West-Östliche Begegnung: Japans Kultur und Tradition [4. Aufl. Reprint 2018] 9783110844245, 9783110032055

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West-Östliche Begegnung: Japans Kultur und Tradition [4. Aufl. Reprint 2018]
 9783110844245, 9783110032055

Table of contents :
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
INHALTSVERZEICHNIS
Westen und Osten
Geistige Grundlagen ostasiatischer Kultur
Chinesische und japanische Geistigkeit
Japans Geistigkeit und Tradition
Geschichte und Kultur Japans
Wesensbetrachtung der japanischen Kulturschöpfung
»Der Weg« (Dō) als Tradition in der japanischen Kulturschöpfung
Der Weg der Dichtung (Hai-Kai-Dō)
Kosmos als Gegenstand der Malerei
Deutsche Romantik und ostasiatische Dichtung
Buddha, Wahrheit und Welt
Religiöse Welt und japanische Religiosität
Zeittafel

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WEST-ÖSTLICHE

BEGEGNUNG

JUNYU

KITAYAMA

WEST'ÖSTLICHE BEGEGNUNG JAPANS KULTUR UND TRADITION

V I E R T E AUFLAGE

1954

V E R L A G W A L T E R D E G R U Y T E R & CO

BERLIN

Archiv-Nr.

34 60 54 • Gedruckt bei Walter de Gruyter & Co

Berlin W 35, vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp • Printed in Germany

VORWORT ZUR E R S T E N

AUFLAGE

Zum Verständnis Japans und seiner Kultur sind seit einigen Jahrzehnten die verschiedensten Werke geschrieben worden, von Sprachforschungen und Kunstbetrachtungen angefangen bis zu zahlreichen Reisebeschreibungen. Hier kreuzen sich die positiven Leistungen, deren aufklärendes Verdienst von dauerndem Wert sein wird, mit der weniger ernsten Japanliteratur, die oft durch die Übertreibimg des einseitig betrachteten Tatbestandes mit einem Massenbeifall rechnet. Ein Volk wie das japanische, mit einem hohen Staatsund Volksethos, bleibt nicht ohne den Aufbau einer stolzen Kultur. Das Buch hat den Wunsch, den bisher von fremden Händen um Japan gesponnenen Schleier zu lüften und dazu beizutragen, eine innere Brücke zwischen Westen und Osten, insbesondere Deutschland und Japan, zu schlagen. Es will erstens zum Verständnis der japanischen Kultur dem westlichen Leser einen Vergleich zwischen der westlichen und der östlichen Geistes weit geben, zweitens die Stellung der japanischen Kultur in Ostasien ver-

gegenwärtigen, drittens das Abendland in das Wesen der japanischen Tradition und Kultur einführen. Es ist ein Versuch, die inneren Stimmen der japanischen Seele und Geistigkeit in deutscher Sprache unmittelbar widerklingen zu lassen; es ist also keine Übersetzung aus dem Japanischen. Die deutsche Sprache bietet, trotz ihrer historischen Andersartigkeit, kraft ihres hohen geistigen Gehaltes vielleicht die beste Möglichkeit, die Tiefe und die Größe des japanischen Geistes wiederzugeben. Uns, den deutschen und den japanischen Menschen, in deren Herzen die unablässige Sehnsucht nach den höchsten Geistesschöpfungen lebt, ist die Gabe und die Aufgabe zuerteilt, eine dem zwanzigsten Jahrhundert gemäße weltumspannende Begegnung in ethischer und geistiger Beziehung herbeizuführen, die neue Perspektiven für Segen und Gedeihen der kommenden Welt eröffnet. An dieser Stelle erlaubt sich der Verfasser, denjenigen, die ihm bei der Entstehung dieses Werkes mit wertvollen Anregungen und gütigem Rat zur Seite standen, tiefsten Dank auszusprechen. Berlin, im Oktober 1940

Junyu

Kitayama

INHALTSVERZEICHNIS Westen und Osten

1

Geistige Grundlagen ostasiatischer Kultur

. . .

11

Chinesische und japanische Geistigkeit

29

Japans Geistigkeit und Tradition

51

Geschichte und Kultur Japans

63

Wesensbetrachtung

der japanischen

Kultur-

schöpfung

91

»Der Weg« (Dö) als Tradition in der japanischen Kulturschöpfung

117

Der Weg der Dichtung (Hai-Kai-Dö)

133

Kosmos als Gegenstand der Malerei

155

Deutsche Romantik und ostasiatische Dichtung 171 Buddha, Wahrheit und Welt

195

Religiöse Welt und japanische Religiosität . . . .

209

Zeittafel

251

WESTEN UND OSTEN

D

IE HOCHBLÜTE DES MENSCHENLEBENS setzt man allgemein dann an, wenn die Menschen gesunden und duftenden Blumen gleichen. Mut, Strebsamkeit und Energie des Mannes, Anmut, Lebendigkeit und naturhafte Schönheit der Frau gehören zu den Merkmalen der »Hoch-Zeit« des Lebens, wo alles dem Augenblick gehört, der in sich erfüllt ist und immer wieder neu zu wachsen scheint. Für diese Jugendblüte ist die Kindheit die Vorbereitung und das Greisenalter nur wie ein wehmütiger Nachklang. Deshalb bedeutet diese Jugendzeit für fast alle Menschen den Gipfel des Daseins. Heranwachsen und Altern erreicht seine Grenze an der Einmaligkeit alles Zeitbedingten. Daher haßten die Griechen, wie Nietzsche sagt, »das Altwerden mehr als den Tod und wollten sterben, wenn sie fühlten, daß sie anfingen greisenhaft — vernünftig — zu werden«. Ob diese Betrachtung Nietzsches über die Griechen richtig ist oder nicht, steht dahin. Jedenfalls ist die Auffassung, daß die schönste Zeit des Menschen die Jugend sei, im Westen allgemein. Nietzsche zitiert einmal Goethe: »Als Kinder sind wir Sensualisten, als Liebende Idealisten, die in das Gehebte Eigenschaften legen, die eigentlich nicht darin sind. Die Liebe wankt, und ehe wir es glauben, sind wir Skeptiker. Der Rest des Lebens ist gleichgültig,wir lassen es gehen,wie es will,und endigen als Quietisten, wie die indischen Philosophen.« Goethe, der diese Beurteilung des Alters aussprach, entwickelte sich aber selbst nicht in diesen Grenzen. Er ging über das Allgemeine und Menschliche hinaus, und mit zunehmendem Alter steigerte sich auch sein Menschentum. Bei ihm smd Altwerden und Schönsein vereint; die beiden sogenannten Erbfeinde im Dasein waren bei ihm überaus freundliche Nachbarn. Allerdings ist der Begriff der Schönheit des Alters etwas 2

anderes als der landläufige der jugendlichen Schönheit. So öffnet sich bei Goethe das geistige Tor vom Westen zum Osten, insbesondere zu Ostasien. Es ist eine Verfehlung der Zeit, daß wir nicht früh genug anfangen wollen, uns der Zukunft klar bewußt zu werden. Schon im Kindesalter werden die seelischen Keimkräfte durch das Denken in vorgezeichneten Bahnen eingeengt und durch religiöse Vorstellungen belastet. So reifen wir in frühem Wetteifer heran, und es ist eines jeden Stolz, eher als der andere selbständig zu werden. Im Osten jedoch hat man das Alter und das Altwerden, besonders in früheren Zeiten, stets anders angesehen. Der Osten ist von der Idee durchdrungen, daß das zunehmende Alter immer neue Arten der Schönheit in seinem Antlitz trage. Nichts ist in den Augen eines Ostasiaten häßlicher als ein altes Weib, das nur von Haß und Neid erfüllt ist. Nichts Unwürdigeres gibt es für ihn als einen naiven Berufsmenschen, der nur für sein materielles Wohl gesorgt hat, dessen Persönlichkeit aber in ihrer Entwicklung steckengeblieben ist. Was uns heute nottut, ist die Erkenntnis der Notwendigkeit, das Kind Kind sein zu lassen, die Jugend als Jugend zu erleben, und das Alter im Alter zur Vollendung zu fuhren und so jeder Epoche des Lebens eine neue, gesteigerte Bedeutung des Menschwerdens zuzumessen. Ich zitiere nochmals Nietzsche: »Nach hundert Jahren, wenn ich die Zeit nach meinem Maße messen darf, bin ich immer noch nicht alt genug, um jede Hoffnung, jede Geduld verloren zu haben«. Nicht also handelt es sich um verlorene Hoffnung und Liebe, nicht um weltflüchtigen Jenseitsglauben, sondern um eine immer wachsende Hoffnung, stets neu sich vertiefende Liebe und unaufhörlich sich steigernde Lebenszuversicht. Sie beide sollen das Alter eines Menschen erhöhen 3

und bestimmen. Nicht wie eine Woge soll das Leben sein, die in der Jugend gipfelt und dann allmählich ins nichtige bloße Dasein hinabsinkt: Das Leben soll vielmehr eine Steigerung ins Endlose, in die grenzenlose Höhe und bodenlose Tiefe—in die ewige Jugend sein! K'ungfutse sagte einmal: »Mit fünfzehn Jahren fing ich an zu lernen, mit dreißig wurde ich selbständig, mit vierzig irrte ich mich nicht mehr, mit fünfzig war ich mir meines Schicksals bewußt, mit sechzig rührte mich die Meinung der andern nicht mehr, und mit siebzig überschritt ich mit meinen Wünschen nicht mehr das, was das Gesetz mir vorschreibt«. Erst mit siebzig Jahren war er so weit, dem obersten Gesetz des Himmels und des Menschen, dem Tao, gemäß zu sein. Mühsam und hart war der Weg des chinesischen Weisen, bis er zu dem unerschütterlichen Gipfel des Menschseins kam, der ihm die Verbindung zwischen Himmel und Erde wiedergab. Der Verfall der äußeren Lebenskraft ist nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang. Den Menschen ist — genau wie der Natur — die Möglichkeit gegeben, sich im Werden stets dem Wandel des Kosmos, dem »Tao«, anzupassen. Man möchte fast sagen, der Kosmos laufe im Menschen genau so ab wie in der Natur. Nicht nur die Pracht der jungen Blüten macht die Schönheit der Natur aus, sondern auch die alten knorrigen Bäume und die verwitterten Äste des Waldes. So sollte es auch beim Menschen sein. Die Gestalt des Diogenes, dem selbst der mächtige Welteroberer Alexander nichts bedeutete, ist unserem Zeitalter eine etwas komische Figur. Finden wir aber heute einen ähnlichen übermütigen Alten? In China gab es solche Leute jedoch häufig. Der erste Kaiser des Reiches der Mitte machte einst einen Spaziergang in Zivil, um die Verhältnisse des Volkes kennenzulernen. Auf der Land4

Straße traf er einen alten Mann, der sein letztes Brot kaute, sich auf den Bauch schlug und folgendes Lied sang: »Bei Sonnenaufgang beginne ich meine Arbeit, Bei Sonnenuntergang lege ich sie nieder. Ich grabe einen Brunnen und trinke, Ich bebaue das Feld und esse. Was kann mir die Macht des Kaisers schon tun?!« Es ist kein Zufall, daß des Alten Stolz so unerschütterlich ist. Ruhm und Ehre bedeuten der Jugend das Höchste, aber das höchste Ziel eines alten Mannes ist die Sicherheit in sich selbst, die weder durch Reichtum noch durch Macht zu erlangen ist. Goethe hatte verstanden, daß Gott überall und in jedem ist: »Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände . . . Du danke Gott, wenn er Dich preßt, Und dank ihm, wenn er Dich wieder läßt.« Von diesem großen Gott aber, der die Welt von Morgen bis Abend umspannt, sind wir Heutigen verlassen und längst vergessen. In der Auffassung von Natur und Gott besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen abendländischer und ostasiatischer Geistigkeit, zwischen dem christlichen und buddhistisch-taoistischen Denken. Im Westen-baut Gott Türme, Kirchen und Städte, im Osten Berge, Flüsse und Gärten. Gott schuf in der christlichen Welt den Menschen nach seinem Bilde. Als Knecht wurde die Welt dem Menschen überlassen. So stehen sich Mensch und Welt ge5

genüber, Mensch und Natur. Gott ist in den Gotteshäusern von Menschenhand gefangen worden. Diesem Gott dienen die Menschen, und dem Menschen soll die Natur dienen: »eine unerschütterlich erscheinende Hierarchie«. Sie wurde aber gelegentlich gesprengt, wie von Meister Eckhart und vom heiligen Franziskus, indem man statt des Menschenwerks die Welt und Gott in wirklicher Einheit sah. So wurden Brücken geschlagen zwischen Westen und Osten durch die Mystik und später durch die Romantik. Im Osten ist das Göttliche in der Natur. Das Gotteshaus ist der Kosmos, von dem ein Teil als Natur — auf der Erde — und ein Teil im Himmel sichtbar ist. Das Göttliche bewahrt im Osten stets seinen Glanz im Wandel von Gedeihen und Vergehen und verläßt nie seinen Ort in der Zeit. Es ist ein Baum, es ist der Mond, es ist ein Fluß. Sein Gang ist unsichtbar, doch nahe, seine Stimme ist nicht vernehmbar, doch klar und laut, wenn die Vögel singen, wenn die Bäume im Winde flüstern. Gott ist groß wie der Himmel und klein wie ein Wurm, der auf der Erde kriecht. In einem einsamen Tempel auf einem Berggipfel oder in einem tiefen Wald ruht er aus, setzt dann seine Reise fort von Stadt zu Stadt, von der Kirschblüte zum Herbstlaub. Dieses Göttliche ist unheimlich wie die Nacht, geheimnisvoll wie ein Dämon, heiter wie ein hebendes Paar, heimtückisch wie ein Kobold und launisch wie ein Witz aus Bauernmund. Gott ist alles, und alles ist Gott! Diesen Wandel und die tausendfältige Gebärde Gottes zu begreifen, ist Aufgabe des Menschen. Wer sich selbst kennt, sich selbst zu jeder Zeit und an jedem Ort begreift, der ist Gott selbst. Diese klare Erkenntnis ist die buddhistische Erlösimg, die taoistische Mystik und die ostasiatische Kunst. So ist der Weg des Menschen nicht 6

dem Wege Gottes gleich. Gott als Gott zu verstehen und den Menschen als Menschen zu erleben, das ist der Weg: Nicht sich von Gott als Geschöpf, als sein Knecht treiben lassen und sich als ohnmächtig bezeichnen. Der Mensch soll sich selbst erleben, wie Gott sich selbst gestaltet und begreift. Kein Schicksal, keine UnheimHchkeit, kein Jammern und Klagen hat dann in diesem Erlebnis Platz. Gott wächst über den Menschen hinaus, wenn der Mensch vor der Einsamkeit oder vor einem Unbehagen zusammenzuckt und plötzlich seine Welt, den Boden unter seinen Füßen dahinschwinden fühlt. Die Lehre von der absoluten Isolierung des Menschen seit einigen Jahrhunderten ist daher eine Verkennung der Wirklichkeit. Der Mensch findet seinen Himmel dort, wo seinesgleichen ist. Die Gesellschaft, die Familie, bieten ihm eine Garantie seiner Existenz. Wenn er sich dort nicht mehr findet, wenn er seiner selbst unsicher wird, findet er sich wieder in der Kirche, in der Alle an Einen Gott glauben. So glaubt auch er an seinen Gott, der von mehreren seinesgleichen als Gott garantiert ist. Ein solcher Gott kann uns verlassen, kann sterben, ein für allemal verloren gehen. Ein Mythos folgt dem anderen . . . In Ostasien stirbt Gott, wenn der Mensch, wenn die Welt stirbt. Gott vergißt die Welt, wenn der Mensch sich selbst vergißt. Ewige Erinnerung schaukelt noch das alte Reich der Mitte in träumender Wiege, während das unaufhaltbare Fortschreiten der Gegenwart die westliche Welt zu einem ruhelosen Ringen um den Augenblick zwingt. Gott erneuert sich stets im Westen, Gott ist uralt im Osten. Nicht nur um den jungen Gott, sondern auch um das Engelwesen, die geistige Zwischensphäre, dreht sich die Welt im Westen, die nie aufhört zu sein, weil im Westen die immer neue Wie7

derholung im Mittelpunkt steht, um nichts zu verlieren. Die uns oft tödlich erscheinende Langeweile ist dem Engel fremd. Im Westen steht der Engel im Mittelpunkt des Kreises der Ewigkeit, während Gott außerhalb waltet. Im Osten steht der Dämon an dieser Stelle, um dessentwillen die Welt lebt und stirbt. Das ist die Welt der Seelenwanderung, die keine Ruhe, keine tödliche Langeweile kennt. Beide Male ist der Mensch von seinem Ursprung verbannt und findet sich in Verzweiflung, dort, weil der Mensch dem Engel nicht völlig gleichen kann, hier, weil der Mensch der Dämonie des Weltwandels nicht gewachsen ist. Hier sehnen sich die Menschen nach Kurzweil, Zerstreuung, Beschäftigung, dort im Osten nach der Langeweile, der Ruhe, der Ausgeglichenheit. Im Westen sah man im Menschen zu sehr den Engel, und Gott flieht den Menschen. Der Mensch muß nun irgendwie allein fertig zu werden versuchen: Das ist das Schicksal Fausts und Nietzsches. Im Osten dagegen sah man zuviel Dämonisches im Menschen, und der Engel, der als vergessene Natur vollkommen im Schatten stand, tritt jetzt hervor. Die Natur bemächtigt sich des Menschen und saugt ihn in sich auf. Das ist der Weg Laotses und die Geburt der ostasiatischen Kunst. Die Zeit ist der Dämon Europas, ewige Hast und Flüchtigkeit ist das westliche Schicksal. Für Ostasien ist der Raum der Mutterschoß, die Zeit ist wie ein Kind dieser Mutter, der ewigen Ruhe. Das ruhelose Kind ist die Dämonie, die raumgewordene Zeit, nämlich die Erscheinung: Ein Vogel fliegt, eine Blume erblüht, und ein Wasserfall fallt. In dieser Zeit gleichen sich Tod und Engel aus. Das ist die Stille des Nirvänas und die verklärte Ruhe des alten Ostasiaten, der mit gelassenem Lächeln täglich seinen nahen Tod erlebt. Die Zeit, die 8

uns dazu zwingt, in der Leistung alles zu veräußerlichen, ein Werk auf das andere zu häufen, ist für die Ostasiaten nicht die Triebkraft. Blumenhafte Reife ist das Endziel, das ihnen Gipfel des Daseins bedeutet. Deshalb ist jede Kunst für den Ostasiaten ein Produkt der reifenden Zeit. Ein chinesischer Maler und Kunstkritiker, Wang-wei, sagt über die Tuschmalerei: »In zehn Tagen ein Strich für das Wasser, in fünf Tagen ein Punkt für den Stein. So wird das Prinzip der Weltschöpfung durch die Tuschmalerei in Ruhe und Tiefe erreicht.« Nicht die Resonanz, nicht die Ausdehnung, nicht das Prädikat, sondern das schmucklose »Ding an sich« muß erfaßt werden. Eine Musik ohne Ton,, ein Bild ohne Farbe, eine Dichtung ohne Worte, wo Gott sein Antlitz ohne Schleier zeigt, das ist das Gestaltungsprinzip ostasiatischer Kunst und Geistigkeit. Daher die Knappheit aller malerischen Technik und des Stoffes, daher die leere Fläche auf dem Tuschbild, daher das Fehlen der Perspektive, die nur Täuschung ist; denn der Raum an sich, der Kosmos, kennt keine Perspektive. Auch das Grundprinzip des Teekultes liegt in der Ausschaltung des Unwesentlichen, daher beschränkt er sich in seiner Zeremonie auf das unbedingt Notwendige. Der reife Geist zeigt sich nicht in äußerer Verschwendung, sondern ruht in seiner letzten Form dort, wo das unruhig Vergängliche nicht wirksam ist. In Ostasien ist ein geniales Kunstwerk, trotz seiner Einmaligkeit, nur ein Teil, ein Knoten der kosmischen Erscheinungen, ein Widerschein des kosmischen Antlitzes im Menschengeiste. Dieser kosmische Ausdruck ist nicht nur die Sonne, das Gebirge oder ein uferloser Strom, sondern auch ein Steinchen, ein verdorrter Baum, die beide nichts Üppiges an sich tragen. Ein chinesischer Kunsttheoretiker, Jung-Nan-tien, sagt: 9

»Ein Baum, ein Stein muten ebenso unmittelbar an wie ein Felsen von tausend Fuß Höhe und ein Tal von zehntausend Fuß Tiefe.« Und an einer anderen Stelle: »In einer Hand voll Wasser steckt ein unendliches Gewebe, in einem Steinchen verbirgt sich eine unendliche Tiefe.« Im ostasiatischen Weltgefühl hat jedes Ding und Wesen seinen Atem in der Ganzheit des Kosmos. Wenn ein Baumblatt in einen leise murmelnden Bach fällt, wenn ein Dachs im warmen Mondschein schläft, wenn ein Einsiedler in seiner Waldhütte ein eben geborenes Gedicht vor sich hinflüstert, dann zuckt das Herz der ganzen Welt in Wehmut oder Freude zusammen. Jeder Stein ist eins mit dem Gebirge, jeder Tropfen Wasser ist eins mit dem Ozean. Keine Größe, kein Maß, keine Form, selbst nicht Leben und Tod trennen die Dinge und Wesen voneinander. Das Gefühl der kosmischen Weltverwandtschaft ist der durchgängige Grundton des ostasiatischen Geistes. Die höchste Metaphysik des Buddhismus schöpft die ekstatische Unendlichkeit ihres Geistes aus diesem unergründlichen Brunnen ewiger Weltverwandtschaft. »Alle Pflanzen, alle Bäume, alle Länder und Welten verwandeln sich, wenn sie durch erlöste Augen gesehen werden, in die Gestalt Buddhas.« Nicht nur Gott, nicht nur der Heilige, sondern der Mensch, der Teufel, das Tier und selbst ein Baum müssen im Reich der Erlösung wiedergefunden werden. So fließen alle Erscheinungen räum- und zeitlos ineinander. Freude und Schmerz, ein einsamer zerfallener Turm, ein verdorrter Baum, eine ferne Schlacht, eine verlassene Frau am Webstuhl, sie sind die lebenden und sterbenden Atemzüge eines einzigen alten Mannes, des ewigen Gottes, und die Träume der jungen Götter, die in Frühling und Herbst, Sommer und Winter im Schoß der Mutter Natur gewoben werden. 10

GEISTIGE

GRUNDLAGEN

OSTASIATISCHER

KULTUR

I

M HINBLICK AUF BUDDHA UND CHRISTUS sagte man im Westen: Ex Oriente lux. Die Japaner dachten bis vor einigen Jahrzehnten in bezug auf die Wissenschaft: Die Welterneuerung kommt aus dem Westen. Tatsächlich kam vor zweitausend Jahren das Licht vom Osten nach Europa und die wissenschaftliche Aufklärung vor fünfzig Jahren nach Japan. Aber wenn die Menschen über andere Kulturen nachdachten, insbesondere wenn die Europäer über Ostasien sprachen, meinten sie, diese Kultur sei von Europa schon längst überholt. Die Ostasiaten dagegen glaubten, was Europa als Geist und Kultur hinstelle, sei vor mehr als zweitausend Jahren schon von K'ungfutse und Laotse ausgesprochen worden. Auf der anderen Seite gibt es eine genau entgegengesetzte Einstellung, die in Europa alles Östliche als traumhaft und ideal hinstellt und das Eigene als Verderbnis, als Abkehr vom wahren Wesen der Kultur verdammt. In Ostasien dagegen neigte man so oft dazu, alles Europäische höher zu schätzen und großartiger zu finden als das Eigene. Aber der Kern einer Kultur, sowohl der eigenen wie einer fremden, kann nicht von Schwärmerei oder Selbstgefälligkeit her verstanden werden. Die Wahrheit liegt in der Mitte, in klarsehender und ernster Auseinandersetzung der eigenen mit der fremden Kultur. Das Licht ist oben, und seine Strahlen umspannen die Welt im Westen und Osten. Bei einer schöpferischen und für beide Teile positiven Auseinandersetzung kommt es darauf an, nicht nur die Verschiedenheiten als Verschiedenheiten hinzustellen oder die Ähnlichkeiten als Ähnlichkeiten zu betonen, sondern im Verschiedenen die Besonderheit einzelner Kulturen und im Ähnlichen die Allgemeinheit des 12

menschlichen Geistes zu entdecken. Zu diesem Zweck sind in Europa von Hegel bis Spengler verschiedene Maßstäbe der Kulturbetrachtung gegeben worden. Die wesentlichsten und am häufigsten benutzten können in drei Gruppen gegliedert werden. Man sagt: Die westliche Kultur ist eine aktive und die östliche eine passive. Hegel behauptet: Die westliche Kultur ist eine Kultur der Freiheit und die östliche eine Kultur der Knechtschaft. Spengler betont: Die Kultur des Westens ist eine schöpferische und die des Ostens eine tragende. Gegen diese Betrachtungen und allgemeinen Vergleiche ist einzuwenden, daß sie wegen mangelnder Kenntnis der ostasiatischen Kultur und wegen der Oberflächlichkeit ihrer Untersuchungen nicht die Wahrheit getroffen haben und infolgedessen einseitig mit westlichen Augen die Kultur des Ostens ansahen und zu verstehen glaubten. Maßstäbe der Kulturbetrachtung

Wir fragen zunächst, was denn die aktive Eigenschaft einer Kultur ausmacht. Man kann z. B. die Aktivität darin sehen, daß man die Welt durch seinen politischen Willen beherrscht, wie es die Engländer mit großer Geschicklichkeit getan haben, oder daß man seine eigene Kultur über andere Völker verbreitet. Was steht hinter dieser Betrachtung ? Hierzu eine Stelle aus Spenglers »Untergang des Abendlandes«: »Jede Kultur steht in einer tiefsymbolischen und beinahe mystischen Beziehung zum Ausgedehnten, zum Räume, in dem, durch den sie sich verwirklichen will.« (Bd. 1, S. 145.) Nach dieser Betrachtungsweise, die alle Kulturen als raumbedürftig verstanden wissen will, ist eine so verstandene Kultur die einzige Idee und 13

Norm. Alle anderen Kulturen und Völker sind nur Stoffe, die durch sie geformt werden sollen. Der Wille zum Raum ist erster Grundsatz der westlichen Kultur. Der zweite, von Hegel aufgestellte Maßstab sieht in der Freiheit den Ursprung jeder wahren Kulturentfaltung. Freiheit bedeutet danach Selbstbehauptung, da sie im Gegensatz zur Knechtschaft steht, also Betonung des Ich. Zweiter Grundsatz der westlichen Kultur ist die Souveränität des Ich. Was versteht man nun als schöpferische Eigenschaft einer Kultur ? Wir reden nach Spengler von einer schöpferischen Kultur, »wenn eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Beharrenden zustande kommt.« (Bd. 2, S. 144.) Das heißt also, wenn durch eine neue Idee eine Form gefunden und eine neue Gestalt aus dem Chaos des Formlosen gebildet wird. Dieser Schöpfungsidee liegt der Gedanke der Gestaltung eines Begrenzten und Vergänglichen zugrunde. Dritter Grundsatz der westlichen Kultur ist die Gestaltung. Nehmen wir diese drei Grundsätze: den Willen zum Raum, die Souveränität des Ich und die Gestaltung, dann finden wir als durchgängigen Zug der europäschen Kultur die Beherrschung des Raumes durch das souveräne Ich. Nun betrachten wir die von hier aus gesehenen negativen Maßstäbe, die auf die Kulturen des Ostens angewendet werden. Passivität bedeutet dann, daß eine Kultur in der Enge bleibt und keinen Anspruch auf Weltverbreitung erhebt, so wie die indische Kultur auf 14

Indien und die chinesische auf China beschränkt geblieben und nicht zu weltumspannenden Kulturen geworden sind. Hinter diesen Kulturen steht eben der Grundsatz des Verzichts auf den Raum. Knechtschaft bedeutet dann Unfreiheit des Ich, Gebundenheit an etwas, das nicht im eigenen Ich liegt. Hegel sieht in China und auch in Indien einen Despotismus, unter dem der einzelne nicht zur Selbstbehauptung kommen kann. »Der Mensch hat dort nicht die Anschauung seines eigenen, sondern eines ihm durchaus fremden Wesens.« (Philos. d. Geschichte S. 159.) »Deshalb war ihm alles, was zum Geist gehört, freie Sittlichkeit, Moralität, Gemüt, innere Religion, Wissenschaft und eigentliche Kunst entfernt.« (S. 91.) Zweiter Grundsatz der östlichen Kulturen ist danach Verzicht auf das Ich. Zuletzt ist der Begriff der tragenden Kultur von Bedeutung. Wenn eine schöpferische Kultur Gestaltung aus dem Gestaltlosen, Formung aus dem Formlosen ist, so muß eine tragende Kultur eine solche sein, die nichts Gestaltetes und Geformtes hervorbringen will. Dritter Grundzug der östlichen Kultur ist Verzicht auf Gestaltung. Kultur und Natur im Westen Die Rolle des Raums, des Ich und der Gestaltung in der westlichen Kultur macht einen Verzicht hierauf unmöglich. Im westlichen Kulturwillen liegt ein starker Optimismus, Hingabe an den Raum, das Ich und die Gestalt, Hingabe an das große Sein, das allein sinnerfiillend und schöpferisch ist. Die Größe der europäischen Kultur und Zivilisation ist aus dieser innersten Über15

zeugung von der Ewigkeit des Seins und der Autonomie des Ich hervorgegangen. Goethe sagt: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! Das Ewige regt sich fort in allen, Am Sein erhalte dich beglückt! Das Sein ist ewig, denn Gesetze Bewahren die lebendigen Schätze, Aus welchen sich das All geschmückt. Sofort nun wende dich nach Innen, Das Zentrum findest du da drinnen, Woran kein Edler zweifeln mag.« (Vermächtnis) Wir können aus dieser grundsätzlichen Überlegung heraus die Kultur des Westens eine Raumkultur, Ichkultur, Seinskultur nennen. Bis jetzt sah man in Europa die ostasiatische Kultur von der westlichen Seinskultur aus und übertrug ohne weiteres ihre Maßstäbe auf Ostasien. Nun möchte ich die Eigenschaften der ostasiatischen Kultur nicht nur von dieser Seite, sondern von einem vergleichenden Standort aus beleuchten. Warum verzichtet Ostasien auf den Raum, das Ich und die Gestalt ? Diese Frage trifft den Kernpunkt der religiösen Grundlagen der ostasiatischen Kultur und Kunst. In Ostasien verzichtete man auf den Raum, weil er dem Menschen Ewigkeit vortäuscht, weil man im Raumgefühl leicht geneigt ist, sich diesem Ewigkeitsideal hinzugeben. Hier kann man die Naturvorstellung Hölderlins heranziehen: »Ideal wird, was Natur war«. (Hyperion.) Ein tiefer Abgrund liegt zwischen dem Schicksal des Menschen und der höchsten Idealisierung der Natur, ihrer Verräumlichung. »Entweder ist er ein armer Mensch, 16

daß er geboren ist für nichts, daß er liebt für nichts, daß er glaubt an nichts, und mählich übergeht ins Nichts.« (Hyperion.) Oder er ist ein abgeklärter Heiliger, der seine Versöhnung mit der ewigen Natur im Tod, im Sprung in die Flammen des Ätna findet. Eine irdische, erdnahe Versöhnung zwischen dem endlichen, zeitlichen Schicksal des Menschen und der ewigen Natur im Sinne Hölderlins scheint also nicht möglich. Auch die Naturwissenschaft des Westens sieht das beständige Sein im Raum. Für sie ist die Natur teilbar und analysierbar, und die Forscher sind bemüht, in ihr ewig seiende Gesetze zu finden. Wo bleibt der Mensch gegenüber dem ewigen Sein der Natur ? Finden wir das Schicksal des Menschen in der Natur? Ihm gilt Hyperions Schicksalslied: »Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrlang ins Ungewisse hinab.« Natur und Kultur im Osten Im Gegensatz zu dieser Raumvorstellung geht man in Ostasien von der Zeit aus und verzichtet auf den Raum, auf das Beständige. Dann ist das Ewige nicht faßbar, nirgends erforschbar. Dann gibt es weder Ewiges noch Vergängliches, und es gibt keine Ewigkeit im Gegensatz zur Endlichkeit. Wenn man sucht, findet man das Ewige im Wandel. Der Wandel ist vergänglich und 2

K i t a y a m a , Begegnung

17

ewig. Laotse nennt diesen Urgrund der Welt und des menschlichen Schicksals das Tao, den Weg. Er sagt: »Der Weg, der gezeigt werden kann, ist nicht der ewige Weg. Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name. Namenlosigkeit ist der Anfang des Himmels und der Erde. Der Name ist die Mutter aller Dinge.« (Tao-te-king) Aus dem letzten Satz ergibt sich, daß das Wesen oder der Träger aller Erscheinungen das namengebende Sein ist. Der einzelne trägt es als etwas im Wandel Endliches und Vergängliches mit sich. Der Logos ist die Mutter aller Dinge. Aber der ewige Weg, der ewige Name sind nicht im Menschen, der den Weg geht und die Dinge nennt. Sie sind nur dort anzutreffen, wo der Weg aufhört, wo der Name verstummt, wo kein faßbares Sein im Raum ist: im Wandel. Was ist das Ich, das in Europa als Substanz und Quelle aller Mächte gilt und in Ostasien einfach zurückgestellt wird ? Das »Ich« ist im Westen ein Zauberwort von magischer Kraft. Man lebt um seinetwillen und stirbt um seinetwillen. Der deutsche Geist gipfelt in der höchsten Steigerung des Ich bei Fichte und Hegel. Warum ist das Ich im Westen so wichtig und grundlegend? Goethe antwortet: »Weil man das Zentrum der Welt im Ich findet.« Wenn man fragt: »Was ist denn das Ich?«, dann bekommt man die Antwort, daß es in der Freiheit, im Unterschied zum Tier zu suchen oder im Gehorsam gegen Gott zu finden sei. Beide Antworten kommen von gänzlich verschiedenen Seiten. Freiheit stammt aus der Überzeugung von der Macht des Gei18

stes, Gehorsam aus der Ohnmacht des Ich vor Gott. Beide Ichbetrachtungen prallen in der Geistesgeschichte Europas aufeinander. Man fand die Lösung nur in der einen oder nur in der anderen. Eine Versöhnung beider hat noch nicht stattgefunden. Man ringt im Westen heute noch um den Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht des Ich. Dem auf das Ich bauenden Westen liegt die Vorstellung vom Zentrum der Welt oder vom Geschöpf des Schöpfers zugrunde. Beide Male hängt es von der einseitig räumlichen Fixierung des Kosmos ab, daß das Ich in einen unlösbaren Widerspruch zu ihm gerät. Kant sah das im Begriff der Antinomie, Hölderlin ging daran zugrunde. Goethe dagegen fand einen versöhnenden Ausgleich. Hegels Versöhnungsversuch mit Hilfe der Dialektik spaltete sich dann in den groben Materialismus eines Karl Marx und den Nihilismus Nietzsches. In Ostasien ist der Mensch, das Ich, nicht Zentrum der Welt. Er ist auch nicht ein von Gott vor allen anderen Kreaturen bevorzugtes Geschöpf, sondern, wie alles andere, Träger des Wandels. Das Schicksal der Welt ist auch sein Schicksal. Er steht nicht abgesondert von der Natur, in der das Gesetz des Wandels waltet. Innerstes Wesen des Menschen ist: sich wandeln. Er ist weder ewig, wie der Raum, noch vergänglich, wie die Zeit. Deshalb ist die Freiheit des Ich kein Problem. Sie wird erst dann zum Gegenstand des Nachdenkens, wenn die Kraft fehlt, den Wandel, wie die Natur in der Zeit reift, zu begreifen. Die Reife der Natur liegt nicht in der Jugend, die alle Kräfte der Selbstbehauptung am stärksten zur Entfaltung bringt und vom Tode am weitesten entfernt ist. Die »ewige Jugend« etwa Hölderlins, ist Ostasien fremd. Dort liegt der Höhepunkt des Daseins in der 2«

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Reife, die den Schatten des Todes nicht mehr mit sich trägt, sondern über ihn hinausgewachsen ist. Die Jugend wird von der Gegenwart erfüllt und von der Hoffnung auf die Zukunft getragen. Die Reife dagegen wird aus der Erinnerung begriffen. Jede Gegenwart ist für den Osten Überwindung des Vergangenen, worin Tod und Leben zugleich begriffen werden. Dem Standpunkt, der die Jugend verewigen möchte, sind Vergangenheit und Tod fremd. Deshalb ist man in Europa allgemein der Ansicht, in der Jugend gehe das Leben aufwärts und nachher abwärts. Man will Erfolg sehen, Leistungen vollbringen und einen möglichst großen Wirkungsraum unter den Menschen gewinnen. Nachher wird man kraftlos und welk, verdorrt und schwindet dahin: Das ist der Tod im Westen. In Ostasien will jeder reifen bis zu seinem irdischen Tod. Ein älterer Mensch, der trotz langer Erfahrimg die Reife nicht erreicht hat und dem Leben verbittert und gehässig gegenübersteht, ist Gegenstand der Verachtung und des allgemeinen Spottes. Der Mensch soll reifen wie die Natur. Zwischen ihm und der Natur besteht nur der Unterschied, daß die Natur das kosmische Gesetz des Wandels besser begreift als der Mensch. Kein Baum versucht sich gegen die Vergänglichkeit zu wehren, er steht unmittelbar im Wandel der Natur. Der vielgepriesene Unterschied zwischen Mensch und Natur in bezug auf das Bewußtsein ist nicht entscheidend. Durch das Bewußtsein wird der Mensch seinem Ursprung in der Natur entfremdet, und der Weg aller Schicksale, der Wandel, wird ihm unbegreifbar. Es stellt eine Mauer dar zwischen Mensch und Natur und zwischen den Menschen untereinander. Das Erlebnis des kosmischen Wandels ist nicht durch das Bewußtsein möglich, sondern nur durch tiefere Einsicht, die 20

durch alle äußeren Unterscheidungen hindurch in das Wesen der Dinge dringt. Dieses Vermögen des tieferen Sehens ist Grundlage und Forderung ostasiatischer Weltanschauung. Die buddhistische Erlösung und die kungfutseanische Moral entspringen dieser Quelle kosmischer Einsicht. K'ungfutse sagt: »Der Weise liebt das Wasser, Der Edle liebt den Berg. Der Weise ist beweglich, Der Edle ist still. Der Weise genießt, Der Edle lebt lang.« (Lun-yü) Der Edle und der Weise sind die beiden Grundtypen des kungfutseanischen Menschen. Die Vereinigung beider Eigenschaften in einem Menschen, dem Heiligen, schwebt als Ideal vor. Für K'ungfutse gehört der, dem diese Einsicht fehlt, der sich in seinen Trieben und in seinem Verstand an das kleine Ich klammert, zum Pöbel. Er sagt: »Für den Edlen gibt es drei Arten von Ehrfurcht: Ehrfurcht vor dem Wandel, Ehrfurcht vor den großen Kündern der Wahrheit und Ehrfurcht vor den Worten der Heiligen.« »Der Pöbel erkennt den Wandel nicht, deshalb empfindet er vor nichts Ehrfurcht. Er wird leicht großen Menschen gegenüber aufdringlich und vertraulich. Er weiß nicht die Worte der Heiligen zu schätzen.« (Lunyü.) An einer anderen Stelle heißt es: »Die Frauen und der Pöbel sind schwer erziehbar; wenn man sie in die Nähe kommen läßt, werden sie übermütig, wenn man sie von sich fern hält, werden sie gehässig-!. (Lun-yü.) Über den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Edlen und dem Pöbel sagt K'ungfutse: »Der Edle ver21

langt nur von sich selbst, der Pöbel nur von den anderen.« (Lun-yü.) Tsengtse, ein Schüler K'ungfutses sagt: »Ich denke dreimal am Tag über mich selbst nach, ob meine Güte anderen gegenüber wirklich von Herzen kommt, ob meine Freundschaft wirklich aus der Treue stammt, und ob ich die Belehrung durch andere wirklich erlebe.« Der Mensch kann zum Edlen reifen, wenn er nachdenkt über sich selbst und sein Verhältnis zu anderen Menschen und den großen Wegweisern der Vergangenheit und Gegenwart. Durch diese Selbstbetrachtung stellt er sich in den ewigen Wandel der Gerechtigkeit des Lebens und Todes. Ein Mensch ohne Selbstbetrachtung bleibt in der natürlichen Reife zurück, bleibt Pöbel. In diesem Sinne will der ostasiatische Mensch nicht den anderen und das andere im Raum beherrschen, er will sich nicht ausdehnen und räumlich behaupten, sondern zunächst in sich selbst zurückkehren. Er muß den Kosmos selbst begreifen und in sich finden. Ein solcher Kosmos ist weder ein ewiges und unveränderliches Sein noch ein von der Wirklichkeit losgelöstes Ideal. Er ist die reifende Zeit, die weder Anfang noch Ende kennt. Die Welt ist nicht für den Menschen geschaffen, sondern kommt aus der Ewigkeit und geht in die Ewigkeit zurück. Im gleichen Augenblick kommen Leben und Tod, Ich und Du, Dieses und Jenes in gleicher Tiefe zur Geltung. Ehrfurcht und Bescheidenheit im höchsten Sinne sind im buddhistischen Erlebnis aufs stärkste verkörpert. In der Vimalaklrti-sütra wird erzählt, daß Vimalakirti eines Tages erkrankte und Buddha ihn besuchte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Er fragte ihn, warum er sich krank fühle. Vimalakirti antwortete darauf: »Wenn die Menschen krank sind, ist auch der 22

Bodhisattva krank, und wenn die Krankheit des Menschen geheilt ist, ist auch der Bodhisattva geheilt. Die Krankheit des Bodhisattva entsteht aus dem großen Nächstengefühl.« Der japanische Dichter Issa sagt dasselbe in einem siebzehnsilbigen Kurzgedicht: »Komm und spiel mit mir, Du armer verwaister Sperling.« Die Menschen, die sich nur vor Gott gleich fühlen, zerfallen zu Monaden, wenn sie Gott nicht mehr vor sich haben. Aber dem Menschen, der die Einheit aller in sich fühlt, der alles in einem, im Hier und Jetzt verbunden fühlt, dem ist alles, was außer ihm und in ihm zu sein scheint, die gleiche göttliche Schöpfung. Die Liebe zum Nächsten ist nicht Mitleid, sondern Ehrfurcht vor der Andersartigkeit der Schöpfung. Das Ich ist nicht Zentrum der Schöpfung, sondern ist gemeinsam mit allem andern im Wandel begriffen. Bescheidenheit und Ehrfurcht vor der Schöpfung sind stets Qualitäten eines großen Genius. Goethe sagt: »Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte, das begreifen aber viele sehr gute Menschen nicht und tappen mit ihren Träumen von Originalität ein halbes Leben im Dunkel.« (Gespräche mit Eckermann.) Dieses Weltgefühl ist in Ostasien nicht eine Erweiterung des monistischen Ichzentrums zum Universum, sondern jeder erlebt dort in jedem Augenblick jedes Ding im kosmischen Zusammenhang, sei es ein Vogel, sei es ein Stein, sei es ein Mensch. Das Heitere und das Schmerzliche der Weltschöpfung wird durch das kosmische Urgefiihl zum Gedeihen und Vergehen, zum Wandel. Aus diesem Erlebnis entsteht in Ostasien die Auffassung der Zeit, die nicht in eine sichtbare Geschichte, in ein 23

Nacheinander der Geschehnisse übergeht. Die Zeit ist vielmehr immer der erlebte Augenblick, in dem Leben und Tod gleichzeitig erfaßt werden. Deshalb kennt die Zeit keine Versöhnung mit dem Sein und keine Erfüllung in fester Gestalt. Das Wesen der Zeit ist ewiger Wechsel, vom Menschen nur im Augenblick erfaßbar, wie er unmittelbar aus dem kosmischen Weltgrund, dem Tien oder dem Tao (dem Himmel oder dem Weg), oder aus dem unaussprechbaren und unbegreifbaren Nichts hervorquillt. Diese ewige Gegenwart ist nicht Ruhe, sondern höchste Spannung aller Gegensätze, des Lebens und Todes, des Werdens und Vergehens. Diese Spannung ist der Grundcharakter des ewigen Augenblicks im ostasiatischen Geist. Das Leben ist ewig, und der Tod ist ewig. Daher die ständige Bereitschaft des edlen Ostasiaten zum Tode, sei er Dichter oder Krieger. Der ewige Augenblick, in dem das kosmische Prinzip des Wandels lebendig ist, ist nicht erfaßbar, und kann nicht durch Wort oder Gestalt versinnbildlicht werden. Deshalb sagt Laotse: »Ich weiß seinen Namen nicht: Es ist still und einsam, selbständig und unveränderlich, überall und ungefährlich. Ich nenne es das Tao, den Weg.« Wenn man den Wandel der Zeit festhalten will, kann man sich nur der negativen Seite, der Form oder der Gestalt, bedienen. Das hat auch Goethe erkannt. In den Gesprächen mit Eckermann sagt er: »Die Natur ergibt sich nicht jedem, sie erweist sich vielmehr wie ein neckisches Mädchen, das durch tausend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu fassen und zu besitzen glauben, ist es unseren Armen entschlüpft.« Die Natur in diesem Sinne ist nur erfaßbar, wenn man sie nicht festhalten will: Die buddhistische Lehre des mittleren Weges geht hierauf zurück. Sie sagt: »Die Wahr24

heit liegt in der Mitte. Sie ist weder das Sein noch das Nichts, weder ein Entstehendes noch ein Vergehendes, weder ein Kommendes noch ein Gehendes, weder ein Einziges noch ein Vielfältiges, weder ein Ewiges noch ein Vergängliches.« Deshalb sagt auch ein anderer buddhistischer Spruch: »Leben und Tod sind Nirväna, die Verderbnis der Welt ist die Erlösung.« Was besagen diese verschiedenen Aussprüche im Hinblick auf die Wirklichkeit, auf die ewige Gegenwart? Sie sind nur Bezeichnungen des nicht faßbaren Augenblicks. Weil das Leben des Menschen im Wandel begriffen ist, wird er schwindlig, wenn er es als ein Festes, Unvergängliches erfassen will. Wenn dieser ewige Augenblick aber als Triebkraft menschlicher Kultur zur Gestaltung kommt, so erscheint er nur als Grenze aller Formen, als Übergang vom Sein zum Nichts, in dem die Spannung des Wandels in der Gegenwart zum Ausdruck kommt. Das ist der Schöpfungsgedanke der ostasiatischen Kultur, der nicht den Raum beherrschen will und nicht unbedingt der Form bedarf und der das Sein nicht gestaltmäßig erfaßt. Die ostasiatische Kunst ist sparsam mit dem Sein und mit dem Raum, aber gleichzeitig erhebt sie Anspruch auf Erfassung der kosmischen Ganzheit. Deshalb kann man sagen, daß die Kultur Ostasiens keine Raumkultur, sondern eine Zeitkultur, keine Seinskultur, sondern eine Nichtseinskultur ist. In diesem Sinne sind die Maßstäbe Aktivität, Freiheit und Gestaltung für die Kultur und Kunst Ostasiens hinfällig geworden. Ihre Ausdrucksformen sind die die Linie betonende chinesische Malerei, die wortkarge japanische Dichtung, die aufs höchste gespannte mimische Bewegung des japanischen Nö-Spieles, die Einfachheit und Strenge des japanischen Teekultes und die Wieder25

gäbe des Kosmos in der Garten- und Blumenkunst. Nicht schwere Ölfarbe, sondern hauchartige Tusche, nicht plastische Komposition, sondern schwindende Linien, nicht gefüllte Fläche, sondern weißer Grund aus Seide oder Papier, sind die Elemente der Malerei Ostasiens. Nicht die Landschaft als Hintergrund für menschliche Gestalten, sondern die Natur, in der der Mensch nur ein Glied ist, ist Gegenstand dieser Kunst. Nicht der schwingende Klang tausendfältiger Worte, sondern der Spruch von siebzehn Silben ist das Formideal der japanischen Dichtung. Das kosmische Gesetz des Weltwandels ist erlebbar, aber nicht aussagbar und formbar. Darum sagt der große japanische Dichter Bashö: »Wenn ich spreche, Werden meine Lippen Kalt wie der Herbstwind.« Diese strenge Forderung nach Sparsamkeit im Ausdruck gilt nicht nur für die Kunst, sondern auch für den gesellschaftlichen Umgang. Das vielbesprochene Lächeln des Ostasiaten ist Ausdruck des innerlich erfüllten Wunsches, den anderen ohne viel Worte verstehen zu wollen. Die mystische Zensekte des Buddhismus geht auf folgende Sage zurück: Als Buddha bei einer Predigt über die Wahrheit eine Lotosblüte in die Hand nahm und damit spielte, verstand keiner der Vertrauten dieses Verhalten — nur Kääyapa. Käsyapa redete aber nicht darüber, sondern lächelte nur. Die Natur ist nicht verschwenderisch, wie auch Nietzsche sagt, sondern äußerst sparsam. Nur in der Sparsamkeit kann das Leben der Natur in seiner ganzen Fülle begriffen werden. Sie läßt sich nicht durch begrenzte und feste Worte bezwingen. Deshalb sagt Laotse: »Das Verhalten des einzel26

nen ist vergänglich: hier vorwärts gehen, dort zurück weichen, hier Wärme, dort Kälte zeigen, hier Kraft anwenden, dort schwach sein, hier erregend wirken, dort Beruhigung bringen.« (Tao-te-king.) Kälte und Wärme, Kraft und Schwäche, Erregung und Ruhe sind alles einseitige Formen. Man muß den Bück auf das Ganze richten und im ewigen Augenblick die Harmonie des Wandels entdecken. Wer sich als Glied des Kosmos erkennen will, muß die Ewigkeit erleben, in der sich der Kosmos in Wärme und Kälte, Erregung und Ruhe, Streit und Harmonie offenbart. Aus dieser Überzeugung der Identität des einzelnen mit dem All im ewigen Augenblick quillt das Weltgefühl und das Empfinden der Totalität. Jeder Baum, jedes Gras, jedes Land und jede Erde verwandelt sich dann in das kosmische Reich. In jeder Blume, jedem Tier leuchtet das ewige Licht. Deshalb sieht die Tuschmalerei in jedem Stein den Berg und in jedem Wassertropfen das Meer. Nur durch dieses Raumgefühl, in dem die Zeit der Mutterschoß alles Wandelbaren ist, wird die Welt und die Kultur Ostasiens erhalten. Ein kurzes Gedicht des japanischen Lyrikers Kijö spricht dieses Weltgefühl besonders deutlich aus: »An einem jungen Frühlingstag saß auf einem Fels eine rote Libelle und biß in ihn hinein.« Durch diese Weltanschauung sieht man in Ostasien die ewige Harmonie im weltlichen Streit, die Menschen in der Natur. Die Natur wurde nie ein Ideal, das von der natürlichen Wirklichkeit abgezogen ist, sondern sie war und ist immer erlebtes Ideal! Sie wurde auch nicht ein Gegenstück zur Kultur, sondern Kultur ist ein Teil der Natur. Idee und Wirklichkeit trennten sich nicht. Der 27

Mensch löste sich nicht vom Kosmos, geschweige von seiner weltlichen Gemeinschaft, von Staat und Volk. Die Natur brauchte weder durch die Kirche noch durch die Naturwissenschaft ersetzt zu werden. Gott starb nie in Ostasien, denn er ist dort unmittelbar gegenwärtig. Wer sich von Gott loslöst, wird sterben müssen: Wer die Welt nur von der Seite des Erfaßbaren sieht, fallt in Verzweiflung. Die Welt ist nicht außerhalb des Menschen, sondern in ihm. Goethe hatte diese Natur gefunden. Er sah im Menschen den Mikrokosmos. Aber was er gefunden hatte, verriet man wieder durch die zersetzenden Naturwissenschaften. Der westliche Mensch ist durch Analyse und Zerspaltung des Seins an den Rand des Unterganges gekommen. Aber er träumt weiter davon, das Geheimnis der Welt und des Schicksals mit Apparaten und Gesetzen erschließen zu können. Den gestorbenen Gott wieder lebendig zu sehen, die verlorene Natur wieder zu erkennen und so alles wieder unmittelbar zu erleben, ist eine Forderung für die Wiederauferstehung europäischer Kultur. Das Sein darf nicht erstarren, das einzelne Ich darf sich nicht an sich selbst festklammern. Sonst entstünde ein Spießbürgertum, und der Fatalismus Spenglers könnte recht behalten. Im Sinne Goethes und K'ungfutses möchte ich sagen: Zuerst wende man sich nach innen, denke nach über sich selbst und erfasse, daß man nur als Teil des Ganzen sein wahres Zentrum, seinen Weg finden kann. Sonst könnte man zum Pöbel werden, der nur etwas von anderen, nichts aber von sich selbst fordert. Und der Pöbel ist nie Träger eines geschlossenen Staates und einer lebendigen Kultur gewesen.

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C H I N E S I S C H E U N D JAPANISCHE GEISTIGKEIT

Chinesische

E

Geistigkeit

INES DER GROSSEN

GEISTESGÜTER,

die die Menschheit als Zeugnis ihres Ringens um das Ewige im Menschen schuf, ist die Kultur Chinas. Ihre wirkliche Bedeutung ist im Ausland—außer in Japan — noch fast unbekannt. Selten ist es im Westen gelungen, in die Tiefe des chinesischen Geistesgrundes zu tauchen und das reine Quellwasser des schöpferischen chinesischen Geistes zu kosten. Selbst große Geister wie Hegel und Herder waren nicht imstande — wahrscheinlich aus Mangel an Materialkenntnis —, die in China errungene Entdeckung der Brücke zwischen Mensch und Gott unverfälscht zu erfassen. Man sah bisher entweder den Taumel der großen Masse des chinesischen Volkes oder die Philosophen Laotse und K'ungfutse, entweder das nackte Dasein im Massenvolk oder die spekulativen Spitzenleistungen. Die wirklich lebendige Mentalität des Chinesen, die im Volke schlummert und in der Poesie und Malerei unmittelbar als Blüte auftrat, war dem Westen kaum zugänglich. Der Grund dafür ist klar und einfach. Man muß nämlich als Fremder zumindest die chinesische Sprache vollständig beherrschen und ferner — und das ist noch entscheidender — die naturmystische Anlage besitzen, um die Grundstimmung eines literarischen oder philosophischen Werkes zu ahnen. Es ist sehr billig, der Geschichte eines Volkes und seiner geistigen Bedeutung einen, gemeinten Wert beizulegen allein auf Grund des abstrakten Materials irgendeines philosophischen Lehrgebäudes. Da Hegel wie auch Herder fast nur Laotse und K'ungfutse kannten, fehlte ihnen die Kenntnis 30 des geistigen Grundes, der als Strom der chinesischen Kulturschöpfung bald in

dichterischer Phantasie sprühte, bald als mystische Quelle unter der Oberfläche der historischen Erscheinungen quoll. Es wird hier versucht, zunächst die landläufigen Meinungen über die chinesischen Philosophen Laotse und K'ungfutse zu beseitigen und das eigentliche Gesicht der chinesischen Geistigkeit zu entschleiern, um damit einen direkten Weg zum Verständnis der chinesischen Kultur zu bahnen. Das eine Weltdrama, das sich auf der östlichen Hälfte der Erde abspielte, war die Geschichte des chinesischen Kontinents. Die politischen Haupthandlungen waren die Kämpfe zwischen dem chinesischen Stammvolk, das »Han« hieß, und den sogenannten Barbarenvölkern, den Mongolen im Nordwesten und den Tungusen im Norden. Die geistigen Bewegungen äußerten sich in den Auseinandersetzungen zwischen dem Han-Volk und den Barbarenvölkern einerseits und den Kulturvölkern im Westen und Süden, Osteuropa und Indien anderseits. Im Laufe von Jahrtausenden ist es dem Han-Volk gelungen, die älteste und höchste Kultur Ostasiens zu schaffen. Im 8. und 9. Jahrhundert stand China sogar an der Spitze der Weltkultur. Abgesehen von der vorgeschichtlichen Überlieferung ist der Beginn der chinesischen Kulturgeschichte um 1000 v. Chr. Die mystische Philosophie Laotses erschien bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. Ihr folgte die Lehre K'ungfutses im 6. Jahrhundert v. Chr. Die erste Hochkultur des HanVolkes welkte im 2. Jahrhundert n. Chr. Vom 3. Jahrhundert an wurden zwischen China und den südwestlichen Kulturen Brücken geschlagen. Aus dieser westöstlichen Berührung wurde schließlich die grandiose Kulturschöpfung der Tangzeit geboren. Durch die ständige Auseinandersetzung mit den Nachbaren lebte das Han-Volk seit dem 10. Jahrhundert ohne Ruhe und 31

Frieden. Seine Kultur verlor allmählich ihren Glanz und flammte zuletzt in der Mingzeit ganz ab. Die letzte kaiserliche Chin-Dynastie (seit dem 17. Jahrhundert) war nicht der Thron des Han-Volkes, sondern sie stammt aus einem Barbarenvolk, den Tungusen aus dem Norden. Nach dieser kurzen Einfuhrung in die chinesische Geschichte werfen wir einen Bück auf die Landschaft des chinesischen Kontinents; denn die geographische Eigenheit Chinas hat an der Größe der chinesischen Kultur wesentlichen Anteil. Der Charakter der Landschaft hat auch die Geistigkeit der chinesischen Kultur mitbestimmt, wie es bei allen Kulturvölkern der Fall war. Als Nährboden aller kulturellen Schöpfungen Chinas gelten die enorme Größe des Landes und die mit ihr verbundene Ferne der uralten Geschichte. Jedes Urteil über die chinesische Kultur, das nicht aufden Riesenbau landschaftlicher und historischer Art achtet, birgt von vornherein einen Fehler in sich. Kein chinesisches Gedicht kann nacherlebt werden, wenn man sich nicht die Endlosigkeit des chinesischen Horizontes vorstellt. Kein philosophischer oder moralischer Lehrsatz eines chinesischen Philosophen kann begriffen werden, wenn man nicht von dem gigantischen Staatsgebäude mit einem Haufen von mehreren hundert Millionen Menschen weiß. China hat eine Gesamtfläche von 7,5 Millionen Quadratkilometern. Das Land wird durch zwei gewaltige Ströme in drei Teile geteilt. Der Yangtse ist 5200 Kilometer und der Hoangho 4100 Kilometer lang. Es ist bei einer derartigen Größe des Landes naturgemäß, daß China in bezug auf Menschen, Kultur, Sprache und Landschaft — um den Yangtsefluß im Süden und um den Hoangho im Norden — sehr bedeutsame Unterschiede aufweist. Die Chinesen selbst 32

drücken diese Tatsache in dem bekannten Spruch aus: »Schiffahrt im Süden, Pferdeverkehr im Norden«. Um den Unterschied der menschlichen Charaktere zu bezeichnen, gebrauchen sie auch den Ausdruck: »Nordmensch und Südmensch«. Die Menschen im Norden leben in der landschaftlichen Eintönigkeit und erkämpfen sich ihr Leben durch Genügsamkeit, Standhaftigkeit und Fleiß. Sie sind wohl phlegmatisch, aber zuverlässig. Sie zeichnen sich durch ihren großen und strammen Körperbau gegenüber dem Südchinesen aus. Die Menschen im Süden sind temperamentvoll, phantasiefähig und mit ihrer Klugheit, die im chinesischen Kaufmannstum zur Geltung kam, den Nordchinesen überlegen. Die Landschaft ist wechselreich. Ihre Nebel und Wasser haben die Grundtöne der südlichen Kunstschöpfungen bestimmt. Infolge dieses Unterschiedes der Landschaft und der Menschen ist auch die kulturelle Leistung im Norden und Süden verschieden gewesen. So gibt es z. B. in der Malerei zwei Richtungen, die südliche und die nördliche Malerei. Die Südmalerei ist charakterisiert durch eine mehr expressionistische Auffassung und Ausdrucksweise, die Nordmalerei dagegen durch eine mehr realistisch-impressionistische Tendenz. Oder ein anderes Beispiel: Die buddhistische Zenmystik teilt sich in die Nord- und Südschule. Wir dürfen aber auf der anderen Seite diese Verschiedenheiten der beiden chinesischen Gegenden nicht überschätzen ; denn die Geschichte der chinesischen Kultur hat diese Unterschiede im Laufe der Jahrtausende vielfach verschmolzen. Besonders wichtig ist es natürlich, festzustellen, wie diese Verschiedenheiten auf die Religionen und Weltanschauungen des chinesischen Volkes gewirkt haben. Es gibt eine Meinimg, die die Rollen der 3

K i t a y a m a , Begegnung

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beiden Führer der chinesischen Geistesgeschichte, K'ungfutse und Laotse, der Nord-Südverschiedenheit entsprechend betrachtet. K'ungfutse soll danach der Vertreter des nördlichen und Laotse der des südlichen Geistestypus sein. Gewiß hat die kungfutseanische Philosophie und Ethik einen wesentlich geschlosseneren und härteren Charakter als die von Laotse. K'ungfutse ist im Vergleich zu Laotse mehr praktischer und ordnender Natur, während Laotse ein mehr phantasievoller und leichtbeschwingter Typ ist. Aber um die Geistesart des chinesischen Volkes im ganzen richtig zu verstehen, müssen wir uns von dieser doch zu einfachen Betrachtungsweise abwenden und die Gesamtheit des chinesischen Volkes und dessen Geschichte ins Auge fassen. Dann öffnet sich vor uns der soziale Aspekt des chinesischen Volkes mit zwei Gesichtern. Das eine ist das des chinesischen Großstädters, das andere das des chinesischen Bauern. Die Großstadtbevölkerung bildete in der chinesischen Geschichte die Oberschicht und das Bauerntum die Unterschicht. Dabei besteht der größte Teil der Bevölkerung aus Bauern. Heute und von 450 Millionen Einwohnern 90 % noch Bauern, die den größten Teil des Landes von einer Fläche von 7,5 Millionen Quadratkilometern bebauen. »Fern liegen die alten Zeiten, und es war das Leben jener Völker sorglos, mit sich zufrieden, sie waren unverbildet und trugen das Wahre in sich. Doch als Kunst und Wissen aufkeimten, waren die Menschen stets in Not. Wer hat sie gerettet ? Es war ein Philosoph! 34

Wer war der Philosoph? Er hieß Hou-Tsi. Wodurch rettete er das Volk? Durch Förderung des Ackerbaues. Der Kaiser Shun arbeitete selbst auf dem Acker, und auch Yü, der Kaiser, baute Getreide.« (Tao-yüan-ming) Die höchste der acht Staatsregeln aus der Chou-Zeit (1100-700 v. Chr.) war die Volksernährung. Die Stärke des Agrarvolkes sind Beständigkeit und Zuverlässigkeit; Schwerfälligkeit und Konservatismus sind die Kehrseiten dieser Eigenschaften. Unbeweglich wie die Erde, gleichmäßig wie die Sonnenbahn blieb das rein agrarische Volk Chinas seit Jahrtausenden im Schöße der Natur. Daß die Bodenständigkeit des Bauernvolkes formstarre Lebensweise in sich birgt und nicht so sehr nach der individuellen Freiheit strebt, daß sie den Menschen der Gewalt der Natur und der Macht Gottes in der Natur gefugig macht, isi nicht nur für das chinesische Volk eigentümlich. Lebendige Symbole, wirksame Gesetze und erfüllte Formen, fern von jeder intellektualistischen Kritik, tragen die Menschen als Inhalte ihres Lebens im Herzen. Vertraut mit dem Sein, bekannt mit allem Überkommenen, sieht das Agrarvolk auch das Stete in der Zukunft, die Wiederholung in der Natur. Es mußten auch der Tag und die Nacht, der Monat und das Jahr wiederkehren. Im Gegensatz zu dieser felsenhaften Überzeugung der rein agrarischen Weltanschauung oder gerade aus ihr erwuchs die Einstellung der geistigen Menschen, Dichter wie Philosophen, die oft extrem weltkritisch war. 3« 35

»Des Ruhmes Blüte lebt nicht lange. Aufstieg und Untergang sind nicht zu ermessen. Einst blühte der Lotos für alle Frühlinge, bald wird er zur Hülle der Herbstfrüchte. Harter Frost knetet sich im wilden Gras, die Dürre schwindet auch nicht schnell. Tag und Nacht kehren immer wieder zurück. Noch kam kein heller Tag für mich, seitdem ich mich von der Welt zurückzog. Eingedenk der fernen Zeiten bricht mein Herz vor Schmerzen.« (Tao-yüan-ming) Aus diesem Grunde galt die Lehre Laotses für die Mehrzahl des Volkes wie auch für die hochgebildeten Menschen. Zwischen diesen beiden Schichten lag das bürokratische Staatsgebilde Chinas und das Leben des Großstädters. Die Lehre Laotses, die man später Taoismus nannte, war eine Religion für die Bauern, für die Beherrschten. Die Religion K'ungfutses dagegen für die Bürokraten, für die Großstädter und Herrschenden. Aus diesem Unterschied der Wirkungsweise und -art beider Lehren ersehen wir auch die Verschiedenheit der beiden geistigen Einstellungen. Man nimmt in Europa meistens an, daß der Kungfutseanismus das Ethos des chinesischen Volkes entscheidend bestimmt hätte und daß alle Chinesen durch ihn kultiviert wären und von ihm durchdrungen seien. In Wirklichkeit verlor der Kungfutseanismus — abgesehen von der Lebenszeit K'ungfutses bis zu seiner Blütezeit in der früheren Han-Dynastie (100 v. Chr.) — seine Volkstümlichkeit und galt seit dem 6. Jahrhundert nur noch als klassische Bildung für die Beamten. Der chinesische Bürokratismus beruhte seiner geistigen Seite nach auf dem Gedankengut K'ung36

futses. So war das Prestige der herrschenden Schicht eines riesigen Agrarstaates die Grundlage der Lehre K'ungfutses und seiner Schüler. Dagegen war die laotseanische Philosophie und Praxis sehr eng mit dem Landvolk verbunden, d. h. diese Lehre sprach unmittelbar zu der gewaltigen Masse des chinesischen Volkes. Die Trennungslinie beider Wirkungskreise liegt in der chinesischen Volksreligion und in dem Taoismus. Die chinesische Volksreligion entstand aus derZeit heraus, in der die erste Bevölkerung Chinas noch in der Umgebung des Hoangho lebte. Das Agrarvolk erkannte früh die geheimnisvolle Macht der Natur, die man »Tien« (Himmel) nannte. Die Witterung, die Naturkatastrophen und ihre unmittelbare Wirkung auf das landwirtschaftliche und somit auf das tägliche Leben waren diesen primitiven Menschen eine unerbittliche Tatsache. Sie lernten den Himmel, die Sterne, die Sonne und den Mond betrachten — wie einst auch die Araber und Ägypter —, woraus dann allmählich die Himmelskunde entstand. Man brachte darauf die Naturerscheinungen in engsten Zusammenhang mit dem menschlichen Schicksal. Daraus ging die Lehre der Schicksalswandlung hervor, die sich später in dem I-king, d. h. »Buch der Wandlung«, sehr hoch entwickelte. Die Gesetzmäßigkeit des Himmelskörpers galt dem Chinesen als das Gesetz der Schicksalslenkung des Menschen. Hegel hat in diesem Zusammenhang Recht, wenn er sagt, daß die chinesische Volksmasse unter dem Druck dieser Gesetzlichkeit lebte. Dieser chinesische Fatalismus ist unmittelbar auf dem Bewußtsein der Gebundenheit an die Erde begründet. Es war aber nicht der Wille Laotses, daß seine Lehre mit diesem volkstümlichen Glauben verbunden werde. Dies war vielmehr das Werk eines philosophischen Epigonen, eines 37

meisterhaften Synkretikers, des Chang-tao-ling (aus dem 13. Jahrh.). Dieser offenbar theosophisch begabte Wunderarzt propagierte unter Bezugnahme auf den großen Philosophen eine Lehre, die man »Wu-toumi-tao« — »Die Lehre mit fünfmal achtzehn Liter Reis« —nannte, wobei man die Lehre Laotses nach Belieben auslegte. Die Philosophie Laotses war jedoch keine einfache Weisheit, sodaß sie das Landvolk auch am wenigsten verstehen konnte. Nur hatte die Lehre Laotses als das metaphysische Prinzip die Natur zur Grundlage, die er mit Tao (Weg) bezeichnete. Wir zitieren eine Stelle aus dem Tao-te-king, wo er den Begriff »Weg« zu definieren versuchte: »Der Weg,den man in Worten ausdrücken kann, ist nicht das wahre und ewige Tao. Das Wort, das man aussprechen kann, ist nicht das wahre und ewige Wort«. In diesem kurzen Satz sind große Ansätze der ostasiatischen Geistesund Kulturgeschichte Chinas und auch Japans enthalten. »Die Wertlosigkeit — das Tao — ist der Ursprung des Himmels und der Erde. Das Wort ist die Mutter aller Erscheinungen.« (Der Ursprung war Gott, und am Anfang war das Wort.) In diesem Zusammenhang wollen wir eine Stelle von Meister Eckhart zitieren, um durch die gleichen Klänge aus Westen und Osten das von Laotse Gemeinte dem Verständnis näherzubringen: »Was ist Gott ? Ein Meister spricht: Wenn das Notwendige sein muß, daß ich von Gott rede, so sage ich, daß Gott etwas ist, was kein Sinn begreifen oder erlangen kann; sonst weiß ich nichts von ihm.« Und Laotse sagt: »Durch das ewige Nichts erblickt man das Geheimnis und durch das ewige Sein schaut man das Ende der Dinge«. Das ewige Nichts bedeutet die Wertlosigkeit, das Tao, und das ewige Sein ist das Wort. Anders verstanden heißt dies: Das eine 38

letzte Wesen, das vor der Trennung zwischen Sein und Erkennen vorhanden ist, ist ein Zustand, in dem Sein und Erkennen zusammenfallen. Deshalb sagt er weiter: »Die beiden sind dasselbe, nur wenn sie getrennt verstanden werden, sind sie verschieden«. Wenn dieses Prinzip Anwendung auf das Leben findet, so kommt man auf das bekannte Wort: »Im Nichtstun tut man alles«. Diese Haltung des chinesischen Menschen legt man oft als Fatalismus oder Freiheitlosigkeit aus. Wenn wir aber einige weitere Sätze Laotses sorgfältig prüfen und sie zu verstehen suchen, finden wir seine wahre Absicht und zugleich eine Kritik der menschlichen Freiheit. »Wenn der Weg verlorengegangen ist, kommt die menschliche Tugend; wenn die Tugend verschwindet, tritt die Nächstenliebe zutage; wenn die Nächstenliebe keine Geltung mehr besitzt, kommt das ethische Gesetz; •venn das ethische Gesetz zunichtegeht, braucht man schließlich die Gesittung. (Nach Laotse wäre das moralische Gesetz Kants ein Ersatz der Nächstenliebe, d. h. die Morallehre ist keine Religion). Wenn die Gesittung verlorengeht, verdünnt sich die Treue und das Vertrauen. Das ist der Beginn des Wirrwarrs.« Wir stellen nun die Auffassung K'ungfutses über denselben Begriif, das Tao, daneben, um den Unterschied der beiden Lehren klarzumachen. »Wenn ich am Morgen über den Weg höre, dann kann ich am Abend sterben« (Lung-yü). K'ungfutse sprach aber nicht über das Wesen des Tao, sondern zeigte nur seine Anwendung im praktischen Leben auf. Mengtse, der Schüler K'ungfutses, äußerte sich einmal deutlich über den von K'ungfutse verstandenen Weg: »Die Wahrhaftigkeit ist der Weg des Himmels, der Gedanke an die Wahrhaftigkeit ist der Weg des Menschen«. 39

Das Tao, das bei Laotse das metaphysische Prinzip darstellte, war bei K'ungfutse ein moralisches Prinzip. Sie meinten wohl beide mit dem Weg des Himmels das Urprinzip der Natur und des menschlichen Geistes. K'ungfutse wie auch Laotse waren in der Geistesgeschichte Chinas Revolutionäre. Sie ignorierten den primitiven Schicksalsglauben, entwickelten neue und große Gedankengänge, in denen die Freiheit des menschlichen Handelns im Gegensatz zur Allmacht des Himmels in den Vordergrund gestellt wurde. Laotse sah die Zusammenhänge zwischen dem Urprinzip und dem menschlichen Geist vom Urprinzip und K'ungfutse von seiner Wirksamkeit her. Laotse beschäftigte sich mit dem Begriff des Nichts, in dem der Grund alles Seienden unmittelbar erblickt wird, K'ungfutse dagegen mit dem Sein, in dem das Sollen des Urprinzips erkannt wird. Der Philosophie des Laotse liegt die mystische Erkenntniskraft, der des K'ungfutse eine fraglose Überzeugung des über dem Menschen waltenden Prinzips zugrunde. Die Ideale beider Philosophen liefen dabei auf das Eine hinaus: »die Erhabenheit«. Als die letzte Geistesform der chinesischen Kultur kommt der Buddhismus in Betracht. Den mannigfachen Spiel- und Entwicklungsarten des chinesischen Buddhismus mit seinen acht Sekten und verschiedenen Schulen entnehmen wir eine Richtung, die auf die chinesische Kultur starke Einflüsse ausgeübt und sich sogar mit dem Taoismus vermählt hat. Das war der ZenBuddhismus. Er kam in der Mitte des 2. Jahrhunderts nach China und fand bei den Taoisten am meisten Anklang. Denn die Taoisten fanden in ihm die bekannte Tonart über das Erlebnis des Urgrundes alles Seienden, die mystische Vertiefung ins Nichts, in dem alles Seiende im Lichte des intuitiven Geistes durchleuchtet 40

wird und die Scheinhaftigkeit verliert. »Die heilige Erkenntnis hat geheimnisvolle Weisheit und ihre Tiefe ist unermeßlich. Sie hat keine Bezeichnung und keine Formen, mit Worten und Bildern ist sie nicht erreichbar.« Diese taoistische und buddhistische Mystik bildete die Grundlage einer der höchsten Schöpfungen der chinesischen Kultur. Sie kam in der Tuschmalerei und auch in der Dichtkunst am deutlichsten zum Ausdruck. Man vernimmt in einfach klaren Worten das rege Zwiegespräch zwischen Mensch und Kosmos. Auch das Weglassen von Farben und Linien auf einem Tuschbild, die leere Fläche auf dem weißen Bildbogen erklärt sich ohne weiteres aus einem Spruch Chuangtses, des ersten Schülers Laotses: »Die Menschen alle wissen von der Brauchbarkeit der brauchbaren Dinge, aber sie wissen nicht von der Brauchbarkeit der unbrauchbaren Dinge.« Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß vier große Richtungen in der chinesischen Geistesgeschichte vorhanden waren: Der Taoismus als Volksreligion, laotseanische Mystik, Kungfutseanismus und Buddhismus. Als wahrhaft kulturschöpferische Kräfte können wir jedoch nur den Kungfutseanismus und die taoistisch-buddhistische Mystik nennen. Wir fassen ihre Grundgedanken kurz zusammen: Der Taoismus neigte stark zum naturalistischen Nihilismus, indem er die Freiheit des Menschen in der Stille, im nichthandelnden Handeln, erblickte; der Kungfutseanismus dagegen hat die Neigung, den Sinn des Handelns im pragmatischen Zweck zu sehen, wobei er die Steigerung der menschlichen Qualität durch die moralische Erhöhung des Geistes betonte. Laotse sieht die menschliche Ordnung in der Natur, K'ungfutse die natürliche Ordnung im Menschen. »K'ungfutse ist moralisch, kein 41

spekulativer Philosoph... «, sagte Hegel. Jedoch gerade in der nicht-spekulativen Natur oder, anders ausgedrückt, in dem spekulativen Geist im ostasiatischen Sinne liegt die Stärke der Lehre K'ungfutses. K'ungfutse sagte einmal zu seinem Schüler Tsehoa: »Du sollst zum Gelehrten des Edelmannes werden, aber nicht zu dem des kleinen Mannes« (Lun-yü). Dieses Wort bedeutet, daß der wahre Gelehrte nicht nur von großem Wissen erfüllt ist, einen hohen Geistesstand erreicht und dadurch selbst genügsam bleibt, sondern auch zu einem Vorbild der Menschen werden muß. K'ungfutse unterscheidet die Bildung von der Wissenschaft. Die Wissenschaft gehört nach ihm zu der Gelehrsamkeit eines kleinen Mannes, der trotz seiner geistigen Fähigkeiten sich nicht zum Vorbild, zum menschlichen Ideal erheben kann. Theorie und Praxis gehen bei K'ungfutse ineinander über. Für ihn ist jede hohe geistige Leistung ohne Steigerung der seelischen Qualität völlig sinnlos. Aber wie jede neue Verkündigung war die Lehre K'ungfutses im Laufe der Zeit einer Systematisierung ausgesetzt, eine Erscheinung, die wir auch in der Geschichte Europas wiederholt erfahren. Wenn die kungfutseanische Lehre, wie Herder sagte, »zu einem mechanischen Triebwerk der Sittenlehre geworden ist«, so bedeutet das nur ihren Verfall. Wenn die Lehre K'ungfutses, die nicht nur rein geistig, sondern auch praktisch unbedingte Verwirklichung der ethischen Ideale gefordert hatte, später zu einem humanistischen Bildungsapparat für examenslustige Beamtenkandidaten, Wissensphilister und Moralisten herabsank, so war die chinesische Geistigkeit darum noch lange nicht despotisch, was »den fernen Fortgang des chinesischen Geistes auf immer gehemmt hatte« (Herder: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«). Die Lehre K'ung42

futses ist ebenso einmalig wie die des Sokrates. Der sog. »Kungfutseanismus« ist eine Nachwirkung, die dem chinesischen Charakter entsprechend eine lange Dauer besaß. Nicht alle hochgeistigen Chinesen waren Kungfutseaner. Nicht immer sind die geistigen Höchstleistungen aus dem kungfutseanischen Idealismus entstanden. In späteren Zeiten, als der Kungfutseanismus dogmatisiert und vervolkt wurde, gingen die großen Dichter Chinas aus der geistigen Umgebung hervor, die sich vor der unfreien und starren Einstellung der formalistisch gewordenen Welt bewahrt hatte. In diesen Dichtungen feierte der chinesische Geist seine Freiheit und setzte da sein Leben fort. »Das Leben ist grundlos, es schwebt wie Staubkorn auf der Straße, es wird verstreut und fliegt nach dem Winde. Es hat kein ewiges Sein... Es fällt auf die Erde und verwandelt sich in die Geschwister, die nicht immer derselben Eltern bedürfen. Bei Freude genieße man es, um ein Faß Wein sammele deine Nachbarschaft! Die Jugend kehrt nicht wieder zurück. Heute kann nicht morgen sein, bei Zeiten bemühe dich, die Jahre und Tage warten nicht! (Tao-yüan-ming) Japanische Geistigkeit

Das Problem dieses inneren Widerspruchs der chinesischen Geistesgeschichte führt uns zu unserer Frage, wie sich die chinesische und die japanische Kultur zueinander verhalten. 43

Wenden wir unseren Blick zunächst auf die Eigenart der japanischen Volkspsyche, so fallt uns als erstes die Beziehung zwischen der japanischen Landschaft und der japanischen Naturauffassung auf. Manche Japanologen, insbesondere die Kenner der japanischen Mythologie, meinen, daß die japanische Naturauffassung von den Chinesen übernommen sei, weil der Gedanke des Himmels, und die Teilung des »Yin und Yang« (passive und aktive Kräfte im Kosmos) in ihr vorkomme. Es ist doch höchst wahrscheinlich, daß der Darsteller der japanischen Mythologie den taoistischen Gedanken gekannt hat. Aber dieser bildet nur den Anfang der Mythologie, ähnlich wie ein Öltropfen auf dem Wasser. Denn der ganze Inhalt der Mythologie wird von einer völlig anderen Atmosphäre durchflutet als die des Taoismus. Der Grundgedanke der japanischen Mythologie ist gänzlich frei von dem chinesischen Fatalismus. Er keimt keine tyrannische Herrschaft des Himmelsgesetzes, er kennt keine Angst vor dem Tode, höchstens einen Abscheu. Das Gute und das Böse waren hier als solche nicht klar erkannt. Man wußte höchstens von einer wilden und sanften Seele. Glück und Unglück waren noch fast nebensächlich oder nur so wichtig wie jedes beliebige Naturvorkommnis. Dies war wohl ein goldenes Zeitalter der japanischen Menschheit, von dem man später sagte, daß die Götter auch zugleich Menschen waren. Die japanische Mythologie schließt jede geistige Spekulation aus. Sie enthält die Schilderungen über das noch unreflektierte Dasein im Jenseits von Gut und Böse. Das einzige Lebensprinzip, das man als ethische Haltung aus allen Ereignissen dieses Zeitalters der Mythen entnehmen kann, ist der Gedanke der Reinheit. 44

Wann und wie dieser Gedanke im japanischen Volke entstanden ist, ist nicht leicht festzustellen. Jedoch kann er in den Ursprüngen der japanischen Mythologie mit den Gedanken des Wachstums und des Sterbens zusammenhängen. Die Vorstellung des Wachstums rief höchste Begeisterung und Verehrung hervor. Alle Götter, die in den ersten Schilderungen über das Land und den Ursprung der Natur wirksam waren, sind die Inhaber der wachsenden Kräfte. Die Macht der Schöpfung in der Natur und im Menschen wurde in der heiligen Quelle der Götterheimat erblickt und erlebt. Die Götter schufen alles, sie schufen die Himmels- und die Naturerscheinungen, sie schufen auch die Menschen, sogar andere Götter. Alles wurde vom göttlichen Ursprung aus verstanden. Jedoch wurden diese Götter nicht personifiziert, sondern schwebten als eine Art lebendiger Vorstellungen zwischen den Menschen und der Natur. Man hat später diese Göttervorstellung und -erlebnisweise den »Urshintoismus« genannt. Man sieht auffalügerweise in ihm nicht jene lasterhafte Vielgötterei wie in Indien, obwohl er das Leben der Götter sehr überschwänglich betrachtet. Auch waren die Rollen der Götter nicht so klar umrissen wie die der griechischen oder germanischen Gottheiten; denn in Japan waren die Göttergestalten nicht nur von einer symbolischen Größe, sondern sie lebten unmittelbar in und unter den Menschen. Warum die japanische Geistigkeit nicht fatalistisch wurde wie der Taoismus im chinesischen Volksgepräge, warum der japanische Buddhismus nicht weltverneinend, nicht pessimistisch war und ist wie der indische und der chinesische, warum die taoistisch-zenistische Mystik in Japan keine extremen Asketen und Weltflüchtlinge hervorbrachte, warum der Kungfutseanismus nicht nur für Gelehrte und 45

Bürokraten bestimmt war und warum er Geltung in Japan erlangte, alle diese Fragen können in großen Zügen mit zwei Grundeigenschaften der japanischen Kultur beantwortet werden. Die eine ist die innige Verbundenheit der japanischen Geistigkeit mit der Natur. Die andere ist die realistische Tendenz des japanischen Geistes, die indes nicht mit Materialismus zu verwechseln ist. Die Einheit von Denken und Tat wurde schließlich zum Primat des japanischen Lebens. Die japanische Geistesgeschichte ist die Geschichte des gestalteten Ethos, die japanische Kulturgeschichte ist der Ausdruck dieses Werdeganges. Der Begriff der Reinheit, begleitet von dem Gedanken des Wachstums, ging durch verschiedene Stadien in der Geschichte hindurch bis zur Idee der Tat auf dieser Erde und in diesem Leben. Die Strebsamkeit der kungfutseanischen Ethik und das laotseanische, intuitive Erlebnis des Weltgrundes im Nichts vereinten sich so in dem japanischen Menschenideal und drangen im Laufe der Jahrhunderte als geistige Forderung und Erfahrung bis in das breite Volk hinein. Die Naturromantik und der Realismus waren gleichsam zwei Ufer eines großen Stromes, in den die indischen und die chinesischen Geistesgüter hineinflössen. Die indische Natur war und ist stets trotz ihrer Üppigkeit eine Last für die Menschen. Sie ist groß und schwer. Darum die phantastische Vorstellung des Jenseits in der Form des Paradieses, darum die Flucht in die Kühle und in den Schatten als Asket. Die chinesische Natur ist groß, aber zugleich unbarmherzig in ihren Launen. Darum die Härte des Gesetzes, darum die Sehnsucht nach ihrer Beherrschlang. Die japanische Natur ist romantisch, so banal dieser 46

Ausdruck klingt. Sie ist nicht groß, sie ist mannigfaltig, sie ist bunt, aber nicht überladen. Der Frühlingsblütennebel ist ein kurzer, jünglinghafter Traum, der allzubald durch die reife Sommersonne vertrieben wird. Die südliche Sonne am sommerlichen Himmel geht in der Herbstkühle zur Neige, wo die betäubten Sinne wieder gesammelt werden und der Geist wachgerufen wird. Der Winter mit seinen ozeanischen Windstürmen, mit Schnee und Eis stählt die Willenskräfte und schafft die spartanische Lebensweise. Dabei ist der japanische Sommer kein tropischer, der Winter kein nordischer. Aber die japanische Temperatur ist nicht eine gemäßigte, sondern sie bietet durch die klare Trennung in vier Jahreszeiten eine harmonisierende Abwechslung. Die klare Scheidung des Lebens in der Natur mit ihren verschiedenen Blüteperioden und Vegetationen hat wohl auf die japanische Psyche einen besonderen Einfluß ausgeübt. Wie die Natur mit ihren Jahreszeiten und Erscheinungen, so gestaltete sich auch die japanische Seele: Der Mensch soll klar und vielseitig in seinem Geiste sein und jeder Gedanke muß vom Wirklichkeitssinn begleitet sein. Der deutsche Geist erreicht dies mittels seiner konstruktiven, der japanische mittels seiner intuitiven Stärke. Darum hat das Ideal des japanischen Geisteslebens einen künstlerischen Charakter. Die Idee wird nicht im Glauben erhalten oder im System aufgebaut, sondern sie muß unmittelbar in die Tat umgesetzt werden und lebendige Formen annehmen. Sie wird erschaut und durch das menschliche Handeln zum Ausdruck gebracht. Die bekannte Stilisierung der japanischen Kunst hat nicht die Absicht der formalistischen Abgrenzung, wie man in Europa oft annimmt. Sie ist auch nicht ein Ausdruck der Unfreiheit des Geistes. Wenn sie wirklich zu einem 47

steifen Formalismus geworden ist, was wohl auch der Fall gewesen ist, dann hat sie ihre Echtheit verloren und ist bereits dekadent geworden. Der Stil ist nach japanischer Auffassung der Ausdruck der Spannung. Er ist keine bloße Raumgrenze, sondern eine raumhafte Andeutung einer Bewegung, die sich zwischen der Idee und der Wirklichkeit abspielt. Seine Funktion ist der des Tangentenschnittes gleich. Darum ist ein japanisches Kunstwerk, sei es eine dramatische Szene, sei es eine Dichtung oder ein philosophischer Gedanke, ein Schild für eine bestimmte oder zu bestimmende Richtung: die Richtung nach der Einheit des Seins mit dem Weltgrund, nach der letzten Zurückführung aller Erscheinungen ins ewige Sein. Japan sieht auch den Sinn des werdenden Lebens darin, daß der Mensch mit seinem zunehmenden Alter nicht morsch und leistungsunfähig wird, sondern sich ständig im Zustande des Reifens befindet. Die Spannung des Lebens gipfelt danach nicht in dem sogenannten besten Mannesalter, sondern sie bewegt sich in einem Sublimierungsprozeß, in einer zu vollendenden Reife, wobei ihre Stärke ständig wächst. Die Lebensspannung bedeutet dann die Konzentration aller Kräfte auf eine Richtung. Daher der ethische Spartanismus, der in der japanischen Kultur mit der Sparsamkeit des Ausdruckes zutage tritt. Die japanische Kunst ist trotz dieser Knappheit der Form nicht einfach, sondern enthält in und außer sich einen tiefen Inhalt, entweder als Nuance oder Resonanz oder als beides zugleich. Sie sind in der Malerei der ungefüllte Raum, in der Dichtung die plötzliche Gedankenkluft zwischen zwei Strophen. Das Kunstwerk ist in Japan deshalb nur als Beginn einer geistigen Bewegung zu verstehen, die in der Idee des ewigen Weltgrundes mündet, also eine 48

Bewegung mit einem unendlich fernen und hohen Ziel. Als ein repräsentatives Beispiel dieses Geistes- und Kulturideales gebe ich hier das vielgenannte Kurzgedicht von Meister Bashö: »Oh, ein alter Teich! Ein Frosch sprang hinein Und das Wasser plätscherte.« Die erste Zeile mit ihrem Wörtchen Teich klingt wie ein Ruf in einem stillen Raum, ist wie ein Punkt in einer leeren Weite. Dann kommt eine Pause — räumlich wächst eine Vorstellung der Unendlichkeit des Raumes. Hierin liegt die Nuance. Dann tritt die Wendimg mit einem ganz neuen Gedanken ein: das Plätschern des Wassers durch den Sprung des Frosches. Die Stille wurde gebrochen, und das Plätschern des Wassers kreist wie ein lauter Klang in dem unendlichen Raum (Resonanz). Bashö wurde wegen seiner künstlerischen und menschlichen Größe der Dichterheilige genannt. In seiner Lebensanschauimg spiegelt sich der Geist Ostasiens, und in seiner Kunst hallt das Ideal der japanischen Kunstschöpfung wider. Wir können hier als Parallelstück das bekannte Gedicht Goethes zitieren: »Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch. Die Vöglein schweigen im Walde, warte nur, balde ruhest du auch.« Goethes Ruhe ist keine mystische Ruhe, auch kein mühsam errungener Zustand eines Asketen. Denn sein Geist 4

Kitayama,

Begegnung

49

war auch in seinen späteren Jahren noch voller Lebenskraft und Energie. Trotzdem oder gerade weil sein Lebensweg und geistiger Schöpfungsgang voll gewaltiger Schwingungen war, kam er durch ständige Reife zu der großen Ahnung des Todes, in der die Stille, der atemlose Augenblick des Kosmos, empfunden wird. Im Abendland wächst das Leben in den großen unbekannten Tod hinein, in Ostasien wächst der Tod mit dem Leben zugleich, ja sogar im Schöße des Lebens, und nimmt einmal als Gipfel der Reife den ganzen Raum des Lebens ein. In diesem Erlebnis der wechselseitigen Beziehungen zwischen Leben und Tod in jedem Augenblick des Daseins liegt die letzte Quelle aller ostasiatischen Geistesschöpfungen: die enge Verbundenheit von Leben und Tod, die Harmonie zwischen Bewegung und Stille. Mögen auch alle Wege und Gestalten der Kulturen und Geistigkeiten im Westen und Osten im übrigen so grundverschieden sein, daß sie uns zum Nachdenken und Forschen anregen, so spüren wir doch irgendwo weit hinter allen Wänden und Klüften jenen Hauch, der sich in die Stille verwandelt, die Bashö und Goethe erlebten, jeder auf seine Weise. Dem japanischen Volke leuchtete und leuchtet heute noch »das innere Verhalten zum Tode (anjin-ryü-myö)« als die zu verwirklichende Idee der Bildung voran. Danach muß der Mensch ohne Unterschied von Rang und Beruf als Ausdruck seiner Reife stets bereit sein, einer allmählichen oder plötzlichen Stille mit dem Tode feierlich zu begegnen. Die Blüten des indischen und des chinesischen Geistes trugen somit in Japan neue Früchte, die für die Gesamtentwicklung Ostasiens als lebendige Quellen der geistigen Schöpfung geltend geworden sind. 50

JAPANS G E I S T I G K E I T UND TRADITION

JAPANISCHE

UND

FREMDE

KULTUREN.

I Verstandesmäßig im Sinne der westlichen WissenJ schaftlichkeit ist die japanische Kultur in ihrem Wesen schwer oder kaum erschließbar. Darum blieb sie trotz der verschiedenartigsten Erforschungen westlicher seits von den Völkern in Europa fast unverstanden. Die Stellung, die die japanische Kultur im Weltraum der geistigen Schöpfung einnimmt, ist eigen- und einzigartig, und ihre Rolle innerhalb der heutigen kulturellen Entwicklung der Menschheit muß auch erst geklärt werden. Das japanische Volk und seine Kultur ist innerhalb der Weltgeschichte eine einsame und eigenwillige Erscheinung, deren Beziehungen zu anderen Völkern und Kulturen nicht von außen her durch die objektiven und kausalen Zusammenhänge zu erfassen sind, sondern nur mit besonderer Berücksichtigung der Umstände, unter denen das japanische Volk entstand und lebte und die Kultur sich gründete und entwickelte, von innen her begriffen werden können. Trotz der einsamen insularen Verhältnisse trat Japan in den ersten Jahrhunderten n. Chr. mit China und dadurch mit den westlichen Kulturen seiner Zeit in Beziehung. Seither stand Japan mit der chinesischen Kultur fast ständig in Kontakt. Für die europäische Kultur schloß Japan, abgesehen von Einzelberührungen seit Beginn des 16. Jahrhunderts, das Tor kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Der wichtigste Umstand, den wir zum Verständnis Japans und seiner kulturellen Entwicklung berücksichtigen müssen, ist die entscheidende Tatsache, daß bei den genannten Kulturberührungcn nicht China und auch nicht Europa als Kulturmächte mit ihren Sendungen an Japan herantraten. Nicht die buddhistische Mission oder die kungfutseanische Lehrtätigkeit eroberte die japanische Geistigkeit, auch kam Europa 52

nicht mit seiner Kulturmacht nach Japan, um das japanische Volk zu »kultivieren«. Nein, es war stets Japan selbst, das Beziehungen zu anderen Kulturen suchte, die es dann mit einer inbrünstigen Intensität aufnahm und verarbeitete. Die Initiative zu einer kulturellen Auseinandersetzimg zwischen Japan und den anderen Völkern wurde stets von Japan ergriffen. So beschloß der kaiserliche Hof im 6. Jahrhundert die Einfuhrung der buddhistisch-chinesischen Kultur. Die Japaner gingen im Mittelalter nach China und in der Neuzeit nach Europa oder Japan ließ Kulturträger aus anderen Ländern zu sich kommen. Auf diese Weise vermied Japan es, durch die Berührung mit den fremden Völkern und deren Kulturen zugleich in eine politische Abhängigkeit zu geraten. Es blieb seit Anbeginn seiner Staatswerdung bis heute von jedwedem gewaltmäßigen Einfluß durch fremde Völker und deren Kulturen unangetastet. Länger als zweitausend Jahre floß zunächst Ostasiens Geistesstrom nach Japan; seit einigen Jahrzehnten atmet es nun auch den Geist des Abendlandes ein, mit dem es sich nach Kräften auseinandersetzt. Jedoch trat es noch niemals aus sich heraus und hat sich bis vor kurzem noch keine besondere Mühe gegeben, seinen Willen und seine Befähigung auf andere Völker zu übertragen. Japan blieb trotz aller Berührungen mit anderen Kulturen streng verschlossen in seinem Lebensraum und entwickelte seine geistige Welt nach seiner Eigenart. Nun erst, seit kaum einem Jahrzehnt, fühlt es die Zeit gekommen, zu zeigen, wo und wie es seine geistigen Kräfte außerhalb seines Inselraums in den anderen Nachbarvölkern entfalten kann. In dem insularen »Kultur-Einsiedlertum« einerseits und dem mutigen Sprung nach Außen auf der an53

deren Seite liegt der Schlüssel zum Verständnis des japanischen Geschichtslebens, das sowohl politisch-vital als auch geistig-kulturell begriffen werden muß. Die einsame Insellage Japans im Gegensatz zu der anderer Völker auf dem Kontinent, ermöglichte ihm und zwang es, sowohl in seiner poütischen als auch geistigen Entwicklung mit sich allein fertig zu werden. Aus diesem Grunde kann man das japanische Volk mit seiner Kultur als ein seit Jahrtausenden ungeteiltes und unteilbares Gewachsenes ansehen. Die ganze Haltung des japanischen Volkes seit Jahrtausenden war in bezug auf die geistige Weltbewegung teilnahmslos und darum auch egozentrisch. Es kann hier nur kurz angedeutet werden, wie das politische Leben des japanischen Volkes bis heute vor sich ging, um seinen organischen Volksund Kulturcharakter verständlich zu machen. Der Prozeß der japanischen Staatswerdung wurde zunächst durch das Kaiserhaus in den ersten Jahrhunderten n. Chr. begonnen und besaß einen religiösen Charakter. Die theokratisch-politische Weltanschauung war die Grundlage der japanischen Staatswerdung. Diese sowohl ideelle als auch vitale Bewegung des politischen Wachstums, die zuerst vom Zentrum des Kaiserhauses ausging, durchlief alle einzelnen Epochen mit ihren sozialen Umschichtungen, um schließlich vom ganzen Volk erlebt und getragen zu werden. Das heißt, die japanische Politik ist keine Machtpolitik, die erkämpft werden mußte, sie ist vielmehr die vitale Ader des japanischen Volkes, die alle Teile des Landes und des Volkes durchdringt und das Leben des Volkes erhält. Durch alle politischen Ereignisse hindurch lief der Strom des Theokratismus um das Kaiserhaus still weiter, auch wenn die theokratische Politik von der Oberfläche des Machtbereiches fast verschwunden schien. 54

Man sieht gerade in den Zeiten, wo die kaiserliche Theokratie ohnmächtig zu sein schien, die Verbreitung und Durchdringung dieser Staatsidee und ihr Reifen. Endlich, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, trat die japanische Staatsidee in ihrer vollen Reife und Kraft in Erscheinung. Das Volkswachstum Japans vollendete damit sein Mannesalter, um nunmehr aktiv und selbstsicher der Außenwelt entgegentreten zu können. Wenn man diesen Prozeß der japanischen Staatswerdung, der sich seit seinem Beginn zwei Jahrtausende hindurch konsequent fortgesetzt hat, als Ganzes betrachtet, ist er als ein einzigartig in der Völkergeschichte dastehendes Schicksalswerk eines Volkes auf der Erde zu bezeichnen.

Einige Wesenszüge der japanischen

Geistigkeit

Es sind mannigfache Betrachtungsweisen über die japanische Kultur und deren Grundzüge möglich. Hier wird versucht, unmittelbar die menschliche Natur des japanischen Volkes zu befragen und von ihr aus die Wesensmerkmale der japanischen Kultur zu beleuchten. Die auffallendste Eigenschaft der japanischen Menschenseele ist die entschiedene Neigung zur N a h r haftigkeit. Sie zeigt sich im ganzen als das innige Verständnis für das organische Wesen und in der Gestaltung der menschlichen Beziehung zur Natur. Im Alltagsleben wie in der Wohnkultur, in der Nahrung wie in der Kleidung nimmt das japanische Volk das Antlitz der Natur und die Atmosphäre der Landschaft als Grundton auf. Das japanische Kulturleben spielte sich in der Sublimierung des Naturerlebnisses ab. Man empfindet am Herbstlaub die ewige Vergänglichkeit, am stürzenden Bach die Einmaligkeit des Schicksals, an 55

der aufgehenden und untergehenden Sonne den unendlichen Kreislauf des kosmischen Uhrwerkes. Ohne geistige Mühsal und bitteres Leiden tritt das japanische Empfinden sogleich über sich selbst hinaus in die Tiefe des kosmischen Abgrundes und findet dort den Anker seines Daseins. Angefangen mit der spielerischen Beschäftigung mit der Garten- und Blumenbehandlung, endet dieses Naturerlebnis in der Dichtung und schließlich in der Naturmystik des Zen-Priesters und der Schwertsymbolik des Ritters (Samurai). Dieses Naturerleben hat eine solche Tiefe, daß es über das Völkische hinaus dem japanischen Volke die Fähigkeit verliehen hat, sogar in der höchsten abendländischen Kunst, wie z. B. in den Dichtungen P. B. Shelleys, Hölderlins und Goethes, die Artverwandtschaft zu empfinden und zu verstehen. Die zweite Eigenschaft der japanischen Seele ist der Drang nach Vereinfachung. Er ist auf der einen Seite die japanische Bequemlichkeit, die das Vielfaltige und Komplizierte nach der japanischen Art ummodeln will. Der Eigensinn des japanischen Volkscharakters, der aus der völkischen Geschlossenheit hervorgeht, übt auf die fremden Elemente einen gewissen Zwang aus. Diese Eigenschaft tritt am meisten bei der Auseinandersetzung mit der fremden Kultur auf, ist auf der anderen Seite aber als gesteigerte Geistesfähigkeit in der eigenen Kulturschöpfung als Formsinn tätig. Aus dem Chaos der Gegebenheit der Gegenstände in Natur und Kultur greift sie unbedenklich das Wesentliche heraus und fast rücksichtslos schüttelt sie das Unwesentliche ab. Wenn ihr dies nicht sogleich gelang, hat sie sich oft Jahrhunderte lang bemüht, bis die Form schließlich gefunden wurde. In der Kunst kam sie am deutlichsten in der Formkargheit, in der Strenge der Er56

haltung der Maße und in der Verachtung des überladenen Ausdruckes zutage. Ethisch bedeutet dies: Gedanke und Tat sind eine Einheit. Wir begegnen dieser seelischen Haltung im Alltagsleben in der Hochschätzung der einfachen Lebensweise, aber auch, negativ übertrieben, in der Vernachlässigung des äußeren Lebens, dann in der Dichtung mit den 17 Silben, imNoSpiel mit seiner strengen Mimik. Bei allem Geistigen, insbesondere beim Denken, tritt sie der Form nach fragmentarisch, dem Inhalt nach mehr antinomisch als logisch auf, aber desto kühner und eindringlicher ragt sie an das Gebiet des Ewigen heran. Die dritte dem japanischen Menschen ureigene seelische und geistige Eigenschaft ist die intuitive Anlage. Die Intuition ist der Geist und die schöpferische Quelle der japanischen Kultur. Sie ist eigentlich eine allen ostasiatischen Völkern eigene Geistesanlage, dank deren die Kultur Ostasiens ihre Höhe und Tiefe erreicht hat. Um dieses Geistesvermögen Ostasiens zu verdeutlichen, stellen wir einige Vergleiche zwischen ihm und dem abendländischen Geist an. Es ist ein auffallendes Phänomen, daß die moderne Wissenschaft nicht in Ostasien, das früher im Räume der Weltkultur auftrat, sondern gerade in Europa, das kulturell später erschien, zur Entwicklung gelangte. Dieser Umstand ist einer der Anhaltspunkte zum Verständnis des Unterschiedes zwischen der westlichen und der ostasiatischen Kultur. Zur Entstehung der Wissenschaft im modernen Sinne muß der Geist sich vom ursprünglichen organischen Erlebnis trennen, indem er als Erkennender der Welt gegenübertritt. In dem Augenblick, wo der Geist sich nicht mit der Welt einig fühlt, verwandelt er sich in das abstrakte Denken. Die Welt wird dann nicht mehr unmittelbar erlebt, sondern nur mehr »entdeckt«. Das 57

Denken arbeitet als analytische Kraft, abstrahiert die Dinge aus der Ganzheit der Welt, entdeckt deren Zusammenhänge in den Gesetzen wieder und baut die zergliederten Gegenstände von neuem auf. Diese Geistesfähigkeit, die Jahrtausende lang in Europa geschult und entwickelt wurde, vermochte einen Kosmos zu schaffen, der dem Menschen bekannt und der Weite des menschlichen Verstandes zugänglich blieb. Auch die Sinnesorgane hatten denselben Werdegang, sie wurden abstrahiert und gesteigert und brachten die große Welt der abendländischen Kunst hervor. In diesem Welterlebnis wurde aber dem Reich Gottes der jenseitige Platz zugewiesen, der nur im Glauben offenbar werden kann. Die Kluft zwischen dem dem Menschen vertrauten Diesseits und dem ihm unbekannten Jenseits wurde immer größer; desto entschiedener und bitterer ward das Schicksalserlebnis des einzelnen. Die Folge der umfangreichen, hochgesteigerten und zum Gemeingut des Abendlandes verbreiteten Geistigkeit der Wissenschaft, Kunst und Kultur war der Fall des einzelnen Ich heraus aus dem Gesamtgefüge der Welt. Eisige Einsamkeit trat schließlich in der Form des »Individualismus« und »Materialismus« im abendländischen Raum auf. Die Stimmen, die zur Umkehr, zum Ursprung riefen, wurden dann bei denen lauter, die diese Not erkannten; neue religiöse und politische Bewegungen in Europa sind von hier aus erklärlich und für den Fortbestand des Abendlandes entscheidend. Der Geist Ostasiens nahm einen anderen Weg. Die intuitive Anlage, die die Welt stets nur als Ganzes erfaßt und auch gar nicht in der Lage ist, sich vom Gegenstand loszulösen, blieb wie einst so auch jetzt im Schöße des Kosmos verborgen. Jedes Volk Ostasiens, Indien, China und Japan, blieb von seiner Geburt an 58

wie zu Hause. Diese Völker haben alle das Nomadenleben eines Jägervolkes kaum gekannt. Sie waren fast alle Agrarvölker. Der Reichtum der Natur schenkte ihnen an ihrem Wohnsitz fruchtbaren Boden, der sie ernährte. Die Beschäftigung mit der Natur und die Vertiefung in sie durch Jahrtausende hindurch ermöglichte es ihnen, die schärfsten intuitiven Fähigkeiten zu entwickeln, und sich dabei das Erleben des organischen Ganzen zu erhalten. Denn »Intuition« bedeutet für uns heute auch nichts anderes als die Erfassung des Gegenstandes in seinem organischem Zusammenhang mit dem'Weltall. Das indische Ich (Ätman), das chinesische Nichts (Wu), der japanische Strom des geistigen Geheimnisses (Michi), sie sind alle nichts anderes als verschiedene Zeichen für das einzige Erlebnis der organischen und kosmischen Geisteswelt. Diese Erlebnisweise bringt ein höchst gesteigertes Sinnesvermögen mit sich, das den Atem des Kosmos mit Leben und Tod, Aufstieg und Fall als eigenen Pulsschlag empfindet, aber der Wille, der beim abendländischen Geist nur die Rolle einer Hilfskraft spielte und keine Steigerung erfuhr, nimmt einen wesentlichen Platz in der ostasiatischen Geistesschöpfung ein. Intuition ist die Melodie, und der Wille ist der Rhythmus. Denken und Fühlen, die im Westen nebeneinander bestehen, arbeiten hier als eine einheitliche Kraft. Der Kosmos kennt keinen Sprung und leidet an keinem Sprung, er ist stets der Ursprung. Aus diesem Grunde sucht die Intuition ihren Gegenstand nicht außerhalb, sondern stets innerhalb der Welt, in der sie sich bereits bewegt. Ihre Aufgabe ist die Enthüllung des kosmischen Atemzuges überall, hier und jetzt, im Menschen selbst. Diese ostasiatische Gemeinanlage der geistigen Fähigkeit, die das Schicksal des stets Bei-sich-seins hat, kann leicht erstarren, wenn sie nicht durch die vitalen Kräfte 59

eines Volkslebens erfrischt, d. h. durch den ewigen Kreislauf des kosmischen Rhythmus lebendig erhalten wird. Sie kann in den Exerzitien der Eingeweihten oder in der Privilegie eines Standes in der Form der Magie entarten. Das war sowohl in Indien als auch in China der Fall. Im Gegensatz dazu nahm die intuitive Welt in Japan einen anderen Gang, der den Unterschied zwischen den anderen ostasiatischen Völkern und dem japanischen Volke ausmacht und ihm den heutigen Vorrang gibt. Das japanische Volk ist im Vergleich zu anderen ostasiatischen Völkern mehr von einer wirklichkeitsliebenden Natur. Auch war die japanische Landschaft im Verhältnis zu der Indiens und Chinas weder groß noch reich. Deshalb ging die Beziehung zur Natur beim japanischen Volke nicht in dem Maße in das Mystische wie in Indien. Die Neigung zur Vereinfachung trug zur Erhaltung einer nüchternen Beziehung zwischen der Nähe der Tatsachen des Alltagslebens und dem in der kleinen Natur empfundenen kosmischen Rhythmus bei. Trotz der Naturintuition verflüchtigte sich das japanische Geistesleben nicht in kosmogonische Phantasterei, auch nicht in die Verneinung des diesseitigen Lebens. Das japanische Volk blieb dem Dasein auf der Erde treu, und der Grund dafür lag sowohl in seiner völkischen Anlage als auch in der Behauptung des vitalen Volkslebens, was wir bereits in der politischen Bewegung der japanischen Theokratie beleuchteten. Das ganze japanische Volk atmet in dem kosmischen Gefüge des schicksalhaften Werdens. Darum blieb der einzelne Mensch verborgen, durch sein Dasein die Natur trotz Widerspenstigkeit und Katastrophen mehr liebend als bekämpfend, seinen Geist aus dem Natur- und kosmischen Erlebnis nährend und steigernd, wodurch 60

sich die japanische Tradition sowohl politisch als auch geistig kristallisierte. Die intuitive Anlage des japanischen Volkes ist weniger mystisch als praktisch. Sie kommt bereits in der gesteigerten Fähigkeit des sogenannten Fingerspitzengefühls zum Ausdruck. Jedoch erfordert sie, wenn sie kulturelle Schöpfungen hervorbringen soll, eine besondere Sublimierung, die man in der japanischen Kunst die »Schulung (Tan-ren) nennt. Diese Schulung kann allerdings nur nach induktiver Methode erfolgen, doch setzt sie die Deduktion, die intuitive Erfassung des Wesentlichen, als Selbstkontrolle voraus. Die künstlerische Schöpfung bedeutet in Japan eine Weltaskese, und ihr Ziel begnügt sich letzten Endes nicht mit der Vollendung des Kunstwerkes allein, sie ist vielmehr die Selbstvollendung der Persönlichkeit. Die Kunst ist darum ein Mittel zur Steigerung der menschlichen Natur zur kosmischen. Alle Kunstschulung ist in Japan darum Selbstschulung. Von da aus können wir auch begreifen, warum in Japan sogar das Fechten mit dem Schwert vom Ritter sowohl künstlerisch als auch religiös-mystisch verstanden sein will. Die Aufgabe der japanischen Intuition ist im ganzen betrachtet die, dem gesamten Leben die Atmosphäre des kosmischen Geistes zu verleihen, ohne sich dabei selbst aufzugeben. Aus unseren bisherigen Ausfuhrungen geht der Sinn der japanischen Tradition hervor, die einen der Wesenszüge der japanischen Kultur ausmacht. Das Volksleben ist das Familiengut, das von einer Generation zur anderen erhalten wird und fortlebt. Die Kultur ist das Volksgut, das von einem Jahrhundert zum anderen lebendig erhalten bleibt. Der einzelne Mensch ist ein schöpferischer Bestandteil am gesamten geistigen Volksorga61

nismus, und die einzelne Leistung ist ein unentbehrlicher Beitrag zur Fortführung des Gemeingeistes. In diesem Sinne lebt die japanische Tradition von einer Dynastie in die andere, von einer Familie in die andere, von einer Generation in die andere und von einem Meister zum anderen. Tradition, Kulturgeschichte und Volksleben haben in Japan somit eine unauflösliche Einheit gebildet.

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G E S C H I C H T E UND K U L T U R J A P A N S

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APANISCHE R A S S E UND K U L T U R . M I T der Einwanderung der Ainumenschen, die zu den Urariern Zentralasiens gehören, begann bereits 3000 v. Chr. die japanische Geschichte. Im Laufe der folgenden drei Jahrtausende kamen drei große Völkerwanderungen : einmal von der Mandschurei, dann vom malaiischen Meer, aus Hinterindien und Südchina und zuletzt aus Zentralchina zur Zeit von Christi Geburt. Jedes dieser Völker von Norden, Süden und dem westlichen Kontinent brachte seine eigene Mentalität und Kultur nach Japan mit. Sie alle sind im Laufe der 3000 Jahre zu einer einheitlichen Rasse verschmolzen. Japan stand bereits vor dieser Verschmelzung im Mittelpunkt dreier Weltkulturkreise der vorgeschichtlichen Zeit. Aus dem Norden kamen die Ausläufer des sibirischen Kulturkreises, der sich von Zentralasien bis an die Donau erstreckte; aus dem Süden kam der Küstenkulturkreis von Ägypten über Kleinasien und Indien; aus dem Westen kam der chinesische Kulturkreis über Korea nach Japan. Diese einzigartige Mischung der Rassen und ihrer Mentalitäten mit verschiedenartigen Kulturen zu einer Einheit war durch die Einsamkeit der Insellage möglich und schuf so eine völlig neue Rasse und Kultur. Aus diesem Aufbau des japanischen Volkes erklärt sich die Vielseitigkeit der Mentalität und die Vielgestaltigkeit der Kultur. Die Aktivität der Nomadenvölker des Nordens, vereint mit der heiteren Lebendigkeit der Meervölker des Südens, formte den japanischen Fortschrittswillen und die japanische Kämpfernatur. Die chinesische Einwanderung, gemischt mit der malaiischen und indischen Phantasiebegabung, gestaltete die geistige Fähigkeit des Inselvolkes. Während die Völker aus dem Norden sich politisch, staatsbildend und ordnend 64

betätigten, arbeiteten die Stämme aus dem Süden und Westen an der geistigen Kultur. Mit einem Wort: In Japan ist das männliche Prinzip mit dem weiblichen vermählt. Aus diesen Vorbedingungen ererbte das japanische Volk sowohl den nomadenhaften Erobererinstinkt der arischen und mongolischen Völker als auch die kontemplativ-ästhetischen Eigenschaften der Inder und Chinesen. Seit der Kristallisierung zu einer geschlossenen Staatsform im 5. Jahrhundert und seit der Einfuhrimg der Hochkultur Chinas im 6. Jahrhundert besteht die japanische Geschichte im Ringen zwischen dem Nordcharakter des politischen Willens mit dem Südwestcharakter des Kultur willens. Sowohl im Volk als einer Ganzheit als auch im einzelnen Menschen war und ist dieser Gegensatz die treibende Kraft zu Kultur und Politik. Und nur diesem Charakterwiderspruch, den Volk und Mensch unweigerlich und unerbittlich zu tragen haben, verdankt Japan die Größe und Höhe seiner Kultur. Ohne diese Gegensätzlichkeit zweier Seelen wäre es dem japanischen Volk mit seiner insularen Lage, der Einsamkeit und dem engschmalen Boden nicht möglich gewesen, eine Kultur zu schaffen, die sich nun im 20. Jahrhundert mit der abendländischen Zivilisation und Kultur ernsthaft und erfolgreich auseinandersetzen kann. Auch die Entwicklung der letzten siebzig Jahre, die mit Geschicklichkeit und in beispiellosem Tempo bis zur Weltmachtstellung führte, ist nichts anderes als der prägnante Ausdruck des japanischen Volkswillens, der sich im schicksalhaften Widerspruch seiner extremen Charakteranlagen seit 2000 Jahren kristallisiert und gestählt hat. Aus den oben erwähnten Gründen steht es vollkommen 5

K i t a y a m a , Begegnung

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außer Zweifel, daß das japanische Volk seine arteigene Kultur besitzt, wenn sie auch unter dem Einfluß der früher entwickelten indischen und chinesischen Hochkultur stand. Zur Hervorbringung einer Hochkultur war China an sich in einer viel günstigeren Lage als Japan. Die Weite der chinesischen Landschaft und die leichte Verbindungsmöglichkeit mit den Nachbarvölkern — unterstützt durch eine enorme Menschenmasse -ermöglichten China seine glanzvollen Kulturschöpfungen. Für Japan war China der einzige Kulturnachbar, der ihm den Wandel der Weltkultur aus Zentralasien und sogar aus Europa vermittelte. Ähnlich wie das deutsche Mittelalter, das im Schatten der römisch-katholischen Kirche allmählich seine Eigenart entfaltete, stand Japan bis zum Ende des 8. Jahrhunderts unter dem Einfluß der chinesisch-indischen Hochkultur. Chinesisch-japanischer

Unter schied

Trotz des starken chinesisch-indischen Einflusses steht die japanische Kultur in ihrer Entwicklung in einem entschiedenen Gegensatz zu der chinesischen, ein Gegensatz, der durch den Unterschied des obenerwähnten Rassencharakters bedingt ist. Die Größe der chinesischindischen Kultur liegt in der unerschöpflichen Phantasie, die sich von der Realität des Lebens fernhält. Die Stärke des japanischen Geistes besteht in der Umgestaltung der Phantasieprodukte in die Realität. Für die Chinesen und Inder bleibt der Geist in der Ideenwelt, für die Japaner ist die Umwandlung der Ideen in das Wirkliche entscheidend. Nicht mit der Beherrschung der geistigen Welt allein gibt sich der Japaner zufrieden, vielmehr muß er mit dem Geist die wirkliche Welt beherrschen. Für die Beherrschung der Natur durch 66

den Geist gibt die Miniaturgartenkunst und die des Blumenarrangements ein gutes Beispiel. Für den Ostasiaten war die Beherrschung der Natur durch die materialistische Technik etwas Undenkbares, weil die Natur niemals außerhalb der geistigen Welt und der Mensch niemals außerhalb des geistigen Kosmos gedacht und erlebt wurde. Hierin kann man auch den Unterschied zwischen der ostasiatischen und der abendländischen grundlegenden Kultureigenschaft, somit auch die Verschiedenheit der japanischen und europäischen Kultur erblicken. Japan unterscheidet sich sowohl innerhalb des ostasiatischen Kulturbereiches von China und Indien wie, trotz der starken Fühlungnahme mit der europäischen Kultur und Zivilisation, von Europa und Amerika. Japan — Europa

Der politische Wille Japans entschied die Einführung der europäischen Zivilisation, und der Kulturwille des japanischen Volkes übernahm die Bearbeitung der abendländischen Kultur. Den Gegensatz zwischen der japanischen und chinesischen Welt hat das Volk bereits überwunden, indem die ostasiatische Kultur in den japanischen Geist aufgenommen und in die Wirklichkeit umgesetzt wurde; nun gilt es, das zweite große Assimilierungswerk, das der europäischen Welt durch den japanischen Geist, durchzuführen. Japan ist sich heute über seine Lage im Klaren und seiner Aufgabe bewußt. Es erkennt als notwendig eine neue Synthese zwischen der ostasiatischen Kultur und der abendländischen Tradition und Zivilisation. Wenn dieser Kulturkampf auf japanischem Boden für die Entwicklung des Landes entschieden sein wird, entsteht eine neue Kulturschöpfung. Vielleicht gelingt dem japanischen Volk diese 5-

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Arbeit dank seiner vielgestaltigen dialektischen Anlage und der unermeßlichen Stärke seiner völkischen Geschlossenheit. Die japanische Weltanschauung Im japanischen Menschen sind westliche Aktivität mit östlicher Passivität, abendländischer Optimismus mit morgenländischem Pessimismus vereint. Deshalb besitzt sowohl die japanische Kultur als auch die Weltanschauung beide Eigenschaften der Weltstruktur. Aus dem Ringen zwischen beiden Eigenschaften um eine Lösung ist die Geschichte Japans geboren, und an diesem Ringen ist sie gewachsen. Konservativ wirkt der indische und der chinesische Geist, der stets bei sich selbst weilt, mit sich selbst beschäftigt ist, sich selbst betrachtet und sich in sich selbst versenkt. Das ist die Grundhaltung des Buddhismus und der taoistisch-kungfutseanischen Weltanschauung. Die ewige Wiederkehr durch die indische Seelenwanderung, der Naturalismus des Tao, und die Gesetzmäßigkeit des moralischen Gesetzes bei K'ungfutse sehen das Weltgeschehen in einem unerschütterlichen und unerbittlichen Vorgehen und Vorformen von Himmel und Erde, deren Macht und Gewalt der Mensch unterworfen ist. Diese Eintönigkeit wird dann unterbrochen, wenn die Kulturblüte beginnt, eine dekadente Form anzunehmen, oder sobald das Kulturleben formalisierender Erstarrung entgegengeht. Das bedeutete stets eine Erneuerung und Renaissance der Kulturgeschichte Ostasiens. Überblick der geistigen Wandlung So entstand in Japan im 8. Jahrhundert die naturromantische und lebensrealistische Kultur der Heian-Zeit, indem man die erste Residenz der kaiserlichen Herrschaft 68

inNara plötzlich aufgab und sich vom Buddhismus befreite. Als die Naturromantik begann, die Menschen zu verzehren und das Leben in traumlüsternem Weltgefühl hinzunehmen, flammte im 11. Jahrhundert der erneuernde Geist in Form des Rittertums auf. Mit neuer Lebenswut steckte man die zweite Residenz- und Kulturstadt Kyoto in Brand und verlegte das dritte Machtzentrum nach Osten: nach Kamakura. Als im 16. und 17. Jahrhundert die Ritterschaft begann, sich mit einer bürgerlichen Dekadenz zu vermischen, dämmerte wiederum neues Leben in allen Gegenden des Landes, und zwar jetzt durch die Wiederherstellung der kaiserlichen Macht und des Shintoismus, die schließlich in dem Sturz des Feudalismus und der Übernahme der westlichen Kultur mündete. In der Flut der eingeführten abendländischen Kultur und Zivilisation seit Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde wieder die Stimme der Rückkehr zur Tradition laut, die eine neue japanische Weltanschauung und Kulturschöpfung erstrebt. Wohl war für jeden Neubeginn einer Epoche der japanischen Kultur stets die soziale und politische Machtverschiebung ein treibender Anlaß, jedoch sehen wir in den großen Wandlungen der japanischen Geschichte vor allem ein stets wechselndes Spiel zwischen dem politischen und dem Kulturwillen. Die Kämpfe zwischen Buddhismus und Shintoismus waren Kultur- und Religionskriege, sie waren jedoch nicht nur das Nebeneinander in zeitlicher Folge, sondern aus ihrer wechselseitigen Wirkung ist stets ein neues Resultat entstanden. Die Auseinandersetzung zwischen Japanischem und Fremdem bedeutete nicht die Niederlage des Einen und den Sieg des Anderen, sondern eine ständige Befruchtung für das seelische und geistige Leben des 69

japanischen Volkes. Eine Zersetzung hätte erst dann stattgefunden, wenn das Japanische durch das Fremde überflutet und hinweggeschwemmt worden wäre. Aber für das japanische Volk war das Fremde nicht wie ein Erbfeind und das Eigene nicht absolut wie ein fensterloses Atom, sondern das Japanische trägt in sich als Urelemente »zwei sich widersprechende Kräfte«, deren Auseinanderklaffen nur Steigerung, aber nicht Verschrumpfung des Volkslebens bedeutet. Die ständig wachsende Kraft als Urtrieb des Fortschritts, des Nicht-stehen-bleibens, mit anderen Worten: die progressive, schöpferische Macht in der japanischen Geschichte und der seelisch-geistigen Entwicklung ist der Shintoismus. Hinter dem sogenannten »Götzendienst« und dem Kaiser- und Ahnenkult fließt und brennt eine unabänderliche Frömmigkeit, das Licht eines Schöpfungsglaubens, das sowohl in der Seele des Volkes als auch in der natürlichen Landschaft leuchtet. Die Welt als Natur verschwand in Europa fast hinter dem Schatten des gigantischen Domes und der Pracht der Kirche, und der Altar Gottes wurde verwechselt mit kultischer Pracht. In Japan hat der Gott sein Gemach in der ganzen Natur, er ist überall zu Hause. In jedem Stein, in jedem Tier, in jedem Baum und in jedem Menschen erbückt man die gegenwärtige Schöpfung Gottes. »Die Mitte der Lebensflut« in der shintoistischen Lehre besagt nichts anderes als die »ewige Gegenwart« des Augustinus. Die altüberlieferte Einschätzung und Formulierung der Religionen in Animismus, Polytheismus, Monotheismus und Pantheismus stellt im Vergleich zu der unmittelbaren Wirklichkeit und Verbundenheit zwischen Mensch und Gott, zwischen dem Einzelschicksal und der kosmischen Heimat ein erbärmliches Armutszeugnis des heutigen Men70

sehen und einen Verrat am Ursprung des Menschen dar. Gläubig nennen sich die Menschen, die sich an die Gottesvorstellung klammern, die sie aus ihrer Schwäche und aus ontologischen Spekulationen in das transzendente Jenseits geworfen haben. In der shintoistischen Frömmigkeit ist jene Unmittelbarkeit der göttlichen und dämonischen Kräfte gegenwärtig, in der der Mensch wie ein Kind im Mutterschoß lebt, gedeiht und auch stirbt. Diese ursprüngliche Gottverbundenheit ist wohl auch in den sogenannten Naturvölkern lebendig, jedoch in einer mehr negativen Form. Dämonenglaube und Naturanbetung bilden die Erlebnisweisen des schwachen Bewußtseins, in denen sich nur die Schwäche und Ohnmacht des Menschen widerspiegeln. Der religiöse Fanatismus und die seelischen Depressionen sind zwei Ausdrücke der gleichen Verlegenheiten. Die schwachen Geister sind so, wenn sie auch an Christentum oder Buddhismus zu glauben meinen, stets der Gefahr der Verwirrung ausgesetzt. Sie sind im Grunde mit den primitiven Dämonengläubigen verwandt. Denn Götzen sind leichter zu erfinden als aufzudecken. Der japanische Shintoismus erlebte in seinen ersten Stadien ebenfalls die dämonischen Gestalten, die den Menschen als höhere Macht entgegentraten und es heute noch tun — genau wie jedem Christen und Buddhisten —, wenn man keine göttliche Unmittelbarkeit mehr erleben kann und sie mit Gewalt und Tücke fangen will. Aber im Shintoismus war die Macht der Götter stärker als die der Dämonen. Das japanische Gefühl der »Gottmitte« kristallisierte sich als Stammesglaube im Sonnenkult. Die Sonnengöttin überschattete alle anderen Götter und dämonischen Mächte. Im Triumphzug der Sonnengöttin stellen wir den starken Schöpfer71

willen des japanischen Volkes fest, der die Macht der Schöpfung in sich selbst empfindet. Dieses Schöpfungsgefühl sieht nichts sich »Gegenüber« auch nichts »Über-sich-selbst«, sondern es ist ein Gefühl des Wachstums seiner selbst auch in der Welt. Die Größe und Stärke des Menschenwesens wird in gesteigerter Form in der sichtbaren und unsichtbaren Welt empfunden, deshalb vereint das Sonnensymbol die ideellen und realen Motive und Gründe in sich. Aus den Eigenschaften der Sonne werden die ethischen Prinzipien hergeleitet, die die Klarheit von der Dunkelheit, die Reinheit von der Unsauberkeit, die Stärke von der Schwäche und schließlich das Gute vom Bösen scheiden. Der klare Tag ist der Machtbereich der Sonne, die Nacht unterhegt den unruhigen Mächten. Sowohl die innere als auch die äußere Reinheit war den Göttern genehm. »Die Götter nehmen nichts an, was aus unsauberen Motiven entstanden ist«. »Mit der Sonnenstärke gedeiht alles auf der Erde und im Himmel, in der Totenwelt ist die Zerstörung voll mit Häßlichkeiten«. Dieses natürliche Empfinden des kosmischen Gesetzes war in Japan das primäre Fundament, auf dem sich die Scheidung zwischen Gut und Böse entwickelte. Aus dem Glauben an eine göttliche Hierarchie, in der die Sonnengöttin an der Spitze stand, entwickelte sich die irdisch-reale Form des Götterpantheons, die Zugehörigkeit und Anordnung der Stammesgötter, deren Kinder und Nachkommen die Menschen sind. Da die kaiserliche Familie: die Sonnengöttin als ihre Stammesahne hat, steht sie an der höchsten Stelle aller Stämme und Familien des japanischen Volkes. Aus diesem Grunde kann keine Gottheit noch höher sein als die Sonnengöttin, keine Familie noch ehrwürdiger als die kaiserliche und kein Mensch noch mächtiger als 72

der Kaiser. Auf diesem instinktiv-natürlichen und ethisch-religiösen Motiv gründet sich die japanische Theokratie des Kaisertums. Die Entwicklung der shintoistischen Gläubigkeit und Weltanschauung in drei Gestaltungen Wenn man die japanische Weltanschauung in ihrer Ganzheit erfaßt, wird man feststellen, daß jede Sektiererei und theoretische Begriffsanalyse nichts anderes bedeutet als eine verhängnisvolle Leichraisektion, die aus dem lebendigen Ganzen einen toten Gegenstand macht. Denn die Wirklichkeit der Geschichte lebt darin — worauf es schließlich ankommt —, daß die Vergangenheit durch die Zukunft überholt wird. Die Geburt der Zukunft aus der Vergangenheit ist die Gegenwart. Aus diesem Grunde soll man die japanische Weltanschauung, wie die Weltanschauung eines Volkes überhaupt, nur in der Ganzheit jeweiliger Geschichte sehen, die in verschiedenen Stadien die Geburt der Geschichte des Zukünftigen offenbart. Nicht diese oder jene Religion oder Philosophie macht die Weltanschauung eines Volkes aus, sondern die Form und die Intensität des Schicksals einer Volksgeschichte. Man beging bisher häufig den Fehler, aus der japanischen Weltanschauung und Religiosität nur das Shintoistische, nur das Buddhistische oder nur das Kungfutseanistische herauszuziehen und sie als nebeneinander liegende Elemente der japanischen Weltanschauung hinzustellen, oder dem Shintoistischen allein als dem rein Japanischen zu huldigen und Buddhismus und Kungfutseanismus als fremdes Geistesgut beiseitezustellen. Die Geschichte läßt sich aber weder durch einen abstrakten Absolutheitsanspruch noch durch eine theoretische Verallgemeinerung begreifen. Beide Male begeht man den 73

Fehler, an der Gegenwärtigkeit der Geschichte, die in jeweiliger Ganzheit liegt, Verrat zu üben. Die japanische Weltanschauung ist in ihrem Ursprung nicht aus einer fertigen Form entstanden, die die Geschichte Japans wie nach einem Schema gebildet hätte, sondern es waren Urformen vorhanden, die an Umfang zunahmen und Vertiefungen verschiedenster Art erfahren haben. Es kam nur auf die Stärke und Größe der Urformen an. Drei Gestaltungen der japanischen Weltanschauung i. Ästhetische Gestaltung des japanischen Buddhismus Durch die Konsolidierung des politischen Willens und durch die systematische Anordnung religiöser Kräfte entstand vom 3. bis 5. Jahrhundert im Leben des japanischen Volkes ein inneres Gleichgewicht, das sich — um den kosmischen Altar der Sonne kreisend — aus der unmittelbar täglichen Kommunikation mit der Natur zu einer ekstatischen Beklommenheit entwickelte. Dieses Stadium der altjapanischen Religiosität vor der Einführung des Buddhismus bildete ein ästhetisches Fluidum, in dem der rassische Kulturwille rege gedieh. Der Buddhismus, der im Jahre 552 den japanischen Boden berührte, fand nur geringen Widerstand seitens des politischen Willens der orthodoxen Shintoisten, der durch den anwachsenden Kulturwillen in der ästhetisierenden Volkspsyche überschattet wurde. Die verhältnismäßig leichte Einführimg des Buddhismus in Japan lag teils in den politischen Umständen, teils in dem äußeren Anstoß vom benachbarten Korea begründet; aber die tiefere Aufnahmebereitschaft fremder Kulturgüter ergab sich aus der inneren geistigen Gärung, die einerseits aus der Erstarrung des politischen Willens und auf der anderen Seite aus der Sehnsucht nach einer faßbaren 74

Größe des ästhetischen Traums hervorgegangen war. Diese Welt, in der das ästhetische Fluidum Japans sich genügend sättigen konnte, war der Buddhismus, der mit seiner Reife, Größe und Tiefe wie eine Braut aus der Ferne die neue Heimat Japan betrat. Der Buddhismus, den Japan annahm, war kein indischer Asketismus, kein stoisches Einsiedlertum, das im Menschen Sinnen- und Geisteswelt trennt, das irdische Leben vom Jenseits der Erlösung unterscheidet, die Welt verachtet, die Gesellschaft stört und in allerlei psychologischen Exerzitien das Heil sucht. Er verneinte vielmehr den egoistischen Asketen, den Pessimismus der Weltverachtung; die Erlösung, das Nirvana, war nicht in der geistigen Ekstase des Einsiedlers; die ewige Heimat der Menschheit lag nicht im Jenseits, im Tode, sondern der Buddhismus sah in der Unmittelbarkeit des Lebens selbst die Welt des höchsten Geistes. Die Unterscheidung zwischen der irdischen und der überirdischen Welt hegt nur im Krämergeist des Asketen, des Egoisten und des scholastischen, abstrakten Menschen. Für diejenigen, die in der Lage sind, aus eigener Kraft das ewige Leben des Kosmos, die leuchtende Macht der Wahrheit zu erkennen, liegt die Vergänglichkeit von Leben und Tod bereits in dem ewigen Fluß des großen Gottes, der sich in jedem Augenblick und an jedem Ort offenbart. Diese große kosmische Erkenntnis und deren praktisches Erlebnis liegt der Philosophie des MahäyänaBuddhismus zugrunde, der nach dem Tode Buddhas im Laufe von 1000 Jahren zuerst in Nordindien, dann in Zentralasien und zuletzt in China zu dem gigantischen System einer ostasiatischen Geisteswelt wurde und als ostasiatische Weltanschauung die Kultur Zentralasiens und Chinas Jahrhunderte lang befruchtete. 75

Die buddhistische Philosophie als geistiges Produkt des ostasiatischen Kulturraums kann sowohl in ihrer Höhe als auch in ihrer existenziellen Tiefe mit der griechischen Philosophie, mit der Scholastik und mit dem deutschen Idealismus verglichen werden. Der Unterschied zwischen der abendländischen und der ostasiatischen Philosophie liegt aber darin, daß jene fast nur im geistigen Raum ihre Alleinherrschaft ausübte, während diese über die Philosophie hinaus die Steigerung der menschlichen Qualitäten in Sinnen, Gefühl und Willen bezweckte und erzielte. Mit einem Wort: Es ist die Geschichte des Buddhismus zugleich eine Geschichte der systematischen Mystik, die in der Sinnen- und Geisteswelt des Menschen die Einheit zwischen Diesseits und Jenseits geschaffen hat. Aus diesem Grunde findet die kritische Philosophie Kants in der geistigen Tradition Ostasiens keinen Raum. Dem vom Buddhismus geformten Innenleben entsprang die Kunst Ostasiens, die nicht die Idealisierung der menschlichen Gestalten und auch nicht die realistische Wiedergabe der Umwelt, sondern den Ausdruck eines kosmischen Erlebnisses darstellt. Dem japanischen Menschen erschien der theoretische Buddhismus zunächst fremd, man überließ ihn deshalb den Priestern und Gelehrten, doch erkannte man die Größe und Stärke seiner reifen Gefühlswelt an. Später brachte man ihm mit Gefühl und Phantasie volles Verständnis entgegen, und es entwickelte sich — zwölf Jahrhunderte nach dem Tode Buddhas — in Japan eine neue Blüte buddhistischer Kunst. Das lichtempfindliche japanische Gemüt wurde durch das kosmische Weltgefühl im Buddhismus gestärkt und vertieft. Ihm bedeutete das Symbol der buddhistischen Kunst nicht eine Sonderwelt außerhalb der Erde und des Diesseits, 76

sondern es erlebte die Welt Buddhas auf Erden, auf dem seit Jahrtausenden durch die Sonne beleuchteten und durchleuchteten Boden. Der theoretische Buddhismus fand auch Eingang am Hofe des Kaisers. Bereits fünfzig Jahre nach Einführung des ästhetischen Buddhismus wurden buddhistische Werke durch den Prinzen Shötoku interpretiert und vorgelesen. Die hunderte und aberhunderte von Tempeln und Statuen, die in der Zeit von 552 bis 745 geschaffen wurden, legen ebenfalls beredtes Zeugnis von dem Einfluß der buddhistischen Kultur ab. So hat der Buddhismus der japanischen Kultur ein erhöhtes ästhetisches Fundament und eine geistige Basis hinzugefügt. Jedoch blieb diese Kultur und die neue metaphysische Weltanschauung im Rahmen des kaiserlichen Hofes und hinter Tempelmauern beheimatet. Zwei wichtige Dinge wurden bei dieser Einschränkimg des Kvilturkreises vergessen: das Leben des einzelnen Menschen und das Volk als Staat mit seinen Göttern und Ahnen. Die Überbetonung der kosmischen Geisteswelt und die restlose Hingabe an diese Idee durch die ästhetische Ekstase vernachlässigten Schicksal und Sinnenleben des einzelnen und das politische Band aller Stämme im Lande. Gegen das Hof- und Tempelästhetentum und gegen die Hof- und Priesterhierarchie entstand ein neues Bewußtsein, das sich von dem buddhistisch-geistigen Kosmos befreite und zum natürlichen Gefühl des Schönen im Menschen, unter den Menschen und in der Natur selbst zurückfand. Von dem theoretischen Buddhismus ermüdet, von der Tempelkunst überlastet, suchte man nach klarem Lebensstil und unbelastetem Lebenswandel, die in der Natur- und Lebenslyrik, in Aufzeichnungen und Romanen ihren Ausdruck fanden. Die altjapanische Naturverbundenheit ohne Buddha und seine 77

Priester, die unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Natur sollte wiederhergestellt werden. Jedoch sah man nicht mehr die Götter in ihren lebendigen Gestalten, sondern sah nur sich selbst, sein Schicksal und sein Leben mehr in der Vergänglichkeit als in der Ewigkeit. Aber die ästhetische Einstellung und das starke urjapanische Erdengefühl hielten die Menschen vom Pessimismus zurück. Der Phantasieraum in dem buddhistischen Kosmos wurde durch das Auftreten des Schicksalsbewußtseins des einzelnen abgelöst, doch konnten die Menschen die Vergänglichkeit selbst besingen, in der Vergänglichkeit den ewigen Augenblick erhaschen, der sich in der Sinnenwelt der Romantik offenbarte. Der japanische Kulturwille wurde somit völlig ästhetisiert und drang bis in das Schicksalsbewußtsein hinein. Andererseits kam der politische Wille durch den Residenzwechsel von der Tempelstadt Nara nach Kyoto zum Ausdruck, wo ein neuer Buddhismus entstand, der nicht die japanischen Götter überschattete, sondern sie in sich aufnahm und mit ihnen eine buddhistischshintoistische Hierarchie bildete. So wurde der Staat mit seinen Göttern neu organisiert und trat in das erste Stadium des theoretisch begründeten Shintoismus. Diese Theoretisierung des Shintoismus erfolgte, indem man in der Sonnengöttin das Ebenbild Buddhas im symbolischen Sinne erblickte. Es fand keine Verschmelzung zweier Religionen statt, vielmehr wird diese Verbindung nur aus dem ostasiatischen Geist einer kosmischen Verwandtschaft und deren Philosophie verständlich. Diese Neuformung des Shintoismus durch den Buddhismus erschien Japan weder kurios noch überraschend; sie fand sofort ein lautes Echo im ganzen Land, und es sei erwähnt, daß später ähnliche Versuche durch die Shintoisten selbst wiederholt gemacht wurden. 78

Aber diese Kultur mit der neuen Religion blieb noch weitgehend innerhalb der Aristokratie und in der Residenzstadt Kyoto, und sie mündete im Laufe von 300 Jahren in der Überverfeinerung weiblicher Empfindung und Dekadenz höfischen Lebens. Von der Einfuhrung des Buddhismus bis zum Ende dieser höfischen Periode im 11. Jahrhundert sehen wir den ständigen Kampf zwischen dem Kulturwillen und dem politischen Willen — aber nur am Hofe und nicht in der breiten Masse des Volkes. Gegen die pessimistische Neigung des Buddhismus wandte sich das japanische Bewußtsein als leuchtende irdische Kraft. Gegen die kontemplative Eigenschaft des indischen und chinesischen Geistes trat es als ästhetische Empfindung auf. Während aber der Buddhismus am Hofe und in den Residenzstädten in großem Maße dem Kulturwillen Japans Raum gab, nahm der politische Wille auf dem Lande und bei verschiedenen Stämmen an Kraft zu. 2. Entstehung des Rittertums

Der neue politische Wille, der aus dem bäuerlichen Land und dessen Herren kam, nahm wenig Rücksicht auf die höfische Kultur und deren lyrische Romantik. Im Brand der Residenz, die dreihundert Jahre lang von literarischen Träumen überschwemmt war, sah man das Ende einer menschlich, allzumenschlichen Weltanschauung und die Vergänglichkeit einer ekstatischen Lebensbejahung. Die ewige Sicherheit des Geistes kann weder im Tempelkult und im künstlerischen Augenblickserlebnis noch in der theoretischen Theologie garantiert werden. Denn alles Menschliche unterliegt dem Schicksal des Vergehens, dem Untergang des Einmaligen. Derjenige, der bis gestern noch der höchste Machthaber war, steht heute in der Anklagebank, und 79

morgen folgt seine Verbannung oder Enthauptung. Diejenigen, die am gestrigen Abend noch mit Dichtung und Musik bei ihrer Lustfahrt auf dem Fluß der Residenz jubelten, kamen am anderen Tage in der Seeschlacht im Binnensee Dannoura ums Leben. Aus diesem Milieu der politischen und kulturellen Umwälzung entstand eine neue Lebensanschauung, die sich in zwei Richtungen spaltete. Die eine offenbarte die Sehnsucht nach dem Jenseits, wo kein Fall und Aufstieg, kein Leben und Tod mehr walten, wo ewige Ruhe herrscht. Diese lebenverneinende, diesseitsfremde Lebensanschauung wurde von den Hofleuten — den Männern und Frauen einer untergehenden Epoche, die das Schicksal am härtesten traf, — angenommen. Sie verbreitete sich auch über die Landbevölkerung, die der gesellschaftlichen Umwälzung und dem Kriegsfeuer ohnmächtig gegenüberstand. Dieser ersten Richtung entgegengesetzt war die neue Macht, die an Stelle der Aristokratie die Herrschaft übernahm. Sie war erfüllt von Eroberergeist, der unter allen Umständen — trotz Vernichtung, trotz Lebensunsicherheit — mit dem Leben fertig werden mußte. Nicht Weltflucht, nicht Sehnsucht nach dem Jenseits, sondern eine klare Einstellung zu Leben und Tod, aus der eine unerschütterliche Machtentfaltung über sich selbst und über den anderen entstehen kann, das war das Ziel des politischen Willens zu einer Neuformung der Weltanschauung, die wir den Geist des japanischen Ritters nennen. Im japanischen Rittergeist fand zum erstenmal eine wurzelhafte Vereinigung der japanischen Tradition mit der ostasiatischen statt. Das alljapanische Stammesbewußtsein und die existenzielle Verwirklichung des kosmischen Geistes von Laotse und Buddha trafen darin 80

zusammen. Das Stammesbewußtsein forderte das Opfer und den Einsatz für die Ehre von Familie und Ahnen. Krieg, Kampf und Tod waren nur durch die Idee der Ehre gerechtfertigt und begründet. Kein Ritter war berechtigt, sich dem sogenannten Hundetod auszuliefern, der ohne höhere Forderung durch die Ehre, ohne den Ruf der Ahnen vorgenommen wurde. Die Treue, das heißt: der absolute Einsatz für den Herrn, stellte nicht nur eine persönliche Bindungskraft dar, vielmehr wurde aie aus dem jahrhundertelang überlieferten Stammesbewußtsein geboren, das im Anbeginn der Götterzeit seinen Ursprung hat. Diese Idee der Ehre forderte vom Ritter eine unerschütterliche Todesbereitschaft und einen Tod ohne Schmach. Ein Tod, selbst wenn er ein Opfertod ist, darf auf keinen Fall durch Jammer und Klage, durch Unentschlossenheit und unmännliche Geste profaniert werden, so daß er »dem Spott der Nachkommen« ausgesetzt ist. Die feierliche Bejahimg der Treue in Stammesverbundenheit zwischen Herrn und Gefolge muß auch durch einen feierlichen Tod abgeschlossen werden. Und jeder Tod kann feierlich sein, wenn er durch den Sterbenden im Opfergeist für die höhere Idee begangen wird. Um den Tod zu schmücken, um nicht sinnlos den Tod in die Hände des Vergänglichen zu geben, lernte der japanische Ritter die Kunst der Todesüberwindung durch die Steigerimg geistiger und willensmäßiger Kräfte mit mystischer Meditation und durch die Fechtkunst. Das Spiel mit dem Tode im Schwertkampf war eine religiöse Übung, um das Vergängliche und Zufallige an Körper und Geist zu beseitigen. Das japanische Fechten hat als Hauptzweck nicht das Geschick der Kampffertigkeit, sondern die geistige Ruhe und Uner6

Kitayama,

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schütterlichkeit. Die Geschicklichkeit ist des Anfangers Kunst, die im japanischen Fechten von Anfang an verachtet und verdammt wird. Man muß durch den Kampf und im Jenseits des Kampfes eine unbewegliche Geisteswelt erreichen, wenn man auch in größter Lebensnot und Todesgefahr steht. Diese Geistesmacht bedeutet aber nicht eine sich selbst entleerende Ekstase, auch nicht einen Traumzustand oder eine Verflachung der seelischen Kräfte, sondern sie kommt dann zustande, wenn der menschliche Geist durch die Steigerung seines Lebensrhythmus mit dem Rhythmus des kosmischen Lebens in Harmonie tritt. Diesen Zustand nennt man »Welt der Ichlosigkeit«. Er kommt aber nicht einer Ichvergessenheit und Ichvernichtung gleich, sondern fordert Ichgegenwart in gesteigerter Form und Stärke und Ichbetonimg über das kleine Daseinsich hinaus. In Europa verstand man diese Idee der Ichlosigkeit nicht und sagte gern, daß die Japaner ichlos-unpersönlich und freiheitslos seien. Freilich, wenn man diesen erweiterten und vertieften Ichbereich mit dem Ichmaßstab christlicher und wissenschaftlicher Regel messen will, dann schwindet einem der meßbare Horizont des Ich und man merkt nicht, daß hinter dem bekannten erkenntnistheoretischen Ichmaßstab das eigentliche Ich des japanischen Menschen weitergeht. In der Harmonie zwischen dem menschlichen Lebensrhythmus und dem kosmischen erlebt man in jedem Augenblick den Wechsel zwischen Fall und Aufstieg, Leben und Tod. Mit jedem Atemzug gehen Tod und Leben abwechselnd in den Menschen ein. Ein Lehrsatz des großen Fechtmeisters Musashi Miyamoto (1582-1645) macht uns diese Tatsache im Fechtkampf klar. »Es gibt einen Zwischenraum, der nicht einmal Haaresbreite besitzt. Ihn werde ich mit der Fechtkunst ver82

gleichen. Wenn man in die Hände klatscht, so hört man den Schlag im selben Augenblick, der nicht Zeit und Raum von einer Haaresbreite hat. Nicht erst nach dem Schlag der Hände entsteht der Klang, sondern im Augenblick des Schlages springt er heraus. Mit dem Fechten verhält es sich genau so. Wenn man dem schlagenden Schwert des Gegners Aufmerksamkeit schenkt, entsteht ein Zwischenraum. In diesem Zwischenraum geht die eigne Handlung verloren. Man gewinnt nur dann das Schwert des anderen, wenn man zwischen dem schlagenden Schwert des andern und der eigenen Handlung nicht einen Zwischenraum läßt, in den eine Haaresbreite sich einschleichen könnte.« Die Stärke und Schwäche im Fechtkampf wird nicht allein durch die Geschicklichkeit einer schnellen Handlung mit dem Schwert bestimmt; die Größe der Harmonie des Fechtgeistes mit dem kosmischen Lebensrhythmus ist ebenfalls von Bedeutung. Je harmonischer diese Beziehimg wird, desto überlegener und schärfer wird die Handlung mit dem Schwert. Die japanische Fechtkunst könnte als eine Mystik des Kampfes bezeichnet werden, die aus dem Jenseits von Tod und Leben ihre Kräfte schöpft und im Augenblick der Entscheidung über Tod und Leben in Kraft tritt. So traumlos der japanische Rittergeist und so geheimnisvoll die Fechtkunst ist, so einmalig und sonderbar steht das japanische Rittertum als Phänomen in der Geschichte der Menschheit da. Die Quelle der ritterlichen Kultur Japans liegt nicht vyie ihre abendländische Genossin in der Frömmigkeit, mit der Hingabe an Gott und Minnedienst, sondern in der Aneignung der göttlichen Kräfte durch die Menschen, indem die Menschen den Atemzug Gottes in sich spüren. Diese Fechtkunst des japanischen Ritters er6*

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füllt, vom Buddhismus aus gesehen, die praktische Forderung der buddhistischen Philosophie, die man sich vom Beginn der Buddhazeit bis in die späte Entwicklung des Mahäyäna-Buddhismus neben der metaphysischen reinen Vernunft des Buddhismus als praktische Wirklichkeit des kosmischen Bewußtseins im Menschen zu realisieren bemühte. Der japanische Buddhismus erreichte durch das Rittertum seine praktische Vollendung. Die Kulturphilosophie Japans ist, vom Buddhismus her betrachtet, eine historische Offenbarung der drei Stufen des geistigen Erlebnisses: Seinserkenntnis, Erkenntnis der Erscheinung und das Nichts als Wirklichkeit. 1. Im Tempeldienst und in der plastischen Kunst der ersten Periode des japanischen Buddhismus gilt die ekstatische Bejahung des Seins in Form, Ausdruck und Phantasie. 2. Dann kam die Zeit der psychologischen Selbstbetrachtung durch die Literatur, in welcher der romantische Geist die Erscheinung, die Natur und die Menschen als Schein erlebte und liebte. 3. Danach trat — als Träger der aufhebenden Kräfte — das Rittertum auf, das durch die Verneinimg des Seins und der Erscheinung in das Wesen des kosmischen Geistes eindrang. Aus diesem Grunde heißt es: »Die Einigkeit der ZenMystik mit der Schwertkunst. Nicht ein Kampf um den Sieg bildet den Zweck des Kämpfens. Der Kampf ist nicht von der Stärke oder Schwäche der Kämpfer abhängig. Der Höhepunkt liegt in dem Moment, wenn beide Kämpfer sich gegenüberstehen und die Schwerter kreuzen. In diesem Augenblick können die beiden weder vorwärts noch rückwärts schreiten. Der Gegner sieht mich nicht; ich sehe den Gegner nicht. Nur zwei Schwerter schweben zwischen uns. Will man dabei den Sieg davontragen, muß man jenseits des 84

Kampfes die Ureinheit zwischen den himmlischen und irdischen Kräften, zwischen den aktiven und passiven Mächten des Kosmos in sich spüren. Der wirkliche Meister tötet die Menschen ohne Schwert, und läßt sie am Leben, wenn er zum Schwert greift. Wenn man sie töten will, tötet man sie; wenn man sie am Leben erhalten will, läßt man sie leben. Das höchste Können der Fechtkunst Hegt im Spiel mit Leben und Tod«. Dieser Satz stammt von dem Zen-Priester Jkkyu, dessen Schüler der bereits genannte Fechtmeister Miyamoto gewesen ist. Durch das Rittertum kam in Japan auf diese Weise im einzelnen Menschen eine Einigung zwischen dem Kulturwillen und dem politischen Willen in vollendeter Form zustande. 3. Kungfutseanismus als systematische Formung Die Geschichte des japanischen Mittelalters blieb nicht allein beim Rittertum stehen, sie drängte nach dem Verfall von Hofkultur und Politik durch die Verschiebimg der Machtachse in die Breite des Landes auf eine den ganzen Staat umfassende Weltanschauung. Die Erlösung des Einzelnen als Lebensanschauung fand die Masse in der einfachen unphilosophischen Form der Frömmigkeit und im Glauben an das jenseitige Leben nach dem Tode. Aber der politische Wille, der zuerst im Ehrbegriff und im Stammesbewußtsein des Ritters erwachte, breitete sich auch unter dem Volk aus und verlangte eine Zusammenfassimg aller Menschen, deren Gleichwertigkeit auch religiös fundamentiert war. Das fehlende Band zwischen Rittertum und Volkstum mußte durch ein lebendiges, volkseigenes Glied hergestellt werden. Dieser politische Wille setzte das Stammesbewußtsein vom einzelnen Ritter an bis in das 85

breite Volk hinein in Bewegung und gab auch dem außerhalb des Rittertums stehenden Volk einen leuchtenden Spiegel im Anblick der Ahnen, deren Hauptträger die kaiserliche Familie ist. Die Idee des Kaisers stellte vom Anbeginn der Reichsgründung, die nach der Sage um 660 vor Christi erfolgte, eine ideelle und reale Macht des politischen Willens dar, wurde aber durch den Aufstieg des Kulturwillens während der ersten kultischen Periode und der folgenden romantisch-künstlerischen Zeit zu einer Idee ohne Macht. Sie mußte sich wieder in Macht verwandeln, um das gesamte Volk am Schicksal des Staates teilnehmen zu lassen. »Ein einziger Herrscher und ein einziges Volk«, dies war der natürliche Ausdruck, unter dem der neue politische Wille sich meldete. Die Erforschung der Herkunft der Kaiseridee wurde durch das Studium der Mythologie lebendig. Neue Geschichte wurde unter der Idee des Kaisers zusammengefaßt. Das Stammesbewußtsein wurde in den einzelnen Familien aller Stände wach. Durch diesen gewaltigen Drang zur Wiedergeburt der Kaiseridee stürzte 1868 das Rittertum, das an Stelle des Kaisertums jahrhundertelang die politische Macht ausgeübt hatte. Die systematische Gestaltung der Kaiseridee, die die gesamte japanische Tradition mit allen Formen der Kultur und Gesellschaftsbildung von über tausend Jahren in sich aufzunehmen und aufzuheben im Stande ist, bedarf nicht nur der aktiven Mächte aus dem Stammesbewußtsein, sondern vor allem auch der Mitarbeit des Kulturwillens, der bereits durch den hohen Geist des Buddhismus vertieft worden war. Mit einem Wort: Die Kaiseridee mußte auch der Intelligenz einleuchten, deren Träger die Ritter waren. 86

Als die feudalistische Herrschaft im Anfang des 17. Jahrhunderts nach einer langen Kleinstaaterei der Fürstenherrschaft die Führung übernahm, förderte sie — wie das römische Reich den Katholizismus — den chinesischen Staatskult des Kungfutseanismus, um das mit Gewalt zusammengesetzte Staatswesen zu organisieren. Das Resultat war die Stabilisierung des Kastensystems und der durch die Standesordnung festgehaltene Friede. Aus diesem Kungfutseanismus, der dem Feudalismus diente, entstand ironischer Weise und kulturphilosophisch-natürlicher Weise die Erkenntnis der Kaiseridee im theoretischen Sinne. Man fand dort die Interpretation der japanischen Staatsgüter: Treue zum Kaiser und zu den Eltern. In einem chinesischen Text über den Begriff der Treue zum Herrn steht zu lesen: »Die Treue zum Herrn verbindet die Könige und das Gefolge, sichert den Staat, bewegt Himmel und Erde und auch Götter und Geister.« Oder es heißt: »Es gibt keine größere Tugend als die Treue zum Herrn, keine schlimmere Untugend als die Untreue gegen den Herrn.« Diese Kaiseridee war in Japan bereits in den Dichtungen des 8. Jahrhunderts wiederholt zum Ausdruck gebracht worden. Jedoch versank sie während der Ritterzeit in der Bindung zwischen Ritter und Gefolgschaft und später in der Treubindung zum feudalistischen Fürsten. Die Idee der Treue zum Herrn wandelte sich so vom Kaiser zum Ritter, vom Ritter zum Lehnsfürsten und schließlich vom Lehnsfürsten zum Kaiser zurück. Durch diese Wandlung erfuhr sie Vertiefung und Verbreiterung. Durch die Treue zu den Eltern wurden die Familien um den Ahnenkult zusammengehalten; durch die Treue zum Kaiser schloß sich das Volk um den Kaiserkult zu einer Einheit zusammen. Wie stark die Idee der Kaisertreue lebendig wurde, 87

dafür gebe ich das Gedicht eines Ritters namens Shöin Yoshida als Beispiel: »Ich sterbe nur für das Land. Trotz des Todes verrate ich weder den Kaiser noch meine Eltern. Die Dinge im Himmel und auf der Erde sind ewig. Nur bei den Göttern finde ich Anklang.« Moderne Kultur und Zivilisation aus dem Westen

Wie eine Wiedergeburt alter Tradition vollzog sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Neuschaffung des Kaiserreichs Japan. Maßgebend dafür war die politische, gesellschaftliche und kulturelle Gärung, vereint mit dem steigenden Willen zu Kultur und Politik des ganzen Volkes. Es handelte sich aber hierbei — wie sich genau beobachten läßt — nicht um eine plötzliche Wiedergeburt vergangenen Ideengutes, vielmehr deutet es auf eine kosmisch vertiefte Endform des Götter- und Ahnenkultes hin, die in der Vergeistigung der japanischen Menschheit jeden Einzelnen des Volkes beseelte. Die Vollendung des japanischen Geistes innerhalb des Inselreiches, die harmonische Einigung zwischen dem Kulturwillen und dem politischen Willen ist durch das moderne Kaiserreich, durch die Meiji-Restauration im Jahre 1868, geistig und machtpolitisch geschaffen worden. So steht Japan heute Europa gegenüber. Japan begegnet der europäischen Kultur mit dem kosmischen Geist seiner shintoistisch-buddhistischen Anschauung und nimmt so das Christentum, die abendländische Philosophie und Kunst auf. Sozialismus, Materialismus und Individualismus des Abendlandes erscheinen im Spiegel des japanischen Staatsgeistes allzu menschlich und allzu ichbetont. Dennoch werden sie als Begleiterscheinungen der modernen Wissenschaft und Technik, die zum Gedeihen des politischen Willens notwendig sind, aufgenommen und durchlebt. Aber 88

durch diese Begleiterscheinungen, die für das Abendland manche Werte und auch Schwäche hervorriefen, entstehen für Japan keine staatsbildenden und kultursteigernden Kräfte. Die Gegensätzlichkeit von Japan und Europa ist heute bereits als überwunden anzusehen; nach der ausführlichen Beschäftigung mit der abendländischen Kultur, nach der Sättigung des Kulturwillens durch die europäische Geistigkeit wurde der politische Wille Japans wieder lebendig. Die neue Epoche des japanischen Volkes beginnt nicht innerhalb des Inselreiches, sondern auf dem breiten, großen chinesischen Kontinent mit seiner Tradition von 4000 Jahren und seinen 450 Millionen Menschen. Nicht mit individualistischem Sozialismus, nicht mit einer materialistischen Weltanschauung kann der neue politische Wille Japans in nächster und weiterer Zukunft sich neuen Raum sichern, in dem ein neuer Kulturwille sich entfalten kann. Er kann es nur mit dem großen kosmischen Geist, der alles Weltliche in sich aufsaugt und neu gestaltet. Die Aufgabe Japans in Fernost ist nicht die Eroberung fremder Völker Ostasiens und die Vernichtung von deren Kulturen, sondern eine qualitative Neuformung und die quantitative Erweiterung des vorhandenen und überlieferten Gutes. Japan sieht seine Mission in der Weltgeschichte zuerst in einer völligen Synthese zwischen der ostasiatischen und der abendländischen Tradition auf seinem eigenen Boden und auf dem ostasiatischen Kontinent, aus der eine neue Kulturschöpfung entstehen könnte. Ob diese gigantische Kulturarbeit und politische Durchdringung der östlichen Hälfte der Welt gelingen wird, das zu entscheiden, überlassen wir dem Geschichtsschreiber der Zukunft. 89

WESENSBETRACHTUNG DER JAPANISCHEN K U L T U R S C H Ö P F U N G

I

M WESTEN SCHUF DER D E N K E N D E G E I S T große Kulturformen, in Ostasien die mystische Intuition. Beiden Kulturvermögen bleibt aber die Gefahr des Verfalls nicht erspart, der sich in der Einseitigkeit äußert, die die Kultur nach einem Pol schwingen läßt. Wenn der denkende Geist ins Extreme geht, so läuft er ins leere Gebäude hinein, das zwar den Anschein des Gigantischen hat, in dem aber weder Götter noch Menschen verweilen können. Wenn die Intuition um sich selber kreist, wird sie zur Müßiggängerin und bleibt in der Versenkung, so daß keine Schöpfung zustandekommt. Das Selbstbewußtsein der abendländischen Kultur ist ausgerichtet nach Größe, Exaktheit und Höhe ihrer denkenden Leistung. Größe und Höhe sind Eigenschaften des Räumlichen, und es ist kein Zufall, daß diese Begriffe immer wieder als Prädikate und Maßstäbe für die abendländische Kultur verwendet werden und ausschlaggebend geworden sind. Der Verstandesgeist hebt den Raum, das statisch Beherrschbare, und er wird in dem Augenblick unruhig oder wagemutig, wo er einen Abgrund sieht, aus dem Gott, Zwiespalt und Kampf erwachsen. Der intuitive Mensch ist vertraut mit dem Dynamischen, dem stets Vergänglichen — mit der Zeit. Er befindet sich a priori im Kampf, im Zwiespalt, im werdenden Gott. Er hält einen letzten imbedingten Abstand von dem Zeitlichen, nur um sich selbst nicht im Strom des gewaltigen Flusses zu verHeren. Diese Form kommt in Japan sowohl in der Kunst, in der Religion, in den philosophischen Aphorismen als auch im gesellschaftlichen Umgang auffallend zum Ausdruck. Wenn der Japaner aber einmal diese Insel des Ich verliert, so verfallt er in untätige Identitätsmystik oder in unausweichliche Verzweiflung. Er wird dann 92

ein religiöser oder künstlerischer Träumer oder ein harter Realist. Die schöpferische Leistung im Abendland entsteht aus dem Abgrund, die in Ostasien aus dem Abstand. Abgrund kann nie tief genug sein, sonst ist er kein schöpferischer Grund. Abstand kann nie klein genug sein, sonst entsteht eine Entfernung zur schöpferischen Quelle. Der Raummensch verachtet das Zeitlich-Vergängliche, der Zeitmensch ignoriert das Räumlich-Beständige. Beide gehen auf verschiedenen Wegen und schaffen andersgeartete Kulturen, doch wollen sie letzten Endes und im Innersten das Gleiche: das Ewige, das mit dem Verstand nicht mehr zu ergründen und mit der Intuition nicht ein für allemal zu erfassen ist. Aus den erwähnten Gründen liegt die Quelle der japanischen Kultur im Abstand. Diesen Weg nennen wir den Weg »Dö«, der — scheinbar konstant, aber in Wirklichkeit eine ständig verschiebbare Achse — zwischen dem ewigen Strom der Zeit und dem Einzelleben eine Verbindung aufrecht erhält. Dieses Verhältnis ist auch der Natur nach veränderlich. Deshalb wird die Art des Abstandes durch die Intensität des Menschen im Verhältnis zur Zeit bedingt. Denn nur die Zeit kennt die Intensität, den Auf- und Abstieg, Entstehung und Untergang, und ihre Stärkevariation bestimmt Qualität und Wesensart der Kulturschöpfung. Die Meßbarkeit des Abstandes ist nicht bedingt durch den Verstand, sondern durch die Intuition, die ein organisches Verhältnis zur Zeit hat. Aus diesem Grunde braucht die japanische Geschichte, wie auch der einzelne Japaner, eine lange Vorbereitungszeit, die in abendländischen Augen oft als Scheu vor der Tat, als Schwäche vor dem Angriff betrachtet wird. Tatsächlich hat das Zögern der japanischen Hal93

tung — abgesehen von Ausnahmefällen — mit Mangel an Mut oder mit Kraftlosigkeit nichts gemein. Alles organische Wachsen braucht seine Zeit; desto entscheidender und intensiver ist es, wenn es erst als Wirklichkeit dasteht. Dennoch bleibt es stets im Rahmen des Abstandes. Der eine Geist baute dort einen raumhaften Zugang: System, Mathematik, Plastik, Individuum, Technik. Der andere Geist entdeckte einen zeitlichen Strom; Mystik, Malerei, Gemeinschaft, Selbstschulung. Durch die Verschiedenheit beider Grundeinstellungen und Schöpfungsweisen des Geistes entstanden an der Oberfläche der Geschichte zwei verschiedene Gesichter der Kultur. Vor der Gewaltigkeit der räumlichen Größe des Abendlandes scheint die linienhafte Schöpfung der japanischen Kultur und Kunst zu verschwinden. Der räumlichen Sicherheit der abendländischen Kultur steht für den ersten Blick die zeitliche Flüchtigkeit als Unvollendetes gegenüber. Dagegen erscheint dem ostasiatischen Geist die abendländische Schöpfung zu realistisch. Ihn mutet das Raumhafte und die Mühe der Raumgewinnung wie der Stolz der Jugend an, die nur sich selbst, das menschliche Ich, in den Mittelpunkt stellt und vergißt, daß sie nur ein schwebendes Glied der kosmischen Gewalt bildet. Aber die abendländische Menschheit hat ihren kulturellen Weg seit über 2000 Jahren mit Konsequenz durchgeführt; heute gipfelt er im Wunder der Technik, in der Herrschaft über das Raumhafte. Das Schicksal des Abendlandes wird sich entscheiden entweder zum Untergang dadurch, daß man sich selbst dem Raumhaften vollkommen ausliefert und den Geist und seine schöpferische Tätigkeit im Mechanismus aufgehen läßt. Es wird dann nur ein Rest des Menschen94

tums übrig bleiben, der allein das Tierhafte und den Materialismus in krassester Form behält. Oder aber es wird möglich, das Raumhafte so zu beherrschen, daß der Geist sich wieder nach innen wendet, um — wie Goethe sagte — eine neue Welt für die Innerlichkeit zu entdecken. Auf diese Weise eröffiiet sich die Möglichkeit der Wiedergeburt des Abendlandes. Das, was dieses Nachinnenwenden veranlaßt, ist die Erkenntnis der Reife, die nur durch die Vertiefung des Geistes in den Urgrund, aus dem das Ewige gezeitigt wird, durch das Erleben des Zeit-Wesens ermöglicht werden kann. Im Gegensatz zum Abendland verkörperte Japan den anderen Pol der Kulturschöpfung und Weltauffassung. Das ganze Bestreben des japanischen Geistes seit zwei Jahrtausenden ging auf die vollkommene Innewerdung der Zeit, die im Erlebnis des Todes gipfelt. Das dem Menschen allerfremdeste ist sein eigener Tod, den er nie begreifen und erfassen wird, so lange er sein Leben raumhaft gestaltet und sich vorstellt. Denn der Tod ist das Kind der Zeit, das nicht urplötzlich geboren wird, sondern es lebt im Schöße des Lebens selbst oder läuft neben dem Leben her. Das Raumhafte wird durch die Zeit besiegt. Nicht vor dem Tode zu flüchten, sondern über ihn Herr zu werden, aus diesem Gedanken entsteht der Lebenskampf des japanischen Menschen, der sich aber nicht im Räumlichen oder in sichtbaren Werken entfaltet, sondern stets verborgen und im Urpersönlichen vor sich geht. Es ist der Kampf mit sich selbst, die Stählung der Willenskraft, die Steigerung der Sinnes- und Geisteskräfte. Wachsamkeit und Entscheidungsvermögen im Augenblick sind die Lebensforderungen, die im Kampf gegen die Zeit und deren Flüchtigkeit auftreten. Der Geist als Gesamtvermögen solcher Kräfte erreicht 95

nach einem seelisch-geistigen und körperlichen Schulungsprozeß das Stadium der Herrschaft über Leben und Tod. Der Tod, der immer als ein Hindernis in verschiedenen Masken wie Angst, Furcht, Sorge, Vorsicht auftritt, der dem Leben stets das große Wort »Wagnis« zuschreibt, verwandelt sich nun in eine neue Gestalt. Er ist nicht mehr das Ende von Allem, sondern der Anfang zum Leben. Er gibt nicht mehr Grund zur Unsicherheit, sondern er verleiht dem Menschen die äußerste Sicherheit zu allen Taten und zu allen Konsequenzen der geistigen Schöpfung. Mit der Überwindung des Todes zerschlägt der Mensch das letzte Stück seines atomhaften Wesens, er macht sich von Gott unabhängig, indem er sein naturhaftes Ich als Platzträger im Raum aufgibt. Denn Gott beherrscht die Welt, weil er den Hammer der Zeit in seinen Händen trägt und den Raum mit ihm zerschlägt. In dem Augenblick, wo der Mensch nicht mehr raumhaft, sondern imstande ist, die Zeit umzukehren und das Ende, den Tod am Anfang als immer neuen Beginn des Lebens anzusetzen, ist er Gott selbst. Oder, unmißverständlicher ausgedrückt: Er ist mit Gott verwandt und verkehrt in Gottes Hause. Aus einem solchen Welterlebnis hervorgehend und dadurch bestimmt, hat die Kunstschöpfimg im japanischen Geist eine eigene und sich von anderen streng abgrenzende Forderung an die Ausdrucksmittel, die an den Raum gebunden sind. Farbe, Ton, Buchstabe, Stoff, Mimik, Sprache usw., alles, was dem Ausdruck zugehörig ist, existiert im Raum. Die Raumkunst des Abendlandes bringt das Ausdrucksmittel zur Steigerung und in ihrem Sinne die Vollendung hervor. Man spricht nicht umsonst von dem Wirkungsraum! Statt dessen würde man in Japan von der Wirkungszeit sprechen 96

müssen. Darum ist es das erste Gebot der japanischen Kunst, mit dem Mittel sparsam umzugehen und das Ideengut nicht zu veröffentlichen. Die strenge Knappheit des Ausdrucksmaterials und das Geheimhalten der Technik sind methodische Bedingungen, die aus dem Zeiterlebnis des japanischen Volkes hervorgehen. Die geheime Übertragung des Kunstschaffens hat nicht die Absicht, die Veröffentlichung der entstandenen Werke zu verhindern, sondern sie will der Nivellierung des künstlerischen Geistes vorbeugen und den heiligen Charakter des Kunstwerkes nicht profanieren. Die letzte Anweisung des Meisters geschieht unter Ausschluß jedes Dritten. Der Schüler, der sie erhält, kann erst jetzt als Träger und Meister der Schule auftreten. Fast in jeder Kunstrichtung Japans ist diese Tradition des Hi-den (geheime Überlieferung) für das Schaffen des Künstlers entscheidend. Die Tradition, die in dieser Weise Generationen lang gepflegt und gesteigert wurde, kann nicht so leicht durch den kometenhaften Aufstieg eines Künstlers übertroffen werden. Es wurde häufig behauptet, daß es aus diesem Grunde in Japan keine so großen Genies gegeben hätte wie im Abendland. Die geniale Leistung der japanischen Kunst ist aber nicht nur von den begabten und auserwählten Individuen abhängig, sondern sie wird vor allem durch die Tradition hervorgerufen, die aber nicht als Geschichte eines Volkes oder einer Kultur fortlebt, sondern jahrhundertelang unmittelbar und ununterbrochen in der Abfolge des Meister-Schüler-Verhältnisses lebendig bleibt. Die Einmaligkeit eines Genius und die Gefahr seines Nie-wieder-kommens sowie die Ratlosigkeit aller Durchschnittsmenschen werden in Japan durch eine solche Strenge zur Erhaltung des geistigen Gutes aufgehoben. 7

K i t a y a z n a , Begegnung

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Wenn in Europa ein großer Genius, der noch nie dagewesene Werke geschaffen hat, gestorben ist, dann kann nach seinem Tode eine plötzliche Finsternis im Volke eintreten. Abgesehen vom Epigonentum und dessen eitlen Nachrufen, steht dann das Volk ratlos und führerlos da. Nach der Finsternis kommt das Chaos, und aus dem Chaos erwächst allmählich neues Licht, das von einem neuen Genius getragen wird. Im Gegensatz zu diesem abendländischen Kulturablauf bleibt die Genialität Japans im Prinzip und nach der Überlieferung in dem familiär gestalteten Schulsystem. Aus diesem Grunde muß sich jedes Genie als Schüler eines Meisters der Tradition fügen. Nicht die Genialität gibt der Schule oder der Tradition den Rahmen oder versetzt die Geschichte in Steigerung, sondern die Tradition gibt der Genialität ihre Anweisung und die Möglichkeit ihrer Entfaltung. Auch die Leistungen und Werke werden nicht nur dadurch überliefert, daß sie veröffentlicht und zum Allgemeingut werden können, vielmehr leben sie als stete und latente schöpferische Kräfte in der Tradition. Das innere Leben geistiger Tradition wird auf Kosten der individuellen und allzu individuellen Note der Genies lückenlos und ununterbrochen genährt und vertieft, sodaß es schließlich als Gemeingut der gesamten Volkskräfte organisch und seelisch-geistig lebendig werden kann. Hier gilt die Entscheidung: entweder die Genieleistung auf Kosten der Tradition oder die Tradition auf Kosten der Einzelleistung. Man wird diese Alternative für falsch erklären müssen, wenn man sie nur im Rahmen eines Kulturkreises feststellen wollte. Im Abendlande führt das Genie die Masse und baut die Kultur auf; zwischen dem Genie und der Masse ist eine Schicht Intellektueller, die in der Lage 98

sind, die Schöpfungen des Genies zu verstehen und ihren Wert abzuschätzen. Sie ist aber nicht immer die schöpferische Trägerin der Kulturschöpfung, sie ist vielmehr die Genießerin und Abnehmerin der geschaffenen Werke. Dagegen hat die Tradition in Japan eine andere Aufgabe als die der genießenden Trägerin der Kultur: Sie ist die unmittelbare Quelle der Schöpfung. In ihr fließt ständig der Strom der Genialität, der aber nicht nur dem einzelnen Genius zuteil wird, sondern zum Familiengut des Volkes gehört. In Japan marschiert das Volk nicht unter der Prophetie des Genius, es lebt und schafft wie eine Kolonne der großen und kleinen Kulturschöpfer, an deren Spitze die Fahne der Tradition getragen wird. Es geht in Japan deshalb nicht darum, aus der Masse Sondererscheinungen als unantastbare Größen zu schaffen, vielmehr gilt es, die Masse als eine Familie sowohl als Schöpfer wie auch als Träger auf dem immerfort steigenden geistigen und seelischen Niveau zu erhalten. In der japanischen Kulturgeschichte sieht man die eine einzige Tendenz einer schöpferischen Bewegung, das geistige und seelische Vermögen des gesamten Volkes so zu steigern, daß die in Raum und Zeit aller Kulturgeschichten der Erde ermöglichten und möglichen Variationen der Kulturschöpfungen des Ostens und Westens vereint werden, um sie in einer gänzlich neuen Form darzustellen. Nur von diesem Aspekt aus läßt sich die Geschichte Japans mit ihrer Einführung der Kulturen von China, Indien und Europa rechtfertigen. Die Möglichkeit dieser großen Zukunft Japans hegt erstens in dem geistigen Vermögen der Aneignung fremder Schöpfungen, zweitens in der Fähigkeit der Neugestaltung übernommener Kulturen und drittens in dem Geheimnis des Schöpferischen in der Tradition. 7

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Tradition Es wird heute viel von der Tradition gesprochen und geschrieben, doch wissen wir allzu wenig von ihrem eigentlichen Sinn. Und noch weniger besitzen wir den Sinn für die Tradition, durch den sie sich lebendig erweisen kann. Seit der Aufklärung ging es in Europa darum, sich möglichst von der Tradition loszulösen und dem sogenannten „Fortschritt" zu huldigen. Man verstand unter Fortschritt die Überwindung der Tradition, und der, der weiter in ihr lebte oder zu leben schien, wurde mit dem Schlagwort »Anachronismus« abgetan. Trotzdem ist jeder Mensch und jede Generation aus der Tradition hervorgegangen, ohne sie war Anderes und Neues gar nicht möglich. Die Tradition kann sehr wohl zu einem Druck oder gar zu einer Fessel werden, wenn sie die Geschichte zur Erstarrung bringt, aber das Totlaufen der Geschichte liegt weniger an der Tradition als an den Trägern der Geschichte selbst, die mit ihrer Einmaligkeit nichts Einzigartiges in der Geschichte hervorzubringen vermögen. Wiedergeburt oder Renaissance dürfen dann nicht als Wiederholung des geschichtlich und kulturell Einstmaligen verstanden werden, sondern als die Sehnsucht einer Epoche nach Rückkehr des vergangenen Geistes. In der Geschichte des Abendlandes bedeutete diese Wiedergeburt stets das Überspringen auf eine Zeit, die vergangen ist, und das Zurückgreifen auf das, was sich noch nicht in der Phase der Erstarrung befindet. Wenn das so gefundene Gut der weiten Vergangenheit auch seinerzeit sich als ein Abgeschlossenes, bereits Erstarrtes erwiesen hatte, wird es wieder aufgenommen und im neuen Zeitgeist, der unter anderen Umständen zu leben beginnt oder lebt, umgestaltet. Diese sprunghafte Wiederkehr der Tradition im Abend100

lande liegt in der Natur der abendländischen Geschichte und in derem Schicksal selbst begründet. In der japanischen Geschichte begegnet man dagegen einer einheitlich konsequent durchgeführten Linie der Tradition, deren Wandlung wohl unter dem Zeichen eines sich wandelnden Zeitgeistes steht, aber doch eine ununterbrochene Grundstimmung deutlich aufweist. Dieser an und für sich geschlossene Rhythmus der japanischen Geschichte beruht sowohl in der geographischen Lage des Landes als auch in der engen Verbindung der angeschlossenen Umwelt und der Geschichte selbst. Der Sinn für die Tradition, für eine einheitliche Geschichtsauffassung, ist in Japan — unabhängig von der Religion — früh entwickelt. Das erste historische Zeugnis dafür ist die umfangreiche schriftliche Niederlegung der Mythologie Japans. In ihr findet das Verhältnis zwischen Religion und Politik die fundamentale Basis für alle weitere Entwicklung der japanischen Geschichte, deren Bestätigimg in der neusten Aera mit dem kaiserlichen Reskript über das Bildungs-und Erziehungswesen 1890 erfolgt ist. Diese mythologische Auffassung der Staatstradition gibt der japanischen Geschichte den äußeren Rahmen, innerhalb dessen der japanische Geist seine Kultur schuf. Er ging vielmehr in die Tiefe, aus der heraus er kulturelle Schöpfungen hervorgerufen hat. Die fremden Kulturen, die auf die japanische Einfluß ausübten, waren zuerst, dank der geschichtlichen Umstände, wohl höher gewesen als die eigene, dennoch erwiesen sie sich weder als Bezwinger noch als Umgestalter des japanischen Geistes. Man bediente sich freilich der indischen Mystik und der chinesischen Kultur. Jedoch war der japanische Geist fähig, sich nicht um die 101

Rahmenerscheinungen solcher Kulturen zu kümmern, sondern das Wesenhafte aus ihnen zu gewinnen und sie auf eine völlig neue Basis zu stellen. Dieser Vorgang der Kulturübernahme und deren Neugestaltung hat in allen Kulturvölkern der Weltgeschichte stattgefunden. Dem Vorwurf der Kulturnachahmung gegen das japanische Volk entspräche es, wenn man es der deutschen Kultur z. B. als Nachahmung der griechischen und römischen auslegen würde, daß sie in Piaton und Aristoteles Vorbilder der Philosophie sah und sie eifrig interpretierte oder gar nach ihren Ideen philosophierte, daß man die griechische Plastik als Wegweiserin zur Bildhauerei des Abendlandes betrachtete, oder wenn man die Kultur des deutschen Mittelalters als ganz vom Christentum abhängig ansehen würde. Dennoch gingen aus ihr gewaltige Kulturschöpfungen als selbständige und sich scharf von denen der anderen unterscheidende Leistungen hervor. Die japanische Tradition stand unter dem gleichen Gesetz im Rahmen des ostasiatischen Kulturraums. Sie entfaltete sich aber vollkommen selbständig und grenzte sich so in ihrer schöpferischen Gestaltung unzweifelhaft von der indischen und chinesischen ab. Die Eigenart der japanischen Tradition hegt nicht nur im Zusammenhalt und der völkisch bestimmten Geschlossenheit, sondern auch in der persönlichen Form der Schulbildung, in jeder Richtung der geistigen Tätigkeit. Wir sehen hier von der Religion ab, die in einem anderen Zusammenhang zur Sprache kommt und betrachten hauptsächlich die schönen Künste. In ihr entfaltete sich die besondere Gesinnung der Tradition des japanischen Volkes am stärksten. In Dichtung, Malerei, Dramen- und Schauspielkunst, im Teeund Blumenkult wird die Tradition jeweils in eigener Form gepflegt und streng gehalten. Alle diese Kultur102

tätigkeiten nennen sich mit Vorliebe mit dem Prädikat »Michi« oder »Do«, d. h. Weg, was nichts anderes als die strenge Innehaltung der Tradition bekundet. Diese Einstellung zur Kunst und zu aller Art von Kulturschöpfung ist nicht als individuelle Meinung oder Formgebung irgendeines Künstlers oder Kunsttheoretikers entstanden. Sie wuchs vielmehr aus der Geschichte als eine dem japanischen Volk eigene Erkenntnis und Methode zur Kulturschöpfung heraus und kristallisierte sich im Laufe von Jahrhunderten. Form

Die japanische Tradition als »Weg« äußert sich in der besonderen Auffassung der Form. Die Form, die den Kern des japanischen Kunstschaffens bildet, ist nicht das äußere Gerüst des inneren Gehalts, sondern Vorbild und Ideenmodell, in dem alles Wesentliche jeglicher Kunst aufbewahrt wird, woran jeder Künstler seine Kunst zu erarbeiten hat. Diese Form wird »Kata« genannt. Kata heißt im japanischen Sprachgebrauch Modell, Methode und auch Richtung. Jede Kunsttradition hat ihre Form. Die Form in der japanischen Tradition entstand als Essenz aus den Erfahrungen von Generationen. Jeder Meister trug zur Tradition seine Erfahrung als Lebenswerk bei, indem er sie entweder schriftlich niederlegte oder mündlich oder durch die Arbeit selbst an die Schüler weitergab. Die Form ist deshalb nicht an den einzelnen Stoff oder an den konkreten Gegenstand gebunden, sondern sie bildet erstens den geistigen Kern des Kunstschaffens, zweitens eine durch Jahrhunderte erprobte und bestbewährte Anweisung zum Schaffen, drittens Grundlage und Prüfstein für jeden Künstler. 103

»Es wird oft gesagt, es wäre sehr anerkennenswert, wenn jemand die Absicht hegt, bedeutende Werke zu schaffen, und so lange sein Talent verbirgt und heimlich lernt, bis er plötzlich seine Leistung zeigen kann. Aber wer so etwas sagt, hat noch nichts hervorgebracht. Nur derjenige, der sich — wenn auch noch im unreifen Stadiinn — früh unter den Meistern befindet und von anderen verhöhnt oder verlacht wird, der sich aber trotzdem seines Schaffens nicht schämt und freudig in seiner Arbeit beharrt, auch wenn er keine große Begabung besitzt, der sich aber nicht in der Kunst gehen läßt und sie auch nicht mißbraucht, nur ein solcher erlangt im Laufe der Jahre die Meisterleistung, und zwar ehtr als ein Talentierter, der sich nicht in die Arbeit versenkt und sich ihrer nicht freut. Er erreicht schließlich einen beispiellosen Namen, indem er an seiner Leistung reift und von anderen anerkannt wird.« »Auch bei den bedeutenden Meistern der Welt wurden häufig Talent und Begabung nicht früh entdeckt, und auch sie hatten große Fehler und Schwächen. Wenn sie sich aber streng an den »Weg« halten, auf ihn achten und nicht abschweifen, können sie schließlich weltbedeutend und zum Vorbild Aller werden. Diese Tatsache gilt unverändert für jeden Weg.« (Priester Kenko, Aufzeichnungen zum Zeitvertreib, Kap. 150.) Aus diesem Grunde muß in Japan jeder, der den Weg zur Kunstleistung beschreiten will, sich früh in die Tradition hinein begeben, die ihm als Schulung dient. Von Kindheit an werden die Künstler streng und fast spartanisch in der Tradition geschult. Die Härte der Schulung in der japanischen Kunst keimt keine Grenze. Pädagogische Milde und Schonung kennt eine solche Schulung nicht. Der »Weg« fordert von dem Schüler, sich die Tradition von Jahrhunderten anzueignen und 104

Begabung und Energie daraufhin zu prüfen, ob er sich angesichts der Tradition bewähren kann. Durch diese KunstaufFassung werden Dilettantismus und Epigonentum ausgeschaltet; denn sowohl die Dilettanten als auch die Epigonen versagen vor den Forderungen der Tradition. Bei dieser Bedeutung der japanischen Tradition kann leicht der Verdacht aufkommen, daß sie den Einzelnen seiner Freiheit beraubt. Nach der landläufigen und sogar auch philosophisch begründeten Auffassung über die Kunst und deren Schaffen im Abendland liegt die schöpferische Leistung in der individuellen Fähigkeit und Begabung, denen die freie Genialität zugesprochen wird. Darum ist sogar die Frage aufgetaucht, ob und wie man die Grenze zwischen Genie imd Wahnsinn feststellen könnte. Dieses Problem gibt es in der japanischen Tradition nicht. Wenn die großen Meister auch gelegentlich im Leben als Sonderlinge galten, so war doch ihre Sonderart weder erblich begründet noch die Gesellschaft gefährdend. Es handelte sich fast ausschließlich um die Vernachlässigung von Äußerlichkeiten, die der Durchschnittsmensch als Lebenskodex achtet. Die Tradition in Japan siebt zunächst die Talente oder ermöglicht es scheinbar Untalentierten, sich in ihr zu entdecken. Nur für Willkür oder Abarten hat die Tradition keinen Spielraum. Denn die Tradition ist ihrer hohen Idee und ihrer Aufgabe nach heilig. Sie ist größer als jeder Großmeister, sie ist strenger als jeder Lehrer, sie ist bedeutender als jeder individuelle Einfall. Sie tritt jedem Anfanger und Schüler wie ein unerreichbarer Riese entgegen. Deshalb wird alles, was in der Tradition liegt und in ihr auftritt, mit Ehrfurcht entgegengenommen. Ohne Ehrfurcht wäre kein Weg gangbar. •Man muß der Güte des Meisters dankbar sein, wenn 105

sie auch nur für eine einzige Silbe in der Dichtkunst gilt. Man darf nicht vor anderen als Lehrer auftreten, wenn man nicht einmal den wahren Sinn eines Gedichtes verstehen kann. Man kann andere erst dann lehren, wenn man selbst mit seiner Kunst zu einem Abschluß gekommen ist.« (Bashö, Vorschriften zur Wanderung.) Der Zweck der Schulung in der Tradition ist erstens die Ausschaltung der Willkür. Die Produkte der Willkür können faszinierend wirken, sie können mit einer Genieleistung verwechselt werden, wie es oft in der Geschichte geschah. Doch können sie sich nicht auf die Dauer behaupten, geschweige denn, daß sie einen Platz in der japanischen Tradition beanspruchen könnten. Solche Erscheinungen treten dann auf, wenn die Zeit kein bewußtes Ziel und Kriterium für das Ewige besitzt. Der zweite Zweck der japanischen Tradition ist die Selbstschulung des einzelnen Künstlers. Die Selbstschulung oder Selbsterziehung gilt fast als Sammelbegriff aller Ideale des japanischen Menschen. »Der Weg des Menschen verfallt, wenn man ihn nur einen einzigen Tag vernachlässigt. Deshalb ist die unermüdliche Schulung des Menschenweges entscheidend, aber nicht das Warten auf dem natürlichen Weg . . .« (Sontoku Ninomiya.) Nicht die Leistung, in tausend Bänden niedergelegt, nicht die höchstgeistigen Systeme von weltgeschichtlicher Breite, nicht die gigantischen genialen Werke und auch nicht der Ruhm um der Größe und Bedeutung willen sind die letzten Ziele und Erfolge des japanischen Kulturschaffens, sondern die Erreichung des Gipfels des Heiligen im Menschen, das man in Japan »die Würde der Persönlichkeit« nennt. Dieser Gipfel wird weder durch Genialität noch durch 106

religiöse Exerzitien erreicht, sondern nur durch das unermüdliche Bemühen mit sich und um sich angesichts der hohen Maßstäbe der Persönlichkeitsschulung. Dieses Ziel gilt für jede Spielart der Kulturschöpfung, sei es in der Wissenschaft, sei es in der Kunst. »Die wahre und nützliche Wissenschaft ist so, daß man sich in ihr und durch sie schult und erziehen kann. Es ist eine unwahre und unnütze Wissenschaft, wenn man glaubt, nur mit der Kenntnis der Schriften Wissenschaft zu treiben. Wenn man auch im Hören und Lesen hochgebildet und vielwissend ist, ist es trotzdem noch keine nützliche Wissenschaft. . .« (Ekken Kaibara, Schriften zum Edelmenschen. Band 1.) Der chinesische Philosoph Mengtse sagte einmal (Mengtse, Band 4) »Die Erfüllung ist das Schöne. Wenn die Erfüllung Glanz erhält, dann ist sie die Größe. Wenn die Größe auch wandlungsfahig ist, ist sie das Heilige. Wenn das Heilige nicht mehr begriffen werden kann, ist es Gott.« Die Erfüllung der Persönlichkeit ist der Anfang aller Künste. Sie schreitet schließlich bis zum Altar des Heiligen, Gottes. Darum wird in Japan ein bedeutender Künstler als Heiliger betrachtet: der Dichterheilige, der Malerheilige, der Heilige des Teekults, der Heilige des Fechtens usw. Der dritte Zweck der japanischen Schulung in der Tradition hegt in der Verewigung des Einzelnen und Zeitgebundenen. Durch den Schulungsprozeß wird das Individuelle auf seinen Ewigkeitsgehalt geprüft und erhält seinen Rang und Platz in der Tradition. Wir geben hier das Beispiel des »Nö« (klassisches Dramenspiel). In den Unterweisungen für das NöSpiel, die der Schauspielkunst im Nö-Drama die theoretische Grundlage geben, wird das Können des Künst107

lers auf dem Wege der Schulung mit der Eigenschaft der Blume verglichen. »Es gibt drei Blumen: die Blume der Zeit, die vom Alter abhängt, die Blume der Stimme und die Blume der realen Buntheit. Alle diese Blumen treten unseren Augen als Ausdrucksformen entgegen, aber sie entstehen aus dem technischen Können des Künstlers, deshalb sind sie wie die blühenden Blumen in der Natur, die der Zeit des Vergehens unterworfen sind. Ihr Dasein währt auch nicht lange, und sie können nur wenig die Hochschätzung der Welt erringen. Aber nur die wahre Blume entspricht mit ihrem Prinzip des Blühens und Vergehens dem Prozeß des Reifens im Künstler. Deshalb ist sie von dauernder Natur . . .« (Seami, Kadensho-Schriften der blümigen Überlieferung.) Der vierte und letzte Zweck der Schulung gilt der Entfaltung der künstlerischen Freiheit. Die durch Tradition und Schulungsforderung scheinbar verdrängte und beiseitegeschobene Freiheit des Kunstschaffens und der Genialität des Künstlers tritt erst dann zutage, wenn der Künstler sich in allem Wissen der überlieferten Güter und in dem durch die Tradition Schritt für Schritt geprüften und geschulten Können als vollständig reif erweist. Der Holzschnittmeister Hokusai, der bereits im 13. Lebensjahr in die Schule der Malerei eintrat, war erst mit achtzig Jahren von seinem Werk befriedigt. Der Nömeister Seami begann seinen Weg als Nöspieler im Alter von sieben Jahren und im 50. Lebensjahr schrieb er Folgendes: »Die wirklich erreichten Künste leben wie die Blüten, die trotz des hohen Alters des Stammes, der keine Zweige und Blätter mehr trägt, doch noch unverwelkt am Baum gebheben sind. Das ist der Beweis für die Kunst, die noch unmittelbar 108

an einem alten Mann wie die Blüte an einem alten Baum aufgegangen ist.« (Kadensho.) In einem solchen Stadium kann sich die individuelle Fähigkeit ungehindert durch die Tradition und durch das Mittel des Schaffens entfalten. Eine Andeutung im Vergleich zur japanischen Wirklichkeit der göttlichen Freiheit finden wir im Abendland in der Philosophie Schellings:». . . so ist sonderbar, daß, da die individuelle Freiheit doch auf irgendeine Weise mit dem Weltganzen (gleichviel, ob es realistisch oder idealistisch gedacht werde) zusammenhängt, irgendein System, wenigstens im göttlichen Verstände, vorhanden sein muß, mit dem die Freiheit zusammen besteht.« (Philosophie der Freiheit.) Das Weltganze ist im japanischen und somit im ostasiatischen Sinne das Urgeheimnis der kosmischen Ganzheit, das in der geistigen Läuterung überall und immer durchsichtig und wirklich wird. Das geistige System Japans ist nicht ein erdachtes und erschautes, sondern es ist das Lebenssystem der Wirklichkeit. In Ostasien gibt es kein System im Sinne der Philosophie, es gibt statt dessen Metaphern, die die Offenbarungsweisen des Urgeheimnisses andeuten. Das Schwergewicht des geistigen Schaffens fallt dort weniger auf das systematische Erfassen des Weltganzen und der Weltgeschichte als auf das wirkliche Erleben der Ganzheit durch die intuitive Wesensschau, in der alle geistigen und sinnlichen Funktionen zusammenarbeiten. In diesem Augenblick, der übrigens auch ein Dauerzustand sein kann, schwindet die Grenze zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen, dem Endlichen und dem Ewigen. Es entsteht aber keine mysteriöse Verworrenheit der Erkenntnisse, sondern die Realitäten und Einzelheiten, die Momente und Abschnitte treten dort sogar deutlicher, unterscheid109

barer und stärker auf als in den sogenannten normalen Geistesfahigkeiten. Die Beispiele dafür sind in nicht geringer Anzahl in der japanischen Geschichte überliefert. (Siehe »Der heilige Berg Fujiyama« von Hokusai, Nachwort. Inselbücherei 520.) Dort wurde nicht nur die Steigerung der Sinnenfahigkeit über die normalen Zustände hinaus bezweckt, sondern gerade umgekehrt: Die geistige Durchdringung der Sinnenwelt bringt die Gegenstände der Sinne in ihren Wesenszügen und ihrem Wesensgehalte hervor. Diese Erfassungsweise der Gegenstände kann aber nicht allein durch die Steigerung der Geistesfähigkeit im abstrakten Denken ermöglicht werden, wie es im Abendlande insbesondere im philosophisch-mathematischen Denken geschah, sondern nur dadurch, daß der Geist mit den Sinnen und durch sie arbeitet und niemals den Boden der Realität verläßt. Die Welt vor der SubjektObjektspaltung, die Unmittelbarkeit vor der Trennung von Erscheinung und Wesen ist und bleibt von Anbeginn bis Ende für den japanischen Geist der Gegenstand. Mit anderen Worten: Der Gegenstand der japanischen Geistesbetrachtung ist die Welt der Dinge an sich. »Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann sich nur in dem offenbaren, was ihm ähnlich ist, in freien, aus sich selbst handelnden Wesen, für deren Sein es keinen Grund gibt als Gott, die aber sind, so, wie Gott ist. . . Gott schaut die Dinge an sich. An sich ist nur das Ewige, auf sich selbst beruhende, Wille, Freiheit. . .« (Schelling, »Philosophie der Freiheit«.) Da in dem japanischen Denken nicht nur der reine Geist ohne Sinnensublimierung tätig sein kann, können wir die von Schelling gemeinte Freiheit, die Dinge an sich, 110

die Gegenstände der göttlichen Schau, als die »Intuition und deren Welt« bezeichnen. Ein japanischer Teemeister schreibt über die Kunst des Tees im Vergleich mit der strategischen Taktik. »Das Verteidigen ist eine schlechte Taktik. Sie ist aber etwas anderes als die gewöhnliche Ungeschicklichkeit. Sie bleibt wegen des Werkes an der Taktik hängen, wie man an dem Jagdgürtel wartet, bis der Hase hineinläuft. Der Angriff ist die bessere Taktik. Aber er darf kein gewöhnlicher Angriff sein, sondern er muß mit der Verteidigung zusammen geschehen. Gegebenenfalls ist auch das Verteidigen eine Taktik, die die Taktik des anderen bricht. Es ist so, wie wenn man nach der Windrichtung die Segel spannt. Das sich Fernhalten ist meisterhafte Taktik. Es ist kein gewöhnliches Sichfernhalten, sondern man verteidigt sich im Abstand, nachdem man alles lückenlos vorbereitet hat. Der buddhistische Text Vajram sagt: "Der wahre Gedanke wird lebendig, wenn man an nichts mehr haftet und nirgends ist."« Im Nö-Spiel heißt es folgendermaßen: »Man soll nicht nur die verschiedenen Grundzüge der Realitäten kennenlernen, vielmehr darf man die Blumen der Kunst, die in jedem Jahr kommen und vergehen, nicht vergessen . . . Die Blumen, die kommen und vergehen, sind die Angesichter der Kindheit, die Technik in der Jugend, die Handlung im Mannesalter, die Gestaltung im späteren Alter. Alle diese Gestaltungsweisen, die man in der Vergangenheit erlebte, sollen sich in der gegenwärtigen Kunstschöpfung widerspiegeln . . . Dies bedeutet, die Kunst von Jugend an bis ins hohe Alter hinein gleichzeitig zu beherrschen.« (Kadensho.) Unabhängig von äußerer Veränderung und innerer Wandlung, also ungehindert vom Mittel und vom Alter, 111

muß sich der Nö-Spieler in jeder Situation und in deren eigenen Gestaltungen frei und schöpferisch bewegen können. Das gilt als das höchste Stadium der Schauspielkunst im Nö-Drama Japans. Es gibt eine große Anzahl japanischer Sagen, die uns mitteilen, daß verschiedene Kunstwerke der großen Meister plötzlich lebendig wurden, als sie fertig waren. Daß z. B. eine menschliche Figur aus Holz begonnen hätte, sich zu bewegen, oder daß ein Schmetterling, der gemalt wurde, eines Tages aus dem Bild davon geflogen sei usw. Man darf diese Erzählungen nicht nur als Sagen bezeichnen, die die Meisterwerke lobpreisen, sondern sie verraten uns, daß die Werke so sehr beseelt waren, daß solche Erzählungen entstehen mußten. Diese Meisterwerke werden als »Göttliche Leistung« oder »Wunderwerk« bezeichnet (Myö-gi). Aus dem bisher Erwähnten geht klar hervor, daß die japanische Kultur aus ihren eigenen schöpferischen Kräften hervorging. Die schöpferische Fähigkeit eines Volkes oder eines Künstlers kann nicht von einem anderen Volk oder einem anderen Künstler entlehnt werden. Sie muß da sein. Schöpfungskraft, Intuition und Tradition

Die intuitive Anlage des japanischen Volkes kann nicht ergründet werden, sie ist dem japanischen Geiste a priori mitgegeben. Ihr Gegenstand bewegt sich nicht in Frage und Antwort, auch nicht in der Verfolgung logisch setzbarer Strukturen des Seins und des Weltganzen. Verstandesmäßig teilbar ist nur das Sein, das aus den Teilen besteht, deren Zusammenhang als etwas Ganzes erscheint. Gott und Naturgesetz stehen in dieser Sphäre der Erkenntnis einander gegenüber und fuhren einen 112

unentwegten Kampf um die Souveränität. Gott als Schöpfer der Welt ist ein Produkt des kausaldenkenden Verstandes; denn das Geschöpf kann nur vom Schöpfer kommen. Die Übertragung dieses raumhaften Denkens in die Zeitfolge der Realitäten bildet die Geschichtsauffassung des Abendlandes. In Ostasien, insbesondere in Japan, geht der Weg in entgegengesetzter Richtimg. Der erste Gegenstand, der der Intuition gegenübertritt, ist nicht ein teilbarer und logisch befragbarer, sondern die Ganzheit schlechthin. Nicht eine Idee, nicht ein Idealgebilde, nicht ein Wunschtraum, sondern ein Unbenennbares, wie Laotse sein Tao nannte, Unmittelbares, das jenseits des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen lebt, wie die Vorstellung des Weltunterganges und -anfangs, das ist die Erlebniswelt der japanischen Intuition. Dieser vorbegriffliche Raum ist die Heimstatt des japanischen Geistes. In ihm werden Natur, Lebewesen, tote Dinge, Menschen und alles, was den kosmischen Weltraum ausmacht, im Wesensgefüge erschaut. Ihre Beziehungen zueinander, die im Abendland heute durch Gesetze, Thesen und Analysen, durch logische und mechanische Kombinationen geregelt werden, empfindet der japanische Geist intuitiv und instinktiv als das Band aller Existenzen ungefärbt und unvoreingenommen. Die Brücke zwischen Ich und Du, zwischen Menschen und Umwelt wird dort nicht hergestellt, wird nicht erst vom Ich zum andern geschlagen, sondern sie ist von jeher da und braucht nur noch entdeckt zu werden. Die Atomhaftigkeit der Individuen, die sogar nach Leibniz fensterlos, also ohne Zugang zueinander, sein sollen, liegt nicht in der Sphäre des japanischen Geistes. Die Dinge behalten dennoch ihre Individualität einerseits, sie sind nicht eins, sofern sie sind. Andererseits atmen 8

K i t a y a m a , Begegnung

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sie restlos und ausnahmslos in dem einen einzigen Luftraum, der ihre Existenz ermöglicht. Nicht das Entdecken und Ergründen des Ego ist dort ausschlaggebend und der Ansatz zu allem weiteren, sondern das Entdecken und Vertiefen der Gleichheitsbasis aller ist die Aufgabe und Praxis der japanischen Menschheit. Nicht das einsam-verlassene Ich sucht seine Verwandtschaft in der Natur oder Gott. Nicht im Reiche Gottes sucht das Ich seine eigene Welt und deren Autonomie. Entdeckt wird nur, was gedeckt und verborgen war. Durch die Ichentdeckimg befreite sich der abendländische Mensch von der absoluten Herrschaft der Kirche und ihres Gottes. Er verließ in dem Augenblick seine Heimat, die seit dem Einbruch des Christentums ins Abendland ihm eine Ruhestätte gewährt hatte. Er ging allein auf die Suche nach neuer Heimat. Der japanische Mensch blieb dagegen in seiner Urheimat und bei seinen Göttern. Die Inder schenkten ihm die Mystik, die Chinesen die Metaphysik. Diese fremden Geister wagten aber nicht, dem japanischen Menschen den Boden wegzunehmen. Im Gegenteil erfuhr er durch sie, wie wichtig es ist, seine Wurzeln tiefer in der Heimat zu schlagen und seine Beziehungen zur Natur und zu den Göttern zu stärken. Die indische Mystik gab ihm die Winke, die menschliche Seele zur kosmischen zu erweitern und zur göttlichen zu steigern, die chinesische Metaphysik lehrte ihn, seine Bindung zur Natur zur Allnatur zu vertiefen. Die Ziele, die der japanische Mensch zu suchen und zu erreichen hatte, waren nicht weit von ihm entfernt, sie lagen in ihm selbst und unmittelbar um ihn: in Seele und Natur. Darum ging die Entdeckungsfahrt des japanischen Menschen nicht nach außen, von seiner Heimat fort, auch nicht nach einem Außersichsein zur Erfindung 114

neuer Möglichkeiten, sondern sie beharrte jahrhundertelang auf dem gleichen Weg, in sich hinein zu sehen und seine Heimat zur göttlichen zu erheben. Nach der langen Reise durch Jahrtausende entdeckte er schließlich seine Heimat als göttliches Land und seine Selbstheit als göttliches Wesen. Es handelt sich hier nicht nur um eine Volksüberzeugung oder mythische Überlieferung, wie es oft ausgelegt wird, sondern um die einmalige Einstellung eines Volkes und seine unentwegte Arbeit, die schließlich in der Tradition als konkrete Tatsache im japanischen Volk offenbar wurden. Die intuitive Fähigkeit des japanischen Volkes läßt sich unzweifelhaft in verschiedenen Richtungen und Gebieten nachweisen. Die geistige Fähigkeit und ihre Resultate sind mit dem Verstand nicht zu erschließen, sie lassen sich nicht durch irgendeine wissenschaftliche Methode erklären. Sie bleiben vor dem heutigen Stande der Wissenschaft ein Geheimnis und Rätsel. Diese menschliche Fähigkeit wird, um sie nicht nach dem Tode eines Einzelnen zu verlieren, in der Schultradition gepflegt .Japan als Volk ist nichts anderes, als ein Reich solcher Schultraditionen. Das ganze Volk bildet mit seiner intuitiven Geistesfähigkeit eine Schule der Tradition. Die zeitgenössische japanische Auffassung der abendländischen Kultur und Zivilisation entspringt vollkommen natürlich aus der Natur ihrer Tradition. Sie wird im Abendland wieder neue Beziehungen zu den Göttern und zur Natur entdecken. Im Christentum, in der Philosophie, in der Kunst und in den Naturwissenschaften werden durch die japanische Intuition neue Welten der kosmischen Beziehungen offenbar, deren praktische Resultate wohl erst nach Jahrhunderten zu erwarten sind. 8-

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»DER WEG« (DO) ALS T R A D I T I O N I N DER J A P A N I S C H E N K U L T U R SCHÖPFUNG

Bedeutung des »Weges« LLE JAPANER SUCHEN E I N E N »WEG«,

A

der unbekannt und doch in der Geschichte bereits als gegangen aufgezeigt ist. Wir sehen in Persönlichkeiten und Werken Marksteine und Spuren dessen, was der Weg eigentlich sein kann, aber nie einen beendeten Gang. Er zeigt sich uns stets als Ziel der geistigen Sehnsucht und als Warnungsschild für diejenigen, die leichtfertig dahinleben und leicht, allzuleicht vergessen, warum und wie das Japanertum sein muß. Die Kulturgeschichte Japans ist nichts anderes als ein endloser Pilgerzug auf dem Weg, dessen Ende in der Unendlichkeit liegt. Je weiter man kommt, desto ferner rückt der Horizont des Weges. Diese Vorstellung entsteht dann, wenn man glaubt, daß das Ziel des Weges irgendwann einmal, vielleicht gegen Ende des Lebens, erreicht werde. Ein großer Chinese sagte: »Mit achtzig Jahren war ich so weit, daß all mein Tun und Handeln nicht das Gesetz des Himmels übertrat«. Der japanische Geist gleicht dem eines rastlosen Suchers, dessen Herkunft und Zukunft unbekannt und dem nur die Richtung des Ganges bekannt ist. Kleine Geister lassen sich durch die sanfte Jenseits-Hoffnung täuschen oder durch gewaltsam erzwungene Diesseitserlösung, die doch beide nichts anderes sind als Irrtümer des schwachen Geistes oder Selbsttröstungen der auf halbem Wege Ermüdeten. Die Suchenden auf dem Weg nach der unbekannten Heimat kennen keine Rast, keine Ruhestätte. »Mitten auf der Reise befinde ich mich und ward krank, meine Träume rasen auf dem öden Feld.« (Bashö) 118

Den Japanern wird kein Himmel versprochen, auf ihnen ruht nicht die rettende Hand Gottes, ihnen ist nur ein Weg zugesprochen, den sie mühsam suchen und finden und um dessentwillen sie oft wie ein Mönch allem Irdischen entsagen, oft auch wie ein herrenloser Ritter, der trotz Not und Hunger nie seine Ehre aufgibt, mit T o d und Teufel kämpfen. Dieser W e g ist ein Werk, das niemals vollendet werden kann, das keine Sättigung durch die Erfüllung findet. Es gibt dort keine Vollendung durch eine gelungene Leistung, die eine ideale Harmonie des Zweckes mit dem fertigen Werk darstellt, weil die geistige Schöpfung des Japanertums nicht in sichtbaren Werken, wie Domen, Figuren und Apparaten liegt, die in ihren Formen erschöpft und gesättigt sind. »Seit einem halben Jahrhundert veröffentlichte ich viele Bilder, die jedoch bis zu meinem siebzigsten Lebensjahr nicht bedeutend waren. Meine Kunst wird sich bis zum achtzigsten Jahr ständig entwickeln, und mit neunzig Jahren werde ich in das Wesen der Kunst eindringen können. Mit hundert Jahren werden meine Bilder dem Gotteswunder gleichen...« (Hokusai) Wie ein T u r m zu Babel würde ein solcher Ausspruch allen denjenigen erscheinen, die solche Sehnsucht nicht kennen, doch haben alle Größen der japanischen Kultur den einen einzigen heißen Wunsch, sich dahin empor zu entwickeln, wo das Erreichbare versagt, das irdische Schicksal ihnen vorauseilt und das T o r in die Ewigkeit plötzlich verschlossen wird. Denn der W e g des japanischen Suchens hört nie auf, manche verweilen unterwegs und resignieren bei der Betrachtung der Flüchtigkeit ihres Ganges und fallen in die Wellen des 119

unsteten Stromes. Ihre Schritte tönen oft wie klagende Melodien, und ihre Werke sind Tragödien. »Wie die Wolke in des Himmels Mitte schwebt und schwindet mein Leben auch spurlos dahin.« (Isemonogatari) Sie sahen im Leben den Unterschied zwischen Ewigem und Endlichem, Gut und Böse so deutlich und stark, daß sie an diesem Widerspruch erstickten, keinen Ausweg wußten und aus der Schicksalsantinomie nicht herauskonnten. »In einem Herzen liegen Licht und Schatten nebeneinander, und Gutes und Böses tauchen ständig auf.« (Prinz Genji) Nur ein gesicherter Standort blieb ihnen übrig: daß sie den Widerspruch als Wirklichkeit und unerbittliche Tatsache hinnahmen und in der Welt der Romantik den Augenblicksglanz des Vergänglichen besangen. Die Fäden alles Unerfüllbaren, das Problematische des Irdisch-bindenden, werden von der Ekstase in der Schwebe gehalten, als ob dort der »Weg« nur ein Kreis wäre, der lichterfiillt ist und den Suchenden entzückt und schwindlig macht. Das, was an der Realität der Gegensätze gefunden wurde, war nichts anderes, als eine raffinierte Lebenstaktik einer donjuanischen Gestalt, des Prinzen Hikaru Genji, dessen Tod aber bereits in dem nachduftenden Ausklang die Einmaligkeit des Daseins deutete. Dort wurde der gesuchte Weg noch nicht gesichtet; nur in der Erkenntnis des Unwiderruflichen war er gesichert. Der Sucherblick bleibt nicht bei der Trunkenheit des ekstatischen Augenblicks 120

stehen, sondern er wittert stets hinter der Scheinhaftigkeit ein Licht des Ewigen, dessen Faßbarkeit nur in der ekstatischen Sehnsucht erlebt wird, aber an der Grenze zwischen Schein und Wesen scheitert (»Monono aware« beim Prinzen Genji). Trotz bitterer Erkenntnis des Widerspruchs und hingebendem Bekenntnis zum Wirklichen (Makoto) kann der Strahl des Ewigen nicht als Weg erscheinen, dessen Forderung nicht in überschwenglicher Gemütsphantasie und reiner Empfindsamkeit des Romantischen liegt, sondern nui in einem streng sich selbst kontrollierenden und in jedem Augenblick die Mauer des Endlichen zum Unendlichen durchstoßenden Grenzerlebnis zwischen Dasein und Ewigem seinshaft erfaßt werden kann. Der Weg wird aber dann entdeckt, wenn die Erscheinung ihren Schein verliert und sich zum Schatten der Idee wandelt, wenn der Hang des Daseins zu der Erscheinung seine Kraft verliert und im Menschen nur noch der Sturz des Sterblichen hörbar und sichtbar wird. An Stelle der endlosen Ausgiebigkeit der Phantasie und der Denkformen des Verstandes tritt dann eine unendlich sich steigernde Kraft der Selbstkontrolle und Verfeinerung der Erlebnisformen. Nicht der prunkvolle Kult des Tempeldienstes, nicht die Bauten und die tausende von Buddhastatuen, sondern ein lichtscheuer, farbenfremder und schmaler Pfad blickt schweigsam auf zum Gipfel der ewigen Einsamkeit. Das Wesen der japanischen Geistesschöpfung wurzelt in dieser ewig unerschöpflichen Quelle, tief im Urgrund des sich selbst gründenden kosmischen Gesetzes. Die Welt ist nur ein Widerschein auf der Oberfläche, der durch das wechselseitige Spiel von Licht und Schatten hervorgerufen wird. 121

Geringschätzung der Größe Das Letzte, was allen großen japanischen Geistern vorschwebte, war nicht die raumliebende Ausdehnung und raumsuchende Gestaltung, vielmehr lehnten sie alle die äußere Größe ab, die den Geist einfangt und ihn in ihrer materiellen Eigenschaft der Vergänglichkeit ausliefert. Alles Menschliche, das raumhaft gestaltet erscheint, ist bedingt durch die Zeit, wenn es auch Jahrtausende standhält. Was bedeuten einige Jahrtausende für den Gesamtablauf des Kosmos? Sie gleichen einigen Wassertropfen im großen Ozean. Die Ewigkeit liegt nicht in der Einzelform des Raumes oder der Größe; sie hegt in der Zeit. Nur der Raum selbst ist die ewige Zeit, nicht aber die Einzelerscheinung. Das Ewigkeitserlebnis besteht nicht im äußeren Werk, wenn es auch durch den Geist geformt wird, sondern im Wesen der Zeit selbst. Um in das Wesen des Ewigen einzudringen, muß alles Raum-Zeitliche, das Vergängliche, das letzten Endes Verfallende vom Erlebnis abgestreift werden. Das Eindringen in das Ewige ist das Ziel des japanischen »Weges« und das Verringern des Zufälligen der Schritt auf dem »Wege«. Der Weg des Tees (Chia-dö) Der »Weg des Tees« ist einer der letzten Wege fiir jeden Geistigen des japanischen Volkes, er bedeutet auch das Wirklichkeit gewordene Symbol der Tiefe der japanischen Geistigkeit. Im Tee-Weg erscheint die Geistesgeschichte Ostasiens seit viertausend Jahren frei von Abstraktion, fern vom Logossystem, wie ein lebendiges Kunstwerk vollendet und sublimiert. Vor der unnahbaren Würde des Tee-Weges verblaßt jeder heilige Schein von Opfer- und Kultglanz, vor der Tiefe des Tee-Weg-Geistes schwindet jedes System der 122

Philosophie, vor der Stille der Tee-Weg-Seele verstummt jede Dichtung und Musik. Alles scheinbar Großartige erscheint im Teeraum wie eine Barockfassade, und jedes sogenannte Grandiose in Wort und Ton klingt neben der Tee-Handlung wie Marktgeschrei. Das Licht des Tee-Weges ist die Mittagssonne, die an der höchsten Stelle lautlos leuchtet und dabei den ganzen Kosmos in Atem hält. Die Ruhe der Tee-Praxis gleicht der dunkelsten Mitternacht, in der sich kein Unterschied zwischen Lebenden und Toten sichtbar macht. Doch in der Ausführung des Tee-Weges wird beides gegenwärtig. Im Jenseits von Leben und Tod, hinter Geschichte und Schicksal, auf dem Boden alles Vergehenden fließt der Lebensstrom des Tee-Kundigen. Der Tee-Weg kündigt vor den Augen des Lebensgierigen offenbar den Tod an. Er steht zu hoch über dem Hasten des Alltags. Er verharrt zu still vor dem sogenannten schaffenden Geist. Kein sichtbarer Erfolg mit Fleiß und Geist, kein dauerhaftes Werk für Jetzt und Ewigkeit wird vollbracht. Die Tee-Handlung beginnt ohne Aufklang an Begeisterung oder Proklamation, sie vollzieht sich monoton und farblos und endet mit einem Abschiedsgruß der Geladenen, die das Wegräumen aller Gegenstände durch den Gastgeber mitansehen. Nichts bleibt im Raum — nur die Leere des Teeraumes —, genau wie der Anfang vollzieht sich das Ende. Es gibt keinen Höhepunkt mit ekstatischer Steigerung, keine Zu- und Aufdringlichkeit durch die Szenerie. Wie ein Streif weißer Wolken am klaren Himmel dahinzieht, so steigt der Dampf aus dem Teekessel im Raum empor. Schweigsam sitzen die Geladenen wie die Götter beim Mahl. Der gerade aufgebrühte Tee verbreitet einen 123

Duft, der den Raum füllt und durch die Sinne in die Seelen eindringt. »Das Feldwasser des südlichen Flusses liegt da — noch blauer als der Himmel, über ihm schwebt eine weiße Möve mit ihrem Flug schwingt mein Herz zeit- und endlos.« Der Geist des Tee-Weges hat kein äußerlich erreichbares Ziel. Sein System und dessen Ausübung geben nur Anweisungen. Das Erlernen der Tee-Handlung, das keine bestimmte Lehrzeit dauert und doch Jahre oder gar das ganze Leben erfordert, um in das letzte Gemach des Gelöbnisses einzudringen, ist nur ein Weg, der zu keinem Ende fuhrt. Auch kennt der Tee-Weg keine Verwendbarkeit für das praktische Leben, er ist unabhängig von Gewinn und Vorteil. Das, was ihn von allen anderen Künsten oder ethischen Handlungen unterscheidet, ist, daß der Mensch im Teekult sich selbst zum Gegenstand hat. Der Mensch als körperliche und geistige Einheit wird als Ganzes auf Grund seiner natürlichen Eigenschaften und Qualitäten zum Kunstwerk. Der Mensch arbeitet als Künstler an sich selbst. Die Sublimierung aller Sinne, die Steigerung der geistigen Tiefenkraft, die Vertiefung der seelischen Quelle vollzieht sich in ihm gleichsam ruckhaft. Jedoch trotz aller Nichtalltäglichkeit im Sinne des Tuns und Treibens will der Tee-Weg keine Abkehr von Leben und Wirklichkeit. Trotz seiner fast mystisch erscheinenden Vollzugsweise ist er keiner gewollten Versenkung unterstellt. Der Tee-Weg verachtet die Welt nicht, wie das Mönchtum im christlichen oder buddhistischen Sinne. Erkennt 124

auch nicht die Ekstase, weder in ästhetischer noch asketischer Form. Der Tee-Weg ist existenziell gedacht eine schlichte Arbeit der Selbstentdeckung des Menschen. Aber er sucht die Heimat des Menschen nicht in einer glaubhaften Transzendenz. Weder Gott noch das All kommt ihm zu Hilfe, um — seiner selbst gewiß - seinen Ursprung zu finden. Mühsam, doch ehrfurchtsvoll geht der Teekundige den Weg und kontrolliert sich selbst von Schritt zu Schritt. Das Doppelspiel einer Person geht dahin, bis das Spiegelbild verschwindet und eine Einheit mit sich selbst hergestellt wird. Die zwei Seelen im Sinne Goethes, deren eine auf die Gestirne blickt, deren andere sich an die Welt klammert, werden miteinander vereint. Kein Sinnengeräusch mehr und keine Höhensucht. Der angebliche Widerspruch zwischen Körper und Geist wird in einer Sphäre als harmonische Einheit aufgehoben. Der Körper schämt sich nicht vor dem Geist, der Geist wird nicht durch den Körper gehemmt, weil der Mensch selbst nur ein Gestalt gewordener Geist ist. Trennungen zwischen Idee und Wirklichkeit, Ideal und Gegebenheit sind nur dort ernst und wirksam, wo der Geist sich vom Körper loslöst, dort, wo der Mensch sich als ein Einsamer sinnerfüllter und wesensnäher fühlt. Aber niemals gab und gibt es einen Geist ohne Körper, und sei es auch nur in religiöser Andacht, im Lesen eines philosophischen oder literarischen Werkes oder im Betrachten eines Bildes. Es gibt ebensowenig Reingeistiges wie Reinkörperliches. Die extreme Steigerung des Geistes fuhrt den Körper entweder in den Mechanismus, den man Gewohnheit nennt, oder in den Zustand, in dem der Körper wie Weihrauch in der Luft irgendeiner Ideenwelt schwebt. Beide Male verliert der Mensch seine Ganzheit und ver125

läßt seine eigentliche Existenz als Einheit von Körper und Geist. In der Tee-Welt erfolgt eine allmähliche Steigerung des Körper-Geist-Daseins, in der die Sinne als Sinne verfeinert werden und dadurch gerade der Geist seine Freiheit gewinnt, um sich in sich zu vertiefen. Im Geräusch des kochenden Wassers vernimmt man die tosenden Elemente des Meeres, im Duft des Tees selbst riecht man die junge Kraft der Naturfrische, die sich dann auf der Zunge in den unmittelbaren Geschmack der Pflanzenwelt verwandelt. An den kunstvollen Gegenständen wie Teetasse, Teebüchse und Teetuch, die man in die Hand nimmt, wird das plastische Tastempfinden geschult. Im Anblick eines Gemäldes, das allein in einer Nische hängt und als Mittelpunkt in der Raumatmosphäre thront, vertieft man sich in die Welt der Bildsymbolik. Die Architektur des Teeraumes und des Gartens ringsum ist ein ganzes Kunstwerk, doch fließt es in die Landschaft und in die kosmische Natur hinein. Nur als Milieu bildet der Teeraum eine Kunst- und Kultstätte, in der die Menschen in reiner Harmonie von geistiger und Sinnenwelt sitzen. In dieser reinen (sei) und stillen (jiaku) Atmosphäre sitzen die Geladenen in harmonischem (wa) und respektvollem (kei) Zusammensein. Göttlich sei die Gesellschaft zu zweit: ein Gast und der Gastgeber; edel sei sie mit zwei Gästen; geschmackvoll sei sie mit drei oder vier Gästen; unterhaltend sei sie mit fünf oder sechs Gästen, und die Gesellschaft mit mehr als sieben oder acht Gästen gelte als Gabe. Stille Kommunikation zwischen zwei sich verstehenden Menschen, die sich wie zwei Götter gegenübersitzen, bedarf keiner Menschensprache, sie verstehen einander und freuen sich ihres Da-Seins. 126

Der enge Teeraum von knapp zwei Quadratmetern gleicht einem Pantheon der Götter, in dem alle Anwesenden ihren individuellen Glanz in gegenseitiger Achtung verbergen und ruhig, doch heiter sich der Gemeinsamkeit erfreuen. Sie kommen nicht zusammen aus der Sucht nach Einsamkeit, sondern sie sind geladen, um sich eine Stunde über ihre Werke und Aufgaben zu unterhalten. Keiner entscheidet, niemand rühmt sich, nur das still sich vollziehende Fest der Teehandlung ist der Spiegel für alle Anwesenden, der alles widergibt, was verborgen ist. Einst lud der Buddhist Vimalakirti den klugen Schüler Buddhas Manjusrl mit 32 anderen Bodisattvas ein, um sich über den Zugang zur absoluten Wahrheit zu unterhalten. Vimalakirti richtete an jeden die gleiche Frage. Jeder antwortete nach seinen Kenntnissen und sprach von der Überwindung des Dualismus zwischen Endlichkeit und Ewigkeit, Erscheinung und Wesenheit, Gut und Böse, Leid und Glück, Nichtich und Ich usw. Zuletzt sagte Manjusrl: »Nach meiner Ansicht tritt man in die Einheit aller Gegensätze, wenn man erkannt hat, daß alles Seiende unaussprechbar, undeutbar, unbezeichenbar, unerkennbar, also frei von allen Diskussionen ist.« Danach richtete er sich an Vimalakirti: »Nun haben wir alle unsere Meinungen mitgeteilt; was meinst du dazu?« Vimalakirti antwortete nicht, er blieb schweigend. Daraufhin sagte Manjusrl: »Wahrlich, zutreffend ist deine Antwort. Kein Wort, keine Erklärung, das ist der wahre Zugang zur Übergegensätzlichkeit.« Die Schweigsamkeit ist keine Dumpfheit, keine Verlegenheit, sondern die Erkenntnis selbst. Sie bildet das höchste Stadium, in dem alle ostasiatischen Ideale zusammenfließen. Am Anfang war das Wort — aber am Ende ist kein Wort. 127

»Einsam liegt ein Pfad im Dämmerlicht mitten im Herbstwald. Niemand geht und bricht den Frieden des Abends.« (Bashö) Diesem einsamen Pfad gleicht der Weg des Tees. Er verkörpert den Gipfel der Vergänglichkeit; die Glut des Sommers in noch nachwirkender Wärme bewahrend, ahnt er die Kälte des kommenden Winters und des Todes. Das ist die Wirklichkeit des Erdendaseins, die sich weder dem hohen Flug des Geistes noch dem überschwenglichen Gefühl zu entziehen vermag. Die tiefsinnigen Philosophien mit ihrem Gedankengebäude und die ergreifendsten Werke der Dichtkunst schweigen vor dem unerschütterlichen Ernst der Vergänglichkeit, und die hohen Klänge der Musik und die grandiosen Kunstwerke verklingen und verblassen vor der Strenge und Tiefe des Daseins. Nicht vor ihr zu fliehen in die Welt des Geistes, über die Wolken der Phantasie, in das Gewebe der Klänge und Farben der Sinnensphäre, sondern den Gegensatz als Gegensatz unbeirrt auf sich zu nehmen, die Ureinheit mit der Körper- und Materienwelt als Ganzes zu erhalten und dadurch die Wahrheit mit der Wirklichkeit in Einklang zu setzen und zu erleben, gilt dem Tee-Weg als das »Verhalten zu sich« selbst zu schulen. Aber nicht einseitig den Geist oder die Sinne allein zu steigern, sondern alle menschlichen Eigenschaften, wie Denken, Gefühl und Wille, für den Rhythmus der Vergänglichkeit zu öffnen, um in ihm die Stimme der Ewigkeit zu belauschen und sich selbst dazu in Einklang zu bringen, ist das Ziel der Schulung des Teeweges. 128

»Die Stille allein... In die Felsen hinein dringen die Stimmen der summenden Zikaden.« In der glühenden Sonne des Sommernachmittags herrscht die Stille, alle Vögel und Tiere schweigen, unbeweglich liegen die Felsen seit Jahrtausenden. Wie schwerer Regen fallen die Stimmen der Zikaden und umspülen die harten Felsen. Eine solche Stille, die in sich die Woge des Flusses alles Lebendigen birgt, ist das schließlich erlangte Verhalten des Teekundigen zu sich selbst und der Welt. Denn noch spricht ihn die Welt und das Leben so ungemein an, weil das Edle vom Gemeinen, der Wohlklang vom Geräusch im Spiegel seiner selbst klar und unvermischbar unterschieden wird. In Ruhe die Beweglichkeit und in Bewegung die Ruhe zu erleben, das ist das Tee-Verhalten, in welchem die höchste Existenzweise alles Seienden sich offenbart. »Im abendlichen Mondschein schimmert das tosende Meer aus der Ferne zwischen den Bäumen im Garten.« Aus dem Fenster des Teeraumes erblickt der Teemeister bei einer duftenden Tasse Tee das fernliegende Meer zwischen den Bäumen des Gartens an einem Mondscheinabend. Mond, Meer und Mensch bilden ein unsagbares Ganzes, die Natur und der Geist bilden die Kompositionen eines großen Gemäldes. Dabei entsteht nicht der Zweifel an der Herkunft und Zukunft, an dem Widerspruch, nur eine Welt — nicht weniger und nicht 9

Kitayama,

Begegnung

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mehr. In einem solchen Augenblick atmet Gott unmittelbar im Menschen, und hier erreicht das kosmische Erlebnis des Teekults seinen Höhepunkt. Der Weg der Blumen (Ka-dö) Dem Gesetz des Kosmos untersteht in Japan auch der Umgang mit Blumen. Weder die Botanik noch die organische Chemie kann das lebendige Wesen einer Blume begreifen, das sich nicht in der Analogie und in der Stoffanalyse offenbart, weil es allein in seiner natürlichen Gestalt lebt und verwelkt. Den lebendigen Atemzug der Blume zu fühlen, Wünsche und Eitelkeit, Freude und Schmerz einer Blume — ja, der Pflanze überhaupt — mitzuerleben und ihren edlen Lebenszug als Spiegelung des kosmischen Geistes zu verstehen, daraus hat sich die Blumenkunst in Japan entwickelt. Der Ursprung dieser Kunst geht auf den Prinzen Shötoku zurück, der den Kult der Blumendarbietung vor dem buddhistischen Altar seinem Untertan Ono anvertraut hatte. Die Schule Ono gilt unter den Schulrichtungen als die orthodoxe. Seitdem sind über tausend Jahre vergangen, und die Kunst der Blume verzweigte sich in vierzehn Schulen. Trotz aller Variationen liegt den Schulen ein gemeinsames Prinzip zugrunde: in den Formen der Pflanzen die Harmonie der kosmischen Erscheinungen zu entdecken. Man findet in der Pflanzenwelt das Urgesetz des Kosmos, das sich dem Geiste als Wesen, Schein und Erscheinung offenbart. Die Alternative zwischen Wesen und Schein wird durch die Erkenntnis der Erscheinung aufgehoben. Jedoch ist die Ganzheit — der Kosmos selbst — nur in dem Zugleichsein des Wesens, des Scheins und der Erscheinung. Deshalb wählt die Blumenkunst drei verschiedene Stellungen in einem Zu130

sammenhang. Die größte Blume stellt das Wesen, die nächstgrößte den Schein und die dritte die Erscheinung dar. Nicht nur die Größe, sondern auch der Charakter der Blume wirkt bestimmend für diese Ordnung. Prinzipiell findet man diesen Zusammenhang unter allen Blumen und Pflanzen; sie werden dann so zusammengestellt, daß sie mit ihren Eigenschaften äußerlich und innerlich ein Bild der Harmonie, die Wiedergabe der Weltprinzipien, bieten. In der unendlichen Mannigfaltigkeit der Pflanzenwelt erblickt man eine einheitliche Ordnung, und in dem einheitlichen Bild muß die Mannigfaltigkeit zum Ausdruck kommen. Wie jede andere Kunst erfordert auch diese die Beherrschung des Stoffes. Aber hier wird keine neue Welt als eine selbständige Welt geschaffen, sondern das Lebendige der Natur wird unmittelbar zum Stoff, der durch den Spiegel des Geistes geformt wird. Deshalb erweckt diese Kunst den Anschein, als ob sie nur auf Geschicklichkeit beruhe. Die Technik allein ist aber Spiel oder gar Zwang. Erst die Schultechnik fuhrt den Lernenden zu der eigentlichen Technik, die von selbst aus dem Stoff entsteht und ohne Zwang den Stoff formt. Mit anderen Worten: Der Stoff formt sich selbst. Jedoch handelt es sich bei dieser Kunst nicht um das Schaffen eines Kunstwerkes allein, sondern um das fortschreitende Erlebnis des Künstlers. »Die Behandlung der Blume bedeutet einen Schritt auf dem Weg zum Reifwerden des Geistes.« Nicht umsonst heißt es: der Weg der Blume (Ka-dö). Durch das Lernen und Meistern der Eigenschaften der Naturerscheinungen tritt der Mensch in das Geheimnis des kosmischen Lebens ein. Auch in dieser Kunst sehen wir wieder die typisch japanische Eigenart des Welterlebens: »Das Einssein des 9« 131

Geistigen mit dem praktisch Ausführbaren, das sich in der Tiefe der Seele vollzieht.« Das Schaffen in der Kunst ist das Bilden der Persönlichkeit; darum bedeutet alles Schöpferische und in irgendeiner Form Gestaltete nicht die Pointe der Kunst und den Selbstzweck, sondern es schafft Mittel zur Erhöhung des persönlichen Menschseins. Darum besteht für jeden Menschen des japanischen Volkes die instinktive Neigung, künstlerisch zu leben, wie ein religiöses Gebot, oder — wenn er keine Kunstwerke zustande bringt — das Leben und die Welt künstlerisch zu erleben. Das geschaffene Werk stellt darum nicht den Gipfel der künstlerischen Tätigkeit oder Vollendung dar, vielmehr bleibt es immer Mittel oder Widerschein irgendeiner Stufe der persönlichen Kultur, deren Vollendung nie in Form oder Gestalt, d. h. im geschaffenen Werk, gefunden werden kann. Die künstlerische Sehnsucht des japanischen Künstlers liegt deshalb nicht in der Kunst selbst; sie liegt in einer weiteren Sphäre, in der alle Künste und alle steigenden geistigen und seelischen Erlebnisse zusammenfließen: im Rhythmus vom lebenden und sterbenden Atem des Weltkosmos. Hier sich innerlich einzuschalten und in dieser Welt zu leben und zu sterben, ist höchstes Ziel. Mit einem Wort: der Weg der Blume reiht sich allen anderen »Wegen« als ein Mittel zur Kunstmystik Japans an.

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DER WEG DER DICHTUNG (HAI-KAI-DO)

N

EBENALLENGIPFELN DERLYRISCHEN

Schöpfungen steht der Haikai Japans — die Kurzdichtkunst — auf einsamer Höhe. In der Formung des dichterischen Erlebnisses in siebzehn Silben kommt die typisch japanische Geistigkeit am deutlichsten zum Ausdruck. Klarheit, Wortkargheit und mystisch-romantische Erlebnistiefe werden in ihm wie bei einem Meisterwerk der Schnitzerei mit äußerster Sublimierung angewandt und vollendet. Die Haikai-Dichtung bildet ein Sonderphänomen in der Welt der Literatur überhaupt. Dichter und Worte stehen in ihr wie zwei einsame Mönche, die im Geiste ihre inneren Regungen mit sparsamsten Gesten einander mitteilen. Diese rein mönchische Haltung oder — japanisch gesagt — ritterliche Einstellung des Dichters verdammt und verachtet jede Überschwenglichkeit der Worte. Die Worte sind heilig und, wenn sie ausgesprochen werden, einmalige Mittel des aus sich herausgehenden Geistes. Auch zwingt diese äußerste Beschränkung auf siebzehn Silben den Dichter zur Zucht des Gefühls, so daß jedes Wort wie ein Edelstein oder wie die Perle einer Juwelenkette wirkt. Für ein so kostbar erwogenes Wort gibt es keine Möglichkeit der Änderung oder des Ersatzes. Unerschütterlich und unabwendbar steht jedes Wort in den siebzehn Silben. In den mythologischen Zeiten Japans gab es einen Gott, der das Reich der Worte regierte; wie in einem Lebewesen wurde hier in jedem Wort eine selbständige Seele erkannt und erlebt. Seitdem sind einige Jahrtausende vergangen; heute werden die Worte mit ihren Seelen in Millionen von Atome umgewandelt und zertrümmert. Die Seelen der Worte scheinen völlig gestorben zu sein. Wir leben tatsächlich 134 im Meer der Worte, und ihre Seelen unterscheiden sich nicht mehr voneinander.

Die Worte bilden Wellen der Zeiten und bewegen sich völlig unselbständig nach der Windrichtung. Denn Lügen entstehen nur dann, wenn die Worte ihre Selbständigkeit verlieren. Wie eine Oase in der Sprachkultur von heute lebt die japanische Haikai-Kunst. Die Dichter des Haikai sind weder Wortmacher noch Worthändler, vielmehr sind sie Priester der Sprache, die die Seelen der Worte vor den Göttern opfern. Ihre Werke sind, wie Feier und Gebet, Ausdruck der Überzeugung von ihrem Verhältnis zu den Göttern. Ebenso wie andere Künstler arbeiten die Haikai-Dichter nicht an dem bereits sichtbaren Ausdruck oder an irgendeinem Werk, das im Schaffen schrittweise vollendet wird, sondern sie arbeiten darüber hinaus so lange, bis das Werk auch innerlich vollendet ist. Jeder Strich der japanischen Malerei, und jede Strophe der japanischen Dichtung ist Metapher, deren äußeres Antlitz vor den Augen der Abendländer unvollendet erscheint und dem gern der Charakter des Symbols oder der Andeutung eines Dahinterverborgenen zugeschrieben wird. An der Haikai-Dichtung sieht ein Abendländer besonders das Fragmentarische, sie wurde darum sogar schon als Gedankenspruch bezeichnet. Nur derjenige, der das Dichterische im Haikai zu entdecken und zu erleben vermag, kann den Unterschied zwischen der siebzehnsilbigen Lyrik und einem Fragment erkennen. Die Charakteristik eines Gedankenfragments liegt in der Kürze der Formulierung und dem Verblüffenden seiner Prägnanz. Es wirkt wie Sprengstoff, dessen Knalleffekt überraschend die Lücke des Gedankens sprengt oder das Zwiespältige der Verstandeswelt mit einem Ruck vor das Auge des Gesättigten schleudert. Es sagt stets 135

den Kampf gegen das vollendet Systematische an. Das, woraus ein Fragment entsteht, ist das Widersprechende überhaupt, deshalb bewegt es sich zwischen dem geahnt Echten und dem gedacht Falschen. In ihm vollzieht sich die Entlarvung einer spießbürgerlichen Sattheit des Verstandes und die Zerrüttung des wohlbeleibten Geistes. Das Fragment ergreift, es verwirft das Modell und stellt ein neues auf, das unvollendet oder unausgeführt ist. Skepsis und Nihilismus gewinnen darum im Fragment leicht die Oberhand. Zu Ironie und Witz ist von da aus nur ein Schritt. Die Haikai-Dichtung aber wird von einem gänzlich anderen Motiv, vollends von einer anderen Aufgabe, getragen als das Fragment. Das Erlebnis, aus dem die Haikai-Schöpfung hervorgeht, liegt in dem Verhältnis zwischen Mensch und Kosmos begründet. Sie hat keinen Gegenstand, sondern nur einen Urgrund, eine Quelle. Ihr Bemühen und Schaffen bedeutet nichts anderes als die Vertiefung des menschlichen Geistes. Je tiefer der Weg zum Grund, desto reiner und gewaltiger wird die Quelle, die aus dem Grunde heraus- und emporsteigt. Während der abendländische Geist sich mit seinem Logos zum Grund einstellte und ihn zum Gegenstand machte (wovon die ganze abendländische Anschauung bestimmt wurde), ging der japanische mit Agape, mit der mystisch-ästhetischen Intuition, zur Ergründung des Grundes. In der Haikai-Dichtung wurde der tiefste Grund der japanischen Ästhetik, der größte und letzte Gegenstand des japanischen Dichters, offenbar. Doch brauchte der Weg der japanischen Literatur eine Zeit von 900 Jahren, um im Haikai seinen Gipfel zu erreichen. Die erste literarische Schöpfung entfaltete sich in der realistisch-naturalistischen Sphäre, die, vermittelt 136

durch die reine Gefühlsregung, zum dichterischen Ausdruck gelangte (Many ¿-Gedichtsammlung —759 n.Chr., Kokin-Sammlung — 905 n. Chr.). Die reine Gefühlsregung erfaßte sowohl die Natur als auch das menschliche Leben gleichzeitig nachfühlend und begreifend, aber ohne Rangordnung zwischen dieser und jener. Das Leben und die Natur erschienen in ihr wie Spiegelbilder. Ernsthafte Unterscheidungen zwischen Leben und Natur wurden nicht vollzogen. Es war eine dualistische Welt ohne Auseinandersetzungen, insofern bildete sie auch eine Ganzheit, in die die menschliche Reflexion nicht hineindrang. Die Idee, die dieser Kunstschöpfüng zugrundelag, war die »Wahrhaftigkeit« (makoto), die in den späteren Epochen wiederholt bei der Renaissance der japanischen Klassik tonangebend als Ideal hervortrat. Gegenstand und Geist waren im Sinne des Natürlichen, des Unreflektierten reine Realität, und in dem gleichen Sinne waren sie reine Objektivität. Jenseits und Diesseits waren ungetrennt, Sehnsucht und Traumbild unterschieden sich nicht (siehe Kojiki und Nihongi, die japanischen Mythologien). Die Menschen kannten weder die ferne Vergangenheit noch die weite Zukunft, sie lebten vielleicht in einer nahen Erinnerung des verlorenen Paradieses, deshalb mutet uns ihre Ästhetik wie ein Ausdruck des Augenblickserlebnisses an. Es kann aber nicht von einem Bereuen der Vergangenheit noch von dem Verzicht auf die Zukunft die Rede sein. Es fehlte den Menschen nur die Distanz zu sich selbst und zum anderen. Diese Unmittelbarkeit war ihre Stärke, die nur einmal vorhanden ist in der Geschichte jedes Volkes. In dieser Unmittelbarkeitsstärke des japanischen Volkes konnte sich der indisch-chinesische Buddhismus mit griechisch-byzantinischem Geist großartig offenbaren. Ästhetischer und lebendiger hat 137

der Buddhismus als Kunst nirgends so rein auftreten können wie in der japanischen Frühzeit. Vielleicht ist die japanische Frühantike das höchste Dokument einer religiösen Schöpfung. Die religiöse Phantasie in der Kunst feierte hier wahre Orgien, jedoch ohne jeglichen Beigeschmack von Verderbnis. Vielmehr handelte es sich um eine Steigerung der Unmittelbarkeit im Sinne des natürlich Gegebenen, um den Bau eines Turmes zu Babel in der japanischen Form, der bald zusammenstürzen mußte. Von dieser erweiterten Welt der Unmittelbarkeit zog sich der japanische Geist alsdann zurück; denn das, was er als seine neue Wirkungssphäre vorfand, in der er sich auch einstweilen zu Hause fühlte, war eine fremde Welt, die aus Indien über das Meer zu ihm kam. Sie machte ihn mit einer großen Welt bekannt, mit der indischen Landschaft und der chinesischen Ebene, deren Ausläufer bis nach Griechenland reichten. Aber als der japanische Geist deses fremde Gut ästhetisch beherrschte, kam die Zeit der Rückkehr zu sich selbst: die Geburt der Hof-Roimantik (Heian-Periode 782-1185 n. Chr.). Jetzt stand, im Gegensatz zur Unmittelbarkeit und deren Erweiterung, das menschliche Leben im Mittelpunkt. Auf dem Weg über die buddhistische Phantasienwelt kam der Geist wieder zu sich selbst, aber nicht mehr in der gleichen Form wie einst. Denn nicht alles ist ihm mehr unmittelbar und wahrhaftiger Gegenstand. Sowohl in der Unmittelbarkeitskultur als auch in der buddhistischen Phantasienwelt blieb alles allzu raumhaft. In die Rückkehr des Geistes zu sich selbst schlich sich das Bewußtsein der Zeit ein, das die Sehnsucht erzeugt. Die Sehnsucht der japanischen Romantik richtete sich, wie es auch bei der deutschen der Fall 138

war, nach der Natur, die einst vorhanden war und verloren schien. Doch lag sie für die japanische Romantik nicht so weit, in einer fast tragischen Ferne, sondern sie war ihr zeitlich näher als der deutschen. Außerdem bestand zwischen ihr und der Natur nicht ein so eminenter Bruch und Abgrund wie bei der deutschen. Der Buddhismus, der Mitte des sechsten Jahrhunderts in die japanische Geistigkeit einbrach, vermochte nicht den Urboden des japanischen Geistes, die Unmittelbarkeit in der Natur und im Menschen, die Wahrhaftigkeit zu Welt und Leben, zu erschüttern. Ob der Buddhismus mit seiner Großzügigkeit und pantheistischen Freiheit oder die japanische Einschmelzungsfähigkeit dabei entscheidendwar, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls steht er zur japanischen Geistesgeschichte anders als das Christentum zur deutschen. In beiden Fällen steht aber fest, daß sie hinter der Betonung der Natur und in ihrer Sehnsucht nach dem Ewigen — dort in der Unmittelbarkeit, hier in der Natur — das natürliche Ewige im Menschen gesucht haben. Denn beide Male steht die Idee der ewigen Liebe im Brennpunkt. Die Grundstimmung in der japanischen Romantik wurde mit dem Begriff »Monono-aware« bezeichnet. Er bedeutet in diesem Zusammenhang eine ästhetische Atmosphäre, die das Leben und die Dinge aus sich ausstrahlen. »Monono-aware« muß schließlich die Sehnsucht nach einem Urgrund des Ewigen sein. Ob bewußt oder unbewußt, immer ist die Sehnsucht das, was jedes Lobpreisen und jedes Versenken in die Lobpreisung begründet. »Alle Genußfreude denkt an das Ewige. Alle Liebe sehnt sich nach dem Ewigen... In der Weise, sofern die Idee des Unvergänglichen dem vergänglichen Leben inne139

wohnt, das Gefühl der Unendlichkeit im Schauen nach dem Ewigen verborgen ist, ist die Tragik der Ausdruck der Sehnsucht nach dem Ewigen Wir können die Idee des »Monono-aware« als sensualistisches Genießertum mit dem Unterton der Ewigkeitssehnsucht, als Hedonismus, der stets vom Weltleid begleitet ist, oder als die Sehnsucht nach der Ewigkeit eines von sensualistischem Genießertum befangenen Geistes, als die Tränen, die den Blick verdunkeln, oder als das Weltleid, das das Leben des Hedonismus färbt..., bezeichnen« (T. Watuji, über das »Monono-aware«). Bei beiden Arten der Romantik verschwimmt die Grenze zwischen der menschlichen und der ewigen Liebe, wenn sie auch irgendwo noch bestehen bleibt: Der Horizont des Unerreichbaren wird verschoben. Das romantische Welterlebnis hat nicht die Macht, jene Grenze ein für allemal zu sprengen oder in einer neuen Sphäre aufzuheben. Es bleibt schließlich in der Sehnsucht befangen, in einer unerfüllten Halbheit und in einem tragikomischen Schicksalseifer. Die deutsche Romantik wurde aus Schellings tiefsinniger Naturmystik geboren und endete in der ironischen Selbstkritik, in der Dekadenz einer Lebensphilosophie. Die japanische entstand aus dem Unmittelbarkeitsgefühl, gestaltete die romantisch-sinnliche Blüte der »Monono-aware«-Periode und mündete in die Natur- und Weltmystik der darauffolgenden Zeit. Wir hören aus den beiden Lebensströmen, hier im Westen und dort im Osten, den gleichklingenden Schritt und das rhythmische Atmen der Geister, die doch von Jahrhundert zu Jahrhundert auf verschiedenen Wegen gingen und beiden Welten andere Schicksale schenkten. Uns ist es wichtig, in der japanischen Romantik den Keim der mystischen Idee der Haikai-Dichtung aus 140

der Wesensart des japanischen Geistes zu entdecken. Der romantische Zeitgeist erwies sich schließlich trotz seines Ewigkeitsstrebens als allzu weltbefangen und roch zu sehr nach den Menschen. Die kühne Träumerei und ihre Welt, sie waren trotz hoher Sublimierung nichts anderes als zarte Tänze um ein ichduftendes Gefühl, und ihre Kreise gingen nicht über eine sehnsuchtsbeklommene Erdenatmosphäre hinaus. Diese erträumte Welt der japanischen Romantik zerbrach in dem Augenblick, in dem das Land von dem Vernichtungssturm eines Bürgerkrieges heimgesucht wurde und jedes Leben wehrlos dem Untergang ausgeliefert war. Der weiblich-überfeine Geist der Romantik fiel vor dem Sturm der neuen Mächte des Rittertums wie die Blüte im Wind. Sein Nachklang aber, der nicht mehr vom Sehnsuchtsfieber geschüttelt wurde, entdeckte das andere des Ewigen, den Schatten der Träume, das Leid des Wachseins. (Erzählung über das Geschlecht Heike; Erzählung über den Auf- und Abstieg der Geschlechter Genji und Heike.) »Die Glocke des Anathapinda-Gartens kündete die Vergänglichkeit« lauter als je: Lebensverzicht, Weltflucht, Verzweiflung, Pessimismus und die Sehnsucht nach dem irdischen Tode. Durch den Wirrwarr der Ereignisse und den düsteren Alltag hindurch ging der japanische Geist und verlor die Buntheit seines romantischen Weltschmucks, doch fand er eine Heimat, die ihm Raum für Jahrhunderte gab. Die männlich harte, strenge Kultur des Rittertums, die nicht an die Verführung durch die Gefühlswelt glaubte und nicht an der Schwelle des Vergänglichen und Ewigen mit einer Mittelsphäre spielte, ging bis zum Abgrund der Einsamkeit und Selbstvernichtung (Dichtungen des Mönches Seigyö, Yamagashü). 141

»Wie durch die Flut hinweggeschwemmt fühle ich mich verlassen allein auf hoher See. Kein rettendes Schiff ist in Sicht.« (Yamagashü) Ohne sich der Einsamkeit ganz auszuliefern und um nicht in der Weltflucht als egoistischer Selbstgenießer traumzuwandeln, bleibt der japanische Geist hartnäckig bei sich selbst, indem der Einsame sich selbst entkleidet und entdeckt. Die Träumer vom Jenseits und die Ironiker des Diesseits bilden in Japan nur Ausnahmeerscheinungen. Der Hauptstrom des japanischen Geisteslebens bleibt bei der Wirklichkeit, im Erbgut seiner Urväter. Er geht durch die Öde der Einsamkeit und legt seine raumhafte Weltfassade ab, die er im Laufe der Zeit durch Buddhismus und Romantik um sich aufgebaut hatte. Das einstige Bewußtsein über die Klarheit, Schlichtheit und Natürlichkeit, mit einem Wort: die Unmittelbarkeitsintuition, wurde wieder lebendig, aber nicht — wie einst bei den Ahnen — naiv, weit- und lebensvertrauend, sondern, durch die Weihe des Verdachts gegen die geschichtlich verwobene und erworbene Welt aufmerksam gemacht, kehrt er in die altbekannte, aber bewußte und tiefere Schicht des Welterlebens zurück. Er ist nicht mehr die Substanz, die sich im Raum der vertrauten Welt standhaft behauptet, sondern er schwimmt wie »eine Wasserblase auf dem fließenden Strom« (Aufzeichnung von Chömei Kamo) der Vergänglichkeit. Das Ich, das bis gestern den Mittelpunkt alles Weltgeschehens bildete, ist heute nur noch wie ein Tautropfen im Abendschatten. Die private Ichebene wird durch dieses intensive Zeiterlebnis hinwegge 142

schwemmt, es bleibt nur eine schaumhafte Spur wie der Ausklang eines Traumes im Augenblick des Erwachens. Der neue Wirkungsbereich des japanischen Geistes stieg hinter dem Schatten des verlorenen Ichhorizonts empor. Er verbreitete sich aber weder in einer transzendentalen Welt des vernunfthaften Bewußtseins noch schwebte ihm das Ewige in der Sehnsucht wie ein leuchtendes Ziel vor, sondern er transzendiert die Geschichte in die unmittelbare Welt der Zeit: in die Tradition und nicht wie Hegel in das geistige System. In ihr wurden alle privaten Erlebnisse und zufalligen Leistungen aufgehoben. Nicht die einzelnen Menschen und ihre Leistungen sind ewig, wie man im Abendland glaubt, sondern ihre Werte und Werke sind nur so lange ewig, wie sie in der Geschichte unmittelbar lebendig bleiben. Eine solche Tradition, die nicht stirbt, sondern eine ewige Quelle der Geistesschöpfung bilden soll, entfaltet sich nicht in der Ekstase der Augenblicksleistung, auch nicht in der Einzelgröße, die sich oft an Lautheit und äußerem Prunk weidet. Sie sucht die Stille, in der nichts verloren geht (Seijaku = die Stille), und die Strenge der Form, in die sich nichts Unwesentliches einschleichen kann (Kata = Form). Die Idee dieses Geistes wurde »das Schöne der Geheimferne und -tiefe« (Yü-gen-bi) genannt. Alles Ewige ist unsichtbar in der Ferne, verborgen in der Tiefe. Das Unsichtbare in der Ferne zu ahnen, das Verborgene in der Tiefe zu sehen, vermag nur derjenige, der hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen das Antlitz des Ewigen erblickt, in dem Atem des Sterblichen den schaffenden Gott erkennt. Die Ferne ist der Raum. Die Tiefe ist die Zeit. Ein solcher Raum ist nicht mehr gestalthaft erscheinend, er ist stets als Ausdruck schwindend und deutet die räumliche Unendlichkeit nur an. 143

Die heimkehrenden Wildgänse verloren ihren Weg und irren auf dem Wolkenpfade. Ihrer Stimmen Klagen hallen wider in meinem Sinn. (Shin-kokin) An ein fahrendes Boot denke ich, das im Dämmerlicht im dichten Nebel zwischen den Inseln der Akashi-Bucht lautlos dahinschwindet. (Manyöshu) Wenn der Abend geht zur Neige, dringt der Herbstwind vom Felde tief in mein Herz hinein. Im Dickicht des Heimatortes singen die Wachteln nahe und fern. (Toshinari) Der individuelle Geist des einzelnen Dichters schwindet in der Weite und Ferne des Raumes und der Zeit. Er verläßt seinen Standort, der vom Lärm des Alltags erfüllt ist; das Schreiende der Nähe und das Hinreißende des Augenblicks klingen wie dumpfe Töne der irrenden Kreatur in der Unendlichkeit aus. In ihm und um ihn herrscht die Stille. Sein Leben gleicht einem Garten aus Felssteinen, die die Ewigkeit atmen; es ist wie das Wasser, das in der Vergänglichkeit stets das gleiche bleibt, und es gleicht den Blumen, die an der Grenze des Unterganges den Glanz ihres Daseins feiern und lächelnd auf das nächste Leben blicken. Hier hat eine stille Feier der Aufopferung der Ichbereiche des japanischen Geistes vor dem Thron des kos144

mischen Gottes stattgefunden. Die absolute Objektivierung alles Sichtbaren und Fühlbaren vollzog sich in dem Erlebnis der Ferne und Weite. Der Bereich der japanischen Unmittelbarkeit fand die Erweiterung bis an den Rand der Ichlosigkeit. Das Persönliche und das Menschliche bekundet sich nur als Widerhall der kosmischen Stimme (der Ausklang der WeltstimmungYo-jö). Je größer die Ichüberwindung desto stärker der Widerhall der Unendlichkeit; je kleiner das irdisch-gebundene Ich desto größer erscheint das Antlitz des Ewigen im Kosmos. Das kleine Ich wird eingeklammert durch den aufhebenden Prozeß des sich selbst erweiternden und vertiefenden Welterlebnisses. Im Ich vollzieht sich die Welt mit ihrem Aufstieg und Untergang, nicht in der Außenwelt und in der objektiven Geschichte, sondern in der immanenten Zeit. Aus diesem Stadium der Erlebbarkeit entstand die Haikai-Dichtung, die Welt des Meisters Bashö (1644—1694). Diese immanente Tiefe und deren Welt offenbart sich bei Bashö als dichterisches Erlebnis, in dem die Stimmen der Menschen mit denen des Ewigen in der Natur zusammentreffen. Bashö nennt sie die Welt des »Sabi« oder »Yügen«. Das Sabi ist der Ausdruck des erlebten Ewigen, das im Jenseits von Gut und Böse und allen weltlichen Erscheinungen als das einzige und letzte Antlitz allem Seienden, Lebendem und Sterbendem, begegnet. Das Sabi hat die Bedeutung der Einsamkeit (Sabishii), der Stille (Seijiaku), des Verfeinertseins (Sabi ga aru) usw. Wohl bedeutet die Einsamkeit für die großen Künstler oder Philosophierenden die schöpferische Gabe in ihren inneren Kämpfen. Einsamkeit durch Weltfremdheit, Einsamkeit durch Verlassenheit sind Zustände zwischen Leid und Freude 10

K i t a y a m a , Begegnung

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am Leben. Aber wenn die Einsamkeit konsequent erlebt wird, kann sie den Menschen entweder in die weltfremde Höhe hinauftreiben wie Hölderlin oder ihn in die blühende Tiefe stürzen wie Kleist; diese beiden Erlebnisweisen sind charakteristisch für den Geist des Abendlandes. Bashö erlebte die Einsamkeit auf die östliche Weise: auf dem Wege Buddhas und Laotses. Das Entweder-Oder zwischen Tod und Leben, das den Gipfel der konsequenten Einsamkeit bildet, gilt in Ostasien nicht als das Letzte des Erlebbaren eines Einsamen. Er steht nicht vor der verschlossenen Tür und verliert nicht seinen Weg hinter dem Entweder-Oder, vielmehr findet er seinen Weg gerade zwischen Leben und Tod. Das geschieht nicht, weil er die Grenze des Schicksals geringschätzt oder verkennt; denn die Grenze ist weder verschiebbar noch zu durchbrechen, sondern weil er sie von vornherein erkennt. Die Entdeckung dieser Grenze ist auch nicht das Endresultat aller Erkenntnisse und Erfahrungen, in dem man von dem unbekannten Phänomen des Todes überrascht und weggetragen wird. Sie ist im Gegenteil der Beginn aller Erfahrungen und geistigen Tätigkeiten Ostasiens. Das ganze Leben eines Geistigen in Ostasien, das auf dem Boden der Einsamkeit, im Lichte des EntwederOder, des Todes und des Lebens steht, fordert, den Weg zu finden;somit legt sein Leben Zeugnis dafür ab, daß die Grenze des Lebens nicht mit dem Tode schwindet, sondern er überschreitet in »diesem Leben« die Grenze tagtäglich, »mit dem Tode wächst das Leben« (Leben und Sterben sind dem Nirväna gleich). Der Mensch wächst über den Tod hinaus, und der Gegensatz zwischen Tod und Leben befindet sich sekundenweise im Prozeß der Aufhebung aller Grenzen. Bashö faßte das Wesen der Dinge getreu der ostasiati146

sehen Tradition in zwei Kategorien zusammen: Nichts und Sein (Kyo-Jitsu). »Es gibt in der Welt 'Schein' und 'Sein'. Deijenige, der mit dem Sein spielt, leidet am Schein... Wenn man im Schein das Sein und im Sein den Schein sieht, so findet man für die beiden im Schein die Freiheit (Shö-yö-yü)... man deutet den Schein keinesfalls durch den Schein, auch nicht das Sein durch das Sein.. .warum sollen wir nicht nach dem Schein der Heiligen spielend leben?« Man stelle dem hier die Worte Nietzsches gegenüber: »Das wahrhaft Nichtseiende ist das Kunstwerk... Das Sein befriedigt sich im vollkommenen Schein... Der Schmerz, der Widerspruch ist das wahrhafte Sein. Die Lust, die Harmonie ist der Schein« (Fragmente). Die Spielfreude am Schein bei Bashö steht parallel zu jenem Satz Nietzsches »Das Sein befriedigt sich im vollkommenen Schein«. Bashö meint mit dem Schein von der Welt, deren Erlebbarkeit in dem vollkommenen Schein Nietzsches — aber nicht allein im Kunstwerk — hegt, das Erlebnis selbst, das er »Spiel« nennt. »Es gibt nur ein Leben: wo dieses erscheint, erscheint es als Schmerz und Widerspruch... Die reine Versenkung in den Schein — das höchste Daseinsziel: dorthin, wo der Schmerz und Widerspruch nicht vorhanden erscheint« (Nietzsche Werke, Band IX S. 199/200). »Nur der, der die ganze Welt als Schein betrachten könnte, wäre im Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen : Künstler und Philosoph... Die Welt als ScheinHeiliger, Künstler, Philosoph« (e. d. Bd. X S. 214). Bei Bashö bildet der Schein, dessen Überwindung Nietzsche dem Künstler, Philosophen und Heiligen zuerkennt, auch das aufhebende Moment des Seins, des Widerspruchs und der Realität: des individuellen Ich, das zwischen den Einzelnen und das Ur-eine die Schranio* 147

ke der Erscheinung setzt. In dem Augenblick, wo — mit Nietzsche gesprochen — der Mensch sich vollkommen in den Schein versenkt hat, steht er über seiner Erscheinungshafügkeit, er »ist« — über die Widersprüche des Seins hinaus. Nachdem dieser Schein bewußt als Realität erlebt wurde und wird, nachdem das Weltprinzip — der Wille zur Macht — als Seinsprinzip entdeckt worden ist, gehen die Wege Nietzsches und Bashös auseinander. Nietzsche stand als denkender Philosoph vor den Widersprüchen und Gegensätzen, an denen der Wille zur Macht, das Seins- und Weltprinzip, sich offenbart. Er empfand den Schmerz und schaute die Welt, wie sie sich als Sein abquält, um sich an dem trennenden Steg zwischen oben und unten zu halten, er war ein Kämpfer, der sich mitten im Kampf befand. Bashö sah alles als Künstler und Heiliger (wie Nietzsche es zugibt), dem es nicht nur auf das Betrachten und Bewußterleben, sondern vor allem auf das andere und das Dritte außerhalb des Zwists ankommt, indem das individuelle Sein sowohl den Widerspruch als auch die Harmonie in sich selbst erlebt. Er befreite sich von sich selbst als dem Spiegelbild des Widerspruchs und entdeckte die Gemeinsphäre zwischen sich und dem Ureinen. Nietzsche negierte den monotheistischen Gott und stellte dafür als das principium individuationis — den Willen zur Macht auf. Bashö als Ostasiat und Heiliger sah hinter dem Werden und Vergehen alles Seienden das principium connexionis, das Eine, in dem alles sich befindet. Es ist die Weltlust, die auch Tao oder Mi-chi genannt wird. Bei diesen hier vergleichsweise herangezogenen Größen handelte es sich zunächst um den Schein. Der eine — ein Philosoph, der andere — ein Künstler, jener stand kämpfend zwischen dem Sein und Schein, 148

dieser spielend und damit erhaben über dem Gegensatz. Der Unterschied zwischen ihnen beiden lag darin, daß jener das Jahrtausend-Ende des Abendlandes verkörperte und in diesem der Kreislauf der zeitlosen Mystik Ostasiens sich wieder einmal vollendete. »Der Weg heißt auch Spaziergang«, das bedeutet, daß der Geist sich im Spiel des Himmels verweilt und sich der Erde erfreut. Denn am Himmel erscheint durch ihn (den Weg) der klare Mond, auf der Erde blühen durch ihn die Blumen...« (Brief Bashös). Der Wille zur Macht ist zwar das Prinzip alles Werdenden und Vergehenden, aber er ist bei Bashö nicht das Tragische und die Ursache von Streit und Widerspruch, sondern das Harmonische und das sich zueinander Findende. Das Spiel bei Bashö würde Nietzsche die Versenkung in den Schein nennen, jedoch vergaß Bashö darüber das Sein nicht, durch das der Mensch unüberwindlich und unerbittlich zunächst und zumeist gehalten und getrieben wird. Deshalb warnt er: »Es gibt in der Welt den Schein (Kyo) und das Sein (Jitsu). Wer das Sein spielend hebt, leidet am Schein. Wer könnte ohne Sein in den Schein treten?« (Brief Bashös). Sein und Schein stehen sich als Begriffe und Vorstellungen gegenüber, aber der Schein — wenn er sich in »erlebtes Sein« verwandelt — gewinnt sowohl die Kraft der Aufhebung des Widerspruchs als auch die Regelung, Bindung und Trennimg der Erscheinungen. Das Sein, das von diesem Erlebnis des Scheins getragen und wiedergefunden wird, ist nicht mehr der Schmerz und der Widerspruch, sondern es ist das Andere des Scheins, nämlich das Stoffliche und das Lusterzeugende für das Schein-Erlebnis. 149

»Das Rind, das sich am Gras sättigen will, ist unermüdlich und ruhig. Eine Fliege will an seinem Schwanz spielen. Der Besitzer des Rindes will aber die Fliege sich festsetzen lassen und nach ihr schlagen. Die Tatsache, daß man geschlagen wird und darüber traurig ist, deutet den Sinn des Spiels a n . . . Bei allem kommt zuerst das Spiel, dann folgt das Leid...« (Shö-yö-yü). Alles ist tätig angesichts des Scheins im Sein, aber nicht angesichts des Seins im Schein. Leid — Sein — Schmerz ist nach Bashö die Folge des Scheins; mit anderen Worten : Das Sein kann erst wirklich werden, wenn es vermittels des Scheins erlebt wird. Teleologisch gedacht ist das Sein dann nichts anderes als Mittel zum Schein-Erlebnis, aber wenn der Zweck erreicht ist, ist es nicht mehr das Fremde des Einen, mit dem das individuelle Ich nunmehr harmonisch geworden ist und gemeinsamen Atemzug hat. Über dieses Erlebnisstadium gibt die Definition des Nirväna im Mahäyänabuddhismus folgende Erklärung ab: »Das absolute, wahre Sein (die absolute NirvänaWelt) tritt aus dem Verhängnis des Erkanntwerdens (der Gegensätzlichkeit) heraus. Die große Liebe und die absolute Vernunft ergänzen sich stets gegenseitig. Infolgedessen bleibt der Erlöste weder im Leben und Tod, Werden und Vergehen: Sein, noch im Nirväna stehen. Er ist auf die Endlosigkeit der Zukunft hin tätig, um den Lebewesen Segen zu bringen, und zugleich ist er in die ewige Stille verwandelt.« (Kitayama, Metaphysik des Buddhismus, S. 165). Bashö erlangte als Dichter dieses Stadium der buddhistischen Erlösung. Die Stadien sind die großen Denkmäler — die Werke — Bashös, die er in seinem Leben Schritt für Schritt errungen hat. 150

Das, was Nietzsche zum Kämpfer und zum Welthasser machte, hat Bashö zum »Spieler« mit der Welt und zum »Genießer des Willens zur Macht« erhoben. Denn jener lebte als Denker und dieser als Künstler, jener warf alle Werte der Jahrtausende um, und dieser versank in den Strom des uralten Geistes Ostasiens. Jener baute der Tradition zum Trotz einen gewaltigen Weg für die Zukunft des Abendlandes, dieser fand den großen, breiten Weg der Tradition Ostasiens. Die Suche nach dem ewig Schöpferischen im Sinne ostasiatischer Tradition, das weder ab- noch nachgebildet werden kann und nur dem offenbar wird, der für den großen Rhythmus der Schöpfung hellhörig ist, ist bei Meister Bashö restlos bestätigt worden. Aufgabe und Werk Bashös waren nichts anderes als die getreue Wiedergabe des ewig klingenden und verklingenden Weltrhythmus. Seine Werke künden uns sowohl nach der Empfindung, in der die hohen Melodien der schöpferischen Taten schwingen, als auch nach der Höhe der geistigen Haltung das Letzterreichbare des Dichters. Niemand in der Welt, weder im Osten noch im Westen, hatte vermocht, in einer solchen Kürze der Formvollendung die Stimmen des Ewigen im Endlichen widerhallen zu lassen. Einmalig und schöpferisch einzigartig war die Dichtung Bashös, die der Welt gegenüber das große Kiinstlertum Japans kundtut. Er war nicht allein von seiner einmaligen Größe überzeugt — wie viele andere Menschen —, sondern er war von Stolz erfüllt, weil er der Überzeugung war, daß er mit anderen Größen die Höhe der geistigen Tradition bildete, sodaß sie in seiner Kunst ungetrübt weiterfloß. Er sah hinter sich den Jahrtausende alten Weg des ostasiatischen Geistes, auf dem sich einmal Buddha, 151

Laotse und K'ungfutse befanden. Er erblickte sowohl in der dichterischen Welt Chinas und Japans als auch in anderen Kunstrichtungen Japans dieselbe große Ideenwelt und deren Träger. »Die klassische Dichtung des Priesters Sei-gyo, die Reihendichtung von So-gi, die Malerei von Sesshu, der Teekult von Rikyu sind alle durchgängig von einer Idee getragen . . .« (Bashö, Yoshino-Reiseaufzeichnung). Eine solche Tradition lebt nicht in der breiten Masse, auch nicht in der Vertauschbarkeit und Wiederholung, sie lebt vielmehr als Naturgesetz ohne Ethik im Volke, Musik ohne Noten, Bild ohne Farbe und Stoff; denn sie ist das Symbol der ewigen Verfeinerung und Steigerung der in den menschlichen Sinnen und im menschlichen Geiste sich offenbarenden Schöpfung. Ihr unterster Ton ist das Schweigen, ihr höchster die Selbstform, in der die Fülle in sich selbst ausströmt und die Überfülle die Gestalt annimmt, die die Gewalt und das Gesetz der Form verachtet. »Die Dichtungen anderer Schulen sind den Farben ähnlich, unsere Dichtungen müssen dem Tuschgemälde gleichen . . . « (Kuketsu) »Noch fahler als der Stein eines weißglänzenden Berges ist der Herbstwind.« In Bashö begegnen wir unverfälscht und unmittelbar der Erlebniswelt Ostasiens, die sich niemals hat rein theoretisch ergründen lassen und von keiner der Größen Ostasiens jemals streng systematisch erforscht und ausgelegt wurde. Denn Gott war ihnen näher als alle Ideen und Menschenwerke. Dies ist die Sphäre eines Zwiegesprächs, das nur zwischen Gott und einem großen Geist geführt werden kann. 152

Es erfolgte aber nicht als Durchbruch ins Menschliche vom Jenseits her; es war keine transzendentale Inspiration, die das Menschsein und dessen Geist zum Werkzeug macht. Denn der Geist Ostasiens duldet keine Überraschung, auch keinen Zufall. Trotz allen Anscheins der Mystik und des Mystizismus, mit dem fast jedes große Kunstwerk Ostasiens dem Abendlande entgegentritt, kennt weder der buddhistische noch der taoistische noch der künstlerische Geist Ostasiens die Methode, aus dem »Nichts« Sein hervorzurufen. Die Mystik Ostasiens fordert die Steigerung des seelischen Vermögens, eine organische Sublimierung der geistigen und körperlichen Kräfte, in der die Urkräfte des Seinsgrundes (Taikyoku) lebendig werden. Es heißt in der Überlieferung: »Der jetzt genannte Weg des Haikai beginnt mit dem Wandel des Scheins und des Seins, als die Weltkraft des Urgrundes sich zum ersten Mal regte . . .« (Zehn Kapitel zum Haikai) Bashö war zunächst Lyriker, doch getreu der ostasiatischen Geistesverfassung und Tradition wurde er schließlich Mystiker, der als Künstler zugleich seine Werke aus der tiefsten Quelle des Urgrundes geschöpft hatte.

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KOSMOS ALS G E G E N S T A N D DER MALEREI

Das Wesen

E

S L I E G T EINE TIEFE K L U F T ZWISCHEN der östlichen und westlichen Kultur. Diese Kluft kann nicht ernst genug genommen werden; wer sie mit dem sanften Schleier gemütsbedingter Freundschaft verdecken will oder nur das objektiv Erfaßbare herausgreift, stürzt ohne weiteres in jenen Abgrund. Das ist der Undank des launischen Schöpfers, der das Verschiedene und Getrennte liebt, und es ist die Sühne für das vermessene Wagnis des Menschen, der das Zerfallene und Auseinanderstrebende zusammenzuschließen sucht. Jede Kultur ist ein Symbol der Gottesschöpfung. Alle Kulturen weisen untereinander sowohl Fremdartiges wie Verwandtes auf. Ihre Artikulationen rein äußerlich zu betrachten, ist nicht der Mühe wert; denn die Kultur selbst trägt keine Maske: Eine jede Erscheinung kann immer nur als Ausdruck des inneren Wesens verstanden werden. Und nur aus dem Verständnis ihrer inneren Verwandtschaft und Wesensverschiedenheit kann eine Brücke entstehen, indem der vermittelnde Geist das Licht entzündet. Der Abgrund, der Osten und Westen trennt, liegt in den beiden Weltgefuhlen. Sie sind nicht eine Sache der Lebensanschauung, die jeder sich nach seinem Standort zurechtmachen kann, sondern sie gehen von dem Geist des weltlichen Gebundenseins aus. Das Schicksal des abendländischen Menschen, somit auch der westlichen Kultur, liegt in der »Entwurzelung«. Die griechische Tragödie und der Mythos des Sündenfalls sind historische und metaphysische Zeugnisse für diese Tatsache der Entwurzelung des abendländischen Menschen. 156

Der Baum der Erkenntnis oder das Feuer des Prometheus gab dem abendländischen Menschen das Licht, das im Brennen, in der Flamme sich selbst vernichtet. Es ist das Licht, womit der Mensch sich selbst und seine Welt beleuchtet. Es wurde immer größer und stärker, die Welt wurde immer weiter, aber gleichzeitig wurde das Sonnenlicht schwächer, und der Kosmos, das Haus Gottes, wurde enger. Das Licht der Erkenntnis steigerte sich dann bis zum Gipfel des Individualgeistes. Die daraus hervorgegangene Kultur überflügelt die Natur, und jeder Mensch kämpft dann um sein eigenes Licht, das stärker leuchten soll als das des anderen. So verwandelte sich die Erde im Westen in das eine lichterfüllte Reich des menschlichen Geistes. Das ist der Glanz und die Schönheit der abendländischen Kultur. Im Gegensatz zum Schicksal der Entwurzelung blieb und bleibt die östliche Kultur im unbeschränkten und unverlöschbaren Licht des Kosmos. Ihr Schicksal, ihre Wesensart, ist die Verwurzelung im Kosmos. Der Ostasiate als Einzelner ist tief verwurzelt in seiner Familie, in seiner Gemeinschaft, in der Landschaft, die Himmel, Erde und Menschen umfaßt. Er sieht zuerst und bei sich selbst an Stelle des Lichtes, das ihn und seine Welt unmittelbar beleuchtet, den Schatten des Kosmos. Er Heß das himmlische Licht oben, zwang es nicht auf die Erde; denn er sah in seinem Geiste nicht den Herrscher der Welt, sondern den Eingang zum Kosmos, den man mit einem taoistischen und buddhistischen Ausdruck als »Wu« (Nichts«) bezeichnet. »Es war in der Ureinheit und entstand vor Himmel und Erde. Es war still und einsam, es stand allein 157

und blieb unveränderlich. Es wanderte überall und wurde nicht erschöpft.« (Tao-te-king) Dieses Nichts, das das Wesen des Kosmos ist, bleibt im Menschen zuerst als schlummerndes Licht, das der Buddhismus als Buddhaheit (Buddhäta) zu bezeichnen pflegt, verborgen. Dieses keimende Licht wächst im Menschen durch seine zunehmende Erkenntnis, die zugleich die Reife des Menschen bedeutet. Je größer das Licht wird, desto kleiner wird der Schatten, wie die aufgehende Sonne alle Schatten der Nacht mit ihren Strahlen vertreibt. Das Ringen um das geistige Licht Ostasiens geht nicht um das Bilden und Stärken des einzelnen Lichtes, sondern um das Hineinwachsen in das kosmische Lichtmeer, in die eine, einzige Sonne des Alls! Deshalb ist das Bemühen um die Weisheit, um die Erkenntnis des Weltgrundes eine Selbstverständlichkeit für jeden Menschen. Darum ist das Leid kein Verzweiflungsschmerz, der als Rückfall der geistigen Selbsterhellung in den Schatten entsteht. Die Größe und Stärke des einzelnen Menschengeistes bringen den Menschen weder zur Selbstbehauptung noch zu überschwenglicher Selbstherrlichkeit. Weder die Menschen noch die Dinge besitzen als Einzelne Substanz oder Eigenart, sondern sie sind nur wie Knoten des großen kosmischen Lichtgewebes, die durch Millionen von Kräften und Beziehungen miteinander verbunden und miteinander verkettet sind. Dieses Bild beschreibt ein buddhistischer Text »Buddha-avatamsaka-sütra« in großartiger Symbolik. Es gibt nach diesem Text vier verschiedene Eigenarten der Welt, die von vier verschiedenen Standorten oder 158

Stufen der Erkenntnis aus voneinander unterschieden werden. Die erste nennt man die Welt der Sachlichkeit, die zweite die Welt der Gesetzlichkeit, die dritte die Welt der Harmonie zwischen der Sachlichkeit und der Gesetzlichkeit. Die vierte heißt die Welt der Harmonie aller Sachlichkeiten. In moderne philosophische Begriffe übersetzt, bedeutet die erste die Erscheinungswelt, die zweite die rein geistige Welt (Wissenschaft und Philosophie), die dritte die moralisch-ethische Sphäre und die vierte die Welt der metaphysischen Symbolik. Durch die zunehmende Erkenntnis steigt man von der ersten bis zur vierten Welt empor, in der die Erscheinungen zugleich als Widerspiegelung des kosmischen Lichtes gesehen und erlebtwerden,in der jedes Ding eine Stätte des einzelnen Buddha ist. In dieser Symbolwelt ist jeder Baum, jeder Vogel und jeder Stein und jeder Mensch nichts anderes als Buddha selbst. Dieses Reich unendlicher Buddhas ist das wahre Bereich der Erlösung. In diesem Sinne ist der einzelne Geist ein Widerschein des Geistes des Alls, der aber nicht als einzelnes Licht gegen das andere oder das andere bekämpfend glänzt, sondern sie ergänzen einander um des großen kosmischen Lichtreiches willen. Sie sind wie die Sterne am Himmel, ruhige, einander zuwinkende Nachbarn. »Auf dem einsam leeren Berg Ist niemand zu sehen, Doch höre ich irgendwo Das Echo eines Gespräches... Der Sonne Widerschein dringt In des tiefen Waldes Schweigen Und leuchtet auf dem grünen Moos.« (Wang-wei) 159

Der Dichter Wang-wei ist der Begründer der Tuschmalschule in China im 8. Jahrhundert. Er stand auf einem kahlen Berg, und um ihn war tiefes Schweigen. Nur hier und dort spürte er den Atem der lebenden Natur, wenn Menschenstimmen aus verborgenen Klüften in die Bergeseinsamkeit emporschallten, wenn das Abendrot auf einen uralten Stein das letzte Licht spendete. Wenn man so einsam inmitten der Natur weilt und mit ihrem Leben vertraut wird, dann ist die Einsamkeit nicht Verlassenheit und nicht Unheimlichkeit, sondern der Mensch ist ebenso wie die Bäume und die uralten Steine zu Hause. Der Raum selbst ist schweigsam. Er füllt die Augen des Dichters. Seine Ohren vernehmen in allen Erscheinungen die Atemzüge des Kosmos. Dieser Raum ist nicht die nüchterne Form der Erkenntnis, die einer teilnahmslosen Überlegung entspringt; er ist auch nicht die Summe der Moleküle oder die Fülle der Energien, die mit ihren physikalischen Kräften den Raum ausfüllen, sondern der Raum ist die Bewegungsstätte der geistigen Mächte. Deshalb ist er weder atomistisch noch naturgesetzlich vorstellbar. Der Raum ist das Ding an sich, er ist unendlich und ewig. Ein solcher Raum ist dem endlichen Denken des Menschen als Ganzes nicht zugänglich; weder der geometrisch noch der philosophisch vorstellbare Raum ist der wirkliche, sie sind nur mögliche Räume. Wenn wir deshalb den wirklichen Raum erfassen wollen, müssen wir uns der Zeit bedienen, weil die Zeit die einzige Eigenschaft des Raumes ist, durch die der Raum als geistiges und lebendiges Wesen seine Substanz in seiner eigenen Tätigkeit gebiert. Wir übersetzen diese Auslegung des Raumes mit den Worten Laotses: »Das Nichts nichtet«. Das »Nichten 160

des Nichts« ist die Tätigkeit des Raumes, die, von uns Menschen aus gesehen, die Formhaftigkeit oder die Erscheinungshaftigkeit bedeutet. Aber in Wirklichkeit ist jede Erscheinung nur ein Schatten des unendlichen Lichtraumes. Jeder Berg, jeder Stein ist ein solcher Wurf durch das Nichten des schlummerlosen Gottes, des Raumes. Aber ein solcher Schatten ist in der Lichtfülle nichts anderes als eine Nüance der Lichtstärke, die je nach der menschlichen Erkenntniskraft, je nach der Selbsterleuchtung des Geistes verschieden und mannigfaltig ist. Je größer das eigene Licht, desto geringer wird der Schatten innen und auch außen, weil das kosmische Licht im einzelnen als Ganzes leuchtet. Von Ostasien aus gesehen ist die Malerei des abendländischen Mittelalters noch im Anfangsstadium der Lichtempfindlichkeit der künstlerischen Erkenntnis. Das zweite Stadium beginnt mit dem Impressionismus und wird am deutlichsten bei van Gogh. Dann ist auch die griechische Plastik nur der Anfang der Kraftempfindung des Raumes; sie vollendete sich bei Auguste Rodin. In Ostasien geht man bei der Erfassung des Raumes nicht weiter als die äußerste Grenze der Raumeigenschaft es erlaubt, wo der Raum sich selbst nichtet, d. h. man setzt das Wesen des Raumes, das Nichten des Nichts in den Mittelpunkt der Malerei. Darum bemüht sich jeder Künstler in der Tuschmalerei, den Raum in seiner Eigenschaft eindeutig zu machen und zugleich die Unfaßbarkeit der ganzen Räumlichkeit anzudeuten. Von hier aus verstehen wir die leere Fläche auf dem Tuschbild, das als Bildwerk ohne »Perspektive« im europäischen Sinne ist. Denn der Raum hat keine Perspektive, sondern nur das menschliche Auge. Betrach11

Kitayama,

Begegnung

161

ten wir z. B. die Bilder von van Gogh. Die Sonne oder eine Blume in der Landschaft sind dort oft drei, vier Mal größer als ein naher Baum oder ein in der Nähe stehender Mensch. Van Gogh steht an der Grenze zwischen der europäischen und ostasiatischen Malerei. Die ostasiatische Malerei ist nicht eine Kunst der Farbe und des Lichtes im europäischen Sinne, sondern sie sieht an Stelle der Farbe die Farblosigkeit und statt der Lichtreflexe den Schatten. Wenn die Dinge vor unseren Augen erscheinen, sind sie weder farblos noch nur ein Schatten, aber vom Kosmos aus gesehen sind sowohl die Farben wie auch die Lichtreflexe nur äußere Arten des Widerscheins des kosmischen Antlitzes. Darum ist der wirkliche Gegenstand der ostasiatischen Malerei der Kosmos selbst und nicht das einzelne Ding oder Lebewesen. Es gibt in Ostasien nicht den Begriff des Stillebens; denn kein einziges Ding, sei es eine Frucht oder ein Buch auf dem Tisch, ist etwas Stehendes oder Totstilles, sondern alles schwingt im Ätherraum des Geistes. Eine Landschaft, ein Tier, eine Blume sind in dieser Malerei Mikrokosmen, die wie kleine Lampenlichter im Winde an- und ausgehen. Die ostasiatische Malerei erfaßt das Nichten des Nichts, den unendlichen Raum in seiner Zeitlichkeit. Die ostasiatische Kunst weicht dem Weg aus, den der Westen über die Wissenschaft zur »totalen Aufschließung« des kosmischen Geheimnisses gegangen ist. Sie versucht auch nicht, neben dem ewigen Gotteshaus etwas Menschliches aufzurichten. Der schlimmste Feind der ostasiatischen Welterfassung ist die Vermenschlichung und die Verkümmerung des Weltenraumes nach logisch-intellektualistischem Denken. Rilke sagt einmal: 162

»Alle, welche dich suchen, versuchen dich. Und die, so dich finden, binden dich an Bild und Gebärde. Ich aber will dich begreifen, wie dich die Erde begreift; mit meinem Reifen reift dein Reich.« (Buch der Bilder, S. 63) In der ostasiatischen Kunst will auch der Mensch die Welt, Gott und den Kosmos begreifen, wie die Welt sich selbst begreift, wie Gott sich selbst sieht, wie der Kosmos sich selbst gestaltet. Das Ewige läßt sich erblicken, wenn die Menschen nicht mehr blicken können, und das Unendliche meldet sich dort, wo die Menschen nichts mehr zu sagen haben. Das Motiv ostasiatischer Kunst liegt in dem Gedankengang, daß der Mensch auf der Schwelle zwischen Tod und Leben steht, zwischen Fall und Aufstieg, zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit und als ein Punkt auf den Grund seiner Existenz schaut. Ewigkeit und Vergänglichkeit grenzen aneinander im Hauch des lebenden und sterbenden Atems. Von hier aus verstehen wir die Idee und Gestaltung der ostasiatischen Kunst, insbesondere der Tuschmalerei. Die Technik

Zunächst fallt die ungewöhnliche Raumverteilung in dieser Kunst auf, dann die Linienführung, die auf das Höchste des technischen Könnens gesteigert ist und zuletzt die hauchartige, matte Tuschfarbe. Das Nichten des Nichts drückt sich aus in der Negation des Raumes, im Punkt, der ersten Negation des Raumes. 11* 163

Hegel sagt: »Der Punkt ist die Negation des Raumes, aber in dieser Negation steckt die ungeheure Größe des Raumes, denn der Punkt ist die letzte Form der Gestalt — des Dinges überhaupt.« (Enzyklopädie.) Er sagt sogar, »er ist der erste Sproß des Keimes, in dem die Unendlichkeit des Raumes verborgen ist