ; Mitherausgeber und Hauptautor des Werkes »Österreichische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert«. Wien 1999. Irene Etzersdorfer, Prof. Dr., promovierte 1985 in Zeitgeschichte und habilitierte 1999 an der Universität Wien für das Fach Politikwissenschaft. Seit 1996 an der Universität Wien beschäftigt, wissenschaftliche Tätigkeiten im In- und Ausland, Gastprofessuren 1987 am Franklin/Marshall College/Lancaster, Pennsylvania, 2002 an der Harvard University, 2006 an der Universität Innsbruck, von 2005 bis 2008 an der Babes-Bolyai Universität in Klausenburg/Rumänien und seit 2010 an der Donau-Universität Krems. Forschungsschwerpunkte auf dem Gebiet der österreichischen Zeitgeschichte, der politischen Theorie und Ideengeschichte  ; in den letzten Jahren Konzentration auf ethnische Konfliktforschung, Kriegstheorie, Humanitäre Interventionen und Menschenrechtsaspekte. Günther Fleck, Dr. phil., Hofrat, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Leiter des Fachbereichs Militärpsychologie und Bildungswissenschaft am Institut für Human- und Sozialwissenschaften der Landesverteidigungsakademie Wien. Verschiedene Lehraufträge an der Universität Wien  ; Gastlektor an der Eötvös Lórand Universität Budapest sowie an der Budapester Universität für Technik und Wirtschaft. Arbeitsgebiete  : ausgewählte Themen der Militärpsychologie, Psychologie anomalistischer Phänomene, Psychologie der Wissenschaft, Erkenntnisund Wissenschaftstheorie. M at thias M arschik, Univ.-Doz. Dr., Kulturwissenschaftler und Historiker. Lehrbeauftragter der Universitäten Wien, Klagenfurt, Salzburg und Zürich. Forschungsschwerpunkte   : Sport und Bewegungskultur, individuelle und kollektive Identitäten, Alltagskulturen. Zahlreiche Publikationen zum Sport und speziell zum Fußball, zuletzt   : »Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Öster­reich«. Wien 2008  ; »Sport Studies« (Hg. gem. mit R. Müllner, O. Penz und G. Spitaler). Wien 2009  ; »Cultural Studies und Nationalsozialismus. Aspekte eines Geschichtsbildes«. Wien 2010. 732

autorinnen und autoren Siegfried M at tl, Univ.-Doz. Dr., Studium der Geschichte und der Politikwissenschaft an der Universität Wien. Wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der Universität für Musik und darstellende Kunst. Schwerpunkte in Forschung und Lehre  : Zeitgeschichte, Stadt-, Kultur-, Mediengeschichte. Elisabeth Ponocny-Seliger, Mag. Dr., promovierte 1996 in Psychologie und leitet seit 2000 als Geschäftsführerin das Auftragsforschungsinstitut »Empirische Sozialforschung & Gender-Research« in Wien. Sie ist Assistenzprofessorin für quantitative Methoden, Differentielle Psychologie und Diversitäten an der Sigmund Freud Privat Universität Wien und arbeitet als Gastlektorin für psychologische Genderforschung an der Universität Wien und der Universität Klagenfurt. Ulrike Renner, Dr. phil., Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Veterinärmedizin  ; 1988 Promotion  ; kulturorganisatorische und -theoretische Projektarbeiten  ; künstlerische Tätigkeiten (Auswahl  : 1981 Performance »kasperl am elektrischen stuhl«, 1982 Multimediashow »der kopf des vitus bering« im Volkstheaterstudio im Rahmen der Wiener Festwochen, 1983 Film »der kopf des vitus bering«, aufgeführt bei den Welser Filmfesttagen, der Feminale in Köln, alle nach Texten von Konrad Bayer)  ; eigene literarische Produktionen  : »Das Buch von Ganapatipule« (2000)  ; »Das Buch von den Nachtwanderern« (2001)  ; »Das Buch von Venedig« (2005)  ; seit 1996 Arbeit im Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, stellvertretende Leitung der internationalen Abteilung. A ndreas Resch, ao. Univ.-Prof. MMag. Dr. phil., Studium der Geschichte und Germanistik sowie der Volkswirtschaftslehre, lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien. Publikationsschwerpunkte  : Wiener Wirtschaftsgeschichte, Finanzwesen, Kulturwirtschaft, Industriegeschichte, ökonomische Entwicklungen in Zentraleuropa. Jüngste Monografie (gemeinsam mit Reinhold Hofer)  : »Österreichische Innovationsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert. Indikatoren des Innovationssystems und Muster des Innovationsverhaltens«. Innsbruck/Wien/Bozen 2010. Georg Rigele, Dr. phil., Historiker und Unternehmensarchivar  ; promovierte 1993 an der Universität Wien  ; Mitarbeit an Ausstellungen und Forschungsprojekten, selbstständige wissenschaftliche Arbeit mit den Schwerpunkten Technik- und Kulturgeschichte, seit 1998 Archivar des niederösterreichischen Energie- und Umweltdienstleistungsunternehmens ev n ag, Mitarbeit an Ausstellungen, darunter bei »Österreich baut auf. Wieder-Aufbau und Marshall-Plan«, Technisches Museum 733

autorinnen und autoren Wien 2005, und »Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt«, Wien Museum Karlsplatz 2006. Erwin A. Schmidl, Univ.-Doz. Dr., Hofrat, Studium der Geschichte, Völkerkunde und Kunstgeschichte an der Universität Wien  ; Dr. phil. 1981. Habilitation an der Universität Innsbruck 2001  ; Leiter des Fachbereichs Zeitgeschichte an der Landesverteidigungsakademie Wien. Davor in mehreren Funktionen im Verteidigungsministerium (Heeresgeschichtliches Museum, Militärhistorischer Dienst sowie Militärwissenschaftliches Büro)  ; 1991/92 dienstzugeteilt zur un-Abteilung des Außenministeriums. Zahlreiche Publikationen. Ulrike Steiner, Dr. phil., Kunsthistorikerin, als Architekturhistorikerin hauptberuflich am Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung, tätig  ; war verantwortlich für Redaktion und Herausgabe der »Österreichischen Kunsttopografie«, arbeitete in diesem Rahmen auch maßgeblich als Autorin mit, ebenso bei der bekannten Dehio-Handbuchreihe. Daneben publizierte sie eine Reihe einschlägiger Arbeiten über die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, u .a. die Publikationen über Friedrich Schmidt und das Wiener Rathaus in der Reihe »Die Wiener Ringstraße«. Daneben ist sie auch als populärwissenschaftliche Autorin tätig, vor allem im Bereich der österreichischen Wein- und Heurigenkultur. A ndreas Weigl, Univ.-Doz. Mag. phil. Mag. Dr. rer. soc. oec., Studium der Wirtschaftsinformatik und Geschichte an der Universität Wien. 1984–2008 Tätigkeit in der amtlichen Statistik und der Magistratsdirektion der Stadt Wien, seit 2008 Mitarbeiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs, 2010–2011 Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Stadtgeschichtsforschung, ab 2011 Vorsitzender des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Seit 2001 Privatdozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Arbeiten zur historischen Demographie, Stadt-, Banken-, Konsum- und Bildungsgeschichte.

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Auswahlbibliografie

Friedrich Achleitner, Wiener Architektur. Wien 1996. Hannes Androsch/Helmut H. Haschek (Hg.), Österreich. Geschichte und Gegenwart. Wien 1987. Viktoria Arnold (Hg.), Als das Licht kam. Erinnerungen an die Elektrifizierung. Wien/Köln/Graz 1986. Peter Autengruber, Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung, Herkunft, Frühere Bezeichnungen. Wien 2010. Renate Banik-Schweitzer u.a. (Hg.), Wien wirklich. Der Stadtführer. Wien 1996. Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil (Damit es nicht verlorengeht 50). Wien 2003. Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak/Nina Scholz (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert. Wien 2002. Ernst Bruckmüller/Hannes Strohmeyer (Hg.), Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs. Wien 1998. Karl Brunner/Petra Schneider (Hg.), Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien (Wiener Umweltstudien 1). Wien 2005. Alois Brusatti/Ernst A. Swietly, Erbe und Auftrag. ev n. Ein Unternehmen stellt sich vor. St. Pölten 1990. Felix Butschek, Der österreichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Wien 1992. Felix Butschek, Österreichische Wirtschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Wien/Köln/Weimar 2011. Günther Chaloupek/Peter Eigner/Michael Wagner (Hg.), Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938. Wien 1991. Eva-Maria Csáky, Der Weg zu Freiheit und Neutralität: Dokumentation zur österreichischen Außenpolitik 1945–1955 (= Schriftenreihe der österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und internationale Beziehungen 10). Wien 1980. Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. 3 Bde. Wien/ Köln/Weimar 2006. Felix Czeike (Hg.), Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden, Wien 1992–1997. Julius Deutsch, Ein weiter Weg: Lebenserinnerungen. Zürich/Leipzig/Wien 1960. Gertraud Diendorfer/Petra Mayrhofer (Hg.), Geschlechtergeschichte – Geschlechterpolitik – Gender Mainstreaming, Bd. 26. Wien/Innsbruck 2006. 735

auswahlbibliografie Franz X. Eder/Peter Eigner/Andreas Resch/Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum (Querschnitte 12). Innsbruck 2003. Martin Eichtinger/Helmut Wohnout, Alois Mock: Ein Politiker schreibt Geschichte. Wien/Graz/Klagenfurt 2008. Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945. Wien 1995. Klaus Emmerich, Unterwegs zum Frieden: 50 Jahre Österreich in den Vereinten Nationen. Wien 2005. Friedrich Feichtinger/Hermann Spörker (Hg.), ömv–omv. Die Geschichte eines österreichischen Unternehmens. Wien 1996. Elisabeth Fraller/George Langnas (Hg.), Mignon. Briefe und Tagebücher einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938–1945. Innsbruck 2010. Michael Gehler, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur eu. Innsbruck 2002. Johanna Gehmacher/Maria Mesner, Land der Söhne. Geschlechterverhältnisse in der Zweiten Republik. Innsbruck 2007. Peter Gerlich/Helmut Kramer, Abgeordnete in der Parteiendemokratie. Eine empirische Untersuchung des Wiener Gemeinderates und Landtages. Wien 1969. Victoria de Grazia/Ellen Furlough (Hg.), The Sex of Things. Gender and Consumption in Historical Perspective. Berkeley/Los Angeles/London 1996. Peter Gosztony, Endkampf an der Donau 1944/45. 2. Aufl. Wien 1969. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2005. Jochen Hörisch, Die ungeliebte Universität. Rettet die Alma mater! München 2006. Gerhard Jagschitz/Klaus-Dieter Mulley (Hg.), Die »wilden« fünfziger Jahre. Gesellschaft, Formen und Gefühle eines Jahrzehnts in Österreich. St. Pölten/Wien 1985. Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Wien/Köln 1990. H.M. Jolles, Wien – Stadt ohne Nachwuchs. Sozialwissenschaftliche Betrachtungen über den Geburtenrückgang in der alten Donaustadt. Assen 1957. Wolfgang Kaiser, Die Wiener Straßenbahnen. Vom »Hutscherl« zum »Ulf«. München 2004. Wolfgang Kaiser, Wiener Schienennahverkehr. Straßenbahn – Stadtbahn – U-Bahn. München 2008. Karl Kollmann/Hildegard Steger-Mauerhofer (Hg.), Verbraucher oder Verbrauchte. Wenn wir 30 Jahre älter sind. Wien 1994. 736

auswahlbibliografie Elisabeth Lichtenberger, Österreich. Darmstadt 2002. Wolfgang Maderthaner, Wie Phönix aus der Asche. Wien von 1945 bis 1965 in Bilddokumenten. Wien 2010. Matthias Marschik, Vom Herrenspiel zum Männersport: Modernismus – Meisterschaft – Massenspektakel. Die ersten dreißig Jahre Fußball in Wien. Wien 1997. Matthias Marschik, Heldenbilder. Kulturgeschichte der österreichischen Aviatik. Münster 2002. Matthias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich. Wien 2008. Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmen in Kurzdarstellung. Wien 1987. Siegfried Mattl, Wien im 20. Jahrhundert. Wien 2000. Alexander und Margarethe Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. München 1967. Birgit Nemec, Straßenumbenennungen in Wien als Medien von Vergangenheitspolitik. Wien 2010. Ernst Pfleger, Überleben im Verkehr. Initiativen für eine menschengerechte Verkehrsplanung. Wien 1987. Hugo Portisch, Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates. Wien 1985. Manfried Rauchensteiner (Hg.), Zwischen den Blöcken: nato, Warschauer Pakt und Österreich (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek 36). Wien/Köln/Weimar 2010. Fritz M. Rebhann, Finale in Wien. Eine Gaustadt in Scherben. Wien 1969. Andreas Resch/Reinhold Hofer, Österreichische Innovationsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert. Innsbruck/Wien/Bozen 2010. Rupert Riedl, Die unheilige Allianz: Bildungsverluste zwischen Forschung und Wirtschaft. Wien 2004. Georg Rigele, Zwischen Monopol und Markt. ev n das Energie- und Infrastrukturunternehmen. Maria Enzersdorf 2004. Peter Roessler, Studien zur Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg im österreichischen Drama der Nachkriegszeit und der 50er-Jahre. Köln 1987. Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945. Wien 1978. Leopold Rosenmayr, Die Schnüre vom Himmel. Forschung und Theorie zum kulturellen Wandel (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte Sonderband 14). Wien/Köln/Weimar 1992. Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995. Erwin A. Schmidl, Blaue Helme, Rotes Kreuz: Das österreichische un-Sanitätskon737

auswahlbibliografie tingent im Kongo, 1960 bis 1963 (= Peacekeeping-Studien 1). 2. überarb. u. erg. Aufl. Innsbruck/Wien/Bozen 2010. Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien 1995. Ilse Schrittesser (Hg.), University goes Bologna: Trends in der Hochschullehre. Entwicklungen, Herausforderungen, Erfahrungen. Wien 2009. Karl Schwanzer, Architektur aus Leidenschaft. Wien/München 1974. Reinhard Seiss, Wer baut Wien? Hintergründe und Motive der Stadtentwicklung Wiens seit 1989. Mit einem Vorwort von Friedrich Achleitner und einem Nachwort von Christian Kühn. Salzburg 2007. Albert Sternfeld, Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen. Wien 2001. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955 (= Studien zu Politik und Verwaltung 62). 5. durchges. Aufl. Wien/Köln/Graz 2005. Karl Hannes Suppanz/Michael Wagner (Hg.), Einkommensverteilung in Österreich. Ein einführender Überblick. München/Wien 1981. Hans Tietze, Wien. Kultur/Kunst/Geschichte. Mit Aufnahmen von Alexander Exax und anderen. Wien/Leipzig 1931. Ernst Topitsch, Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universität. Berlin 1968. Günther Unser, Die uno: Aufgaben – Strukturen – Politik (= Beck-Rechtsberater im dtv). 7. neubearb. u. erweit. Aufl. München 2004. Karl Vocelka, Trümmerjahre Wien 1945–1949, Wien/München o. J. Fritz Weber/Theodor Venus (Hg.), Der Austro-Keynesianismus in Theorie und Praxis. Wien 1993.

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Bildnachweis

Kapitel Dippelreiter  : 1–6 Karl von Vogelsang-Institut Kapitel Dolezal  : 1–17 ÖNB, profil, Plakatarchiv Austria, MA 15, PID Presse- und Informationsdienst (media wien)/Kurt Keinrath/MA 45 Kapitel Renner  : 1–4 Wien-Bibliothek, Nachlass Viktor Matejka. 5–7 Festwochenproduktion Wien Kapitel Mattl  : 1–5 WStLA (Wiener Stadt- und Landesarchiv), Fotosammlung, media wien Kapitel Rigele  : 1 Georg Rigele, 2 Lichtbildstelle newag-niogas, Inzinger/EVN Archiv, 3 Archiv Fred Koranda im Archiv Prof. Heinz Fink, 4 WStLA, Fotosammlung, media wien Kapitel Steiner  : 1 Bundesdenkmalamt, 2–9 Privatarchiv Ulrike Steiner, Fotos Michael Oberer

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Personenregister Abbado, Claudio 325 Abdullah bin Abdulaziz al-Saud, König 722 Abedi, Amir 105 Achleitner, Friedrich 297, 376, 621, 626, 632, 650 Adams, Carol J. 586 Adams, John 326 Adenauer, Konrad 355 Adler, Victor 594 Adorno, Theodor W. 346 Adrian, Marc 376 Adrian, Stefan 677 Adunka, Evelyn 608, 610 Afritsch, Josef 26 Agstner, Rudolf 723 Aichholzer, Josef 379, 392 Aichinger, Wilfried 729 Aiginger, Karl 200, 204 Aigner, Dagmar 102 Albrich, Thomas 277, 278, 436, 591, 608 Alge, Josef 665 Altrichter, Helmut 729 Altwirth, Erika 690 Amann, Anton 282 Ammann, Beat 489 Anatour, Marie 689 Anday, Rosette 694 Andergast, Maria 699 Andersen, Arne 280 Andritzky, Michael 588 Andrlik, Eveline 59 Androsch, Hannes 332 Angerer, Paul 306 Antalovsky, Eugen 103 Appel, Carl 611, 612, 614, 634, 646 Arlt, Gerhard 528 Arnold, Viktoria 276 Arnstein, Fanny 687

Artmann, H.C. 238, 280, 296, 297 Arzt, Leopold 25 Atteslander, Peter 337 Aubry, Blanche 699 Aufhauser, Elisabeth 437, 438, 440 Augé, Marc 388 Autengruber, Peter 700 Babak, Friedrich 393 Bacher, Gerd 318 Bachinger, Karl 199, 200 Bachler, Klaus 324, 328 Badura-Skoda, Paul 304 Bailer-Galanda, Brigitte 609, 610 Baldwin, James 309, 310 Balog, Andreas 435, 443 Bandel, Hannelore 392 Bandhauer-Schöffmann, Irene 9, 198, 277, 280, 531, 582, 591, 700, 731 Banik-Schweitzer, Renate 119, 202, 204, 205 Barba, Eugenio 322 Barnes, Samuel H. 105 Barrault, Jean-Louis 313 Barthes, Roland 581, 592 Bartunek, Ewald 281, 591 Bartz, Christina 677 Bartók, Béla 307 Barwig jun., Franz 629 Bauböck, Rainer 437 Bauer, Eva 280 Bauer, Franz 51 Bauer, Franz-Josef 478 Bauer, Friedrich 708, 715, 718, 723, 729 Bauer, Kurt 527, 677 Bauer, Martin 275, 281, 282

Bauer, Werner T. 586, 587 Bauer, Wolfgang 300 Baum, Vicki 699 Baumgartner, Gerhard 436 Baumgartner, Ulrich 307, 308, 311, 312, 318 Bäumler, Susanne 590 Bausenwein, Christoph 678 Bayer, Ingrid 281 Bayer, Konrad 296, 297, 299, 322, 323, 333 Bayr, Rudolf 296 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 309 Beck, Lydia 581 Becker, Hans 13 Becker, Konrad 389 Beckermann, Ruth 379, 392, 605, 608–610 Beckett, Samuel 309, 310 Bécsbe, Menekülés 438 Beethoven, Ludwig van 307, 330 Békési, Sándor 528, 587, 588 Beller, Stephen 608 Bellini, Vincenzo 688 Beneš, Edvard 704 Benya, Anton 476 Berg, Alban 26, 311 Berg, Leo van den 200 Berganza, Teresa 313 Berger, Franz Severin 582 Berger, Herbert 300 Berger, Joe 376 Berger, Manfred 701 Berger, Peter 203 Berger, Raimund 296 Bergmann-Rohracher, Claudia 440 Bergner, Elisabeth 699 Bering, Vitus 324

741

personenregister Berking, Helmut 360 Berlioz, Hector 307 Bernhard, Thomas 300, 312, 313 Bernold, Monika 280, 677 Bernstein, Leonard 313 Bettauer, Hugo 593, 608 Biedermann, Karl 13, 18, 452 Biffl, Gudrun 438 Bihl, Gustav 38, 100, 390 Bihl, Wolfdieter 106, 206 Binder, Christina 726 Binder, Herbert 202, 203 Bing, Rudolf 318 Bischof, Günter 198, 200 Bischoff, Norbert 13, 24, 38 Blagodatow, Alexej 21, 22, 25, 29, 34, 68 Blechner, Heinrich 725 Bleibtreu, Hedwig 694 Blesl, Christoph 526 Bletschacher, Richard 313 Blumenberg, Hans 346 Bobe, Hans 198 Bobek, Hans 198, 201 Böck, Rudolf J. 613 Bodzenta, Erich 393 Boeck, Rudolf J. 442 Böhm, Karl 303, 307, 311 Böhmer, Peter 609 Bohr, Oskar 691 Bollmann, Harald 526 Boltenstern, Erich 612, 613, 615, 618 Bondy, Luc 325 Bonynge, Richard 307 Borodajkewycz, Taras 82 Botz, Gerhard 198, 390, 608 Boyer, Robert 199 Brändström, Elsa 685, 696 Bratic, Ljubomir 437 Braun, Felix 296 Braun, Gerhard 443 Brecht, Bertolt 290–292, 296, 306, 330 Breschnew, Leonid Iljitsch 710, 717

742

Breuss, Susanne 206, 587–589, 592 Brewer, John 274 Breycha-Vauthier, Arthur 707 Britten, Benjamin 306, 309 Britten, Tony 326 Brix, Emil 592 Broadhurst, Nick 326 Brod, Max 693 Bronner, Gerhard 296, 488 Brook, Peter 313, 326 Broucek, Peter 37, 38 Bruckmüller, Ernst 278, 592, 674 Brunner, Friedrich 107 Brunner, Karl 505, 524 Bufka, František 661 Bumballa, Raoul 23 Bünau, Rudolf 18 Bundy, McGeorge »Mac« 718 Burgstaller, Gabriele 70 Buss, Wolfgang 674 Busek, Erhard 41, 52, 63, 92, 99, 148, 385, 476, 478, 528, 723 Butschek, Felix 128, 198, 199, 275, 277, 278, 280 Buttinger, Joseph 696 Büttner, Elisabeth 392 Canova, Antonio 284 Carniel, Elio 391 Carter, Erica 279 Carter, James Earl (»Jimmy«) 710, 717 Castorf, Frank 326 Cebotari, Marie 690 Cech, Gerhard 106 Cede, Franz 723, 726 Cerale, Luigia 690 Cerha, Friedrich 310 Cerny, Karin 320, 333 Ceska, Franz 720, 729 Chaloupek, Günther 275, 276, 279 Chladek, Rosalia 391, 699 Chobot, Manfred 590

Chomsky, Noam 345 Christen, Ada 692 Christiani, Alexander 715, 723, 728 Chruschtschow, Nikita 355, 356, 358 Chéreau, Patrice 324 Ciuli, Roberto 326 Clement, Werner 200 Cloeter, Hermine 694 Cocteau, Jean 295 Conrads, Heinz 373 Cori, Carl Ferdinand 692 Cori, Gerty 684, 692 Corni, Gustavo 582 Coudenhove-Kalergi, Richard (Graf) 704 Cronon, William 525 Csendes, Peter 197, 198, 390, 391, 702 Cseresnyés, Ferenc 438 Csokor, Franz Theodor 296 Csáky, Eva-Marie 582 Curie, Marie 684, 692 Czech, Hermann 616, 623 Czeija, Ernst 25 Czeike, Felix 99, 205, 206, 583 Czernetz, Karl 50, 101 Czernin, Peter 644 Czerny, Karin 334 Dachs, Herbert 100–102, 104 Dahlkamp, Hubert 676 Dangschat, Jens 199 Danielczyk, Julia 588, 591 Danneberg, Bärbel 105 Davi, Irina 376 Dean, James 666 Deiser, Roland 101 Delaunay, Henri 659 Demus, Jörg 305 Demus, Otto 526 Dermota, Anton 28 Deutsch, Gustav 388 Deutsch, Julius 705, 725 Diendorfer, Gertraud 702

personenregister Dietrich, Nicole 589, 590 Dietrich, Sepp 18 Dietrich-Daum, Elisabeth 441 Dinhobl, Günter 526, 528 Dinhof, Herbert 59 Dippelreiter, Michael 11, 723, 731 Dirkens, Annie 690 Doblhammer, Gabriele 440 Döcker, Ulrike 282 Doderer, Heimito von 561, 589 Dohnal, Johanna 694, 695 Dolezal, Martin 8, 37, 39, 100, 101, 105, 731 Dollfuß, Engelbert 497, 704 Domenig, Günther 625, 644 Dorn, Helmut 203 Dorsch, Käthe 690 Drapal, Julia 697 Drechsler, Wolfgang 327 Drexler, Martin W. 203, 393 Duchen, Claire 582 Dünnebier, Anna 584 Dusl, Andrea 514 Eder, Franz 197 Eder, Franz X. 8, 206, 209, 587, 590–592 Eder, Hans 279 Ehalt, Hubert Christian 276, 566, 590 Ehmer, Josef 435 Eiblmayr, Judith 528 Eiblmayr, Markus 203, 393 Eichtinger, Martin 730 Eichwalder, Reinhard 281 Eigner, Peter 8, 100, 109, 197, 198, 201–203, 205, 206, 274–276, 587, 732 Einem, Gottfried von 306, 311 Eis, Maria 26, 690 Eisenbach-Stangl, Irmgard 440 Eisenberg, Akiba 597 Eisenberg, Paul Chaim 597 Eisler, Georg 318, 640 Eisterer, Klaus 591

Ellmeier, Andrea 276 Embacher, Helga 608, 609 Eminger, Stefan 436, 674 Emmerich, Klaus 724 Endemann, Johanna 690 Engel, Wolfgang 326 Engelhart, Michael 615 Eppel, Peter 438 Erker, Paul 582 Eschenbach, Rolf 678 Etzenmüller, Thomas 391 Etzersdorfer, Irene 9, 593, 609, 732 Export, Valie 376 Ezdorf, Josef Graf 13 Fabre, Jan 327 Falla, Manuel de 307 Fallend, Franz 102, 103 Farthofer, Walter 523 Faseth, Ernst 560 Fassmann, Heinz 434, 437–439, 444 Feichtinger, Friedrich 524, 525 Feldmann, Else 697 Fell, Christian 524, 525 Feller, Barbara 528 Fellerer, Max 611–616 Fellner, Ferdinand 646 Feltl, Gerhard 106 Ferro, Marc 362, 390 Feuerstein, Günther 624 Figl, Leopold 20, 25, 31, 220, 289, 290, 532, 600 Findl, Peter 437, 440 Fink, Eugenie 692 Fink, Heinz 487 Firnberg, Hertha 691, 694 Fischer, Betty 699 Fischer, Ernst 25, 597 Fischer, Karl 104 Fischer-Dieskau, Dietrich 304 Fischer-Kowalski, Marina 280 Fleck, Günther 8, 335, 732 Fleischer, Wolfgang 589 Fo, Dario 322

Folz, Hans-Peter 603, 610 Forster, Rudolf 678 Frahm, Laura 395 Franc, Marie 77 Frank, Josef 612, 613, 616, 622 Franz Joseph I., Kaiser 70, 181, 283, 724 Frassine, Ingrid 443 Fraydl, Gernot 661 Frenzl, Hans 585 Freud, Sigmund 594 Freudenschuß, Helmut 723 Freund, Gerhard 318 Freyer, Achim 325 Frieberger, Pahdi 376 Fried, Jakob 25 Friedl, Hans Peter 441 Friedmann, Desider 595 Friedrichs, Jürgen 111, 199, 200, 437 Fries, Flora Gräfin 685, 687 Friesenbichler, Georg 105, 676 Frischenschlager, Friedhelm 604 Frischmuth, Barbara 300 Fritsch, Franz 26 Fröhlich, Irene 206 Fröhlich-Sandner, Gertrude 691 Frohner, Adolf 640 Funk, Bernd-Christian 99 Funke-Wieneke, Jürgen 674 Furlough, Ellen 274 Fürst, Anton 103, 105 Gadamer, Hans-Georg 346 Gaisbauer, Helmut 206 Gamsjäger, Rudolf 306 Ganzinger, Kurt 702 Gardiner, Muriel 696 Garreau, Joel 497, 527 Gaudí, Antoni 644 Gaulle, Charles de 531 Gebauer, Gunter 677 Gehler, Michael 101, 105, 525, 591, 724, 727, 728 Gehmacher, Johanna 700, 701, 702

743

personenregister Geiger, Brigitte 701 Genet, Jean 330 Gergely, Stefan M. 590 Gerhardus, Florian 38 Gerlich, Peter 102, 104, 199 Gerö, Heinz 664 Gerstl, Elfriede 322 Ghelderode, Michel de 296 Gibbons, Billy 309 Gies, Horst 582 Giffinger, Rudolf 444 Girtler, Roland 566, 590 Gisser, Richard 442 Glauninger, Ursula 206 Glück, Harry 639, 640 Gned, Nina 689 Godard, Jean-Luc 380 Goethe, Johann Wolfgang von 295, 318 Goetz, Curt 295 Goffmann, Erving 392 Gogela, Richard 675 Goldman, Marshall I. 524 Goller, Günther 99, 102 Gottschlich, Hugo 373 Gottweis, Herbert 102 Gould, Glenn 307 Gradinger, Muriel 685 Graf, Georg 608, 609 Grafl, Franz 379, 392 Graham, Martha 313 Grande, Edgar 199 Gratz, Leopold 45, 49–51, 56, 58, 59, 64–67, 71, 72, 74, 90, 99, 104, 149, 478 Grazia, Victoria de 274, 591 Greisenegger, Wolfgang 333 Grengg, Maria 692 Grillparzer 311 Grillparzer, Franz 26, 290 Grimes, Peter 310 Grisold, Andrea 203 Grobecker, Anna 690 Groff, Carl de 391 Gröger, Roman H. 528 Groof, Carl de 375

744

Gropius, Walter 623 Gruber, Heinz Karl 313 Gruber, Helmut 439 Gruber, Karl 707 Gruber, Kerstin Maria 588 Grüber, Klaus Michael 326 Gruber, Rudolf 459 Gruen, Victor 393, 646 Grzegorzewska-Mischka, Ewa 439 Gsteu, Johann Georg 621, 625, 626, 628 Guggenberger, Elisabeth 393 Guggenberger, Sigmund 28 Gürtlich, Gerhard A. 528 Gürtlich, Gerhard H. 526 Gutheil-Schoder, Maria 690 Gvishiani, Alexei Dzhermenovich 718 Gvishiani, Jermen (Dzhermen) M. 718 Haberl, Helmut 524 Hachleitner, Bernhard 679 Hacker, Hanna 701 Hackl, Christian 679 Haerdtl, Oswald 611, 612, 613, 615, 619 Haeussermann, Ernst 294 Hafer, Andreas 675 Hafer, Wolfgang 675 Hahn, Johannes 103 Haider, Jörg 722 Halban-Kurz, Selma 695 Hall, Stuart 679 Haller, Max 676 Halász, Ludwig 280 Hampel-Fuchs, Maria 59, 102 Hanak, Anton 644 Hanappi, Gerhard 657 Händel, Georg Friedrich 309 Handel-Mazetti, Enrica von 694 Handke, Peter 300, 326 Hands, Terry 313 Hanika, Alexander 435 Hanisch, Ernst 434, 676, 728

Hansen, Theophil 614, 615, 711 Happel, Ernst 657, 671 Harell, Marte 699 Harmat, Ulrike 101 Harnoncourt, Nikolaus 307, 309, 311, 333 Hartmann, Bernd 394 Haschek, Helmut H. 332 Hasenörl, Felix 614 Haskil, Clara 305 Haslinger, Alois 439, 440 Haslinger, Ingrid 589 Haspel, Dieter 312 Hatz, Gerhard 434 Hatzl, Johann 59, 93 Hauer, Josef Matthias 307 Häupl, Michael 65–67, 71–75, 99, 329, 491, 518 Haydn, Gerlinde 435 Haydn, Joseph 307, 309, 311, 318 Haymerle, Heinrich 713 Heinemann, Elizabeth 582 Heinrich, Hans-Georg 57, 100, 102 Heinritz, Günter 443, 444 Heiss, Gernot 436 Hell, Bodo 527 Heller, André 318, 319, 320, 333 Heller, Fritz 373 Helmer, Oskar 610 Henze, Hans Werner 306 Herberth, Ludwig 26 Herndl, Kurt 713 Hernstadt, Georg 314 Herzl, Theodor 594 Hesse-Lichtenberger, Ulrich 676 Heuvel, J. van 622 Hiesmayr, Ernst 637, 650 Hilberg, R. 596 Hilberg, Raul 608, 609, 610 Hilbert, Egon 306, 307, 308 Hindemith, Paul 26, 304, 306, 308, 311

personenregister Hinteregger, Gerald 713, 726, 728 Hirnschall, Erwin 87, 91 Hirsch, Otto 59 Hitler, Adolf 12, 13, 30, 218, 355, 402 Hlaweniczka, Kurt 638, 639, 640 Hlawka, Maria 59, 691 Hoch, Adolf 614, 616 Hochwälder, Fritz 295 Hödl, Gerald 609, 610, 679 Hödl, Helmut 676 Hofer, Hans 560 Hofer, Reinhold 204 Hoffmann, Josef 613 Hofmann, Fritz 51, 59 Hofmann, Helmut 105 Hofmannsthal, Hugo von 295 Hohenberger, Eva 390 Hohenegger, Martin 441 Hoke, Giselbert 625 Hollein, Hans 612, 621, 623, 630, 636, 645–648 Holler, Christiane 582 Höllinger, Sigurd 443 Hollweg, Werner 313 Holzbauer, Wilhelm 621, 623, 630, 648, 649 Holzhauser, Andrea 444 Holzinger, Gerhart 99 Holzmeister, Clemens 613, 618, 621, 623–627 Honay, Karl 26 Höndgen, Elisabeth 28 Honegger, Arthur 304 Horak, Roman 388, 672, 674–679 Hörbiger, Paul 20, 25, 28 Hörisch, Jochen 343, 346 Horkheimer, Max 346 Hörmann, Jürgen 441 Horn, Alfred 528 Hornung, Ela 198, 276–279, 281, 582 Horváth, Ödön von 326

Hovorka, Hans 202 Hrdlicka, Alfred 640 Hruby, Roman 278 Huber, Josef 676 Hübner, Kurt 199 Huch, Ricarda 693 Huck, Brigitte 392 Hummer, Robert 679 Hundertwasser, Friedensreich 624, 642–644 Hundstorfer, Rudolf 58, 59 Huth, Alfred 18, 452 Huth, Eilfried 625 Hutter, Swen 105 Igler, Hans 18 Insam, Grita 322 Ionesco, Eugène 309, 310, 330 Jabloner, Clemens 198 Jacobi, Maria 68, 689 Jagschitz, Gerhard 278, 280 Jaksch, Hans 612, 721 Jandl, Ernst 300, 376 Jankowitsch, Peter 708, 714 Jelinek, Elfriede 300 Jeritza, Maria 698 Jochmann, Rosa 684, 698 Johannes Paul II., Papst 698 John, Michael 197, 436, 676–678 Johnson, Lyndon B. 718 Johnston, James P. 588 Jolles, H.M. 434 Jonas, Franz 67, 70–73, 505, 687 Jung, Gernot 281 Jungbluth, Robert 318 Junker, Ermar 441, 442 Jurinac, Sena 28 Kaase, Max 105 Kadmon, Stella 291 Kaelble, Hartmut 274 Kafka, Helene 698 Kainrath, Wilhelm 476 Kaiser, Wolfgang 526–528

Kallina, Anna 690 Kallinger, Adalbert 395 Kallinger, Winfried 395 Karajan, Herbert von 289, 294, 304, 311 Karasek, Franz 713, 722 Karazman-Morawetz, Inge 274 Karmen, Roman 355–357, 365, 388 Karner, Stefan 582, 583 Kartousch, Louise 693 Käs, Ferdinand 17, 18 Kasemir, Gerard 105 Kastner, Fritz 686 Kaufmann, Albert 280, 394, 435, 442, 443 Kautsky, Benedikt 275 Keaton, Buster 319 Kecskes, Robert 200 Kehlmann, Michael 296 Keilbach, Judith 390 Keller, Fritz 105 Kennedy, John F. 355, 690, 710 Keplinger-Eigenschütz, Dora 689 Kerekes, Amália 389 Kerl, Wilhelm 26 Key, Ellen 685, 688 Kiehl, Klaus 199 Kinnl, Robert 526 Kirstein, Nikolaus 445 Kiurina, Berta 690 Klasnic, Waltraud 70 Klaus, Josef 73, 310, 713–715 Klecatsky, Hans Richard 99 Klein, Erich 525 Klein, Gabriele 674 Klein, Karl 214 Klein, Kurt 434 Kleindienst, Julia 204 Kleist, Heinrich von 326 Klemperer, Klemens von 724 Klestil, Thomas 708, 715 Klima, H. 442 Klimt, Ernst 706 Klimt, Gustav 644, 706

745

personenregister Klösch, Christian 526 Klostermann, Therese 685, 690 Klotz, Arnold 205 Kluge, Ulrich 582 Knight, Robert 610 Knoflacher, Hermann 510, 528 Koblicek, Otto 454 Köck, Christian 441, 442 Kocka, Jürgen 274 Koenig, Alma Johanna 694 Kohlbacher, Josef 439, 443, 444 Kokoschka, Oskar 287, 623 Kollmann, Karl 274, 281, 282 Komlosy, Andrea 281 Konetzni, Hilde 28 König, Ilse 103, 106 Kopietz, Harry 59 Koplenig, Johann 22 Köppl, Franz 202 Korab, Karl 640 Koranda, Fred 487 Korinek, Karl 99 Körner, Theodor 22, 23, 25, 29, 64, 66–73, 76, 104, 532, 583, 584, 589, 687 Kortz, Paul 526 Kos, Wolfgang 278, 392, 526, 528, 700 Köster, Thomas 650 Kossygin, Alexei 718 Koszteczky, Gertraud 393 Kotyza, Georg 204, 476, 525 Kracauer, Siegfried 361, 362, 389 Kralicek, Wolfgang 334 Krall, Gustav 434 Krämer, Günter 326 Kramer, Helmut 102 Kramer-Glöckner, Josefine 689 Krammer, Reinhard 674 Kramreiter, Robert 625 Krankl, Hans 668 Krapfenbauer, Robert 632, 633 Kraulitz, Alf 313 Krauss, Clemens 26 Kraus, Karl 287, 306

746

Krausmann, Fridolin 445, 455, 524 Krawina, Josef 643 Kreisky, Bruno 72, 321, 604, 694, 708, 709, 711, 713, 714, 719, 722, 727 Kreisky, Eva 676 Kreisler, Georg 296 Kren, Kurt 377 Kresnik, Johann 324 Kretschmann, Robert 203 Kretschmer, Helmut 277 Kreutzberg, Harald 320 Kreuzer, Bernd 528 Kriechbaumer, Robert 101, 103 Krips, Josef 28 Krisch, Johannes 282 Kronsteiner, Christa 275, 282 Krüger, Arnd 674 Krumböck, Ruth 678 Kubik, Gerhard 77 Kuchenbuch, David 391 Kühnel, Harry 589 Kühnelt, Hans Friedrich 296 Kühschelm, Oliver 587, 592, 674 Kundrus, Birthe 582 Kunke, Hans 687 Kunke, Stefanie 685, 687 Kunschak, Leopold 25, 26, 68, 693 Kurrent, Friedrich 621–623, 649 Küsters, Hans Jürgen 388 Kytir, Josef 439, 441, 442 Lackner, Josef 621, 625, 628 Laker, Freddy 521 Lanc, Erwin 72 Landesmann, Hans 318 Lanfranchi, Pierre 675 Langer, Friedrich 295 Langisch, Karl 676 Langnas, George 37, 38 Langnas, Mignon 11, 12, 15, 20, 36 Langthaler, Ernst 436, 674 Lassacher, Martina 587

Lassbacher, Ernst 526, 527, 528 Laska, Margarete 695 Lassmann, Edith 279 Lauber, Arthur 313 Lauber, Volkmar 102 Lauda, Niki 521 Lauscher, Ernst J. 376 Lauscher, Josef 538 Lauwers, Jan 327 Lebhart, Gustav 436 Lehmann, Lotte 698 Lehner, Gerhard 122, 123, 200 Lehner, Oskar 700 Leichter, Käthe 213, 685, 688 Leischner, Erich 205 Leitner, Helga 438 Leitner, Otto 621 Lemberger, Berta 13 Lemberger, Erich 13 Lesky, Albin 697 Lesky, Erna 685, 697 Lettmayer, Ferdinand 434 Lichem, Walther 714, 723, 730 Lichtblau, Albert 197, 436 Lichtblau, Ernst 613 Lichtenberger, Elfriede 202 Lichtenberger, Elisabeth 198, 200–203, 434, 442–444, 446, 523 Lichtenberger-Fenz, Brigitte 586 Liebermann, Rolf 306 Liebhart, Karin 592 Liegl, Barbara 677 Lima, Carlos 661 Lind, Jenny 688 Linde, Hans 439 Lindenbaum, Hans 526 Lindner Rolf 677 Lindtberg, Leopold 290, 306 Link, Antonie 690 Lintl, Hannes 632, 633, 639, 640, 647 Lipošinović, Luka 661 Lippert, Georg 612, 614, 621, 634, 635

personenregister List, Alois 281 Livi-Bacci, Massimo 442 Lob, Mira 699 Löffler, Roland 201 Löffler, Sigrid 320 Loidolt, Herbert 394 Loos, Adolf 613, 622, 642 Loos, Walter 613 Lortzing, Albert 28 Löw, Martina 360 Löwenherz, Josef 596 Löwenherz, Joseph 24 Löwinger, Cilli 694 Luger, Kurt 281 Lugner, Richard 722 Luhmann, Niklas 346 Lustig, Gerhard 59 Lutz, Hedwig 204, 279 Lutz, Wolfgang 435 Maazel, Lorin 307 Machalicky, Aly 105 Machek, Josef 393 Macher, Didi 328, 330 Mader, Hubert 524, 525 Maderthaner, Franziska 203, 393 Maderthaner, Wolfgang 388 Mahler, Gustav 307, 311 Mahler-Werfel, Alma 692 Mahnkopf, Birgit 199 Mähr, Wilfried 585 Maier, Gunther 199 Maier, Martin 675 Maier-Bruck, Franz 589 Mandl, Hans 303 Mangold, Erni 328 Mann, Thomas 642 Mannová, Elena 592 Mantl, Wolfgang 99 Marchesi, Mathilde 690 Marek, Alfred 393 Marek, Bruno 59, 67, 70–73, 82, 104, 692 Marin, Bernd 205 Marschalek, Manfred 104

Marschik, Matthias 9, 529, 651, 674–679, 733 Martinek, Thomas 589 Martinz, Fritz 640 Matejka, Viktor 13, 22, 26, 287, 290, 293, 306, 600 Mateschitz, Dietrich 672 Matis, Herbert 100, 201, 202, 205 Matsch, Erwin 724 Matsch, Franz 705, 706, 708, 712, 713 Matscher, Franz 582 Mattl, Siegfried 8, 99–101, 120, 199, 204, 355, 388, 390, 733 Mattl-Wurm, Sylvia 592 Matznetter, Walter 203, 204 Mauer, Otto 625 Mauhart, Beppo 677 Mauk, Karl 725, 726 Mauss, Marcel 531 Mauthe, Jörg 318, 566, 590 Mayer, Josef Ernst 625 Mayer, Wolfgang 99, 583 Mayerhofer, Peter 122, 123, 198, 200, 204, 206, 207 Mayr, Hans 68 Mayreder, Rosa 697 Mayrhofer, Leopold 59 Mayrhofer, Petra 702 Mayröcker, Friederike 300, 376 Meder, Iris 528 Meisl, Hugo 652, 657, 659, 675 Meissner-Blau, Freda 695 Meißl, Gerhard 110, 115, 197, 199, 201–206, 279, 281, 370, 386, 387, 588 Meitner, Lise 684, 692 Melchior, Josef 99, 103, 104, 106 Melichar, Peter 436 Melinz, Gerhard 609, 610 Melischek, Gabriele 101 Mende, Julius 105 Mendelssohn, Felix 26 Menuhin, Yehudi 305

Mertl, Monika 333 Merz, Carl 296 Mesch, Michael 282 Mesner, Maria 700, 702 Messner, Maria 701 Meyer, Conny Hannes 296 Michelitsch, Eduard 105 Migschitz, Anna 685, 691 Miklautz, Elfie 203 Miller, Jonathan 325 Mintz, Sidney M. 591, 592 Mirdita, Federik 308 Misak, Helmuth 560 Mitscherlich, Alexander 608 Mitscherlich, Margarethe 608 Mitterer, Felix 300 Mitterwurzer, Wilhelmine 694 Mnouchkine, Ariane 324 Mock, Alois 722, 723 Modl-Toman, Gabriele 690 Molden, Ernst 13 Molden, Fritz 13 Montessori, Maria 685, 688 Monteverdi, Claudio 307 Morscher, Siegbert 105 Moser, Albert 318 Mosser, Alois 205 Moser, Annemarie 678 Moser, James R. 608 Moser, Jonny 197, 434 Moser, Joseph W. 608 Moser, Reinhard 206 Mozart, Wolfgang Amadeus 28, 307, 311, 313, 319 Mrkvicka, Franz 318 Mueller, Wolfgang 723, 725, 727 Mühl, Otto 376 Müller, Guido 388 Müller, Heiner 322 Müller, Heribert 443 Müller, Rudolf 653 Müller, Wolfgang C. 98, 101– 104, 106, 199 Mulley, Klaus-Dieter 278, 280 Müllner, Rudolf 674, 675, 677, 679

747

personenregister Münz, Rainer 438–442 Murban, Marie 685, 696 Murber, Ibolya 438 Musner, Lutz 386–388 Nauheimer, Stefanie 685, 688 Nemec, Birgit 699, 700 Nemeth, Maria 693 Nestroy, Johann 295, 309, 311 Neubauer, Johann 59 Neudecker, Klaus 444 Neugebauer, Wolfgang 675 Neumann, Gerhard 585 Neumann, Petra 589 Neusser, Wilhelm 68 Neversal, Eduard 313 Nick, Rainer 100, 104 Niederhuber, Margit 700 Niederkofler, Heidi 700 Niedermeier, Berta 532 Niedermoser, Otto 612–615 Nielsen, Asta 308 Nierhaus, Irene 278 Niese, Hansi 689 Nitsch, Volker 434 Nittel, Heinz 45, 100 Nixon, Richard 717 Norden, Gilbert 674 Nöstlinger, Christine 318 Nowotny, Ewald 204 Nüll, Eduard van der 645 Oberhuber, Oswald 636 Obiditsch, Alfred 614 Ocwirk, Ernst 657, 658 Öhner, Vrääth 388 Olegnik, Felix 436, 442 Olma, Berta 690 Opll, Ferdinand 197, 198, 390, 391, 702 Orff, Carl 306 Oswald, Ingrid 438 Ottomeyer, Hans 590 Outolny, Ernst 59 Oxaal, Ivar 608

748

Paczensky, Gert v. 584 Palmay, Ilika von 689 Palme, Gerhard 200, 204 Palt, Claudia 102 Papathanassiou, Maria 276 Papier-Paumgartner, Rosa 690 Pasolini, Pier Paolo 322 Pasterk, Ursula 318, 324, 325, 328, 329, 334 Paul, Gerhard 361 Pechar, Hans 354 Pecht, Aladar 686 Peichl, Gustav 621, 623, 635, 636, 648, 649 Pelikan, Jürgen M. 439, 440 Pelikan, Peter 643 Pelinka, Anton 101, 200 Pelinka, Peter 99 Pelli, César 714 Pelto, Gretel H. 588, 591 Pelto, Pertti J. 588, 591 Peltz, Philipp 198 Pemsel, Jutta 724 Penz, Otto 388, 674, 677, 678 Perchinig, Bernhard 437, 438 Pernthaler, Peter 99 Pettermaier, Hans 614 Petznek, Elisabeth 698 Pevny, Wilhelm 300 Peymann, Claus 313 Pfalz, Anton 686 Pfister, Gertrud 674 Pfleger, Ernst 510, 511, 528 Pflegerl, Siegfried 438 Pfoch, Hubert 59 Pichler, Walter 636 Piffl-Perčević, Theodor 310 Piore, Michael J. 200 Pirhofer, Gottfried 204, 390 Pirker, Peter 393 Pisarik, Sonja 650 Pisecky, Franz 525 Pittler, Andreas 100, 104 Plante, Ellen M. 588 Plasser, Fritz 98, 100, 106 Plasonik, Gerhard 678

Platzer, Antonie 696 Pleiner, Horst 726 Plischke, Ernst 613 Podrecca, Boris 648, 649 Pokay, Peter 128, 199–201, 205, 277, 281 Pollak, Michael 608 Pollan, Wolfgang 279 Polo, Marco 686 Polster, Toni 671, 679 Ponocny-Seliger, Elisabeth 9, 681, 733 Ponzer, Josef 104, 106 Porter, Roy 274 Portisch, Hugo 21, 30, 31, 37, 38 Possanner, Gabriele 685, 690 Postranecky, Helene 687 Potetz, Helene 689, 691, 701 Poulenc, Francis 307 Praher, Andreas 677 Pratscher, Kurt 281 Preradović, Paula von 13, 688 Pribersky, Andreas 592 Priebs, Alex 527 Priebs, Axel 496 Prikryl, Rudolf 21, 22, 103, 104 Probst, Otto 72 Prohaska, Herbert 668 Pröll, Annemarie 666 Pröll, Erwin 519 Puccini, Giacomo 28 Purcell, Henry 309 Qualtinger, Helmut 296, 488 Quendler, Albert 391 Raab, Gustav 394 Rabb, Theodore K. 588, 591 Rabinovici, Doron 608 Rachmaninoff, Sergei 309 Rafreider, Friedrich 661 Raiffa, Howard 718, 719 Rainer, Arnulf 376, 629 Rainer, Roland 138, 371, 391, 397, 434, 507, 517, 528, 615,

personenregister 620, 621, 628–630, 634, 636, 637, 640, 647 Rancière, Jacques 362, 388, 390 Ranshofen-Wertheimer, Egon 707 Rao-Renner, Ulrike 333, 334 Raschke, Rudolf 18, 452 Rathkolb, Oliver 199, 436, 525 Rauchenberger, Josef 87, 104, 106, 107, 528, 529 Rauchensteiner, Manfried 99, 198, 523, 726, 728 Rauscher, Isabel 723 Rauscher, Walter 725 Rebhandl, Bert 375 Rebhann, Fritz M. 14, 37 Reder, Christian 477, 525 Reder, Walter 604 Redl, Leopold 202 Reege, Ursula 439 Reeger, Ursula 443, 444 Reger, Max 306 Rehor, Grete 691, 701 Reif, Johann 17 Reinprecht, Christoph 610 Reinthaller, Thomas 640 Reisinger, Karl 459 Reiter, Franz Richard 609 Rekker, Maria 698 Relin, Veit 296 Renaud, Madeleine 309 Rendulić, Lothar 19 Renner, Karl 18, 28, 30, 41, 286, 293, 348, 471, 706 Renner, Ulrike 8, 283, 333, 733 Requat, Franz 640 Resch, Andreas 8, 100, 109, 197–199, 201–205, 274, 731 Resetarits, Willi 314 Richter, Brigitta 281 Riedl, Ferdinand 647 Riedl, Rupert 337 Riegele, Georg 280 Rieger, Eva 700 Rieger, Philipp 275 Riegler, Thomas 727

Riemer, Hans 583, 585 Riess-Passer, Susanne 698 Rigauer, Bero 678 Rigele, Brigitte 205 Rigele, Georg 9, 445, 524, 526–528, 700, 733 Rimet, Jules 654 Rindt, Jochen 666, 678 Ringel, Erwin 393 Riordan, James 674 Ritter, Hellmut 201, 205, 434, 435, 438, 443 Robnik, Drehli 389 Rochemeont, Richard de 588 Rogers, Richard 359, 389 Roland, Ida 692 Rombold, Günther 625 Root, Waverly 588 Rosar, Annie 699 Rosenkranz, Herbert 608 Rosenmayr, Leopold 435, 442 Rössler, Arthur 393 Rosé, Alma 692 Rotberg, Robert I. 588, 591 Roth, Dieter 376 Rothschild, Kurt W. 200 Rott, Adolf 295 Roubicek, Lilli 685, 693 Ruck, Helmut 524, 525 Rühm, Gerhard 296, 297, 299, 323 Rupp, Karla 693 Rásky, Béla 438 Sabel, Charles F. 200 Sachs, Wolfgang 281 Safrian, Hans 275 Sailer, Toni 663 Salcher, Herbert 316 Sallaberger, Günther 59, 71 Sandgruber, Roman 200, 275, 276, 277, 434, 441, 583–585, 588, 589, 592 Sandrock, Adele 690 Sarnitz, August 650 Sassen, Saskia 392

Saßmann, Eduard 523 Satzinger, Franz 164, 198, 201–203, 205, 278 Sauberer, Michael 435, 439 Sauter, Johannes 24 Savary, Jérôme 312, 313 Schaal, Josef 637 Schächtele, Kai 677 Schambeck, Herbert 105 Schärf, Adolf 13, 22, 23 Schaumayer, Maria 65, 691 Schausberger, Franz 103 Schediwy, Robert 650 Scheide, Heinz 640, 641 Schenk von Ried, Wernhard 686 Schidrowitz, Leo 676 Schieder, Peter 92 Schimek, Hanna 388 Schimpff, Georg von 701 Schirach, Baldur von 12, 16 Schirmer, Christine 59 Schläger, Antonie 688 Schlosser, Elfi 308 Schmee, Josef 122, 123, 200 Schmid, Georg 445, 486, 526 Schmidl, Erwin A. 9, 703, 734 Schmidt, Ernst jr. 375, 378, 379, 392 Schmidt, Heide 695 Schmidt-Dengler, Wendelin 295, 333 Schmied, Wieland 650 Schmitz, Richard 497 Schneider, Petra 524 Schneider, Romy 699 Schneiderhan, Wolfgang 305 Scholz, Nina 608 Schönauer, Marianne 699 Schönberg, Arnold 26, 304, 310, 311, 330 Schöner, Josef 534, 582 Schorske, Carl E. 608 Schostakowitsch, Dimitri 309 Schranz, Karl 666, 678 Schrödinger, Erwin 692

749

personenregister Schroeder, Paul W. 724 Schubert, Franz 26, 305 Schubert, Klaus 111, 112, 118, 198, 199, 202, 203 Schuh, Oskar Fritz 303 Schulze-Marmeling, Dietrich 676 Schumann, Robert 307 Schumy, Franz 25 Schuschnigg, Kurt 497 Schussmann, Elisabeth 440 Schuster, Ferdinand 625 Schuster, Franz 611–613, 618 Schuster, Godwin 59 Schütz, Edgar 678 Schwanzer, Karl 629, 631, 632, 640, 650 Schwarz, Franz 441 Schwarz, Rudolf 624, 625, 629, 650 Schwarz, Werner Michael 438 Schweighofer, Anton 621 Schwendter, Rolf 311, 590 Schwimmer, Walter 722 Schwitters, Kurt 296, 297 Seefehlner, Egon 318 Seefried, Irmgard 28, 305 Seemann, Margarete 697 Seethaler, Josef 101 Seidel, Hans 278 Seidl, Hans 200 Seidler, Alma 699 Seipel, Ignaz 704 Seiß, Reinhard 394 Seitz, Karl 68 Seliger, Maren 99 Sellars, Peter 326 Semrau, Eugen 106 Senekowitsch, Helmut 661, 668 Sennett, Richard 383 Sever, Albert 41 Shakespeare, William 295, 319, 326 Siaroff, Alan 105 Sicardsburg, August von 645 Sickinger, Hubert 101, 104, 105

750

Sieder, Reinhard 198, 199, 274, 276, 278–282, 434, 548, 584, 586 Siegrist, Hannes 274, 280 Sigmund, Rudolf 583 Simma, Bruno 603, 610 Skocek, Johann 674, 675, 677, 678 Skopalik, Walter 204 Skopec, Manfred 702 Skrjabin, Alexander 309 Slavik, Felix 26, 49–52, 65, 67, 70–73, 89–91, 104, 106, 200 Slawinski, Ilona 730 Slupetzky, Werner 436, 443 Smejkal, Ingrid 59, 695 Smutny, Josef 561 Sokoll, Bruno 583 Solt, Wolfgang 59 Sommer, Dieter 518 Sommer, Harald 300 Sottopietra, Doris 675 Soyfer, Jura 330 Spalt, Johannes 621, 623 Speiser, Paul 22, 25, 26 Sperber, Manès 318 Spiel, Hilde 316 Spitaler, Georg 674, 676, 677, 678 Spitz, Otto 13 Spitzer, Elisabeth 701 Spörker, Hermann 524, 525 Spree, Reinhard 441 Springer, Reiner 206 Springmann, Heinz 643 Staber, Johann 714 Stadtherr, Angela 699 Stalin, Josef 36 Stanek, Eduard 437, 438 Stankowsky, Jan 206, 207 Stastny, Leopold 665 Staudacher, Peter 526 Steckel, Richard H. 442 Steger, Gerhard 99 Steger-Mauerhofer, Hildegard 274

Stein, Gertrude 296 Steinbach, Josef 444 Steinberg, Heinz Günter 435 Steiner, Gertraud 278 Steiner, Ulrike 9, 611, 734 Steinert, Heinz 198, 199, 274, 278–281, 434 Steinhardt, Karl 25, 26, 68 Steininger, Barbara 98, 102 Steininger, Rolf 591, 725, 728 Steinwender, Kurt 373 Stekl, Hannes 592 Stelzl-Marx, Barbara 582 Stemmer, Wilhelm 59 Stern, Robert 201 Sternheim, Carl 295 Stieber, Gabriele 436 Stiefel, Dieter 198, 205, 275 Stierlin, Helmut 610 Stillfried, Alfons 13, 14, 20 Stillfried, Aly 13 Stimmer, Kurt 100, 103, 204 Stiny, Josef 686 Stöckl, Hans-Jörg 521 Stourzh, Gerald 582, 725 Strabl, Josef 675 Stramm, August 296 Strasser, Wolfgang 724 Strauss, Richard 304, 307, 311 Strauß, Botho 329 Strauß, Johann 28, 311 Strawinsky, Igor 307 Strehler, Giorgio 306 Streible, Dan 390 Strelka, Joseph P. 730 Strnad, Oskar 613, 618, 619, 622 Strohmeyer, Hannes 674 Strom, Kaare 103 Stronach, Frank 672 Strutzenberger, Erwin 585 Sturm, Margit 198, 278, 279 Suppan, Arnold 725 Suppanz, Hannes 279 Sutherland, Joan 307 Suttner, Andreas 393, 394 Suttner, Bertha von 685, 696

personenregister Suttner, Reinhold 59 Swoboda, Hannes 200 Swoboda, Otto 105 Szokoll, Carl 12, 17, 18, 23, 452 Szopo, Peter 203 Tabori, George 324 Tagore, Rabindranath 295 Tambosi, Olivier 325 Tauber, Peter 674 Teller, Katalin 389 Tesarek, Anton 436 Teuteberg, Hans-Jürgen 531, 582, 585, 590 Thalberg, Hans 726 Theiss, Siegfried 612, 613, 721 Thomas, Hans 507 Thurnher, Armin 312, 334 Tichy, Gunther 200 Tietze, Hans 363, 390 Tiller, Adolf 77 Tödtling, Franz 199 Tolbuchin, Fjodor Iwanowitsch 21 Toldt, Alexander 23, 24, 32, 38 Tončić-Sorinj, Lujo 722 Topitsch, Ernst 345 Treffz-Strauß, Henriette 690 Tröscher, Andreas 678, 679 Trostinec, Maly 694 Tschaikowsky, Peter Iljitsch 26, 309 Tschechow, Anton 327 Turrini, Peter 300 Tálos, Emmerich 102, 198, 199, 274, 278–281, 434, 675 Ucakar, Karl 99, 101, 102, 105 Uhl, Ottokar 621, 623, 625, 650 Ulram, Peter A. 98, 100, 101, 106 Unger, Heinz Rudolf 312, 313, 314 Unger, Petra 700 Unser, Günther 724, 726 Urach, Hedy 685, 688

Urbanek, Gerhard 676 Urquhart, Bryan 726 Van der Bellen, Alexander 56 Vas, Oskar 524 Veichtlbauer, Ortrun 525 Venturi, Robert 644 Venus, Theodor 199, 200 Verdroß-Droßberg, Alfred 13, 710 Verosta, Stephan 710 Vetschera, Heinz 729 Vimetal, Helga 164, 198, 201, 202, 203, 205 Vocelka, Karl 104, 278 Vogel, Gerhard 205 Voitl, Helmut 393 Vranitzky, Franz 604 Vyhnalek, Wolfgang 275 Wachberger, Eugen 612 Wachsmann, Konrad 623, 626 Waditschatka, Ute 623 Wagner, Christoph 590 Wagner, Michael 204, 275, 276, 279 Wagner, Otto 506, 512, 612, 617 Wagnleitner, Reinhold 585, 591 Wakounig, Maria 276 Waldheim, Kurt 82, 101, 105, 604, 606, 607, 708, 713 Walter, Bruno 289, 304 Walter, Josef 663, 664 Walter, Rolf 584 Wasa, Carola Prinzessin von 684, 693 Wassermair, Martin 389 Wasner-Peter, Isabella 588, 591 Wawra, Oskar 99, 102 Weber, Anton 26 Weber, Fritz 198, 200 Weber, Günter 526 Weber, Max 345 Weber, Rudolf F. 648 Webern, Anton 311

Wehdorn, Manfred 621 Wehler, Hans-Ulrich 358, 359, 389 Weibel, Peter 327, 381, 393 Weigel, Hans 564, 589 Weigel, Peter 291 Weigl, Andreas 8, 128, 200, 201, 203, 205, 206, 274, 275, 277–281, 378, 392, 397, 434, 436–438, 439–442, 444, 585, 734 Weill, Kurt 306 Weinfeld, Dwoire 698 Weinfeld, Hersch 698 Weinzinger, Brigid 702 Weissenbacher, Gerhard 650 Weisenborn, Günter 295 Weisgram, Wolfgang 674, 675, 677, 678 Weitzmann, Walter 608 Welan, Manfried 99, 103, 104 Welsch, Josefine 693 Welz, Friedrich 623 Welzenbacher, Lois 613, 621 Wentker, Hermann 729 Werner, Margot 609 Wessely, Paula 290, 294 Wiatr, Slawomir 57, 100, 102 Wiegelmann, Günter 590 Wiener, Oswald 296, 297 Wierlache, Alois 585 Wieselberg, Lukas 678 Wiesenthal, Grete 694 Wiesinger, Leopold 59 Wilder-Okladek, Friederike 604, 608, 610 Wildt, Michael 585, 588, 591 Wilhelm Franz Karl, Erzherzog 711 Wimmer, Albert 483 Winckler, Georg 204 Windbrechtinger, Traude 647 Windbrechtinger, Wolfgang 647 Winkler, Norbert 101 Winkler, Thomas 526 Wirth, Maria 700

751

personenregister Wirz, Albert 585 Wismühler, Hanna-Maria 104 Witeschnik-Edlbacher, Grete 214 Wladika, Michael 609 Wögenstein, Lisa 392, 588 Wohlgemuth, Else 695 Wöhnhart, Joseph 647 Wohnout, Helmut 37, 724, 730 Wolf, Hugo 305 Wolfgring, Robert 203, 204 Wolfgruber, Elisabeth 102 Wolfgruber, Gudrun 700

752

Wolfmayr-Schnitzer, Yvonne 206, 207 Wörgötter, Andreas 437 Wörle, Eugen 614–616, 646 Wotruba, Fritz 624 Wüger, Michael 279, 282 Wünschmann, Peter 202 Wyklicky, Helmut 702 Zbonek, Edwin 374, 391 Zech, Paul 326 Zeese, Andreas 650 Zelman, Leon 597, 608

Ziak, Karl 523 Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita 724 Zilk, Helmut 67, 70–74, 95, 149, 318, 320, 321, 324, 327, 491, 646 Zimmerl, Christl 697 Zimmerl, Ulrike 199 Zimmermann, Susan 674 Zischka, Ulrike 590 Zwerenz, Mizzi 688

Schriftenreihe deS forSchungSinStituteS für politiSch-hiStoriSche Studien der dr.-Wilfried -haSlauer-BiBliothek Herausgegeben von robert KriecHbaumer, Hubert Weinberger und Franz scHausberger band 6: gescHicHte der öster-

band 6/5

reicHiscHen bundesländer seit 1945

roland Widder (Hg.)

bisHer erscHienen

Burgenland Vom GrenZland im osten Zum tor in den westen

band 6/1

2000. 613 s. 109 s/W-abb. gb. mit

ernst HaniscH (Hg.)

su | isbn 978-3-205-98786-4

SalzBurg Zwischen Globali sierunG und

band 6/6

Goldhaube

micHael dippelreiter (Hg.)

1997. viii, 780 s. 100 s/W-abb.

niederöSterreich

gb. mit su | isbn 978-3-205-98702-4

land im herZen – land an der GrenZe

band 6/2

2000. 780 s. 39 s/W-abb. gb. mit

Helmut rumpler (Hg.)

su | isbn 978-3-205-98787-1

kärnten Von der deutschen GrenZmark

band 6/7

Zum österreichischen bundes-

alFred ableitinger,

land

dieter a. binder (Hg.)

1998. Xi, 843 s. 28 s/W-abb. gb. mit

Steiermark

su | isbn 978-3-205-98792-5

2002. viii, 736 s. 31 s/W-abb., 35 tab. und graF. gb. mit su

band 6/3

isbn 978-3-205-99217-2

micHael geHler (Hg.) tirol

band 6/10

land im gebirge: zWiscHen tradition

Herbert dacHs (Hg.)

und moderne

der Bund und die länder

1999. 874 s. 107 s/W- und 6 Farb. abb.

2003. 447 s. gb. mit su

auF 4 taF. gb. mit su

isbn 978-3-205-98793-2

isbn 978-3-205-98789-5 band 6/suppl.-bd. band 6/4 Franz matHis, WolFgang Weber (Hg.)

lieBe auf den zWeiten Blick

VorarlBerg

landes- und österreichbewusst-

Zwischen Fussach und Flint,

sein nach 1945

alemannentum und weltoFFenheit

1998. 285 s. gb. mit su

2000. 596 s. 38 Farb. abb., 37 grapH.,

isbn 978-3-205-98878-6

zaHlr. tab. gb. mit su isbn 978-3-205-98790-1 SQ472

robert KriecHbaumer (Hg.)

Schriftenreihe deS forSchungSinStituteS für politiSch-hiStoriSche Studien der dr.-Wilfried -haSlauer-BiBliothek Herausgegeben von robert KriecHbaumer, Hubert Weinberger und Franz scHausberger eine ausWaHl

bd. 12 | robert KriecHbaumer die groSSen erzählungen

bd. 8 | Kurt F. strasser,

der politik

Harald Waitzbauer

politische Kultur und parteien in

üBer die grenzen nach trieSt

Österreich Von der Jahrhundert-

Wanderungen zWischen

Wende bis 1945

Karnischen alpen und

2001. 819 s. gb. mit su

adriatischem meer

isbn 978-3-205-99400-8

1999. 288 s. zaHlr. s/W-abb. isbn 978-3-205-99010-9

bd. 13 | Herbert dacHs, ernst HaniscH, roland Floimair,

bd. 9 | ricHard voitHoFer

Franz scHausberger (Hg.)

drum SchlieSSt euch friSch an

die ära haSlauer

deutSchland an ...

salzburg in den siebziger und

die grossdeutsche VolKspartei in

achtziger Jahren

salzburg 1920–1936

2001. 698 s. 17 s/W-abb., 73 tab., 15 graF.

2000. 488 s. gb. mit su

gb. mit su | isbn 978-3-205-99377-3

isbn 978-3-205-99222-6 bd. 14 | robert KriecHbaumer (Hg.) bd. 10 | micHael scHmolKe (Hg.)

der geSchmack der

der generalintendant

Vergänglichkeit

gerd bachers reden, Vorträge,

Jüdische sommerfrische in

stellungnahmen aus den Jahren

salzburg

1967 bis 1994

2002. 364 s. 47 s/W-abb., 7 graF., 17 tab.

eine ausWaHl

gb. mit su | isbn 978-3-205-99455-8

2000. 403 s. 19 s/W-abb. gb. mit su isbn 978-3-205-99247-9

bd. 15 | osWald panagl,

bd. 11 | Hanns Haas,

Wahlkämpfe

robert HoFFmann,

sprache und politiK

robert KriecHbaumer (Hg.)

robert KriecHbaumer (Hg.)

2002. 224 s. 12 s/W- und 15 Farb. abb.

SalzBurg

br. | isbn 978-3-205-99456-5

städtische lebensWelt(en) seit 1945 2000. 439 s. 25 s/W-abb. gb. mit su

SQ472

isbn 978-3-205-99255-4

Schriftenreihe deS forSchungSinStituteS für politiSch-hiStoriSche Studien der dr.-Wilfried -haSlauer-BiBliothek bd. 16 | robert KriecHbaumer,

bd. 21 | osKar doHle,

Franz scHausberger (Hg.)

nicole slupetzKy

faSt eine inSel der Seligen

arBeiter für den endSieg

handlungsspielräume regionaler

zWangsarbeit im reichsgau

finanz- und WirtschaftspolitiK am

salzburg 1939–1945

ende des 20. Jahrhunderts am

2004. 254 s. 47 s/W-abb. br.

beispiel salzburgs

isbn 978-3-205-77255-2

2002. 168 s. 19 s/W-abb. br. isbn 978-3-205-99476-3

bd. 22 | robert KriecHbaumer die ära kreiSky

bd. 17 | robert KriecHbaumer

Österreich 1970–1983 in der

ein VaterländiScheS BilderBuch

historischen analyse, im urteil der

propaganda, selbstinszenierung

politischen Kontrahenten und in

und ästhetiK der Vaterländischen

KariKaturen Von ironimus

front 1933–1938

2006. Xiii, 553 s. 31 KariKaturen. gb.

2002. 272 s. 2263 s/W-abb. br.

isbn 978-3-205-77262-0

isbn 978-3-205-77011-4 bd. 23 | robert KriecHbaumer (Hg.) bd. 18 | Franz scHausberger (Hg.)

ÖSterreich! und front heil!

engagement und BürgerSinn

aus den aKten des

helmut schreiner zum gedenKen

generalseKretariats der

2002. 471 s. zaHlr. s/W-abb. auF 36 taF.

Vaterländischen front

gb. mit su | isbn 978-3-205-77072-5

innenansicHten eines regimes 2004. 436 s. gb. mit su

bd. 19 | laurenz KriscH

isbn 978-3-205-77324-5

zerSprengt die dollfuSSketten die entWicKlung des national-

bd. 25 | ulriKe engelsberger,

sozialismus in bad gastein bis 1938

robert KriecHbaumer (Hg.)

2003. 272 s. 16 s/W-abb. 156 tab. und

alS der WeSten golden Wurde

graF. gb. mit su

salzburg 1945–1955 in us-

isbn 978-3-205-77129-6

ameriKanischen fotografien 2005. 270 s. 263 s/W-abb. gb. mit su

bd. 20 | osWald panagl, robert KriecHbaumer (Hg.) Stachel Wider den zeitgeiSt politisches Kabarett, flüsterWitz und subVersiVe textsorten

SQ472

2004. 216 s. br. | isbn 978-3-205-77199-9

isbn 978-3-205-77325-2

Schriftenreihe deS forSchungSinStituteS für politiSch-hiStoriSche Studien der dr.-Wilfried -haSlauer-BiBliothek bd. 26 | Franz scHausberger

bd. 31 | Herbert dacHs ,

alle an den galgen!

roland Floimair, Herbert moser,

der politische „taKeoff“ der

Franz scHausberger (Hg.)

„hitlerbeWegung“ bei den

Wolfgang radlegger

salzburger gemeindeWahlen 1931

ein mitgestalter seiner zeit

2005. 278 s. 29 s/W-abb. gb. mit su

2007. 196 s. 32 s/W-abb. gb.

isbn 978-3-205-77340-5

isbn 978-3-205-77590-4

bd. 27 | robert KriecHbaumer (Hg.)

bd. 32 | ricHard voitHoFer

„dieSeS ÖSterreich retten“

politiSche eliten in SalzBurg

protoKolle der christlich-

ein biografisches handbuch

sozialen parteitage der ersten

1918 bis zur gegenWart

republiK

2007. XXiv, 374 s. 24 s/W-abb. gb.

2006. 485 s. gb. mit su

isbn 978-3-205-77680-2

isbn 978-3-205-77378-8 bd. 33 | robert KriecHbaumer bd. 28 | Herbert dacHs (Hg.)

zeitenWende

zWiSchen WettBeWerB

die spÖ-fpÖ-Koalition 1983–1987 in

und konSenS

der historischen analyse, aus der

landtagsWahlKämpfe in Öster-

sicht der politischen aKteure und

reichs bundesländern 1945–1970

in KariKaturen Von ironimus

2006. 469 s. 56 s/W-abb. und zaHlr.

2008. 626 s. 16 KariK. gb.

tab. br. | isbn 978-3-205-77445-7

isbn 978-3-205-77770-0

bd. 29 | cHristian dirninger,

bd. 35 | Franz scHausberger (Hg.)

Jürgen nautz, engelbert tHeurl,

geSchichte und identität

tHeresia tHeurl

festschrift für robert Kriech-

zWiSchen markt und Staat

baumer zum 60. geburtstag

geschichte und perspeKtiVen der

2008. 504 s. gb. mit su

ordnungspolitiK in der zWeiten

isbn 978-3-205-78187-5

republiK 2007. 555 s. zaHlr. tab. und graF. gb.

bd. 36 | manFried raucHensteiner (Hg.)

isbn 978-3-205-77479-2

zWiSchen den BlÖcken

bd. 30 | HeinricH g. neudHart

Österreich

nato, Warschauer paKt und proVinz alS metropole

2010. 817 s. zaHlr. s/W-abb., Kt., tab.

salzburgs aufstieg zur fach-

und graF. gb. mit su

messe-hauptstadt Österreichs

isbn 978-3-205-78469-2

2006. 191 s. 27 s/W-abb. 26 tab. gb.

SQ472

isbn 978-3-205-77508-9

Schriftenreihe deS forSchungSinStituteS für politiSch-hiStoriSche Studien der dr.-Wilfried -haSlauer-BiBliothek bd. 37 | reinHard Krammer,

bd. 41 | Herbert dacHs, cHristian

Franz scHausberger,

dirninger, roland Floimair (Hg.)

cHr istopH KüHberger (Hg.)

üBergänge und Veränderungen

der forSchende Blick

salzburg Vom ende der 1980er

beiträge zur geschichte Öster-

Jahre bis ins neue Jahrtausend

reichs im 20. Jahrhundert

2013. 893 s. 38 s/W-abb. und graF.

2010. 505 s. 3 s/W-abb., zaHlr. tab. und

gb. mit su | isbn 978-3-205-78721-1

graF. gb. mit su isbn 978-3-205-78470-8

bd. 42 | robert KriecHbaumer, peter bussJäger (Hg.)

bd. 38 | ernst bezemeK,

daS feBruarpatent 1861

micHael dippelreiter (Hg.)

zur geschichte und zuKunft der

politiSche eliten in

Österreichischen landtage

niederÖSterreich

2011. 238 s. 7 s/W-abb. gb. mit su

ein biographisches handbuch

isbn 978-3-205-78714-3

1921 bis zur gegenWart 2011. 393 s. 14 s/W-abb. gb. mit su

bd. 43 | robert KriecHbaumer ,

isbn 978-3-205-78586-6

Franz scHausberger (Hg.) die umStrittene Wende

bd. 39 | Hubert stocK

ÖsterreicH 2000–2006

„… nach VorSchlägen der Vater-

2013. 848 s. zaHlr. Farb. und s/W-abb.,

ländiSchen front“

tab. und graF. gb. mit su

die umsetzung des christlichen

isbn 978-3-205-78745-7

ständestaates auf landesebene, am beispiel salzburg

bd. 45 | robert KriecHbaumer

2010. 185 s. 40 s/W-abb., zaHlr. graF.

umStritten und prägend

und tab. br. | isbn 978-3-205-78587-3

Kultur- und Wissenschaftsbauten in der stadt salzburg 1986–2011

bd. 40 | ricHard voitHoFer

2012. 268 s. 64 Farb. abb. gb.

„… dem kaiSer treue und

isbn 978-3-205-78860-7

gehorSam …“ ein biografisches handbuch der

bd. 46 | robert KriecHbaumer

politischen eliten in salzburg

zWiSchen ÖSterreich und

1861 bis 1918

groSSdeutSchland

2011. 195 s. 10 s/W-abb. br.

eine politische geschichte der

isbn 978-3-205-78637-5

salzburger festspiele 1933–1944 2013. 445 s. 70 s/W-abb. und 8 tab. gb.

SQ472

mit su | isbn 978-3-205-78941-3

Ferdinand Opll, peter Csendes (hg.)

Wien. Geschichte einer stadt VOn 1790 bis zur gegenwart

Der dritte und abschließende Band einer auf drei Bände konzipierten Stadtgeschichte beschäftigt sich mit dem Zeitraum von 1790 bis zur Gegenwart. Diese Epoche der Wiener Stadtentwicklung zählt für die gestaltenden Kräfte in der Stadt wie auch für deren Bewohnerinnen und Bewohner zweifellos zu den besonders dramatischen, von vielen regelrechten Brüchen charakterisierten Zeitspannen. Napoleonische Besetzung, die Revolution des Jahres 1848, die konstitutionellen wie die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, das Ende der Stellung als Reichshaupt- und Residenzstadt mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, die schwierige Epoche der Zwischenkriegszeit, die Geschicke Wiens unter der NS-Herrschaft, die Bombenjahre des Zweiten Weltkrieges und dessen Ende wie natürlich auch die bislang noch niemals derart umfassend behandelten Jahre seit 1945 – all das bildet die Zeitfolie, vor der die Darstellung abläuft. 2006. 900 s. 159 s/w- u. Farb.-abb. gb. m. su. 170 x 240 mm. isbn 978-3-205-99268-4

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar

Karl Brunner, Petra Schneider (hg.)

Umwelt Stadt geSchichte deS natur- und leBenSraumeS Wien

Die alte Metropole Wien im Herzen Europas scheint die meisten ihrer drängendsten Umweltprobleme bereits in der Vergangenheit gelöst zu haben. Ist dieser Eindruck zutreffend? Wie sind die Wiener und Wienerinnen im Laufe der Geschichte mit ihrer „Umwelt Stadt“ umgegangen? Auf welche Weise haben sie den einstigen Naturraum zwischen Donau und Wienerwald in eine Stadtlandschaft verwandelt? Welche ihrer Umweltmaßnahmen waren kurzlebig, welche von Dauer und zukunftsweisend? Mit Fragen solcher Art beschäftigen sich die neunzig Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis, die der vorliegende Band zu einer „Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien“ versammelt hat. Wie so oft beim Rückblick auf die Vergangenheit geht es im Grunde darum, die Gegenwart besser verstehen zu lernen und über die Zukunft nachzudenken. 2005. 659 S. 990 S/W- u. farB.-aBB. gB. m. Su. 215 x 280 mm. iSBn 978-3-205-77400-6

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ROL AND BERGER UND FRIEDRICH EHRENDORFER (HG.)

ÖKOSYSTEM WIEN DIE NATURGESCHICHTE EINER STADT WIENER UMWELTSTUDIEN BAND 2

Wien bemüht sich zu Recht, eine „grüne Musterstadt“ zu werden. Von ihren natürlichen Voraussetzungen her ist diese Stadt in einzigartiger Weise begünstigt wie kaum eine andere europäische Metropole. Gelegen am Schnittpunkt mehrerer Großlandschaften, hat sich der Wiener Raum zu einer Drehscheibe von Faunen und Floren aus Süd und Nord, West und Ost entwickelt. Das Hauptanliegen von „Ökosystem Wien - Naturgeschichte einer Stadt“ ist es, die Kräfte und Zusammenhänge anschaulich zu machen, die seit Jahrtausenden zu der ökologischen Sonderstellung dieser Stadt geführt haben. Zugleich soll der Blick geöffnet werden für die unterschiedlichen Landschaften und Ökosysteme, die hier aufeinandertreffen. Zu sehen, was vor den Augen liegt, ist eine in der urbanen Gesellschaft nicht selbstverständliche Fähigkeit. Sie ist heute jedoch notwendiger denn je, wenn wir das einzigartige Naturerbe des Wiener Raumes erhalten wollen. 2010. 731 S. GB. MIT SU. ZAHLR. FARB. ABB. & EINER FALT TAFEL. 216 X 279 MM. ISBN 978-3-205-77420-4

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar