Kultur all inclusive: Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus [1. Aufl.] 9783839420898

Wie ist es um das Verhältnis zwischen modernem Massentourismus und den unterschiedlichen Spielarten von »Kulturerbe« bes

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Kultur all inclusive: Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus [1. Aufl.]
 9783839420898

Table of contents :
Inhalt
Drohung und Verheißung. Vorwort zum Wechselspiel von Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus
Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Eine programmatische Einführung
Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe). Akteure und Kontexte im Lauf eines Jahrhunderts
Die ganze Welt auf einer Insel. Tourismus und die Inszenierung moderner Zeitlichkeit auf der Insel La Réunion
Homogenisierung und Differenzierung. Zur Ambivalenz touristischer Chronotopie-Konstruktion
Die Governanz des Outstanding Universal Value. Zur globalen Verhandlung der UNESCO-Welterbeliste
Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen
Wa(h)re Kultur. Das »Kalam-Kulturfestival« im nördlichen Hochland von Papua-Neuguinea
Die Tourist Bubble des San-Projekts »Treesleeper Camp« in Tsintsabis, Namibia
Sharing and Protecting. Der Umgang mit Chancen und Risiken des Tourismus in nordamerikanischen Indianerreservationen
Die Leute hinter den Masken. Kleinunternehmer und die Kommodifizierung von Kultur im senegalesischen Tourismus
Der Shop als Spiegel des Museums. Ausstellungsobjekte, Souvenirs und Identitätspraktiken im Jüdischen Museum Berlin und im Yad Vashem, Jerusalem
Kurzbiographien der Autoren

Citation preview

Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive

Kultur und soziale Praxis

Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.)

Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Felix Girke, Kara (Südäthiopien), © 2004 Satz: Eva-Maria Knoll, Felix Girke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2089-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Drohung und Verheißung. Vorwort zum Wechselspiel von Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus

Felix Girke und Eva-Maria Knoll | 7 Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Eine programmatische Einführung

Burkhard Schnepel | 21 Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe). Akteure und Kontexte im Lauf eines Jahrhunderts

Regina Bendix | 45 Die ganze Welt auf einer Insel. Tourismus und die Inszenierung moderner Zeitlichkeit auf der Insel La Réunion

David Picard | 75 Homogenisierung und Differenzierung. Zur Ambivalenz touristischer Chronotopie-Konstruktion

Hasso Spode | 93 Die Governanz des Outstanding Universal Value. Zur globalen Verhandlung der UNESCO-Welterbeliste

Thomas Schmitt | 117 Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen

Ingrid Thurner | 151 Wa(h)re Kultur. Das »Kalam-Kulturfestival« im nördlichen Hochland von Papua-Neuguinea

Joachim Görlich | 183

Die Tourist Bubble des San-Projekts »Treesleeper Camp« in Tsintsabis, Namibia

Anna Hüncke | 217 Sharing and Protecting. Der Umgang mit Chancen und Risiken des Tourismus in nordamerikanischen Indianerreservationen

Markus H. Lindner | 245 Die Leute hinter den Masken. Kleinunternehmer und die Kommodifizierung von Kultur im senegalesischen Tourismus

Georg Materna | 275 Der Shop als Spiegel des Museums. Ausstellungsobjekte, Souvenirs und Identitätspraktiken im Jüdischen Museum Berlin und im Yad Vashem, Jerusalem

Anja Peleikis und Jackie Feldman | 309 Kurzbiographien der Autoren | 343

Drohung und Verheißung Vorwort zum Wechselspiel von Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus F ELIX G IRKE

UND

E VA -M ARIA K NOLL

Das Zeitalter des Massentourismus enthält eine Drohung und eine Verheißung. Heute scheint die ganze Welt ins Visier der Touristenströme steuernden Unternehmen und Institutionen geraten zu sein: auch wenn dort oder da vielleicht noch keine völlige Durchdringung gegeben ist, so gehen wir doch davon aus, dass das touristische Potential jedes Landes und der meisten kleineren Struktureinheiten erwogen und registriert ist. Gegenwärtiger Tourismus setzt sich grundsätzlich über Grenzen hinweg, sei es durch die Vorhut der »unabhängigen« globalen Backpacker oder durch größere politische Interventionen, die Wege schaffen, wo vorher keine waren. Ungeachtet dessen, ob diese grenzüberschreitenden Wege nun als bedrohlicher Ausverkauf oder aber als Chance auf Partizipation verstanden, erachtet und erlebt werden – oder als beides zugleich –, werfen Touristen ihre Schatten weit voraus. Schon lange vor ihrer tatsächlich »massenhaften« Ankunft werden sie von Individuen und Institutionen imaginiert, teils akkurat, teils als Zerrbilder. Verstärkt durch die zunehmende Lust und Möglichkeit der Mittel- und Oberschichten asiatischer und afrikanischer Länder, es ihren europäischen und amerikanischen Vorläufern gleichzutun und ohne wirtschaftliche oder existentielle Notwendigkeit zu reisen, lässt uns diese Entwicklung von einem wahren Zeitalter des Massentourismus sprechen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es nur noch Massentourismus gäbe – also jenes Phänomen, das in der Regel entweder kritisch als das massen-

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hafte Auftreten von Touristen an einzelnen Orten verstanden wird, oder unter demokratischeren Gesichtspunkten gesehen, als die generelle Zugänglichkeit touristischer Reisen für breitere Bevölkerungssegmente. In unserem Verständnis ist das Zeitalter des Massentourismus vielmehr geprägt von einem globalen Bewusstsein touristischer Praxis und dem sicheren Wissen, dass Touristen überall anzutreffen oder überall hinzulocken sind und mit relativ kurzer Vorlaufzeit sich entsprechend der gängigen Szenarien auch lokalitätsprägend ballen können. Die normative Beurteilung dieser Sachlage, oft impulsiv geäußert und naturgemäß von hohem öffentlichen Interesse, bleibt hier außen vor: stattdessen befassen sich die Beiträge in diesem Band mit der breiten Palette gelebter Praxis, die sich zwischen den beiden eingangs erwähnten Facetten von Kultur im Zeitalter des Massentourismus aufspannt, der Drohung und der Verheißung, und den Aktionen wie Reaktionen von Menschen angesichts des touristischen Schattens. Die Haltung jener Menschen, die in Destinationen leben oder wirtschaftlich in sie investiert haben, muss zumindest teilweise als imaginativ und antizipativ verstanden werden: auch wo noch keine Touristen sind, denkt man an sie; wo sie bereits angekommen sind, hofft man, ihre Verheißung ausschöpfen und ihre Drohung eindämmen zu können; man überlegt, wie man sie locken und verführen, begeistern und meistern kann, um sie – gleich einem nicht völlig fügigen wilden Tier – dahin zu dirigieren, wo ihr Platz sein soll. Die sich hier abzeichnende Ambivalenz zieht sich als roter Faden durch dieses Buch. Die im touristischen Schatten stattfindende Imagination und Antizipation ist aber keinesfalls nur projektiv; sie wirkt zugleich transformativ nach innen. Jenseits der Reproduzier- und Wiedererkennbarkeit Augé’scher Nichtorte (1992; vgl. Schnepel und Spode in diesem Band) müssen sich Destinationen unterscheiden, um überhaupt beworben werden zu können, sie müssen vorerst eine spezifische Identität erhalten, und diese charakteristische Identität muss langfristig bewahrt werden. Der Königsweg hierzu sind heute »Kultur« und artverwandte Begriffe, welche die Eigenart und Einzigartigkeit von Populationen behaupten und zugleich illustrieren. Die stets auch politische Steuerung von Kultur, Tradition und Geschichte wird heute gemeinhin als »heritage« oder (Kultur-)Erbe bezeichnet. Unter anderem stimulieren weltweit zu beobachtende Oszillationen zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung, Experimente in Föderalismus und eine starke Bewegung für die Rechte der indigenen Minderheiten in-

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nerhalb von Nationalstaaten die heritage-Dynamik: Distinktion ist die logische und oft auch formal-rechtliche Grundlage für (kollektive) Identität, und somit kommt keine Identitätspolitik darum herum, sich eben damit zu befassen. Die heute oft gewählte Antwort auf die Frage, was die eine Gruppe, die eine Destination von den anderen unterscheidet, lautet »Kultur« und spezieller noch Kulturerbe, ein in vieler Hinsicht affektiv stärkerer Begriff als das eher anämische und betont neutrale »Geschichte« – »my heritage can beat up your history«, wie Alan Lew (2007) es formuliert hat. Mehr noch als Geschichte behauptet »Erbe« – gemäß der gängigen deutschsprachigen Bedeutung einer Rechte- und/oder Güterüberlassung eines Verstorbenen meist auf einen biologischen Nachkommen (das Erbe, das der Erbe ererbt) – ein proprietäres Verhältnis, welches als quasi natürliches Recht schwer zu hinterfragen und nahezu unmöglich zu leugnen ist. Kulturerbe legitimiert Ansprüche, es generiert und stabilisiert soziale Zusammenhänge und naturalisiert eine Gegenwart durch Bezugnahme auf 1 eine Vergangenheit. Es ist die Bewegung von »Geschichte« zu »unser Erbe« die es überhaupt erst erlaubt, im großen Maßstab Artefakte und immaterielle Kultur (wie Performanzen, Wissen und Erlebnisse) zu kommodifizieren – damit etwas vermarktet und veräußert werden kann, muss es schließlich zunächst besessen werden, und sei es durch bloße Behauptung. So wird Kulturerbe zum naheliegenden Wegbegleiter und -bereiter des kommerzialisierten Reisens; beide bedingen und bestärken einander, indem zum einen der Tourismus die mehr oder weniger interessierten, aber vor allem zahlenden Zuschauer für die identitätspolitisch motivierten Selbstdarstellungen von oft marginalisierten und lokal gebundenen Menschen liefert, und zugleich diese kulturellen Performanzen den Akt des Reisens mit empfundener Authentizität und Relevanz aufladen. Wenn das Verständnis des Selbst zunehmend essentialisierend an Bräuche oder Bauwerke geknüpft ist, an Traditionen, Orte und Objekte, ist es von fundamentaler Wichtigkeit, sowohl diese im/materiellen Marker vor

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Es ist kein weiter Schritt von der Diagnose dieser vereinnahmenden (auch: nostrifizierenden) Haltung und einem impliziten Schutzgedanken hin zu Überlegun gen über deren weitere Ausprägungen im Zusammenspiel mit Nationalstaaten und anderen Institutionen wie etwa der UNESCO (vgl. dazu den kürzlich erschienen Sammelband Heritage Regimes and the State von Bendix/Eggert/Peselmann 2012).

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physischer Transformation (konkret: Vergessen, Verfall und Zerstörung) zu schützen als auch die diskursive Deutungshoheit über sie zu bewahren – Erbe verpflichtet auch! Hier möchte eine Vielzahl von Akteuren mitreden, mitgestalten und monetär partizipieren, die nicht leicht und nicht eindeutig in Insider und Outsider unterteilt werden können: Niemals sind die Träger von Kulturerbe derart homogen, dass sich keine Fragen nach Repräsentation, Profit und anderen Partikularinteressen aufdrängen würden. Die Etablierung und Propagierung von Kulturerbe birgt dadurch stets auch – und vor allem im transformativen Zeitalter des Massentourismus – ein gewisses Konflikt- und auch Kooperationspotential. Der vorliegende Band diskutiert entlang dieser umrissenen Konstellation konkrete Fallbeispiele, die Einblicke erlauben in die vielgestaltigen Wechselwirkungen zwischen globalem Tourismus und Identitätspolitiken, die sich auf Kultur und Erbe beziehen. Wie dargestellt geht es dabei nicht um »Massentourismus«, nicht um das konkrete Auftreten der Golden Hordes (Turner/Ash 1975) an sich, sondern um die Potentialitäten des »Zeitalters des Massentourismus«, um Drohungen und Verheißungen, um das teils vorauseilende, teils hinterher hinkende Anpassen lokaler Strukturen an erahnte und erfahrene touristische Ansprüche. Das Resultat ist durchgängig ambivalent. Unser Titel Kultur all inclusive ist daher gewissermaßen als Parole aller Beteiligten zu verstehen, seien es Touristen, Unternehmer oder die Bewohner der Destinationen, die ein Interesse daran haben, dem wachsenden Bedürfnis nach »Kultur(-erbe)« konstruktiv zu begegnen. Das hierbei ambivalente Haltungen zu beobachten sind, kann auch nicht überraschen, stellen die potentiellen oder tatsächlichen Touristenströme wie oben angedeutet neben der Verheißung doch immer auch eine gewisse Bedrohung dar, und sei es allein dadurch, weil sie Wandel ankündigen und sichtbar machen. Geographisch erstrecken sich die im vorliegenden Band diskutierten Beispiele von Europa (Deutschland, Schweiz) über den Nahen Osten (Israel, Jordanien), Afrika (Marokko, Namibia, Senegal), Ozeanien (Papua-Neuguinea), Nordamerika und die Inselwelt des Indischen Ozeans (La Réunion) bis hinein in die weltweit stattfindenden Sitzungen der UNESCO-Welterbekommission. Das Ziel ist somit nicht der Versuch, die Thematik für eine Region erschöpfend zu behandeln, sondern die Öffnung eines weiten Vergleichsrahmens in thematischer und regionaler Hinsicht.

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D IE B EITRÄGE Aufgrund des Entstehungskontextes dieses Bandes, aber auch aufgrund der fachlichen Fokussierung, der methodischen Vorgehensweise und der spezifischen Disziplingeschichte liegt es nahe, dass dieser Band zur Problematik der scheinbar unauflösbaren Komplexität von Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus vor allem sozialanthropologische/ethnologische Beiträge umfasst. Eine »dichte Beschreibung« (Geertz 2003) und Reflexion der vielfältigen Verschränkungen von Tourismus und der In-Wertsetzung und Kommerzialisierung von Kultur liegt für ein Fach nahe, das sozio-kulturelle Interaktionen in den Blick nimmt und sich dabei der teilnehmenden Beobachtung vor Ort verschrieben hat. Neben Vertretern der Europäischen Ethnologie, der Geschichtswissenschaft und der Kulturgeographie wurden daher überwiegend Beiträge jenes Faches aufgenommen, »das englisch, französisch, spanisch, portugiesisch und in den meisten skandinavischen Sprachen seit langem Sozial- und Kulturanthropologie genannt wird (und ebenso zunehmend in der Schweiz und in Österreich), während in deutscher Sprache ansonsten die altmodischeren Bezeichnungen Ethnologie oder gar Völkerkunde vorläufig noch überwiegen« (Gingrich/Knoll/Kreff 2011: 17f). Abhängig von der Herkunft und akademischen Sozialisierung finden sich diese unterschiedlichen Bezeichnungen für ein und dieselbe Disziplin im vorliegenden Band. Dementsprechend vielfältig sind auch die anzutreffenden Methoden, da die vorgestellten Daten teils in Archiven oder online, teils in aktuellen Feldforschungen erhoben wurden. Thematisch spannt dieses Buch den Bogen von mikrolokaler Kommodifizierung von Kultur durch marginale Kleinunternehmern, die einige wenige Masken an Touristen zu verkaufen hoffen, bis hin zur In-Wertsetzung von Kultur im Rahmen des Weltkulturerbe-Regimes der UNESCO. Während dieses Vorwort die generellen Grundanliegen dieses Bandes und der beiden zugrundeliegenden Workshops2 artikuliert, wird durch das

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Kultur all inclusive geht auf zwei Veranstaltungen zurück: den von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Workshop »Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus«, veranstaltet vom und am Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, unter der Leitung von Burkhard Schnepel und Felix Girke, sowie das Panel 2 »›Kultur‹ all inclu-

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einleitende Kapitel von Burkhard Schnepel mit Verweis auf die relevante Literatur ein theoretischer Bezugsrahmen hergestellt, der die wichtigsten Problematiken, die in den unterschiedlichen Disziplinen verwendeten Grundbegriffe und die aktuellen Streitfragen aufgreift und systematisch darlegt. Regina Bendix zeigt in ihrem Beitrag Herausforderungen und Stolpersteine in der Erforschung kultureller In-Wertsetzungen auf (etwa das Spannungsverhältnis von Allmende und Eigentums- sowie Nutzungsrechte) und leistet grundlegende Begriffsarbeit in diesem Band: Der Ausdruck »Patrimonialisierung« betont das Prozesshafte einer In-Wertsetzung, nämlich die Verbindung von Bewahren und Kommerzialisieren. Kultur mit einem ökonomischen Wert versehen ist aber nur eine von möglichen In-Wertsetzungen von Kultur, betont Bendix. Daher ist die Kommodifizierung, die im Sinne Polanyis mit der Entfremdung von kulturellen Werten negativ assoziiert wird, von einer solchen vieldimensionalen In-Wertsetzung abzugrenzen. Denn In-Wertsetzungsprozesse von Kultur zeichnen sich gerade durch ein Ineinandergreifen von ideellen, sozialen, politischen, religiösen und wirtschaftlichen Be- und Aufwertungen aus, was anhand dreier Beispiele aus der Schweiz (einem Neujahrsbrauch und zweier Theaterprojekte) verdeutlicht wird. Daher ruft Bendix zur Auflösung der vielzitieren Differenzierung in kulturelle und metakulturelle Produktionen von Barbara KirshenblattGimblett (1995) auf, da diese darüber hinaus auch zur Annahme verleiten kann, dass im Kulturerbe-Regime wenige, oft auch von außen kommende Akteure auf der Meta-Ebene agierten, während die eigentlichen Kulturträger von ihrem Kulturgut entfremdet würden. Erst die Überwindung der

sive. Konsum und Vermarktung kultureller Aspekte im Tourismus« der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde/DGV in Wien unter der Leitung von Burkhard Schnepel und Eva-Maria Knoll. Für zahlreiche Einsichten und die lebendige Diskussion danken wir den Teilnehmern und den Referenten. Neben den hier versammelten Beitragenden trugen in Wien ebenfalls Petra Martin (Dresden), Juliane Müller (München) und Jennifer Scheffler (Bayreuth) vor sowie in Halle Sandra Petermann (Mainz), Tomasz Przerwa (Wroclaw), Markus Tauschek (Kiel) und Carsten Wergin (Halle). Weiterhin danken die Herausgeber ganz besonders Hanne Schönig (Halle) für ihre intensive Hilfe und die umfangreiche Korrekturarbeit an diesem Band.

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Trennung zwischen Handlungsebene und das Handeln lenkender MetaEbene lässt die Vielfalt der Bezugs- und Handlungsspielräume unterschiedlicher Akteure und das Spektrum von Leidenschaft bis Kalkül erkennen, das im Prozess einer In-Wertsetzung entfaltet werden kann. David Picard nimmt den Slogan »die ganze Welt auf einer Insel« unter die Lupe, mit der die Insel La Réunion des westlichen Indischen Ozeans beworben wird. Bei dieser Vermarktungsstrategie macht er eine voranschreitende Entwicklung als zugrunde liegende Logik und ein Verständnis von Geschichte als progressiven Entfremdungsprozess von einem natürlichen Urzustand aus. Diese Vorstellung moderner Zeitlichkeit korrespondiert mit einer entsprechenden Raumorganisation auf La Réunion: Die Bergbauern im »wilden« Inneren der Insel werden als ursprünglich (einst im Widerstreit und nun im Einklang mit der Natur lebend) dargestellt, während die Küstenbevölkerung mit der Thematik der Kreolität verbunden wird, die nicht nur auf eine schmerzvolle koloniale Vergangenheit verweist, sondern auch als das universelle Modell der menschlichen Zukunft dargestellt wird. In der touristischen Raumpraxis der Vermarktung La Réunions wird die Reise durch den Inselraum somit auch zur moralisch aufgeladenen Zeitreise – die morgens beim menschlichen Ursprung im Inselinneren beginnt und über die schmerzvolle Kolonialgeschichte hinweg abends beim friedlichen Zusammenleben der kreolischen Bevölkerung an der Küste endet. La Réunion wird somit zur Miniatur globaler menschlicher Zeitlichkeit. Natur und Alltagskultur der Insel werden touristisch vermarktet und dabei für Touristen wie auch Einheimische zum identitätsstiftenden Moment. Picard spricht von Imaginärwelten, die kollagenartig zusammengestellt die Raum- und Sozialstruktur der Insel und auch die Selbstwahrnehmung ihrer Bewohner neu definiert. Der Beitrag Picards zu La Réunion verdeutlicht Aneignungs- und Repräsentationsprozesse (auf) einer Insel. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass die (tropische) Insel nicht nur der Inbegriff touristischer Imagination und Vermarktung ist (sowohl als Fluchtpunkt als auch als Verdammungsort), sondern auch Laborcharakter hat, da hier Prozesse in überschaubaren Kontexten beobachtet und reflektiert werden können (z.B. Carlsen/Butler 2011: xii). Besonders in Bezug auf die Frage der Temporalität knüpft Hasso Spode an Picards Ansatz an. Er widmet sich ebenfalls räumlichen Konfigurationen

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von Kultur und Tourismus. Anhand der Geschichte des Tourismus und der Tourismuskritik zeigt er zunächst auf, wie sich das schon immer gespannte Verhältnis von »Kultur« und Reisen (vor allem den Reisen der Anderen) im postmodernen Diskurs einer globalisierenden Welt etwas lockert: die Faktizität des Massentourismus wurde anerkannt, die stets kritische »Zentralperspektive« ging verloren, und dies erlaubte nun auch Kulturwissenschaftlern, sich dem Phänomen offen zu nähern. Dabei rückte auch die Räumlichkeit nicht nur der Destinationen, sondern auch der Motivationen und Fantasien der Reisenden in den Mittelpunkt des Interesses. Hier zeigt sich, dass der romantische Impuls auch in der Gegenwart ein zentraler Aspekt des Tourismus geblieben ist. In Spodes an Foucault angelehnter Diktion wurden so aus »Heterotopien« früherer Reisen, aus gesuchten Räumen der Andersheit »Chronotopien«, Räume, in denen das Vergangene, das Ursprüngliche noch gefunden werden kann. Diese zivilisationskritische Nachfrage prägt Destinationen, die sich in der Folge homogenisieren, um dem Reisenden hinreichend Vertrautes zu bieten, und gleichzeitig auch in der notwendigen Betonung einer jeweiligen Einzigartigkeit ausdifferenzieren. Doch hat sich die Forschung (anders als die feuilletonistische Kulturkritik) zu stark der Differenzierung gewidmet: die unbehagliche und doch oft lediglich konstatierte Angleichung von Räumen unter touristischem Einfluss ist zu wenig empirisch beforscht, um das Wesen des spätmodernen Touristen und seiner Welt balanciert erfassen zu können. Thomas Schmitt befasst sich mit einer konkreten Form der Auszeichnung von Räumen: dem UNESCO-Weltkulturerbe und dessen Governanzmustern, hier fokussiert im Begriff des »o.u.v.«, des outstanding universal value, der als Grundlage der Entscheidung über die Einschreibung einer Stätte dient. Dieses aufgeladene Konzept findet jedoch keine einfache Anwendung – was sind die Kriterien, um einen universellen Denkmalwert zu bestimmen? Schmitt diskutiert zur Erhellung dieser Problematik nicht die Stätten materiellen Kultur- und Naturerbes als potentielle touristische Destinationen an sich, sondern untersucht die Dynamiken der Sitzungen der UNESCO-Gremien, in denen Akteure mit unterschiedlichen Interessenlagen auf Basis dieser vagen Vorgabe Entscheidungen auszuhandeln haben. Unter den nationalstaatlichen Vertretern, die über von den nationalen Komitees eingereichte Vorschläge beschließen sollen, sowie den Beratungsorganisationen können hier konfligierende intellektuelle Stile ausge-

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macht werden. Schmidt konkretisiert diese Beobachtung anhand von fünf idealtypischen und nebeneinander bestehenden Sichtweisen auf den »o.u.v.«, der letztlich das stärkste Argument für oder gegen einen Nominierungsantrag darstellt, anhand der Frage nach der Vergleichbarkeit von nominierten Stätten und anhand der (unausgewogenen) geographischen Verteilung dieser Stätten. Denkmalwert zeigt sich als grundsätzlich konstruiert, zieht aber seine diskursive Stärke aus einer scheinbaren Evidenz. Schmitts Arbeit macht den prozessualen Charakter dieser Konstruktion nachvollziehbar, wirft Fragen nach der langfristigen Tragfähigkeit des Welterbe-Konzepts an sich auf und zeigt, wie andere Länder den klaren Wettbewerbsvorteilen der überausgestatteten Kulturbürokratien Europas begegnen können. Im Anschluss und komplementär zu Schmitts institutionsorientiertem Ansatz betrachtet Ingrid Thurner mit der Asteriskisierung, der Markierung von Stätten und Tourismuslandschaften mit Sternen in Reiseführern oder Prospekten, eine Art der Auszeichnung von innen. Die hier zugrunde liegende Frage ist, wie etwas überhaupt zu einer Sehenswürdigkeit wird und was getan werden muss, damit es eine solche bleibt. Thurners Analyseansatz stellt eine Variante der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) dar. Diese Methodik, die vorurteilsfrei menschliche wie nichtmenschliche Akteure und deren gegenseitige Beziehung und Beeinflussung abbildet, erlaubt ihr, den materiellen wie immateriellen, statischen wie mobilen Tourismusnetzwerken gerecht zu werden. Zentral im ANT-Vokabular sind »Übersetzungen«, sprich kommunikative Prozesse, durch die überzeugende und handlungsleitende Beziehungen hergestellt werden, welche es erlauben, weitere Akteure in eigene Handlungsprogramme einzubinden; auch »Sehenswürdigkeit« wird so erzeugt. Beispielhaft wird das am Fall Jordanien deutlich, wo der bekannte Lawrence of Arabia und dessen Aktivitäten im Unabhängigkeitskampf zwar heute politisch kritisch gesehen, aber touristisch verklärt intensiv genutzt werden. Andere Akteure können sich gegen derartige Rollenzuweisungen besser wehren und damit ganze Tourismusnetzwerke bedrohen; andere sind wiederum bemüht, solche Rebellionen einzudämmen. Der eingangs genannte Asterisk ist letztlich also einer unter zahlreichen Akteuren, welche Touristen dazu bewegen sollen, sich selbst Netzwerken anzuschließen und eben durch ihre Teilnahme die Stabilität der jeweiligen Netzwerke zu fördern.

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Wie im Hochland von Papua-Neuguinea kulturelle Traditionen kreativ in touristische Kontexte eingebunden werden, zeigt Joachim Görlich. Im Zentrum dieses Beitrages steht ein traditionelles Nasenpiercing-Ritual, mit dem Acht- bis Vierzehnjährige den Statuswechsel vom Jungen zum Mann vollziehen. Görlich spürt den sozio-kulturellen Veränderungsprozessen der touristischen Verwertung dieses Übergangsrituals nach. Er fasst diese Veränderungen als materielle und symbolische Appropriation auf, als kreative Aneignung und Einbindung westlicher Kulturelemente in traditionelle soziale Arrangements, die sowohl über Kontinuitäten als auch über Brüche mit kulturellen Kontexten erfolgt. Das Initiationsritual wurde in doppelter Hinsicht zum Objekt – zum Objekt der In-Wertsetzung und Vermarktung, aber auch zu jenem der Reflexion, die eine positive Neubewertung und Identifikation mit dem kulturellen Erbe erlaubt. Daher – so Görlichs Einschätzung – verändert sich die performative Wirksamkeit des Initiationsrituals zwar im touristischen Kommodifizierungsprozess, verringert diese aber nicht. Die heutige sozio-kosmologische Einbindung des Rituals ist durch Einflüsse von anglikanischer Kirche, Schule und Marktwirtschaft mitbestimmt und im Schnittfeld von Tourismusattraktion, Identitätsmarker, Entwicklungsprojekt und CargoKult-Artigem angesiedelt. Anna Hüncke untersucht die Vermarktung und Organisation des touristischen Erlebens der San Kultur in einem community-basierten Tourismusprojekt in Namibia. Die Kommerzialisierung der San Kultur greift erwartungsgemäß auf die vielstrapazierten Gegensatzpaare Natur/Kultur und Tradition/Moderne zurück und präsentiert, inszeniert, vermarktet traditionelle Kleidung, Behausung, Kenntnisse und Fertigkeiten wie Tanz oder Feuermachen ebenso wie die gegenwärtigen Lebensrealitäten der San. Hüncke zeigt, wie im community-basierten Tourismus Anbieter und lokale San-Akteure (Guides, Tänzer) den Balanceakt der Vermarktung höchst ambivalenter touristischer Bilder versuchen zu meistern: die touristische Erwartungshaltung des San Kulturtourismus erstreckt sich vom kolonialzeitlich geprägten Bild vom Lederschurz-tragenden San, der »unverfälscht« und »authentisch« »im Einklang mit der Natur« lebt – und dabei zwar rückständig, aber auch der romantisierte edle Wilde ist – bis hin zum T-Shirt-tragenden modernen San und oszilliert zwischen diesen Polen. Dem ambivalenten touristischen Verlangen wird in diesem Tourismusprojekt mit einer flexiblen touristischen bubble begegnet, deren Membran

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einige Einblicke in den backstage-Bereich erlaubt. Einiges an dieser Durchlässigkeit ist inszeniert, wodurch das Durchbrechen der tourist bubble selbst Teil der Vermarktung ist – anderes hingegen »passiert«, wenn physisch-emotionale kulturelle Distanz und Nähe in spezifischen Kontaktzonen vermarktet werden. Markus Lindners Beitrag diskutiert die Chancen und Risiken historischer und gegenwärtiger Vermarktung indianischer Kulturen im sogenannten Indianer-Tourismus Nordamerikas. Wurden Indianerkulturen in der USamerikanischen Tourismusgeschichte vorerst nur als Beiwerk zur Landschaft als dem eigentlichen Reiseziel erachtet, so erhielten diese ab dem Ende des 19. Jahrhunderts eigenständigen Besucherwert. Mittlerweile vermarkten die Stämme überwiegend selbst ihre Kultur gemäß dem Grundsatz »sharing and protecting«. Touristen werden sowohl als Einnahmequelle als auch als lästiges Übel gesehen. Der Gedanke des sharing bezieht sich auf die Vermittlung indianischer Kultur, wie sie etwa in Besucherzentren und Museen erfolgt, und richtet sich dabei nicht nur an Touristen sondern auch an die eigenen nächsten Generationen. Indianische Kultur muss aber auch vor den negativen Einflüssen des Tourismus geschützt werden. Lindner resümiert, dass Verhaltensregeln, wie sie etwa in gängigen visitor etiquettes oder einschlägigen Gesetzen formuliert werden, wohl zum Schutz und Erhalt indianischer Kulturen notwendig sind; werden diese aber zu streng ausgelegt, können sie kulturelle Innovation und Entwicklung verhindern und bergen damit die Gefahr der Stereotypisierung und Musealisierung. Lindner zeigt, dass im Spannungsfeld »Tradition versus Innovation« der gesetzliche Schutz, welcher Produzenten und Konsumenten indianischen Kunsthandwerks vor Fälschungen bewahrt und welcher Authentizität hinsichtlich Produzenten, Materialien und Designs festschreibt, der Tatsache gegenübersteht, dass es in diesen Kulturen eine Geschichte der Anpassung der Handwerkskunst an den touristischen Geschmack gibt. Anknüpfend an Lindners Darlegungen könnte allerdings gefragt werden – wenn wir den relativ rezenten Abschnitt einer kunsthandwerklichen Anpassung an touristische Bedürfnisse der historischen Tiefe indianischer Kulturen gegenüberstellen und mit jenen Zeitperioden reflektieren, in denen Motive- und Designs konstant blieben –, ob einer Musealisierung von Kultur und dem Gedanken des Bewahrens UNESCO’scher Prägung nicht doch auch ein positives, zeitliches Moment abgerungen werden kann, näm-

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lich jenes einer Entschleunigung kulturellen Wandels in einer global ver3 netzten, sich rasant verändernden Welt. Die Akteure in Georg Maternas Kapitel haben ebenfalls eine ambivalente Haltung gegenüber Touristen: Die von ihm untersuchten »informellen« Kleinunternehmer im Senegal versuchen auf kreative Weise, mit Reisenden persönliche Beziehungen aufzubauen, und setzen dabei »ihre Kultur« als Argument und Lockstoff ein. Sie haben strukturell wenig Möglichkeiten, Zugang zu dem finanzmächtigen Sektor des »Ethno-« oder »Kulturtourismus« zu finden; als Ressource steht ihnen Kultur jedoch für ihre Teilnahme an einer »Zugehörigkeitsindustrie« zur Verfügung. Die allgegenwärtige Präsenz dieser prekären Akteure wird von offizieller Seite aufgrund ihres eher schlechten Rufs als problematisch und dem Tourismus abträglich eingestuft: So sollen sie und ihre Geschäfte von der Straße vertrieben werden, während Hotelboutiquen letztlich die gleichen Waren feilbieten. Anders als einige ethnische Gruppen in Westafrika entsprechen die Kleinunternehmer keinem positiv besetzten westlichen Klischee und müssen sich daher stets »durchschlagen«. Wie diese Unsicherheit den Alltag der Kleinunternehmer prägt, wird anhand dreier Individuen und derer Biographien plastisch beschrieben, wobei zugleich die verschiedenen Parameter dieser Lebensweise angesprochen werden. Alle tragen hier Masken, zeigt Materna, traditionelle zum Verkauf und metaphorische bzw. performative im Wettbewerb um Touristen und Sponsoren. Das Kapitel problematisiert somit die Legitimität von Steuerungsversuchen im Tourismus und weist zugleich auf die Mehrbödigkeit der Kommerzialisierung von Kultur im Senegal hin. Anja Peleikis und Jackie Feldman untersuchen, wie sich die Problematik der Veräußerung von Kultur und kulturellem Erbe für die Museumsshops zweier Einrichtungen darstellt, in denen jüdische Identität präsentiert und repräsentiert wird: das Jüdische Museum Berlin (JMB) und das neue Yad Vashem Museum (NYV) in Jerusalem. Die Museen werden hier zunächst als Kontaktzonen dargestellt, in denen Kuratoren, Personal und Besucher sich begegnen und beeinflussen und die »Bedeutungen« der Ausstellungen aushandeln. Zugleich endet jedoch das Museum nicht an der letzten Vitrine: Die Autoren zeichnen nicht nur die komplexen didaktischen Konzepte der beiden Museen nach, die trotz aller Ähnlichkeiten in der

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Wir danken Andre Gingrich für diese Sichtweise.

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Materie völlig unterschiedliche Botschaften vermitteln, sondern führen ihre Beobachtungen beim Besuch der Museumsshops (und anderer Unterhaltungsangebote) fort: Wie gestaltet man ein attraktives kommerzielles Angebot angesichts der intensiven Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte in der Hauptausstellung? »Shopping the Message« ist die Antwort – die Verantwortlichen erweisen sich in beiden Fällen als reflektiert und bedacht, und die Angebote sind zur Vermeidung von kognitiver Dissonanz oder gar Empörung gezielt auf die Museumsdidaktik abgestimmt. Kulturerbe zeigt sich hier von einer recht komplexen Seite, da die Fallhöhe in der Aushandlung zwischen Angebot und Nachfrage von Souvenirs an einem jüdischen Museum hoch ist. Die Studie komplementiert somit die vorhergehenden Kapitel, indem sie zumindest eine fallspezifische Antwort auf die Frage bieten kann, wie (beim Beispiel des JMB) Kultur und Kommerz versöhnt werden können, und wie (in Yad Vashem) eine Möglichkeit gefunden wurde, trotz der gezielten Evokation schlimmster Gräuel und großer Trauer Menschen einen Weg zu vermitteln, diese frischen Empfindungen letztlich auch mit Konsum und Kommerz zu verbinden. Dieses abschließende Kapitel betont einmal mehr die eingangs eingeführte Ambivalenz der Diskurse und Interaktionsformen, die wir im Zeitalter des Massentourismus finden. Begriffliche und normative Dichotomien halten dem Kontakt mit der Empirie nicht stand, da die beteiligten Akteure selber zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Drohung und Verheißung agieren. Abschließend bleibt uns anzumerken, dass der Herausgeberin und den Herausgebern sowie den Autorinnen und Autoren dieses Bandes durchaus bewusst ist, dass eine geschlechtersensible Schreibweise mittlerweile zum formalen Standard wissenschaftlichen Arbeitens zählt. Da die konsequente Sichtbarmachung beider Geschlechter jedoch mit den Verlagsvorgaben schwer zu vereinen war, finden sich mit diesem Band nur die althergebrachten männlichen Formulierungen einhergehend mit der hiermit vollführten Apologie (anstelle der üblichen Fußnotenanmerkung), dass Frauen, Wissenschaftlerinnen, Touristinnen, Einwohnerinnen, Konsumentinnen und Leserinnen selbstverständlich mitgemeint sind.

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B IBLIOGRAPHIE Augé, Marc (1992): Non-Lieux. Introduction à une Anthropologie de la Surmodernité, Paris: Éditions du Seuil. Bendix, Regina F./Eggert, Aditya/Peselmann, Arnika (Hg.) (2012): Heritage Regimes and the State. Göttingen Studies in Cultural Property 6, Göttingen: Universitätsverlag. Online verfügbar unter http://webdoc.sub .gwdg.de/univerlag/2012/GSCP6_Bendix.pdf. Carlsen, Jack/Butler, Richard (2011): »Preface«, in: Dies., Island Tourism. Sustainable Perspectives, Wallingford, Cambridge: CABI, S. xii. Geertz, Clifford 2003 [1983]: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gingrich, Andre/Knoll, Eva-Maria/Kreff, Fernand (2011): »Einleitung«, in: Fernand Kreff/Eva-Maria Knoll/Andre Gingrich (Hg.), Lexikon der Globalisierung, Bielefeld: transcript Verlag, S. 15-20. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (1995): »Theorizing Heritage«, in: Ethnomusicology 39: 367-380. Lew, Alan (2007): Defining Place Authenticity: My Heritage Can Beat Up Your History, http://de.slideshare.net/alew/defining-place-authenticitymy-heritage-can-beat-up-your-history (abgefragt am 05.12.2012). Turner, Louis/Ash, John (1975): The Golden Hordes. International Tourism and the Pleasure Periphery, London: Constable.

Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus Eine programmatische Einführung 1 B URKHARD S CHNEPEL

Im gegenwärtigen Zeitalter des Massentourismus ist Kulturerbe für viele Menschen von großer ideeller und materieller Bedeutung. Lokale und globale Faktoren greifen dabei auf vielen, keinesfalls nur dichotomisch agierenden Ebenen spannungsgeladen ineinander. Wie aber wird etwas von den Gastgebern und den Tourismusbetreibern als Kulturerbe ausgewählt und entsprechend markiert? Wie wird Kulturerbe vor Touristen ausgestellt, dargestellt und aufgeführt? Welche Auswirkungen haben Kommodifizierung und Kommerzialisierung, wenn das dargebotene Gut die Kultur und Geschichte bestimmter Gruppen repräsentiert und wenn die Konsumenten Touristen aus aller Welt sind? Mit Bezug auf diese und verwandte Fragen haben nicht nur die Phänomene »Tourismus« und »Kulturerbe« jeweils für sich genommen bereits einige Aufmerksamkeit aus den Kultur- und Sozialwissenschaften erfahren. Auch die Verknüpfung von Kulturerbe und Tourismus hat selbstverständ-

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In dem vorliegenden Beitrag sind die zahlreichen Ideen und Anregungen eingeflossen, die Mitglieder der Hallenser Initiativgruppe zur Problematik »Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus« während ihrer jederzeit erhellenden und anregenden Treffen gemacht haben. Mein besonderer Dank gilt hier Felix Girke.

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lich bereits wissenschaftliche Beachtung gefunden. 2 Grob gesagt gibt es dabei in der Literatur zwei (auf den ersten Blick) recht widersprüchliche Einschätzungen der Sachlage. Auf der einen Seite herrscht nämlich die Vorstellung, Tourismus zerstöre traditionelle Lebensformen sowie lang währende sozio-kulturelle Strukturen und Institutionen. Gastfreundschaft und Solidargemeinschaft würden durch Profitgier und individuelles Gewinnstreben ersetzt, altehrwürdige Sitten und Moralvorstellungen durch modernen Habitus und westliche Ethik erodiert. In der Tat erweist sich beim näheren Hinsehen, dass in vorindustriellen Wirtschaftsformen der Tourismus häufig eine Auflösung traditioneller Berufsmuster bewirkt. So verliert im Zeitalter des Massentourismus (zumindest in manchen Gegenden) die Landwirtschaft an Bedeutung, während neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich und Bausektor geschaffen werden. Oft entsteht eine neue Schicht von indigenen Kleinunternehmern, die Restaurants, Läden, kleinere Hotels oder »fliegenden Handel« betreiben. Aber auch eine größere Gruppe von lohnabhängig Beschäftigten tritt auf, wobei Arbeitgeber und Arbeitskräfte aus anderen Gegenden in das traditionelle Sozial- und Wirtschaftsgefüge hinzukommen und dieses zuweilen in seinen Grundfesten erschüttern. Die neuen Formen der Arbeitsteilung wirken zurück auf das Verhältnis der Geschlechter und Generationen zueinander. Männer und Alte sind nicht länger automatisch an der Spitze der Sozialhierarchie, die sich jetzt eher an Einkommens- und Konsummöglichkeiten orientiert. Zwischenmenschliche Kontakte und solidarisches Verhalten werden in diesem Prozess kommerzialisiert; traditionelle Handwerksprodukte, etablierte Traditionen und sogar geheiligte Rituale verwandeln sich in Waren, die auf dem touristischen Markt feilgeboten werden. Dieser ersten Position zufolge verliert Kultur ihre Authentizität. »The meaning is gone«, wie Greenwood (1989: 135) diesen Standpunkt in aller Drastik formuliert.3 Dieses Bild wird in der zweiten Position abgeschwächt, wenn nicht gar widerlegt. Mit Bezug auf die Auflösung örtlicher Strukturen und Hierar-

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Siehe u.a. Boniface und Fowler (1993), Bruner (2005), Garrod und Fyall (2000), Harrison und Hitchcock (2005), Hemme, Tauschek und Bendix (2007), Herbert (1995), Kirshenblatt-Gimblett (1998), Luger und Wöhler (2008), Moscardo (1996), Poria und Ashworth (2009), Prentice (1993), Robinson (2000).

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Vgl. stellvertretend für diese Position auch Boorstin (1964) sowie Turner und Ash (1975).

K ULTURERBE IM Z EITALTER DES MASSENTOURISMUS

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chien wird in dieser Position festgestellt, dass durch den Tourismus in vielen Gegenden der Welt die Landflucht aufgehalten oder sogar umgekehrt wurde. Vielerorts habe der Tourismus zudem dazu beigetragen, dass örtliches Kunsthandwerk neuen Elan und neue Absatzmärkte findet und dass kulturelle Performanzen unterschiedlichster Art erhalten, wiederbelebt oder gar erst neu kreiert werden. Und nicht zuletzt würden alte Gebäude, Plätze, Parks, Altstädte, Märkte, Monumente, zoologische Gärten ebenso wie Kulturlandschaften im Zeitalter des Massentourismus eine Renaissance erleben. Durch das touristische Interesse an Kulturerbe entstehe oft auch ein neues lokales, regionales, ethnisches, religiöses oder nationales Selbstbewusstsein. Das Interesse von Fremden an der einheimischen Kultur verstärke zudem den Stolz auf die eigene Tradition. Diese sei zuweilen nicht nur vergessen, sondern innerhalb der eigenen Lebenswelten, die ja oft genug selbst heterogen sind, zuweilen sogar verpönt, missachtet oder gar unterdrückt gewesen.4 So finde unter den Bedingungen des Massentourismus oft auch eine positive Neubewertung der eigenen Kultur, Geschichte und Landschaft statt.5 Beide Standpunkte führen gewichtige Argumente ins Feld. Aber um der einen oder anderen Seite Recht verschaffen zu wollen, dafür sind die weltweit vorzufindenden Sachlagen zu vielfältig und komplex; die historischen Veränderungen, denen sie ausgesetzt sind, zu dynamisch und widersprüchlich. Will man das Problemfeld »Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus« weiter aufhellen und die vorhandenen Theorien, Analysen und Einschätzungen verfeinern und gegebenenfalls ändern oder gar verwerfen, sind vor allem weitere empirische Untersuchungen vonnöten, zumal gegenwärtig in diesem Bereich rasante Entwicklungen und Veränderungen stattfinden, die es äußerst dringend erscheinen lassen, sie im Moment der Bewegung bzw. Emergenz zu dokumentieren und analysieren. Wie verändern sich also kulturelles Erbe, Tradition, ethnische Identität, lokales Selbstbewusstsein, regionale Gedächtnisgeschichte, indigene Handwerks- und Kunsthandwerksprodukte, Feste sowie materielle Plätze, Gebäude und Monumente konkret unter den Bedingungen des Massentourismus in Form, Bedeutungsinhalt und Praxis? Stehen am Ende eines Kontak-

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Wie dies etwa beim mauritischen Sega-Tanz der Fall war. Siehe Schnepel und Schnepel (2006, 2011).

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Zu diesen Punkten siehe vor allem Hennig (1997: 9-27).

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tes zwischen Einheimischen und Touristen nur noch für den Konsum durch Fremde gedachte Objekte, wie etwa die vielgeschmähten Flughafensouvenirs? Finden wir als Ergebnis des Massentourismus lediglich bedeutungsleere Performanzen vor, die ausschließlich für Touristen und deren global homogenisierten Geschmack produziert werden? Oder stehen stattdessen Objekte, kulturelle Praktiken und Narrative, die zwar für den touristischen Markt hergestellt und aufgeführt werden, die aber trotzdem – oder gerade deswegen – für die indigenen Akteure nicht nur eine gut zu vermarktende Ressource darstellen, sondern auch genuin Bedeutung besitzen? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob es Manifestationen von Kulturerbe gibt, deren Entstehung allein und unmittelbar auf touristische Interessen und Kaufkraft zurückzuführen sind. Wie auch immer die Detailerhebungen und Analysen am Ende aussehen, bei der Verfolgung dieser Fragen wird unmittelbar deutlich: Wo Einheimische und Touristen aufeinandertreffen, verändern Traditionen, kulturelles Gedächtnis, Kulturerbe, soziale Identität, Ethnizität und gar Nationalität ihre Ausdrucksformen und Bedeutungsinhalte. Mit Barbara Kirshenblatt-Gimblett ausgedrückt: »Despite a discourse of conservation, preservation, restoration, reclamation, recovery, recuperation, revitalization, and regeneration, heritage produces something new in the present that has recourse to the past.« (1995: 369-370) Und dieses »Neue in der Gegenwart, das sich auf Vergangenes bezieht«, gilt es im vorliegenden Band, in seinen diversen Eigenarten und Manifestationen sowie in seinen Interdependenzen mit dem Phänomen des Tourismus zu untersuchen.

P ERSPEKTIVEN UND HERANGEHENSWEISEN Unter das Phänomen »Kulturerbe« lassen sich eine Vielfalt materieller Phänomene subsumieren wie Kunst und Handwerk, Monumente und Gedenkstätten, aber auch immaterielles Erbe wie Feste, Tänze, Rituale, Sprachen und Dialekte, indigenes Wissen und nicht zuletzt Ethnizität selbst;6 darüber hinaus kulturell oder historisch gesehen bedeutsame Natur wie Nationalparks, Berge und Flüsse; zuletzt alltägliche Aspekte der materiel-

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Zu Ethnizität vgl. die bahnbrechende Studie von Comaroff und Comaroff (2009).

K ULTURERBE IM Z EITALTER DES MASSENTOURISMUS

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len Kultur und des Habitus, etwa (für den westlichen Touristen) außergewöhnliche Wohnstätten, traditionelle Arbeitsmuster, spezifische häusliche oder familiäre Arrangements, bestimmte Speisen und Getränke, Stile der Kleidung, alte Technologien sowie andere auffällige Gewohnheiten oder Lebensweisen. All diese Dinge oder Phänomene können als Kulturerbe gelten, sobald sie als für eine Gruppe charakteristisch und distinktiv angesehen werden, sobald sie also Differenz und Distinktion schaffen und die Akteure selbst sie als einen wichtigen Bestandteil oder Ausdruck ihrer je spezifischen Identität angeben. Dabei kann zunächst offen bleiben, nach welchen Kriterien die Akteure selbst ihre Identität beurteilen und die mit ihnen einhergehenden Prozesse der Identifikation und Identitätskonstruktion gestalten. Diese Identitäten können lokal, regional, national, auf eine Klasse, Kaste oder Schicht bezogen sein; sie können auf ein Dorf, eine Stadt, eine Insel, ein Tal oder eine Nation ausgerichtet sowie ethnisch, religiös, wirtschaftlich oder anderweitig begründet sein.7 Kulturerbe lässt sich nicht als eine a priori objektiv feststehende Eigenschaft verstehen; vielmehr wird etwas zu Kulturerbe in den immer wieder neu auszuhandelnden, situationsbedingten Bewertungen und Interaktionen einer Vielzahl, oft auch heterogener Akteure. Wie und wodurch wird etwas (im Zeitalter des Massentourismus) zum Kulturerbe? Wie kann es diesen Status behalten, ausbauen und eventuell auch wieder verlieren? Solch eine Fokussierung auf emergentes Kulturerbe schließt auch die Möglichkeit ein, dass Kultur sich unter Umständen als widerstandsfähig entpuppen kann und sich derartigen Innovationen sowie der Kommodifizierung für Touristen verschließt. Und noch einmal: Kulturerbe ist etwas Neues, das aber interessanterweise Bezug nimmt auf etwas Altes. Damit wird Kulturerbe sowohl für gegenwartsorientierte als auch für historisch arbeitende Kultur- und Sozialwissenschaftler gleichermaßen relevant und interessant. Geschichte – zunächst in Form historischer Entwicklungen und diachronischer Veränderungen – stellt einen wichtigen Bezugspunkt und Forschungsinhalt dar. Nur so können die Pfadeinflüsse, welche Kontemporäres erst zu dem gemacht

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Um welche dieser Formen und Reichweiten von Identität bzw. Kulturerbe es sich handelt, ist äußerst relevant, zumal verschiedene Identitäten und die von ihnen mit einem Erbe verknüpften Narrative und Handlungen miteinander konkurrieren und sogar streiten können (etwa lokal vs. global, religiös vs. national).

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haben, was es heute ist, in ihrer Bedeutung erkannt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Quellen, die Historiker benutzen, ja selbst in den meisten Fällen erst Ergebnisse und Ausdruck von konfliktreichen Aushandlungen sind. Kämpfe um Deutungshoheit bilden sich in den Zeugnissen der Geschichte gewissermaßen ab und leben in ihnen fort. Die historischen Quellen lassen sich somit nicht nur auf ihren historischen Wahrheitsgehalt hin untersuchen, sondern auch hinsichtlich der in ihnen gespiegelten Aushandlungen und Machtkämpfe sowie auf ihre Funktionen in heute aktuellen Debatten und Konflikten. 8 Hier geht die historiographische Dimension fließend von einer Faktengeschichte in eine Gedächtnisgeschichte über. 9 Historische Zeugnisse und die Geschichte, für die sie stehen, besitzen für die beteiligten Akteure selbst einen Sitz im gegenwärtigen Leben. Letztlich ist es gewissermaßen Geschichte selbst, die zu Kulturerbe gemacht wird oder gemacht werden soll und die sich dann zum Gegenstand und zur Ware touristischen Begehrens und Konsums entwickelt. Dabei werden Zeugen und Repräsentanten von Geschichte nicht nur zu Kulturerbe, sondern auch zu selbständig wirkenden »Agenten« (und »Patienten«) im Ringen um Identität, kulturelle Hegemonie, Deutungshoheit und nicht zuletzt Profit. Geschichte ist also auf komplexe Weise nicht nur das, was es aufzudecken gilt, sondern auch das, was direkt Gegenstand, Mitspieler und letztlich Ware im gegenwartsbezogenen Problemfeld »Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus« darstellt. Die Besonderheit der in diesem Band vorliegenden Studien liegt nun darin, dass in ihnen eine spezifische Gruppe von Akteuren in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, nämlich Akteure aus dem Feld des Tourismus. Nicht nur die lokalen Akteure, die ihre Kultur zu Markte tragen, sondern auch die konkret vor Ort auftretenden touristischen Institutionen und die Touristen (mit ihren eigenen Imaginationen und Wunschvorstellungen) wirken auf die Kulturerbe-Problematik und auf die damit zusammenhängenden sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und vor allem identitären Interaktionen und Aushandlungsprozesse ein. Kulturerbe, Identifikation, Tradition und Erinnerungsort werden mit besonderem Bezug auf das untersucht, was in den Interaktionen zwischen einheimischen Akteuren einer-

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Zu einer in dieser Richtung kritischen Geschichtsschreibung siehe u.a. Chartier (1992), Conrad und Kessel (1994), Veeser (1989) und White (1990).

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Vgl. hierzu besonders die Debatten um J. Assmann (1998 und 2003).

K ULTURERBE IM Z EITALTER DES MASSENTOURISMUS

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seits und den im touristischen Feld angesiedelten Akteuren andererseits passiert. Auch letztere sind selbstverständlich durch unterschiedliche Interessenslagen oder Wertevorstellungen geprägt. Man hat es in diesem sozialen Feld sowohl mit Hoteliers als auch mit den oft schlecht bezahlten Bediensteten zu tun. Unter den Gastgebern finden wir sowohl international agierende Agenturen als auch lokale Geschäftsleute, unter den Gästen sowohl »Studiosus-Reisende« als auch »Backpacker« und die vielgeschmähten »Neckermänner«. Ähnlich wie schon beim Phänomen »Kulturerbe« macht hier eine A-Priori-Definition von »Tourismus« keinen Sinn; auch eine Zuspitzung und Einengung der Untersuchungen auf nur eine Form oder zwei Spielarten von Tourismus wäre in der hier zugrunde gelegten Problemstellung verfehlt. An jedem gegebenen Ort oder mit Bezug auf ein bestimmtes materielles oder immaterielles Kulturerbe wird man in der Regel eine Vielzahl von Formen des touristischen Reisens und der touristischen Erfahrungswelt entdecken. Wollte man sich beispielsweise bei einer Untersuchung einer internationalen Sehenswürdigkeit nur auf ausländische, nicht aber auf einheimische Touristen konzentrieren oder nur auf Gruppenreisende und nicht auf Rucksacktouristen, so würde man dem Gesamtphänomen selten gerecht werden. In diesem Sinne verweist auch das Konzept »Zeitalter des Massentourismus« lediglich darauf, dass Tourismus heute weltweit ein quantitativ bedeutendes Phänomen darstellt, nicht aber soll vorneweg eine Unterscheidung zwischen Pauschal- und Individualreisenden getroffen werden. Es geht hier also weniger um die Spielart »Kulturtourismus« (wenngleich es auch um sie geht), als genereller und weiter gefasst um die Auswirkungen verschiedener, oft ohnehin miteinander kombinierter Formen des Tourismus auf Kultur.10

10 Die Liste möglicher Formen und Sparten des Tourismus ist lang: z.B. Ökotourismus, dark tourism, Erholungsurlaub, Bildungsreise, Sextourismus, Ethnotourismus, Wellness-Urlaub, low-impact tourism, Städte-Reisen, Medizintourismus oder Wanderurlaub.

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K OMMODIFIZIEREN

UND

K ONSUMIEREN

Tourismus stellt eine der wichtigsten Arenen dar, in denen heute Konsum und damit das Herstellen und Aushandeln von »feinen Unterschieden« stattfinden, sprich Statusdistinktionen im Sinne Bourdieus (1987). Nicht zu verreisen ist genau so gravierend wie kein Auto oder kein Mobiltelefon zu haben. Dabei haben sowohl der moderne Konsumrausch als auch das Bedürfnis zu reisen ihren gemeinsamen Ursprung in der Romantik oder besser im fortgesetzten Wirken des Romantischen mit seinen letztlich unerfüllbaren Sehnsüchten nach dem Fernen und Fremden.11 Die »Kultur der Anderen« ist ein wesentliches Objekt der Begierde für den touristischen Konsum, wobei die Anderen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Ferne (oder in einer Kombination beider) befindlich sein können. Wem aber gehört Kultur bzw. Kulturerbe? Hier gilt es zunächst die Kriterien zu erfassen, die eine Gruppe zum Eigentümer von Kulturerbe machen und die sich voneinander abgrenzen, aber sich auch miteinander verbünden: Ethnizität, Region, Nation, Dorf, Stadt, Religion, Sprache, Sport, Geschichte, u.a.m. können einzeln oder im je spezifischen Verbund als Basis dienen, auf der Menschen Ansprüche auf kulturelles Eigentum erheben. Wenn man nach den Auswirkungen fragt, welche die vor Ort aufzufindenden Aneignungsprozesse auf die betreffenden, sich in diesem »Eigentümer«-Sinne neu aufstellenden Gruppen haben, so sieht man nicht selten, dass in externen Belangen, d.h. mit Blick auf die Repräsentation der AG, Holding, GmbH usw. nicht nur eine Ökonomisierung der betreffenden (vormals vielleicht eher rein sentimental oder aus Gewohnheit zusammengehaltenen) Korporationen stattfindet, sondern auch ihre Homogenisierung und Abstrahierung. Nach außen tritt man als Einheit auf und präsentiert sich als eine identifizierbare Marke. Dieses »Branding« für die Außendarstellung verbirgt aber oft, dass die besagten Prozesse keineswegs immer auch in der Nivellierung interner Differenzen bzw. Status- und Machtunterschiede resultieren. Oft führt die Vermarktung von Kultur intern gesehen für die betreffenden Gemeinden nachweislich zu einer Festigung und Steigerung schon zuvor bestehender, oder aber in der Etablierung neuer Ein-

11 Vgl. Safranski (2007). Über den Zusammenhang von Tourismus und Romantik siehe Franklin (2003: 180-188).

K ULTURERBE IM Z EITALTER DES MASSENTOURISMUS

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kommens-, Macht- und Statusgefälle.12 In diesem Kontext kommen auch unweigerlich Fragen nach den im Zeitalter des globalen hochtechnologischen Datentransfers immer komplexer werdenden Patentrechten, geistigen Eigentumsrechten, Urheberrechten und »Copyrights« in den Fokus der Betrachtung.13 Wie unterscheidet sich die Ware Kulturerbe von anderen Waren des globalen kapitalistischen Marktes? In der Tourismusindustrie besteht eine wesentliche Eigenart der Waren sicherlich darin, dass sie nicht, wie es ansonsten der Fall ist, zu den Konsumenten gebracht werden, sondern diese begeben sich ihrerseits auf den Weg zu den Waren. Der Ort, an dem sich dieses Gut befindet, muss zum Reiseziel, zur »Destination« werden, soll sich die Ware erfolgreich vermarkten lassen. Dieser Umstand eröffnet nicht nur eine große Einnahmequelle für die diversen Beförderer, sondern führt auch zu weiteren Eigenarten der touristischen Ware. Die in ihrem indigenen Umfeld dargebotenen kulturellen Waren werden nicht gänzlich veräußert. Letztlich verbleiben sie am Stammsitz und damit im intimen Bereich und in der Lebenswelt ihrer Eigentümer. Kultur als Ware mangelt es zunächst noch an Unmittelbarkeit. Sie muss sich irgendwie verdinglichen oder materialisieren, muss in eine verkäufliche Form gebracht werden, etwa als Performanz oder Themenpark, Museum oder Speise, Postkarte oder Souvenir, also als etwas, das besucht, fotografiert, begangen, gegessen, bestaunt, genossen, angefasst, geliebt, bezahlt und weggetragen werden kann. Und das, was für diese Möglichkeit der Veräußerung gerahmt, hergestellt und benannt wird,14 ist immer eine konkrete Abstraktion oder ein diakritisches Zeichen der Kultur als Ganzes.15 In anderen Worten: Kultur wird nie in ihrer Gänze verkauft, sondern immer nur in Form eines materiellen, ideellen oder performativen Repräsentanten, der symbolisch für dieses Ganze steht und der oft durch Werbung in Reisebroschüren, etc. auf diese Fähigkeit hin getrimmt und zugeschnitten wurde. Das Spezifikum der auf dem touristischen Markt feilgebotenen Waren besteht somit darin, dass die Konsumenten zu den Produzenten kommen

12 Vgl. hierzu besonders Comaroff und Comaroff (2009). 13 Hierzu vgl. Brown (1998) und Strathern (2001). 14 Siehe MacCannell (1999: Kapitel 6), Rojek (1997) und Urry (2002: Kapitel 1). 15 Hierzu vgl. auch Comaroff und Comaroff (2009: 24) sowie MacDonald (1997: 155-156).

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und mit dem Kauf von touristischen Waren einen scheinbar persönlichen, letztlich unveräußerlichen Teil der Geber selbst erwerben. In den Sinn kommt hier einmal wieder das gute alte polynesisch-Mauss’sche hau.16 Dieser Geist (dieses Gift?) in der Gabe stellt die Interpretation von Waren (Gaben?), die auf dem touristischen Markt angeboten werden, vor spezielle Herausforderungen, welche nicht nur auf wirtschaftliche, sondern vor allem auch auf sozio-kulturelle und politische Dimensionen verweisen. Bei touristischen Markttransaktionen kommt wohl weniger das aus Marxens Kapital bekannte strenge und dialektische Zusammenspiel von Gebrauchswert und Tauschwert zum Zuge als der dort ebenfalls identifizierte Fetischcharakter der Ware.17 Was aber passiert mit den Waren, sprich Kulturgütern selbst? Verlieren sie nicht ihre Ursprünglichkeit und Authentizität, wenn sie zum Kauf angeboten werden? Und geht ihnen am Ende auf dem Marktplatz nicht genau diejenige »Aura« verloren, aufgrund derer sie gerade für touristische Käufer so attraktiv wurden? Bei der Beantwortung dieser Frage erscheint es in nicht wenigen Fällen so, dass im Unterschied zu pessimistischen Vorstellungen über Kunstwerke und Kulturgüter im Zeitalter ihrer »technischen Reproduzierbarkeit« Kulturgüter auf dem »Marktplatz Tourismus« nicht, zumindest nicht automatisch ihrer Aura verlustig gehen. Es lässt sich nicht selten sogar eine verstärkte Auratisierung erkennen, die wohl in dem Umstand begründet liegt, dass die Produzenten sich durch die Veräußerung ihrer Kultur ökonomisch, politisch aber auch emotional stärken und in diesem Prozess neue Energie und Identitäts-Aura aufladen können.18

16 Siehe Mauss (1968: 27-49) sowie Godelier (1999) und Kohl (2003). Der Begriff stand weiterhin Pate bei dem 2011 neu erschienenen online-Journal »HAU. Journal of Ethnographic Theory«. 17 Siehe Marx (1975: 85-98); vgl. auch Appadurai (1986), sowie Phillips und Steiner (1999). Hier bieten auch die Ausführungen von Weiner (1992) zu »inalienable possessions« einen Einstieg für die Analyse von Kulturerbe als touristisch konsumierter Ware. 18 Hierzu vgl. auch Comaroff und Comaroff (2009: besonders 20-27).

K ULTURERBE

A UTHENTIFIZIEREN

UND

IM

ZEITALTER

DES

M ASSENTOURISMUS

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N OSTRIFIZIEREN

Eng verknüpft mit der bisher ausgeführten Problematik ist die Frage nach Authentizität. So ist ein Kriterium der UNESCO, das entscheidend dafür ist, ob etwas als Welterbe anerkannt und in die offizielle Liste aufgenommen wird, der »test of authenticity« (von Droste 1995: 22).19 In diesem Sinne hat die Betonung der UNESCO von Beginn des Programms im Jahr 1975 an lange Zeit eher auf einer verdinglichten »museum definition of authenticity« (Meethan 2001: 102) gelegen,20 während Formen des »intangible heritage« wie Musik, Sprachen, aber auch »lebende Kulturen« erst seit zirka zwei Jahrzehnten als schützenswert betrachtet werden. Diese erste Erscheinungsform von Authentizität, in der die gesicherte Herkunft und (relative) Einzigartigkeit eines materiellen Objekts oder Kulturguts im Vordergrund steht, nennt Wang (1999: 353) »objective authenticity«.21 Nicht nur mit Bezug auf Kulturerbe, sondern auch im Bereich des Tourismus und der Tourismus-Forschung hält die Problematik der Authentizität seit jeher einen zentralen Stellenwert inne. So sieht MacCannell (1976) die Hauptantriebsfeder touristischen Reisens in einer Suche des Touristen nach Authentizität. Diesem Autor zufolge begeben sich Menschen moderner Gesellschaften auf die Reise, um die ihnen verloren gegangene Authentizität zu suchen. Diese vermeinen sie dann nicht bei sich selbst, sondern in der Fremde und im Anderen zu finden. Dort erscheinen für den Touristen die Lebensumstände und Lebensweisen noch in einem ursprünglichen Zustand, der nicht durch Umweltzerstörung, Ausbeutung, kapitalistische Warenwelt, kommerzielles Denken, industrielle Produktionsweisen und allgegenwärtige Technologie zerstört oder verunreinigt wurde. Um diese Vorstellung vom »authentischen Primitiven« nicht ins Wanken geraten zu lassen, werden im touristischen Ambiente negative und nicht ins Bild passende Elemente der anderen Kultur ausgeblendet oder unterdrückt. Wiederum mit Wang (1999: 353) ließe sich diese Form der Authentizität als »existential authenticity« bezeichnen.

19 Vgl. UNESCO (2009a). 20 Hierzu vergleiche auch Cohen (1988: 374-377) sowie Cole (2007 und (Olsen (2002). 21 Vgl. auch UNESCO (2009b, 2009c).

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Authentizität kann in einer akteurszentrierten, auf Aushandlungen, soziale Konstruktionen und Emergenz bedachten Betrachtungsweise nicht nach extern-objektiven Kriterien, welche die komplexen Sachlagen essentialisieren und universalisieren, festgelegt werden. Die in Authentizitätsdebatten mitschwingenden Dichotomien zwischen authentisch und nicht authentisch, wahr und falsch, Original und Kopie, frontstage und backstage, traditionell und modern, identisch mit sich selbst und entfremdet, u.a.m. führen meist in die Irre. Stattdessen geht es bei der Beschäftigung mit dem Problem der Authentizität – als einem Phänomen der Moderne – um die soziale Konstruktion und Zuschreibung von Authentizität sowie um die Aushandlungen und Machtkämpfe, die dazu führen, dass etwas als authentisch oder eben als nicht authentisch angesehen wird. Wang (ebd.) identifiziert diese Form der Authentizität, bei der es auch und vor allem um die politische Frage der Deutungshoheit geht, als »constructive authenticity«. Auch Cohens (1988: 379-380) Konzept der »emergenten Authentizität« ist hier sehr treffend. Die involvierten Akteure selbst schreiben allerdings den beiden zuerst erwähnten Formen von Authentizität, also der objektiven und der existentiellen, große Bedeutung zu. Diese Aussage trifft sowohl auf Touristen als auch auf die um distinkte Identität ringenden internen Akteure zu. Zugegebenermaßen sind nicht alle Reisenden auf der Suche nach existentieller Authentizität, aber einige sind dies eben mit mehr oder weniger strengen Maßstäben doch.22 Auch nicht alle Einheimischen suchen notwendigerweise und immer nach Authentizität; es kann aber für sie zuweilen durchaus bedeutend werden, dass sie ihre Objekte, Künste, Monumente, etc. als authentisch im objektiven Sinne betrachten. Dann kann der Glaube an und der Anspruch auf solch eine »real existierende« Authentizität auch »existentiell« im oben genannten Sinne werden. Diese erhöhte Bedeutung, die Kulturgüter im Rahmen touristischer Rezeption und Konsumption erfahren, kann auch dazu führen, dass ehemals nur für den touristischen Markt hergestellte Güter oder nur vor Touristen aufgeführte Performanzen nostrifiziert werden, d.h. sie reifen für die Akteure zu einem von ihnen als authentisch angesehenen Bestandteil ihrer Kultur heran. Ursprünglich für Touristen hergestellte Souvenirs werden zu als

22 Vgl. Cohens (1979) Skala von fünf Touristen-Typen, die mit unterschiedlichen strengen Authentizitäts-Maßstäben operieren.

K ULTURERBE IM Z EITALTER DES MASSENTOURISMUS

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ureigen angesehenen Spezies traditionellen Kunsthandwerks;23 Aufführungen vor Touristen, die als kreative Neuerungen in der Kontaktzone von Touristen und Einheimischen entstanden sind, wie etwa der auf Bali für Touristen kreierte »Frosch-Tanz«, werden nach und nach zu einem allseits akzeptierten Ausdruck genuinen lokalen Brauchs, ja sogar indigener Religion.24 Selbst Stadtteile können ihr Aussehen und ihren Charakter unter dem Eindruck touristischer Erwartungshaltungen ändern, wie dies bei den als »Auto-Orientalisierung« zu bezeichnenden Gentrifizierungen in diversen Medinas des Orients zu beobachten ist.25 Mit einer sozialkonstruktivistischen Sicht auf emergente Authentizität lassen sich die beiden anderen Formen von Authentizität, also die »objektive« und »existentielle« im Sinne Wangs, also keineswegs ignorieren oder gar als falsch abtun. Vielmehr rücken sie auf einer anderen Ebene wieder in den Fokus der Analyse. Gerade die Tatsache, dass die diversen Akteure in ihren Aushandlungen darum ringen, etwas in diesen beiden ersten Sinnen erst authentisch zu machen, verleiht den zu untersuchenden Prozessen und Zuständen ihre große Relevanz für die Kultur- und Sozialwissenschaften. Als Endergebnis der Authentifizierungsbestrebungen soll – für die Akteure – in vielen Fällen zertifiziert wahre und nicht nur kopierte oder inszenierte Authentizität stehen.26 Somit tritt Authentizität hauptsächlich als ein nostalgisches Begehren und identitätspolitisches Streben unterschiedlicher, oft sogar heterogen denkender und handelnder Akteure auf. Authentizität ist nicht einfach da, sondern muss mikro- und makropolitisch gesucht, gefun-

23 Etwa Speckstein-Schnitzereien der Inuit. Vgl. Graburn (1976). 24 Siehe Bruner (2005: 199). 25 Zur Medina vgl. Escher und Petermann (2009). Weitere Beispiele wären der in Paris erfundene und von dort nach Ägypten, in den Libanon und in die Türkei gewanderte Bauchtanz (vgl. Pflitsch 2003 und Schulze 2007) oder der in den 1930er Jahren auf Bali unter der Regie europäischer Künstler kreierte BarongTanz. Vgl. Yamashita (2003), Bruner (2005: 200-201). Die mannigfaltigen Formen der Orientalisierung und Okzidentalisierung werden in Schnepel (2010) diskutiert. 26 Kirshenblatt-Gimblett bemerkt in diesem Zusammenhang: »Both museums and tourism are largely in the business of virtuality, but claim to be in the business of actualities – of real places, real things, and real experiences.« (1995: 376) Vgl. auch Bruner (2005: 58).

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den und geschaffen werden; sie erscheint folglich immer in der Form einer an bestimmte Interessen gebundenen Suche nach Authentizität, ist das Ergebnis sozio-kultureller und politischer Prozesse der Authentifizierung. 27 Auf der touristischen Bühne kommen dabei häufig mehrere verschiedene Suchen nach Authentizität zusammen. Und diese diversen »quests« inszenieren wiederum ein neues Stück mit einer neuen, ihm eigenen Authentizität.28

K ONTAKTZONEN

UND

P ERFORMANZEN

Inwiefern ist der Markt, auf dem touristische Waren dargeboten werden, ein besonderer? Im Grunde sind es ja räumlich sehr diffizile und genau markierte Bühnen oder Kontaktzonen, auf bzw. in denen Eigentümer und Konsumenten, Verkäufer und Käufer sowie lokale Bevölkerung und Touristen aufeinandertreffen. Diese Kontaktzonen selbst sind ein integraler und konstitutiver Bestandteil des Geschehens: Strände und Hotelbars, Rotlichtviertel und pittoreske Häfen, Restaurants und exotische Märkte, Kreuzfahrtschiffe und Busse, Discos und Medinas, Shopping Malls und Souvenirläden, Berggipfel und Wattenmeere, Aussichtsplattformen und Bahnhofswartehallen, Slums und Friedhöfe, Welterbe-Stätten und Parks, und andere Kontaktzonen mehr. 29 Einige dieser Orte, etwa (Traum-)Strände, stellen per se genau diejenigen Attraktionen und sogar Heterotopien im Sinne Foucaults (2005) dar, für die Reisen auf sich genommen werden, während andere, etwa Hotelzimmer oder Schalterhallen, eher »Nicht-Orte« im Sinne Augés (1994) sind.30 Und auch diese Nicht-Orte machen wegen ihrer Reproduzierbarkeit

27 Vgl. auch Bruner (2005: 105). 28 Vgl. auch Fischer-Lichte und Pflug (2000) sowie Köpping und Schnepel (2000). 29 In Anbetracht der Tatsache, dass das konkrete Aufeinandertreffen von Anwohnern und Touristen von der Beschaffenheit dieser Kontaktzonen maßgeblich bestimmt wird, ist es erstaunlich, wie wenig Kontaktzonen bisher selbst Gegenstand von Mikroanalysen waren. Badeorte und Strände bilden hier eine Ausnahme; siehe bspw. Boissevain (1996), Schnepel und Schnepel (2008), Urbain (2003) und Walton (1983). 30 Vgl. auch Däumer, Gerok-Reiter und Kreuder (2010).

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und ihres weltweiten Wiedererkennungsfaktors das touristische Ambiente aus. Denn Touristen wollen das Neue oft nur in gewohntem Ambiente und in wohl dosierten Proportionen erfahren. Kontaktzonen müssen mithin so beschaffen sein, dass sie das Vertraute gewährleisten und so ein »StendhalSyndrom« möglichst verhindern.31 Ob aber Heterotopos oder Nicht-Ort, es gilt, die Aufmerksamkeit für die Orte (und Nicht-Orte) der Begegnungen, für die Kontaktzonen des Verkaufens und Kaufens von Kultur und für die asymmetrischen Machtverhältnisse, die in den Kontaktzonen zum Wirken kommen, zu steigern.32 Kontaktzonen lassen sich als Bühnen bezeichnen, auf denen etwas inszeniert wird und die in ihrer Aufmachung und Ausstattung vielfach selbst integraler Bestandteil der Inszenierung sind. Die Rahmung, Stilisierung und Mythisierung eines Ortes zu einer Sehenswürdigkeit, aber auch die Schaffung alltäglicher touristischer Kontaktzonen, wirken somit bereits theatralisierend. Insofern besteht eine weitere wichtige Aufgabe darin, die konkreten Performanzen und sozialen Dramen, die sich auf den Bühnen abspielen, zu beobachten und zu dokumentieren. 33 Die Bühnen, auf denen sich touristische Performativität entfaltet, sind dabei genauso divers und komplex wie die oben angeführten Kontaktzonen. Es ist also nicht nur zu fragen, was die Akteure bezüglich ihrer sozio-kulturellen Identitäten, ihres Kulturerbes, ihrer Traditionen usw. sagen und denken. Die hier vorgeschlagene Programmatik geht dezidiert über das Diskursive und Konzeptionelle hinaus, misst sie doch den Inszenierungen und performativen Modi von Kultur(erbe) großes Gewicht bei. Wie werden die Bühnen, Skripts, Kostüme,

31 Angeblich war Stendhal bei einem Florenz-Besuch so überwältigt von der Vielzahl neuer Eindrücke, dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. 32 Wie auch immer die konkrete Beschaffenheit der Kontaktzonen in den einzelnen Projekten aussieht, mit der von MacCannell 1976 erstmals vorgelegten und (unter anderem) von Rojek und Urry (1997) weiter ausgeführten »semiotic of attraction« (MacCannell 1999) bietet sich für das Studium von Sehenswürdigkeiten ein brauchbares theoretisches Gerüst. Verschiedene Ausführungen zu »border zones« (etwa Bruner 2005: Kapitel 7) und »contact zones« (Pratt 1996, Wulf 2010) sollen ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. 33 Performanztheoretische Ansätze in den Tourismus-Studien werden u.a. von Coleman und Crang (2002), Edensor (1998), Feldman (2007) und Jackson (2001) vorgelegt.

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Gesten, Dekorationen, Regieanweisungen und anderen theatralen Dimensionen von Kulturerbe vor Touristen ausgestaltet? Dabei sind die touristischen Sehenswürdigkeiten einem intensiven Schauen der Touristen ausgeliefert; sie sind also ähnlich wie Theaterdarsteller und -requisiten dem prüfenden Blick der Betrachter ausgesetzt. Auf den unterschiedlichen touristischen Bühnen sind aber gemeinhin die Grenzen und Unterscheidungen zwischen Zuschauern und Aufführenden sowie zwischen Bühne und Zuschauerraum permeabel.34 Die klaren Rollenzuweisungen von Schauspieler und Zuschauer, Agent und »Patient« lösen sich auf.35 Touristen nehmen aktiv an der Produktion, Definition und Performanz von Kulturerbe teil, viele davon mit ausgeprägten moralischen Vorstellungen.36 Ebenso wenig sind die Einheimischen lediglich ein in neokolonialistischem Ambiente ausgebeutetes, passiv sein Schicksal erduldendes Proletariat.37 Es gibt kein eindeutiges, als Text fest- und fortgeschriebenes Stück, das aufzuführen wäre. Das touristisch geprägte »Drama« entfaltet sich in den immer wieder neu zu gestaltenden Interaktionen verschiedener Akteure. In gewisser Weise spielen die Akteure sich selbst oder besser: Repräsentationen ihrer selbst. Wenn »Einheimische« beispielsweise einen Ritualtanz aufführen, dann findet dies in vielen Fällen sowohl vor eigenem Publikum als auch vor ausländischen Touristen und dazu vor den Göttern statt. 38 Folglich hat MacCannell (1994) in seiner Analyse von O’Rourkes Film »Cannibal Tours« (1988) zu Recht darauf hingewiesen, dass man in den Szenen dieses Dokumentarfilms (und in vergleichbaren Konstellationen)

34 Die klare Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie wir sie etwa aus dem Staatstheater kennen, wird in den Inszenierungen touristischer Kontaktzonen zwar aufgehoben. Nichts desto trotz gibt es unsichtbare Grenzen, die in beide Richtungen (also vom Schauspieler zum Publikum und umgekehrt) nicht überschritten werden können und die festlegen, was ins »Bild« gehört und was nicht mehr zur Kontaktzone und ihren Stücken gehört. 35 Zur Dialektik von agency und patiency siehe Schnepel (2009). Die agency von Touristen wird besonders von Franklin (2003: 177, 266) und Meethan (2001: Kapitel 5) betont. 36 Siehe Butcher (2002). 37 Wie Mowforth und Munt (2003) sowie Nash (1989) argumentieren. 38 Vgl. besonders MacCannell (1994) sowie Bruner (2005: Kapitel 7).

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nicht ein ungleiches, ausbeuterisches Aufeinandertreffen von authentischen Ureinwohnern und zivilisationsgestörten Touristen sieht. Vielmehr finde in der Begegnung von europäischen Touristen mit Einwohnern am SepikFluss von Neuguinea ein postmodernes Drama statt. Die Hauptdarsteller sind nach MacCannell »Ex-Primitive«, die »Kannibalen« spielen. Oder besser, sie spielen Repräsentationen von Kannibalen, und da sie dies nicht (nur) für sich selbst, sondern auch und besonders für Touristen tun, sind die dargestellten Repräsentationen von Kannibalen eine Mischung aus Selbstund Fremdrepräsentationen. Es treffen also zwei selbstbewusste Gruppen von Akteuren aufeinander, die sich durchaus des »Als ob«-Charakters des von ihnen gemeinsam aufgeführten Dramas bewusst sind.

S CHLUSSBEMERKUNGEN Die bisherigen Ausführungen mögen verdeutlicht haben, dass eine innovative Ausweitung und Vertiefung der lange Zeit hauptsächlich auf Management-Fragen, Marktanalysen und wirtschaftliche Faktoren fokussierten Tourismusforschung um kulturelle, soziale und historische Dimensionen dringend erforderlich ist. Dies ist eine der Zielsetzungen des vorliegenden Bandes, die besonders in der deutschen Wissenschaftslandschaft mit größerem Nachdruck als bisher zu verfolgen ist. Gleichzeitig und komplementär dazu wird Kulturerbe einmal dezidierter, als es ansonsten meist der Fall ist, auf die Bedingungen, Möglichkeiten und Auswirkungen seines Konsums und seiner Kommodifizierung untersucht. In einer komplementären Betrachtungsweise – einerseits der Kommerzialisierung von Kultur und andrerseits der Kulturalisierung von Kommerz – kann es somit nicht allein darum gehen, einem »cultural turn« in der deutschen Tourismusforschung das Wort zu reden, wichtig wie dieser ohne Zweifel ist. Die hier ausgebreitete Programmatik ist ja keineswegs wirtschaftsfremd, sondern sie hat ganz essentiell mit Wirtschaft, Markt und Handel zu tun. Sie überschreitet und korrigiert dabei wirtschaftswissenschaftliche Herangehensweisen und Perspektiven, stellt sie doch viele der dort gemachten Analysen des Phänomens »Tourismus« in Frage. Herkömmliche Marktanalysen können ab einem gewissen Punkt die Sachlage in ihrer Komplexität nicht mehr begreifen. Gleichzeitig müssen viele in den Kulturwissenschaften oft unreflektiert übernommene (Vor-)Urteile bezüglich der Wirtschaftsmacht »Tourismus«

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grundlegend überdacht werden. Mit einer unreflektierten Verdammung des Tourismus als kulturzerstörend ist wenig gedient, so verlockend und naheliegend diese negative Einschätzung für viele auch sein mag. Die Tatsache, dass eine Kritik des Tourismus von Anfang an den Tourismus begleitet hat,39 sollte im Zusammenhang mit den oben gemachten Ausführungen zum Tourismus als einer Arena, in der Statusdistinktionen hergestellt und ausgetragen werden, nachdenklich machen. Tourismuskritik ist auf diesem Hintergrund eher als ein integraler Bestandteil des Tourismus selbst zu deuten als eine externe Sicht auf die Dinge. Auch über Tourismus-Kritiker ließe sich dann in Anlehnung an F.W. Bernstein sagen: »Die größten Kritiker der Elche sind selber welche«. Erst mit einer kritischen Reflektion über die Bedingungen und Möglichkeiten einer Kritik des Tourismus und erst durch die Erstellung immer wieder neuer empirischer Fallstudien, die innovative Theorieentwicklungen in die Bestandsaufnahmen mit einbringen, die dezidiert die oft miteinander konkurrierenden Standpunkte der unterschiedlichen Akteure zu erfassen suchen und die zudem immer wieder neue Momentaufnahmen der rasanten Entwicklungen für den Vergleich bereitstellen, können negative wie positive Vorwegannahmen bezüglich des Phänomens auf den Prüfstand gestellt werden.

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39 Hierzu vgl. besonders Hennig (1997: Kapitel 1).

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Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe) Akteure und Kontexte im Lauf eines Jahrhunderts REGINA B ENDIX

Kulturerbe im größeren Rahmen von (Massen-)Tourismus zu beleuchten, signalisiert unterschwellig mehr als ein Quäntchen politischer und wirtschaftlicher Gesellschaftskritik. Dies ist bei einer ideologisch stark befrachteten Entwicklung des Schützens und Bewahrens von Kultur, in deren Tradition die UNESCO-Welterbe-Konventionen stehen, kaum zu verhindern, und schon gar nicht bei der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung, die sich im angloamerikanischen Forschungsraum nur mühsam von der schaudernden Kritik, gefasst etwa im Titel »culture by the pound« (Greenwood 1977, vgl. MacCannell 2011: 36, 235-6) lösen konnte und endlich den Weg einschlug, touristische Praktiken gleich anderen kulturellen Phänomenen zu dokumentieren und zu verstehen. Auch in der deutschsprachigen Forschung wogen Pessimismus und Tourismuskritik lange schwerer als Versuche, touristische Phänomene zu verstehen, und dies trotz einer schon sehr früh einsetzenden Kritik der Tourismuskritik (Enzensberger 1958). Hier liegt denn auch gleich eine, nicht unbedingt produktive, Schnittstelle von Kulturerbe und Tourismus in kulturwissenschaftlicher Forschung: Der bewahrende Impuls im Patrimonialisierungsgedanken1 trifft 1

Welche Begrifflichkeiten für Kulturerbe gewählt werden sollten, um die Verortung im internationalen Diskurs anzuzeigen, bleibt unbestimmt. Das englische Heritage verwischt sprachlich im Gegensatz zum Begriff Heredity, der auf eine

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auf die schwelende »salvage«-Mentalität, welcher die ethnographisch tätigen Wissenschaftler trotz bester Vorsätze und Wissens um die Fachgeschichte gerne anheimfallen. Sie haben über jahrelange Feldbesuche hinweg Alltag und Ritualleben einer Region im ethnographischen Präsens erarbeitet und erfahren den Zahn der Zeit, manifestiert in wirtschaftlichem und politischem Wandel, eher als radikalen Umbruch denn als die unweigerliche Transformation, die die untersuchten Akteure meist selbst mit bewirken. Bei beiden Impulsen – dem Patrimonialisieren und dem ethnologischen »Retten bevor es verdorben ist« – findet sich ein implizierter Verlustgedanke.2 Bei beiden spielen auch widersprüchliche Perspektiven auf die Einschränkung der kulturellen Allmende eine Rolle: Das Kulturerbe-Regime will eine als wertträchtig gesehene kulturelle Form oder Praxis für den weltweiten Zugriff öffnen, stellt dabei aber gleichzeitig die Weichen so, dass Kulturträger sich mehr oder minder plötzlich ihrer Besitzerfunktion bewusst werden, nicht zuletzt weil sie sich mit der entsprechenden Verantwortung konfrontiert sehen. Dass sie sich dann auch berechtigt fühlen, die Allmende, aus der das entsprechende Gut stammt, genauer zu definieren und für wirtschaftlichen Gewinn zu nutzen, sollte nicht überraschen. Man-

klare Beziehung zwischen Urheber und Nachkommen verweist (vgl. Bendix 2000). In einem ersten Versuch auf die Prozesshaftigkeit von »Kulturvererbung« hinzuweisen hat man in Göttingen den Arbeitsbegriff »Heritageifizierung« ausprobiert (Bendix/Hemme/Tauschek 2007). Im z.Z. sehr regen französischen wissenschaftlichen und praxisnahen Diskurs um Kulturerbe trifft man hierfür auf patrimonialisation, abgeleitet aus dem französischen Begriff für Welterbe, patrimoine. Als lateinisches Lehnwort ist Patrimonium zumindest im Deutschen vorhanden, und trotz der vielleicht aus der Perspektive geschlechtsneutraler Sprache wiederum problematischen Wortwahl, wird der Begriff hier genutzt, um die In-Wertsetzung von Kulturgut zu bezeichnen, nicht zuletzt weil der Konservatismus, der dem Patrimonium begrifflich anhaftet, auch die Koppelung von Bewahren und ökonomischem Vorteil schön transportiert. Zu den unterschiedlichen Begriffsgeschichten von heritage, patrimoine und Kulturerbe, vgl. Swenson (2007). 2

Noyes (im Druck) betrachtet den Heritagekomplex innerhalb einer Dynamik, die durch die (wahrgenommene) Verknappung des Gutes Kulturerbe ihr Gegenteil erzeugt: eine skalierte Ökonomie der In-Wertsetzung.

D YNAMIKEN DER I N -W ERTSETZUNG VON K ULTUR (ERBE )

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che der ethnographisch-wissenschaftlich Bewahrenden möchten eigentlich gerne gemeinsam mit denjenigen, die sie dokumentieren und damit in gewisser Weise in einem wissenschaftlich-zeitlosen Präsens festhalten, in dieser Allmende mit drin sein – oder, wie die Wirtschaftswissenschaften in zeitgemäßem Vokabular sagen, sie wollen teilhaben am Klubgut »Kultur«; zugleich möchten sie die Touristen, die Fernsehkamera und die »Verderbnis« des globalen Marktes aber ausschließen. Die ökonomische Dimension bliebe so auf ein »einheimisch gewachsenes« Maß beschränkt. Zwar hat sich diese Haltung der ethnographisch arbeitenden Fächer innerhalb von gut vierzig Jahren produktiver Forschung zunehmend geändert, doch ist der – fachgeschichtlich tief verankerte – Reflex, wirtschaftlichen Wandel als potentielle Verderbnis zu katalogisieren, auch in subtilen oder einfach unreflektierten Äußerungen immer wieder anzutreffen. Es kommt hinzu, dass diese zwei Phänomene, das Kulturerbe-Regime und der Tourismus, als durchaus aggressive Dynamiken beschrieben werden können. Bei allem Streben nach sanftem und nachhaltigem Tourismus: Als der primäre und auch offenkundigste Wirtschaftszweig globaler Vernetzung bewegt und öffnet das Tourismusgewerbe Lebenswelten in einer Weise, die manch andere wirtschaftliche Umstrukturierungen weniger greifbar aufweisen. Die kulturschützende Bewegung UNESCO’scher Prägung bringt staatlich-bürokratische Implementierungsinstrumente mit sich, die, je nach politischer Kultur, ebenfalls heftige Auswirkungen haben können (Bendix/Eggert/Peselmann 2012). Beide Bereiche nutzen – in unterschiedlichem Maß – Kultur als eine Ressource, heißt: in beiden werden kulturelle Güter und Praktiken mit Werten versehen, was eine Zuführung zu einem Markt ermöglichen kann, aber nicht muss. Dieser Beitrag3 betrachtet den Umgang mit potentiellem kulturellem »Erbgut«4 anhand schweizerischer Beispiele – gewählt insbesondere des-

3

Die Überlegungen für diesen Beitrag erwuchsen im Rahmen der Zusammenarbeit der DFG-Forschergruppe 772 »Die Konstituierung von Cultural Property«, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ich herzlich für die stets produktive Diskussion danke, insbesondere Kilian Bizer und Matthias Lankau im Bereich Volkswirtschaft, die uns die fundamentale Rolle ökonomischer Überlegungen kontinuierlich verdeutlicht haben und die auch Begriffe in unser Team eingeführt haben, die in den Kulturwissenschaften wenig genutzt werden. Dank gebührt auch Kolleginnen und Kollegen des Göttinger Zentrums für Theorie und

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wegen, weil sich die vielfach gelagerten In-Wertsetzungsprozesse hier auch über einen längeren Zeitraum nachvollziehen lassen. Wesentlich ist dabei das stete Ineinandergreifen von ideellen, sozialen und wirtschaftlichen Beund Aufwertungen, was von Brauchakteuren selten so fein säuberlich getrennt wird wie von Wissenschaftlern. Bevor ich mich dem appenzellischen Beispiel des Umgangs mit der Ressource Kultur zuwende, folgen einige Überlegungen dazu, was In-Wertsetzung eigentlich bedeutet. Ich nutze diesen Begriff absichtlich, um damit auch die begrifflichen Möglichkeiten im Unterschied zu »Kommodifizierung« hervorzuheben. Letztere bezeichnet »das zur Ware Werden« einer Ressource und damit – kulturwissenschaftlich oft aufbauend auf Karl Polanyis Perspektive – die Loslösung und Entfremdung von menschlichen bzw. kulturellen Werten. Betrachtet man den Umgang von Akteuren mit kulturellen Ressourcen über einen längeren Zeitraum, so lässt sich die Trennung von wirtschaftlichen Werten gegenüber »anderen« Werten nicht aufrecht erhalten, und es erscheint angezeigt, die automatische Negativwertung mit einer nüchternen und ganzheitlichen Perspektive auf In-Wertsetzungspraxen zu ersetzen.

D AS V OKABULAR

DES IN -W ERTSETZENS

Sowohl Kulturerbe als auch Tourismus bauen auf Prozessen der In-Wertsetzung auf. Es lohnt, die Begrifflichkeiten, die hiermit verbunden sind, näher zu betrachten, denn die Begriffsebene erlaubt einen kulturanthropologischen Zugriff, der beide Phänomene ganzheitlicher als Teil kultureller (System-)Entfaltung über Zeit betrachtet. Eine Bewegung zurück von den Spezifika der Patrimonialisierung und des Kulturtourismus auf die allgemeinere Kategorie des »mit Wert Versehens« erlaubt auch die dringend notwendige neutralere Verortung dieser Phänomene innerhalb eines breiteren Spektrums menschlichen Tuns rund um reale und symbolische Ressourcen; vielleicht lassen sich hierdurch die boomenden Heritage-

Methodik der Kulturwissenschaften (ZTMK) sowie den Teilnehmenden der Hallenser Tagung im Februar 2011, die zur Schärfung der Ideen beigetragen haben. 4

Vgl. Titel und Tagungsband der Tagung der österreichischen Gesellschaft für Volkskunde von 2008 (Berger/Schindler/Schneider 2009).

D YNAMIKEN DER I N -W ERTSETZUNG VON K ULTUR (ERBE )

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Forschungen aus ihrer drohenden Überspezialisierung überführen in einerseits sozial- und kulturwissenschaftliche Theoriebildung und andererseits theoriegeleitete, praxisbezogene Arbeit. Diese Denkbewegung schließt an einen anderen Beitrag an, in welchem ich mich damit auseinandergesetzt habe, was »Erben« ist und bedeutet und welche Schattierungen hinzu gefügt werden, wenn man von Kultur- oder gar Weltkultur-Erben spricht (Bendix 2009). Hier möchte ich mich nun mit dem »in Wert Setzen« und »mit Werten Behaften« beschäftigen – denn dieser kulturelle Gestus prägt sowohl Tourismus- wie auch Welterbe-Praktiken. Sich mit den Verben – heißt den Tätigkeiten – zu beschäftigen, die Heritage und Tourismus hervorbringen, heißt auch, die Unterteilung in kulturelle und metakulturelle Produktionen zu überwinden. Barbara Kirshenblatt-Gimblett hat diese für die Forschung äußerst produktive Zweiteilung 1995 als Grundlage ihrer wegweisenden Thesen zu Heritage formuliert. Ihr Heritage-Begriff umspannt Phänomene vom musealen Ausstellungswesen über Tourismus-Performanzen bis zum Kulturerbe (Kirshenblatt-Gimblett 1995, 2004). Darin bezeichnet sie Kulturerbe als eine Form metakultureller Produktion, die sich auf die Vergangenheit bezieht, aber etwas Neues schafft. Kulturtourismus wäre dann analog (und vereinfachend) formuliert eine metakulturelle Produktion, die sich aus gelebten kulturellen Kontexten bedient und daraus erfahr- und kaufbare Güter schafft. Dennoch möchte ich argumentieren, dass das In-Wert-Setzen, mit Werten Versehen, ein intrinsischer Teil kulturellen Handelns ist und dass sich die Auflösung der Unterscheidung in Meta- und eigentliche Praktiken gerade für die Erfassung der verschlungenen Pfade von Kulturerbe und Tourismus als nützlich erweist.5 Damit kann ein latent weiter schwelender Rest der Vermutung in Schranken gewiesen werden, dass nur (meist sogar außenstehende) Akteure auf einer die Kultur instrumentalisierenden MetaEbene agieren, während die »Kulturträger« durch deren Tun von ihrem Gut entfremdet werden. Das, was Foucault im Rahmen seiner Gouvernementalitätstheorie mit »conduire des conduites« (1994: 237) bezeichnet hat,

5

Vgl. hierzu auch Markus Tauscheks Vortrag »Kulturerbepolitik in Belgien. Zugleich theoretisch-kritische Bemerkungen zur aktuellen Heritage-Forschung«, gehalten auf der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Ethnologie, 12.-13. November 2010, Bern, Schweiz.

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steht allen Akteuren als Handlungsraum zur Verfügung – nur ergeben sich unterschiedliche Präferenzen dafür. Es lässt sich als kultureller Gestus im »Erben« und im »Kulturerben«, im »mit Wert«-Versehen ebenso wie im »Kultur mit Wert Versehen« ausmachen. Kirshenblatt-Gimbletts Differenzierung teilte die zu betrachtenden Phänomene, um sich durch das Gerüst von einer Handlungsebene und einer Meta-Ebene, die das Handeln lenkt, analytisch der Veränderung von Kultur in unterschiedlichen Stadien zuzuwenden. Letztendlich gilt es, diese Zweiteilung jedoch zu überwinden in der Erkenntnis, dass ein Bewusstsein von (politischer, sozialer, wirtschaftlicher, symbolischer) Bewertung jegliches Handeln begleitet und die Verwandlung von Kultur in Wirtschaftsgüter einen Fall unter verschiedenen Möglichkeiten der In-Wertsetzung darstellt. Auch eine politische oder eine religiöse In-Wertsetzung ergibt Folgen für Akteure. Ich möchte die InWertsetzung von Kultur damit innerhalb jeglicher von Menschen entwickelten und praktizierten Handlungsspektren sehen, die wiederum selbst auch immer durch neu entstehende Normen mehr oder weniger offensichtlich geleitet oder gesteuert werden. 6 Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind folgende Fragen: 1) Wie kommen Akteure dazu, Ausschnitte ihres kulturellen Tuns (bewusst) mit Wert zu versehen? Die Weiterführung von Ritualen, Performanzen, Liedgut und ähnlichem immateriellen Kulturgut, ebenso wie die Instandhaltung von gebautem, materiellem Erbe ist bereits eine implizite Wertzuschreibung: die Passion und die Lust sind da, kulturelle Elemente materieller und immaterieller Art in der Lebenswelt erfahrbar zu erhalten. 7

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Die Verschiebung kultur- und sozialanthropologischen Augenmerks auf die »conduct of conduct«-Ebene kann sicher als eine wichtige und gewinnbringende Neuerung vermerkt werden. Sie wurde gefördert durch die linguistische Anthropologie und Pragmatik anglo-amerikanischer Prägung und zeigt sich sehr deutlich etwa in der »anthropology of expertise« (Carr 2010).

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Dass materielles Erbe letztendlich Produkt immaterieller Denk- und Traditionalisierungsbewegungen ist, hat Laurajane Smith (2006: 54) verdeutlicht; die über drei Jahrzehnte entfaltete UNESCO-Diskussion, die zur Konvention von 2003 für das immaterielle Erbe geführt hat, verdeutlicht – auch in ihrer langen Dauer – die schwer errungene global-administrative Erkenntnis, dass Sachkultur Ausdruck der inhärent mentalen Anlage von kultureller Dynamik ist.

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Der diskursiv vordergründig gemachte Aspekt der Patrimonialisierung kann diese Dynamik verändern, muss das aber nicht tun. 2) Welchen Bewegungs- und Handlungsspielraum haben Akteure, um Wertzuschreibungen vorzunehmen? Da kulturell geprägtes Verhalten nicht hermetisch abgeschlossen ist, sind bei beiden Fragen die weiteren Kontexte mitzudenken. Lokale Akteure leben innerhalb lokaler, regionaler, nationaler und globaler politisch-wirtschaftlicher Zusammenhänge. Dieses Leben ist geprägt von Vergangenem ebenso wie von Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft. Das InWertsetzen entfaltet sich entsprechend innerhalb eines Feldes aufgespannt zwischen zeitlichen und räumlich-politisch strukturierenden Achsen. Zu bedenken ist sodann die Geschichte und theoretische Durchdringung der kulturellen Praxis der Zuschreibung von Wert. Nicht zuletzt weil die Kulturanthropologie über lange Zeit das mit Wert Versehen eher in seiner symbolischen Verankerung untersucht hat und die Berührung von kulturellen Systemen mit (welt-)wirtschaftlichen Märkten auszuklammern suchte, haben diese Geschichte und ihre Begrifflichkeiten ihren angestammten Platz jedoch eher in der politischen und ökonomischen Theorie sowie der Philosophie.8 Erst mit Arjun Appadurais bahnbrechendem Band The Social Life of Things (1986) und seiner einleitenden Hinführung zur kulturellen und politischen Dynamik von (Wirtschafts-)Gütern schien eine Lanze gebrochen. Betrachtet man jedoch das Gros kultur- und sozialanthropologischer Publikationen, so wird man die Scheu vor (bzw. das Nichtauftauchen von) Begriffen aus dem ökonomischen Vokabular und damit einer an wirtschaftlichem Denken orientierten Perspektive dennoch wahrnehmen, obwohl Arbeiten und Wirtschaften die grundlegendsten Praktiken sind, mit welchen Menschen sich am Leben erhalten. Über das Arbeiten entstanden und entstehen Institutionen, die das Zusammenleben zutiefst prägen und die mit den seitens ethnologischer Forschung privilegierteren Institutionen wie etwa Verwandtschaft oder Religion verwoben sind. Gerade wegen dieser Marginalisierung der wirtschaftsanthropologischen Perspektiven konnte wohl John und Jean Comaroffs Ethnicity Inc. (2009) so wuchtig einschlagen – und dies obwohl diese ausgezeichnete Analyse der Nutzungspfade von Kultur seitens der Kulturträger selbst einen Gutteil geleisteter For-

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Natürlich wird dies hier vereinfachend dargestellt, und es gibt wesentliche Ausnahmen wie z.B. Mintz (1985) oder Wolf (u.a. 1982); vgl. Wilk (1996).

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schung nicht rezipiert.9 Aus den Eingangspassagen des Werkes geht hervor, dass Comaroff und Comaroff sich überwinden mussten, um sich dieser Thematik zuzuwenden, und das Maß an Geschick in der kulturellen Eigenvermarktung seitens »indigener« Akteure, welches auszumachen ist, scheint sie fast ein wenig zu überraschen. Für die Frage der In-Wertsetzung von Kultur, mit der sich die Heritage- und Tourismusdiskussion befassen muss, sind ökonomische Begriffe jedoch sinnvoll und stimmig: Akteure innerhalb des Tourismusgewerbes und der Heritage-Industrie arbeiten mit diesem Vokabular und der damit verbundenen Denkweise. Kulturwissenschaftler werden so genötigt, kulturelle Akteure auch als wirtschaftliche Akteure wahrzunehmen, deren (welt-)wirtschaftliches Agieren Teil kultureller Entfaltung und Dynamik darstellt. Grundlegend ist der Begriff der Allmende (engl. commons) und das dazugehörende Ein- und Ausschlusspotential aus der Gruppe oder dem Klub derjenigen, die von einer Allmende – z.B. dem einer Handwerkskunst eingeschriebenen Wissen, einem Jahresbrauch, einer traditionellen Rezeptur, oder auch einer auf dem eigenen Land liegenden archäologischen Stätte oder einem Bauwerk – profitieren: dies alles sind Kulturgüter, die sowohl durch touristische Zuwendung wie auch UNESCO-Zertifizierungen mit ökonomischen Ein- und Ausschlussmechanismen versehen worden sind. Denn werden kulturelle Praktiken aus ihrem habituellen Kontext – vielleicht die grundlegendste und unreflektierteste aller Allmenden – gelöst und mit ideellen und/oder marktwirtschaftlichen Werten versehen, stellt sich sofort auch die Frage, wer weiterhin teilhaben darf an von Praktiken zu Kulturgütern aufgewerteten Aspekten der vormaligen Allmende. Die InWertsetzung geht somit einher mit einer Propertisierung. Wenn auch viele Akteure diesen Schritt in Richtung Eigentum nicht im wirtschaftlichen – und ebenso wenig im rechtlichen – Sinne wahrnehmen, so findet dieser dennoch statt. Ein Problem touristischer und patrimonialisierender In-Wertsetzung besteht gerade darin, dass rechtliche Weichenstellungen bezüglich der Eigentums- und Nutzungsrechte in den jeweiligen Regimes nicht zwingend verankert sind: Gerade weil Kultur als Allmende erfahren wird, neh-

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Für europäische Leser ist die Monographie vielleicht gerade deshalb ein wenig irritierend, da sie die immerhin seit den 1960er Jahren bestehende Forschung zur Kommodifizierung von Kultur in der Europäischen Ethnologie übergeht (vgl. Bendix 2010).

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men Akteure deren Verdichtung in eine Ressource oft erst wahr, wenn einzelne Akteure bereits exklusive Nutzungsrechte für sich angemeldet haben. Unter dem Begriff Transaktionskosten werden genau diese Dimensionen erfasst: was nehmen Akteure bei In-Wertsetzungsvorgängen in Kauf, wie wirken sich die ineinander verschlungenen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen solcher Entscheidungen aus, und inwiefern lassen sich Akteure bewusst auf solche Folgen ein? Unter Transaktionskosten wird all jenes zusammengefasst, was für Käufer und/oder Verkäufer beim Kauf/Verkauf eines Gutes anfällt. Hierzu gehören die Anstrengungen, überhaupt jemanden zu suchen, von dem man etwas erwerben kann und einen entsprechenden Vertrag auszuhandeln – im vorliegenden Themenbereich also die touristische Nutzung oder die Heritage-Nominierung eines Kulturgutes – bis dazu, den Vertrag bei langfristigen Leistungen auch zu überwachen und eventuell gerichtlich durchzusetzen. Die Transaktionskosten können sowohl monetäre Größen umfassen als auch ein ganzes Spektrum von nichtmonetären Größen wie Angst vor Ausbeutung durch Vertragsbruch oder Rechtsunsicherheit. Die Kulturanthropologie hat die sozialen und politischen Energien, die Menschen aufbringen müssen, um einen Tausch oder Kauf durchzuführen, durchaus auch fokussiert, doch liegt der größte Teil der Forschung auf dem (vorkapitalistischen) Geschenkaustausch und seinen zwischenmenschlichen Folgen, und eine gewisse Weigerung, hierfür den Begriff »Kosten« zu verwenden, lässt sich durchaus ausmachen.10 Ähnliche Schranken gibt es dagegen in der Wirtschaftswissenschaft nicht, wo durch Ökonomen wie Bruno Frey (z.B. 2010) oder David Throsby (z.B. 1999) die Subdisziplin der cultural economics erheblichen Aufschwung erlebt und fachspezifische Erkenntnisse zeitigt, die in Zusammenarbeit mit Kultur-

10 Das klassische und einflussreiche Werk hierzu ist Marcel Mauss‘ Essay sur le don von 1923-1924 (1968). Appadurai hielt auch für die jüngere Forschung die Tendenz fest, »to see these two modalities of exchange as fundamentally opposed« (1986: 11; vgl. Liebersohn 2011). Appadurais Vorschlag, diese Dualität mittels Bourdieus Ansatz, den Geschenkaustausch als eine mögliche Form der Zirkulation von »commodities« zu sehen, öffnet das Spektrum, unter welchem ich wirtschaftliche Praktiken verortet sehen möchte, in wünschenswerter Weise (Bourdieu 1977: 171; Appadurai 1986: 12).

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und Sozialwissenschaften geschärft und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auf die Probe gestellt werden könnten. Kirshenblatt-Gimblett hat diese Annäherung ansatzweise unternommen und sich mit der Werte-Auffächerung, die von Frey und Werner W. Pommerehne (1989) vorgeschlagen wurden, auseinandergesetzt: »[They] distinguish five types of value: option, existence, bequest, prestige, and education. Option value refers to the value of having the opportunity to benefit from an asset, whether or not one ever does. Existence value (also called non-use value) refers to the value one places on the mere existence of a cultural asset such as the Garifuna language, without reference to whether or not a global citizen will ever hear it or personally benefit from it in some way. Bequest value, as the term suggests, is the value the asset may have for later generations. Prestige value – the primary value of being proclaimed a masterpiece of world heritage – refers to the benefits that follow from being endowed with elevated status. This is the logic of awards, designations, proclamations, registers, and lists. Moreover, a rise in prestige value, while it may have economic benefits in terms of tourism, for example, may have negative effects on property value by limiting what the owner can do with a building. Education value refers to the value of the asset as an educational resource, understood in the context of UNESCO as contributing to positive identity, pluralism, dialogue, culture of peace, and economic development.« (2006: 194)

Deutlich wird hierdurch – ebenso wie durch die weiteren von KirshenblattGimblett referierten Autoren – dass ökonomische Analysen sich nicht allein für Geldmärkte interessieren. Die auf eine Vorhersagbarkeit zielenden Erkenntnisinteressen der Wirtschaftswissenschaften bedingen jedoch, dass »Wertpakete« kompartmentalisiert werden, um dadurch auch Modelle mit vorhersehbarem Nutzen der verschiedenen Werte erstellen zu können. Kirshenblatt-Gimblett hebt außerdem hervor, dass erst die Auseinandersetzung mit dieser breiten Wertepalette eine angemessene Diskussion in der Zivilgesellschaft vorbereiten kann: »The conversion of habitus into heritage and heritage into cultural assets, cultural capital, and cultural good, a process that is integral to concepts of public domain, public goods, fair use, and global cultural commons, can engender the kind of public debate associated with a public sphere.« (2006: 195)

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Neu sind all diese Entwicklungen nicht: Menschen verleihen sowohl Dingen wie Ideen seit jeher Wert. Manche davon führen sie einem Markt zu, um davon ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, andere behüten sie sorgsam vor Marktzugriffen – gerade weil die Transaktionskosten als zu hoch eingeschätzt werden. Tourismus und Heritage sind zwei dem Markt unterschiedlich verbundene Bereiche, die in überlappender Weise an dieser Trennung rütteln und Akteure vor Entscheidungen stellen, welche Aspekte ihrer Lebenswelt sie diesen Optionen zuführen möchten. Tourismus und Kulturerbe sind jedoch nicht die einzigen Möglichkeiten, um kulturelle Exzerpte marktwirtschaftlicher Wertschöpfung zuzuführen. Zu nennen wäre etwa auch das System der geographischen Indikation (G.I.), gebräuchlich insbesondere in der Europäischen Union, welches ermöglicht, landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel auf Grund ihres Herstellungsortes und der kulturell geprägten Rezepturen, die in ihre Erzeugung fließen, mit einer Indikation zu versehen, die den Herstellenden exklusive Nutzungsrechte des jeweiligen Begriffes – wie etwa »Allgäuer Emmentaler« – zuspricht.11 Gerade durch ihre eindeutig wirtschaftlich motivierte Hervorhebung kulturellen Wissens haben diese geographisch-kulturellen Herkunftsangaben im Vergleich etwa zum UNESCO-Welterberegime den Vorteil, dass die zwar durchaus auch mit ideellen Faktoren verbundene In-Wertsetzung Akteuren ein juristisch abgesichertes und institutionalisiertes Instrument anbietet, welches offen deklariert, dass durch die kulturelle und geographische Exklusivität Marktvorteile angestrebt werden können. Dass diese Exklusivität sowohl den Produzenten wie den Konsumenten die Wertschätzung tradierter und regional verankerten Wissens und Rezepturen vermitteln soll, ist nicht abzustreiten. Doch wird das offene Bekenntnis zum wirtschaftlichen Nutzen der Motivation gerecht: Kultur ist eine Ressource, die Menschen nicht nur aus Gründen ethnischer oder lokal- oder regionalpatriotischer Zugehörigkeit wertschätzen, sondern auch, weil sie im komple-

11 Das noch verbesserungswürdige G.I.-System wird z.Z. einer Revision unterzogen, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Vereinfachung der Kategorien und einer deutlicheren Betonung der kulturellen Exklusivität des Produktes führen wird (Bicskei et al. 2012); vgl. Schröder (2011).

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xen Markt der kulturellen Zuschreibungen aus ihr Gewinne erzielen können – sofern sie dies möchten.12 Tourismus dagegen hat in seiner Historie »Kultur« oft als quasi gratis zur Verfügung gestellte Inszenierung für Erholungsuchende genutzt. Erst mit der Herausbildung eines – auch seitens des Gewerbes anerkannten – spezifischen »Kulturtourismus« kamen kulturelle Akteure zumindest partiell als potentiell zu entlohnende Nutznießer touristischer Neugierde in den Blick. Kulturerbe-Diskurse schließlich betonen die ideelle Notwendigkeit der Identifizierung, Dokumentation, Restauration und/oder Pflege und Zertifizierung besonders wertvoller Güter aus globaler Sicht. Die durch eine UNESCO-Listung zu erwartenden Besucher dürfen zwar durchaus auch einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen – doch vermeiden die UNESCO-Konventionen diese wirtschaftliche Komponente, und sie bieten auch keine Hinweise und keine juristisch bindenden Institutionen an, die erfolgreiche Heritage-Bewerber nutzen könnten, um den ökonomischen Gewinn auch tatsächlich so zu regulieren, dass er bestimmten Nutzergruppen – z.B. vornehmlich denjenigen Menschen, die ein bestimmtes Kulturgut hervorgebracht haben – zufließt.13 UNESCO-Nominierungen müssen zwar Entwicklungspläne beinhalten, und der Katalog der zu erfüllenden Kriterien präzisiert sich fortlaufend. Aber das einzige Mittel, gegen Welterbe-»Missbrauch« vorzugehen, welches die UNESCO zur Verfügung stellt, ist der Entzug des Welterbe-Titels. Sämtliche rechtlichen Maßnahmen liegen dagegen in der Hand der eine Konvention ratifizierenden Staaten, die wiederum selbst auf die Idee kommen müssen, für die wirtschaftliche Nutzung rechtliche Vorkehrungen zu treffen (Mißling 2010, vgl. Bendix/Eggert/Peselmann 2012). Kulturgüter sollen zwar nicht aus touristischen Interessen als Weltkulturerbe nominiert

12 In demokratischen Gesellschaften, wie sie sich in der EU zusammenfinden, ist gemeinschaftlich-partizipatorisches Verhandeln einigermaßen gewährleistet. Dass dies in vielen UN-Staaten nicht der Fall ist, und dass In-Wertsetzungen von Kultur über die Köpfe von Kulturträgern geschieht, soll hier keineswegs verschwiegen werden (siehe z.B. Hauser-Schäublin 2011). 13 Vgl. Hauser-Schäublin (2011) für eine multiperspektivische Darstellung des Fallbeispiels Kambodscha, wo die wirtschaftlichen und soziopolitischen Konflikte, die sich aus Heritage-Ernennungen ergeben können, eindringlich dargestellt werden.

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werden, doch dass die Auszeichnung in einem Großteil der Fälle bereits vorhandenen Tourismus stärkt oder touristische Entwicklung nach sich zieht, darf als erwiesen und seitens vieler Akteure erwünscht betrachtet werden.

D IE R ESSOURCE DER S CHWEIZ

K ULTUR: B EISPIELE

AUS

Wie unterscheidet sich die Ressource Kultur von Ressourcen wie Land, Wald, Wasser, Braunkohle, Öl und vielen weiteren Bodenschätzen? Debatten zu Cultural Property und Heritage sind nicht der erste Einstieg in diese Frage: Etwas in Eigentum verwandeln und mit Werten – inklusive zahlbaren – zu versehen lässt sich, wie der bereits zitierte Band von Appadurai darstellt (1986), weit zurückverfolgen. Ich möchte jedoch argumentieren, dass Menschen in reflexiven Wissensgesellschaften gelernt haben, Kultur als eine andere Art von Ressource zu behandeln. Die komplexe Geschichte der »Entdeckung« der »Eigentümlichkeit« von Kulturen muss hierzu nicht aufgerollt werden: Sie ist Kultur- und Sozialanthropologen durch die Verstrickung ihrer jeweiligen Fachgenese mit dem Nationalstaatsgedanken und dem Kolonialstaat mehr als vertraut. Wesentlich ist hier vielmehr zu zeigen, dass Akteure ein Bewusstsein ihrer kulturellen Ressourcen teilen und damit umzugehen wissen und dass ein stetes Zusammenspiels von verschiedenen Wertigkeiten (sozial, politisch, ideell, wirtschaftlich) vorhanden ist, in welchem sich die Wirtschaftlichkeit unterschiedlich manifestiert. Darstellen möchte ich dies anhand von Beispielen aus der Schweiz. Die Schweiz zu wählen mag erstaunen, nicht zuletzt weil das Land erst seit 2010 damit beschäftigt ist, die UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe zu ratifizieren und potentiell zu nominierende kulturelle Praktiken zu identifizieren.14 Schaut man sich die kleine Schweiz an, so bietet sie dennoch eine ganze Menge von kontextuellen Faktoren, die auf lokal verankerte Akteure einwirken, bzw. von ihnen aufgegriffen werden. Ein Großteil der kulturwissenschaftlichen Heritage-Literatur beschäftigt sich – zweifelsohne zu Recht – mit Schwellenländern, und thematisiert

14 Vgl. hierzu das von Ellen Hertz, Neuchatel, geleitete NSF-Forschungsprojekt »The Midas Touch«; vgl. Graezer-Bideau (2012).

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unter Titeln wie etwa Reclaiming Heritage (de Jong/Rowlands 2007) die empowerment-Bewegungen, die sich auch mit Hilfe ethnologischer Forschung im Heritage-Feld abspielen. Davon wird man im folgenden Beispiel wenig spüren, vielleicht auch weil manche dieser Facetten sich in der Vergangenheit entfalteten und aus Distanz betrachtet werden können. Entsprechend lassen sich die Beispiele nüchtern betrachten als unterschiedliche Arenen der kulturellen Wertbesetzung. Jedes der folgenden Beispiele kultureller Ressourcen hat WelterbePotenz, obwohl nur eines davon sich aktiv darum bemüht, nominiert zu werden. Jedes davon hat touristisches Potential, das jedoch sehr unterschiedlich genutzt wird. Alle bieten Öffnungen zum Aufgreifen der eingangs gestellten Fragen nach den Beweggründen und Handlungsspielräumen von Akteuren, Ausschnitte ihrer Kultur in Wert zu setzen. Das Silvesterklausen in Urnäsch, Kanton Appenzell Ausserrhoden, das Japanesenspiel in Schwyz, Kanton Schwyz, und die Tellspiele in Altdorf, Kanton Uri, sind drei unterschiedliche Events. Alle drei sind performativ angelegt, aber die Unterteilung von aktiver und passiver Teilnahme steigert sich vom erstgenannten bis zum letzten. Jedes dieser Events enthält ideelles und wirtschaftliches Potential, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unterschiedlich genutzt worden ist. Jedes Beispiel hat mehr oder minder eingreifende Ebenen wissenschaftlicher Begleitung und damit auch Bewusstmachung erfahren – Aspekte, die in der Folge kontextspezifisch aufgefächert werden. Kontextuell wesentlich sind bei allen Beispielen fünf Punkte, die die Vergleichbarkeit erhöhen: 1) Der politische Kontext der schweizerischen Eidgenossenschaft, die sich selbst gerne als älteste Demokratie bezeichnet (obwohl Island hier nachweisbare Gründe hat, zu widersprechen …). Die mindestens seit der post-napoleonischen Zeit erfolgreiche föderalistische Struktur prägt die Souveränität, mit welcher Bürger selbstverantwortlich politische und wirtschaftliche Entscheidungen treffen. 2) Die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichende touristische Entwicklung der Schweiz (Krippendorf 1975): Die Alpen als Magnet haben ab 1800 in manchen verarmten Bergregionen und systematisch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der gesamten Schweiz für den Aufbau des Erwerbszweigs Tourismus gesorgt, mit dem sich die jeweilige lokale Bevölkerung auseinanderzusetzen hatte und hat (Bendix 1989b; Risi 2011).

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3) Die Schweiz ist erst seit der Zwischenkriegszeit reich geworden; noch im frühen 20. Jahrhundert sind die Stadt-Land Unterschiede sehr groß, die Migration aus armen Regionen nach Übersee erheblich und das Bruttosozialprodukt niedrig. Die Zuwendung zu Kulturgütern als potentiellen ideellen und wirtschaftlichen Ressourcen kommt entsprechend nicht unerwartet. 4) Die bis über 100 Jahre belegbare Dauer der zu beleuchtenden Phänomene erlaubt einen Blick auf die Entwicklung der Werte-Dynamik. 5) Der Umgang mit ästhetisch überhöhten kulturellen Segmenten kann über längere Zeitstrecken recherchiert und vielleicht auch in einen produktiven Vergleich mit Regionen gesetzt werden, wo die ideellen und wirtschaftlichen Optionen der Verwandlung von Kultur in Kulturgut schneller und dichter gedrängt vom Stapel laufen. Mich interessiert nun in der Folge, welche In-Wertsetzungen Akteure vorgenommen haben und inwiefern sich diese Wertepalette über Dauer hält. Hierzu möchte ich nach einer kurzen Beschreibung der jeweiligen Traditionen die nicht gänzlich zu trennenden Ebenen von praktizierten bzw. gefühlten Werten, Wertbewusstsein und In-Wertsetzung betrachten.15 Das Silvesterklausen in Urnäsch, Appenzell Ausserrhoden Dieser Neujahrsbrauch ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts gut belegbar (Bendix 1985). Gruppen von Männern ziehen in drei verschiedenen Typen maskierter Verkleidung von Haus zu Haus; sie tragen Kuhglocken und Glocken von Pferdeschlittengeschirr, mit welchen sie ihre Ankunft vor den Häusern ankünden. Sie tragen den Bewohnern den in der Region hochgeschätzten, wortlosen Jodel (Zauren) vor und erhalten für diesen Neujahrsgruß im Gegenzug Wein und ein Geldgeschenk. Urnäsch erlaubt sich die zweimalige Durchführung des Brauchs – sowohl der 31. Dezember wie auch der alte Silvestertag des julianischen Kalenders, der 13. Januar, werden genutzt. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts wurde von einem »Bettelbrauch« gesprochen, erlaubte er den ärmeren Menschen doch in einfacher Verkleidung an Silvester Essen und Trinken zu erbetteln. In der

15 Die Darstellungen der drei Events ist hier stark vereinfacht, die jeweiligen sozialen Situationen stellen sich auch in ihrer historischen Entwicklung erheblich komplexer dar.

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Zwischenkriegszeit beginnt eine ästhetische Steigerung der Kostümierung, und nach dem 2. Weltkrieg bilden sich die Charakteristika eines Wohlstandsbrauches heraus: ein Kostümtyp differenziert sich in derer drei, die Investition seitens der aktiven männlichen Akteure in die Gestaltung dieser Kostüme ebenso wie in die Pflege des Gesanges erhöht sich. Im Lauf der Jahrzehnte sind entsprechend Verschiebungen auszumachen: die ästhetischen Dimensionen erfahren eine Betonung und Ausdifferenzierung; die Viktualien verschwinden aus dem direkten Dankangebot der Besuchten; dafür erhöhen sie das Geldgeschenk an die Brauchträger, die wiederum mehr in ihre Verkleidung investieren und sich mit diesem »Lohn« im Lauf des Brauchtages während der Ausruhephasen auch größere gemeinsame Mahlzeiten leisten. Praktiziert und gefühlt – und im Lauf des letzten Jahrhunderts merklich gesteigert – haben sich die Praxis und Wertschätzung der visuellen und auditiven Ästhetik. Ebenfalls gesteigert hat sich das positive Bewusstsein der (männlichen) körperlichen Ritualerfahrung – nicht zuletzt weil körperliche Anstrengung mit dem Rückgang bäuerlicher Berufstätigkeit auch stärker in die positiv konnotierte Freizeitbeschäftigung verschoben worden ist. Das Silvesterklausen wird auf der kommunalen Ebene als eine wichtige und hochbewertete Erneuerung der Dorfgemeinschaft wahrgenommen – die Männergruppen durchziehen im Lauf der zwei körperlich enorm anstrengenden Tage sowohl den Dorfkern wie die weit auseinander liegenden Bauernhöfe und markieren damit die Zugehörigkeit zu einem dörflichen Ganzen. Das Wertbewusstsein erfuhr in der Nachkriegszeit einen erheblichen Aufschwung durch kulturwissenschaftlichen Wissenstransfer: Ein aus dem Unterland nach Urnäsch versetzter Lehrer und Laienvolkskundler vermittelte damalige – wissenschaftlich längst überkommene – Erkenntnisse zu vorchristlichen Winterbräuchen und überzeugte Jugendliche, eine »Rückführung« des Brauches auch in seiner ästhetischen Ausgestaltung vorzunehmen. Er war darin so erfolgreich, dass die Dorfgemeinschaft nachhaltig annimmt, im Silvesterklausen einen uralten und damit besonders wertvollen Brauch durchzuführen. Die ästhetische Investition und Steigerung lässt sich unmittelbar mit diesem Impuls verbinden. Eine Generation später förderte ein zweiter Laienvolkskundler, der Dorfarzt, zusammen mit einem historisch interessierten Lehrer und weiteren Interessenten die Gründung eines Lokalmuseums. Hier wurde nun nicht nur das Silvesterklausen sondern

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weitere Facetten dessen aufgenommen, was im internationalen Diskurs mit traditional cultural expressions und traditional knowledge bezeichnet wird, und sowohl für die lokale wie die touristische Wertschätzung aufbereitet. Transhumanz-Brauchtum und entsprechende Kleidung und Schmuck, Naivmalerei aus der Region, Stickereihandwerk, die Käserei und der Bereich der Naturheilkunde wurden nach und nach in die Ausstellung eingegliedert und in Buchpublikationen auch wissenschaftlich durchleuchtet. Der Brauch des Silvesterklausens bleibt durchaus zentral, aber die Arbeit, die in dieses Museum fließt, ist an einige wenige delegiert. Die Brauchakteure selbst haben damit wenig zu tun, außer dass sie besonders gut erhaltene, ausgediente Kostümierungen dem Museum zur Verfügung stellen. 16 Appenzell Ausserrhoden verzeichnet keine großen Tourismuszahlen – Menschen auf Tageswanderungen, Bustouristen auf der Durchfahrt und allenfalls auch Schulklassen besuchen das Museum. Die musealen Schwerpunkte sind entsprechend eher ideell: Das Haus soll identitätsstiftend und bewahrend wirken. Ein 2011 von einem Nicht-Urnäscher fertiggestellter Film zum Silvesterklausen vermittelt die ästhetische Tiefe der Braucherfahrung und mag zeigen, warum junge Männer auch in die Region zurückkehren, um aktiv in das Brauchgeschehen involviert zu bleiben (Rickenmann 2011). Die Überzeugung, einen seltenen und besonders schönen Brauch auszuüben, hat nun auch dazu geführt, dass der Kanton Appenzell Ausserrhoden das Silvesterklausen als immaterielles Kulturerbe der Schweiz vorgeschlagen hat.17 Die wirtschaftliche In-Wertsetzung des Brauches lässt sich parallel zu dessen ästhetischer Aufwertung nachweisen, bleibt jedoch weit weniger betont als das ideelle und soziale Wertbewusstsein. Traditionsträger initiie-

16 Manche Akteure musealisieren allerdings ihre nicht mehr verwendeten Kostüme selbst, z.T. mit erheblichen Investitionen wie z.B. einem klimakontrollierbaren Raum. Diese Eigenverantwortung für das Kulturgut »Jahresbrauch« ist nicht einzigartig für Urnäsch. Zu beobachten ist es etwa auch für die Roitschäggätä im schweizerischen Lötschental, wo Brauchakteure begonnen haben, Masken, die seit langem weltweit verkauft werden, zurückzukaufen, um sie bei sich zu Hause aufzubewahren (ich danke Thomas Antonietti für diesen Hinweis). 17 Im Winter 2012 lässt sich festhalten, dass das Silvesterklausen in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Ob es auch in die finale, der UNESCO vorzuschlagende Liste aufgenommen werden wird, steht erst im Sommer 2012 fest.

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ren und praktizieren dies in unterschiedlicher Weise. Es gibt den Bus- und Bahntourismus am Alten und Neuen Silvester, den Brauchträger nicht als störend empfinden. Das lokale Gastgewerbe profitiert ein wenig, wobei im Rest des Jahres die Besucherzahlen mittelmäßig sind – die Auslastung der Gaststätten wird eher durch Einheimische als durch Fremde gewährleistet. Es gibt Einzelinitiativen wie die Publikation von Kalendern, und parallel zur Museumsinitiative bzw. auch getragen vom vertieften Bewusstsein, ein besonderes Kulturgut auszuüben, haben Brauchakteure selbst auch CDs mit ihrem Zauren aufgenommen, an Brauchvorführungen außerhalb des Dorfes teilgenommen und Foto-Publikationen mitgetragen. Ein vor einem Jahrzehnt verstorbener Naivmaler hat diesem Brauchsujet vielleicht etwas mehr Raum gewidmet als anderen regionaltypischen Gemäldemotiven. Insgesamt lässt sich jedoch argumentieren, dass lokale Wertschätzung und -erfahrung und die In-Wertsetzung des Kulturgutes Silvesterklausen sich nicht in die Quere kommen. Betrachtet man die Brauchträger in Urnäsch, so sieht man vor allem Männer mit erheblichem Wissen um Brauchdynamiken, aber auch enormer Lust an ihrem Silvesterritual. Museumsaufbau, Publikationen und alljährliche Zeitungsberichte lassen das Geschehen nicht unverändert, aber sie haben die Reihung von Wertzuschreibungen, in welchen das ästhetisch-körperliche Erfahren dominiert, nicht vermindert sondern eher noch gesteigert. Die Japanesen in Schwyz 18 Dieses lose mit fastnächtlicher Tradition verbundene Theaterspiel im Ort Schwyz in der Innerschweiz ging aus der ironischen Kommentierung einer verfehlten schweizerischen Auslandsmission im 19. Jahrhundert hervor: trotz erheblicher Investition kam die Delegation ohne Handelsabkommen zurück. Ein reichhaltiges Laientheaterwesen ist für die Innerschweiz insgesamt belegbar, und Theaterstücke wurden und werden auch oft in die innerschweizer Fastnacht integriert. Das Japanesenspiel, das alle fünf Jahre in der ersten Januarhälfte zur Aufführung gelangt, hielt jedoch an einem pseudo-japanischen Verkleidungsstil und Set von Charakteren fest – wie etwa dem Kaiser Hesonusode, der sich mit dem Titel Taikun ansprechen lässt.

18 Für eine ausführlichere Beschreibung, vgl. Weibel (2006), für eine Analyse Bendix (1993).

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Inhaltlich greift das Stück jeweils kontemporäre Aspekte aus Politik und öffentlichem Leben auf, blickt aber auch auf überlebte Kontraste zwischen Bergbauerntum und Gelehrtendasein aus dem 19. Jahrhundert zurück, die humoristisch und gereimt dargeboten werden: der Fokus auf fernöstliches Tun der Eidgenossenschaft war einmalig, die Kostümierung dagegen blieb. Welche Werte werden hier praktiziert und gefühlt? Das Japanesenspiel wird von einem Verein getragen, in welchem Amtsträger Organisation und Verantwortung übernehmen und dadurch auch für die Fortführung der Tradition sorgen. Der Fünfjahresrhythmus weist darauf hin, dass eine jährliche Wiederholung des Guten zu viel wäre und den Wert des Ereignisses reduzieren würde. Mitwirken dürfen alle, die möchten, beide Geschlechter, Jung und Alt; die tragenden Rollen werden jedoch sorgfältig zugeteilt. Die Kostümierung, die sich von fastnächtlichem Maskentreiben in ihrer Exotik differenziert, vermittelt gemeinsam mit den genutzten Namen der Charaktere körperliche und mentale Spielfreude; der Vorführungsort unter freiem Himmel vor dem Rathaus belebt das öffentliche Leben in der kalten Jahreszeit. Da das Spiel immer neuen Themen gewidmet ist, bedarf es der Investition von Talent und Witz, generiert aus dem Zusammenspiel von lokaler Wahrnehmung und nationaler bis internationaler Politik. Auch in Schwyz hat sich das Wertbewusstsein durch die Interessen ortsansässiger kulturwissenschaftlicher Wissensvermittler erhöht. Ein heute pensionierter Lehrer agierte auch als Archivar der Japanesengesellschaft und ordnete in dieser Funktion die vorhandenen Quellen und stützte somit auch ein Bewusstsein für deren Relevanz; er dominierte und kontrollierte die mündliche Geschichte des Spiels und publizierte hierzu, wodurch das lokale Bewusstsein, eine besondere Tradition entwickelt zu haben, gesteigert wurde. Die Akteure teilen ein starkes Wertegefühl, eines von wenigen über lange Zeit tradierten, aber eben anderen Theaters in der Region zu sein; die Aufführungen von Calderons Welttheater in der nahegelegenen Klosterstadt Einsiedeln und das noch zu schildernde Tellspiel in Altdorf sind zudem Stücke, die auf festgelegten Texten der Weltliteratur beruhen, während die Schwyzer ihr Stück inhaltlich in jedem Aufführungsjahr verändern. Fast seit Beginn des Japanesenspiels hat das Interesse seitens der Japanischen Botschaft in der Schweiz und der »japanischen Bevölkerung« insgesamt das Bewusstsein gesteigert, eine besondere Tradition zu pflegen. Obwohl die Schwyzer ein »unechtes«, komisch-verfremdetes Gemisch von fernöstlichen Bezügen als Rahmen für ihr Stück erstellt haben, wurden sie

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bereits in den Anfängen der Tradition mit Besuchen des japanischen Konsuls und Geschenken echter Kimonos beehrt. Die Schwyzer waren wohl vom ersten Geschenk des japanischen Konsulates noch im 19. Jahrhundert etwas überrumpelt, denn sie hatten ja einfach ein vorfastnächtliches Theaterspiel gegeben. Hier hat jedoch das öffentliche Auge auch eine Weichenstellung ausgelöst, nämlich die Herausbildung gerade dieser Figuren, die nun nicht mehr wechseln: Die Japanesen sind fixiert und somit auch traditionalisiert. Die Wertschätzung von außen führte zu einer Engführung, die aber auch gleichzeitig eine Wertsteigerung gen innen beinhaltete. Der freundschaftliche Bezug wird bis in die Gegenwart erhalten, das japanische Fernsehen wohnt jeweils einer Aufführung bei, so dass aus dem ersten Anlass für das Spiel – der Belustigung über einen schweizerischen Misserfolg in Japan – eine seriöse Wertschätzung der Schwyzer Japanesenspiele hervorging. Die Schwyzer Akteure tragen dieses sehr unterschiedliche Wertbewusstsein ebenso weiter wie dasjenige, das sich der Belustigung über die eigene Politik und Gesellschaft verschrieben hat. So wurde das im Jahr 2012 eigentlich fällige Japanesenspiel um ein Jahr verschoben, weil es als pietätslos empfunden wurde, weniger als ein Jahr nach der großen Erdbeben- und Nuklearkatastrophe in Japan dieser heiteren Tradition zu frönen. Die In-Wertsetzung zwecks kommerziellen Nutzens ist gering. Um die Aufführung so stemmen zu können, wie sie sich im Lauf der letzten 150 Jahre entwickelt hat, sind Ressourcen notwendig. Es wird also viel mehr Fundraising betrieben, um das Event organisieren zu können. Nach der Jahrtausendwende wurde eine Internetseite eingerichtet, und heute ist es möglich, zwei Monate vor der Aufführung online Karten zu erwerben. 19 Die angewachsene Zuschauerzahl bedingt inzwischen den Aufbau temporärer Sitzplätze. Doch wer den Ort Schwyz besucht, wird vergeblich nach Souvenirs, Japanesenkuchen oder ähnlichen käuflichen Verdinglichungen suchen.

19 Vgl. »Home – Japanesengesellschaft Schwyz« (http://www.japanesen.ch/, abgefragt am 20.12.2011).

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Die Tellspiele in Altdorf 20 Altdorf ist einer der Handlungsorte von Friedrich Schillers Wilhelm Tell. Uri gehört zu den Urkantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und trägt die Bürde, würdevoller Schauplatz des zumindest teilweise historisch verbürgten Geschehens an der Wende des 13. zum 14. Jahrhundert gewesen zu sein, welches die Befreiung aus der Herrschaft der Habsburger und den Beginn einer Demokratie hervorbrachte. Die Schillerbegeisterung, insbesondere diejenige für seinen Tell, die im 19. Jahrhundert in vielen Teilen Europas hohe Wogen schlug, weckte in Altdorf Gefühle sowohl der Verpflichtung wie auch der wirtschaftlichen Hoffnung – denn welcher freiheitsliebende Mensch würde Schillers Tell nicht gerne am Originalschauplatz sehen? Ein Tellspielverein wurde 1898 gegründet, ein provisorisches Theatergebäude wurde durch ein 1925 eingeweihtes stattliches Tellspielhaus ersetzt. Der Verein bemüht sich seit über hundert Jahren um Standards des hochkulturellen Theaters. Er inszeniert mit Laiendarstellern vor Ort, deren Biographien mit den Rollen, die sie z.T. über mehrere Jahrzehnte spielten, verwoben sind und die in der lokalen oral history bruchstückhaft weitergetragen wurden. Ideelle, bildende Werte sorgen hier für die Wirkmacht des Stücks, und durch die geschäftlich geschickte Vereinsleitung kann diese Theatertradition finanziell einigermaßen über Wasser gehalten werden. Wer aktiv im Tellspiel mitwirkt, identifiziert sich – in unterschiedlichen Graden – mit dem Stück, mit Theater als einer Form der Selbsterfahrung und Gemeinschaftlichkeit sowie mit der Altdorfer Tellspielgesellschaft als Verein und sozialer Ort. Im Gegensatz zur Tellspieltradition auf der Freilichtbühne im touristischen Interlaken, wo jährlich und brauchtümlicher inszeniert wird, bemühen sich die Altdorfer um eine beständige Neuinterpretation des Nationalmythos. Um den Inhalt zeitgemäß und damit sowohl für Mitspieler wie auch Zuschauer attraktiv und interessant zu erhalten, sind die Akteure auch willens, einen erheblichen Preis zu zahlen.

20 Eine ausführliche Studie, die das Altdorfer Tellspiel mit der noch älteren Tellspiel Tradition in Interlaken vergleicht, findet sich in Bendix (1989a). Die Tellspielgesellschaft unterhält auch eine Webpage: »Tellspiele Altdorf – home« (http://www.tellspiele-altdorf.ch/main/home/, abgefragt am 04.01.2012).

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Diese Weichenstellung generiert ein Wertbewusstsein, welches die Akteure ihre Theatertradition als lustvoll und energiespendend erfahren lässt; sie zeigen sich auch als kompetitiv motiviert (vis-à-vis professionellen Theaters), und gleichzeitig wirkt die Tellspielgesellschaft auch gemeinschaftsbildend: wenn auch bei weitem nicht alle Ortsansässigen aktiv teilhaben, so werden doch sehr viele jeweils die neue Inszenierung ansehen und über die schauspielerischen Leistungen ihrer Nachbarn reden. Obwohl der Tell-Stoff historisch, literarisch und gesellschaftlich vielfach dekonstruiert worden ist, bleibt seine Macht im schweizerischen Bewusstsein trotz aller ironischen Verfremdung enorm. Die immer wieder stattfindende Diskussion um den Stoff und dessen Verankerung in der schweizerischen Schulbildung vermitteln entsprechend auch stete Werte-Bestätigung an die Altdorfer für ihr Tun. Die verlässlichsten Zuschauer sind Schulkinder ab ca. dem 6. Schuljahr – insofern existiert auch ein Bewusstsein, patriotische und/oder politische Werte zu vermitteln. Die Gründer der Altdorfer Tellspiele im ausgehenden 19. Jahrhundert machten sich noch Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung des Ortes entlang der Gotthard-Passroute. Extensive Werbemaßnahmen selbst ins deutschsprachige Ausland wurden unternommen, um mit dem Spiel an quasi »heiliger« Stätte Tourismuseinnahmen zu generieren. Die wirtschaftliche In-Wertsetzung erwies sich jedoch als weniger erfolgreich als die ideellen und sozialen Werte des Unternehmens. Altdorf betreibt heute Fundraising, um sich einen professionellen Regisseur leisten zu können und bewirbt die Spielsaison jeweils erstklassig – aber oft mit Talenten aus den eigenen Reihen. Der Bau eines eigenen Tellspielhauses und dessen Bewirtschaftung in den Nichtspieljahren ringt dem Verein vieles ab: die Transaktionskosten zur Aufrechterhaltung von Haus und Tellspiel sind hoch; dass sie erbracht werden, deutet auf die nicht-wirtschaftlichen Werte, mit welchen das Tellspiel besetzt ist. Natürlich kann jeder Besucher in Altdorf, egal zu welcher Jahreszeit, Telldenkmal und Tell-Kapelle(n) besuchen und entsprechende Souvenirs erwerben – diese sind jedoch nicht mit dem Tellspiel verwoben.21

21 Gewisse Ähnlichkeiten mit den im 10-Jahres-Rhythmus stattfindenden Oberammergauer Passionsspielen können hier angedeutet werden, obwohl die Altdorfer sich die »Authentizität« ihres Spielortes vorbehalten würden.

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D IE N UTZUNG KULTURELLER R ESSOURCEN : AUSBLICKENDE GEDANKEN Die drei Beispiele verfügen über starke, wenn auch höchst unterschiedliche lokale Trägerstrukturen. Bei allen kann man von einem hohen bis sehr hohen emotionalen Gewinn für die aktiven Akteure sprechen, was die Aufrechterhaltung und bewusste Repräsentation des Kulturgutes betrifft. Der Gewinn auf der Ebene der »Identitätsstiftung« divergiert, und das ideelle ebenso wie das wirtschaftliche Potential wird unterschiedlich gehandhabt. Alle drei genießen ein wenn auch unterschiedliches Maß der öffentlichen Zuwendung im ideellen Sinne; sowohl die Schwyzer wie die Altdorfer müssen sich außerdem regelmäßig um finanzielle Förderung bemühen. Die öffentliche Wahrnehmung und Dokumentation bringt auch ein Maß der Verantwortung – man muss weitermachen – ein Element, das durch das Welterberegime ebenso wie durch die touristische Zuwendung in anderen Fallbeispielen jedoch viel extremer zu spüren ist. Gleichzeitig muss angeführt werden, dass Welterbe-Listungen, die zwar gemäß der UNESCOKonvention von oder zumindest mit den communities getragen werden sollen, in vielen Fällen wesentlich durch außenstehende Individuen und Organisationen, bzw. auch den Staat, vorangetrieben werden. 22 Bei den drei skizzierten Beispielen bleibt die Verantwortung für die Durchführung und Form der In-Wertsetzung der jeweiligen kulturellen Ressource in der Hand der lokalen Akteure, für die der Status Welterbe nicht unbedingt erstrebenswert ist. Dies ist einerseits der föderalistischen Struktur der Schweiz zuzuschreiben: Brauchtum, ob informell oder in vereinsförmiger Trägerschaft, ist ein Klubgut im ökonomischen Sinne und keine nationalstaatliche Allmende. Dazu kommt eine stets intensivere Wahrnehmung von Kultur als Lebensressource, wie sie auch von der Wissenschaft transferiert und – wenn auch oft kritisch-dynamisch – mitgetragen wird (vgl. Eggmann/ Schürch/Risi 2010, Eggmann/Oehme-Jüngling in Vorbereitung). Die Kul-

22 Dies hat wiederum die UNESCO anlässlich der jüngsten Sitzung zum Intangible Cultural Heritage vom 22.-29. November 2011 bewogen, Nominierungen in Zukunft noch stringenter daraufhin zu prüfen, ob die ein Kulturgut tragenden communities selbst aktiv und prominent am Nominierungsdossier mitgearbeitet haben (persönliche Kommunikation von Chiara Bortolotto, die der Sitzung auf Bali beigewohnt hat).

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turwissenschaften des frühen 20. Jahrhunderts mit ihrem »Retten und Bewahren«-Impuls trugen viel zur Bewusstwerdung des »Wertes« von Tradition bei und förderten damit eine Form der In-Wertsetzung, nämlich die Wertschätzung eigener Traditionen. Der kulturwissenschaftliche Tenor der jüngsten Jahrhundertwende, geformt von Konstruktivismus, postkolonialen Debatten und Foucault’scher Suche nach Disziplin- und Machtdispositiven trägt v.a. zum Verständnis der Rolle des eigenen Faches in der Veräußerlichung des Habituellen und dessen Weg zum Ressourcenstadium bei (was der vorliegende Beitrag ebenfalls tut, aber zugleich zu überwinden versucht). Wie viel von Wissensparadigmen aus welcher Epoche jeweils in Form von Wissenstransfer wieder zu einem verinnerlichten und/oder reflektierten Aspekt kultureller Praxis wird, lässt sich höchstens anhand von Fallbeispielen erahnen. Das Ineinanderwirken und Zusammenarbeiten von Kulturträgern und Kulturwissenschaftlern in der Verdeutlichung der Ressourcenhaftigkeit von Kultur dürfte mittlerweile auch beiden Seiten bewusst sein (vgl. Bendix 2008), was anhand der schweizerischen Auseinandersetzung mit UNESCOAngeboten auch deutlich wird. Seit 2010 befindet sich die Schweiz dabei, die 2003er Konvention zum immateriellen Kulturerbe zu ratifizieren. Sie hat hierfür ein föderal-demokratisches Vorgehen angelegt welches die anhand der drei Beispiele dargestellte souveräne Handhabung der »eigenen Kultur« als selbst zu genießende, nutzende, verändernde Ressource respektiert und gleichzeitig Raum für Innovation bietet. Das mit der Aufgabe betraute Gremium (in welchem wiederum Kulturwissenschaftler mitarbeiten) übertrug die Nominierungsaufgabe an die Kantone, welche wiederum selbst – z.T. auch wieder mit Unterstützung von Kulturwissenschaftlern – Nominierungen auf kantonaler Ebene vorantreiben sollten. Gleichzeitig wurde eine Internetseite eingerichtet – »Lebendige Traditionen« –, auf welcher Bürger von all überall Vorschläge machen konnten, was sie als immaterielles Kulturerbe betrachten und potentiell gerne nominiert sähen.23 Das schweizerische Prozedere, das von manchen Bürgern mit

23 Die Seite kann nach wie vor betrachtet werden, obwohl die aktive Nominierung im Sommer 2011 geschlossen wurde. Auf »www.lebendige-traditionen.ch/« (abgefragt am 09.03.2012) lassen sich Teilergebnisse einsehen, wie z.B. der Zusammenschluss mancher Kantone zur gemeinsamen Listengenerierung. Auch die Koordinationsmechanismen werden erkennbar.

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leiser Ironie, von anderen in sportlichem Ehrgeiz aufgegriffen worden ist, zeigt das, was man eigentlich in jedem Staat als Resultat von UENSCOKonventionen sehen kann: Wer sich zur Ratifizierung der Konventionen entscheidet, muss ein Prozedere zur Auswahl, Nominierung und bei Erfolg Implementierung erdenken. Es bedarf der Rahmenbedingungen, die durchaus auch rechtlich abgestützt sind.24 Bürokratien werden sich um diese Prozesse bilden und es ergeben sich, auch rein visuell, Listen von lebensweltlichen Phänomenen, die man zuvor mehr oder minder bewusst ge- und erlebt hat. Nur: Schweizer haben in ihren jeweiligen Kantonen und Regionen im Lauf von gut 200 Jahren touristischer ebenso wie föderalistischer Entwicklung diesen Prozess schon in so vielfacher Weise durchlaufen, dass die Aufforderung, eine Liste für die große Weltbühne des Weltkulturerbes immaterieller Art zu generieren, eher zum Anlass einer Überprüfung von Wertsetzungen im Inneren des Landes wurden. Vermeintlich verstaubtes Kulturgut wurde den kulturellen Neuerungen durch Technik, Einfluss migrantischer Bevölkerungen, und urbanen Jugendkulturphänomenen gegenübergestellt. Die kleine Zahl noch zu bestimmender finaler Nominierungsdossiers dürfte weit weniger einflussreich sein als der föderale Prozess, der Diskussionen um hunderte von potentiellen »Erbgütern« zu Tage förderte (vgl. Graezer-Bideau 2012, Lettau 2012). In-Wertsetzungsprozesse von Kultur und damit die Wahrnehmung von Kultur als einer Ressource haben in der Schweiz und auch anderorts ebenso eine Tradition wie die durch sie prädikatisierte Kultur: Erstere als metakulturell zu bezeichnen, ist entsprechend, wie eingangs ausführlich dargelegt, noch am ehesten aus wissenschaftlicher, aber kaum aus gelebter Praxis

24 Während der Laufzeit der genannten Internetseite war auch folgender Passus zu lesen: »Das Bundesamt für Kultur behält sich vor, Einträge ohne Begründung zu kürzen oder nicht zu publizieren, insbesondere wenn sie gesetzliche Regelungen verletzen, themenfremd sind oder nicht in Deutsch, Französisch, Italienisch, Rumantsch oder Englisch verfasst sind. Der Bund ist berechtigt, die Einträge in jeder Form, namentlich elektronisch und auf dem Internet, zeitlich und örtlich unbeschränkt und unentgeltlich zu nutzen. Der Bund lehnt jede Haftung für die Verwendung der Einträge durch Dritte ab. Der Eintragende ist verantwortlich für den Inhalt der Einträge und stellt den Bund in dieser Hinsicht von jeglichen Ansprüchen Dritter frei. Es ist möglich, dass der Eintrag von Suchmaschinen erfasst wird und auf anderen Webseiten erscheint« (abgefragt am 15.01.2011).

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sinnvoll. Das Spektrum von Leidenschaft bis Kalkül, welches Menschen sowohl im Erleben wie auch im In-Wertsetzen ihrer kulturellen Ressourcen erfahren und einsetzen, werden wir besser verstehen, wenn wir die Trennung dieser beider Sphären durchbrechen.

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Die ganze Welt auf einer Insel Tourismus und die Inszenierung moderner Zeitlichkeit auf der Insel La Réunion D AVID P ICARD

Kürzlich erhielt ich eine E-Mail mit dem verheißungsvollen Slogan: »La Réunion: die ganze Welt auf einer Insel«. Der Absender war das deutsche Büro des réunionesischen Tourismusverbandes. Die E-Mail lud zum Urlaub auf der Insel im westlichen Indischen Ozean ein. Ähnlich wie etwa bei Produkt- oder Firmenlogos, in deren Design viele Gedanken und viel Geld fließen, versuchen Slogans für Tourismusdestinationen deren touristisch relevante Identität in einer kurzen Kombination von Worten zu essentialisieren. In diesem Sinne ist der Slogan »Die ganze Welt auf einer Insel« wohl nicht jemandem spontan unter der Dusche eingefallen. Vielmehr – und es ist mein Anliegen, dies in diesem Kapitel zu zeigen – verkörpert er ein übergreifendes Leitbild, das die sozialen Realitäten innerhalb der Insel und deren Beziehung zum Rest der Welt darstellt, dabei aber auch idealisiert, projiziert, inszeniert und lenkt. Es ist ein Leitbild, das La Réunion nach außen sichtbar macht und gleichzeitig ihren Bewohnern ein Modell anbietet, sich selbst darzustellen und durch die Performance dieser Darstellung in einer weiter gefassten sozialen Welt teilzunehmen, welche die Insel in einen globalen Sozialraum integriert. Die Insel wird hierdurch zum Schauplatz der Inszenierung der vermeintlichen Geschichte einer ganzen Welt, ein touristisch greifbar gemachtes miniaturisiertes Modell einer schwer fassbaren vermeintlichen Ordnung, welche das moderne Denken dem weiteren Kosmos und der Zeitlichkeit des

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Daseins zuschreibt. Leitideen moderner Geschichtsphilosophie – zum einen solche, die Fortschritt als eine unabdingbare Grundlogik sehen, und zum anderen solche, die Geschichte als progressive Entfremdung von einem natürlichen Urzustand interpretieren – dienen hier als symbolische Superstrukturen, die im theatralischen Raum des Tourismus zum Leben erweckt werden. Die Insel wird zu einem Weltentheater, in dem Touristen die Werte und Grenzen moderner Zeitlichkeit erfahren, rituell durchleben und letztendlich bestätigen und reproduzieren. Der Alltag des sozialen Zusammenlebens auf La Réunion wird zu einem menschlichen Garten stilisiert, in dem Gesellschaft – ähnlich wie Pflanzen, Räume und Artefakte in anderen Gartenformen – so kultiviert und geformt wird, dass sie den mythischen Bildern moderner Zeitlichkeit entspricht, diese verkörpert und touristisch erlebbar macht.1 Durch eine Analyse journalistischer und literarischer Texte, touristischer Raumpraxis, strategischer Raumentwicklungspläne und lokaler Feste und Folklore werde ich etwa zeigen, wie sich Bergbauern im Inneren der Insel zur heldenhaften Ikone eines ursprünglichen Menschseins stilisieren: Durch das sich Aufbäumen gegen eine vermeintlich wilde und unbedingte Natur stellen sie die Idee des freien Willens und der Geschichtlichkeit als Grundmotiv menschlichen Seins dar, während sich in ähnlicher Weise Küstenbevölkerungen als ein zeitgenössisches Gesellschaftsideal erheben, welches Kreolität als ein universelles Modell für die Zukunft der globalen Menschheit beansprucht. Oberflächlich gesehen wird die zur Schau gestellte Natur und Alltagskultur somit zur Ware (Touristen bezahlen schließlich für ihren Urlaub), aber gleichzeitig auch zum identitätsstiftenden Mittel der sozialen Teilnahme – sowohl für Touristen, als auch für Réunionesen. In diesem Sinn ist Kultur keineswegs eine für Insulaner und Touristen sinnentleerte »commodity«, wie Autoren wie John Urry (2002) es generell anzunehmen scheinen, sondern, im Gegenteil, ein sinnstiftender Akt im sozialen Gesellschaftsschauspiel der touristischen Weltbühne. Moderne Urlaubswelt und moderne Alltagswelt entstehen als sich gegenseitig konstituierende Sozialräume, die die vom jeweils anderen ausgehende Magie brauchen und benutzen, um sich selbst zu erhalten und zu erneuern. Wenn, wie von Autoren wie etwa Dean MacCannell (1976) beobachtet, Urlaub und das touristische

1

Die Idee des menschlichen Gartens habe ich in meinem Buch Tourism, Magic and Modernity weiterentwickelt (Picard 2011).

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Durchleben urlaublicher Fantasiewelten der Erneuerung gesellschaftlicher und sozialer Grundwerte und Erzählformen des Daseins dienen, dann läge es nahe anzunehmen, dass es Tourismus als modernes Gesellschaftsphänomen erlaubt, die moralische Ordnung einer übergreifenden modernen Zeitlichkeit zu definieren, darzustellen und zu durchleben. »Die ganze Welt auf einer Insel« würde somit zur gesellschaftlich verkörperten Inszenierung einer solchen Zeitlichkeit, welche die räumliche und soziale Struktur der Insel und das Selbstverständnis ihrer Bewohner neu definiert. Ziel dieses Kapitels ist es, den ästhetischen und ideologischen Rahmen dieser auf La Réunion dargestellten Zeitlichkeit zu analysieren und aufbauend darauf, Prozesse ihrer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Mobilisierung und letztendlichen Aneignung im weiteren Kontext eines sich auf der Insel entwickelnden globalen Gesellschaftsraums zu erforschen.

MODERNE Z EITLICHKEIT AUS ANTHROPOLOGISCHER S ICHT Das Konzept der Zeitlichkeit beschreibt eine sozial konstruierte ontologische Grundordnung, durch die Zeit verstanden und in einer weiter gefassten kosmologischen Ordnung verortet wird. Zeit, die von einem wissenschaftlichen Ansatz her in sich keiner spezifischen Logik zu folgen scheint, wird im sozialen Umfeld kollektiv sinnvoll gemacht, als ob es doch einen tiefer gehenden Sinn des Seins und Vergehens gäbe. Der anthropologische Ansatz von Zeitlichkeit ist hier dem philosophischen entgegengestellt; sein Ziel ist nicht Zeitlichkeit an sich zu erklären, sondern auf empirischen Beobachtungen aufbauend zu ergründen, wie Menschen Zeit verstehen und sozialisieren. Das Spannende an der Analyse moderner Zeitlichkeit liegt in der offensichtlichen Spannung zwischen dem rationalen Ideal modernen Denkens, welches der Idee einer religiösen oder metaphysischen – göttlichen oder naturgegebenen – Zeitlogik widerspricht, und dem Wunsch der »modernen« Menschen, ihr Dasein sowie verschiedene Geschehnisse und Formen des sozialen Miteinanders in zeitlich begründete Geschichten zu verpacken und den Abläufen dieser Geschichten einen tieferen moralischen Sinn zuzuschreiben. In Anknüpfung an ein klassisches Thema der Anthropologie tauchen in der modernen Kultur somit Elemente des magischen

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Denkens auf, welche sich unter anderem im Glauben an einen höheren Sinn des Lebens auszudrücken scheinen. Wo Menschen überzeugt sind, dass nichts aus Zufall passiert und das Streben nach dem Schönen, Guten und Wahren Personen zu besseren Wesen macht, ist Zeit mit einer moralisch begründeten Logik belegt. Die theologischen, materialistischen und naturalistischen Zeitmodelle der westlichen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts haben hier offensichtlich Eingang in die Werte und Weltvorstellungen der modernen Menschen gefunden und werden somit in sich selbst zum sozialen Tatbestand. Sie sind nicht nur philosophische Reflektionen über den Sinn des Seins, sondern normative Modelle, die Gesellschaft formen, Handlungsmuster vorgeben und Sinn stiften. Eines der wohl dominantesten modernen Modelle, Zeit und das damit verbundene Dasein sinnvoll zu machen, liegt wohl in der weitverbreiteten Maxime des Strebens nach Perfektion, welche sowohl in tief religiösen Umfeldern als auch im Kontext wissenschaftlicher Philosophie und weltlicher Alltagspraktiken auftaucht, etwa im Tourismus. Der katholische Katechismus beispielsweise definiert den Sinn des Lebens als ein Streben nach in Gott gefundener Perfektion und Schönheit, die in sich das Gute und Wahre beinhaltet und somit zu einem unbedingten moralischen Wert erhoben wird (Catholic Church 1993). Die Maxime, durch die Beobachtung von Gott und Natur und ihrer Gesetze als Gottes Kreation nach Perfektion zu streben, ist keineswegs auf religiöse Milieus beschränkt. Der Wunsch und die Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten konstituiert das philosophische Rückgrat der europäischen und nordamerikanischen Romantik und verbleibt eines der Grundmotive moderner Wissenschaft und touristischer Praxis heute. Gott wird hier lediglich durch einen weiteren Naturbegriff ersetzt und entpersonalisiert; die Idee des GöttlichErhabenen als eine unterschwellige Kraft oder Macht bleibt jedoch meist erhalten und taucht, wie zuvor im religiösen Umfeld, in Form von Transfigurationen in der Natur und im Alltagsleben auf. Der Atomphysiker Werner Heisenberg (1969) etwa findet göttliche Perfektion in den Grenzbereichen der physikalischen Erkenntnisforschung. Harry Haller, Romanfigur des Neo-Romantikers Hermann Hesse (1974), findet in der Musik, Kunst und Poesie »eine goldene göttliche Spur«, die er anderweitig von der bürgerlichen Alltagsordnung verdeckt glaubt. Ähnlich erscheint Herrn und Frau Normaltourist das Göttlich-Erhabene in Form von Wasserfällen, wilder Natur, schöner Menschen, bunter Korallenriffe, herrlicher Kunstwerke

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und wundervoller Sonnenuntergänge (Picard/Robinson 2012). Natur wird hier zu einer übergreifenden unbedingten Ursprungswelt, deren menschliche Beobachtung, Verherrlichung, Kultivierung, Unterdrückung und Zerstörung Bilder und Aktionsmuster moderner Zeitlichkeit liefern.

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DES INSELMODELLS

La Réunion ist seit 1946 ein französisches Überseeterritorium und somit Teil der Europäischen Union. Ursprünglich von der französischen Ostindienkompanie als Versorgungshafen auf der Seeroute nach Indien benutzt, wurde die Insel seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiger Vanille- und Rohrzuckerproduzent und -lieferant Frankreichs. Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist Tourismus der wichtigste Wirtschaftssektor. Im Gegensatz zu den anderen Inseldestinationen im Indischen Ozean – Mauritius, Sansibar, Malediven, Sri Lanka und Seychellen – besitzt La Réunion keine ausgedehnten Sandstrände, Palmenhaine oder türkisblauen Lagunen. In den Augen einer Mehrheit der vor allem europäischen Touristen, Reisejournalisten und Tourismusanbietern verkörpern jedoch genau diese Imaginärräume das Ideal tropischer Insularität. Mit relativ rasch wechselnden Slogans versuchte La Réunions Tourismusbehörde seit Ende der achtziger Jahre, die Insel als Alternativtourismusdestination zu etablieren. Anfangs wurde sie als »Île à grand spectacle« (Insel des großen Spektakels) beworben, seit Mitte der neunziger Jahre als »l‘île intense« (Die intensive Insel), und seit Anfang des 21. Jahrhunderts als »1000 îles dans une île« (1000 Inseln in einer Insel). Teil der Aufgabe des deutschen Büros des réunionesischen Tourismusverbandes war, die Insel in Deutschland als Destination zu etablieren und zu vermarkten. Es war nicht einfach, die auf französisches Publikum zugeschnittenen Slogans zu übersetzen. Letztlich wurde aus »1000 îles dans une île« »Die ganze Welt auf einer Insel«. Ich erhielt die eingangs erwähnte E-Mail, weil wohl einer der vielen Internetseitenbetreiber, bei denen ich registriert bin, meine Daten weitergegeben hat. Der Slogan »Die ganze Welt auf einer Insel« greift ein Bild auf, das regelmäßig in früheren Epochen und in verschiedenen anderen Kontexten auftaucht. Die Anthropologin Susan Stewart (1984) etwa zeigt, wie speziell konzipierte Räume und Objekte als miniaturisierte Repräsentationen einer

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weiteren Welt oder eines übergeordneten Ganzen dienen. Zum Beispiel spiegelt das Design von Kirchen, Gärten, Liturgien oder Kunstobjekten oft Ideen einer symbolischen und auch ästhetischen Ordnung wider. Solche Miniaturen erlauben, Ideen einer weiteren oder »höheren« Ordnung der Welt und des Daseins zu formulieren und sichtbar zu machen. Im Sinne des Anthropologen Alfred Gell (1992) dienen sie ebenfalls als Technologien des Bezauberns; Miniaturen geben nicht nur Antworten auf Fragen über Sinn und Dasein, sie dienen auch oft als Mittel der Überzeugung. Durch ihre Versprechungen und Verheißungen, durch ihre unmittelbare Erfüllung erotischer Bedürfnisse und durch die Verschaffung von Möglichkeiten sozialer Teilnahme und Erinnerung verführen sie den Betrachter, der, wenn er nicht aufpasst, wenn er sich »gehen lässt«, anfängt, der Rhetorik der Miniatur Glauben zu schenken. Durch institutionell organisierte Repetitionen etwa im Rahmen schulischen Lernens, kirchlicher Liturgie, touristischer Praxis oder rituellen Bestätigens verschiedener ästhetischer Werte im Alltagsleben werden die durch die Miniatur vorgeschlagenen Antworten auf Fragen des Daseins etwa normalisiert und naturalisiert. Sie werden zu dem was Pierre Bourdieu (1977) habitus nannte, einem nicht bewussten Set von moralischen und prozessualen Regeln, die dem individuellen Handeln und Denken Struktur verleihen. Der »Zauber« der Miniatur liegt demnach in ihrer Möglichkeit, eine weitere Welt durch Formen der Analogie bewusst, und oft auch unbewusst fassbar zu machen. Eines der zentralen Forschungsanliegen seit den Anfängen der anthropologischen Forschung in Westeuropa und Nordamerika ist die Idee, dass ein Abbild oder ein Modell einer übergreifenden Form, eines weiteren Raumes oder einer göttlichen Kraft diese sowohl unmittelbar greifbar als auch ideell begreifbar macht. Der Anthropologe James Frazer definierte in seinem zum Klassiker avancierten Werk diese sozial etablierte Beziehung zwischen Miniatur und weiteren Räumen oder höheren Ordnungen als sympathetische Magie (1993). Der Schriftsteller Jorge Luis Borges (1997) stilisiert die Idee, dass Abbild und Original Facetten einer Realität sind, als ein zentrales Thema seiner Geschichten und Charaktere. Typischerweise trifft der Held seiner Geschichten auf einen Fremden, nur um letztlich zu erkennen, dass dieser Fremde und der Held ein und dieselbe Person sind. Ähnlich proklamieren viele Religionsgemeinschaften, dass Repräsentationen eines Gotts oder Heiligen diesen Gott oder Heiligen gleichzeitig bereits beinhalten oder zumindest evozieren – und somit in beiden Fällen einen

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vermeintlich realen Kontakt herstellen. »Die ganze Welt auf einer Insel« definiert La Réunion somit als eine Miniatur, als ein Modell einer weiteren Ordnung, und es obliegt den folgenden Zeilen, die Struktur und Ideologie dieser Formulierung »einer ganzen Welt« zu ergründen.

D IE D IALEKTIK VON INNEN UND AUSSEN UND IHRE RÄUMLICHE V ERORTUNG IN L A R ÉUNION Die unterschwellige Struktur dieses Modells bricht »die ganze Welt« in verschiedene in den Inseltraum projizierte Imaginärwelten auf. Im Inneren der Insel trifft man demnach auf »wilde Natur« in Form von Wasserfällen, feuerspuckenden Vulkankegeln und dichten tropischen Wäldern sowie auf Bauernvölker, die ihrer Umwelt Früchte abringen, sich einerseits gegen diese Natur aufbäumen und andererseits mit ihr in Eintracht leben. An der Küste trifft man auf Spuren einer multikulturellen Gesellschaft, manifestiert in verschiedenen religiösen Kultstätten (katholische, buddhistische, hinduistische, islamische, animistische) und in thematischen Museen und Denkmälern sowie in bunten Frucht- und Gemüsemärkten, multikulturellen Folkloregruppen, lachenden Kreolen in bunten Kleidern und scheinbar sorglosen Fischern, die ihre Netze am Strand reparieren. Diese Raumstruktur und die assoziierten Imaginärwelten tauchen fast systematisch in den Texten aller Reisejournalisten und Reiseführer auf. Sie sind ein generelles Ordnungsprinzip der von nationalen und lokalen Instanzen entwickelten Raumentwicklungspläne, der wichtigsten Hauptausflugs- und Reiserouten durch die Insel, der Werbung für lokale Produkte in lokalen Supermärkten sowie der folkloristischen Theatralik und Rhetorik lokaler Feste. Diese Imaginärwelten stehen in einem Zusammenhang, wie Bilder in einem Film sind sie zusammengeschnitten, bilden Kollagen des touristischen Erlebens und der Art, in der die Insel als ein Ganzes dargestellt wird – etwa auf Postkarten, die jede dieser Imaginärwelten aufgreifen, oder in den Trailern von Fernsehreportagen, die als Einleitung einen »kurzen Überblick« liefern. Durch die Anordnung und In-Beziehungsetzung dieser Imaginärwelten entstehen Sequenzen und Narrative, die der Insel als ein Ganzes eine spezielle Raumsymbolik zuschreiben. Der weiteste Rahmen dieser Raumsymbolik entsteht durch eine Hierarchie zwischen Innen und Außen. Das Inselinnere wird hier meist durch die

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Beziehung zwischen einer »wilden« Natur und einer »archaischen« Bauernbevölkerung beschrieben. Der unterschwellige Diskurs, der diese Natur beschreibt und in allen zuvor genannten Medien auftaucht, stilisiert einen Raum, der von Zeit und Mensch unabhängig ist; der da war, bevor Menschen die Täler besiedelten, und der da sein wird, wenn die Menschen nicht mehr da sein werden. Er assoziiert Natur mit Attributen der Reinheit, des Unbedingten und des Göttlichen, und verheißt, dass die vorsichtige Beobachtung dieser Natur erlaubt, »zu sich selbst zu finden« oder »die Urkräfte dieser Natur zu verspüren«. Natur konstituiert somit einen moralischen Ursprungs- und Referenzrahmen, innerhalb dessen sich Leben und Dasein und schließlich Zeitlichkeit entwickeln. Der Diskurs greift hierbei ein klassisches theologisches Paradigma auf, nämlich die Idee, dass die Beobachtung der Natur letztlich zum Göttlichen führt (Lanfant 2009) – eine Idee, die in weiten Teilen den Ansätzen moderner Wissenschaft unterliegt und sich in diesem Falle als ein Grundmotiv westlichen Tourismus zu entpuppen scheint (vgl. den Abschnitt über moderne Zeitlichkeit weiter oben). Wo Urgewalten zu Tage treten, die Erde Feuer spuckt und Wasser aus der Erde sprudelt, erscheint Natur, im biblisch-wörtlichen Sinn von Erscheinung, als eine Transfiguration des Göttlichen; als unbedingte Natur, die der wissenschaftlich und philosophisch proklamierten Geschichtlichkeit des menschlichen Seins wie eine glitschige Bachforelle aus den Händen entfleucht. Innerhalb dieses »wilden« Inselinneren verortet dieser unterschwellige Diskurs eine arme, ländliche Bevölkerung, die in archaischen Verhältnissen lebt und mit rudimentären Techniken, harter Arbeit und Gottes Hilfe der Natur Raum und Macht abringt. Typische Bilder, durch die diese Bevölkerung und ihr »Kampf« mit der Natur dargestellt werden, sind kleine Strohund Holzhäuser, bunt angemalte Wellblechhütten, Frauen, die auf offenem Feuer in überdimensionierten Töpfen kochen, Männer in zerrissenen Kleidern, die mit Hacken und Schaufeln auf dem Feld arbeiten oder Ochsenkarren lenken – meist vor dem Hintergrund hoher Berge, riesenhaften Waldbestandes oder scheinbar undurchdringbarer Wildnis. Die Texte, die diese Bevölkerung beschreiben, sprechen oft vom »menschlichen Aufbäumen gegen die Natur«, den festen Glauben an Gott, mit dessen Hilfe diese Natur bezwungen wird, und auch die »intime« Beziehung zwischen Mensch und Natur, als ob es einen Pakt zwischen Mensch und Natur gäbe; als ob die Natur den Menschen in bestimmten Situationen beschütze. Viele lokale Legenden beschreiben den Schutz, den die von den Plantagen an der Küste

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entlaufenen Sklaven im Schoße dieser Natur im Inselinneren fanden. Andere Legenden erheben die lokalen Bauernvölker zu edlen Wilden, die in Symbiose mit dieser Natur leben und über deren vermeintlich magischen Kräfte verfügen. Die Vermarktung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse dieser Bevölkerung in den Kontaktzonen touristischen Erlebens (zum Beispiel Restaurants und Souvenirläden), aber auch lokale Supermärkte an der Küste greifen dieses spezifische Bild der archaischen Bauern und noblen Wilden oft und gerne auf. Verkaufsargumente sind hier unter anderem, dass den Produkten die gleiche Authentizität anhaftet wie den Menschen, die sie produzieren. Neben der Metapher des noblen Aufbäumens gegen die Natur als ein erster Schritt zur Menschwerdung und biblischer Wendepunkt, welcher den Beginn von Geschichtlichkeit einläutet, liefern die Bevölkerungen des Inselinneren auch Bilder des Scheiterns dieses »Projekts«. Touristische Medien, aber auch Witze, die man sich über die Bergbauern innerhalb der städtischen Küstenbevölkerung erzählt, thematisieren hier gerne Vorfälle von Inzest und sozialer Dekadenz innerhalb der Bergbevölkerungen. Letztere werden hierdurch zu lebenden Bildern stilisiert, welche das mögliche Versagen des Menschlichen und die damit verbundene Regression zum vermeintlich instinktgetriebenen Tier darstellen. Innerhalb der globalen Raumsymbolik der Insel ist das Inselinnere in der Regel den sich am Inseläußeren befindlichen Küstengebieten entgegengesetzt – wie ein Punkt einem sich darum geformten konzentrischen Kreis. Die große Mehrzahl der historischen Museen befindet sich in diesen Küstengebieten, zwei für Vanillekultur, jeweils eines für Zuckerrohr, für Plantagengeschichte, für die romantische Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ein weiteres Museumprojekt für kreolische Geschichte und Kultur wurde letztlich nicht realisiert. Darüber hinaus haben mehrere der größeren Städte der Insel, alle an der Küste gelegen, ihre Zentren tourismusfreundlich renoviert und dabei das architektonische Erbe der Kolonialzeit in Form von Villen, Gärten, Kirchen, Lagerhäusern und Hafen- und Befestigungsanlagen hervorgehoben. Die Küstengebiete werden generell mit narrativen Formen belegt, die sich recht stark von denen des menschlichen Kampfes mit der Natur im Inselinneren abheben. Es geht hier in vielerlei Hinsicht um verschiedene Formen der Geschichtlichkeit. Die den Touristen von Reiseführern, Reiserouten, Raumplanern und Journalisten gezeigten Attraktionen »erzählen«

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von der Multikulturalität der Küstenbevölkerung und auch von den historischen Kontexten, in denen diese Multikulturalität entstand. So steht die Besichtigung religiöser Kultstätten verschiedener Glaubensrichtungen ebenso auf dem Programm wie Museen, die die Entwicklung landwirtschaftlicher, künstlerischer und gesellschaftlicher Formen der Insel erklären. Die Vielzahl der katholischen Kirchen, mehrere hinduistische Tempel, zwei Moscheen, ein buddhistischer Tempel sowie die meisten der animistischen Kultstätten, die touristisch hervorgehoben und besichtigt werden, liegen im Küstengebiet. Die Erzählung fokussiert hier sowohl auf die Individualität einzelner »Kulturen«, aus denen die Bevölkerung »hervorging«, als auch auf das bunte Mit- und Durcheinander dieser Kulturen als ein Resultat historischer Vermischung und Kreolisierung. Die Figur des Kreolischen als Vermischung erscheint hier in verschiedensten Formen; in Erklärungen über kreolische Küche und Glaubensformen als Vermischung verschiedener ursprünglicher kulinarischer und religiöser Praktiken, in Beschreibungen der bunten Frucht- und Gemüsemärkte und der Blumenbeete in den Vorgärten privater Häuser, in der öffentlichen Darstellung und touristischen Vision von phänotypisch gemischtem Hotelpersonal, Schulklassen, Paaren und anderen Leuten auf der Straße.

K REOLITÄT

ALS UNENDLICHE

G EGENWART

Kreolität repräsentiert hier ein Leitbild, über das die Küstenbevölkerung und deren Alltagsleben dargestellt werden, und über das diese Bevölkerungen sich zum Teil auch selbst wahrnehmen. Es erscheint hier als optimistischer Gegensatz zu dem vom französischen Staat für lange Zeit angestrengten Projekt der kulturellen Assimilation der Provinzen und ehemaligen Kolonien. Bis in die späten achtziger Jahre blieb französische Kulturpolitik dem Prinzip der (kulturellen) Unteilbarkeit der Nation treu und verlangte von allen Staatsangehörigen, hier inklusive der Réunionesen, die republikanischen Werte Frankreichs in Form eines bestimmten Geschichtsverständnisses, einer einheitlichen Sprache und eines einheitlichen Staatsapparats zu verteidigen. Die Anthropologin und Aktivistin Françoise Vergès (1999) beschreibt die Ambiguität des republikanischen Projekts in La Réunion, wo die Figur der Mère-Patrie als Ideal eines kolonialen Familiendramas hochgehalten wurde, jedoch in ihrer Weisheit und Reinheit von den

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Réunionesen nach zwei Jahrhunderten Kreolisierung nicht erreichbar war. Bis weit in die achtziger Jahre und bis zum Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges wurde die real existierende kreolische Sprache, Musik und Kunst in La Réunion polizeilich unterdrückt. Anfang der neunziger Jahre schien sich jedoch ein Paradigmenwechsel zu ereignen, der sich bereits in der weiter oben beobachteten Emanzipation und weiten Sichtbarkeit des Kreolischen in den Küstenbereichen der Insel wiederspiegelt. Paul Vergès, charismatischer Anführer der lokalen Unabhängigkeitsbewegung in den sechziger und siebziger Jahren und seine Tochter Françoise Vergès sind zwei der Protagonisten dieses Paradigmenwechsels. Ende der neunziger Jahre wird Paul Vergès als Präsident des Regionalparlaments von La Réunion gewählt und startet mit Hilfe seiner Tochter ein ambitioniertes Museumsprojekt. Das Ziel dieses Projektes ist, Kreolität nicht länger als Unfall der Geschichte, sondern im Gegenteil als geschichtliche Normalität darzustellen. Paul und Françoise Vergès stellen somit das französische Geschichtsverständnis und sein unterschwelliges theologisches Prinzip des Strebens nach Perfektion und Homogenität auf den Kopf; für sie kann es nicht das Ende und Ziel von Geschichte sein, Perfektion in einem ominösen Gott oder philosophischen Ideal von Schönheit oder Reinheit zu finden, sondern allein in der stetig währenden Kreativität der menschlichen Existenz, die im intermenschlichen Kontakt Formen des Daseins stets neu entwickelt, verändert, und sich ständig neu erfindet. Ich habe in einem anderen Aufsatz gezeigt, dass dieser Paradigmenwechsel auf La Réunion nicht isoliert von statten ging, sondern zu einem großen Teil den Wechsel philosophischer Moden in den intellektuellen Zentren der westlichen Welt widerspiegelt (Picard 2010). Kreolität wird erst durch den bewundernden Blick der politischen und intellektuellen Eliten, Künstler, Kulturpolitiker und später Kulturtouristen Westeuropas und Nordamerikas zu einem öffentlich anerkannten Referenzmodel innerhalb der réunionesischen Bevölkerung. Durch diesen Transfer – oder diese »Transkulturation« (Pratt 1992) – wird Kreolität zum Medium der Teilnahme in einem erweiterten globalen Sozialraum und gleichzeitig Symbol einer sich auf lokaler Ebene entwickelnden Modernität. Kreolität suggeriert hier eine Erzählung, die sich verschiedenen sozialen Akteuren als Metapher und Modell einer sich globalisierenden Welt anbietet. Gleichzeitig wird das Konzept im spezifischen Rahmen der lokalen touristischen Kontaktzonen mit La Réunions Kolonialgeschichte ver-

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bunden. Kreolität wird hier oft als Resultat einer »schmerzvollen« Geschichte dargestellt, als ob die Gewalt der Sklaverei ein nötiges historisches Übel gewesen wäre, ohne dessen Erfahrungen Kreolität letztlich nicht hätte erreicht werden können. Kreolität wird somit als ideeller Fluchtpunkt in ein weiteres Geschichtsverständnis eingebaut, das von den verschiedenen historischen Museen und Gedenkstätten der Insel unter Touristen, Schulklassen und lokalen Besuchern verbreitet wird, und dessen Terminologie während der neunziger Jahre Eingang in das lokale Selbstverständnis findet. Kreolität ist hier nicht länger ein kolonialer Makel, sondern wird zu einem öffentlich zelebrierten Symbol lokaler Emanzipation und Modernität.

T OURISMUS

ALS

E RFAHRUNG EINER

GANZEN

W ELT

Wenn man nun – so wie Touristen bei ihren Tagesausflügen in die Berge und zurück zur Küste (80% der Touristen auf La Réunion übernachten in Hotels an der Westküste) – der zeitlichen und räumlichen Sequenz dieser Imaginärräume folgt, ergibt sich ein übergreifender geschichtlicher Handlungsrahmen. Dieser definiert eine imaginäre Zeitreise vom Frühstücksbuffet der morgendlichen Gegenwart zu den Wurzeln des modernen Selbstverständnisses selbst, gefunden in der unbedingten, wilden Natur des Inselinneren. Touristen erkennen hier die ästhetischen und narrativen Schlüsselelemente des biblischen Paradieses: Wasser, das aus der Erde sprudelt und sich in Flüssen sammelt und die Erde fruchtbar macht, milde Temperaturen und ein scheinbar immerwährender Frühling sowie eine Urbevölkerung, die das Land urbar macht, so wie Gott es im Buch der Genesis befahl. Touristische Aktivitäten im Inselinneren beschränken sich meist auf Autofahren, Fotomachen, Mittagessen und gegebenenfalls einem Reiseleiter Zuhören. Während ein relativ kleiner Teil der Touristen mehrere Tage in diesem »Urparadies« meist von Dorf zu Dorf wandernd verbringt, kehrt das Gros der Touristen direkt nach dem Mittagessen zurück zur Küste. Es ist Zeit für Geschichte. Auf dem Weg zum Hotel werden meist einige der religiösen Kultstätten, oft auch ein Museum und ein Stadtzentrum besichtigt. Dem morgendlichen Eintauchen im Paradies folgt demnach ein Durchleben von verschiedenen historischen Ereignissen, welche meist in Bezug zur Kolonialzeit der Insel stehen, sowie Zeit, sich in den Alltagsräumen der Küstenstädte zu bewegen.

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Für viele Touristen, vor allem für jene aus Ländern ohne öffentlich zelebrierte Kolonialgeschichte, hat die Story der Kolonialzeit keinen unmittelbaren Wert. Wie vom Anthropologen Dean MacCannell (1976) in anderen Kontexten beobachtet, liegt der Wert der touristischen Attraktion hier in ihrer metaphorischen Qualität, bestimmte in ihrer Struktur ähnliche Stories oder Zeichen zu evozieren. Unter vielen deutschen Touristen etwa führten Erklärungen über die Umstände und das öffentliche Umgehen mit Kolonialgeschichte und Sklaverei auf La Réunion oft zu Diskussionen und Reflexionen über öffentliche Debatten in Deutschland, die sich mit der Vergangenheit des Holocaust beschäftigten. Die Analogie, die diese Evokation hervorbrachte, liegt hier nicht in den eigentlichen historischen Ereignissen (Holocaust und Sklaverei haben keinen gemeinsamen historischen Bezug), sondern in der Art und Weise, in der über diese Ereignisse gesprochen wird. Ähnlich konstituieren die Erlebniswelten der »wilden Natur« und der »armen Bergbauern« im Inneren der Insel metaphorische Räume, Miniaturen, deren von Touristen empfundener Zauber von ihrer Ähnlichkeit mit vor der Reise existierenden Imaginärwelten stammt. Das gilt auch für die »Zeitreise« zum Ursprünglichen im Inneren und zurück zum Vermischten im Äußeren der Insel, welche in dieser Sequenz ein übergeordnetes Verständnis moderner Geschichtlichkeit vermittelt und in ihrer Form die biblische Narration der Genesis aufzugreifen scheint. Zuerst war da gar nichts, dann Himmel und Erde, und eine Quelle, die die Erde fruchtbar macht, dann die ersten Menschen als Behüter des Gartens, die sich jedoch aufbäumen gegen die Zeitlosigkeit des Seins und vertrieben werden in die Welt der Zeitlichkeit, des Leidens und des Todes. Die große Innovation, die die Insel La Réunion als Inszenierung einer modernen Zeitlichkeit suggeriert, liegt in der Emanzipierung des Konzeptes der Kreolität als zeitlicher Fluchtpunkt und soziale Utopie der Zukunft. Sowohl die religiös geprägte Idee der Ursünde und die darin beinhaltete Maxime, ein Leben lang Buße zu tun und mit Gottes Hilfe einen Zustand von Schönheit und Perfektion in Gott zu finden, als auch die Transformation dieser Idee in den säkularen Kontext der französischen Republik wird auf den Kopf gestellt. Ursünde – das Leben mit all seinen Lüsten, Schmerzen, Widersprüchen, Kontakten und vermeintlichen Verschmutzungen – wird zur sozialen Normalität erhoben. Natürlich läuft diese Sequenz touristischen Erlebens nicht immer in dieser Linearität ab, und das macht den meisten Touristen auch nichts aus.

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Auch taucht im touristischen Erleben eine Vielzahl weiterer Imaginärräume auf, auf die ich hier nicht eingegangen bin. Wie auch immer eine solche Sequenz konkret konfiguriert ist und in welcher Reihenfolge Touristen in verschiedene Imaginärräume eintauchen, wichtig ist, dass die Insel durch ihre Attraktionen und touristischen Räume ein bestimmtes Modell historischer Zeitlichkeit suggeriert, dass es wiederum erlaubt, »die ganze Welt« darzustellen und fassbar zu machen. Zeitlichkeit erscheint hier als eine lineare Story in vier Teilen, initiiert von einer ahistorischen Natur, gefolgt von einer ersten Bevölkerung, die sich mehr schlecht als recht gegen diese Natur aufbäumt, dann der weitere Verlauf der Geschichte, markiert durch Ausbeutung, Unverständnis und Ungerechtigkeit zwischen den Menschen, und eventuell ein Bild der Zukunft, das im Ideal des Kreolischen ein Ziel findet. Neben dieser optimistischen Story von Zeitlichkeit taucht regelmäßig auch eine pessimistische auf. Durch ihre Diskurse über Vergangenheit und Gegenwart idealisieren hier lokale Reiseführer, populäre Lieder, Performances in lokalen Festen, politische Diskurse und touristische Erzählungen einen imaginären Urzustand der Vergangenheit, »als Mensch und Natur noch im Einklang lebten«, »als Menschen sich noch respektierten«, »als das Alltagsleben noch nicht durch die moderne Schnelllebigkeit entfremdet war«, »als man das für das Leben Notwendige noch selbst produzieren konnte«, »als man arm, aber doch so viel glücklicher war«. Während beide Stories in einem gleichen Rahmen von Zeitlichkeit verlaufen – von einem Ursprungszustand in der Natur verläuft die Zeit bis zu einem heutigen Zustand der Vermischung – ist die Schlussfolgerung des pessimistischen Geschichtsverständnisses recht anders. Die Vergangenheit wird, hier ähnlich der Natur, zu einem goldenen Zeitalter stilisiert, in dem die Welt »noch in Ordnung« ist und dann im Laufe der Zeit immer mehr aus den Fugen gerät. Damit verknüpfen sich optimistische und pessimistische Stories von Zeitlichkeit mit der Raumordnung von Inselinnerem und Küste. Kreolität dient auch hier als ein Modell, Zeit zu denken, oder neu zu überdenken – das aus-den-Fugen-Geraten der Welt wird als Normalität dargestellt und fordert Touristen heraus, ihren Pessimismus zu überdenken. Und oft klappt das auch. Viele Touristen finden Antworten auf Fragen der vermeintlich gegenwärtigen Unordnung der Welt oder ihrer persönlichen Welt. »Auch früher war es doch nicht wirklich besser«, ist ein häufig gehörtes Argument

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am touristischen Abendessenstisch, an dem die Erlebnisse und Ereignisse des Tages diskutiert, erörtert und mit Sinn versehen werden.

Z EITLICHKEIT IM TOURISTISCHEN G ESELLSCHAFTSSCHAUSPIEL Als Ergebnis nur weniger Jahre touristischer Entwicklung und globaler Kulturrahmenpolitik wird die ehemalige Zuckerkolonie La Réunion somit in eine neue soziale Beziehung zur Welt gestellt, als eine Miniatur moderner Zeitlichkeit, als Theater eines Stückes, das die ganze Welt vom vermeintlichen Ursprung bis in die nahe Zukunft beinhaltet und fassbar macht; ein Weltentheater, deren Dramaturg unsichtbar in den Schaltzentralen der globalen Kultur- und Umweltpolitik sitzt, der den touristischen Blick steuert, der Gelder gibt und Anerkennung und Bewunderung für die zur Schau gestellten Natur- und Lebenswelten spendet. Die auf der Insel La Réunion inszenierte Zeitlichkeit, die heute weitgehend Eingang in das lokale Selbstbewusstsein und auch in die soziologische Struktur der Bevölkerung gefunden hat, ist daher keine lokale Erfindung. Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung vieler Kulturwissenschaftler, hatten die Réunionesen relativ wenig Spielraum in der Art und Weise, in der die lokale Gesellschaft im Zuge von Tourismusentwicklung und Tourismus relevanter Kulturpolitik umgewandelt wurde. Keines der neuen Leitmodelle lokalen Lebens, die in diesem Moment entstanden – seien es die vermeintlich glücklich-armen Bergbauern oder die vermeintlich lebenslustigen Kreolen – spiegelt lokal signifikante Begebenheiten oder Werte wieder. Die gleichen Leitmodelle kann man als Tourist und Anthropologe auf den meisten anderen Tourismusinseln der Welt beobachten. In diesem Sinne geht die »Rahmendefinitionsmacht« (die Macht, Rahmen des sozialen Lebens zu definieren) klar von den Zentren des kulturpolitischen Wirkens in Europa und Nordamerika aus, und dies bereits seit einigen Jahrhunderten. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts machte der Phänomenologe Theodor Lessing (1921) in seinem Aufsatz über Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen ähnliche Beobachtungen. Lessing kritisierte die dominante Geschichtsphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts, die Geschichte stets als einen linearen in sich logischen Prozess ansah, der in einer unbedingten Natur (oder in Gott) einen Ursprung findet und daraufhin, je nach politischem Gestus, progressiv zu

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moralischem Fortschritt oder zur apokalyptischen Zerstörung der Welt führt. Damals wie heute scheint die Idee eines solchen linearen Prozesses das übergeordnete Modell moderner Zeitlichkeit zu definieren. Diskussionen über Geschichte sind über den vermeintlichen »Sinn« von Geschichte, und selten über ihre scheinbare Sinnlosigkeit. In einem global integrierten Sozialraum obliegt es Tropeninseln wie La Réunion, diese Zeitlichkeit zu inszenieren und somit touristisch fassbar zu machen. Die Insel wird Teil eines globalen sozialen Systems. Hierdurch wird diese Inszenierung eine soziale Rolle innerhalb dieser globalen Gesellschaft – ähnlich etwa der Rolle von Priesterklassen, welche durch ihr Leben und Wirken eine Art Brücke herzustellen scheinen zwischen den mysteriösen Imaginärwelten der Vergangenheit und der Zukunft und dem unendlichen Hier und Jetzt, in dem unsere Leben stattfinden. Tropeninseln und ihre Bevölkerungen werden zum imaginären Fluchtpunkt und zur konkreten Urlaubsdestination, in der sich die moderne Welt- und Moralordnung erneuert.

B IBLIOGRAPHIE Borges, Jorge Luis (1997): El Aleph, Madrid: Alianza. Bourdieu, Pierre (1977): Outline of a Theory of Practice, Cambridge: Cambridge University Press. Catholic Church (1993): Catechism of the Catholic Church. Translated from Latin, Vatikanstadt: Libreria Editrice Vaticana. Frazer, James George (1993 [1890]): The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Hertfordshire: Wordsworth Ed. Gell, Alfred (1992): »The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology«, in: Jeremy Coote/Anthony Shelton (Hg.), Anthropology, Art and Aesthetics, Oxford: Oxford University Press, S. 4063. Heisenberg, Werner (1969): Der Teil und das Ganze: Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München: R. Piper. Hesse, Hermann (1974): Der Steppenwolf: Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Lanfant, Marie-Françoise (2009): »The Purloined Eye: Revisiting the Tourist Gaze from a Phenomenological Perspective«, in: Mike Robinson/David Picard (Hg.), The Framed World: Tourism, Tourists and Photography, Farnham: Ashgate, S. 239-256. Lessing, Theodor (1921): Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München: Beck. MacCannell, Dean (1976): The Tourist: a New Theory of the Leisure Class, New York: Schocken Books. Picard, David (2010): »›Being a Model for the World‹: Performing Creoleness in La Réunion«, in: Social Anthropology 18 (3): 302-315. – (2011): Tourism, Magic and Modernity: Cultivating the Human Garden, New York: Berghahn Books. Picard, David/Robinson, Mike (Hg.) (2012): Emotion in Motion: Tourism, Affect and Transformation, London: Ashgate. Pratt, Mary Louise (1992): Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation, London: Routledge. Stewart, Susan (1984): On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore: Johns Hopkins University Press. Urry, John (2002): The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies, London: Sage. Vergès, Françoise (1999): Monsters and Revolutionaries. Colonial Family Romance and MeÏtissage, Durham: Duke University Press.

Homogenisierung und Differenzierung Zur Ambivalenz touristischer Chronotopie-Konstruktion H ASSO S PODE

Kulturtourismus ist »in«. Lokale Akteure aus Politik und Wirtschaft setzen auf »Kultur«,1 um Touristen anzulocken, und auch in der Forschung ist es en vogue, den Konnex von »Kulturerbe« und »Massentourismus« zu untersuchen.

K ULTUR

VERSUS

T OURISMUS

Die Verbindung von »Kultur« und »Tourismus« ist keineswegs so selbstverständlich, wie es scheinen mag. Traditionell waren dem Bildungsbürger »Kultur« und »Masse« antagonistische Begriffe, ebenso folglich die hehre »Kultur« und das vulgäre Massenphänomen »Tourismus«. Seit zwei Jahrhunderten begleitete das Distinktionsspiel »Ich bin Reisender – ihr seid Touristen« den Prozess der Demokratisierung der Freizeitreise (Hennig 1999; Dahle 2003). Die bislang letzte Hochphase des Touristen-Bashing fällt in die Nachkriegszeit, als der Pleonasmus »Massentourismus« aufkam und linke wie rechte Intellektuelle Sturm liefen gegen die »Massenkultur« –

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Hier und im Folgenden ist nicht jener uferlose Kulturbegriff gemeint, der sämtliche immateriellen und materiellen Hervorbringungen einer Population umfasst, sondern eine als »wertvoll« klassifizierte Auswahl daraus, also ein knappes Gut, das es zu bewahren bzw. zu vermarkten gilt; s.a. Wöhler (2011: 129ff).

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angesichts der schrecklichen Erfahrungen mit pseudo-egalitären Totalitarismen und eines naiven Fortschrittsglaubens erfasste eine zutiefst bürgerliche Werterestauration die westlichen Industrieländer. 2 Freizeit und Massenmedien würden durch inszenierte »Pseudo-Ereignisse« geprägt (Boorstin 1961), wobei der Tourist den Prototyp des »außen-geleiteten« Massenmenschen abgab, der lediglich Vorstrukturiertes konsumiere (Knebel 1960) und dabei fremde Gefilde verheere, wie die Horden des Dschingis Khan (Turner/Ash 1975). Entsprechend verhieß das Thema »Tourismus« in der Wissenschaft wenig Meriten und blieb eine Sache engagierter Außenseiter (Dann/Liebman-Parrinello 2009; Spode 2009). Sie konnten sich immerhin auf den Zeitdiagnostiker Hans Magnus Enzensberger berufen, der 1958 moniert hatte, dass es an »historischer Verständigung« über den Tourismus fehle – und zwar deshalb, weil er eine Sache der »Leute« sei; kaum eine soziale Erscheinung werde daher »so ausgiebig mit Hohn überschüttet, so geflissentlich kritisiert« (1987: 662). Als seit den 60er Jahren das Auto und dann das Düsenflugzeug breiten Schichten den Billigurlaub am Mittelmeer möglich machten, wurden die tumben »Neckermänner«, die in Rimini Eisbein mit Sauerkraut bestellen, zur Lachnummer, und wer auf sich hielt, machte einen Bogen um Mallorca, das vom idyllischen Geheimtipp zur »Putzfraueninsel« mutiert war. Noch Gerhard Polts Erfolgssatire MAN SPRICHT DEUTSH von 1988 lebte von solcherart geschmacklicher Kritik an den ungebildet-spießigen Touristen. Die soziale Distinktion wurde aber auch theoretisch untermauert: Für linke Intellektuelle, wie Enzensberger, war der Tourismus ein »Massenbetrug«, der – wie die kapitalistische »Kulturindustrie« insgesamt – von den »echten« Bedürfnissen und »wahren« Aufgaben ablenke. In den späten 70er Jahren mündete diese letztlich auf dem Entfremdungstheorem3 basierte Kulturkritik dann in der Forderung nach einem »neuen Reisen«: Ein anderes, sanftes, authentisches Reisen wurde dem harten, zerstörerischen, unauthentischen Massentourismus symbolisch entgegengesetzt. 4

2

Im Ostblock erfuhren die »werktätigen Massen« offiziell eine entgegengesetzte

3

Der unbewusst romantische Essentialismus ist das theoretische Grundproblem

4

Vgl. z.B. die von der »Gruppe Neues Reisen e.V.« herausgegebenen Reisebriefe

Wertung, allerdings wurde dabei das »kulturelle Erbe« ebenfalls hochgehalten. solcher Tourismuskritik (Spode 1995). ab 1980; »neu« war das Konzept eines oppositionellen, pointiert frugalen Reise-

H OMOGENISIERUNG UND D IFFERENZIERUNG

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Inzwischen wird das etwas entspannter gesehen. Die Globalisierung, die Pluralisierung der Milieus und die Verflüssigung der Lebenslagen, wie sie die Soziologie seit dem späten 20. Jahrhundert beschreibt, implizieren einen zumindest theoretischen Verlust der »Zentralperspektive« mitsamt deren Anspruch, das Wahre, Schöne und Gute objektiv benennen zu können. Damit ging notwendig eine Ausweitung des Raums des »legitimen Geschmacks« im Sinne Bourdieus einher. Die Meinungsführerschaft einer Elite moralinsaurer Mandarine wurde durch die kulturelle Hegemonie breiterer, bunterer Bildungsschichten ersetzt, und die verpönte »Massenkultur« ist in dieser gesellschaftlichen Mitte mehr oder weniger angekommen (Maase 1997). Dies heißt keineswegs, dass das Spiel der sozialen Distinktion mit weniger Eifer betrieben würde; doch dabei es geht nun subtiler zu (Spode 2008; zur Freizeit Cantauw 1995). In diesem Kontext hat auch die kulturkritische Attitüde gegenüber dem Tourismus an rhetorischer Schärfe und diskursiver Dominanz verloren. Vom »Lob des Massentourismus« war nun sogar zu lesen, der weniger kulturelle und ökologische Schäden anrichte als der »Alternativtourismus« (Stephan 1997), und in den Kulturwissenschaften konnte der Tourismus endgültig in den Kanon legitimer Forschungsgegenstände aufsteigen. Als eine kleine angewandte Spezialdisziplin zwischen Ökonomie und Geographie gab es schon lange eine Fremdenverkehrsforschung (Dann/ Liebman-Parrinello 2009), doch nun machten verstärkt andere Fächer Anspruch auf das Thema, voran die Historie, die Soziologie, die Volkskunde und verwandte kulturanthropologisch-sozialwissenschaftliche Mischfächer wie die Regionalwissenschaften und die cultural studies (ebd.; Nash 2007; Spode 2009). Passend zum spatial turn stehen dabei raumbezogene Untersuchungen im Vordergrund. Gefragt wird bevorzugt nach kulturellen Besonderheiten, nach der katalytischen oder instrumentellen Rolle des Tourismus bei der »Erfindung« bzw. (Re-)Konstruktion von Traditionen und Identitäten. Eine kaum mehr überschaubare Fülle von Monographien und Aufsätzen widmet sich einzelnen, abgegrenzten Räumen und den dortigen Akteuren und liefert so das Mosaik einer touristifizierten, gleichwohl höchst vielgestaltigen Welt, dem immer neue Steinchen hinzugefügt werden; bereits der hierbei zum Tragen kommende Kulturbegriff impliziert

stils freilich nicht, sondern es reicht weit ins 19. Jh. zurück (vgl. Spode 2011, 2012).

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eine Vielfalt des Besonderen. Der Blick über den Tellerrand der jeweils untersuchten Destination gelingt dabei nicht immer, allzu oft steht Deskription vor Analyse und Synthese. Solcher Tourismusforschung mangelt es aber auch in einem weiteren Sinne am Blick über den Tellerrand. Sie ist auf eine Spielart der touristischen Reise fokussiert, die man cum grano salis »bildungsbürgerlich« nennen kann. Indem die Forscher das von »Kultur« Geprägte interessiert, folgen sie offenbar ihren eigenen geschmacklichen Präferenzen, der Weinstraße durch die Toskana, den Pfaden zu den thailändischen Meos, den Wanderwegen im Biosphärenreservat, den Besucherströmen zum Machu Picchu. Dabei genügte es, einmal durch die Werbespots zu zappen, um zu bemerken, dass es noch einen ganz anderen Tourismus gibt, einen Tourismus, in dem nicht die »einzigartige Kultur« zählt, sondern das PreisLeistungs-Verhältnis an der Strandbar (»nicht ohne meinen Alltours«). In Zahlen ausgedrückt: Weltweit gehen rund zwei Drittel der Urlaubsreisen an die subtropischen Sonnenstrände, allen voran ans Mittelmeer. Rechnet man zu diesem erdumspannenden Bikini-Kordon noch die großen Skizentren, die Zockerstädte wie Vegas oder Genting, die Themenparks, ShoppingMalls und sonstige artifizielle Erlebniswelten hinzu, so liegt es auf der Hand, dass der kulturorientierte Reisestil ein Minderheitenphänomen ist. Diese Minderheit ist es, die in Wissenschaft und Medien über das Reisen schreibt. Und so konnte man im Hamburger Abendblatt lesen: »Paris bleibt die attraktivste Stadt für Touristen aus aller Welt« – indes: Las Vegas lockt fast vierzehn Millionen mehr Besucher an als die französische Kulturmetropole.5 Wohl gibt es da noch die Bustouren zur Alhambra von Strandhotel aus und die Landgänge der Kreuzfahrttouristen zum Straw Market von Nassau. »Spaß« und »Kultur« sind im Tourismus oft innig verwoben.6 Daher ist viel vom postmodernen »Hybridtouristen« die Rede (Rotpart 1998): Donnerstag

5

39 Millionen (2006) zu 25 Millionen (2005); vgl. www.abendblatt.de/reise/ article300929/Paris-am-beliebtesten.html; www.visitlasvegas.de/fileadmin/Ima ges/LasVegas/website/Facts.pdf (abgefragt am 01.07.2012).

6

Schon in den 50er Jahren hatte Hubert Tigges Strand- und Kulturtourismus in einer Pauschalreise kombiniert. Das 1992 eröffnete »Euro Disney Resort« musste in »Disneyland Paris« umbenannt werden, als deutlich wurde, dass die Besucher auch den Eiffelturm sehen wollten.

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Surfen auf Sylt, Freitag auf den Neuköllner Türkenmarkt, Samstag in die Mailänder Oper. Selbstredend ist dies ebenfalls ein Minderheitenphänomen. Es bleibt bei der »bildungsbürgerlichen« Befangenheit der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung: Vielen auf die jeweilige Besonderheit einer Destination abzielenden Studien stehen relativ wenige gegenüber, die sich mit dem Strandurlaub und anderen populär-konsumistischen Tourismusformen befassen und dabei die Freizeiträume weniger als verräumlichte Singularität denn als universellen Typus untersuchen.7 Klammheimlich hat sich die einstige Grenzziehung zwischen Reisen und Tourismus, zwischen dem Nichtinszeniert-Authentischen und dem Inszeniert-Unauthentischen gleichsam in den Forschungsgegenstand hinein verlagert. Zudem ist die »klassische« Kulturkritik am Tourismus keineswegs verstummt. Besonders die von Michel de Certeau und Marc Augé popularisierte Analyse der »Nicht-Orte« (vgl. Legnaro/Birenheide 2005) greift wieder das Entfremdungsmotiv auf und schreibt damit Boorstins Dichotomie von »echt« und »unecht« fort.8 Die Rede von den »Nicht-Orten« greift auch die in den 70er Jahren aufgekommene Kritik am Baufunktionalismus auf, der in den Urlaubsregionen – zumal an den Stränden – zu einer Massierung gesichtsloser »Schuhkartons« geführt habe, die sich überall auf der Welt gleichen (Klemm/Spode 2008). 9 Das Resultat dieser Rationalisierungs- und Expansionsprozesse stellt sich als eine Emanzipation der Urlaubswelten von der Kultur und Physis des umgebenden Fremdraums dar: als eine »Entortung« (ebd.), als ein »Tourismus ohne Raum« (Wöhler 2011) – womit sich der Kreis zu Enzensberger schließt: Dank »Normung« und »Serienfertigung« der touristischen Produkte würde einen im Urlaub just jene durchrationalisierte Welt erwarten, der man entfliehen wollte. Man sieht, das Verhältnis von »Kultur« und »Massentourismus« bleibt durchaus spannungsreich. Der Schlüsselbegriff, der dieses Verhältnis cha-

7

Mit unterschiedlichen Anätzen z.B. Urbain (1994); Hennig (1999); Löfgren

8

Diese hatte wiederum Vorläufer im 19. Jh., als etwa Alphonse Daudet spottete,

(1999); Legnaro/Birenheide (2005); Wöhler (2011); Spode (2012). die ganze Schweiz sei eine inszenierte Kunstwelt im Besitz eines Londoner Großkonzerns (Spode 2011: 12). 9

Dies ist eine ebenfalls ins 19. Jh. zurück reichende Kritik, als etwa John Ruskin die immer gleichen Grand Hotels als eine Lepra bezeichnete, die die Bergwelt befallen habe (ebd.).

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rakterisiert, lautet »Ambivalenz«. Dem Tourismus wohnen strukturelle Ambivalenzen 10 inne, die wiederum emblematisch für die Ambivalenzen der Moderne schlechthin stehen.

T OURISTISCHE C HRONOTOPIE Was unterscheidet den Tourismus von anderen, altehrwürdigen Reiseformen (Spode 2013)? In der vortouristischen Epoche der Menschheitsgeschichte diente das freiwillige Reisen wohldefinierten Zwecken, der Mehrung diverser Kapitalien: Geld, Macht, Ruhm, Gesundheit, Seelenheil, Beziehungen, Wissen. Die konsumtiven Ausgaben für Transport, Verpflegung etc. waren daher – zumindest idealiter – Investitionen. Dies gilt auch für die im 17. Jahrhundert erblühende Institution der adligen Grand Tour, die – wohl auch wegen der Namensähnlichkeit – bisweilen mit dem Tourismus verwechselt wird. Die monate-, oft jahrelange Rundreise des jungen »Cavaliers« zu den kulturellen Zentren in Italien, Frankreich und Mitteleuropa diente neben der Festigung von Netzwerken der Ausbildung der künftigen Funktionsträger, ganz wie die »Lehr- und Wanderjahre« der Handwerker, Künstler und Scholaren. Hieran knüpfte dann die bürgerliche Bildungsreise des 18. Jahrhunderts an, die petit Grand Tour. Sie war zwar nicht mehr in die handfeste Zwecksetzung verlaufbahnter Ausbildung eingebunden; ihr vages Motiv war »Humanität«. Aber auch damit blieb der unvermittelt funktionale Aspekt vorherrschend: »Reisen bildet«, befanden Großdenker wie Voltaire und Kant, und diene so der gesamten Menschheit. Anders die fast zeitgleich aufkeimende touristische Reise. Als Seume 1801 zu seinem »Spaziergang« von Leipzig nach Syrakus aufbricht, meint er kokett, er tue das, weil er in Sizilien »frische Apfelsinen« essen wolle (1962: 296). Das klingt sehr modern. Erst das vom Bildungszweck »entlastete Reisen wandelte sich zum Tourismus« (Stagl 1980: 379). Für die touristische Reise sind (unbewusste) psychische Motive vorrangig – sie wird zur »Reise ohne offensichtlichen Zweck«, zum selbstbezogenen »Erfahrungskonsum« (Knebel 1960).

10 Wer will, mag auch mit Enzensberger noch von »Dialektik« sprechen, obschon dieser Begriff eher auf Realien abhebt, »Ambivalenz« eher auf Wahrnehmungen und Gefühle.

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Die Entstehungsphase dieser Reiseform fällt in jene Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Sattelzeit der Moderne, in der sich die Verzeitlichung des Wissens im Zuge des beschleunigten »Fortschritts« Bahn brach (Spode 2013 u. 1995): Natur und Geschichte werden auf einem Zeitpfeil angeordnet, die Taxonomie wird – wie Foucault (z.B. 1980) beredt dargelegt hat – zur Genealogie. Indem nun diese in den Raum projiziert wird, wird auf der Erdkugel eine »Temporalisierung der Unterschiede« (Leed 1991) und damit eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« emergent. Das Fremde kann relativ zum Eigenen nicht nur als ähnlich oder unähnlich beurteilt, sondern auch als zurückgeblieben-peripher oder vorausgeeilt-zentral eingestuft werden.11 Reisen sind fortan immer auch Zeitreisen, sei es in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Doch wie die Richtung des Zeitpfeils zu bewerten sei, darin schieden sich die Geister. Den Angelpunkt der Kontroverse bildete das theoretische Konstrukt des »Naturzustands«. Feierten die einen den »Fortschritt« als Befreiung von dumpfer »Unmündigkeit«, so litten die anderen an jenem »Fortschritt« und kritisierten die zwanghafte »Künsteley« in den Zentren als Entartung, als Abkehr von der Natur oder, wie Hegel später sagte, als Entfremdung. Nicht die Fraktion der bildungs- und meist sehr reisefreudigen Aufklärer stellte die ersten Touristen, sondern die der Zivilisationskritiker. Das Natürliche, Freie und Echte suchten sie auf einer »empfindsamen Reise« in eine bessere, gleichwohl latent bedrohte Vergangenheit in den »Orten am Rande« (Shields 1991; siehe schon Christaller 1955): Der touristische Blick war ein zutiefst romantischer, wenn nicht nostalgischer Blick 12 – eine revolutionäre Neuordnung der Welt, die lange vor der sogenannten Romantik in Mode kam und fortan das Denken und Fühlen immer breiterer Schichten strukturierte, um schließlich zur kulturellen Selbstverständlichkeit zu werden. Schon Hellpach (1977) analysierte, in der Moderne werde ein »sentimentaler« Sinn in die eigentlich feindliche Natur »hineingelegt«.

11 Im Weltmaßstab bildete selbstredend Europa das Zentrum, innerhalb Europas die Großstädte und Fürstenhöfe, wobei die einzelnen Länder – und diese wiederum topographisch und sozial in sich – vielfältig abgestuft waren. 12 Der englische Soziologe John Urry (2002) hat die Rede vom »touristischen Blick« populär gemacht – eine terminologische Anleihe bei Foucault, dessen Wissenssoziologie jedoch unverstanden blieb (vgl. Spode 2005b); hier sei hingegen der »Blick« als eine stumme »Ordnung« im Sinne Foucaults aufgefasst.

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Im »Retournez à la nature!« dürfte das Agens des Tourismus verborgen sein.13 Denn was die Touristen »mit der Seele« suchten, das fanden sie auch. Ihr Blick erschuf das Paradies auf Erden, das sie herbeisehnten: So wie die Taxonomie in den Wissenschaften zur Genealogie wurde, so wurde die Heterotopie auf ihren Zeitreisen zur Chronotopie, die Altes und Neues vereinte. Heterotopie nenne ich mit Foucault (1992: 39) »tatsächlich realisierte Utopien«, die »andere Räume« bilden. Der Begriff deckt sich zum Gutteil mit dem hoch universellen Phänomen der »Auszeit« (Spode 2006): Brüche und Übergangsriten markieren »andere« Zeit-Räume – »Enklaven« (Elias 1969) mit partiell eigenständigen Regelwerken, die eine Entlastungs- oder Ordnungsfunktion erfüllen (Turner 1989). Die elementarste Bruchlinie verläuft dabei entlang der Grenze zwischen »Heilig und Profan« (Eliade 1957), sodann zwischen »Spiel und Ernst« (Eichler 1979). Zentrale Konstruktionsprinzipien dieser »anderen« Zeit-Räume blieben auch im Tourismus intakt (Hennig 1999). Ihr Sinn wurde nun allerdings überformt von einem neuartigen Koordinatensystem, das der Zeitpfeil regierte (Spode 1995). Obschon nicht dichotom, sondern intervallskaliert, ließen sich hieraus ebenfalls elementare raum-zeitliche Bruchlinien ableiten: zwischen »entwickelt und unterentwickelt«, »fortschrittlich und rückständig« etc., aber vor allem der basale Gegensatz zwischen »künstlich und natürlich«, dem wiederum der Gegensatz »unauthentisch und authentisch«14 zuzuordnen ist. Die Heterotopie wurde durch die Verzeitlichung des Wissens selbst verzeitlicht und erhielt so ihre spezifische Gestalt einer rückwärtsgewandten Chronotopie: Das touristische Paradies ist, wo das Alte noch bewahrt wird, wo die »freie«, »gesunde«, »unverstellte« Natur physisch und/oder sozial noch intakt ist.

13 Auch Urry (ebd.) erwähnt den romantischen Impuls des Tourismus, sieht hierin aber kein Strukturmerkmal, sondern eine obsolete Form touristischen Symbolkonsums (den er »Blick« nennt), die vom gesellig-fordistischen Reisestil verdrängt worden sei, der wiederum derzeit vom postmodernen abgelöst werde. 14 Während das Heilige immer auch authentisch ist, fehlt Gesellschaften geringer Komplexität der Gegenbegriff des Unauthentischen.

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H OMOGENISIERUNG VERSUS D IFFERENZIERUNG Zunächst die Herzensangelegenheit einer winzigen Bildungselite, steigt der Tourismus im Laufe des »bürgerlichen« 19. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen auf. Dabei wird nun der seelisch motivierte Raum- und Erfahrungskonsum vom Bürger mit handfest rationalen Beweggründen bemäntelt, die älteren Reiseformen entlehnt sind: Gesundheit und Bildung. Denn nur zum Vergnügen reisen – das widerstreitet der »protestantischen Ethik«, wie sie Max Weber analysiert oder besser: karikiert hatte.15 Indes bleibt im Tourismus der vage zivilisationskritisch-romantische Impuls wirkungsmächtig, der (psychohistorisch noch keineswegs entzifferte) Lustgewinn, den eine Zeitreise rückwärts verspricht: Dem Gesundheitsmotiv lässt sich idealtypisch die »Natur«, dem Bildungsmotiv die »Kultur« bzw. die »Geschichte« zuordnen. War von Gesundheit die Rede, so ging es darum, temporär der »Versklavung« durch die hektische Zivilisation in den vermeintlich krankmachenden Städten zu entkommen und in einer vermeintlich gesunden, da »natürlichen« Umgebung16 die »zerrütteten Nerven« bzw. die Arbeitskraft zu »regenerieren«. 17 War von Bildung die Rede, so ging es um die symbolische Aneignung des kulturellen Erbes, des schönen Alten in Gestalt von Ruinen und andern Sehenswürdigkeiten und/oder von pittoresken »Sitten und Gebräuchen« der Bereisten, zumal der »urtümlichen« Landleute. In beiden Fällen fungierte der touristische Raum weiterhin als eine Chronotopie. Im Zeichen wachsenden Wohlstands und der Eisenbahn nahm die Reiseintensität18 zu und erreichte bis zum Ersten Weltkrieg in den führenden Industrieländern eine Größenordnung von zehn Prozent (Spode 2013; Hachtmann 2007). Obschon somit die große Mehrzahl der Menschen noch

15 Vergnügungen seien dem Bürger als »Zeitverschwendung [...] sittlich absolut verwerflich« (zitiert nach Spode 2006: 22). 16 Faktisch war die Lebenserwartung auf dem platten Land freilich geringer. 17 Mit diesem legimitatorischen Argument gelang es, für Beamte und Angestellte einen jährlichen Urlaubsanspruch durchzusetzen. Zählt man bessergestellte Selbstständige und den schon immer reisefreudigen Adel hinzu, bildeten somit jene Schichten die privilegierte »Touristenklasse«, die den besten Gesundheitsstatus aufwiesen. 18 Der Bevölkerungsanteil, der jährlich mindestens eine Urlaubsreise macht.

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keine Urlaubsreise machen konnte (sondern allenfalls Ausflüge), bedeutete dies sowohl die »Entdeckung« und Erschließung immer neuer Destinationen als auch ein starkes Anwachsen der Gästezahlen in den bereits etablierten Fremdenverkehrsorten. Dabei formte der Tourismus den Fremdraum entsprechend seiner Ideale und Bedürfnisse. Dies zeitigte freilich zwei konträre Effekte touristischer – und das hieß nun immer auch kommerzialisierter – Weltaneignung bzw. -erschaffung: Homogenisierung und Differenzierung.19 Erstere entwickelte sich aufgrund wachsender Ansprüche an Komfort, Sicherheit und ästhetische Gestaltung, letztere durch die symbolische Markierung von Orten und Regionen als Mnemotope, 20 die das je Besondere, Singuläre zugleich herstellen und repräsentieren. Wie ausgeführt, interessiert die kulturwissenschaftliche Forschung meist das Besondere; der jeweiligen »Kultur« wird implizit oder explizit eine Einzigartigkeit bescheinigt, was bei entsprechend geringem Abstraktionsniveau auch niemals bestreitbar ist. Auch wenn sie »dekonstruieren« will, schreibt sie damit nolens volens gängige Vermarktungsstrategien touristischer Destinationen fort. Die Attribuierung solcher Räume als einzigartig und somit authentisch wiederum schreibt aber auch die universelle Binärcodierung »heilig-profan« fort und reicht dabei konkret historisch bisweilen viel weiter zurück als der Tourismus, zumal – selbstredend – im Falle von Pilgerstätten, aber auch an Orten, die historisch oder legendarisch durch berühmte profane Personen und Ereignisse oder durch außergewöhnliche Bauwerke zum Erinnerungsort wurden, an dem sich das kollektive Gedächtnis symbolisch verdichtet und tangibel wird. Bekanntlich hatte schon Herodot sieben »Weltwunder« (θεάματα) kanonisiert, und am Strand von Puteoli stellte man das Schiff des Aeneas aus, des vermeintlichen Urvaters von Rom; in der Frühen Neuzeit nahm mit der Grand Tour die Zahl solcher »Merkwürdigkeiten« deutlich zu. Indem dann aber der touristische Blick auf die ärmlichen, bis dato von Reisenden möglichst gemiedenen »Orte am Rande« fällt, wird die genuin

19 Zur touristischen Raumkonstruktion vgl. Urry (1995); Wöhler (2011) sowie Walton (2007); Klemm/Spode (2008) und das Einschlägige in Voyage 2 (1998) und 7 (2005). 20 Anders als bei Nora (1998) wird hier Mnemotop bzw. Erinnerungsort immer wörtlich, d.h. räumlich-tangibel verstanden.

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sakrale Binärcodierung mit neuem Sinn versehen und kann so in die Chronotopie-Konstruktion einfließen. Ein solch reales Paradies meinte man prototypisch – zumal seit den Elogen Albrecht von Hallers und Rousseaus – in der abgeschottet-rückständigen und eben darum von freien, bedürfnislos-glücklichen Naturmenschen bewohnten Schweiz gefunden zu haben; bald folgten andere periphere Regionen. Hinzu kamen punktuell Burgen und »mittelalterliche« Städte (z.B. Hagen 2006), zumal in Deutschland, das Reisenden aus »entwickelten« Ländern – wie Lord Byron und Madame de Staël – als Hort der guten alten Zeit erschien. Alle diese Regionen und Orte werden zu Zeugen einer großen Vergangenheit und damit zu Wegweisern zum inneren, fast schon verschütteten Kern des verkünstelten, entwurzelten Zivilisationsmenschen. Im weiteren Sinne sind zu diesen Orten auch die vielen Gesundbrunnen zu zählen, denen seit alters je besondere magische Heilkräfte zugeschrieben wurden. Auch sie wurden – gleich den ersten Seebädern – im Frühtourismus zur Chronotopie eines natürlichen und deshalb gesunden Zeit-Raums. Doch zum konkreten Erinnerungsort eigneten sie sich weniger. 21 Wohl priesen die lokalen Honoratioren nach Kräften die Einzigartigkeit des jeweiligen Heilbads, und manche Gäste blieben »ihrem« Kurort zeitlebens treu, doch letztlich mangelte es den Bädern am Einmalig-Echten und damit Identitätsstiftenden, handelte es sich doch um Orte, die – nach einer Entdeckungsphase durch die touristische Avantgarde (Cavalcanti 2003) – ihre bauliche und soziale Gestalt einzig dem Tourismus verdankten (Klemm/ Spode 2008). Dies galt besonders für die Seebäder aber auch für die binnenländischen Kurorte. Deren Kernland bildeten (und bilden) die bergigen Regionen in der Mitte Europas: die Alpen und die vor- und nachgelagerten Mittelgebirge. Doch einige der waldreichen, abseits der Kurorte »öden« Mittelgebirge stiegen im 19. Jahrhundert zu großflächigen Mnemotopen auf, die ihre jeweilige Besonderheit nachhaltig zu vermarkten wussten.

21 Dies gelang allenfalls als unspezifischer (und damit austauschbarer) Raum des »Natürlichen« schlechthin, oder aber umgekehrt – falls sie es zu Sommerresidenzen von Regenten gebracht hatten – als besonders »eleganter« Kurort, der gleichsam zum Zentrum inmitten der Peripherie wurde (Pyrmont, Brighton, Norderney, Ischl etc.).

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Differenzierung: Das Beispiel des Mittelrheins In Deutschland wurden zunächst der Harz, der Rhein und der Thüringer Wald zu hochgradig emotionalisierten Erinnerungslandschaften umgedeutet, die punktuell nochmals zu Erinnerungsorten verdichtet wurden (Spode 2013 mit weiterer Literatur). Schon früh – nämlich zeitgleich mit der Begeisterung für die Alpen, das Meer, die Highlands und den Lake District im späten 18. Jahrhundert – wurde der Harz durch Klopstock zu einer »teutschen« Kernlandschaft erhoben. Der Thüringer Wald – mit der Wartburg und mit Weimar als dem »Parnass« der »Dichter und Denker« – wurde dann im Vormärz zum deutschen Mnemotop. Doch es war vor allem der Rhein, der eine magische Anziehungskraft entfaltete und neben der Zentralschweiz und Italien zum touristischen Sehnsuchtsland schlechthin aufstieg (Nowack 2006; Lekan 2009).22 Von England und Deutschland aus leichter erreichbar als Italien und auch die Schweiz, vollzog sich der Aufstieg des Rheins zur zeitweise weltweit führenden Destination im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts im Kontext der Einführung der Schnellpost und zumal der Dampfkraft im Verkehrswesen; bereits um 1850 zählte die Rheinschifffahrt eine Million Passagiere. Ausgangspunkt war die »Entdeckung« der von Burgruinen geschmückten Berg- und Flusslandschaft durch britische tourists im späten 18. Jahrhundert gewesen. Nach 1800 – als die linksrheinischen Gebiete von Frankreich annektiert waren – folgten ihnen hierin deutsche Intellektuelle; für Friedrich Schlegel war der Mittelrhein ein »Kunstwerk«. Ebenso ergriffen zeigte sich der preußische Kronprinz, der dann als Friedrich Wilhelm IV. der »Romantiker auf dem Thron« wurde; als das Rheinland 1815 an Preußen gefallen war, ließ er hier »mittelalterliche« Burgen bauen und verbot den Steinhauern, den Drachenfels abzutragen. Friedrich Wilhelm sah sich weniger als Deutscher denn als Preuße – doch 1840 dichtete Max Schneckenburger patriotisch: »Lieb Vaterland magst ruhig sein/fest steht und treu die Wacht am Rhein«. Im Kaiserreich avancierten diese Verse zur zweiten Nationalhymne, denn seit den napoleonischen Kriegen war der Rhein – zumal in den Hetztiraden Ernst Moritz Arndts – zur ewig prekären Grenze, zum nationalpolitischen Identitätsanker erhoben worden. Hier ließ

22 Hinzuzurechnen ist seit Bougainvilles 1771 publiziertem Reisebericht Tahiti, das aber praktisch unerreichbar blieb.

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sich die historische Symbolproduktion sinnfällig mit einer Kontinuitätslinie legitimieren, die über die Ostexpansion der Franzosenkönige bis in die Römerzeit zurückreicht. Wohl wussten kluge Geister wie Schiller, dass die Gleichsetzung der gegenwärtigen Deutschen mit den Zeitgenossen des Arminius oder Luther eine bloße Konstruktion war, doch musste dieses eingängige Narrativ auf fruchtbaren Boden fallen, zumal als dann die Reichsgründung eine großartige Erfolgsgeschichte daraus machte. Doch der Rhein war mehr als ein nationales Mnemotop, er war das Kulturerbe der »Menschheit«. Als um 1830 die ersten modernen Reiseführerreihen auf den Markt kamen – wie Murray und Coghlan in England, Baedeker und Brockhaus in Deutschland –, spielte darin der Rhein eine herausragende Rolle. Neben und wohl noch vor den vaterländischen Emotionen rührte er die touristische Seele im Kontext genereller Romantisierung des Denkens und Fühlens: als Reservat vergangener Größe und Schönheit, »associated with many of the most important events recorded in the history of mankind«, wie es in Coghlans Rheinführer hieß (1853: 156). Hinsichtlich seines Ranges als Kulturlandschaft stellte der Rhein selbst den Golf von Neapel und die Toskana in den Schatten – und konnte dabei im Gegensatz zu Italien mit modernsten touristischen Infrastrukturen aufwarten: Hotels, Pferdeomnibus- und Dampferlinien und ab 1844 die Eisenbahn. Sage und Historie, Natur und Kultur verschiedenster Epochen: Die komfortable Flussfahrt gerät zur chronotopischen Zeitreise schlechthin, bei der die Stätten der Siege und Niederlagen der Römer, der Ritter und Kaiser, der Kriege der Neuzeit vor dem äußeren und inneren Auge vorbeiziehen (ebd.: 153ff). Als im fernen Amerika Henry David Thoreau ein Exemplar der populären Rheinpanoramen in die Hände fiel, notierte er: »Ich glitt wie verzaubert dahin, als wäre ich in ein heroisches Zeitalter versetzt« (2001: 53). Den wechselseitigen Feinderklärungen zum Trotz zeigten sich sogar etliche Franzosen, wie Victor Hugo, ergriffen von der tangiblen Historie am Rhein; selbst nach dem Verlust Straßburgs 1871 erscheint weiterhin Contys Rheinführer in Paris: Kein böses Wort über die Deutschen – außer, dass die Hotelbetten »laissent en général beaucoup à désirer« (1896: 49). Obschon es erst seit 1954 ein kodifiziertes »Weltkulturerbe« gibt, eignen sich InboundTouristen die großen Mnemotope als ein »Erbe« an, das allemal der

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»Menschheit« und nicht den Nationen bzw. den Anwohnern gehört.23 Der mögliche Zugewinn an Identität, an National- oder Heimatstolz für die Bereisten vor Ort ist nur ein Folgeprodukt eines abendländisch-»modernen« Musters des Denkens und Fühlens, eben des romantisch-touristischen Blicks.24 Anders gesagt: Die patriotische Funktionszuweisung des Reisens im Zeitalter des Nationalismus (z.B. Löfgren 1999) ist nachrangig gegenüber dem basalen Wissen der Temporalisierung der Unterschiede, das Europa seit dem 18. Jahrhundert von anderen Kulturen »abkoppelte« (s.a. Eder 1988). Homogenisierung: das paneuropäische Freizeitnetz In Erinnerungsräumen wurden unterscheidbare, möglichst einmalige Marker ausgebaut oder erschaffen, die auf Natur und Geschichte zurückverwiesen und damit als Bürgen für Identität taugten, sei diese nun auf die Region, die Nation oder die »Menschheit« bezogen. Doch der Besichtigungstourismus – kanalisiert und geformt durch die Sternchen, wie sie der Baedeker ab 1846 für Sehenswürdigkeiten vergab – war keineswegs die einzige touristische Praxis. Daneben – und mit dem Aufstieg des Bürgertums überwiegend – sollte die Reise der Erholung dienen (Spode 2013: Kap. 6). Die Legitimation der Teilhabe am Tourismus mit der »Regeneration der Arbeitskraft« implizierte, dass die Gäste am Zielort blieben und von dort allenfalls Ausflüge unternahmen. Dies betraf die Kur- und Seebäder sowie die preiswerten Sommerfrischen. Alle drei Zielorttypen stellten auf ihre Art ebenfalls Chronotopien dar: das Urlaubsleben wird nicht nur als anders, sondern in spezifischer Weise als anders empfunden: als ursprünglicher und damit authentischer – als das »eigentliche Leben«. Bädern und Sommerfrischen war gemeinsam, dass

23 Besonders im Falle Ägyptens und Italiens war bei Touristen die Ansicht verbreitet, dass ein großes Erbe unwürdigen Nachlassverwaltern zugefallen sei. 24 Diesen – auch kommerziell einträglichen – Blick auf »ihre« Kultur und Natur übernahmen die Bereisten meist von den Reisenden, wobei dieser Lernprozess oft von Nutzungskonflikten begleitet war, im Erfolgsfall aber zu einer Konservierung (oder auch Erfindung) von identitätsstiftenden »Traditionen« führte (vgl. Schnepel in diesem Band).

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hier nun Familien ihren Urlaub verbrachten: Orte der Frauen und Kinder. Doch nur die Sommerfrische konnte dabei auch als Mnemotop fungieren (z.B. Kröncke 2009). Da hier die Zurichtung für touristische Bedürfnisse noch wenig spürbar war, repräsentierte sie für die Touristen die vom Fortschritt bedrohte Landidylle und somit eine lokalspezifisch ausgeformte »Heimat« bzw. »Wahlheimat«. Indes sorgten um 1900 steigende Komfortansprüche und bessere Verkehrsanbindungen dafür, dass die Sommerfrische ein zunehmend austauschbares Reiseziel wurde. Dies galt noch mehr für die von professioneller Gastung und Erlebnisangeboten geprägten Kur- und Seebäder. Auch hier bildete zwar die »gesunde Natur« in Gestalt von Heilquellen oder des Meeres den Ausgangspunkt touristischer Besiedlung. Doch alsbald entstanden baulich und planerisch anspruchsvoll gestaltete Räume, Orte des Unauthentischen, die vor allem diversen »Zerstreuungen« dienen: Bälle und Redouten, Glücksspiel und Prostitution, Sport und Spiel, Platzmusik und Feuerwerk. Die »Natürlichkeit« fand sich hier primär in den Binnenbeziehungen der Touristen: die geburtsrechtlichen Barrieren wurden geschleift, ein freier, allgemeinmenschlicher Habitus war das Ideal. Über Heiligendamm, das erste deutsche Seebad, schreibt 1823 ein Bürgerlicher begeistert: »Alle Badenden [...] sind sich in dem nassen Elemente gleich, und aller Unterschied der Stände verschwindet.« (Anonym 1823: 183)25 In der Frühphase fungierten die Kurund Seebäder als Labor einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, die gemäß Rousseaus Leitsatz »Der Mensch ist frei geboren« wieder zurück zur »natürlichen« Egalität zu finden hoffte. Diese Verheißung blieb weiterhin wirkungsmächtig, freilich wurde ihre Realisierung paradoxerweise zu einem Privileg gemacht: Mit dem Anwachsen der Touristenströme wurde die Chronotopie der Kur- und Seebäder mehr und mehr abgeschottet gegen die Anwohner, die nur noch als namenlose Dienstleute mit den Gästen in Kontakt zu treten hatten, und zugleich differenzierten sich die Freizeitorte stark nach den Sozialmilieus (z.B. Fuhs 1992). Wohl durften weniger Betuchte in Heringsdorf oder Karlsbad Zaungast spielen und hoffen, auf der Promenade gekrönter Häupter und anderer Berühmtheiten ansichtig zu werden, doch an der table de hôte und in den

25 Um Rangfragen zu entschärfen, hatte der Großherzog verboten, beim Grüßen den Hut zu ziehen; auch die umwohnenden Mecklenburger hatten Zutritt zum Ballsaal, und der Fürst liebte es, mit ihnen auf Platt zu parlieren.

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Ballsälen blieben die »allerbesten Kreise« nun unter sich. Reiseführer sprachen dann von einem »mondänen Badeleben« – in der Tat: hier war die »Welt« zu Gast. Wiesbaden nannte sich schon 1852 »Weltkulturstadt«; um 1900 dann überzog ein Netz von exklusiven Freizeitorten den europäischen Kontinent, mit Dependancen in Nordafrika und Nordamerika (Spode 2005a). Aus der Nahperspektive unterschieden sich die »mondänen« Orte beträchtlich bezüglich ihres »Flairs«, das sich zusammensetzte aus Klima, Topographie, Baulichkeiten und den feinen Unterschieden der Gästestruktur. Aus sozialem und historischem Abstand aber bildeten sie eine Einheit, einen transnationalen Erlebnisraum des Luxus und der Moden, geschaffen für die Elite innerhalb der ohnehin elitären Touristenklasse: Regenten und sonstiger Adel, Wirtschaftsmagnaten, Militärs und Politiker, prominente Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler. Diese leisure class war hochmobil: nicht nur, dass mehrmals im Jahr verreist wurde, auch die Schauplätze des »Erholungsaufenthalts« wechselten häufig. So finden wir Bismarck des Sommers mal in Biarritz, mal auf Norderney, mal in Kissingen, mal in Ems. In den »mondänen« Kur- und Seebädern war eine entortete Spaßgesellschaft entstanden. 26 Dank ihrer enormen Freizeitmobilität erschufen sich die Oberschichten jenes »Paneuropa des Verkehrs auf der Schiene«, das dem belgischen Unternehmer Georges Nagelmackers vorschwebte, als er 1876 die Compagnie Internationale des Wagons-Lits gegründet hatte, die dann den transnationalen Markt der Schlaf- und Speisewagen beherrschte. Das mittlere Bürgertum, also die Mehrheit der Touristenklasse, war in seiner Einstellung gegenüber dem Treiben der paneuropäischen Elite gespalten. Einerseits suchte man es ihr gleichzutun: In den einfachen Kurund Seebädern bzw. Sommerfrischen hielten sukzessive die Segnungen des Fortschritts Einzug: Hotels, gepflasterte und beleuchtete Straßen, Kurparks, Telegraf und Telefon, Restaurants und Läden. Und zudem blieben die exklusiven Freizeitorte selten exklusiv. Der Zustrom von Krethi und Plethi konnte zwar teils (wie in Baden-Baden) durch hohe Taxen eingedämmt werden, teils aber führte er (wie in Brighton) zur Abwanderung der Elite,

26 Freilich konnte es dort auch sehr ernsthaft um die Zurschaustellung und Mehrung finanziellen, kulturellen und sozialen Kapitals gehen – eine Arena der Firmen-, Familien- oder gar Staatspolitik.

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und teils (wie in Ostende) zu einem sozialräumlichen Nebeneinander der Touristenmilieus. Anderseits übten sich die Bürger in trotziger Kulturkritik. Diese Haltung ist im Schrifttum27 ungleich häufiger zu finden, was freilich nichts über die tatsächliche Gewichtung der Einstellungen sagt. Den öffentlichen Tourismus-Diskurs dominierten jedenfalls die Bodenständigen; ihnen galt es als moralisch verwerflich, wie man in den »sog. bessern Kur- und Badeorten«, so der Reiseführerverleger Leo Woerl, »der Mode, dem Kleiderluxus, rauschendem Vergnügen« huldigte (1902: 14f), und sie beklagten die soziale und bauliche Entortung, die der gehobene Erholungstourismus bewirke: die »Verunstaltung« der Natur durch die »Riesenhotels, Kellner, Autos, Bergbahnen [und] Übertreibungen des leidigen Geschäftssinns« (Kinzel 1914: 20).28 In der Tat: Der Erholungstourismus forcierte eine baulich-soziale Homogenisierung Europas. »Schweizerhäuschen« wurden auch an der Ostsee gebaut, Palmen auch in Luzern gepflanzt.29 Das vielerorts gepflegte »Landestypische« reduzierte die Totalität des Anderen auf wenige Symbole. Es half als pittoresker Marker, die Destinationen trotz der immer gleichen Grand Hotels mit ihrer globalisierten Grande Cuisine unterscheidbar zu machen. Im Wettbewerb der See- und Kurbäder erblühte – um mit Freud zu sprechen – ein »Narzissmus der kleinen Differenzen«. 30 Just auf der von Heimatschützern wie Ernst Rudorff zurecht monierten Emanzipation vom Umgebungsraum und seinen Menschen, auf der Interesselosigkeit gegen-

27 Vgl. hierzu den Bestand des Historischen Archivs zum Tourismus (HAT), Berlin. 28 Siehe auch Fußnoten 8 und 9. 29 Heute findet man sie selbst am Berliner Strandbad Wannsee, das einst die Ostsee kopiert hatte; zur »Polynesifizierung« des Strandes vgl. Urbain (1994). 30 Gleiches galt für den – sehr punktuellen – Ausflugstourismus in technisierte Erlebniswelten, wie sie die Weltausstellungen boten und wie sie in den USA und England in einigen Seebädern (Coney Island, Blackpool etc.) und auf dem Kontinent in einigen Großstädten (Wien, Kopenhagen etc.) erblühten. Das dortige Prinzip, mit immer neuen »einzigartigen« Attraktionen Gäste anzulocken, galt in abgewandelter Form auch für »mondäne« Bäder und andere Orte; es vermochte freilich nur selten (etwa im Falle des Eiffelturms oder monumentaler Denkmäler) ein »Etwas« im Sinne Ritzers zu erzeugen.

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über dem je Besonderen dieses Raums, auf dem selbstverständlichen Einfordern transnationaler Standards und Moden basierte das europäische Freizeitnetz.

S CHLUSSBETRACHTUNG Um 1900 waren die Grundmuster der heutigen Praktiken, Funktionen und Effekte des Tourismus weitgehend ausgebildet (Löfgren 1999: 8; Spode 2013: Kap. 6.9). Dies gilt auch für die dem Tourismus von Anbeginn inhärenten Ambivalenzen nebst den entsprechenden Vermeidungsspielen: Die Temporalisierung der Unterschiede hatte einen kommerzialisierten und dann industrialisierten31 Raum- und Erfahrungskonsum in Gang gesetzt und damit eine Dialektik der Raumkonstruktion. Das Authentizitätskonzept führte einerseits in eine bewusste Differenzierung des Raums. Einzigartige Erinnerungsorte markierten lokale, regionale und nationale Identitäten als das je Besondere, spezifisch Gewordene. Mit der Institution des »Weltkulturerbes« hat die Staatengemeinschaft dann ein Instrument geschaffen, das gleichsam die Sternchen des Baedeker zum Objekt eines supranationalen Aushandlungsprozesses macht, indem es nationale (z.B. Confino 1993), teils auch europäische (z.B. Enser 2005) »Kulturgüter« offiziell zu solchen der »Menschheit« deklariert – was sie bisweilen schützen kann, vor allem aber deren finanzielle und ideelle Inwertsetzung forciert (z.B. Pfeifle 2010; vgl. Bendix in diesem Band). Diese identitätsbildende Differenzierung ist es, die die kulturwissenschaftliche Tourismusforschung besonders fasziniert. Das Authentizitätskonzept führte freilich hinterrücks auch in eine Entdifferenzierung bzw. Homogenisierung des Raums. Bei der massenhaften Suche nach der »gesunden Natur«, dem »echten Volkstum« und dem »wahren Leben« wurden die Ansprüche nach Komfort und Sicherheit dergestalt erfüllt, das sie einen purifizierten Raum eigenen Rechts produzierten, für den der umgebende Raum allenfalls als legitimatorischer Hintergrund, als Lokalkolorit fungierte. Das Chronotopiemodell mit seinem Freiheitsversprechen blieb weiterhin konstitutiv, doch seine Performanz wurde primär

31 Vgl. Enzensberger (1987), Knebel (1960) sowie Spode (2011); der Durchbruch der Industrialisierung des Reisens erfolgte allerdings erst in den 30er Jahren.

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von Zurichtungen und Inszenierungen gerahmt, deren Strukturen sich auf wenige Grundtypen reduzieren ließen, und es beschränkte sich innerhalb dieses Rahmens primär auf die Binnenbeziehungen, auf die Familien und Urlaubsbekanntschaften. Die Chronotopie wurde – von außen betrachtet – zur Atopie. Die sozialräumliche Homogenisierung fasziniert die Tourismusforschung deutlich weniger. Umso mehr hat die »Vergleichgültigung des Reiseziels« (Kracauer 1977: 43) die Kulturkritik auf den Plan gerufen. Für sie wurde die Atopie zur genormten, zwanghaften Dystopie, wenn etwa Enzensberger herrlich dialektisch formulierte, der Tourist zerstöre sein Ziel, indem er es erreicht. Wie eingangs angedeutet, hat solche – theoretisch im Entfremdungstheorem und sozial in geschmacklicher Abgrenzung gründende – Kritik am »Massenreisen« inzwischen an Schärfe verloren. Mit dem postmodernen Dekonstruktivismus schien sogar ihr Ende besiegelt: Das postmoderne Denken unterläuft die klassische Tourismuskritik, die auf dem Gegensatz »echt/natürlich/real« versus »unecht/unnatürlich/irreal« basiert, und kann daher das Simuliert-Artifizielle als Befreiung von der säuerlichen Kulturkritik feiern (Urry 2002; Berger 1999; Häußler 1997). Indes hat die Rede von der Postmoderne aus guten Gründen ihren Zenit überschritten (Spode 2005b). Es bleibt bei der Ambivalenz. Erstens vermag auch radikales Theoretisieren den Bedarf nach sozialer Distinktion nicht abzuschaffen; für komplexe Gesellschaften ist der Kampf um Werte und Geschmack konstitutiv (z.B. Bourdieu 1985). Zweitens – und damit verbunden – folgt aus der Erkenntnis, dass es keinen essentiellen Unterschied zwischen »echt« und »unecht« geben kann, keineswegs dass diese Binärcodierung als handlungsleitende Setzung entbehrlich wäre; auch für komplexe Gesellschaften bleibt der Bedarf nach Authentizität konstitutiv (s.a. Häußler 1997; Rotpart 1998). Unser modernes romantisches Weltwissen hat dabei das UnwandelbarHeilige zum Vergänglich-Natürlichen, das Absolute zum Relativen säkularisiert. Einerseits erlaubt dies eine fortlaufende, und nach Sozialmilieus differenzierte Neujustierung der Konstruktion von »Natürlichkeit«. Selbst die Bettenburgen von Benidorm können da für deren ephemere Bewohner noch als eine Chronotopie fungieren, nämlich als ein sozialer Frei-Raum für eine im Alltag verloren geglaubte »Natürlichkeit«. Anderseits aber entspringt auch das bildungsbürgerliche Entsetzen über die Homogenisierung solcher Sonnenstrände, über die »Globalisierung des Nichts« (Ritzer 2003) demselben romantisch-touristischen Blick, der – und zwar aus einer

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Beobachterperspektive – das Wuchern dieses »Nichts« als eine Verlustgeschichte erzählt. Die Chronotopie des Hier-bin-ich-Mensch-hier-darf-ich’ssein, die die Binnenperspektive und Praktiken der »Massentouristen« ausmacht, wird hier von außen betrachtet zur Dystropie, nämlich zur Abkehr, zur Entfremdung vom »wahren«, »echten« Menschsein. Als analytischer Begriff hat die Entfremdung weitgehend ausgedient – als ein unbehagliches Gefühl keineswegs. Die Tourismusforschung täte gut daran, sich diesen vertrackten Zusammenhängen genauer zuzuwenden. Vielleicht ergründete sie dann viel mehr als nur den Tourismus. Dazu wäre es hilfreich, wenn sie sich der schnöden Entdifferenzierung mit der gleichen Hingabe zuwenden würde wie der Differenzierung.

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Die Governanz des Outstanding Universal Value Zur globalen Verhandlung der UNESCO-Welterbeliste T HOMAS S CHMITT »Mensch, nichts ist unvollkomm’n; der Kies gleicht dem Rubin, Der Frosch ist ja so schön als Engel Seraphin« (EPIGRAMM AUS DEM FÜNFTEN BUCH DES CHERUBINISCHEN SCHLESISCHEN

WANDERSMANNS MYSTIKERS

DES

ANGELUS

SILESIUS 1979, ORIG. 1657: 77)

»Warum nicht gleich die ganze Welt?«, fragte Johan Schloemann (2006) in der Süddeutschen Zeitung in einem streckenweise polemischen Artikel zur Welterbeliste. Diese Polemik verweist auf das Auswahlproblem des Welterbekonzepts: Welche Objekte sollen durch die Welterbeliste geschützt werden und welche nicht? Diese Frage war auch von weichenstellender Bedeutung bei der Vorbereitung der Welterbekonvention, und ihre permanente Reflexion gehört zum Alltagsgeschäft der globalen Institutionen der Welterbegovernanz. Die Welterbekonvention will sich auf den Schutz jener Objekte des Kultur- und Naturerbes beschränken, die über einen außergewöhnlichen universellen Wert (outstanding universal value) verfügen, oder, wie man eher entgegen dem Konventionstext konstruktivistisch gewendet formulie-

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ren müsste,1 denen dieser Wert zugesprochen wird. Die Zuschreibung des outstanding universal value zu bestimmten Objekten und Stätten ist zentraler Teil der Kulturgovernanz des Welterberegimes, und ihre sozialwissenschaftliche Rekonstruktion stellt damit ein wesentliches Element in der Analyse der Governanz des UNESCO-Welterbes dar. In kulturwissenschaftlichen Betrachtungen zur Welterbeliste werden häufig das »Branding« und »Labeling« von Stätten im Zusammenhang mit der UNESCO-Auszeichnung diskutiert. Ein weiteres prominentes Thema ist zudem die Rolle der Welterbeauszeichnung für den Tourismus an den jeweiligen Stätten. Der folgende Beitrag hingegen behandelt die Frage, wie das kulturelle Phänomen Welterbeliste in der sozialen Welt reproduziert wird;2 er zielt dabei vor allem auf die Rekonstruktion der Governance (bzw. eingedeutscht: Governanz)3 der Welterbeliste, ihrer teilweise konfliktiven Aushandlung und ihres konfliktiven Managements. Der Beitrag greift dabei auf Konzepte und Ansätze der Politik- und Kulturwissenschaften und speziell der Kulturgeographie zurück. Empirisch beruht er auf mehrjährigen qualitativen Forschungen zur globalen Ebene der Welterbegovernanz und zu Aushandlungsprozessen an konkreten Welterbestätten in Nordafrika und Europa, wobei auf ein Methodenset aus teilnehmender Beobachtung, qualitativen Interviews und Gesprächen mit Akteuren sowie aus der Dokumentenanalyse zurückgegriffen wird (vgl. u.a. Schmitt 2008, 2009, 2011). Zunächst wird ein Analyserahmen zur Erfassung der Welterbegovernanz vorgestellt. Dem schließt sich ein Überblick über die Institutionen und Kollektivakteure des Welterbesystems an, ferner ein Einblick in die Diskussionskultur des zentralen Entscheidungsgremiums zur Welterbeliste. Anschließend werden ausgewählte Aspekte der Welterbegovernanz disku-

1

Immerhin erkennt die Konvention an, dass der outstanding universal value der Objekte der Welterbeliste von bestimmten Perspektiven ausgehend formuliert wird, z.B. in der Formulierung »which are of outstanding universal value from the point of view of history, art or science« (UNESCO 1972: Art. 1).

2

Mit einer Fokussierung auf die Aushandlungsprozesse der Welterbeliste beschränkt sich dieser Beitrag auf die materiellen Aspekte von Kulturerbe. Mit Ausnahme des Kapitels zum touristischen Verständnis des Welterbes beruht der Beitrag auf modifizierten und aktualisierten Ausführungen in Schmitt (2011).

3

Eine entsprechende Verwendung von Governanz findet sich u.a. bei Willke (2006).

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tiert. Eine solche Darstellung kann im Rahmen eines Beitrags in einem Sammelband selbstverständlich nicht erschöpfend sein, sondern beschränkt sich auf solche Themen, die im Hinblick auf die Schwerpunktsetzung des Gesamtbandes als vielversprechend erscheinen. Dazu gehören die Erörterungen eines Schlüsselbegriffs der Welterbekonvention, ferner des touristischen Verständnisses bzw. Missverständnisses der Welterbeliste und der Frage, welche Kulturgeographien das Welterbesystem produziert. Die Darstellung dieser Aspekte hat einen allgemeinen Ansatz, fokussiert dann aber jeweils auf ihre Zusammenhänge zur globalen Ebene der Welterbegovernanz. Der Beitrag schließt mit einer Reflexion zum Zusammenhang zwischen alltäglicher Steuerung und mittel- und langfristiger Weiterentwicklung der Umsetzung der Welterbekonvention.

G OVERNANZ

DES ( KULTURELLEN )

E RBES

Die UNESCO-Welterbekonvention von 1972 begründet ein internationales Regime zum Schutz »außergewöhnlicher« (outstanding) Stätten des Kulturund Naturerbes. Im Folgenden wird ein Analyserahmen zur Governanz kulturellen Erbes skizziert, welcher mit einigen Modifikationen auch auf Objekte des Naturerbes übertragen werden kann. Der Analyserahmen ist unter anderem durch den Regulationsansatz der britischen Cultural Studies und den damit verbundenen Circuit of Culture inspiriert (vgl. dazu Thompson 1997; für eine ausführliche Herleitung des Analyserahmens Schmitt 2011: Kap. 2). Bei der Governanz kulturellen Erbes sind zwei verschiedene Sachverhalte zu unterscheiden: (1) die Governanz des Auswahl- und Zuschreibungsprozesses und (2) die Governanz des definierten kulturellen Erbes. Ad (1): Kulturelles Erbe ist nicht per se gegeben, sondern es wird in, mitunter konfliktiven gesellschaftlichen Auswahlprozessen definiert. Eine zentrale Frage einer Forschung zur Governanz kulturellen Erbes ist die nach der sozialwissenschaftlichen Rekonstruktion von Auswahl-, Ausweisungs- und Zuschreibungsprozessen für kulturelle Objekte: Welches Objekt wird mit welcher Begründung, von welchen Akteuren und Institutionen, unter welchen strukturellen Bedingungen, auf der Grundlage welcher Ideen, wissenschaftlicher und konkret z.B. denkmalpflegerischer Konzepte und Interessen als kulturelles Erbe – formell oder informell – ausgewiesen;

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welchem Objekt wird eine solche Zuschreibung hingegen verweigert? Solche Fragestellungen sind in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu kulturellem Erbe prinzipiell gut etabliert (z.B. Tunbridge/Ashworth 1996). Ad (2): In der Governanz des definierten kulturellen Erbes erscheinen folgende Arten von Handlungen, Praktiken und institutionellen Regelungen relevant: (a) Auf der einen Seite berücksichtigt die Governanzanalyse solche Handlungen, Praktiken und institutionelle Regelungen, die auf das betreffende Objekt explizit in seiner Eigenschaft als (kulturelles) Erbe zielen, z.B. die Erstellung von Management- und Denkmalschutzplänen für das jeweilige kulturelle Erbe. Solche Handlungen, Praktiken und institutionelle Regelungen formieren die Governanz des (kulturellen) Erbes im engeren Sinne. (b) Jegliches kulturelle (oder auch natürliche) Erbe unterliegt in der Regel jedoch auch anderen Eingriffen, Steuerungsversuchen, Regulationen, Governanzprozessen oder Zugriffen als diejenigen, die aus seiner expliziten Eigenschaft als kulturelles (oder natürliches) Erbe herrühren, und diese sonstigen Zugriffe und Regelungen können sich für das jeweilige Erbe sowohl in seinen materiell-physischen Eigenschaften, seiner Nutzung als auch in seiner symbolischen Aufladung als sehr viel wirkmächtiger erweisen als diejenigen, die es explizit als (kulturelles) Erbe bewahren, konservieren, verändern, präsentieren oder allgemein ansprechen wollen. Eine adäquate Analyse der Governanz kulturellen Erbes muss somit idealerweise alle weiteren Handlungen, Praktiken, Eingriffe, Prozesse und institutionellen Regelungen berücksichtigen, die in den Denkmalwert (heritage value), die Authentizität und Integrität des Erbes, seinen Konservierungszustand, ferner in seine Nutzung, rechtliche Stellung oder auch in seine Repräsentation und seine symbolische Bedeutung eingreifen. Gemäß einer konstruktivistischen Perspektive sind Denkmalwert, Authentizität und Integrität eines kulturellen (oder »natürlichen«) Objekts oder einer Stätte nicht objektiv gegeben, sondern werden diskursiv bestimmt. Der Begriff der Welterbegovernanz zielt auf entsprechende Aushandlungsprozesse zu Stätten und Objekten mit Bezug zur UNESCO-Welterbekonvention (UNESCO 1972) oder, bei extensiverer Auslegung des Begriffs, mit Bezug zu vergleichbaren und inhaltlich verwandten Regelwerken wie der UNESCO-Konvention zum Schutz des immateriellen Erbes der Menschheit (UNESCO 2003). In Medienberichten und auch in manchen

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wissenschaftlichen Publikationen werden die durch die 2003er-Konvention geschützten Traditionen und damit in Verbindung stehenden Objekte teilweise ebenfalls als »Welterbe« angesprochen statt mit dem terminologisch präziseren Begriff des immateriellen Kulturerbes. Bei der Umsetzung der Welterbekonvention geraten globale, nationale und regionale sowie lokale (Kollektiv-)akteure in einen Interaktionszusammenhang: so z. B. die UNESCO-Administration als Behörde mit globalem Zuständigkeitsanspruch, das Welterbekomitee als Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft, die Kulturministerien und Fachbehörden der Vertragsstaaten, die sog. »Site Manager« an Welterbestätten, des Weiteren Politiker, Unternehmen, Medien oder Bürger an den jeweiligen Orten und in den jeweiligen Ländern. Somit bietet sich für die Analyse des Welterbesystems ein Mehrebenengovernanzansatz (vgl. z.B. Benz 2007) an. Der vorliegende Beitrag fokussiert vor allem auf die globale Ebene dieses Governanzsystems. Im Folgenden werden zur weiteren Einordnung zunächst grundlegende Institutionen des Welterbesystems übersichtsartig vorgestellt.

D IE W ELTERBEKONVENTION

UND IHRE I NSTRUMENTE

Die Welterbekonvention, präziser, die »Konvention zum Schutz des Kulturerbes und Naturerbes der Welt«, wurde 1972 von der Generalkonferenz der UNESCO verabschiedet. Sie begründet ein internationales Regime zum Schutz ausgewählter Stätten des Kultur- und Naturerbes, und zwar nur solcher Stätten, denen ein outstanding universal value bescheinigt wird. Diese Stätten werden auf der Welterbeliste inventarisiert. Im Normalfall werden die Stätten von dem betreffenden Nationalstaat nominiert;4 dessen Zustimmung zur Einschreibung ist in jedem Fall zwingend erforderlich (Art. 11,3 der Konvention). Die Nominierungsdossiers werden von zwei wissenschaftlichen Beratungsinstitutionen, ICOMOS (International Council on Monuments and Sites, »Internationaler Rat für Denkmalpflege«) und IUCN (International Union for the Conservation of Nature, »Weltnaturschutzorganisation«) in sachlicher Hinsicht geprüft. In der Regel geben

4

Prominente Ausnahme dieser Regel ist die Altstadt von Jerusalem, welche von Jordanien für die Welterbeliste nominiert wurde.

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diese ein Votum über die Einschreibung bzw. Nichteinschreibung auf die Welterbeliste oder eine zu fordernde Überarbeitung (referral bzw. deferral) des Nominierungsdossiers5 und der Schutzmaßnahmen ab. Die Entscheidung über die Einschreibung einer Stätte auf die Welterbeliste obliegt allerdings nicht diesen Beratungsorganisationen oder der UNESCO-Administration, sondern dem Welterbekomitee, welches aus den Delegationen von 21 Ländern besteht. Diese Länder werden regelmäßig am Rande der UNESCO-Generalversammlung neu gewählt. Durch diese besondere Konstruktion ist die Welterbeliste durch ein Organ der internationalen Staatengemeinschaft legitimiert; zugleich ist über die Beratungsorganisationen wissenschaftliche Expertise systematisch in die Produktion der Welterbeliste eingebunden. Das Welterbezentrum als Teil der UNESCO-Administration hat die Aufgabe, als Sekretariat das Welterbekomitee zu unterstützen. Im besten Fall spielt sich somit eine Governanzstruktur der checks and balances zwischen internationaler Fachpolitik, Wissenschaft und Administration ein  sofern die Delegationen im Welterbekomitee sich nicht leichtfertig über die Voten der Fachorganisationen hinwegsetzen. Der Schutz der Welterbestätten obliegt gemäß der Konvention in erster Linie dem jeweiligen Nationalstaat (Art. 4); seine Souveränitätsrechte sollen nicht angetastet werden. Gleichzeitig billigt die Konvention der internationalen Gemeinschaft eine Art Aufsichtsfunktion für die Welterbestätten zu (vgl. Art. 6,1). Sieht das Welterbekomitee den Schutz einer Stätte als nicht adäquat gewährleistet an, kann es den jeweiligen Staat zu Verbesserungsmaßnahmen auffordern, von ihm Berichte einfordern, als vorletzte Maßnahme die Stätte auf die besondere Liste des Welterbes in Gefahr einschreiben und als allerletzte Maßnahme die Stätte von der Welterbeliste löschen, der Stätte also den prestigeträchtigen Titel wieder entziehen.6 Die

5

Die mittlerweile recht umfangreichen Nominierungsdossiers erfordern Angaben zur Lokalisation und räumlichen Abgrenzung sowie eine Beschreibung der Stätte, sie sollen eine Begründung (justification) für die Einschreibung im Hinblick auf den geforderten outstanding universal value enthalten, ferner den aktuellen Erhaltungszustand (state of conservation) einordnen und Angaben zu den eingerichteten Schutzinstrumenten wie etwa »Managementplänen« geben, vgl. dazu detailliert Operational Guidelines (2012: Art. 129-139).

6

In der bisherigen Geschichte der Konvention wurde nur zwei Welterbestätten der Titel wieder entzogen. Präzedenzfall war 2007 das Arabian Oryx Sanctuary.

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UNESCO hat keine Eingreiftruppen, um die Welterbestätten zu schützen (Droste zu Hülshoff 1995); sie kann keinen Hohen Kommissar an die Welterbestätten zur konsequenten Durchsetzung der Intentionen des Welterbekomitees entsenden, sondern ihr bleiben aus regimetheoretischer Sicht zur Durchsetzung ihrer Ziele nur shaming and blaming-Effekte und die Hoffnung, dass nationale und lokale Akteure die Regimenormen internalisieren sowie die Autorität der UNESCO achten. Das Welterberegime funktioniert damit wesentlich nach einer Art Tauschgeschäft: Der jeweilige Nationalstaat und die betreffende Stadt oder Region erhalten den prestigeträchtigen, da exklusiven Titel »Welterbestätte« und verpflichten sich im Gegenzug, diese Stätte adäquat zu schützen; ferner räumen sie der UNESCO bzw. dem Welterbekomitee in einer weichen Form eine Art Aufsichtsrecht ein, Entwicklungen an der Welterbestätte zu begleiten und beispielsweise in Form von Resolutionen auf als negativ erachtete Entwicklungen zu reagieren.

D AS W ELTERBEKOMITEE

BEOBACHTET

Gemäß der Welterbekonvention entscheidet das Welterbekomitee über die Zusammenstellung der Welterbeliste, über die Annahme oder die Zurückweisung von Nominierungsanträgen. Der Autor nahm an den Sitzungen des Welterbekomitees in Vilnius (2006), Christchurch (2007) und Paris (2011) als Beobachter teil. Im Folgenden wird nicht sofort auf eine Analyse der Entscheidungsabläufe innerhalb des Komitees abgezielt, sondern auch das Setting der Komiteesitzungen beschrieben, das die Entscheidungen des Komitees in nicht unerheblichem Maße beeinflusst.7 Für die Stadt Vilnius und das Land Litauen war der Gastgeberstatus des UNESCO-Welterbekomitees 2006 offenbar ein diplomatisches Ereignis. Mehrsprachige Fähnchen in den zentralen Straßenzügen der Innenstadt wiesen auf die Konferenz hin. Mehr als 600 Personen hatten sich zur Konferenz angemeldet. Motivierte Studenten aus Vilnius kümmerten sich um

Die Regierung Omans wollte innerhalb des Naturschutzgebietes umfangreiche Ölbohrungen ermöglichen. Zwei Jahre später wurde dem Dresdner Elbtal aufgrund des Baus der neuen Elbbrücke der Titel aberkannt. 7

Für einen vergleichbaren Zugang zur globalen Ebene des Welterbesystems vgl. Brumann (2011).

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die Mikrofone und die Technik sowie um die Anliegen und Probleme der Teilnehmer; sie wurden mit international anerkannter Erfahrung, nicht aber monetär entlohnt. Die Mitglieder des Komitees (Delegationen von 21 gewählten Ländern) saßen in den ersten Reihen des Konferenzraumes, in den dahinter liegenden Reihen, in der Regel ohne feste Sitzordnung, die große Zahl der übrigen Beobachter, darunter die Vertreter anderer Staaten, die derzeit nicht im Komitee vertreten sind, oder die Repräsentanten von NGOs. Auf dem Podium saßen die gewählte Sitzungsleitung aus dem Kreise des Komitees oder alternativ ein Stellvertreter, der Leiter des Welterbezentrums, weitere UNESCO-Mitarbeiter sowie die Vertreter der Beratungsorganisationen – je nach Programmpunkt Vertreter von ICOMOS, IUCN oder ICCROM.8 Teile des Podiums wechselten also je nach Themengebiet und Zuständigkeit. Der UNESCO-Generaldirektor ließ sich in Vilnius nach der Eröffnungssitzung durch eine Repräsentantin vertreten. Komiteesitzungen wie jene in Vilnius finden in einer langen, physisch anstrengenden Konferenzwoche statt; mittlerweile werden für die Sitzungen gar zwei Wochen angesetzt. Abwechslung von den Plenardiskussionen bieten neben den Mittagspausen die kulturellen Abendveranstaltungen, die in der Regel vom Gastland gestaltet werden. Diese sind für Lobbyisten aus der NGO-Szene und auch den Forschenden Gelegenheiten, mit relevanten Akteuren ins Gespräch zu kommen. Die Tagesordnung wirkt dicht gedrängt; Statements von Delegationen oder sonstigen Akteuren dürfen in der Regel die Normzeiten von zwei bzw. drei Minuten nicht überschreiten. An diesen Ausführungen wird bereits deutlich: Die Sitzungen des Welterbekomitees sind eher durch das Korsett diplomatischer Formen als durch die Orientierung an einem idealtypischen, freigeistigen und angewandt-wissenschaftlichen Ringen um den Denkmal- und Naturschutz an den jeweiligen Stätten bestimmt. Titchen resümierte: »A distinctive style of international heritage protection diplomacy has thus characterized […] the recent implementation of the World Heritage Convention« (1995: 3). Der Diskussion von Neueinschreibungen geht eine Vorstellung und kritische Würdigung der Nominierung durch die Beratungsorganisationen ICOMOS oder IUCN voraus. Das Komitee kann die nominierte Stätte ein-

8

ICCROM: das »International Centre for the Study of the Preservation and Restoration of Cultural Property«, mit Sitz in Rom.

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schreiben, die Einschreibung ablehnen oder die Nominierung mit der Auflage von Nacharbeiten an den Staat zurückgeben. Die Delegationen des Welterbekomitees sind an die jeweiligen Empfehlungen der Beratungsorganisationen nicht gebunden, weder in der Diskussion der Nominierungsanträge, noch bei der Erörterung von Problemen an bereits eingeschriebenen Welterbestätten. Als Souverän der Welterbeliste haben die Delegierten auch nicht das Rollenverständnis, permanent den Voten der Beratungsorganisationen zu folgen. Auf der anderen Seite galt über Jahrzehnte die ungeschriebene Regel, dass das Welterbekomitee die Beratungsorganisationen nicht über Gebühr brüskieren und sich nicht leichtfertig über deren Voten hinwegsetzen solle.9 In den Sitzungen 2006/07 ließ sich eine gewisse Polarisierung zwischen den Delegationen beobachten. Ein Teil der Delegierten wollte sowohl bei der Diskussion von neuen Nominierungen als auch bei der Beratung von Problemen an bestehenden Welterbestätten tendenziell den eher »strengen« Voten der Beratungsorganisationen folgen (etwa die Delegationen von Norwegen, der Niederlande, Litauen und der USA), während andere Delegationen (etwa Indien und Tunesien) dazu neigten, Bewertungsunterschiede zu Stätten zugunsten der artikulierten Interessen der jeweiligen nationalstaatlichen Vertreter auflösen zu wollen. Während manche Beobachter diese Polarisierung als einen Ausdruck einer »NordSüd-Teilung« des Komitees interpretierten, zeigten sich hierin auch grundlegend unterschiedliche intellektuelle Stile und Zugangsweisen der einzelnen Delegationen zu Schlüsselbegriffen der Konvention.10 In den Komiteesitzungen 2006/07 zeigte sich zwischen beiden Gruppen ein gewisses Kräftegleichgewicht, so dass im Ergebnis mal den Voten der Beratungsorganisationen gefolgt wurde, mal den Wünschen der Nationalstaaten und häufig Kompromisse zwischen beiden Positionen gesucht wurden. 2011 hatten sich bei geänderter Zusammensetzung des Komitees die Kräfteverhältnisse deutlich verschoben: Lediglich drei Länder (Schweiz, Schweden und Estland) argumentierten regelmäßig für die konsequente Beachtung von Positionen der fachlichen Beratungsorganisationen, während der größere Teil der aktiven Delegationen, allen voran Brasilien, entsprechende Vorschläge der Beratungsorganisationen regelmäßig abschwä-

9

In diesem Sinne äußerte sich u.a. Hans Caspary, langjähriger Vertreter Deutschlands im Welterbekomitee, im Gespräch 2004 (nach handschriftlichen Notizen).

10 Ausführlicher hierzu Schmitt (2009) und (2011: Kap. 5).

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chen oder unterlaufen wollten. Der kleineren informellen Gruppe der »konsequenten« Delegationen fehlte, anders als 2006/07, ein vergleichsweise gewichtiges Land wie die USA, so dass deren Position in vielen Fällen unterlag und sich auch Kompromisslösungen zwischen den Lagern meist zugunsten der in der Sache (nicht unbedingt im Stil) »weicher« argumentierenden Delegationen verschoben. Ein Teil der Beobachter und Akteure diagnostizierte in Gesprächen rund um das Sitzungsgeschehen, dass sich zahlreiche Länderdelegationen zunehmend von den Positionen der Beratungsorganisationen entfernten, diese gar ignorierten und die Ziele der Konvention zugunsten vermeintlicher Länderinteressen unterliefen. Entsprechende divergente Positionen im Komitee zeigen sich auch bei der Verwendung und Interpretation eines Schlüsselbegriffs der Konvention, des outstanding universal value.

D ER O UTSTANDING U NIVERSAL V ALUE ALS S CHLÜSSELBEGRIFF Der eingangs erwähnte Begriff des outstanding universal value (im UNESCO-Jargon gerne und im Folgenden als o.u.v. abgekürzt) wird in der Welterbekonvention zwar vielfach verwendet, aber nicht definiert, und man folgte mit dieser bewussten Nichtdefinition dem Votum der Tagung einer Expertenkommission im April 1972 (Titchen 1995: 102). Definitionsversuche werden hingegen in den Umsetzungsrichtlinien zur Welterbekonvention vorgenommen: »Outstanding Universal Value means cultural and/or natural significance which is so exceptional as to transcend national boundaries and to be of common importance for present and future generations of all humanity. As such, the permanent protection of this heritage is of the highest importance to the international community as a whole.« (Operational Guidelines 2012: Art. 49)

Bereits in der ersten Fassung der Umsetzungsrichtlinien von 1977 wurde versucht, den Begriff mittels Kriterien, welche die Stätten des Welterbes erfüllen müssen, zu operationalisieren. Stätten sollen z.B. »represent a masterpiece of human creative genius« (Kriterium i) und/oder »bear a unique or at least exceptional testimony to a cultural tradition or to a civilization

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which is living or which has disappeared« (Kriterium iii; Operational Guidelines 2012: Art. 77). Diese Kriterien wurden im Laufe der Zeit mehrfach modifiziert. Wie Titchen (1995: 102) anhand der Auswertung von Dokumenten zur Entstehung der Welterbekonvention rekonstruieren konnte, wurde der Begriff des o.u.v. weitgehend gleichbedeutend mit universalem Interesse (universal interest) eingeführt, und dabei wurde auf die Idee eines gemeinsamen Erbes (common heritage) der gesamten Menschheit, eines universalen Gutes bzw. Eigentums (universal property) Bezug genommen. Zumindest bei einigen in die Entwicklung der Konvention involvierten Akteuren tauchte damals der Gedanke auf, dass eine Beschränkung der Konvention auf wenige außergewöhnliche Stätten auch pragmatisch die Arbeitsbelastung des neuen internationalen Regimes begrenzen würde (vgl. Titchen 1995). Aus der Wissenschaftstheorie ist es ein bekanntes Phänomen, dass gerade die vorgeblichen zentralen Begriffe einer Disziplin diejenigen sind, deren Klärung und konsensuale Diskussion sich als besonders problematisch erweisen. Insofern dürfte der Befund keineswegs überraschen, dass sich auch für die Institutionen der Welterbegovernanz der Umgang mit dem Schlüsselbegriff des außergewöhnlichen universalen Werts als nicht unproblematisch darstellt. Gerade in den letzten Jahren wurde der Begriff in Gremien der UNESCO mehrfach diskutiert. Die einzelnen Institutionen der Welterbegovernanz haben zum Teil unterschiedliche Verständnisse des Begriffs des außergewöhnlichen universalen Werts entwickelt, die verschiedenen Akteure haben eine unterschiedliche Reflexionstiefe. Während manche Komiteemitglieder zu Beginn ihrer Amtszeit sich möglicherweise zum ersten Mal mit dem Problem einer Fassung von o.u.v. konfrontiert sehen (und eventuell gleich schon darüber Entscheidungen zu treffen haben), besteht bei den Beratungsinstitutionen ICOMOS und IUCN eine längere Tradition der Auseinandersetzung. Der abstrakte Streit um das jeweilige Verständnis von o.u.v. setzt sich regelmäßig konkretisiert in der Diskussion von Nominierungsanträgen für die Welterbeliste fort. Es lassen sich mindestens fünf verschiedene Zugänge zur Begründung des o.u.v. unterscheiden, die ich im Folgenden als phänomenologisches, realistisch-wissenschaftliches, sozialkonstruktivistisches, formal-positivistisches und pragmatisches »Paketverständnis« von o.u.v. bezeichnen möchte.

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Phänomenologische Zugänge Der Schlüsselbegriff des außergewöhnlichen universalen Werts muss nicht nur in der internen Kommunikation des Systems der Welterbegovernanz bestehen, sondern auch vor den interessierten Öffentlichkeiten. Medien und nationale wie internationale Öffentlichkeiten werden vermutlich weniger mögliche Definitionsleistungen der UNESCO abfragen, als vielmehr intuitiv die Welterbeliste dahingehend abklopfen, ob sie trotz aller Vielfältigkeit als kohärent empfunden wird und trotz aller konzeptionellen Erweiterungen den eigenen Sehgewohnheiten auf Kultur- und Naturerbe entspricht: Einerseits wird die Welterbeliste als eine wichtige normative Referenz wahrgenommen, andererseits wird durch die weltgesellschaftliche Öffentlichkeit, tendenziell jede Erweiterung der Liste an ihren bisherigen Einträgen gemessen. Im Rahmen der 30. und 31. Sitzung des Welterbekomitees 2006 und 2007 wurde der Begriff des o.u.v. diskutiert. Die beiden Beratungsorganisationen ICOMOS und IUCN hatten hierzu Positionspapiere vorgelegt. Ein Vertreter von ICOMOS versuchte die Problematik des o.u.v. in Vilnius in einem einführenden mündlichen Statement wie folgt zu erläutern: »Es gab immer Schwierigkeiten zu definieren, was o.u.v. ist. Wenn du eine bestimmte Stätte siehst, ist es so, dass du unmittelbar siehst, dass sie einen outstanding universal value hat. Aber es ist dann schwierig, dies in Worte zu fassen.«11 Für diejenigen, welche die Welterbeliste als denkmal- und naturschutzpolitisches Instrument prinzipiell ernstnehmen, erachte ich einen solchen phänomenologischen Zugang als einen legitimen Versuch, sich dem Begriff des außergewöhnlichen universalen Werts in einer ersten Weise anzunähern. Das platonische taumazein, das Staunen – welches im Falle mancher Stätten wie der des Konzentrationslagers Auschwitz in ein Erschauern umschlagen kann – wäre demnach der Anfangsgrund einer Welterbeliste. Allerdings ergeben sich bei einem solchen phänomenologischen Zugang zu o.u.v. Schwierigkeiten, die letztlich in Aporien enden: Denn nicht jeden Betrachter mag ein Staunen überfallen; eine phänomenologische Bestimmung mag subjektiv evident sein, scheitert aber in einem intersubjektiven

11 Wiedergegeben nach handschriftlichen Notizen. Das Statement findet sich nicht im Sitzungsprotokoll.

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Austausch. Ob z. B. die 2010 in die Welterbeliste eingeschriebene Oberharzer Wasserwirtschaft in gleichem Maße bei Betrachtern ein Staunen hervorrufen kann wie etwa die Ruinenstätten Petra oder Angkor Wat, mag vorbehaltlich überprüfender empirischer Tests bezweifelt werden. Gelegentlich lassen sich in den Redebeiträgen von Delegierten Bezüge auf einen offensichtlich phänomenologisch outstanding Charakter einer neu nominierten Stätte feststellen, wenn z. B. auf spektakuläre Fotos, wie sie bei der Vorstellung von Stätten projiziert werden, verwiesen wird. In den Texten, welche in den Entscheidungsgremien des Welterbesystems vorgelegt werden und die als Basis für eine Entscheidung dienen sollen, hinterlässt ein solcher phänomenologischer Zugang hingegen kaum Spuren;12 denn hier sind schlüssige Argumentationen gefragt. Die Relativität phänomenologischer Zugänge wird zudem im obigen Zitat des schlesischen Mystikers Angelus Silesius deutlich: Aus mancher Perspektive mag auch der Frosch als »so schön als Engel Seraphin« erkannt werden. Realistisch-wissenschaftliche Zugänge In den 2006 und 2007 vorgelegten Positionspapieren von ICOMOS und IUCN zum Begriff des o.u.v. wurden markante Unterschiede ersichtlich, die erkennbar der Differenz zwischen einer kulturwissenschaftlich orientierten (ICOMOS) und einer traditionell-realistischen, naturwissenschaftlich orientierten Denktradition (IUCN) entsprechen. Ob eine Stätte eine globale Bedeutung hat, lässt sich aus IUCN-Sicht mit Hilfe eines »set of clear standards or criteria that are consistently applied« ermitteln (IUCN 2006: 14). Auch eine eindeutige skalare Hierarchisierung von Objekten des Naturerbes in solche mit regionaler, nationaler, internationaler oder globaler Bedeutung – und nur letztere sind für die Welterbeliste vorzusehen – stellt für IUCN kein prinzipielles Problem dar; die Liste soll nur »globale Superlative« enthalten. Anders als ICOMOS erachtet IUCN eine angemessene Repräsentation unterschiedlicher Weltregionen für das Natur- wie das Kulturerbe als nicht prioritär, »as this would be contrary to the concept of outstanding universal value« (IUCN 2006: 12). Für IUCN ist der Umfang

12 Zur Beurteilung der Authentizität einer Stätte lassen die Umsetzungsrichtlinien allerdings auch »spirit and feeling« zu (vgl. Operational Guidelines 2012: Art. 82-83).

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der Teilliste des Weltnaturerbes abschätzbar; die Liste hat für IUCN eine Finalität (vgl. Tab. 1). Das IUCN-Konzept entspricht eher tradierten Sehgewohnheiten auf das Spektakuläre, welches es unbedingt zu schützen gilt, und kommt damit vermutlich Erwartungen großer Teile der Weltöffentlichkeit an eine möglichst exklusive Welterbeliste entgegen. Die theoretische IUCN-Positionierung hat Konsequenzen bei der konkreten Bewertung von Nominierungen: Auf IUCN-Empfehlung hat das Welterbekomitee 2006 beispielsweise die Eintragung des Toubkal, des höchsten Bergs Nordafrikas im marokkanischen Hohen Atlas, in die Welterbeliste abgelehnt. Begründet wurde dies nicht nur mit einem unzureichenden Schutz der Stätte, sondern vor allem damit, dass das ToubkalMassiv hinsichtlich seiner geologischen, geomorphologischen Eigenheiten und seiner biogeographischen Vielfalt, verglichen mit bestimmten bereits eingeschriebenen Welterbestätten (wie dem nepalesischen Sagarmatha National Park/ Himalaya) zurückstehe. Die im Antragsdossier herausgestellten Merkmale, die den außergewöhnlichen universalen Wert des Toubkal begründen sollten, fänden sich in anderen Gebirgszügen wie dem Himalaya oder den Alpen besser ausgeprägt. Die ICOMOS-Position der angemessenen Repräsentation unterschiedlicher Kulturen bzw. »geokultureller Regionen« findet bei IUCN keine analoge Berücksichtigung im Sinne einer angemessenen Repräsentation unterschiedlicher physisch-geographischer Großeinheiten.

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Tab. 1: Typologisierung der unterschiedlichen Zugangsweisen der beiden Beratungsorganisationen IUCN und ICOMOS bei der Bewertung des o.u.v. von Welterbestätten IUCN Orientierung am Realismus o.u.v. einer Stätte ist objektiv feststellbar o.u.v. betrifft nur »globale Superlative«

Mögliche Stätten (z. B. Gebirgsareale) werden mit anderen Stätten desselben Typs über den ganzen Globus verglichen und müssen im Vergleich mit ihnen den Test des o.u.v. bestehen Die maximale Zahl von Stätten des Naturerbes mit o.u.v. ist abschätzbar. Die Welterbeliste hat für den Bereich des Naturerbes eine Finalität

ICOMOS Orientierung am Sozialkonstruktivismus o.u.v. einer Stätte ist sozial konstruiert. Die Wahrnehmung dessen, was o.u.v. hat, kann mit der Zeit variieren Stätten, denen o.u.v. zugesprochen wird, müssen nicht notwendig superlativ sein. Dies könnte ansonsten bedeuten, dass bestimmten Kulturen implizit ein größerer Wert zugesprochen wird als anderen Mögliche Stätten (z. B. Altstädte, Sakralbauten, Felszeichnungen) werden i. d. R. mit anderen Stätten derselben »geokulturellen Region« verglichen und müssen im Vergleich mit ihnen außergewöhnlich (outstanding) sein Da sich die Bewertung von o.u.v. unter Umständen ändert, ist die maximale Zahl kultureller Stätten mit o.u.v. nicht abschätzbar. Die Welterbeliste hat keine zwangsläufige Finalität

Eigene Zusammenstellung aufgrund einer Auswertung von Texten von ICOMOS und IUCN, insbesondere WHC-06/30.COM/INF.9.

Sozialkonstruktivistische Zugänge Ein Delegierter aus Benin benannte in der Diskussion des Welterbekomitees 2006 recht offen seine Schwierigkeiten, den Begriff des außergewöhnlichen universalen Werts zu fassen, vor allem im Hinblick auf die kulturspezifische Wahrnehmung einer Stätte. Wenn er etwa eine Nominierung aus Asien bewerten müsse, frage er sich, was dann die Grundlage für die Bewertung sei: Der eigene regionale, nationale Hintergrund?13 Das State-

13 Wiedergegeben nach eigenen Notizen.

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ment des Delegierten verweist auf die Frage der Perspektive, von der ausgehend der o.u.v. einer Stätte bestimmt oder konstruiert wird. Für solche Unsicherheiten lässt das IUCN-Verständnis des o.u.v. keinen Raum. In der Denktradition von Michel Parent geht ICOMOS behutsamer in seinen Bestimmungsversuchen vor: Der o.u.v. einer Stätte ist sozial konstruiert, und die Wahrnehmung dessen, was über einen o.u.v. verfügt, könne mit der Zeit variieren (vgl. ICOMOS 2006). Der ehemalige ICOMOS-Weltpräsident Michel Parent machte bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Konventionsgeschichte (1984: 41) auf grundlegende Problematiken des Begriffs des außergewöhnlichen universalen Werts und seine letztlich unauflösbaren Dilemmata aufmerksam: Jedes konkrete kulturelle Objekt ist an eine zeitlich wie räumlich begrenzte kulturelle Epoche (oder eine Abfolge mehrerer Epochen) gebunden. Somit könne man einem kulturellen Artefakt schwerlich einen kulturübergreifenden universalen Wert zuweisen. Man könnte knapp dreißig Jahre nach Parents Beitrag argumentieren, dass durch die inzwischen weiter fortgeschrittene Globalisierung sich mittlerweile eine übergreifende »Weltkultur« (vgl. Meyer 2005) herausgebildet habe, die über den Einzelkulturen stünde. Von ihrer Warte aus ließe sich aus einer quasi-objektiven Distanz auswählen, welche Stätten bzw. kulturellen Artefakte der historisch gewachsenen Kulturen besonders erhaltenswert seien, weil sie z.B. für die Universal(ideen)geschichte von besonderer Bedeutung seien. Doch erscheint eine solche Liste, die von einem hier hypothetisch postulierten kleinsten gemeinsamen Nenner einer übergreifenden Weltkultur ausginge, als ein äußerst steriles Produkt. Dass es bei der Bestimmung des o.u.v. einer Stätte wesentlich auf eine angemessene Argumentation bzw. textliche Konstruktion ankommt, wird unter anderem an der Einschreibungsgeschichte der französischen Welterbestätte Causses et Cévennes deutlich. 2006 wurde die Nominierung der französischen Kulturlandschaft, einer Empfehlung ICOMOS folgend, von Seiten des Komitees nur mit einem deferral beantwortet; die Delegation der USA hatte hierzu eine geheime Abstimmung erzwungen , nachdem sich im Plenum einige Delegationen, entgegen dem ICOMOS-Votum, für eine Einschreibung aussprachen. ICOMOS kritisierte neben dem willkürlich erscheinenden Zuschnitt des Gebiets nicht zuletzt den Umstand, dass im Antragsdossier zwei völlig differente Themen zur Begründung des o.u.v. herangezogen wurden: einerseits das Fortbestehen des mediterranen Agropastoralismus in der Region, andererseits die historische Rolle, die Teile

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des Gebiets für den Protestantismus in Frankreich gespielt hatten. Frankreich überarbeitete in den Folgejahren das Dossier, legte einen verkleinerten Gebietszuschnitt vor und beschränkte sich im Wesentlichen auf die (bessere) Herausarbeitung der Agropastoralismus-storyline unter weitgehender Ausklammerung der religionsgeschichtlichen Aspekte. Gegen diesen geänderten Antrag hatte ICOMOS zumindest keine prinzipiellen Einwände, und so wurden die Causses et Cévennes 2011 in die Welterbeliste eingeschrieben. Formal-positivistische Bestimmungen des o.u.v. In der Diskussion des Welterbekomitees 2006 zum Begriff des o.u.v. plädierte die Leiterin der kanadischen Delegation im Sinne von Präzedenzfällen dafür, dass diejenigen Stätten und Objekte, welche das Komitee bisher in die Welterbeliste eingeschrieben habe, auch über einen o.u.v. verfügten. Die bisherigen Entscheidungen könnten damit eine Orientierung für zukünftige Entscheidungen des Komitees liefern.14 Damit griff die kanadische Delegierte einen Gedanken auf, wie er in der Abschlussempfehlung des Kazan Meeting of Experts formuliert ist: »The corpus of past decisions forms an indispensable corporate memory for the application of outstanding universal value«.15 Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Setzung aber auch aus einer inhärenten, emischen Perspektive des Welterbesystems nicht ohne Haken und Ösen: Wohl niemand der involvierten Akteure der Welterbegovernanz sieht das Welterbekomitee als unfehlbar an; Akteure und Beobachter werten gelegentlich die eine oder andere Eintragung in die Welterbeliste als Fehlentscheidung des Welterbekomitees. »Ich fragte [einen UNESCO-Mitarbeiter] in Bezug auf die Welterbestätte A, über deren Probleme im Welterbekomitee zuvor diskutiert worden war und die zu seinem Zuständigkeitsbereich gehört. Mich hatte dabei irritiert, dass die Fotos, die von der Welterbestätte in der Komiteesitzung projiziert wurden, so belanglos wirkten. Der

14 Sinngemäß wiedergegeben nach eigenen handschriftlichen Notizen. 15 Zit. nach WHC-05/29.COM/9: 4. Das »Special Expert Meeting of the World Heritage Convention: the Concept of Outstanding Universal Value« wurde auf der Grundlage eines Beschlusses des Welterbekomitees 2005 in Kazan/Russland abgehalten und reflektierte den Schlüsselbegriff der Welterbekonvention.

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UNESCO-Mitarbeiter antwortete, die Einschreibung der Stätte in die Welterbeliste sei für ihn völlig unverständlich; sie gehöre nicht auf die Liste. Die Stätte habe auch keinen ästhetischen Wert. Das Land mache umgekehrt Werbung, dass dies die einzige Welterbestätte dieser Art auf dem Subkontinent sei.« (Nach dem Forschungstagebuch, Vilnius 2006)

Was ist dann aber die Referenz, an der die Entscheidung über eine Einschreibung gemessen wird? Eine im Sinne der platonischen Ideenlehre ideale Welterbeliste? Oder die Diskursgemeinschaft der globalen Ebene der Welterbegovernanz, die über das Komitee hinausgehend auch die Beobachter, die Beratungsorganisationen und die UNESCO-Verwaltung umfasst? Wie an obigem Beispiel deutlich wird, vergleichen Akteure und Beobachter der Welterbegovernanz Entscheidungen zu bestimmten Stätten mit anderen Stätten; Entscheidungen des Welterbekomitees können somit auch als unangemessen bewertet werden. Der Korpus an Entscheidungen zum o.u.v. von Stätten, auf welchen das Kazan Expert Meeting verweist, hätte demnach ein erratisches Element. Die Art und Weise der Auswahl von Stätten drückt sich in der Zahl der einzuschreibenden Objekte aus. Hier wäre in einem Extremfall eine sehr exklusive Liste denkbar, nach dem Vorbild etwa der antiken »Sieben Weltwunder«. Im anderen Extrem wäre eine sehr umfangreiche Liste vorstellbar, bis hin zu einer quasi-vollständigen Inventarisierung des materiellen kulturellen oder natürlichen Erbes der Menschheit, die jeder denkmalgeschützten Dorfkirche oder jedem geschützten Landschaftsbestandteil auch einen internationalen Schutz zuerkennen würde. Auch die formulierbaren Kategorien der einzuschreibenden materiellen Objekte (wie etwa Sakralbauten, Herrschersitze, Antikenstätten, Altstädte, Denkmäler der Industrie- und Technikgeschichte, Architektur der Moderne, Kulturlandschaften) sind sowohl hinterfragbar als auch erweiterbar. Wie bereits erwähnt, wird puristisch eine skalare Hierarchisierung des Erbes (etwa als regionales, nationales, internationales oder universales Erbe) insbesondere von IUCN vertreten; die für Kulturerbe zuständige Beratungsorganisation ICOMOS meidet solche klaren Relationen zwischen Wertigkeiten und skalar definierten Reichweiten, ohne sie allerdings völlig aufzugeben. Die Zuordnung von Bedeutungen zu skalaren Reichweiten ist selbstverständlich problematisch, wie hier am Beispiel des Naturerbes demonstriert werden soll. Denn auch der Bereich des Naturerbes umfasst

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völlig unterschiedliche Objektbereiche (Wälder, Gebirgslandschaften, Fossilienstätten), die untereinander kaum vergleichbar sind. Ein hypothetisches Beispiel: Eine bestimmte Fossilienstätte mag für die weltweite Diskursgemeinschaft der auf bestimmte Tierordnungen spezialisierten Paläobiologen von unschätzbarem, in diesem Sinne universalem Wert sein, aber sich bereits für andere Paläobiologen als völlig uninteressant erweisen. Ob sich nun dieser konkreten Fossilienstätte ein universaler Wert zuschreiben ließe, wäre das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Paläobiologen und letztlich der gesamten Weltgesellschaft. Die problematische Zuordnung von Wertigkeiten zu skalaren Reichweiten ist nach den derzeit dominierenden Lesarten der Welterbekonvention für das Konzept des Welterbes konstitutiv. Als Weltbürger, der – unabhängig von der eigenen Rolle als Sozialwissenschaftler – die Welterbekonvention als ein sinnvolles Schutzinstrument zu schätzen weiß, plädiere ich für einen pragmatischen Umgang mit diesen Problematiken: Dies schließt ein, dass die Unschärfen und Problematiken des Welterbekonzepts selbstverständlich benannt werden müssen, ohne dass aus diesem Grund die Welterbekonvention in ihrer kultur- und naturschutzpolitischen Bedeutung ad acta gelegt werden soll. Die Einschreibung einer bestimmten Stätte in die Welterbeliste erscheint dann als Ergebnis eines durch die internationale Staatengemeinschaft legitimierten Auswahlprozesses und nicht als Feststellung einer als objektiv gegeben behaupteten universalen Bedeutung. Das pragmatische »Paketverständnis« des o.u.v. Welterbezentrum, Beratungsorganisationen und zumindest offiziell auch das Welterbekomitee haben sich in jüngerer Zeit zu einer Art »Paketverständnis« des o.u.v. geeinigt. Demnach reiche es zur Anerkennung einer Stätte nicht aus, wenn diese eines (oder mehrere) der erwähnten inhaltlichen Kriterien des o.u.v. erfülle. Zugleich müsse die Stätte die Kriterien von Integrität (im Falle des Kulturerbes auch Authentizität) erfüllen und über angemessene Schutzinstrumente wie z.B. Managementpläne verfügen (Operational Guidelines 2012: Art. 78). In den Sitzungen des Welterbekomitees um die Einschreibung nominierter Stätten sorgt gerade dieses erweiterte, aber wohl wenig intuitive Verständnis von o.u.v. für Kontroversen. Nicht selten kommt es vor, dass die Beratungsorganisationen einer nominierten Stätte die Erfüllung der

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oben erwähnten sachlichen Kriterien für einen o.u.v. bescheinigen, zugleich aber die Managementpläne und Schutzmaßnahmen als unzureichend werten. Ein Beispiel hierfür war die Diskussion zu einem grenzüberschreitenden Regenwaldgebiet auf Borneo, welches Indonesien und Malaysia für die Welterbeliste nominiert hatten. Zwar attestierte IUCN als die zuständige Beratungsorganisation auf der Komiteesitzung 2006 dem 10.000 km² großen Regenwaldgebiet ausdrücklich den notwendigen außergewöhnlichen universalen Wert für eine Einschreibung; der Regenwald erfülle das Kriterium (iv) für Stätten des Weltnaturerbes aufgrund seiner Biodiversität und des Vorhandenseins bedrohter Tier- und Pflanzenarten einschließlich 4.000 dort lebender Orang-Utans. Zugleich behauptete IUCN eine unzureichende Integrität des Regenwaldes, etwa im Hinblick auf eine ungenügende Überwachung der Grenzen, mangelnde finanzielle und personelle Ausstattung des Parkmanagements, ferner aufgrund störender Nutzungen in (allerdings eher kleineren) Teilgebieten (WHC-06/30.COM/INF.8B2: 19-25). Während ein Teil der Delegierten aufgrund des festgestellten o.u.v. für eine sofortige Einschreibung der Stätte plädierte, um dem Regenwald auf diese Weise den Schutz der Welterbekonvention zukommen zu lassen, setzte sich schließlich die IUCN-Empfehlung des deferral durch, also der Aufschiebung der Entscheidung mit der Möglichkeit, den Nominierungsantrag in substantiell veränderter Form mittelfristig wieder vorzulegen.16 Der IUCN-Vertreter argumentierte, die Stätte müsse erst »in Ordnung« sein, bevor sie auf die Welterbeliste eingeschrieben werden solle. Im Protokoll der Sitzung ist festgehalten: »IUCN indicated that its recommendation was not a deferral for lack of outstanding universal value but that the States Parties needed to solve certain issues. It added that the site had potential outstanding universal value but that it did not meet the required conditions of integrity.« (WHC-06/30.COM/INF.19: 158) Für die Beobachterdelegationen aus Malaysia und Indonesien war die Enttäuschung groß, da kein Kompromiss in einer referral-Entscheidung gefunden wurde, was den Arbeitsaufwand für Nacharbeiten deutlich reduziert hätte. Die Delegation der USA pflichteten IUCN mit dem Hinweis bei, dass gemäß dem Konventionstext der Staat, nicht das Welterbekomitee für den

16 In den Operation Guidelines von 2012 (Art. 160) wird ausgeführt: »The Committee may decide to defer a nomination for more indepth assessment or study, or a substantial revision by the State Party.«

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Schutz der Stätte verantwortlich sei, und warnte davor, die Stätte mit dem Ziel einzuschreiben, ihr damit einen besseren Schutz zukommen zu lassen. Für einen Teil der Delegierten ist dieses »Paketverständnis« des o.u.v. nicht nachvollziehbar, und es wird argumentiert, dass es besser sei, wenn einer außergewöhnlichen Stätte (die z.B. bedrohte Tierarten beherbergt) möglichst rasch der internationale Schutz durch die Welterbekonvention zufalle. Die UNESCO folgt in der gegenwärtigen Praxis also in vielen Fällen weniger einem Rollenverständnis, das an eine Art Internationales Rotes Kreuz des Welterbes denken lässt, welches unbeschadet von Formalia bedeutenden Stätten unbürokratisch Hilfe gewährt, sondern agiert häufig eher als eine Art Notar des Welterbes. Doch auch bezüglich dieses Rollenverständnisses haben verschiedene Akteursgruppen des Welterbesystems differente Vorstellungen.

D IE K ULTURGEOGRAPHIEN

DES

W ELTERBES

Die Welterbeliste der UNESCO ist von 1978 bis Oktober 2012 auf 962 Einträge angewachsen. Sie ist eine kulturelle bzw. eine »metakulturelle Produktion« (Kirshenblatt-Gimblett 2004), welche die Stätten des Kulturaber auch des Naturerbes in einen globalen Kontext setzt. Während die einzelnen kulturellen Stätten der Welterbeliste in der Regel als Ausdruck von verschiedenen, räumlich und/oder zeitlich definierten Kulturen (oder, im Falle z.B. der Moderne, von Stilen) modelliert werden, vereinigt die Welterbeliste diese unterschiedlichen Objekte gewissermaßen in einer kulturellen Produktion zweiter Ordnung. Mit der Welterbeliste produziert die UNESCO zugleich eine Art globale Kulturgeographie, indem sie bzw. das Welterbekomitee und die antragstellenden Mitgliedsstaaten die für das kulturelle Gedächtnis der Menschheit besonders wichtigen Stätten definiert. Die Produktion einer solchen Kulturgeographie ist nun nicht die eigentliche Zielsetzung der Welterbekonvention – das Ziel liegt im Schutz herausragender Stätten –, sondern ein Nebenprodukt. Die Welterbeliste eröffnet mindestens zwei verschiedene Möglichkeiten, eine globale Kulturgeographie zu produzieren: In zahlreichen Publikationen der UNESCO und auch in der populären Literatur zum Thema wird das Bild des faszinierenden Welterbes gepflegt, das den kulturellen und natürlichen Reichtum des Planeten in all seiner Diversität abzubilden vermag.

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Die durch die Welterbeliste produzierte Kulturgeographie ist jene der kulturellen Vielfalt des Planeten, der Gleichwertigkeit und der schöpferischen Ausdruckskraft der Kulturen. Betrachtet man hingegen die Verteilung auf einer Weltkarte, so fällt die hohe Anzahl und Dichte von Welterbestätten in Europa auf. Blendet man die Stätten des Weltnaturerbes aus und fokussiert nur auf den Bereich des Kulturerbes, so wird dieser Eindruck noch verstärkt. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Stätten außerhalb Europas stellt zudem Zeugnisse europäischer Kolonialgeschichte dar. Somit erscheint zumindest die Umsetzung des Welterbekonzepts, das als ein Konzept mit universalem Anspruch angelegt wurde, als eurozentristisch. Für diesen Befund, welcher sowohl in der Literatur zum UNESCO-Welterbe als auch in den Institutionen der globalen Ebene der Welterbegovernanz bereits seit langem diskutiert wird (vgl. exemplarisch Rössler 1995), bieten sich zwei nicht konkurrierend, sondern komplementär gedachte Erklärungsstränge an. Ein Erklärungsstrang verläuft über die unterschiedliche Ressourcenausstattung von Staaten im Nominierungsprozess, ein weiterer setzt am Kulturkonzept an, welches der Welterbeliste inhärent zugrunde liegt. Das europalastige Kartenbild lässt sich als Repräsentation einer zweiten Kulturgeographie begreifen, welche die Welterbekonvention entgegen ihrer offiziellen Intention verbreitet: die Kulturgeographie einer Welt, die sich an europäischen kulturellen Normen orientiert. Betrachtet man die Produktionsbedingungen der metakulturellen Produktion Welterbe, so ist offenkundig, dass einer ihrer potentiellen Engpassfaktoren in den Kapazitäten und in der Ressourcenausstattung der Behörden und staatlichen Stellen liegt, welche die mittlerweile recht aufwändigen Nominierungsanträge vorbereiten und einreichen.17 Insofern ist es nicht überraschend, wenn Staaten mit großem Bruttoinlandsprodukt, also die Industriestaaten und die aufstrebenden Schwellenländer (vor allem China), tendenziell über mehr gelistete Welterbestätten verfügen als Entwicklungsländer mit geringen staatlichen Ressourcen. Mit Hilfe des sozialkonstruktivistischen Arguments, dass Stätten erst durch framing-Operationen zu außergewöhnlichen Stätten würden, lässt sich die Bedeutung geschickt arbeitender Kulturbürokratien für die Produktion der Welterbeliste weiter herausarbeiten. Gemäß einer solchen Argumentation über die Ressourcen der zuständigen staatlichen Stellen, also insbesondere der Kulturbürokratien, ist

17 Ähnlich argumentiert auch ICOMOS (2005).

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es nicht verwunderlich, dass in Europa, wo auf relativ kleinem Gebiet sich relativ viele Staaten mit im weltweiten Maßstab vergleichsweise hohen Bruttosozialprodukt befinden, auch eine relativ hohe Dichte an Welterbestätten anzutreffen ist – ohne dass man auf kulturelle Kategorien zur Erklärung der hier besonders »erfolgreichen« Produktion des Welterbes zurückgreifen müsste. Im Governanzsystem des UNESCO-Welterbes ist die Engpassstelle der Ressourcenausstattung in den nationalen Kulturbürokratien durchaus bekannt. Deshalb ist es für finanzschwache Länder möglich, einen Antrag beim Welterbekomitee auf Finanzmittel und personelle Unterstützung für die Abfassung von Nominierungsanträgen zu stellen.18 Dies kann die systematisch bessere Ausstattung von Kulturbürokratien in vergleichsweise reichen Ländern allerdings kaum ausgleichen. Diese Europalastigkeit der Welterbeliste wird innerhalb des Systems der UNESCO-Welterbegovernanz selbst seit längerem kritisch betrachtet. In vielen Papieren oder Statements während der Komiteesitzungen wird von Akteuren der Welterbegovernanz, insbesondere solchen aus Entwicklungsländern, als Ziel formuliert, neben einer glaubwürdigen auch eine geographisch ausgewogene (geographically balanced) Welterbeliste zu erhalten, so eine Kernaussage der 1994 durch das Welterbekomitee verabschiedeten »Globalen Strategie zur Schaffung einer glaubwürdigen, ausgewogenen und repräsentativen Liste« (UNESCO 2012a). Um ein weiteres Auseinanderklaffen der Anzahl der Welterbestätten der Länder zu vermeiden, werden seit 2006 pro Vertragsstaat und Jahr maximal zwei Neuanträge begutachtet.19 Entsprechende Regulierungsversuche sind Beispiele par excellence für den Bereich der Kulturgovernanz. Ergänzt wurden sie durch freiwillige Aufforderungen an die Staaten mit vergleichsweise vielen Stätten, ein Aussetzen neuer Nominierungen in Betracht zu ziehen (Operational Guidelines 2012: Art. 59). Die Europalastigkeit der Welterbeliste konnten diese Steuerungsversuche bislang aber nicht überkommen. Gerade Deutschland, auch getrieben durch die Konkurrenz der Bundesländer im föderalen System, reichte in den vergangenen Jahren ein bis zwei Nominierungen

18 In den Umsetzungsrichtlinien zur Welterbekonvention wird diese Möglichkeit der Unterstützung als Preparatory Assistance bezeichnet, vgl. Operational Guidelines (2012: Art. 235 u. 241). 19 Vgl. die diesbezüglich etwas unterschiedlich formulierten Operational Guidelines von 2005 und 2012 (jeweils Art. 61).

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jährlich ein, während Entwicklungs- und Schwellenländer (mit Ausnahme Chinas) deutlich seltener und unregelmäßiger Nominierungen ins Rennen schicken. Bei der Diskussion einer Nominierung aus einem Land mit einer hohen Zahl von Welterbestätten fällt dieser Umstand bislang im Komitee nicht negativ ins Gewicht. Hingegen werden Nominierungen aus Staaten mit wenigen oder gar keinen Welterbestätten durchaus mit dem Argument der bisher geringen Repräsentation des jeweiligen Staates gestützt. Die UNESCO-Welterbeliste als eine Art globale Kanonisierung des kulturell Wichtigen lässt sich als Ausdruck einer sich herausbildenden Weltkultur begreifen, etwa im Sinne der sogenannten »Stanford School« um John Meyer (2005). Demnach breiten sich spätestens seit dem 20. Jahrhundert bestimmte Normen bzw. Kulturmuster weltweit aus, die letztlich auf okzidentalen Rationalitätsvorstellungen beruhen. Anders als andere global wirksame Kulturproduktionen wirkt die metakulturelle Produktion der UNESCO-Welterbeliste jedoch nicht uneingeschränkt kulturell nivellierend, denn sie stellt normativ geradezu die Vielfalt menschlicher Kulturen als etwas Schützenswertes heraus. Die Welterbeliste bewegt sich damit im Spannungsverhältnis von Universalismus und Relativismus. Sie baut auf spezifischen Konzepten des Denkmal- und Naturschutzes auf, die sich in Europa (und in Bezug auf den Naturschutz gerade auch in Nordamerika) seit etwa 1800 entwickelten und etablierten. Dies schließt im Übrigen nicht aus, dass z.B. Konzepte anderer kultureller Traditionen etwa in der Sicht auf und im Umgang mit Natur prinzipiell an die zunächst in der westlichen Welt entwickelten Konzepte anschlussfähig und von diesen ausgehend reinterpretierbar sind. Ein Großteil der Attraktivität der Welterbeliste für Intellektuelle aus Ländern des Südens20 dürfte sich daraus ergeben, dass sie einen konzeptionellen und institutionellen Rahmen bildet, welcher entsprechende Spaltungen wie die zwischen westlich und nicht-westlich, zwischen Natur und Kultur zwar nicht aufzuheben, aber doch zu mildern vermag.

20 Ich beziehe mich mit dieser Einschätzung empirisch auf eigene Eindrücke aus Gesprächen und Interviews mit Intellektuellen an nordafrikanischen Welterbestätten, insbesondere in Marrakech (Marokko) und dem Tal des M’zab (Algerien).

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Die Funktion der Welterbeliste in der Weltgesellschaft ließe sich umgekehrt mit neogramscianischen Kategorien deuten.21 In diesen Ansätzen der Politikwissenschaft wird in Ausweitung des marxistischen Hegemoniekonzepts von Antonio Gramsci (1891-1937) die Rolle von Ideen für die Herstellung von (internationaler) hegemonialer Herrschaft betont. Internationale Organisationen und die von ihnen verbreiteten Ideen seien demnach selbst das Produkt einer hegemonialen Weltordnung; sie legitimierten in ideologischer Weise deren Normen, kooptierten die Eliten peripherer Länder und absorbierten gegenhegemoniale Ideen (Cox 1996: 138). In einer (klischeehaft zugespitzten) neogramscianischen Interpretation erschiene das Welterberegime folgerichtig als Ausdruck einer hegemonialen Weltordnung, etwa im Sinne einer Feigenblatt-Funktion, welche dem Schutz einiger weniger »außergewöhnlicher Stätten» des »Kultur- und Naturerbes« zugestanden wird, die aber eine absolute Dominanz kapitalistischer Interessen im internationalen System und einen globalen Raubbau an natürlichen Ressourcen nicht infrage stellt. Die Fokussierung der Welterbekonvention auf hochkulturelle Artefakte im Sinne tradierter »westlicher« Sehgewohnheiten ließe sich zudem als ideologisch kompatibel zu liberal-kapitalistischen Vorstellungen deuten. Ein in einem solchen Sinne orthodoxer Neogramscianismus bewegt sich in einem argumentativ geschlossenen Universum, dem mit empirischen Befunden kaum beizukommen ist. Denkmalschutz und Naturschutz, also die Gegenstandsbereiche der Welterbekonvention, lassen sich von ihrer Genese zumindest teilweise als gegenhegemoniale Ideen deuten, die sich einer zügellosen Verwertung der Natur und der ungebremsten Umgestaltung tradierter Kulturlandschaften zugunsten einer wirtschaftlichen Entwicklung bzw. Modernisierung entgegenstellen. Unbeschadet einer möglichen »hegemonialen« Lesart zeigt sich allerdings in der empirischen Durchdringung des Forschungsfeldes, dass die lokalen Protagonisten der Welterbeidee an den von mir näher untersuchten Welterbestätten in Algerien, Marokko oder Deutschland tendenziell sich selbst als dem (lokalen, nationalen) politischen Mainstream (und damit mittelbar auch hegemonialen Diskursen) entgegengesetzt positioniert wahrnehmen. Zudem gehen die Akteure der Welterbegovernanz zumindest in begrenzter Weise z.B. mit anderen städtischen

21 Eine originäre neogramscianische Deutung des Welterbekonzepts ist mir nicht bekannt.

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oder staatlichen Behörden oder Investoren Konflikte ein, um Welterbestätten und ihre Umgebungen vor einer Umgestaltung nach »hegemonialen«, gerade auch kapitalistischen Vorstellungen der Raumverwertung und -gestaltung zu schützen.

D AS DER

TOURISTISCHE (M ISS -)V ERSTÄNDNIS W ELTERBELISTE

In den Reiseteilen von Tages- und Wochenzeitungen, in Reiseführern und der touristischen Werbung wird bei der Darstellung von Sehenswürdigkeiten gerne auf einen eventuell vorhandenen Welterbetitel hingewiesen, welcher damit als eine Art touristisches Gütesiegel erscheint. Bürgermeister, Landräte und Regionalgouverneure an Welterbestätten betonen in Ansprachen landauf, landab, in Europa oder in Afrika, die Bedeutung des Titels für den Tourismus und die Regionalentwicklung, was sich auch in kulturwissenschaftlichen Zugängen zum Welterbe widerspiegelt. Doch bezüglich des Verhältnisses zwischen Welterbekonvention und Tourismus gilt es zunächst, ein zentrales Missverständnis aufzuklären, nämlich dass die Konvention ein explizites Instrument der Tourismusförderung sei. Zumindest ein Blick ad fontes, in die Quellen, bietet für ein solches Verständnis keinen überzeugenden Beleg. In der Welterbekonvention von 1972 wird der Begriff des Tourismus (bzw. konkret: der touristischen Entwicklungsvorhaben; engl. »tourist development projects«) nur einmal erwähnt, und dies unter ausgesprochen pejorativen Gesichtspunkten, praktisch in einem Atemzug mit Vulkanausbrüchen und bewaffneten Konflikten: als ein Umstand, welcher dem globalen Kultur- und Naturerbe erheblichen Schaden (»serious and specific dangers«) zufügen könne (UNESCO 1972: Art. 11,4). Auch die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Welterbekonvention durch Titchen (1995) bietet keine Hinweise darauf, dass die Förderung des Tourismus ein Motiv für die Verabschiedung der Konvention gewesen sei, und dies gilt in analoger Form für die UNESCOKonvention zum Schutz des immateriellen Erbes (vgl. Schmitt 2008). Im Sinne des eingangs skizzierten Analyserahmens zur Governanz kulturellen Erbes ist der Tourismus als ein Funktionsbereich zu nennen, der potentiell in Konkurrenz zu Denkmalschutzzielen steht. Die Förderung des Tourismus stand also nicht am Ausgangspunkt der Welterbekonvention, auch

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wenn dies manche Presseartikel, Ansprachen oder auch kulturwissenschaftliche Veröffentlichungen zu suggerieren scheinen. Nun ist aus zahlreichen Funktionssystemen bekannt, dass die Praxis von Akteuren und Kollektivakteuren erheblich von den kodifizierten Normen der Grundlagentexte, seien dies Verfassungen, Unternehmensleitbilder oder Heilige Schriften, abweichen kann. Ist die Tourismusförderung möglicherweise mittlerweile eine zwar nicht offizielle, aber eben eine hidden agenda des Welterbesystems, entgegen vielleicht den ursprünglichen Intentionen? Andererseits liegt der Welterbekonvention ein anthropozentrisches Konzept des Denkmal- und Naturschutzes zugrunde. Der Schutz von Kulturdenkmälern und Naturgebieten soll nicht um ihrer selbst willen erfolgen, sondern weil dieses Erbe – auch mit dem Begriff des Erbes wird eine anthropozentrische Perspektive transportiert – von herausragendem Interesse und Wert für die Menschheit und insbesondere für zukünftige Generationen sei: »parts of the cultural or natural heritage are of outstanding interest and therefore need to be preserved as part of the world heritage of mankind as a whole«, formuliert die Präambel der Welterbekonvention (UNESCO 1972). Eine solche anthropozentrische Perspektive bedarf des Betrachters, und damit zulässigerweise nicht nur des professionellen Kunstgeschichtlers oder Biologen oder der Angehörigen der an den Welterbestätten lebenden Bevölkerung, sondern auch des Touristen. In Publikationen der UNESCO und ihrem Umfeld wird bereits seit längerem ein Junktim zwischen Welterbe und Tourismus etwa im Sinne einer »Vernunftehe« gesetzt (vgl. das Themenheft des UNESCO-Kuriers 7/8 1999), und Konferenzen und Sitzungen zur Partnerschaft von Welterbe und Tourismus haben seit geraumer Zeit ununterbrochene Konjunktur.22 Ein »nachhaltiger« Tourismus wird in UNESCO-Publikationen als Lösungsstrategie angeboten, um Denkmal- und Naturschutz auf der einen und Interessen von Tourismus und Regionalentwicklung auf der anderen Seite zu versöhnen (vgl. Pedersen 2002). Mittlerweile sind sich auch die Kommunikationsmitarbeiter der UNESCO nicht zu schade, ein UNESCO-Buch zu den Stätten der Welterbeliste als ein »bestselling guide to the most extra-

22 Vgl. z.B. die »UNESCO Special Session on World Heritage and Tourism Partnership Programmes: Working Together for Site Conservation«, am 9.März 2003 auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin.

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ordinary places« (vgl. UNESCO 2012b), also als eine Art globalen Reiseführer zu vermarkten. Wie spiegelt sich aber das Phänomen Tourismus in der Governanz des Welterbes, in den Arenen und Aushandlungsprozessen rund um das Welterbe wider? In der Tat erscheint rund um den Globus die Tourismus- und Regionalförderung als ein zentrales Motiv beziehungsweise diskursive Begründungsstrategie für lokale, regionale und nationale Akteure, um eine Nominierung für die Welterbeliste auf den Weg zu bringen. Ansprachen von Politikern, aber auch Gespräche und Interviews mit lokalen und nationalen Akteuren erhärten diesen Eindruck. Die Motivlage dieser (in vielerlei Hinsicht) heterogenen Akteursgruppe soll aber nicht einseitig auf dieses Moment der Tourismus- und Regionalförderung verkürzt werden. Einige begründen ihr Engagement mit Zielsetzungen, die in hohem Maße mit den offiziellen Zielen des Welterberegimes nach einem bestmöglichen Denkmal- und Naturschutz übereinstimmen. Schließlich sind auch weitere Zielsetzungen denkbar, etwa die Stärkung des nationalen Prestiges oder regionaler Identitäten.23 In den Nominierungsanträgen und in den (semi)öffentlichen Diskussionen zu Nominierungen innerhalb der globalen Institutionen der Welterbegovernanz werden solche nicht-regimekonformen Zielsetzungen normalerweise jedoch nicht abgebildet. Eine Länderdelegation, welche gegenüber dem Welterbekomitee offensiv eine Nominierung als Instrument der Tourismusförderung darstellte, hätte sich nach derzeitigem common sense innerhalb der globalen Ebene der Welterbegovernanz wohl disqualifiziert. Hingegen taucht der Tourismus bei den Diskussionen im Komitee zu eingeschriebenen Welterbestätten weiterhin und regelmäßig als ein typisches Problemfeld auf, das in Konkurrenz oder zumindest in einem Spannungsverhältnis zu den offiziellen Regimezielen steht – neben anderen wirtschaftlichen Aktivitäten wie etwa dem Bergbau in Naturschutzgebieten, städtebaulichen Entwicklungsprojekten, Degradationen durch Naturgewalten (z. B. Erdbeben) oder durch bewaffnete Konflikte. Tourismus bleibt im Referenzrahmen des Welterbesystems ein zwar nicht zwangsläufig negativ, aber zumindest ambivalent besetzter Begriff.

23 Zu entsprechenden Beispielen für unterschiedliche Begründungsmuster nationaler Akteure vgl. Schmitt (2011: 231).

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W ELTERBEGOVERNANZ IN LANGFRISTIGER P ERSPEKTIVE Betrachtet man die globale Aushandlung des Welterbes, so lassen sich zwei Ebenen der Steuerung des Welterbesystems unterscheiden. Auf der einen, vordergründig sichtbareren Governanzebene geht es im Wesentlichen um die Aktualisierung der Welterbeliste und der Liste des Welterbes in Gefahr sowie um Interventionen der UNESCO im Hinblick auf Probleme an Welterbestätten. Auf dieser sachlich-inhaltlichen Ebene ist das Welterbekomitee der unangefochtene Souverän, wenn auch das Komitee auf die Informationen und den Rat der Beratungsorganisationen und des UNESCO-Welterbezentrums angewiesen ist und lange Zeit die informelle Norm galt, dass das Komitee die Beratungsorganisationen und das Welterbezentrum in deren fachlichen Kompetenzen nicht über Gebühr zu brüskieren habe. Diese Ebene der Welterbegovernanz ist durch den Konventionstext und die jeweils gültigen Umsetzungsrichtlinien in ihren Verfahrensabläufen geregelt. Eine andere Frage der Steuerung betrifft die der längerfristigen Weiterentwicklungen der Umsetzung der Konvention. In diesen Bereich gehören etwa die 1992 explizit erfolgte Berücksichtigung von Kulturlandschaften bei den Kategorien des UNESCO-Welterbes sowie generell die Initiierung, Vorbereitung und Verabschiedung von Positionspapieren und Konzepten, die in der weiteren Governanz des UNESCO-Welterbes Verwendung finden.24 Auch längerfristige Strategien bzw. gesteuerte Entwicklungen wie die zur Förderung von Nominierungen in Entwicklungsländern, zur verstärkten Berücksichtigung grenzüberschreitender Stätten oder zur Einbeziehung thematischer Routen in die Welterbeliste ließen sich hierzu aufführen. Die dominierenden Verständnisse des o.u.v. und die oben erwähnten Regelungen zur Förderung einer »ausgewogenen« Welterbeliste gehören ebenfalls in diese Kategorie. In all diesen Fällen bleibt die formale Souveränität des Welterbekomitees unangetastet, welches auch gegenüber der Generalversammlung der Unterzeichnerstaaten seine Entscheidungen nicht rechtfertigen muss. Solange keine Änderung der Konvention angestrebt

24 Dazu zählen etwa das »Nara Document on Authenticity« von 1994 und das »Wiener Memorandum zu zeitgenössischer Architektur in historischen Altstädten« von 2004/05 (Vienna Memorandum 2005).

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wird – diese kann nur durch eine Entscheidung der Generalversammlung der UNESCO erfolgen (UNESCO 1972: Art. 37) –, bündelt das Komitee die formale Machtkompetenz innerhalb der Welterbegovernanz; auch wenn z.B. der Annahme eines Positionspapiers durch die Generalversammlung der Vertragsstaaten ein besonderer Wert zugebilligt werden muss. Nichtsdestoweniger zeigt sich, dass bei mittel- und langfristigen Weiterentwicklungen der Konventionsumsetzung die UNESCO-Administration und in zweiter Linie die Beratungsorganisationen einen großen Einfluss haben und wesentliche Impulse zur Steuerung vom Welterbezentrum ausgehen oder dort gebündelt werden. Bis entsprechende Weiterentwicklungen formalisiert durch das Welterbekomitee verabschiedet werden, werden sie in relativ offenen, nichtformalisierten Verfahren im Zusammenspiel von Welterbezentrum, Komitee, Länderdelegationen, Beratungsorganisationen, gegebenenfalls der Generalversammlung der Vertragsstaaten und eventuell weiteren externen Experten (welche wiederum zugleich als Delegierte dem Welterbekomitee angehören können) oder Betroffenen entwickelt, im Falle z.B. des Wiener Memorandums einschließlich lokaler Akteure und österreichischer Denkmalschützer. Die zahlreichen »Expertentreffen« und Konferenzen, z.T. mit nationalen und lokalen Kooperationspartnern (z. B. UNESCO-Nationalkommissionen, Welterbestädte) bilden dabei die äußerlich erkennbaren Wegmarken der Konzeptentwicklung. Auf dieser zweiten Ebene der längerfristigen globalen Steuerung der Welterbegovernanz zeigen sich also relativ offene Verfahren der Aushandlung und Konzeptentwicklung, die in ihrem Ablauf gerade nicht prozessual determiniert sind. Für die langfristige weltgesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung der Welterbekonvention werden sowohl die konkreten Entscheidungen des Komitees, die prozessual nicht determinierte globale Weiterentwicklung der Konventionsumsetzung als auch das Handeln und die Praktiken lokaler Akteure an Welterbestätten entscheidend sein.

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Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen I NGRID T HURNER Die meisten so genannten Sehenswürdigkeiten sind vom vielen Hinschauen schon ganz abgenutzt. (HELMUT QUALTINGER)

Die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, die in der einschlägigen Reiseführerliteratur mit möglichst vielen Sternen gekrönt sind, ist essentieller Bestandteil von Tourismusformen, die sich Kultur, Geschichte und Bildung verpflichtet haben. Aber auch bei Urlauben, denen eher physische, psychische oder soziale Motive zu Grunde liegen, werden nebenher mitunter intellektuelle Interessen verwirklicht. Deswegen fokussieren Empfängerländer, um möglichst viele Kundengruppen anzusprechen, in ihrer Tourismuspolitik auch auf ihr kulturelles Erbe, das für die Besichtigung durch in- und ausländische Besucher freigegeben wird. Wenn ein Objekt zur Sehenswürdigkeit wird, erlebt es einen Wandel in seiner Bewertung und in seiner Nutzung – bisherigen Bedeutungen werden weitere hinzugefügt. Die Prozesse und Strategien, die notwendig werden, um Sehenswürdigkeiten in Tourismuslandschaften einzufügen, sollen hier in einer Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie betrachtet werden.

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T OURISMUSLANDSCHAFTEN Die touristische Besichtigung von Sehenswürdigkeiten setzt paradigmatische Geistes- und Werthaltungen und sozioökonomische Strukturen voraus, die es ermöglichen, Gebautes in sehenswertes und nicht sehenswertes Gebautes zu unterscheiden, und dass ersteres gleichzeitig zum Ziel von Reisen wird,1 die ohne existenzielle Notwendigkeit und augenscheinlich nur zum Zwecke des Betrachtens desselben unternommen werden. Es war John Urry, der in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um Tourismus die Unterscheidung von Land und Landschaft verbreitet hat. Land wird gepflügt, bebaut, bewohnt, verkauft, vererbt, steht für Arbeit, Ernährung, Wohnen, Beruf, Besitz, wird nach funktionalen Kriterien beurteilt wie Fruchtbarkeit, Lage, Topographie und Wert. Landschaft hingegen wird betrachtet, bewundert, gemalt, fotografiert, steht für Freizeit, Tourismus, sportliche Betätigung, Konsum, wird nach ästhetischen Kriterien bewertet wie Schönheit, Idylle und Sauberkeit. Wenn Land zu Landschaft wird, werden Bedeutungen verschoben und erweitert, und es wird zugleich zum Objekt visuellen Konsums (Urry 1997, 2005: 20), zum Aufmerksamkeit erweckenden, besuchenswerten Ort. Der Unterscheidung von Land und Landschaft entspricht jene von Gebautem und sehenswertem Gebauten. Ebenso wie Landschaften sind (gebaute) Sehenswürdigkeiten Objekte des visuellen Begehrens. Für die aktuellen englischen Begriffe in diesem Kontext – townscape, streetscape, heritagescape – gibt es keine exakten deutschen Entsprechungen. Wenn Gebautes mit dem Attribut »sehenswert« ausgestattet ist, lässt es sich in tourismscapes, deutsch »Tourismuslandschaften«, verorten, ein Begriff der in Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von René van der Duim (2005, 2007) in die Diskussion eingeführt wurde. In Tourismuslandschaften ereignen sich Interaktionen zwischen Menschen, Orten, Organisationen, Dingen und Ideen innerhalb touristischer Prozesse.

1

Bei anderen Reiseformen stehen andere Interessen im Vordergrund, etwa natürliche Sehenswürdigkeiten oder auch Menschen – wie im Ethno- oder Projekttourismus. Dieser Artikel beschränkt sich auf die Wertschätzung von Gebautem.

T OURISMUSLANDSCHAFTEN – S EHENSW ÜRDIGKEITEN – M ENSCHEN

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Nur in wenigen Tourismus-Studien ist bisher die Akteur-NetzwerkTheorie zur Anwendung gelangt,2 wie sie unter anderem von Bruno Latour, Michel Callon und John Law ausgearbeitet wurde, in der menschliche und nicht-menschliche Entitäten als gleichwertige Akteure innerhalb eines Netzwerks betrachtet werden. Dies ist umso erstaunlicher, als Touristen ja von so vielen Dingen umgeben sind, denen symbolische und diskursive Wirkmacht zukommt. Solche Dinge und Ideen sind ebenso aktiv an der Produktion von Tourismus beteiligt wie Menschen und Organisationen. Folglich stehen im Kulturtourismus Sehenswürdigkeiten und Menschen in einem Netzwerk wechselseitiger Verbindungen und Handlungsabläufe. Nun gilt es nachzuverfolgen, wie sich solche Netzwerke konstituieren und wechselseitig beeinflussen, um der Komplexität von Tourismuslandschaften gerecht werden zu können. Am Anfang dieser Betrachtung standen zwei Fragen: Was ist eine Sehenswürdigkeit? Wie wird sie von Touristen rezipiert? Die Fragestellung erfolgt von zwei Seiten her. Sie bezieht sich erstens – als kulturwissenschaftlicher Ansatz – auf die Sehenswürdigkeit selbst als Objekt, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die Sehenswürdigkeiten aufweisen, auf Eigenschaften, Charakteristika und Attribute, die sie als solche ausweisen, auf Anforderungen, die sie erfüllen müssen, um Sehenswürdigkeiten zu sein. Der zweite, sozialanthropologische Frageansatz bezieht sich auf das Handeln und die verbalen Äußerungen von Touristen vor Sehenswürdigkeiten, auf Reaktionen, Erwartungshaltungen und -erfüllungen. Tourismusforscher werden immer wieder gedrängt, sowohl selbst als Teil des Systems am Tourismus teilzunehmen, die touristische Praxis zu erleben beziehungsweise im Tourismus zu arbeiten, zwecks Gewinnung von Inneneinsichten und Erkenntnissen für die Wissenschaft wie für die Branche (Smith/Reid 1994: 857, Antweiler 2006), als auch sich der eigenen touristischen Biographie und Praxis zu besinnen und sie zu reflektieren (Binder 2005: 25). Für die vorliegende Untersuchung wird diese Forderung erfüllt, denn die Datengewinnung war nur realisierbar durch meine berufliche Tätigkeit in der Reisebegleitung von Studienreisen, welche die langfristige teilnehmende Beobachtung touristischer Praxis in Bezug auf Sehens-

2

Beispiele sind Franklin (2004), Jóhannesson (2005), Duim (2005, 2007), Duim/ Ren/Jóhannesson (2012), Paget/Dimanche/Mounet (2010), Ren/Pritchard/ Morgan (2010), Rodger/Moore/Newsome (2009).

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würdigkeiten ermöglichte. Sie erfolgte unter anderem in mehreren außereuropäischen Gebieten, insbesondere Nord- und Westafrikas und des Nahen Ostens, häufig Marokko. Dabei wurde im Rahmen einer multilokalen und multitemporalen Forschung im Sinne von Marcus (1995) die Sehenswürdigkeit als Symbol begriffen, das verfolgt wird. Die methodische Annäherung erfolgte im offenen systematischen Beobachtungsverfahren und auch in informellen Gesprächssituationen. Der Vorteil liegt darin, dass die Forscherin stets präsent ist und in teilnehmender Beobachtung soziale und kulturelle Interaktionssituationen und diskursive Prozesse dann studieren kann, wenn sie stattfinden – als Ethnographie von Interaktion und Ereignis. Demnach werden Daten in Realzeit erfasst und nicht retrospektiv aus zweiter Hand oder als Rekonstruktion von Erinnertem und Erzähltem. Verfahren und Ergebnisse wurden andernorts dargelegt (Thurner 2011). Mittels dieses Ansatzes, der eine multilokale/multitemporale Erhebung mit dem methodisch-analytischen Werkzeug der Akteur-Netzwerk-Theorie kombiniert, ist es möglich, der Mobilität globalisierter Touristenströme Rechnung zu tragen und dadurch Sehenswürdigkeiten und deren Besichtigung innerhalb von Tourismuslandschaften zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Anders als bei einer konventionellen ethnographischen Forschung, die in einem geographisch begrenzten Gebiet innerhalb eines gesteckten Zeitrahmens durchgeführt wird, erfolgt durch die Multilokalität und Multitemporalität die Untersuchung an vielen Objekten (Sehenswürdigkeiten) mit immer anderen Menschen, die sie besichtigen. Deswegen entspricht die Methode der Datenerhebung insofern dem System Tourismus, als dieses ja global von Veranstaltern organisiert wird, von denen die größeren selbst globalisierte Unternehmen sind, die an vielen Standorten Kunden sowohl anwerben wie auch betreuen, während die Reisenden wiederum im Verlaufe ihrer Tourismus-Biographie ebenfalls Sehenswürdigkeiten an vielen Orten der Welt besichtigen.

K ULTURTOURISTISCHE N ETZWERKE In Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie kann Tourismus nur als Netzwerk von Beziehungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bestehen. Kulturtouristische Netzwerke konstituieren sich demnach nicht nur aus Sehenswürdigkeiten und den Menschen, die sie be-

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sichtigen, sondern sind komplexe Gebilde, die sich aus einer Vielzahl von Entitäten zusammensetzen. Solche Entitäten sind Veranstalter, Behörden, Vermarktung, Vertrieb, Transport, Beherbergung, all jene Organisationen, Bereiche, Ideen und Prozesse, die gewöhnlich als »Tourismusindustrie« zusammengefasst werden und die ihrerseits aus unzähligen Netzwerken bestehen. Entitäten sind auch mediale Repräsentationen von Sehenswürdigkeiten wie Bilder und Filme, touristische Werbematerialien aller Art, Veranstalter-Kataloge, Broschüren von Outgoing- und Incoming-Agenturen, Ansichtspostkarten, Reiseseiten von Zeitungen und Journalen, Reiseführer, bis hin zu Texten unterschiedlicher Genres und Forschungsergebnissen. Ebenso Tourismusnetzwerke konstituierende Entitäten sind Symbole und Zeichen, (z.B. Gütesiegel, Hinweisschilder, Piktogramme), die in der Sprache des Tourismus (Dann 1996) festgeschrieben sind. Nicht zuletzt sind diverse Entitäten aus verschiedenen Bereichen zu nennen wie Wetter, Zeit, Essen, Krankheitserreger, oft unberechenbare Akteure, die unvermutet und ungeplant auftreten, die aber wesentlich am Erfolg oder Misserfolg von Reisen mitarbeiten. Auch müssen zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines Kulturtourismus Konzepte und Begriffe von Kultur – mehr oder weniger konkret – in den Köpfen der menschlichen Akteure, Produzenten und Konsumenten zirkulieren. In der Begrifflichkeit der ANT dienen Übersetzungen dazu, die verschiedenen Entitäten in das Netzwerk zu integrieren. Übersetzungen sind kommunikative Prozesse, innerhalb derer Akteure versuchen, andere Akteure zu beeinflussen und dauerhaft in ihr Handlungsprogramm einzubinden: »Die Übersetzung baut aus Entitäten Akteur-Welten. Sie […] etabliert mehr oder weniger stabile Beziehungen zwischen ihnen« (Callon 2006b: 182). Hier geht es darum aufzuzeigen, wie Sehenswürdigkeiten und Menschen, die sie besichtigen, in Netzwerke eingebunden sind, die sich in Tourismuslandschaften konstituieren, und durch welche Prozesse der Übersetzung die menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten die Netzwerke bilden und aufrechterhalten. In ihrem Verlauf werden »die Identität der Akteure, die Möglichkeiten der Interaktion und der Handlungsspielraum ausgehandelt und abgegrenzt« (Callon 2006a: 146). Im Folgenden werden Prozesse der Übersetzung in Anlehnung an Callon (2006a, 2006b) und Duim (2005) als Strategien beschrieben (vgl. Callon 2006b: 183).

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Gemäß dem von Akteur-Netzwerk-Theoretikern geforderten Prinzip der »generalisierten Symmetrie« – der »Verpflichtung, widersprüchliche Gesichtspunkte in der gleichen Terminologie zu erklären« (Callon 2006a: 135) – werden alle Entitäten, soziale, technische, ideelle und natürliche, gleichermaßen als Variablen betrachtet und mit dem gleichen Vokabular beschrieben. Genau genommen bestehen in Tourismuslandschaften viele ineinander übergreifende Netzwerke. Einige bleiben langfristig bestehen, andere, nicht funktionstüchtige, zerfallen. Natürlich agieren Entitäten nicht nur in einem, sondern gegebenenfalls in mehreren Netzwerken. Viele von ihnen wirken in andere Netzwerke hinein oder agieren aus diesen heraus: »Hinter jeder Entität verbirgt sich eine Reihe anderer Entitäten, die sie mehr oder weniger effektiv zusammenhält« (Callon 2006b: 187). Es scheint gar nicht möglich, sie alle zu benennen. Deswegen ist Vereinfachung »das zwangsläufige Resultat der Übersetzung« (Callon 2006b: 185). Die Beziehungen in den Tourismuslandschaften sind kurzlebig, sie werden ständig neu erschaffen. Menschen betrachten Sehenswürdigkeiten nicht lange, aber sie betrachten immer andere Sehenswürdigkeiten, die ihrerseits von immer anderen Menschen aufgesucht werden. Beziehungen müssen immer wieder vollzogen werden, sonst lösen sich Netzwerke auf.

S TRATEGIEN

DER

Ü BERSETZUNG

Bei der Positionierung von Sehenswürdigkeiten innerhalb von Tourismuslandschaften können spezifische Strategien identifiziert werden, derer sich Autoritäten bedienen, die in den Netzwerken bestimmende Rollen beanspruchen – Stadt- oder Landesverwaltungen, Denkmalämter, Altertümerverwaltungen, Kulturbehörden, national oder supranational. Sie ernennen Objekte zu Sehenswürdigkeiten, deren Vermarktung von Tourismus-Organisationen betrieben wird. Die Zuschreibung als »sehenswert« nennt MacCannell »Sakralisierung« (1999: 43ff) und beschreibt den Prozess in einem Fünf-Phasen-Modell. Die höchste der Ernennungen ist gegenwärtig jene zum Welterbe durch die UNESCO. Es ist üblich geworden, als sehenswert Eingestuftes mit dem typographischen Zeichen eines hochgestellten Sternchens, eines Asterisken, zu versehen, respektive mit einer Anzahl davon, ein System, das von Bae-

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deker erfunden wurde (Lauterbach 2006: 75f). Diese Art der Kennzeichnung von Sehenswertem ist Teil der »Sprache des Tourismus« (Dann 1996) und wird international verstanden. Eine solche Asteriskisierung spiegelt die zunehmende Tendenz wider, Dinge mit zählbaren Wertungseinheiten zu versehen, um dann ein ausgewähltes Objekt an die Spitze einer Bestenliste stellen zu können, hinter dem alle anderen gleichartigen eingereiht sind. Deswegen verlaufen Prozesse der Asteriskisierung, Sakralisierung und Kommodifizierung Hand in Hand. Die Klassifizierung eines Objekts als Monument ist auch entscheidend für seine touristische Wahrnehmung als sehenswert, denn Bauten, die nicht als Besonderheit gekennzeichnet sind, riskieren, der Aufmerksamkeit von Reisenden zu entgehen. Akteure wie Betreibergesellschaften, Tourismusverbände, Reiseveranstalter haben ein vordringliches Interesse daran, dass Netzwerke sich nicht auflösen, und so müssen laufend Übersetzungsprozesse stattfinden. Der Eintritt neuer Akteure kann den Bestand ebenso gefährden wie der Abgang alter Akteure. Deswegen unterliegen Sehenswürdigkeiten in vielfacher Hinsicht Strategien der Kontrolle – und zwar auf allen Ebenen der In-Wertsetzung, der Vermarktung und des Betriebs. Netzwerke sind nur so stark wie die Beziehungen zwischen den Akteuren, die sie erzeugen; daher müssen – in der Wortwahl von Callon (z.B. 2006a: 149) – Allianzen geschmiedet werden. Entsprechend solcher Allianzen erfolgt die Erschließung von Objekten zwecks Stabilisierung von Netzwerken. Gemäß der gewünschten oder erwarteten Anzahl der Besucher und der soziologisch definierten Zielgruppe sind die infrastrukturellen Einrichtungen beschaffen: Flughäfen, Straßen, Verkehrsmittel, Beherbergungsbetriebe und Gaststätten, Dienstleistungsanbieter wie Reiseveranstalter, Reisebüros und Reiseführer müssen in der Lage sein, die Interessenten zu transportieren, zu beherbergen, zu verköstigen, zu informieren, zu unterhalten. Die Strategie der Kontrolle wird auch angewandt in der Gestaltung von Angeboten, von Einfach- bis Luxusinfrastruktur, je nach Zielgruppen und erwünschter Besucherstruktur. Strategien der Kontrolle sind Voraussetzung, um Besucherströme zu lenken. Pearce identifiziert Kontrollen und Beschränkungen als Notwendigkeit für erfolgreiches und nachhaltiges Sehenswürdigkeiten-Management (Pearce 2005: 145ff).

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Diese werden von Akteuren, denen Verwaltung und Management obliegen, an verschiedene menschliche und nicht-menschliche Akteure delegiert, an wohlüberlegt positioniertes Aufsichtspersonal, an Zäune, die Absperrungen bilden, an Pfeile, die Wege weisen, an Schilder, die Ge- und Verbote kundtun, und an Webseiten und Broschüren, die über Öffnungszeiten und über erwünschte Verhaltensweisen von Besuchern informieren. Das Handeln, das Dinge Menschen abverlangen, von Akteur-NetzwerkTheoretikern »Präskription« (z.B. Johnson [Latour] 2006: 243) genannt, zeigt sich in den lokal-kulturellen Bedingungen von Zäunen, Wegweisern, Absperrungen und Schildern, die den Besuchern Verhaltensweisen in Form von Befehlen präskribieren. Auch das diskrete Aufsichtspersonal ist, obwohl menschliche Entität, aktiv in seinem »nichtfigurativen Charakter« (2006: 25, 255), steht dort als Autorität, an die Kontrolle delegiert ist, präskribiert durch seine simple Anwesenheit den besichtigenden Personen regelkonformes Benehmen. Je mehr touristische Konsumenten eine Sehenswürdigkeit besichtigen, umso ausgefeilter muss die Strategie der Kontrolle menschliche und nichtmenschliche Entitäten als Akteure ins Netzwerk einbinden. Darüber hinaus wurde in den letzten Jahren aufgrund der Angst vor terroristischen Anschlägen eine Strategie verschärfter Überwachung für notwendig erachtet. Monopolisierte Kontrolle durch Betreiber erstreckt sich auch über Medienrechte, Rechte für Fotos, Filme der Stätte und deren Verbreitung sowie über den Handel mit Souvenirs und Information, wenn nur speziell autorisierte Fremdenführer diese vermitteln dürfen. Kontrolle erfolgt auch in der Wartung und Pflege eines Objektes, der Erhaltungszustand ist insofern entscheidend, als Sauberkeit und Ordnung herrschen müssen. Bonn et al. (2007) betonen die Wichtigkeit der physischen Umgebung, die Notwendigkeit der Schaffung von Atmosphäre. Eine Stätte, die nicht gepflegt wird, wird unattraktiv. Wenn notwendige Investitionen zum Unterhalt nicht vorgenommen werden, Angestellte ihre Arbeiten nicht pflichtgemäß erledigen oder wenn Besucher fernbleiben – dann wollen einzelne Akteure die im Netzwerk für sie vorgesehenen Aufgaben nicht mehr übernehmen. »[W]enn eine in eine Rolle eingebundene Entität sich einmal weigert, in die Akteur-Welt einzutreten, mit der Absicht in andere zu expandieren«, wird die Übersetzung zum Verrat (Callon 2006b: 182) – wie es in dem unvergleichlichen italienischen Wortspiel traduttore, traditore zum Ausdruck kommt (ebd.). Wenn erst die Reiseführerverlage

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das Objekt nicht mehr in die Neuauflagen aufnehmen, verliert es seine Sehenswertheit. Es zeigt sich somit, dass bei der Positionierung von Sehenswürdigkeiten in Tourismuslandschaften eine ganze Reihe von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren involviert ist, deren wechselseitige Verbindungen für die Aufrechterhaltung der Netzwerke verantwortlich sind. Eine weitere Strategie der Eingliederung von Objekten in kulturtouristische Netzwerke ist ihre Wertung als Besonderheit. Die Sehenswürdigkeit muss über eine Eigenschaft verfügen, die sie von anderen vergleichbaren abhebt, etwa in Größe, Höhe, Umfang, Material, Wert, eine Qualität also, die in der gängigen Praxis des Erstellens von Bestenlisten der Superlative dem Objekt einen Platz auf den oberen Rängen zuweist. Diese Wertung als Besonderheit begründet auch die Asteriskisierung. Hier zeigt sich, dass die Netzwerke, die sich in Tourismuslandschaften entfalten, auch miteinander in Konkurrenz treten. Als sehenswert katalogisiert wird das Herausragende, Kostbare, Ungewöhnliche, Kuriose, Seltene, Rare. Das Sehenswerte ist die Ausnahme. Doch manche Besonderheit besteht nur in eingeschränktem Rahmen, denn beispielsweise erlangen Stücke in Regionalmuseen ihre Bedeutung nur innerhalb der jeweiligen geographischen Kontextualisierung. Manche Ausnahme dankt sich äußeren Umständen, etwa dem Zufall der Erhaltung, dem Zufall der Entdeckung. Möglicherweise war der Ort, der heute Touristen anzieht, zur Zeit seiner Errichtung keineswegs eine Besonderheit. Ägypter, Griechen, Römer, Byzantiner, Osmanen waren in weiten Teilen ihrer jeweiligen Welt eine Besatzungsmacht, deren Tempel und Baulichkeiten in der Provinz architektonisch einer standardisierten Uniformität entsprachen. Heute jedoch, wenn solche Bauten erhalten sind oder wieder entdeckt werden, erwecken sie das Interesse von Archäologen, Denkmalpflegern, Tourismusmanagern und Besuchern. So wäre etwa die römische Ruine Volubilis keine besondere Attraktion, stünde sie in Libyen oder Jordanien, da sie aber in Marokko liegt, wo Ausgrabungen rar sind, zieht sie Besucher an. Die anglophone Literatur spricht von placelessness, Ortlosigkeit, und meint Orte, die nicht unterscheidbar sind, weil sie überall sein könnten (z.B. Smith 2007: 99). Zu ihrer Zeit sind solche »Nicht-Orte« (Augé 1992) keine Ausnahme, aber wenn sie durch Alter und Seltenheit geadelt sind, reisen Touristen an, um sie zu sehen. Vielleicht sind ja auch die Nicht-Orte des auslaufenden 20. und 21.

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Jahrhunderts – Neustädte, Vorstädte, Satellitenstädte, Plattenbauten, Supermärkte, Einkaufszentren, Flughäfen – in einer fernen Zukunft Objekte visueller Begierde. Die Ausnahme muss nicht positiv konnotiert sein. Bauten, in denen sich rezente Betrachter seinerzeit kaum hätten aufhalten wollen, wie ehemalige Gefängnisse und Krankenhäuser, werden zu Sehenswürdigkeiten. Katastrophen, Verbrechen, Krankheiten, Genozide, Weltkriege, die Tränen von Sklaven und Atombombenopfern lassen sich touristisch vermarkten und zwar unabhängig davon, ob die Vorfahren der heutigen Tourismusorganisatoren – von Politikern und Betreibern bis zu Reiseführern und Aufsichtspersonal – nun zu den Opfern oder zu den Tätern zählen. So sind die Länder des subsaharischen Afrika mit Attraktionen, die sich kulturtouristisch bewerben lassen, nicht übermäßig reich ausgestattet. Deswegen werden Bauten aus der Kolonialzeit für solche Zwecke herangezogen. Die koloniale Vergangenheit, die größte Schmach, die Afrika zuteilwurde, an deren Nachwirkungen die Nachfahren bis heute leiden, wird zur touristischen Besichtigung zur Verfügung gestellt (vgl. Sarmento 2010). Östlich von Dakar (Senegal) wird entlang den Küsten die Geschichte der Sklaven für touristischen Konsum aufbereitet, mit restaurierten Kerkern und Ketten, in denen die Gefangenen auf ihren Transport nach Übersee warteten, und professionelle Reiseführer liefern geeignete Narrative (vgl. Dann/Seaton 2001, Timothy/Teye 2004). Holocaustgedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager, die Friedhöfe des zweiten Weltkriegs in Ägypten und Libyen, oder die unterirdischen Gänge der Vietcong in Cu Chi (Vietnam) sind Teil organisierter Reiseprogramme. Wer führe nach Hiroshima, hätte es dort nicht die Bombe gegeben? Die verschiedenen Formen eines »dunklen Tourismus« sind auch zunehmend tourismuswissenschaftliches Thema (vgl. Steinecke 2007: 145ff, 179ff) und Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung.3 Syrien, Jordanien und Libanon vermarkten ihre Kreuzritterburgen – ihrerzeit dienten sie dem Bezwingen der Vorfahren der Bereisten durch Vorfahren der Reisenden. Im politischen Diskurs als Geschichtsaufarbeitung und Geschichtsbewältigung dargeboten, laden in der touristischen Version die Katastrophen der Menschheitsgeschichte zum Gruseln ein.

3

Vgl. Lennon/Foley (2006), Sharpley/Stone (2009), Dunkley/Morgan/Westwood (2011), Winter (2011).

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Ein hervorragendes Beispiel der Nutzung von Krieg für Tourismus ist auch Lawrence von Arabien, Heldenfigur im gleichnamigen Film von Regisseur David Lean (1962) und unverzichtbar in der touristischen Vermarktung von Jordanien. Der britische Offizier Thomas Edward Lawrence versprach der Bevölkerung, die mit ihm 1917 gegen die osmanische Herrschaft kämpfte, die Unabhängigkeit, während schon seit 1916 durch das SykesPicot-Abkommen der Nahe Osten zwischen Frankreich und England aufgeteilt war. Deswegen ist er in arabischer Perspektive nicht der Held, zu dem ihn der Film stilisiert, sondern ein Verräter. Die Vorfahren der Jordanier starben für das Versprechen der Freiheit, welches Lawrence ihnen gab, und das die britische Regierung nicht hielt. Heute leistet er gute Dienste für die touristische Vermarktung an verschiedenen Orten des Landes, im Wadi Ram, im Fort von Aqaba und im Qasr al-Azraq. Demnach ist eine Strategie der Wertung unerlässlich, um ein Objekt in Tourismuslandschaften zu positionieren. Die Wertung als Besonderheit versetzt ein Objekt in den Status der Ausnahme. Indes ist die Besonderheit eine Zuschreibung, die mitunter nur regional Bestand hat, äußeren Umständen und Zufällen unterliegen kann und durchaus nicht nur mit positiver Assoziierung erfolgen muss. Neben der Wertung als Besonderheit ist Temporalisierung eine Strategie von Akteuren, die als Betreiber eine Sehenswürdigkeit in einer Tourismuslandschaft vernetzen und sich mit dem eigenen Angebot gegenüber Mitbewerbern behaupten wollen. Der Zeitbezug des Objektes wird betont, der Fokus wird auf hohes Alter oder Hochmodernes gelegt. Ob das Monument renoviert, wieder aufgebaut oder bloß konserviert ist, ist für seinen Status als Sehenswürdigkeit eher sekundär und wird von den besichtigenden Akteuren selten hinterfragt. Es ist sowohl das Vergangene wie auch das Gegenwärtige, das asteriskisiert wird, Bauten aus früheren Epochen, die nur noch in Ruinen, Fundamenten oder Rekonstruktionen existieren, ebenso wie rezente, architektonisch herausragende Bauten. Sehr oft sind dies Hochhaustürme, etwa in den Regionen am Persischen Golf, allen voran Dubai. Auch Länder, die über wenig Altes verfügen, schaffen Historisches. In Oman etwa wurde in den siebziger Jahren im Zuge politisch gewollter Modernisierung alte Bausubstanz weitgehend beseitigt. Jedoch werden im Rahmen der Öffnung des Landes für den Tourismus Besichtigungspunkte benötigt. Die Tagesetappen der Rundreiseprogramme müssen durch regel-

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mäßig angeordnete Sehenswürdigkeiten strukturierbar sein. So wurden die verfallenen Festungsbauten aus dem 17. Jahrhundert (Nakhl, Rustaq, AlHazm, Djabrin, Nizwa und andere) renoviert, teils wieder errichtet und für Besucher geöffnet. Dabei wurde des Guten zu viel getan, sie wirken heute eher wie Filmkulissen denn wie Festungen. Vergleichbares berichtet Alraoufa (2010) aus Bahrain, wobei er von »authentischer Fälschung« spricht. Selbst Reiseprogramme durch Japan, das kaum über ältere Monumente verfügt, weil Erdbeben und der Zweite Weltkrieg gründliche Zerstörungen anrichteten, bieten Besichtigungspunkte mit historischem Bezug, buddhistische Tempel und Shinto-Schreine, die alt scheinen, tatsächlich aber Neuerrichtungen des 20. Jahrhunderts sind. Genau genommen kann Japans kulturelles Erbe weder in historischer noch in ästhetischer Hinsicht mit jenem anderer südost- und ostasiatischer Länder mit buddhistischen Traditionen konkurrieren. Es ist jedoch unverwechselbar in seiner zeitgenössischen Architektur. Aber da Tourismus eben auch von kultureller »Retrophilie« (Aitchison/MacLeod/Shaw 2000: 136 ff) lebt, vermarktet Japan im Tourismus seine Bauten mit historischen Wurzeln ebenso wie seine Wolkenkratzer. Die Temporalisierung einer Destination steigert ihre Attraktivität durch Diversifizierung des Produktes. Wenn Temporalisierung als Historisierung erfolgt, besteht die Gefahr einer Nostalgisierung durch Herstellung einer beschönigten Version von Vergangenheit, die eine gute alte Zeit wieder belebt bei Ausklammerung alles Nicht-Guten, wie hohe Sterblichkeitsraten, niedrige Hygienestandards, unheilbare Krankheiten und große soziale Ungleichheiten. Gerade die Hervorhebung von Zeit betont auch eine Ungleichzeitigkeit. Sehenswürdigkeiten werden in einer Reihenfolge aufgesucht, die von Reiseprogramm, Reiseroute, Zeitplan, Öffnungszeiten, topographischen Gegebenheiten, Zugänglichkeit, Verkehrssituation, Einbahnsystem und der Befahrbarkeit der Zugangswege mit dem zur Verfügung stehenden Transportmittel vorgegeben ist. Die Reihenfolge, in der Sehenswürdigkeiten absolviert werden, ergibt sich nicht chronologisch nach historischen Epochen, sondern ist abhängig von unzähligen Akteuren, deren Zusammenspiel wiederum von verschiedenen Übersetzungsleistungen koordiniert wird. Dieserart werden Sehenswürdigkeiten in gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit aneinander gereiht. Sie liegen geographisch nebeneinander, sie werden nacheinander aufgesucht, aber zwischen ihnen liegt Zeit. Es können Jahrzehnte

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sein, Jahrhunderte, sogar Jahrtausende in Regionen, die viele zu besichtigende Orte aufweisen, wie etwa der Nahe Osten. Wenn bei archäologischen Stätten einzelne Teile aus verschiedenen Epochen stammen, wenn Fundamente, Mauern, Gebäudeteile in unterschiedlichem Erhaltungszustand konserviert sind, wenn zwischendurch ein Bauwerk gänzlich neu errichtet wurde, dann hat das Areal, so wie Besucher es heute begehen, niemals vorher zu einem gegebenen Zeitpunkt bestanden. Eine solche »Heterogenisierung« (Pott 2007: 121ff) von Objekten liegt durchaus im Interesse der Betreiber, additive Präsentation von Vielfalt und Kontrast ist Erfolg versprechendes Kalkül touristischer Vermarktung. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von nicht Zusammengehörendem zeigt sich auch in Museen – ihrerseits Destination jeglicher Tourismusform, die sich Kultur, Kunst oder Geschichte verpflichtet hat – wenn Ausstellungsstücke losgelöst von ihren jeweiligen Kontexten nebeneinander präsentiert werden. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Ungleichzeitigkeit wird in der Sehenswürdigkeit Zeit betont und Zeitbezug hergestellt. Eine weitere Strategie ist die Schaffung von Neuem, was auch durch Uminterpretation von Vorhandenem erreicht werden kann, also einer Strategie der Deutung. Da nicht immer und überall Objekte vorhanden sind, die sich zur Sehenswürdigkeit eignen, müssen sie geschaffen werden. Im Rahmen der touristischen Vermarktung werden Orte mit Bedeutung aufgeladen. Dies ist der Fall etwa im Wadi Ram in Jordanien, dessen Naturschönheiten alleine touristisches Interesse anscheinend nicht zu erwecken oder ausreichend zufrieden zu stellen vermögen. Denn dort werden Orte mit dem britischen Offizier Thomas Edward Lawrence in Beziehung gesetzt, auch wenn eine solche Verbindung historisch nicht gegeben ist. Er ist der Besuchermagnet des Tals und dient den Bewohnern als Existenzsicherung. Selbst Lawrences autobiographischer Bericht Die sieben Säulen der Weisheit, 1926 erschienen, wird genutzt, um eine Felsformation zu benennen. Reiseführer erzählen auf Wunsch passende Geschichten. Aber Lawrence hatte den Titel für ein anderes, nicht veröffentlichtes Buch vorgesehen (Lawrence 1985: 843), das nichts mit den historischen Ereignissen in Jordanien zu tun hat. Sehenswürdigkeiten sind nicht, sondern sie werden gemacht, sie existieren nicht per se, sondern nur in der Auslegung des Vermarkters, in der Wahrnehmung des Betrachters, sie sind konstruiert, mindestens re-interpretiert, wenn nicht überhaupt erfunden. Den Objekten wird Bedeutung

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verliehen (vgl. Hall 1997: 2ff). AlSayyad (2001) nennt den Prozess »manufacturing heritage«, Cartier (2005) spricht von »touristed landscape«, Yamashita (2003: 25ff) von der Schaffung des Paradieses auf Bali. Deswegen sind beim Kabarettisten Qualtinger im Epigraphen dieses Textes die Sehenswürdigkeiten »so genannt«. Strategien der Deutung können auch dienlich sein, um Orte zu verändern. Neue Akteure, die in Netzwerken auftreten oder in diese integriert werden, können sie einerseits neu konstituieren, eventuell aber auch gefährden oder radikal umgestalten, wie hier am Beispiel der Altstadt von Marrakesch dargelegt wird. Der touristischste aller marokkanischen Plätze und der »marokkanischste der touristischen Plätze« Marokkos (Minca 2006: 157) ist der Djemaa el-Fna4 in Marrakesch, der auf keiner touristischen Rundreise fehlt, sei sie individuell oder organisiert. Zugleich wird dieser Platz heute von Marokko als nationales Kulturgut, als Symbol nationaler Identität und Geschichte betrachtet. Jeder Marokkaner kennt den Platz zumindest dem Namen nach, und Schulausflüge dorthin sind eine Selbstverständlichkeit. Minca argumentiert nun, der Djemaa el-Fna sei ein Produkt der französischen Protektoratszeit, habe vorher nicht existiert, und letztlich habe Marschall Lyautey, Generalresident von 1912-1925, diesen Platz erfunden, paradoxerweise im Namen der Erhaltung der Vergangenheit (ebd.: 166f). Wenn dem tatsächlich so ist, dann ist der Djemaa el-Fna konstruierter Orient. In westlicher Interpretation ist der Platz Symbol aller arabischen Plätze, Symbol des Orients schlechthin. Wieder einmal also entpuppt sich, in bester Saidscher Tradition, der Orient als ein vom Westen erfundener Orient (Said 1978). Wenn der Ort aber unter französischer Herrschaft geschaffen wurde, ist er ein kolonialzeitliches Relikt. So betrachtet ist es nur folgerichtig, dass er als mögliches Ziel islamistisch motivierter terroristischer Anschläge gilt und daher besonders im Auge der Sicherheitsbehörden liegt – 2011 gab es auch tatsächlich ein Attentat. Dass der Westen den Orient erfunden hat, dies trifft ebenso zu auf den Souk von Marrakesch, wenngleich hier der Fall anders gelagert ist. Ein komplexes Gebilde wie ein arabischer Markt setzt sich aus vielen ineinan-

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Die in Marokko gebräuchliche Transliteration ist keineswegs einheitlich, orientiert sich am Französischen und weicht daher von der Form, die die Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG) empfiehlt, deutlich ab.

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der übergreifenden Netzwerken zusammen: »Eine Akteur-Welt ist ein Netzwerk von vereinfachten Entitäten, die wiederum andere Netzwerke sind« (Callon 2006b: 189). Durch das Auftreten neuer Akteure, insbesondere Touristen, Souvenirhändler und deren Läden und Produkte, hat der Souk einen Bedeutungswandel erlebt. Aufgrund des geänderten Warenangebots sehen einheimische Kunden immer weniger Veranlassung, diesen Ort aufzusuchen. Selbst ein so heterogenes sozioökonomisches Konstrukt wie der Souk einer arabischen Altstadt kann demnach durch neue Akteure insofern bedroht werden, als er immer weniger jene Aufgaben wahrnimmt, denen er sein Existieren verdankt, nämlich die Versorgung der Bewohner mit den Waren des Alltagsbedarfs. In vielen Texten, vor allem in Reiseführern, wird der Souk von Marrakesch verklärt. Dies mag daran liegen, dass der eilige Besucher der Harmonie von Farben, Tönen und Gerüchen und seiner Begeisterung darüber erliegt. Dennoch ist die traditionelle Struktur des Souk weitgehend verloren, was aber demjenigen verborgen bleibt, der nur ein oder zwei Tage in der Stadt verweilt. So gibt es – mit Ausnahme der Schmiede – kaum noch Handwerker. Aber die Betreiber der Souvenirläden sind Meister der Präsentation ihrer bunten Dinge, und vielleicht nirgendwo auf der Welt wird die zu verkaufende Ware so kunstvoll drapiert und in farblicher Abstimmung dargeboten, was dem Souk sein malerisches Aussehen verleiht. Doch sind diese Dinge ausschließlich für den Verkauf an Ausländer bestimmt, kein Marokkaner beachtet sie. Souvenirhändler, die industriell gefertigte, importierte oder anderswo im Lande produzierte Waren vertreiben, haben die Handwerker verdrängt. Letztere haben sich anderen Berufen zugewandt oder verkaufen nun auch Souvenirs. Hier zeigt sich, dass das Auftreten neuer Akteure einen radikalen Wandel des gesamten Netzwerks bewirken kann. Denn die Gassen der Händler verlieren für Einheimische zunehmend an Attraktion, weil ihnen immer weniger Einkaufsmöglichkeiten geboten werden. So gilt für den Souk von Marrakesch (nicht jedoch für jenen von Fes) Enzensbergers (1964) Erkenntnis, die er indes nicht in Marokko gewann, nämlich, dass der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet. Dennoch wird der ausländische Besucher den Souk von Marrakesch als unvergleichlich empfinden und vielleicht als eindrucksvoller als jeden anderen der Welt, er ist eben von Tourismusprofis für ihn hergerichtet. Orientalen arbeiten dem-

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nach heute heftig mit an der Konstruktion des Orientalismus (vgl. Schnepel/Brands/Schönig 2011, Pouillon/Vautin 2011). Dies gilt auch für die Stadterneuerungsprojekte des vergangenen Jahrzehnts, die Verwandlung von Bürgerhäusern in Beherbergungsbetriebe im Rahmen der RiadMode, den Verkauf von Altbaubestand an Ausländer, die Gentrifizierung und Yuppisierung einzelner Altstadtregionen, Prozesse, die Minca und Borghi (2009) als »Neuinszenierung des Kolonialismus« beschrieben. Wenn also sowohl der Djemaa el-Fna wie auch der Souk eine Konstruktion der vergangenen Jahrzehnte sind, so besteht doch ein Unterschied. Der Platz ist – auch wenn er eine Erfindung des Westens ist – für Marokkaner und Ausländer gleichermaßen, er wird von beiden frequentiert. Der Souk hingegen ist in seiner heutigen Form in weiten Teilen eine Erfindung der Marokkaner für westliche Konsumenten. Es besteht ein Unterschied auch in der marokkanischen Wahrnehmung und Interpretation. Der Platz gilt Marokkanern als ureigenstes Kulturgut, aber nicht der Souk, der gilt ihnen als touristisch, und ein häufig gehörtes Bonmot in Marrakesch lautet, als Marrakschi benötige man für den Souk ein Visum. Durch das Auftreten neuer Akteure wie der Souvenirhändler können einerseits neue Kundengruppen angesprochen werden, andererseits erlebt aber zugleich das ganze Netzwerk einen radikalen Bedeutungswandel. Wenn also Sehenswürdigkeiten nicht an sich existieren, sondern gemacht werden, so natürlich gemäß der kultur- und tourismuspolitischen Basis und Zielsetzung des Auftraggebers, etwa einer Regierung (vgl. Butcher 2006). Wenn hohe Besucherzahlen erwünscht sind, zugleich ökonomische Interessen verfolgt werden, müssen die Attraktionen nach den Anforderungen und Bedürfnissen der Zielgruppe gestaltet werden. Der Souk von Marrakesch ist eine in diesem Sinne brillante Inszenierung. Strategien der Deutung werden auch bei der Konstruktion von Sehenswürdigkeiten mit historischem Bezug angewandt. Forschungsergebnisse von Historikern und Archäologen übernehmen als weitere Entitäten Übersetzungsleistungen. Anders ausgedrückt: Historisches Wissen wird mittels einer Strategie der Deutung politisch und/oder ökonomisch nutzbar gemacht entsprechend den tourismuspolitischen Zielsetzungen und den soziokulturellen Hintergründen der Besucher. Wenn die Zielgruppe Inländer sind und die Lokalität als Symbol nationaler Identität dient, dann erfolgt deren Design nach Zielrichtungen der Vergangenheitspolitik der jeweiligen Regierung (vgl. Timothy/Boyd 2003: 257ff). Die Gestaltung von Sehenswür-

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digkeiten kann offen politische Ziele verfolgen, anders formuliert: »[T]he past is subject to much subtle and not so subtle doctoring« (Hollinshead 2002: 172). So wurde beispielsweise unter Mussolini zwecks Legitimierung der faschistischen Präsenz im Lande in Leptis Magna und anderen libyschen Ausgrabungsstätten römische Antike wiederaufgebaut. Aus touristischer Perspektive sind diese Rekonstruktionen erfreulich, immerhin gibt es in Leptis Magna und Sabratha mehr zu sehen als nur Fundamente, und archäologische Laien können sich ein Bild der Stadt machen. Dass die Bauten wenig gemein haben mit jenen vor zweitausend Jahren, bloß vorgeben, dies zu tun, ist im touristischen Kontext nicht von Bedeutung. Und die politischen, faschistoiden Implikationen bemerkt man nicht sogleich; wenn nicht ein Reiseführer konsultiert wird, werden sie Laien verborgen bleiben. Dass aus wissenschaftlicher Sicht die pseudo-römischen Neubauten aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bedauerlich sind, ist für touristische Nutzung unerheblich. Weiter können Strategien der Wiederholung ausgemacht werden. Objekte selbst werden mobilisiert und auf Reisen geschickt. Denn es reisen nicht nur Touristen, sondern auch Kulturen, Orte, Dinge (Clifford 1997: 17, Rojek/Urry 2005: 1, 10f) und zwar durch Wiederholung. Sehenswürdigkeiten reisen um die Welt, denn sehenswert ist, was viel fotografiert und viel beschrieben wird. Durch Wiederholung sind die Orte beweglich (»mobile places«, Urry 2005: 24). Durch die vereinten Bemühungen diverser Akteure, durch mediale Vermittlung, Reproduktions- und Kommunikationstechnologien, durch Maler, Schriftsteller, Fotografen, Filmemacher, Journalisten, Tourismusmanager bleiben die Sehenswürdigkeiten nicht an einer Stelle, sondern reisen um die Welt, lassen sich überall nieder, in einer Art »Zeit-RaumKompression« (Harvey 1989). Durch stete Wiederholung und Präsenz an vielen Orten werden die Sehenswürdigkeiten dem Betrachter zu etwas Vertrautem, verlieren ihre Fremdheit (Schmidt 2001: 134). Die massenhafte Reproduktion des immer Gleichen oder sehr Ähnlichen bedeutet einen Verlust der Einzigkeit, von Walter Benjamin (1963) Zertrümmerung der Aura genannt. Das ist es, was Helmut Qualtinger zur eingangs zitierten Kleinkunst inspirierte, wonach die meisten so genannten Sehenswürdigkeiten vom vielen Hinschauen schon

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ganz abgenutzt wären, und Daniel Kalder zu seinem »anti-touristischen Manifest«.5 Zugleich aber sakralisiert das viele Hinschauen, der touristische Blick (Urry 1990), millionenfach reproduziert durch Reiseführer, Postkarten, Hochglanzbroschüren, Kataloge, Filme, Fernsehserien, Werbung, Inserate, Plakate, Zeitungsberichte jedes Mal aufs Neue das Objekt. Was einmal als Ausnahme klassifiziert und mit Asterisken hervorgehoben ist oder das Etikett Weltkulturerbe trägt, dessen Status als Sehenswürdigkeit wird durch jeden weiteren Besucher und jede weitere Repräsentation erneut beglaubigt. Sakralisierung passiert auch durch Wiederholung, respektive die stete Wiederholung bestätigt die Sakralisierung. Wie gezeigt werden konnte, nutzen Akteure, die für die Vermarktung von Sehenswürdigkeiten verantwortlich sind, verschiedene Strategien, um diese in Tourismuslandschaften zu positionieren und gegenüber anderen Netzwerken zu stabilisieren.

R OLLENZUWEISUNGEN : AKZEPTANZ ODER V ERWEIGERUNG Übersetzungsprozesse, die zur Etablierung von Netzwerken führen, erfolgen Hand in Hand mit Rollenzuweisungen (enrolment). Dies »bezeichnet den Vorgang, in dem ein Set von zueinander in Beziehung stehenden Rollen definiert und Akteuren zugeteilt wird, die sie akzeptieren« (Callon 2006a: 156). »Through enrolment, actors lock others into their definitions and networks so that their behaviour is channelled in the direction desired by the enrolling actor(s)« (Duim 2005: 95). Die Sehenswürdigkeiten sind positioniert, aber innerhalb des Netzwerkes müssen Akteure stets darauf achten, durch wechselseitige Rollenzuweisungen deren Attraktivität zu gewährleisten. Sehenswürdigkeiten sind nicht nur für die Zielgebiete Aushängeschilder, mit denen Reisende angelockt werden, die Devisen bringen. Sie sind eine Rechtfertigung für alle Beteiligten, auch für die touristischen Konsumenten. Ihnen dienen sie der Legitimation der Reise. In fremdem Lande benötigen Kulturreisende eine Beschäftigung. Die Frage »Was mache ich

5

Siehe http://www.danielkalder.com/antitourism.html (abgefragt am 31.05.2012).

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hier?« verlangt eine zufrieden stellende Antwort. Zwischen Übernachtungen, Mahlzeiten, Erholungszeiten und zurückgelegten Kilometern muss noch etwas stattfinden, das den Energieverbrauch, die Anstrengung und den Geldbedarf rechtfertigt. Individuell Reisende benötigen Orte, die sie aufsuchen können, an denen ihre Anwesenheit erwünscht und selbstverständlich ist. Reisegruppen benötigen ein Reiseprogramm. Es wird vom Veranstalter zur Verfügung gestellt und vom Kunden im Paket mit dem Gesamtprodukt gekauft. Insofern sind Sehenswürdigkeiten eine Legitimation, ohne die Kulturreisen, Studienreisen und Rundreisen nicht stattfinden würden, ein Anlass, um den Tag zu strukturieren und zu füllen. Betrachter müssen die Rolle, die Sehenswürdigkeiten zukommt, in ihrem Weltbild positionieren können, und Anbieter müssen Sorge tragen, dass ihnen dies gelingt. Denn für den Fortbestand kulturtouristischer Netzwerke ist es unerlässlich, dass Touristen Sehenswürdigkeiten aufsuchen und somit ihre Rollen als besichtigende Akteure akzeptieren. Touristische Beobachtungs- und Vergleichsschemata sind geographisch codiert, die Artikulation von Vergleichsaspekten basiert auf persönlicher Reisepraxis, auf bereits Er-Fahrenem. Das Zurückgreifen auf Erinnertes, an anderem Ort bereits Gesehenes, die diskursive Inbeziehungsetzung von beispielsweise Angkor Wat mit Machu Picchu, von Gizeh mit Teotihuacan, von Sanaa mit Marrakesch erlaubt die Feststellung von sachlichen Parallelen und Differenzen zwecks Ordnung und Veranschaulichung von Komplexem. Die Gemeinsamkeiten der Orte liegen weniger in ihnen selbst, sondern darin, dass sie touristische Destinationen sind, die von den vergleichenden touristischen Konsumenten historisch bereits er-fahren wurden. Wahrnehmung und Deutung von Sehenswürdigkeiten variieren nach biographischen Erfahrungshorizonten, auch nach Herkunfts-, Sozialisations- und Traditionskontext, differieren daher in Raum und Zeit und von Individuum zu Individuum. Umso mehr gilt dies, wenn Bauten ideologisch besetzt sind, sei es politisch und/oder religiös. Beispiele hierfür sind etwa Holocaust-Mahnmale oder auch die italienischen Rekonstruktionen in den Ruinenstätten Libyens. Wie diese heute jemand interpretiert, ist abhängig nicht nur von der Qualität des archäologischen Wissens, sondern auch von der politischen Haltung. Das Taj Mahal wird von indischen Besuchern anders gesehen als von europäischen und wiederum anders von islamischen Betrachtern. Indern ist

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es Symbol nationaler Identität, das mit Nationalstolz erfüllt, das indische Einheit in der Diversität widerspiegelt (Edensor 1998: 88ff), vielen Europäern ist das Taj Mahal die Sehenswürdigkeit der Sehenswürdigkeiten, für Muslime verschmelzen dort Tourismus und Pilgerfahrt. Die Festungen an der Küste in Ghana, in denen seinerzeit Sklaven für den Abtransport nach Übersee gesammelt wurden, sind für die Bewohner Teil der Geschichte ihres Landes, sie wünschen sich die Sehenswürdigkeiten gut gepflegt, damit sie viele Besucher anlocken, denn Tourismus wird als Faktor der Entwicklung betrachtet. Für afroamerikanische Touristen sind diese Orte von gänzlich anderer Bedeutung, sie kommen auf der Suche nach ihren Wurzeln und ihren Vorfahren, sie wünschen keine Veränderungen an den Bauten, keine Restaurierungen und nicht einmal einen neuen Anstrich (Bruner 2005: 103f, 108ff). Auf Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen Bereisten und Reisenden, respektive zwischen In- und Ausländern wurde auch an dem Beispiel aus Marokko bereits hingewiesen: Der Souk von Marrakesch repräsentiert für Touristen den Orient schlechthin, Marokkanern hingegen gilt er als touristisch. In dem Sinne, in dem im Diskurs postkolonialer Theoriebildung der Orient eine westliche Erfindung ist, sind beide Positionen treffend. Da Akteure andere Akteure auf ihre Rollen fixieren wollen (Duim 2005: 95), ist es wichtig, Frustrationserlebnissen vorzubeugen, die bei den touristischen Konsumenten auftauchen könnten, wenn sie Objekte besichtigen und sich in ihren Erwartungen getäuscht oder gar betrogen fühlen könnten. Wenn mehrere Akteure als Störfaktoren kooperieren, können sie das touristische Besichtigungserlebnis trüben. Akteure, die Interesse an hohen Besucherzahlen haben, müssen Sorge tragen, Unzufriedenheiten vorzubeugen, denn touristisches Interesse kann leicht in Desinteresse kippen, Akzeptanz und Verweigerung liegen nahe beieinander. Wenn viele Entitäten in optimalem Zusammenspiel einen erfreulichen Aufenthalt gewährleisten, sind Sehenswürdigkeiten spannend. Es bedarf guter Wetterbedingungen – nicht zu warm und nicht zu kalt, nicht zu feucht, nicht zu windig, jedenfalls aber sonnig, wegen des besseren Fotografierlichts. Es bedarf eines attraktiven, ausgewogenen Reiseprogrammes. Das Interesse nimmt ab mit der Anzahl der besichtigten Sehenswürdigkeiten, mit dem Fortschreiten des Tages und mit der Dauer der Reise. Physische Bedürfnisse wie Hunger, Unpässlichkeit oder reisetypische Magenbe-

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schwerden behindern die Aufmerksamkeit. Touristisches Interesse ist gegen Ende des ersten Reisedrittels intensiv ausgeprägt, wenn die anfängliche Unsicherheit im fremden Land überwunden und eine gewisse Gewöhnung an die neuen Gegebenheiten eingetreten ist. Es ist am stärksten etwa in der Mitte des Vormittags, wenn die Nacht nicht zu kurz und erholsam und das Frühstück ansprechend war. Wetter, Reiseprogramm, Essen, Bakterien und andere oft unberechenbare Akteure gestalten demnach die Reisepraxis mit und können das Erleben von Sehenswürdigkeiten beeinflussen. Touristisches Interesse ist weiterhin bei optimalem körperlichem Wohlbefinden auf seinem Höhepunkt. Betreibergesellschaften und Veranstalter müssen – als Akteure, die bestrebt sind, ein Netzwerk aufrecht zu erhalten – demnach stets darauf achten, dass auch alle anderen in ihren Rollen verbleiben, und dass nicht Akteure von außen bewirken, dass Touristen aus ihren Rollen ausbrechen. Wenn Edensor in seiner Studie zum Taj Mahal wiederholt feststellt, dass Touristen den Zeitmangel beklagen, dem sie bei der organisierten Reise unterworfen sind (1998: 122f, 131), ist dem hinzuzufügen, dass die Reisen von Edensors Befragten offensichtlich schlecht geplant waren. Da läuft in den Prozessen der Übersetzungsleistung etwas schief, einige der touristischen menschlichen oder nicht-menschlichen Akteure erfüllen ihre Arbeiten nicht so, wie sie sollten. Denn entscheidend ist, dass das Zeitbudget genau richtig bemessen ist, nicht zu kurz und nicht zu lang. Zu viel Zeit bei einer Sehenswürdigkeit langweilt, wird als Leerlauf empfunden und interpretiert, wie auch Bruner (1995: 233f) feststellen musste. Optimale Zeitorganisation ist Voraussetzung für Zufriedenheit der besichtigenden Akteure, die wiederum Voraussetzung dafür ist, dass sie an den ihnen zugewiesenen Rollen Gefallen finden und nicht aus dem Netzwerk ausbrechen. So wie die Reisepraxis generell mit demographischen Faktoren variiert, so kann der Zeitbedarf bei einer Sehenswürdigkeit individuell unterschiedlich sein. Der Zeitbedarf ist im Allgemeinen für Ältere geringer als für Jüngere, für Weitgereiste geringer (haben etwas Ähnliches schon irgendwo gesehen), ist abhängig auch von Bildungsniveau, Beruf, individuellen Interessen, Lebenssituationen und -bedingungen. Reiseveranstalter wissen dies und stellen die Programme deswegen gemäß ihren Zielgruppen zusammen. Ebenso gestalten die für den Reiseablauf verantwortlichen Personen, so sie in ihr Metier gut eingearbeitet sind, den täglichen Zeitplan danach, wie sie ihre Kundschaft ein-

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schätzen, dass die Zeit nirgends zu kurz und nirgends zu lang ist und abends alle müde und zufrieden sind. Dass diese Planung im Zusammenwirken verschiedener Akteure gelingt, ist Teil des Erfolges solcher Reisen. Touristisches Interesse an und Zufriedenheit mit der Sehenswürdigkeit sind am größten, wenn die dafür vorgesehene Zeitspanne genau richtig bemessen ist für die jeweiligen Bedürfnisse der jeweiligen Personen. Genau richtig bemessen sein muss auch die Anzahl gleichartiger Sehenswürdigkeiten. Allzu viel vom Gleichen oder Ähnlichen – seien es Ruinen, Gräber, Tempel, Moscheen, Paläste, Zelte oder Lehmhäuser – langweilt alsbald. Abgesehen vom fragilen Gleichgewicht zwischen Spannung und Langeweile beim touristischen Besichtigen, das abhängig ist von Faktoren wie Wetter, körperlichem Wohlbefinden und der richtigen Bemessung des Zeitbudgets, kann Unzufriedenheit auch durch eine Problematik hervorgerufen werden, die im System Tourismus selbst angelegt ist, nämlich der Anzahl der teilnehmenden Menschen, das bekannte und oft beklagte Massephänomen. Denn die Objekte unterliegen durch die allgemeine Zugänglichkeit einem Wandel, der vordergründig nicht ins Auge fällt. Während Sehenswürdigkeiten heute für viele sind, waren viele der Sehenswürdigkeiten zur Zeit ihrer Errichtung nur für wenige. Gräber, Gärten und Paläste wurden angelegt von vielen für einzelne, als Demonstration der Macht letzterer. Durch die touristische Öffnung ergeben sich Veränderungen, allein durch die Menge der Besucher. Dies lässt sich beispielhaft darlegen anhand eines japanischen Zen-Gartens. Dessen meditative Kraft kann nicht nachvollziehen, wer ihn in Gesellschaft mehrerer Reisegruppen und Schulklassen betrachtet. Von den einzelnen, die die Menge bilden, wird diese Menge (die nicht als die eigene verstanden wird) durchaus auch als negativ empfunden. Und so mag das zu besichtigende Objekt zwar dasselbe sein, aber es ist nicht das gleiche. Wohl ist das Objekt den vielen nur zugänglich, weil es grundsätzlich allen zugänglich ist, gleichzeitig verhindert aber gerade diese Öffentlichkeit, das Objekt in der Form wahrzunehmen, die vom Erbauer beabsichtigt wurde. Akteure müssen demnach in der Lage sein, solche systemimmanenten Mängel durch Strategien der Kompensation auszugleichen. Denn, wie Callon darlegt, hängt erfolgreiche Übersetzung »von der Fähigkeit der Akteur-Welt ab, Entitäten zu definieren und in Rollen einzubinden«, obgleich diese die »Definitionen und Rollenzuweisungen möglicherweise an-

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fechten werden« (2006b: 182f). Gelingt es den menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren nicht, in harmonischem Zusammenwirken, Kunden zufriedenzustellen, dann sind Beschwerden die Folge. Wenn diese so weit gehen, dass Touristen von ihren Veranstaltern Geld zurückfordern, dann haben Teile des Netzwerkes so weitgehend versagt, dass es sich als Ganzes als Fehlkonstruktion erwies und in seinem Bestand gefährdet ist. Nach Urry werden Orte visuell konsumiert (Urry 1997, 2005). Im Studienreisen-Tourismus werden Orte im Allgemeinen nur einmal aufgesucht. Auch längere Verweildauer an einer Stätte fordert einen anderen als den touristischen Zugang. Touristischer Konsum ist auf kurze Zeitspannen ausgerichtet, stets bedroht von der Gefahr der nachlassenden Aufmerksamkeit durch die besichtigenden Personen. Deswegen werden Sehenswürdigkeiten rasch absolviert und in großer Zahl aneinandergereiht. Immer mehr Leute verreisen immer öfter pro Jahr, die Reiseintensität steigt zwar zeitweise sprunghaft, aber kontinuierlich, wie die Welttourismusorganisation (UNWTO 2012: 2f) jährlich erhebt. So werden immer neue Destinationen und neue Sehenswürdigkeiten geschaffen, die immer mehr Reisen erfordern, ein Kreislauf, den ewig in Gang zu halten mächtige ökonomische Kräfte das allergrößte Interesse haben. Wenn Akteure ihre Rollen akzeptieren und wahrnehmen, entwickeln sie ihrerseits Strategien, um diese attraktiv zu gestalten. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Teile jener Touristen, die partout keine sein wollen, die sich selbst Traveler nennen, zwecks Verstärkung des Erlebnisses Taj Mahal zu pharmakologischen Hilfsmitteln wie Haschisch, Marihuana und LSD greifen (Edensor 1998: 124). Für diese touristischen Konsumenten ist demnach nicht einmal das Taj Mahal, die Sehenswürdigkeit schlechthin, für sich alleine genommen ausreichend sehenswert, also selbst vor der Königin unter den Sehenswürdigkeiten muss das Erlebnis künstlich angeheizt werden. Da eine ANT-Perspektive menschliche und nicht-menschliche Entitäten methodisch und terminologisch in gleicher Weise erfasst, konnte aufgezeigt werden, wie fragil kulturtouristische Netzwerke sind – sowohl durch interne Schwächen wie schlecht funktionierende Übersetzungsleistungen und Akteure, die ausscheren, als auch durch Akteure, die von außen eingreifen und Abläufe stören. Es erweist sich als ziemlich schwierig, die besichtigenden Akteure in ihrer Rolle des Besichtigens festzuhalten. Warum dies langfristig dennoch sehr gut gelingt, wie kontinuierlich steigende Besucherzah-

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len beweisen, vermag jene aus der französischen Tourismusforschung stammende theoretische Richtung zu erhellen, die das Reisen als Verwirklichung des Imaginären begreift (Raymond 1960), die im deutschsprachigen Raum durch Hennig (1999) bekannt gemacht wurde. Es geht im Tourismus nicht um Erkenntnis, nicht darum, fremde Welten kennen zu lernen, sondern es geht um die Realisierung von Fantasien und Wunschvorstellungen. Die Reise ist eine Verbindung zwischen realer (Körperwelt) und imaginärer (imaginierter) Welt. Die touristische Wahrnehmung sucht nicht, das Fremde zu verstehen, sondern macht sich das Fremde aufgrund von kollektiven Fantasien und individuellen Bedürfnissen zurecht. Raymond, auf den diese Deutung zurückgeht, spricht von »konkreter Utopie« (1960). Wenn also die Tourismuskritik dem Tourismus Realitätsferne vorwirft, geht das am Tourismus vorbei, die Kritik trifft ihn gar nicht, weil er ja keine Realität sucht. Die touristische Industrie ist eine Traumfabrik. Ihre verantwortlichen Akteure bedienen sich einer Strategie der Verklärung, mittels derer sie effizient und dauerhaft Imaginationen produzieren und aufrechterhalten. Die touristische Konstruktion der wahrgenommenen Welt erfolgt in zweifacher Weise, einmal durch die Traumfabrik, welche die Sehenswürdigkeit gestaltet, und außerdem durch selektive Wahrnehmung von Seiten der touristischen Konsumenten (vgl. Hennig 1999: 55). In diesen Kontext gestellt, wird auch ersichtlich, warum es kein vordringliches touristisches Anliegen ist, hinter der bunten Repräsentation deren Inszenierung zu erkennen. Solange die besichtigenden Konsumenten ihre Rolle im Netzwerk akzeptieren, erweisen sie sich als dessen emsige Mitarbeiter und beteiligen sich an der Ausformung und Verbreitung von Imaginationen durch touristische Praktiken wie Fotografieren, das Versenden von Ansichtspostkarten, das Verfassen von Blogbeiträgen und das Konstruieren von mediatisierten Narrativen. Von besonderer Bedeutung ist die Fähigkeit einer Sehenswürdigkeit, durch die ihr zugeschriebenen Attribute ihre Betrachter auf der Empfindungs-Ebene anzusprechen. Untersuchungen belegen das touristische Bedürfnis, beim Besuch historischer Stätten emotional involviert zu sein (Poria/Butler/Airey 2004: 27, Poria/Reichel/Biran 2006: 322). Mittels einer Strategie der Emotionalisierung können Besucher an Objekte gebunden werden. Eine Sehenswürdigkeit kann ihren Betrachter mit einem Gefühl der Erhabenheit versehen, denn ihre Eigenschaft überträgt sich auf ihn, sie bietet

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die Möglichkeit, sich von ihren Qualitäten etwas anzueignen. Allein durch den Besuch der Stätte haben Besucher Teil an ihrer Außerordentlichkeit, für die Dauer des Aufenthaltes erweisen sie sich selbst als außerordentlich, können sich, wenn gewünscht, einer nostalgischen Geschichtsbetrachtung hingeben und in goldene Zeiten zurück- und hineinträumen. Im Rahmen einer erfolgreichen Kommerzialisierung von Sehenswürdigkeit und Vergangenheit können Besucher ein Stückchen von diesem Gefühl im Souvenirladen erwerben und mitnehmen. Nicht nur ein Gefühl der Erhabenheit kann eine Sehenswürdigkeit ihren Besuchern vermitteln, selbst ein Gefühl der Überlegenheit, und zwar in vielfältiger Weise. Gegenüber zeitgenössischer japanischer Architektur mögen sich europäische Reisende zuweilen wie aus einem Entwicklungsland stammend fühlen. Aber wer anschließend an den Besuch des Tokio Metropolitan Government Building oder des Roppongi Hills Mori Tower oder des Bahnhofs in Kyoto einen buddhistischen Tempel besichtigt, der hat, viel gereist, Beeindruckenderes bereits in den Nachbarländern gesehen. Und so kann sich selbst in Japan ein Gefühl der Überlegenheit einstellen. Und dies kann auch in Dubai und anderen Golfregionen gelingen, indem angesichts der dortigen himmelstrebenden Ereignisse die architektonischen Höhenflüge als neureich, als Protz- und Prunkgehabe abgewertet werden. Zuweilen schaffen es selbst das Taj Mahal oder die Pyramiden, Besuchern ein Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln. Denn aufgeklärte Bürger bedürfen dergleichen Imponiergehabes nicht und missbilligen aus demokratischer Gesinnung die Erhöhung einzelner durch die Ausbeutung vieler, wie sie in solchen Bauten zum Ausdruck kommt. Sehenswürdigkeiten bedienen Gefühle. Historisches oder kunsthistorisches Interesse kann sich bei touristischer Betrachtung in Nostalgie verkehren, ethnologisches, soziologisches, geographisches in Exotismus und Voyeurismus, das Grauen angesichts von Katastrophen kann zum Gruseln mutieren. Touristische Praktiken beinhalten die Verwandlung wissenschaftlicher Betrachtungsweisen in Gefühle. Entscheidend für Bestehen und Aufrechterhaltung touristischer Netzwerke innerhalb von Tourismuslandschaften ist die Einbindung von Akteuren, die durch Rollenzuweisungen angesprochen werden müssen. Die touristischen Besichtiger bewegen sich auf einer Gratwanderung zwischen Langeweile und Begeisterung, zwischen Akzeptanz und Verweigerung, stets bedroht durch diverse Akteure, die von außen das Netzwerk stören,

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denen andere, die es aufrechterhalten wollen, nämlich die Tourismus-Verantwortlichen, durch Strategien begegnen.

Z USAMMENFASSUNG In Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), wie sie von Bruno Latour, Michel Callon, John Law und anderen erarbeitet wurde, werden Sehenswürdigkeiten und Menschen, die sie besichtigen, als Akteure in Netzwerken betrachtet, die sich in Tourismuslandschaften konstituieren. Entsprechend den erstaunlichen Überlegungen und Analysetechniken der ANT, die Menschen, Dinge, Organisationen, Ideen und Naturphänomene methodisch und terminologisch in gleicher Weise zu erfassen bestrebt ist, wird klargelegt, wie kulturtouristische Netzwerke durch das Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren entstehen und am Leben erhalten werden. Gerade bezogen auf touristische Situationen und Praktiken ist die epistemologische Dimension der ANT, wiewohl umstritten, beträchtlich, weil nicht-menschlichen Entitäten aus allen Bereichen (Wetter, Programm, Asteriskisierung, Hotel, Essen, Krankheitserreger) für Gelingen oder Misslingen einer Reise so überragende Bedeutung zukommt. Es können verschiedene Strategien der Übersetzung identifiziert werden, mittels derer Entitäten als Akteure in Netzwerke integriert und von anderen Akteuren in ihren Rollen fixiert werden. Eine dieser nicht-menschlichen Entitäten, die aus einem Objekt erst eine Sehenswürdigkeit macht, ist der Asterisk. Er wird in entsprechender Anzahl von kulturtouristischen Entscheidungsträgern, denen innerhalb der Netzwerke verantwortliche Rollen zufallen, verliehen. Eine solche Asteriskisierung, die an manchen Objekten erfolgt, während sie anderen verweigert wird, ist zugleich ein Prozess der Kommodifizierung, der die nunmehr so ernannte Sehenswürdigkeit in der Tourismuslandschaft verortet und im Netzwerk verankert. Im Verlaufe dieses Prozesses erlebt das Objekt einen radikalen Wandel in seiner Nutzung; ihm werden Bedeutungen hinzugefügt, und der kulturelle Wert wird ergänzt durch kommerziellen Wert. Erst durch solche Abläufe werden kulturtouristische Netzwerke konstituiert. Sie zeigen, dass Sehenswürdigkeiten nicht per se existieren oder je existiert haben. Sehenswürdigkeiten sind nicht, sie werden gemacht. Ihre

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Wertung als Besonderheit versetzt sie in den Status der Ausnahme. Solange dieser bestehen bleibt, wird er in Kooperation aller Akteure stets neu verhandelt, wobei das Sehenswerte als solches definiert, asteriskisiert, konstruiert und rezipiert wird. Indem die touristischen Konsumenten Sehenswürdigkeit um Sehenswürdigkeit besichtigen und Reise um Reise buchen, erweisen sie sich als emsige Mitarbeiter im System. Denn entscheidend für Bestand und Erhalt kulturtouristischer Netzwerke und asteriskisierter Sehenswürdigkeiten ist die Verpflichtung von Akteuren, die an ihren Rollenzuweisungen Gefallen finden müssen.

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Wa(h)re Kultur Das »Kalam-Kulturfestival« im nördlichen Hochland von Papua-Neuguinea J OACHIM G ÖRLICH

Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht das Kulturfestival der Kalam, die am nördlichen Rand des Hochlandes von Papua-Neuguinea leben.* In diesem abgelegenen und gebirgigen Gebiet stehen keine Straßen für den Transport zur Verfügung und die wichtigsten Verbindungen zur Außenwelt, insbesondere zur Provinzhauptstadt Madang und nach Mt. Hagen, werden durch Buschflugzeuge hergestellt. Hier praktizieren viele Kalam noch heute Initiationsrituale in einer Form, die in vieler Hinsicht derjenigen vor 60 Jahren ähnlich ist, als sie unter den Einfluss der Kolonialadministration und Mission kamen.1 Im Jahre 2005 begann eine der Kalam-Lokalgruppen aus Simbai (dem Verwaltungszentrum der Kalam, welches auch eine Flugpiste besitzt), auf der Grundlage ihres Initiationsrituals das Kalam-Kulturfestival zu organisieren. Das Festival wird im Zusammenhang mit den landesweiten Feierlichkeiten abgehalten, die anlässlich des Unabhängigkeitstags am 16. September stattfinden. *

Mein besonderer Dank gilt Brodney Seip für Unterstützung bei der Dokumentation des Kulturfestivals und Felix Girke und Eva-Maria Knoll für hilfreiche Anmerkungen.

1

Bei den meisten anderen ethnischen Gruppen Papua-Neuguineas wurde die Durchführung von Initiationsritualen aufgrund des kolonialen Einflusses aufgegeben oder für längere Zeit unterbrochen.

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Schon in den fünfziger Jahren wurden von der Kolonialadministration Kulturfestivals mit dem Ziel der nationalen Integration eingerichtet, von denen sich inzwischen einige zu umfangreichen kulturellen Shows entwickelt haben. Bei den landesweit größten und bekanntesten Shows nehmen über 100 sogenannte »singsing groups« aus ganz Papua-Neuguinea teil, um Gesänge und Tänze für ein zahlendes Publikum aufzuführen. Diese großen Festivals wurden schnell zu touristischen Hauptattraktionen des Landes, wobei allerdings die Zahl der ausländischen Touristen, die Papua-Neuguinea insgesamt besuchten, lange Zeit sehr niedrig war: Bis in die neunziger Jahre blieb sie fast jedes Jahr deutlich unter 10.000. Erst in den letzten Jahren hat sich diese Situation verändert und es konnte ein stärkeres Tourismuswachstum verzeichnet werden (Rannells 1995: 179; PNG Tourism Promotion Authority 2011). Parallel mit dieser Zunahme der Touristenzahlen geht die Gründung von zahlreichen kleineren Kulturfestivals in PapuaNeuguinea einher, von denen die meisten in der Aufführung von Tänzen, Gesängen und anderen kulturellen Praktiken bestehen, die losgelöst von ihrem alltagskulturellen Kontext für ein Publikum dargeboten werden. Häufig handelt es sich dabei auch um eine Art von Wiedererfindung einer mehr oder weniger vergessenen Tradition. Das Kalam-Kulturfestival ist unter diesen kulturellen Darbietungen insofern besonders, als es auf einem »traditionellen« Initiationsritual basiert, dem sogenannten »NasenpiercingRitual«,2 welches heute noch praktiziert wird und performative Wirksamkeit in Bezug auf die Veränderung der Identitäten der Ritualteilnehmer besitzt. Wenn ich hier von »traditionell« spreche, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich für die Kalam dabei um einen Brauch (melanesisches Pidgin: kastam) handelt, den sie mit den kulturellen Praktiken der Vorfahren aus vorkolonialer Zeit in einer historischen Kontinuität stehend sehen (kastam bilong tumbuna). Welche kulturellen Transformationen finden statt, wenn ein solch stark »traditionell« orientiertes Initiationsritual aus dem soziokulturellen Kontext, in dem es üblicherweise stattfindet, herausgelöst und in einem Kontext praktiziert wird, der durch ein erhebliches Moment an westlicher Modernität geprägt ist? Damit beziehe ich mich vor allem auf das Moment der

2

Die Initiation wird im Kalam als mluk puƾi-, im Kobon mulu al- und im Melanesischen Pidgin als sutim nus bezeichnet, was wörtlich übersetzt »Nasenpiercing« heißt.

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Kommodifizierung, darauf, wie ein von den Kalam als authentisch aufgefasstes Ritual im Rahmen eines selbst geschaffenen Kulturfestivals zum Objekt des globalen Touristenmarktes und damit zur Ware gemacht wird. Daraus leitet sich auch der Titel meines Beitrags ab: »Wa(h)re Kultur«.3 Um die durch den Tourismus verursachten Veränderungsprozesse besser identifizieren zu können, soll im ersten Teil ein Initiationsritual dargestellt werden, wie es außerhalb des touristischen Kontextes praktiziert wird. Allerdings greife ich dazu nicht auf Daten zurück, die ich bei den Kalam erhoben habe, sondern bei den Kobon, wo ich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre den Hauptteil meiner Feldforschung durchgeführt habe und dabei auch an verschiedenen Lebenszyklusritualen teilnehmen konnte. Die Kobon sind die direkten, westlichen Nachbarn der Kalam (vgl. Karte). Abb. 1: Karte der Region

3

Ich greife hier auf den Titel der DGV-Tagung 2011 zurück, in deren Rahmen ich den diesem Kapitel zugrunde liegenden Vortrag gehalten habe. Die von den Tagungsorganisatoren gewählte rhetorische Figur der Paranomasie gibt treffend und anschaulich die flukturierende Polysemie wieder, die der Perspektive der Kalam auf das Kulturfestival zugrunde liegt. Auf die im Titel der Tagung verwendeten Anführungszeichen beim Begriff der »Kultur« habe ich deshalb verzichtet. Siehe auch Görlich (2008).

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Während die über 20.000 Kalam sowohl im westlichen Bismarckgebirge als auch im östlichen Schradergebirge wohnen, leben die etwa 7.000 Kobon im zentralen Schradergebirge. Zum Verständnis des Initiationsrituals sind allgemeine kulturelle Hintergrundinformationen nötig. Wie man aus der Karte ersehen kann, gibt es im Bismarck- und Schradergebirge mehrere ethnische Gruppen, von denen sich die Kalam und Kobon am stärksten kulturell und sprachlich4 ähneln. Beide Gruppen wohnen in Streusiedlungen, die sich aus Einzelhäusern und Weilern zusammensetzen. Haushalte, die bis zu etwa 25 Personen umfassen können, sind die größten stabilen Gruppen. In den Streusiedlungen werden unterschiedliche Lokalgruppen durch Namen identifiziert. Die Lokalgruppen basieren auf einem Kern von Männern, die sich durch kumulative Patrifiliation5 miteinander in Beziehung setzen. Daneben sind auch kognatische Beziehungen wichtig. Es existiert keine Clan-Organisation. Stattdessen beschreiben die Kobon ihre verwandtschaftlichen Beziehungen als dichtes und flexibles Netzwerk, welches aus interaktiven Beziehungen zum Land resultiert und in welches auch Ahnen, Geistwesen, mythische Figuren und andere beseelte Wesen eingebunden sind. Die innerhalb dieses Netzwerkes bestehenden Machtunterschiede ähneln in gewissen Hinsichten dem sogenannten »greatmen«-Typ der politischen Organisation in Melanesien, in dem Macht und Wissen stark miteinander korrelieren, d.h. bestimmte Personen können durch herausragende Fähigkeiten – etwa bei Konflikten, bei Heilungen, bei der Jagd oder Gartenproduktion – Prestige erwerben, das sie in soziales Kapital umsetzen (vgl. Godelier 1986), wobei dieser Machtmechanismus aber nur schwach ausgeprägt ist. Die Mitglieder einer Lokalgruppe haben Anspruch auf die Benutzung von Gartenland in weit voneinander verstreut liegenden Gebieten. Bei jeder größeren Anbaufläche haben sie ein Haus, welches in Abhängigkeit vom Zyklus der Landnutzung bewohnt wird. Wegen des zerklüfteten Terrains

4

Persönliche Mitteilung von Andy Pawley; siehe auch seinen Sprachvergleich in A. Pawley/R. Bulmer (2011).

5

Barnes (1962) hat in einem viel diskutierten Aufsatz dieses Konzept für die Analyse melanesischer Gesellschaften vorgeschlagen, um Missverständnisse zu vermeiden, die sich aus einer Verwendung des Begriffs der patrilinearen Deszendenz und damit zusammenhängender Annahmen über dessen genealogische Grundlegung ergeben können.

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mit seinen steilen Berghängen und wegen der heftigen Regenfälle können die Gärten nur ein- bis zweimal bebaut werden und müssen dann wieder für einen längeren Zeitraum brach liegen. Die Hauptanbaupflanzen sind Süßkartoffel und Taro. Das Züchten von Schweinen ist ebenfalls von Bedeutung, wird aber in einem deutlich geringeren Umfang als im zentralen Hochland betrieben. Darüber hinaus tragen Jagen und Sammeln in erheblichen Maß zur Subsistenz bei. Die Möglichkeit, Geld zu verdienen, wurde in den letzten Jahren zunehmend wahrgenommen, z.B. über den Anbau von Kaffee, über den Verkauf westlicher und indigener Produkte, über die Mitarbeit bei staatlichen und kirchlichen Institutionen im Dorf oder über temporäre Migrationsarbeit in anderen Regionen Papua-Neuguineas. Neben der Sprache, die am offensichtlichsten den Unterschied zwischen den beiden Gruppen markiert, gibt es noch eine Reihe von anderen kulturellen Praktiken, die von den Kalam und Kobon verwendet werden, um Differenzen zwischen ihrer jeweiligen kulturellen Identität hervorzuheben. Dies gilt vor allem für bestimmte Lebenszyklusrituale und die mit ihnen verbundenen mythischen Erzählungen. Wie diese historisch verwobenen kulturellen Praktiken und Diskurse zur Definition der kulturellen Identität Verwendung finden, werde ich im Zusammenhang mit der Darstellung des Initiationsrituals noch näher erläutern. Aufgrund des unterschiedlichen Einflusses verschiedener christlicher Kirchen ist diese Situation noch komplizierter geworden. Wie oben bereits angemerkt, wurde das Initiationsritual im außertouristischen Kontext von mir bei den Kobon dokumentiert. Aber eigentlich sind es vor allem die Kalam, die die Initiationsrituale heute noch praktizieren. Der Grund dafür ist, dass die Kalam ab der Mitte der fünfziger Jahre stark von der anglikanischen Kirche missioniert wurden, welche die Durchführung der Rituale akzeptierte. Von den Kobon ist nur ein kleinerer Teil anglikanisch (vor allem Kobon, die nah bei den Kalam wohnen) bzw. ein etwas größerer Teil überhaupt nicht kirchlich gebunden, während die meisten Kobon zur evangelikalen »Church of the Nazarene« gehören, deren Einfluss seit der Errichtung einer Missionsstation im Januar 1970 zunehmend stärker wurde, und welche die Initiationsrituale verbietet. In vier Schritten möchte ich mich nun mit den Transformationen auseinandersetzen, die mit der Einführung des Festivals eingesetzt haben. Im ersten Teil werde ich, wie bereits erwähnt, aus vergleichenden Gründen das Nasenpiercing-Ritual bei den Kobon darstellen – das Initiationsritual, welches auch beim Kalam-Festival praktiziert wird. Im zweiten Teil wird der

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konkrete Ablauf des vierten Kulturfestivals unter besonderer Berücksichtigung des Nasenpiercing-Rituals geschildert. Der dritte Teil zeichnet die Geschichte des Kulturfestivals nach, die eng mit der Gründung des KalamGästehauses und des Kalam-Kulturmuseums verknüpft ist. Abschließend werden im vierten Teil zentrale Transformationsprozesse analysiert, die mit der Durchführung des Festivals einhergehen, wobei in der Analyse dem Konzept der Aneignung ein besonderer Stellenwert zukommt.

D AS I NITIATIONSRITUAL BEI DEN K OBON IM NICHT - TOURISTISCHEN K ONTEXT Das hier geschilderte Nasenpiercing-Ritual wurde Ende Juni/Anfang Juli 1993 in Aspol abgehalten, einem kleinen Weiler zwischen Gebrau 2 und Gomp (vgl. Abb. 1). Dabei geht es mir nicht um eine systematische Darstellung des Ritualverlaufs, sondern nur diejenigen Aspekte sollen angesprochen werden, die für ein besseres Verständnis des Kalam-Kulturfestivals relevant sind. Der Hauptorganisator der Initiation ist ein enger Verwandter eines der teilnehmenden Initianden, meist dessen Vater oder eine Person, die patrilateral mit dem Initianden verbunden ist. Neben einem Kern an patrilateralen Verwandten der Initianden nehmen auch kognatische und insbesondere matrilaterale Verwandte (wie ihre Mutterbrüder) teil. Die verwandtschaftliche Definition der die Initiation durchführenden Männer ist nicht eindeutig festgelegt; aufgrund dieser Flexibilität muss keine verwandtschaftliche Position notwendig involviert sein. Die Kobon betrachten das Nasenpiercing-Ritual6 als eine kulturelle Praxis, welche ihre Vorfahren in vorkolonialer Zeit von den Kalam übernommen haben. Einige der rituellen Performanzen werden von den Kobon nur in verkürzter Form durchgeführt oder ganz ausgelassen. Der bei den Kobon und Kalam übliche Name »Nasenpiercing-Ritual« (vgl. Fn. 2) geht aus der Tatsache hervor, dass das

6

Daneben kennen die Kobon noch ein anderes Wachstumsritual, das sogenannte »Ankleide-Ritual«, welches nicht zum Ritual-Repertoire der Kalam gehört, und das als das genuine Wachstumsritual der Kobon gilt. Auf dieses soll aber nicht weiter eingegangen werden, da ich mich hier für einen Vergleich der Performance des gleichen Typs von Ritual in einem nicht-touristischen und einem touristischen Kontext interessiere.

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Durchbohren des nasalen Septums diejenige Aktivität darstellt, durch welche die offensichtlichsten körperlichen Ergebnisse bei der Initiation herbeigeführt werden, gleichzeitig stellt sie auch den geheimsten Teil der Initiation dar. In das Loch wird ein Holzstäbchen gesteckt, das bis zur Verheilung der Wunde in der Nase bleibt. Später können dann in das Loch bei festlichen Gelegenheiten Schmuckgegenstände gesteckt werden (siehe auf Abb. 4 den Mann im Hintergrundbild des Kulturfestivalprogramms rechts oben). Neben dem Nasenpiercing müssen die Initianden auch noch andere physische Gewaltanwendungen ertragen. So müssen sich die Jungen z.B. in einem schmalen Ritualraum nahe an einem Feuer aufhalten, was zu starken Verbrennungen führen kann. Auch kommt es vor, dass die Novizen von den die Initiation durchführenden Männern auf den Rücken geschlagen werden. Daneben wird immer wieder versucht, den Kindern Angst einzuflößen. So spielen in der Initiation sowohl physische als auch psychische Gewaltanwendungen eine signifikante Rolle. Ein anderes zentrales Moment der Initiation besteht in der (Re-) Produktion von Beziehungen zu den Ahnen und anderen spirituellen und mythischen Wesen. Dies geschieht bereits bevor die Initianden das Ritualhaus betreten. So werden schon beim Anzünden der Feuer Geistwesen herbeigerufen. Auch das Bestreichen der Beine der Initiationsteilnehmer mit einem Gemisch aus Lehm, Wasser und Blättern soll helfen, dass gemeinsam mit den Initianden auch Geistwesen ins Ritualhaus kommen. Auch während der Initiation werden immer wieder verschiedene Mittel herangezogen, um die Präsenz der Ahnen und anderer Geistwesen herbeizuführen oder zu überprüfen. So werden die Gesichter der Initianden und älteren Männer einige Stunden, bevor sie gemeinsam das Ritualhaus verlassen, mit braunem Lehm bemalt. Vermischt sich der Schweiß mit dem Lehm zu einer schönen, gelben Gesichtsfarbe, wird dies als Zeichen gedeutet, dass die Ahnen am Wohl der Initianden Interesse zeigen. Die genannten Beispiele für das In-Verbindung-Setzen der Ritualteilnehmer mit den Geistwesen sind Teil eines umfassenden Bemühens seitens der initiierenden Männer, das soziokosmologische Netzwerk für die Jungen neu zu arrangieren. Dies soll deren Wachstum ermöglichen und den Novizen eine relationale Form geben, die sie mit der Kapazität ausstattet, als erwachsene Personen wirksam in Bezug auf andere Personen zu handeln, sei dies als Ehemann, Jäger, Gärtner, Heiler oder Krieger.

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Die Elaboriertheit des soziokosmologischen Netzwerkes, in welches die Initianden durch die Teilnahme am Ritual eingebunden werden, zeigt sich auch in den mythischen Geschichten, die mit den Initiations- und Wachstumsritualen in Verbindung stehen. Abb. 2: Initiationsteilnehmer verlassen das Ritualhaus

Foto: Joachim Görlich

Während bei dem oben erwähnten Ankleide-Ritual über Stunden mythische Lieder gesungen werden, finden beim Nasenpiercing-Ritual nur Anspielungen auf die mythische Geschichte statt, die mit dem Ritual in Verbindung gebracht wird und die nur einigen älteren Teilnehmern in vollem Umfang bekannt ist. Der Kern der Geschichte besteht in dem Versuch einer Schwester, ihren Bruder zu heiraten. Um ihr zu entfliehen, verwandelt sich der Bruder in einen Papagei und fliegt weg, während die Schwester zu einem Baum erstarrt (vgl. Kap. 22, »The Papuan Lory and the Schefflera plant« in Majnep/Bulmer 1977). Die magischen Formeln, welche die Schwester verwendet hatte, um die Zuneigung ihres Bruders zu erwirken, merkt sich der Papagei bei seiner Flucht. Seit dieser Zeit besitzen die Männer die Liebesmagie, welche sie den Jungen im Nasenpiercing-Ritual vermitteln. In der Abbildung 2 kann man im Kopfschmuck der Teilnehmer auch die (dunklen) Federn des in der mythischen Geschichte erwähnten Papageis erkennen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Initiationsrituals besteht in der Auferlegung zahlreicher Tabus, die von den Initianden über mehrere Jahre

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befolgt werden müssen. Viele dieser Tabus sollen die jungen Männer davon abhalten, mit Frauen in engeren Kontakt zu kommen. Sie dürfen keinen Geschlechtsverkehr mit Frauen haben und keine von Frauen zubereitete Nahrung essen. Darüber hinaus existiert noch eine Vielzahl von anderen Tabus, die das Wachstum der Jungen sicherstellen sollen. So dürfen sie keine Nahrung essen, die als unrein angesehen wird oder die auf einem offenen Feuer zubereitet worden ist. Auch ist es ihnen verboten, die meisten Taro-Sorten zu essen. Ein großer Teil dieser Tabus wird aufgehoben, wenn die Jungen ein zweites Mal am Nasenpiercing-Ritual partizipieren. Ohne hier weiter auf die Details dieses äußerst komplexen Tabu-Systems weiter eingehen zu können, sei zusammenfassend gesagt, dass durch die körperliche Erfahrung der Tabus die sozialen Identitäten der Initianden performativ konstituiert werden. So wird beispielsweise durch das Befolgen von Essensrestriktionen, die für eine bestimmte Verwandtschaftsbeziehung gelten, eine gemeinsame Substanz geschaffen, die Ausdruck dieser Beziehung ist. Eine solche performative Konstituierung des Verwandtschaftsstatus ist möglich, da für die Kobon verwandtschaftliche Substanz nicht allein über Zeugung und Geburt weitergegeben wird, sondern auch über andere soziale Prozesse wie das Teilen von Nahrung und das Bebauen von Land.7 Von grundlegender Bedeutung für die prozessuale Definition von verwandtschaftlichen Identitäten bei der Initiation sind auch die Entrichtungen des »Brautpreises« (vgl. Wagner 1977, Strathern 1988, Leach 2003) – von den Kalam und Kobon im Melanesischen Pidgin auch als braid prais oder pe bilong meri bezeichnet (Abb. 4). Abbildung 3 zeigt, am Boden aufgereiht, die »Brautpreis«-Zahlungen – d.h. die Gaben an die Gruppe der Ehefrau –, die aus mehreren grünen Turbanschnecken-Schalen (Turbo marmoratus) und einigen mit kleinen Reusenschnecken-Schalen (Nassa sp.) besetzten Bändern bestehen. Ein inzwischen grundlegender Bestandteil jedes »Brautpreises« ist das Schweinefleisch, welches früher keine Rolle gespielt hat. Diese sogenannten »Brautpreis«-Zahlungen werden nicht nur einmalig bei Hochzeitsfeierlichkeiten geleistet, sondern kontinuierlich im Zusam-

7

Vgl. Görlich (2003, inbes. S. 345-347); siehe dort auch für weiterführende Literaturangaben. Carsten (2001) diskutiert die relational-analogische Interpretation des Substanzbegriffs, die einer solchen prozessualen Erfassung von verwandtschaftlichen Identitäten zugrunde liegt.

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menhang mit dem Abhalten von Lebenzyklusritualen für die Kinder des Ehepaares wiederholt. Sie werden aber auch weiter als »Brautpreis«Zahlung bezeichnet, um so den Bezug zur Heirat als dem grundlegenden Moment in der Beziehung zwischen den affinen Verwandten zu betonen: Abb. 3: Brautpreiszahlungen

Foto: Joachim Görlich

Durch die Heirat erhält der Mann von seinen affinen Verwandten eine Frau, und diese erwarten nun, dass er für die Arbeitskraft der Ehefrau und für ihre Fähigkeit Kinder zu gebären »Kompensationen« (Kobon: haji, Kalam: saj) an die Verwandten der Ehefrau zahlt. Die Brautgaben werden aber nicht nur als Kompensationen für Tätigkeiten und Eigenschaften der Ehefrau aufgefasst, sondern auch als Kompensationen für Unterstützungsleistungen durch die männlichen Verwandten der Ehefrau. Die Mutterbrüder der Initianden zum Beispiel stellen Ritualkleidung für die Jungen zur Verfügung und bringen die Novizen während der Initiation mit Geistwesen und anderem kosmologischem Wissen in Verbindung. Dadurch tragen sie zu ihrem Wachstum bei. Auf die gleiche Art wie die Initiation den Initianden wachsen lässt, tragen also auch diese »Brautpreis«-Leistungen zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der sozialen Identität des Initianden bei und lassen ihn in diesem Sinn wachsen. Soziales und biologisches »Wachstum« (Kobon: ap ran, Kalam: aptan) werden hier also nicht grundlegend unterschieden.

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Auch im soziokosmologischen Weltbild der Kobon und Kalam, das insbesondere in rituellen Zusammenhängen entworfen wird, gibt es keine kategorische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, sondern es existiert ein umfassendes, im prozessualen Sinn des Wortes animistisches Netzwerk, in welchem durch rituelle Interaktionen Menschen, Geistwesen, Tiere, Pflanzen und Orte miteinander verknüpft werden. Eine Unterscheidung zwischen sozialer und biologischer Person ist deshalb nicht sinnvoll. Darum können Brautgaben auf die gleiche Weise wie andere Initiationspraktiken zum Wachstum und zur Differenzierung einer Person als Ganzes beitragen (vgl. Görlich 2003; siehe auch die ausführliche Analyse von Leach 2003, insbes. Kap. 4, für die Reite an der Küste von Madang). Häufig ist das Nasenpiercing-Ritual auch mit einem Tanzfest verbunden, das dann den Höhepunkt der Initiation bildet, dem sogenannten paröm bei den Kobon bzw. smy bei den Kalam. Auch die Nachbarn im Westen (die Haruai nennen es ülüf) und im Osten (die Maring kaiko) praktizieren dieses Fest. Die Aussage eines Maring, die Roy Rappaport in seiner klassischen Ritualzyklus-Studie zitiert, um dessen Interpretation für die Durchführung eines kaiko zu schildern, gilt auch für die Teilnahme bei den anderen Tanzfesten: »(T)hose who come to our kaiko will also come to our fights« (1968: 195). Zum Tanzfest werden von den Organisatoren einer Initiation befreundete Personen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit als Tänzer eingeladen und erhalten dafür Gaben an Schweinefleisch. Das Tanzfest, welches am Spätnachmittag beginnt und die ganze Nacht hindurch andauert, liefert also einen zentralen Beitrag für den Aufbau und die Festigung sozialer Beziehungen zwischen unterschiedlichen Lokalgruppen (Görlich 1998: 320). Wie Ralph Bulmer (1967: 13) in seiner Analyse eines smy feststellt, werden Wohlstand und Prestige der organisierenden Lokalgruppen durch die Größe des Tanzfestes angezeigt. Darüber hinaus dokumentiert die Zahl der sozialen Beziehungen, die bei einem Tanzfest öffentlich aktiviert werden, die potentielle Unterstützung, die in anderen Kontexten mobilisiert werden könnten, insbesondere in Konfliktfällen.

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D AS I NITIATIONSRITUAL ALS B ASIS DES K ALAM K ULTURFESTIVALS IM TOURISTISCHEN K ONTEXT Im zweiten Teil will ich nun einen Überblick über die Abfolge der Ereignisse beim vierten Kalam-Kulturfestival geben, das zwischen dem 18. und 20 September 2008 stattfand, und mich dabei besonders auf das Nasenpiercing-Ritual und die damit in Verbindung stehenden Aktivitäten konzentrieren (vgl. das an Häusern in Simbai angeschlagene Programm in Abb. 4). Abb. 4: Programm des Kalam-Kulturfestivals 2008

Foto: Joachim Görlich

Die während des Kulturfestivals durchgeführte Initiation fand in und um ein Ritualhaus herum statt, das vom Kalam-Gästehaus aus innerhalb weniger Minuten erreicht werden konnte. In der Mitte des Hauses befand sich der eigentliche Ritualraum, zu dem Frauen und Kinder keinen Zutritt haben. In den Nebenräumen begannen kurz vor der Abenddämmerung des 16. Septembers 2008 die Initiationsfeierlichkeiten mit einem gemeinsamen

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Mahl von Männern, Frauen und Kindern. Sobald es dunkel geworden war, tanzte eine Gruppe von jüngeren Männern um das Ritualhaus herum. Im Anschluss daran begleitete diese Gruppe zusammen mit mehreren älteren Männern die drei etwa zehnjährigen und ruhig wirkenden Initianden in den Ritualraum. Nach dem Entfachen eines Feuers begannen die Ritualgesänge, welche die ganze Nacht andauerten. Wie vorhin erwähnt, mussten sich die Initianden im traditionellen Kontext sehr nahe an großen Feuern im Ritualhaus aufhalten, so dass es häufig zu Verbrennungen kam. Diese Erfahrungsintensivität ist heute deutlich reduziert, da sich die Initianden auch weit weg vom Feuer aufhalten dürfen. Die Männer schieben die Stämme und Äste im Feuer hin und her, und allein durch den so erzeugten Funkenflug wird die Kraft des Feuers auf die Initianden übertragen. Abgesehen vom Nasenpiercing gibt es in der Initiation keine physischen Gewaltanwendungen mehr. In den Liedertexten spiegeln sich ebenfalls deutliche Veränderungen wieder: Traditionelle Themen, wie der Erfolg bei der Gartenarbeit und bei Jagdaktivitäten oder das Empfangen von wertvollen Muschelschalen im Rahmen einer umfangreichen Brautgabe, werden immer mehr durch das Thema »Geld« und seine Beschaffungsmöglichkeiten ersetzt. Die Vorbereitungen für den geheimsten Teil der Initiation, nämlich das Durchbohren der Nasenscheidewand der Initianden, begannen nach Mitternacht. Mit einem gemeinsamen Mahl im Ritualraum endete die erste nächtliche Sitzung. Tagsüber hielten sich dann nur die Initianden zusammen mit einigen etwas älteren Begleitern im Ritualraum auf. Im Laufe dieses ersten Initiations-Tages landeten auch die ersten Touristen in Simbai und wurden von einer Gruppe von traditionell gekleideten Tänzern und Sängern empfangen. In der zweiten Nacht bestanden die rituellen Aktivitäten vor allem aus einem Wechselgesang zwischen einerseits den Männern und Initianden innerhalb des Initiationshauses und andererseits den Frauen außerhalb des Ritualhauses. Die Frauen in traditioneller Ritualbekleidung tanzten um das Haus herum und brachten ihre Sorge darüber zum Ausdruck, dass ihre Jungen nicht mehr bei ihnen sein würden. Am nächsten Morgen fanden vor dem Ritualhaus Ereignisse statt, deren Besuch den Touristen vom Sprecher der Organisatoren besonders empfohlen worden war. Die Initianden mit ihrem zeremoniellen Kopfschmuck verließen das Ritualhaus zum ersten Mal, um an der Schlachtung von mehreren Schweinen teilzunehmen. Danach kehrten die Initianden wieder in das

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Ritualhaus zurück. Noch vor einigen Jahren durften zu diesem Zeitpunkt nur diejenigen Initianden das Haus verlassen, die an der Initiation zum zweiten Mal teilgenommen hatten. Sie wurden damit von den zahlreichen Nahrungstabus befreit, die auf diejenigen Initianden zukamen, die zum ersten Mal partizipierten. Heutzutage können jedoch alle Initianden das Haus zur Schweineschlachtung verlassen, da aufgrund neuer NahrungsKonzeptionen und etwaiger Schulbesuchsverpflichtungen8 die verschiedenen Nahrungstabus nicht mehr strikt eingehalten werden. Die wichtigsten Aktivitäten in der dritten Nacht bestanden im zeremoniellen Ankleiden der Initianden. Am Morgen verließen sie gemeinsam mit ihren ebenfalls festlich geschmückten Begleitern das Ritualhaus. Abb. 5: Initianden verlassen mit ihren Begleitern das Initiationshaus

Foto: Joachim Görlich

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In Simbai gibt es neben der Gemeindeschule auch eine Berufsschule, die von der anglikanischen Kirche unterstützt wird. Schulteilnahme ist freiwillig. Seit 2010 muss bis zur 3. Klasse der Grundschule im Prinzip kein Schulgeld mehr gezahlt werden.

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Einige Stunden später wurde vor dem Ritualhaus die Brautgabe ausgebreitet und verteilt. Dabei wird den Touristen das »Brautpreis«-System geschildert. Die traditionell verwendeten Muschel- und Schneckenschalen (vgl. Abb. 3) werden heute in hohem Maß durch Papiergeld ersetzt. Die Banknoten werden, wie auf dem Bild zu erkennen, ähnlich wie die Molluskenschalen (die auch auf manchen der Banknoten abgebildet sind) am Boden aufgereiht und dabei an Bambusstäben befestigt. Nach wie vor stellt Schweinefleisch einen essentiellen Bestand der Brautgabe dar. Abb. 6: Touristen erhalten Erörterung des »Brautpreis«-Systems kurz vor der Verteilung der am Boden ausgebreiteten Brautgaben

Foto: Joachim Görlich

In der darauf folgenden Nacht wurde dann das Tanzfest smy abgehalten, zu dem singsing-Gruppen aus Simbai und benachbarten Ortschaften kamen, um in traditionellem Festschmuck die ganze Nacht über zu tanzen und zu singen. Während im nicht-touristischen Kontext die Tänzer häufig immer noch auf der Basis des Reziprozitäts-Prinzips an dem Tanzfest teilnehmen und dafür Schweinefleisch erhalten, werden sie beim Kalam-Kulturfestival weitgehend mit Geldzahlungen dafür entlohnt. Mehrere hundert Menschen aus dem Simbai-Tal und den angrenzenden Gebieten besuchten den spektakulären Höhepunkt der Initiation. Auf einer etwas abgelegenen Stelle des Ritualgeländes war von jüngeren Leuten eine Lautsprecheranlage installiert worden, um dort auch zu den Klängen moderner Popmusik tanzen zu können.

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G ESCHICHTE

DES

K ALAM -K ULTURFESTIVALS

Nach dieser Skizzierung der Hauptereignisse des Festivals soll nun kurz auf seine historische Entwicklung eingegangen werden, die eng mit der Gründung des »Kalam Guesthouse« verknüpft ist. Sowohl bei der Etablierung des Gästehauses als auch bei der Durchführung der Festivals spielen die Aktivitäten einer anglikanischen fellowship group9 eine tragende Rolle. Fellowship-Gruppen sind in der anglikanischen Kirche weit verbreitet. Gemeindemitglieder finden sich darin zusammen, um soziale Aktivitäten zu pflegen, die von der Besprechung von Kindererziehungsfragen bis zum gemeinsamen Bibelstudium reichen. Die Fellowship-Gruppe in Simbai wurde zum Zweck des gemeinsamen Gebets begründet – weshalb sie sich auch als devotional fellowship group10 bezeichnet – und wird von einem Mann geleitet, der mit der anglikanischen Kirche stark verbunden war und gleichzeitig auch eine politische Führungsfigur in Simbai darstellt. Unter seiner Regie baute sich die Fellowship-Gruppe 2003 ein großes Buschhaus, dessen Funktion zunächst unbestimmt blieb. Drei Jahre vorher war in einem anderen Teil des Tals das »Simbai Guesthouse« eröffnet worden. Dieses von einer einzelnen Person und seiner Familie geführte Gästehaus war mit Mitteln des Community Development Schemes der Provinzregierung errichtet worden und war in erster Linie gedacht für die Beherbergung von »public servants«, die regelmäßig aus der Provinzhauptstadt nach Simbai kommen. Deshalb kam jemand in der Fellowship-Gruppe auf die Idee, auch in dem neu erbauten Buschhaus eine Art Hotel einzurichten, das allerdings stärker gemeinde- bzw. fellowship-orientiert sein sollte. Da niemand aus der Fellowship-Gruppe sich das Management eines Hotels

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Über eine anglikanische youth fellowship group bei den Maisin in der Oro Provinz berichtet John Barker (2003). Auch die von Barker genannten Hauptziele dieser Gruppe, nämlich Heilen und Überwindung von Zauberei, spielen in Simbai eine Rolle.

10 Aufgrund der besonderen Betonung des »freien« Gebets kann die devotional fellowship group auch als charismatische oder revivalistische Bewegung gesehen werden. Das revivalistische Christentum geht aus fundamentalistischen und pfingstlerischen Kirchen hervor. Seit den sechziger Jahren haben sich charismatische Bewegungen auch vermehrt in den protestantischen Hauptkirchen und der römisch-katholischen Kirche gebildet.

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zutraute, fanden sich drei andere Kalam, die durch ihre Mitarbeit in westlich geprägten Institutionen sowohl Erfahrung mit Administrationsaufgaben als auch Erfahrung im Umgang mit Fremden gewonnen hatten, so etwa durch ihre Mitarbeit in der Highschool im Distrikt-Zentrum in Aiome (vgl. Abb. 1: Karte), durch ausbildungsbedingte Australienaufenthalte oder durch Kundenbetreuung einer Missions-Fluggesellschaft. Für das Management des Gästehauses konnten sie auch auf die Erfahrung anderer Personen zurückgreifen, so etwa auf einen Bruder eines der drei Männer, der schon vor längerer Zeit Simbai verlassen hatte und als Manager in bekannten Hotels in Papua-Neuguinea arbeitete, oder auf drei britische Lehrer, die an der Aiome-Highschool beschäftigt waren, darunter ein Ehepaar, das selbst ein Gästehaus in England besitzt. Um Anregungen zu erhalten wurden in der Provinzhauptstadt auch Hotels besucht, die das traditionelle Moment in Bezug auf Wohn- und Designaspekte stärker betonen und die Kunsthandwerksprodukte ausstellen. Im Anschluss an diese Vorbereitungsaktivitäten wurde dann im Jahr 200411 das Gästehaus mit einer Reihe von Festivitäten inauguriert. Als Hauptzielgruppe wurden Touristen aus Übersee anvisiert. Staatliche Fördergelder wurden für das Projekt nicht gewährt, aber es fanden eine Reihe von Gesprächen mit Tourismus-Fachleuten aus der Provinzadministration und aus dem Privatsektor statt, um über Wege nachzudenken, wie Touristen für das Gästehaus gewonnen werden können. Eine Idee war, TrekkingRouten zu entwickeln, was in den letzten Jahren kontinuierlich verwirklicht worden ist. Eine andere Idee war die Aufführung einer Kulturshow auf der Grundlage des traditionellen Initiationsrituals der Kalam, deren Realisierung im Zentrum dieses Beitrags steht. Ein aus zehn Personen bestehendes Komitee wurde für die Vorbereitung des Festivals gegründet. 2005 fand dann das erste Kulturfestival der Kalam statt, zu dem zwar viele Tanzgruppen aus der ganzen Umgebung erschienen, aber nicht mehr als eine Handvoll Touristen kamen. Deshalb wurden zum zweiten Festival im Jahr 2006 auch Medienvertreter eingeladen, um mittels Fernsehen, Tageszeitungen und Internet mehr Aufmerksamkeit für das Festival zu erzielen. Im darauf folgenden Jahr 2007 fand dann allerdings nur ein sehr stark reduziertes Festival statt, weil es im Rahmen des Wahlkampfes für die nationalen Parlamentswahlen auch zu Kritik am Kulturfestival kam, insbesondere zu

11 Von einigen Informanten wurde als Jahr der Inauguration auch 2003 angegeben.

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Kommodifizierungs- und Selbstbereicherungs-Vorwürfen gegen eine einzelne Lokalgruppe. In den darauf folgenden Jahren 2008 bis 2012 war die Organisation des Festivals wieder umfangreicher, und es nahmen durchschnittlich etwa 20 Touristen teil. Alle Besucher des Festivals müssen Eintrittsgeld bezahlen, ausländische Touristen ein Vielfaches mehr als einheimische Besucher. Trotz dieses Kommodifizierungs-Moments wird vom Organisations-Komitee betont, dass das Festival keine profitorientierte Veranstaltung darstellt. Die gesamten Einnahmen werden vom Komitee an Personen, die in die Organisation und Durchführung des Festivals eingebunden sind, umverteilt. Dabei erhält der »Vater der Initiation«, d.h. die Person, die die Initiation für seine Kinder und Neffen durchführt (Melanesisches Pidgin: papa bilong singsing) den Hauptanteil; aber neben seiner Lokalgruppe sind zahlreiche andere Lokalgruppen aus der Nachbarschaft ebenfalls an dem Festival beteiligt, so dass eine breitere Streuung der Einnahmen erfolgen kann. Das Organisations-Komitee selbst erzielt keinen Gewinn. Von Komitee-Mitgliedern wurde auch öfter darauf hingewiesen, dass neben der »Community«-Orientierung für die Organisatoren des KalamFestivals und des Kalam-Gästehauses die Idee des »Cultural Heritage« – im Sinne eines bewussten und erhaltenden Umgangs mit den Traditionen der Vorfahren – eine wichtige Rolle spielen würde. Deshalb wurde seit der Eröffnung des Gästehauses immer auch eine Sammlung kultureller Artefakte gezeigt. Zu Beginn fand diese Ausstellung nur innerhalb eines Raumes im Gästehaus statt. Später wurde für die Sammlung ein kleines Museumsgebäude in der unmittelbaren Nachbarschaft des Gästehauses errichtet. Im Jahr 2008 wurde dann im Zusammenhang mit dem Kulturfestival ein zweistöckiges Museumsgebäude eröffnet, in dem zeitweilig auch der Leiter der Fellowship-Gruppe wohnte. Zur Inauguration des Museums war auch ein ehemaliger australischer »Patrol Officer« eingeladen worden, der dem Museum eine Sammlung von Fotos schenkte, die er Anfang der sechziger Jahre in seiner Funktion als Kolonialadministrator aufgenommen hatte. Zwischen der Kulturerbe-Funktion des Museums und des Festivals wird ein direkter Bezug hergestellt. So wies der Vorstand des Festival-Komitees in seiner Eröffnungsansprache darauf hin, dass auf die gleiche Weise wie das Museum einen Beitrag zum Erhalt des kulturellen Erbes der Kalam liefere, auch die Aufführung des Initiationsrituals im Rahmen der Kulturshow einen Beitrag zum Erhalt dieser traditionellen Institution liefern könne, da

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es insbesondere jüngeren Leuten aufgrund der Verdienstmöglichkeiten einen Anreiz zur Teilnahme bieten würde. Daher würde die Initiation in Simbai auch noch regelmäßig praktiziert, während andere Lokalgruppen sie inzwischen immer stärker vernachlässigten. Der historische Abriss des Kulturfestivals soll mit einer kurzen Darstellung der wichtigen Rolle abgeschlossen werden, welche die FellowshipGruppe darin spielt. Im Anschluss an den oben erwähnten Bau des Gästehauses wurde und wird auch das Festival zu einem großen Teil von Mitgliedern der fellowship-Gruppe durchgeführt. Sie beteiligen sich an Tanzgruppen, am Sicherheitspersonal oder am Bau des Ritualhauses. Dies geschieht einerseits in Form von Gemeindearbeit und andererseits in Form von Lohnarbeit. Die von der Kolonialverwaltung eingeführte Gemeindearbeit wird von Verwandtschafts- und Fellowship-Gruppen geleistet, um die Bereitstellung kollektiver Güter wie Schulen oder Gesundheitszentren zu ermöglichen. Diese Form von Arbeit gilt als development-fördernde Tätigkeit für die Gemeinde und ist deshalb unbezahlt. Da die FellowshipMitglieder sowohl Festival wie auch Gästehaus als ihr zentrales Entwicklungsprojekt betrachten, beteiligen sie sich durch solche unbezahlte Arbeit daran. Daneben werden die beim Kulturfestival durchgeführten Arbeiten, insbesondere die Tanzaktivitäten, in relativ großem Umfang auch mit Hilfe der eingenommenen Eintrittsgelder entlohnt. Da diese bezahlten Aktivitäten zu einem großen Teil von fellowship-Mitgliedern durchgeführt werden, erhalten sie auch einen überproportionalen Anteil der Einnahmen. Aus dieser Privilegierung der fellowship-Mitglieder resultiert auch eine Hauptkritik: Obwohl die Kulturshow als »Kalam-Festival« bezeichnet werde, sich also auf alle Kalam bezöge, profitiere finanziell nur ein relativ kleiner Teil der Kalam davon (siehe auch nächster Teil). Neben der aktiven Beteiligung am Festival wird von der FellowshipGruppe in den wöchentlichen Gebetssitzungen das Thema »Gästehaus und Festival« regelmäßig besprochen. Eines der der Hauptstichworte ist dabei development, womit anfangs sehr hohe finanzielle Erwartungen verknüpft waren die von den Organisatoren des Festivals in den letzten Jahren aber stark gedämpft wurden. Ursprünglich nur als abendlicher Gebetskreis intendiert, weiteten sich die Sitzungen der fellowship-Gruppe parallel zu dem zunehmenden Fortschreiten des Entwicklungs-Projekts »Kulturfestival« zu nächtlichen Séancen aus. Aus daraus resultierenden verschiedenen Gründen – unter anderem kamen anglikanische Lehrer der Gemeindeschule am

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Morgen übermüdet zum Unterricht – begann sich die anglikanische Kirchenführung in Simbai, der ausschließlich Kalam und Kobon angehören, für diese Séancen zu interessieren. Nach ihren Eruierungen wurden eine Reihe von aus anglikanischer Sicht unakzeptablen Kritikpunkten zum Ausdruck gebracht, so z.B. dass Teilnehmer des Gebetskreises glauben würden, Jesus wäre in Simbai geboren und sei Kalam, oder dass die Gebetssitzungen stark emotionale Komponenten hätten bzw. dass das Thema Sexualität eine Rolle gespielt habe. Diese Kritik der Kirchenleitung kulminierte schließlich in dem öffentlichen Vorwurf des »Cargo-Kults«, einer gesetzlich verbotenen Aktivität in Papua-Neuguinea. Als Gegenreaktion nahmen dann eine Reihe von Fellowship-Mitgliedern nicht mehr am Gottesdienst der anglikanischen Kirche teil und sammelten keine Spenden mehr für die Kirche, was den Streit weiter eskalieren ließ. Noch beim ersten Festival war ein hoher Betrag gesammelt und der Kirche übergeben worden. Schließlich verfasste die Fellowship-Gruppe einen offenen Brief an die Kirchenführung, in dem sie ihre spirituellen Aktivitäten verteidigte und mit dem Beitrag in Verbindung brachte, den sie zur Entwicklung der Gemeinde im Allgemeinen leisten würde. Damit konnte eine teilweise Zurücknahme der Anschuldigungen durch die Kirchenleitung erreicht werden. Die Vorwürfe, welche die Kirchenleitung gegenüber der FellowshipGruppe erhoben hat, finden sich auch in den Beschreibungen anderer als »Cargo-Kulte«12 bezeichneten politisch-religiösen Bewegungen in Melanesien. Die Reflexionen über Gästehaus und Festival durch die FellowshipGruppe mündete in eine Auseinandersetzung mit der anglikanischen Kirche, weil sie sich stark an traditionell melanesischen Interpretationsmustern orientierte. Wenn die Teilnehmer der Fellowship-Gruppe in charismati-

12 Die analytische Präzision des Begriffs ist in der Ethnologie heute umstritten, denn wie Lindstrom (2000: 57f) zusammenfassend feststellt: »People involved in such movements always aspired to many things beyond simple material goods. And the organization of these movements were ill-described by the word ›cult‹. Moreover, people within the Pacific and beyond also quickly adopted the term as a form of political abuse.« Vgl. die Beiträge in Jebens (2004), die einen guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der kritischen Diskussion des Begriffs geben.

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schen Gebetssitzungen13 Jesus als Kalam sehen, mit dem sie in einer Abstammungsbeziehung stehen, resultiert das aus einer im vorkolonialen Melanesien weit verbreiteten Vorstellung, dass Wissen im Kern nicht individuell geschaffen, sondern durch die Vorfahren offenbart wird (Lindstrom 2000: 60). Jesus wird also als Vorfahr gedeutet, um durch ihn Wissen zu erhalten. Wenn wie in den oben dargestellten Initiationsritualen geglaubt wird, dass die Kraft der Ahnen das Wachstum und die Fertilität von Menschen, Gärten und Tieren ermöglicht, dann macht es Sinn sich an Jesus als Ahnen zu wenden, um auch seine Unterstützung für den Erhalt von modernem Geld und modernem Cargo zu bekommen. Ebenso kann die Thematisierung von Sexualität und Reproduktion als das zentrale Bild für kreative Prozesse in der melanesischen Gesellschaft verstanden werden. Aus diesen eigenen Reproduktions-Vorstellungen heraus die monetäre Produktion der kapitalistischen Warenökonomie zu verstehen, ist ein wichtiges Anliegen in melanesischen »Cargo-Kulten«.14 Darüber hinaus können durch die Thematisierung von Geschlechterdifferenz die Ungleichheiten in der Beziehung von Moderne und Tradition metaphorisch erfasst werden (Lattas 1998). Die Kirchenleitung hält diesen melanesisch-traditionell geprägten Argumenten stärker westlich orientierte Überlegungen entgegen. Das geschieht im Rahmen einer Politik der Repräsentation – wer hat die Macht, seine Interpretation durchzusetzen? Diese immer präsente Machtdimension des Diskurses soll hier nicht weiter vertieft werden, stattdessen soll gezeigt werden, wie in der diskursiven und praktischen Auseinandersetzung mit dem Kulturfestival und dem Gästehaus Transformationen durch Aneignung bewirkt werden.

13 In anderen großen Kirchen Papua-Neuguineas gibt es ähnliche charismatische Bewegungen. Für die katholische Kirche siehe z.B. Telban (2009). 14 Nach Leach (2005: 300) steht – im Anschluss an Wagner (1981) – dieses interpretative Bemühen im Mittelpunkt des melanesischen »Cargo-Kults«: »What they try and replicate are the form of relationships which constitute white people themselves. One mistake in the analysis of cargo cults is to imagine that ‚cargo’ itself is the desired outcome. The practices are better represented as attempts to decompose and analyse the relations between white people in which cargo (money) figures so strongly.«

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T RANSFORMATION UND A NEIGNUNG

DURCH

K OMMODIFIZIERUNG

Schon in den ersten ethnologischen Analysen, die sich mit dem Phänomen Tourismus in den siebziger Jahren auseinander zu setzen begonnen haben, wird dem Moment der Kommodifizierung ein zentraler Stellenwert beigemessen. In diesen frühen Untersuchungen wird Kommodifizierung von Kultur als ein Prozess gedeutet, »by which things come to be evaluated primarily in terms of their exchange value« (Stronza 2001: 270). Im Kontext des Markttausches werden die kulturellen Objekte zu Waren, deren Wert durch ihren Preis bestimmt ist. Die Frage, die dabei in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses zu stehen kam, war, ob ein kulturelles Objekt seine symbolische Bedeutung verliert, sobald es zur Ware wird (z.B. Greenwood 1977, zusammenfassend Stronza 2001). Ein Grund dafür wäre, dass diejenigen Akteure, die das kulturelle zum ökonomischen Objekt machen, vorrangig an einem hohen Preis orientiert sind und nicht mehr am kulturellen Wert. Mit dieser Argumentation einhergehend wurde von Ethnologen festgestellt, dass die Kommodifizierung von Kultur für die touristische Konsumption dazu führe, dass die sich daraus ergebenden kulturellen Produkte und Praktiken inauthentisch werden (z.B. MacCannell 1973, zusammenfassend Kroshus Medina 2003). Diesen frühen Untersuchungen des Kommodifizierungsprozesses liegen also Annahmen über Kulturen als vereinheitlichenden Systemen zugrunde, wobei die Bedeutung und Authentizität eines kulturellen Elements dieses Systems (wie ein kulturelles Objekt oder eine kulturelle Tradition) als diesem Element inhärent und fixiert in der Zeit gesehen werden.15 Vermeidet man in der Analyse solche essentialisierenden Annahmen einer objektivistischen Kulturtheorie, ist es natürlich weiterhin sinnvoll zu fragen, wie sich eine kulturelle Produktion für Geld von einer nicht kommodifizierten kulturellen Performance unterscheidet und welche Bedeutungsveränderungen durch die Kommodifizierung bewirkt werden.16

15 Eine Zusammenfassung der konstruktivistischen Kritik an diesen objektivistischen Kulturtheorien findet sich z.B. bei Kroshus Medina (2003: 353-357) oder Martin (2008a: 65). 16 Dabei können auch binäre Unterscheidungen zwischen »authentischer Tradition« und »moderner Kommodifizierung« eine Rolle spielen, wenn sie von den

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Dabei unterliegt in Bezug auf das Ritual als solchem ein Aspekt besonders der Veränderung, nämlich der des Geheimnisses, welches die gesamte Initiation durchdringt. Die Bedeutung des Geheimnisses nimmt beim Kulturfestival offensichtlich ab, z.B. deshalb, weil Touristen in das Innere des Initiationshauses möchten, um das Geschehen zu beobachten. Dies hat dazu geführt, dass seitens der Organisatoren den Touristen zwei Restriktionen zu vermitteln versucht werden: Erstens, wenn zu bestimmten Zeiten besonders geheime Aktivitäten wie das Nasenpiercing praktiziert werden, dürfen sich keine Touristen im Ritualraum aufhalten. Zweitens, Frauen ist grundsätzlich das Betreten des Ritualraums verboten. Insbesondere die zweite Regel wurde schon öfter außer Kraft gesetzt, um den touristischen Interessen am Ritualgeschehen entgegenzukommen. Allgemein lässt sich feststellen, dass aus Gründen der besseren Vermarktung die Teilnehmer beim Festival so zu erscheinen versuchen, wie es dem Bild entspricht, welches sich ihrer Meinung nach die Touristen von einem indigenen Festival machen. Die Organisatoren achten deshalb z.B. auch darauf, dass die Initiationsteilnehmer ausschließlich in ihrer traditionellen Kleidung zur Initiation erscheinen. Allerdings fordern bestimmte Verhaltensweisen der Touristen auch zu einer Neuverhandlung des Verkaufswertes des angebotenen kulturellen Ereignisses auf. So gab es im Organisationskomitee Überlegungen, für umfangreiches Fotografieren Extrakompensationen zu verlangen, und zwar nicht so sehr deshalb, weil man sich dadurch gestört fühlt, als vielmehr deshalb, weil man befürchtet, dass dadurch von den Touristen Kultur appropriiert und dann selbst zur Ware gemacht und verkauft werden könnte, ohne dass die ursprünglichen Kulturproduzenten an diesen Erlösen angemessen beteilig werden würden. Neben diesen Veränderungen des Ritualgeschehens, die sich offensichtlich direkt durch seine Kommodifizierung ergeben, lassen sich noch eine Reihe anderer Transformationen feststellen, die nicht so eindeutig auf den Einfluss der Touristen zurückgeführt werden können, wie etwa die Reduzierung der körperlichen Intensiverfahrungen oder die Aufgabe von Nahrungstabus. Obwohl durch diese Veränderungen die Kraft und Wirksamkeit des Rituals vermindert scheint, bleibt die Teilnahme für die acht- bis vier-

Akteuren selbst getroffen werden, wie das z.B. Keir Martin (2008b) in seiner Analyse des Diskurses der Tolai über das Papua-Neuguinea Masken-Festival betont.

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zehnjährigen Jungen aufgrund der fordernden rituellen Praktiken weiterhin ein tief einprägsames Erlebnis. Dies führt auch weiterhin zu bestimmten erwünschten Transformationen bei den Initianden; so spielen die rituellen Praktiken weiterhin eine wichtige Rolle für den Statuswechsel vom Jungen zum Mann. Aber aufgrund des Einflusses der Moderne sind diese rituellen Transformationen nicht mehr die gleichen wie in der vorkolonialen Situation. Das vorkoloniale soziokosmologische System, in dem menschliche und nichtmenschliche Personen (wie Geistwesen, Tiere, Pflanzen, Gaben) insbesondere im rituellen Kontext relational miteinander verknüpft und verortet werden, wird heute durch den Einfluss des Staates (insbesondere der Schule), der Kirchen und anderer modernen Institutionen auf vielfältige Weise transformiert. Diese Transformationsprozesse werden durch die Touristen weiter fortgeführt. Damit verändert sich auch die performative Wirksamkeit des Initiationsrituals, ohne dass sie aber bisher grundlegend reduziert erscheint. Diese vielfältigen Einflüsse der Moderne auf das Ritualgeschehen können hier nicht weiterverfolgt werden. Was hingegen abschließend noch genauer analysiert werden soll, sind diejenigen Veränderungen, die mit der Transformation des Initiationsrituals in ein Kulturfestival einhergehen, aber nicht allein aus einer Kommodifizierungsperspektive erfasst werden können. Im Kern ist hier zwar das Kommodifizierungsmoment präsent, denn was zunächst nicht als verkaufbar galt, muss objektiviert als Ware zum Objekt des Verkaufs werden. Aber eine einschränkende Betrachtung auf eine so definierte Objektivation reicht nicht aus, um der Komplexität der Veränderungen gerecht zu werden. Denn die Objektivation des Initiationsrituals beinhaltet mehr als nur die Grundlage der Kommodifizierung, sie ist auch die Grundlage für die Reflektion über eine kulturelle Praxis.17

17 Um die phänomenologisch-reflexive Dimension mitzuerfassen spreche ich hier nicht von Objektivierung, sondern von Objektivation (siehe Berger/Luckmann 1966). Dies soll das Reflexionsmoment betonen, das erlaubt, über eine ökonomisch-materielle Betrachtung hinauszugehen. Ähnlich wie bei Thomas (1992: 228), der auch – die phänomenologische Dimension erwähnend, aber nicht vertiefend – die analytische Breite des Konzeptes der »kulturellen Objektivation« betont: »My use of the term […] is simply literal, in that I am interested in the rendering of culture as an entity that can be codified, appealed to, stolen, lost, conserved, or taught.«

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Objektivation in diesem erweiterten Sinn ist der Schlüssel zum Verständnis der Appropriation oder Aneignung (Ruiz-Ballesteros/HernándezRamírez 2010: 213), die wiederum kulturellem Wandel zugrunde liegt. Auch das Konzept der Aneignung hat eine stark ökonomische Dimension, wobei hier häufig die Beziehung zu den (anzueignenden) Objekten als illegitim hergestellt gesehen wird und als basierend auf Machtunterschieden zwischen Aneignern und Ausgenutzten. In den letzten Jahren ist dieser ökonomisch gefärbte Begriff durch Einbeziehung einer hermeneutischen Dimension modifiziert worden. Arnd Schneider (2012: 61) zum Beispiel hat in Auseinandersetzung mit Kunsttheorie und Kunstethnologie einen solchen hermeneutischen Appropriations-Ansatz entwickelt: »… rather than simple taking out of context and taking from the other, this approach stresses the implicit potential of learning, and, in an hermeneutic sense, of understanding the other.«18 Begreift man das Konzept der Appropriation in einem solchen hermeneutisch erweiterten Sinn, dann kann Aneignung »have a more neutral meaning, in terms of a more conscious and intentional relationship« zu den »Objekten« – wie Ruiz-Ballesteros/Hernández-Ramírez (2010: 213) bei ihrer Analyse des turismo comunitario in Ecuador festgestellt haben, um dann weiter zu präzisieren: »It is impossible to understand the meaning of appropriation without dealing with the process of objectification that accompanies it. Objectification turns experience and the cultural and environmental elements naturalized by daily practice into objects for reflection and, potentially, into resources for the tourist market.« Aneignung in diesem Sinn ist ein komplexes Konzept, das sich auf die im Zusammenhang mit der Konstituierung eines Objektes für den Markt (Kommodifizierung) stehende mögliche Übernahme von neuem Wissen, neuen Rechten und neuen kulturellen Identitäten bezieht (vgl. Ruiz-Ballesteros/Hernández-Ramírez 2010: 212-216). Die Kalam besitzen Kenntnisse über das Wirken des modernen Marktes und der Rolle, welche Waren und Geld darin spielen (z.B. in Form von Dorfläden, Wochenmärkten oder Cash Crop-Verkäufen). Was es aber bedeutet eine kulturelle Praxis in Form eine Initiationsrituals zu kommodifizieren, macht neue Reflexionsbemühungen

18 Eine ähnliche hermeneutische Position liegt dem Appropriations-Ansatz der Politikwissenschaftlerin Sybille De La Rosa (2012) zugrunde, den sie im Anschluss an die postkoloniale Theorie von Homi Bhabha (1994) entwickelt hat.

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notwendig. Hier muss z.B. geklärt werden, wie die Koordination zwischen den rituellen Aktivitäten im Dorf und dem globalisierten Touristenmarkt hergestellt werden kann. Neben der Aneignung von einem neuen Zeitkonzept ist dabei vor allem die Aneignung moderner Praktiken der Wissensvermittlung notwendig. Die Spannbreite der Wissenskoordination wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass für die Transmission von Informationen von den Festival-Organisatoren inzwischen auch solche technischen Mittel wie Mobiltelefon, Satellitentelefon und Computer mit Internetzugang eingesetzt werden. Weitere Reflexionsbemühungen beziehen sich darauf, wie man mit Fremden umgehen soll, die von außerhalb Papua-Neuguineas kommen. Deshalb wurde auf lokaler Ebene damit begonnen, aus der Touristenperspektive heraus zu denken, das Authentizitätsverständnis der Touristen zu reflektieren und zusätzliche »traditionelle« Praktiken in die FestivalPerformance einzubeziehen (siehe unten). Es werden also aus eigener Initiative heraus kulturelle Wertigkeiten neu definiert, objektiviert und angeeignet, bevor sie am Markt als Waren angeboten werden. Auch bei den charismatischen Sitzungen der Fellowship-Gruppe nimmt das Bemühen um Wissen einen zentralen Stellenwert ein (siehe auch verallgemeinernd Wagner 1981: 31-34, Leach 2005: 298-300): Wie sollen das Festival und das Gästehaus organisiert werden, um Geld, das offensichtlich in der kapitalistischen Weltökonomie eine so zentrale Rolle spielt, durch den Besuch von Touristen auch in die Peripherie Papua-Neuguineas zu transferieren? Die fellowship-Gruppe bewegt sich deshalb an der Schnittstelle von »Entwicklungsprojekt« und »Cargo-Kult«. Wie eng solche Verbindungen in Papua-Neuguinea sein können, beschreibt Nancy McDowell (1988: 128): »Seemingly diverse behaviors, one clearly labeled cargo cult and probably receiving administrative disapproval, the other easily labeled economic development activities and probably receiving administrative support, really spring from the same assumptions, beliefs, and aspirations.«

Wie stark der development-Diskurs in der Fellowship-Gruppe dabei durch die westliche Moderne geprägt sein kann, wird klar durch den Hinweis eines Mitglieds, das sich mit Entwicklungspolitik auseinandergesetzt hat und erklärt, dass es der Fellowship-Gruppe nicht um development an sich

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geht, sondern um die Bedingungen dieser Entwicklung. Zu diesen Bedingungen gehört vor allem auch die religiösen und kosmologischen Grundlagen für die solidarische Unterstützung des Entwicklungsprojekts zu schaffen. Es findet in den Worten von James Clifford hier also eine »Politik der Artikulation« statt: »Communities can and must reconfigure themselves, drawing selectively on remembered pasts« (2001: 479). Die Vielfalt neuer Bedeutungen, die beim Diskurs um das Festival angeeignet werden, sind in ihrer Gesamtheit also sehr unterschiedlich und können nicht nur als Ausdruck kultureller Kontinuität aufgefasst werden, sondern stellen auch Brüche dar mit dem kulturellen Kontext, in den sie einbezogen werden. Häufig wurden solche Brüche in Melanesien nur für gesamte Kulturen festgestellt (z.B. Robbins 2004), ohne die interne soziale Differenzierung zu berücksichtigen. Bei den Kalam gibt es aber Personen mit sehr unterschiedlicher Schulbildung und sehr unterschiedlichen Erfahrungshintergründen in Bezug auf das Leben in der Stadt oder in einem anderen Land bzw. allgemein im Umgang mit stark westlich geprägten Institutionen.19 Diese unterschiedlichen Wissenshintergründe gehen in die unterschiedlichen Diskurse ein – in stärker politisch-administrativ, wirtschaftlich wie auch religiös geprägten Bereichen –, in denen durch Aneignung eine unterschiedliche Verbindung von altem und neuem Wissen hergestellt wird. Ein grundlegendes Charakteristikum der diskursiven Objektivation des Initiationsrituals als elementarer Bestandteil des Kulturfestivals besteht darin, dass sie auf Eigeninitiative der Begründer und Organisatoren des Festivals abläuft. Wenn wie in vielen anderen Fällen die touristischen Objektivationen von Tourveranstaltern kontrolliert werden, kommt dies einer Appropriation durch den Markt gleich (Ruiz-Ballesteros/Hernández-Ramírez 2010: 213), was ein Gefühl des Ausgebeutetseins erzeugen kann, da das kulturelle Eigentum nicht selbst kontrolliert wird.20 Bei den Kalam dagegen existiert ein Bewusstsein dafür, dass über das auf dem touristischen Welt-

19 John Barker (2007: 147) ist einer der wenigen Autoren, der in Bezug auf Melanesien diesen Punkt erwähnt hat. Barker betont, dass aufgrund dieser Wissensdifferenzen unterschiedliche Transformationen auch unterschiedlich wahrgenommen werden. 20 Wie dies z.B. von Kirtsoglou/Theodossopoulos (2004) für die Garifuna auf Punta Gorda in Honduras beschrieben wird.

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markt angebotene kulturelle Ereignis Kontrolle ausgeübt werden kann. Schon bei der Organisation des ersten Festivals setzte man sich mit der Frage nach der Bestimmung der kulturellen Eigentumsrechte der Ware »Kulturfestival« auseinander, da sich dieses kulturelle Gut von anderen Waren insofern unterscheidet, als nicht direkte Besitzansprüche auf es geltend gemacht werden können. Darüber hinaus hat der Verkauf nicht eine Ablösung von dem verkauften Produkt zur Folge. Deshalb müssen Touristen auf den Weg zur Ware »Festival« gebracht werden (vgl. Schnepel, dieser Band). Um die sich dabei möglicherweise ergebenden beiderseitigen negativen Einflussnahmen zu verringern, werden Touristen außerhalb des Gästehausgeländes von Betreuern begleitet, die gleichzeitig auch Informationen über die konsumierten kulturellen Ereignisse geben können. Während also nach »außen« hin die Kontrolle über die kulturellen Eigentumsrechte klar definiert ist, gab und gibt es nach »innen« eine Reihe von Konflikten in Bezug auf die richtige Auslegung dieser Rechte. Es wurde den Organisatoren gegenüber der Vorwurf erhoben, dass sie die »Kultur« ausbeuten würden. Dagegen wurde eingewendet, dass dies gar nicht möglich sei, da die »Kultur«, die sie den Touristen gegenüber anbieten, gar nicht mitgenommen werden könne. Ein zweiter Vorwurf schloss sich an, dass nicht nur die fellowship-Gruppe, sondern alle Kalam an den erzielten Gewinnen beteiligt werden sollten, da es sich bei der Initiation um eine kulturelle Praxis handele, die allen Kalam gehöre. Diese Gemeinsamkeit würde ja auch durch den Namen »Kalam-Kulturfestival« zum Ausdruck gebracht. Diesem Vorwurf versuchen die Organisatoren zu begegnen, indem sie eine stärkere Streuung der Teilnehmer anvisieren. Trotz aller internen Konflikte hat sich bei den Kalam das Bewusstsein dafür entwickelt, die in Bezug auf den Tourismus stattfindenden Transformationen im Prinzip unter Kontrolle zu haben, den Rahmen für die kulturelle Partizipation der Touristen selbst festlegen und damit die Formbarkeit der Tradition selbst gestalten zu können. Ähnlich wie bei der Beschäftigung mit der Definition eines kulturelles Gutes und dem damit verbundenen Diskurs über rechtliche Fragen der Veräußerbarkeit, sind aus einer Aneignungsperspektive heraus auch Fragen der kulturellen Identität eng mit einem Moment des empowerment und der Stärkung der Position der Akteure verbunden (vgl. Cole 2007). Einige ethnologische Autoren haben in ihren Analysen von Wandlungsprozessen darauf hingewiesen, dass den Melanesiern häufig durch koloniale Instanzen wie der Mission die stigmati-

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sierende Erfahrung vermittelt worden sei, die eigene Kultur als etwas Demütigendes zu empfinden, woraus sich dann eine ablehnende Haltung gegenüber der eigenen Tradition ergeben hat (Robbins/Wardlow 2005). Beim Kulturfestival der Kalam wird die Tradition dagegen als ein Ausdruck der Stärke gesehen. Touristen kommen von weit her und sind bereit, Geld zu bezahlen, um zu erfahren, was die Vorfahren den heutigen Kalam vermittelt haben. Dies wird auch als Anerkennung betrachtet und dafür werden Störungen durch die Fremden zwar nicht immer gut gefunden, aber in Kauf genommen. Einige Organisatoren betonen deshalb den Erfolg des KalamKulturfestivals, obwohl es ökonomisch gesehen ohne die monetären Unterstützungsleistungen der Gästehausbetreiber nicht stattfinden könnte. Die Kommodifizierung des Rituals für den globalen Touristenmarkt bringt eine erhöhte Reflexionstätigkeit mit sich und damit ein Bewusstwerden des kulturellen Erbes. Es wird bewusst damit umgegangen, wie kulturelle Traditionen innovativ in bestehende Kontexte angeeignet und eingebunden werden können. Am Programm des Festivals (vgl. Abb. 4) als schriftlicher Objektivation dieser innovativen Tätigkeit lässt sich dies erkennen. Es wird ein Kulturbegriff eingeführt und eine Authentifizierung vorgenommen, d.h. eine qualitative Bewertung der Kalam-Kultur, indem die grundlegenden Kulturelemente der Initiation und des Festivals aufgelistet werden. In den letzten Jahren wurden noch eine Reihe weiterer traditioneller Praktiken als neue Bestandteile des Festivals eingeführt wie Feuermachen, Bogen-Schießen sowie Heilungszeremonien. Diese verstärkten Aktivitäten und Bemühungen um die Durchführung und Weiterentwicklung des Festivals haben eine Art von »Reanimierung«21 der Initiation und anderer Traditionen zur Folge. Wegen dieses aktiven und relativ selbstbestimmten Umgangs der Kalam mit ihrem Kulturerbe zur (Re-)Konstruktion ihrer kulturellen Identität scheint mir auch das Problem der »Museumifizierung« hier nicht gegeben zu sein. Auf dieses Problem hat z.B. MacCannell (1984: 388) hingewiesen: Aufgrund des touristischen Einflusses kann eine Situation entstehen, in der sich die Mitglieder einer ethnischen Gruppe zu stark als »living representatives of an authentic way of life« definieren. Dies kann dann dazu führen, dass die Gruppe nicht mehr in der Lage ist, angemessen mit transformie-

21 Wie es John und Jean Comaroff (2009: 20) in ihrer Analyse der Kommodifizierung ethnischer Identitäten ausdrücken.

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renden Einflüssen umzugehen, weil sie wie eingefroren in einem Bild von sich selbst verharrt, woraus sich wiederum die Marginalisierung dieser Gruppe ergeben kann. Bei den Kalam haben die im Zusammenhang mit dem Kulturfestival vorgenommenen Objektivationen von Tradition keine permanente Verfestigung zu Folge, weil sie immer wieder neu ausgehandelt, definiert und akzeptiert werden. Dabei wird auf die Vergangenheit zurückgegriffen, um die heutige Situation so zu gestalten, damit auch die Zukunft bewältigt werden kann oder wie es James Clifford (2001: 475) im Anlehnung an Roy Wagner (1981) und Lilikala Kame’eleihiwa (1992) ausgedrückt hat: »… the ›past‹ in indigenous epistemologies is where one looks for the ›future‹.«

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Die Tourist Bubble des San-Projekts »Treesleeper Camp« in Tsintsabis, Namibia A NNA H ÜNCKE

Entwicklungsorganisationen und ländliche Bevölkerung in afrikanischen Ländern verbinden Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Gewinn oft mit der Marktnische aus kulturellem, community-basiertem1 Tourismus, der zu einem wichtigen Faktor im Afrika-Tourismus geworden ist. »Africa is for many tourists […] a culturally pristine and authentic continent, where different cultures can be met in a direct way. Though not so much the continent of ›High Culture‹ with impressive buildings and ruins and well-known historical events, Africa is the continent of local communities with authentic cultures. A few destinations […] are specifically ethnic oriented, i.e. to those ethnic cultures rendered famous for whatever reason, anthropology included.« (Van Beek 2007: 163)

Für Namibia bedeutet dies, dass das Land, das vor allem wegen seiner Wildtiere und seiner weiten Landschaften bekannt ist, Touristen auch wegen der San anzieht. Touristen erwarten, dass Präsentationen zum Leben der San authentisch sind, oder wollen authentische Erfahrungen machen.

1

Entwicklungsorganisationen verwenden den Ausdruck community-based für Projekte, die idealerweise von den Mitgliedern einer lokalen Gemeinde initiiert, geplant und ihren Bedürfnissen entsprechend durchgeführt werden. Die Projekte sollen im Gemeindebesitz sein, und der ökonomische Gewinn soll der Gemeinde zufließen (Giampiccoli/Nauright 2010: 52-53).

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Doch was sie als authentisch ansehen, ist ein Konstrukt. Denn Authentizität bezieht sich auf die Erwartungen des Beobachters, und das touristische Etikett »authentisch« basiert auf dem Bild, das die Touristen von den San haben und das oft im Kontrast zu deren Selbstbild steht (vgl. Garland/Gordon 1999, Olsen 2008: 163, Bendix 1997: 4). Im heutigen kulturellen Tourismus, d.h. auch im San-Tourismus, geht es nicht nur um die Nutzung von Menschen als kulturelle Objekte, sondern auch um das Erschaffen und Erleben von Authentizität (Garland/Gordon, 1999: 271). Diese Erfahrung, und nicht beziehungsweise nicht allein das Tourismusprodukt, steht im Vordergrund. Zwar kann man Authentizität keinen festen Inhalt zuschreiben, aber die Vorstellung, dass die San fernab der Zivilisation im Einklang mit der Natur leben, hat ein Bild von den San geprägt, das oft als authentisch angesehen wird. Jedoch sind manche der Touristen, die eine authentische Erfahrung im San-Tourismus suchen, zugleich bereit zu akzeptieren, dass das Tourismusprodukt selbst nicht unbedingt authentisch sein muss. Sie gehen davon aus, dass ihre Gastgeber als moderne Menschen ihren Besuchern, den Touristen, ähnlich (geworden) sind, weil sich ihre Lebensumstände geändert haben, dass sie aber gleichzeitig »die Anderen« (geblieben) sind, da sie ihre kulturellen Traditionen bewahrt haben. Garland und Gordon befürchten allerdings, dass durch die Begegnung mit San im kulturellen Tourismus leicht das Bild von gleichzeitig primitiven und modernen Menschen, von Menschen auf halbem Weg in einem Entwicklungsprozess vermittelt wird (Garland/Gordon 1999: 280283). Touristische Attraktionen werden in der Semiologie des Tourismus als Zeichen gesehen, denen Touristen eine Bedeutung zuschreiben. (MacCannell 1976: 109-133, Urry 1990: 3, 2002: 13). Nach diesem Ansatz reduzieren Touristen im kulturellen Tourismus lokale Kulturen zu Sehenswürdigkeiten, zu ihrem »object of gaze« (Urry 1990). Aber auch der Forscher, der den aktiven, authentische Erfahrungen suchenden Touristen ins Zentrum seiner Beobachtung rückt, übersieht leicht, dass es sich bei der lokalen Bevölkerung um Akteure handelt, die nicht passiv bleiben (vgl. MacCannell 1976: 117-121). Somit berücksichtigt eine solche Perspektive nicht die Sicht eines community-basierten Tourismusbetreibers und steht im Gegensatz zu meiner Herangehensweise an die Begegnung von Touristen und Gastgebern. Ich betrachte die lokale Bevölkerung als aktiv Beteiligte innerhalb der Tourist Bubble (Van Beek 2003, 2007, Jaakson 2004, Judd/ Fain-

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stein 1999) bzw. Environmental Bubble (Crick 1989: 327). Die Tourist Bubble wird definiert als Gesamtheit der Arrangements, in die Touristen eingeschlossen sind und die ihnen den Blick nach außen erlauben, ohne dass sie psychischen oder körperlichen Gefahren ausgesetzt sind (Chabal/ Engel/de Haan 2007: 6). Um erfolgreich zu sein, gestalten Tourismusindustrie und lokale Akteure diese Bubble entsprechend dem, was Touristen als authentisch empfinden. Die Touristen sollen eine neue, fremde Welt erleben können, ohne einem Kulturschock ausgesetzt zu sein (Van Beek 2003: 254). Eine Tourist Bubble kann recht undurchlässig sein, wenn der Abstand zwischen Gastgebern und Gästen durch entsprechende Arrangements aufrechterhalten wird und Touristen eine »vorgespielte Authentizität« erfahren, und relativ durchlässig, wenn Touristen Erfahrungen machen können, die es ihnen erlauben, näher an ihre Gastgeber heranzukommen und hinter die sprichwörtlichen Kulissen zu blicken (MacCannell 1976, nach Goffman 1959). Viele Touristen haben das Bild von einer unverdorbenen, ursprünglichen, echten, unberührten, traditionellen San-Kultur (Handler 1986: 2). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Kolonialisten, physische Anthropologen, Medienvertreter, Autoren, Filmemacher, aber auch Ethnologen Bilder von ursprünglichen, naturverbundenen afrikanischen Eingeborenen verbreitet haben. Solche Bilder von den ursprünglichen San werden weitgehend von der Tourismusindustrie aufgenommen, genutzt und verstärkt. Man bietet Touristen kulturelle Darbietungen und Kunstobjekte, die ihren Bedürfnissen und Erwartungen entsprechen. Allerdings haben Anbieter des community-basierten kulturellen Tourismus nicht nur das Ziel im Auge, ihre Kunden zu bedienen und so einen ökonomischen Gewinn für die lokale Bevölkerung zu erwirtschaften. Vielmehr wollen sie auch Respekt für die lokale Kultur erzeugen, indem sie das Bild von Menschen zu vermitteln suchen, die ihr kulturelles Erbe bewahrt haben und sich gleichzeitig den täglichen Herausforderungen stellen müssen (Hatton 1999: 3). Solch ein Angebot kann aber nur Besucher ansprechen, die bereit sind, sich auf ein komplexeres Bild der San einzulassen.

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V ORSTELLUNGEN

VON

S AN

Der Mythos von den San reicht in die Kolonialzeit zurück (Gordon 1997: 118-141, Tomaselli 1995, 1999: 134). Während der deutschen und südafrikanischen Fremdherrschaft sahen Siedler und Missionare die San als »edle Wilde« im Einklang mit der Natur, doch betrachteten sie sie gleichzeitig als minderwertige Menschen, die näher beim Tier als beim Menschen stünden (Wels 2004: 87, Gordon 1992). 1907 errichtete die deutsche Kolonialverwaltung das Etosha Wildreservat im Gebiet der Hai//om San.2 Ihr Gebiet war bereits zuvor durch die Ausweitung weißen Farmlands verkleinert worden. Man akzeptierte die Hai//om innerhalb des Parks, weil sie als konstituierender Teil des Gesamtpakets Etosha betrachtet wurden (Suzman 2004: 225), ähnlich wie afrikanische Menschen oft von den Kolonialherren im landschaftlichen Kontext dargestellt wurden (Wels 2004: 79). Einige zeitgenössische Wissenschaftler und Reisende, z.B. die Deutschen Schinz (1891), Ratzel und Fritsch oder der Brite Galton, forschten über San in Deutsch-Südwest-Afrika. In den Kategorien der damaligen Zeit identifizierten sie die San als niedrigste menschliche Rasse, die unfähig sei, eine Kultur zu entwickeln (Dieckmann 2007: 61, Gordon, 1992: 43-46). Die deutsche Kolonialverwaltung sah in den San Wilde aus der Vergangenheit, ohne Chance zu überleben. In dieser sozialdarwinistischen Denkweise ging man davon aus, dass die San aussterben würden oder gezähmt werden müssten (Gordon 1992: 137). Dabei hatte der deutsche Linguist Wilhelm Bleek, der San-Sprachen untersuchte, sich mit Mythen der San beschäftigte und ihre Felsmalereien analysierte, schon Mitte des 19. Jahrhunderts der Behauptung widersprochen, dass San auf der niedrigsten Stufe der Menschheit stünden (Skotnes 2007: 189, Gordon 1992: 45-46). Das ambivalente Bild vom naturnahen und zurückgebliebenen Menschen kann auch anhand der Parkpolitik des Apartheid-Regimes nachvollzogen werden. In den ersten Jahren der südafrikanischen Administration wurden die Hai//om im Etosha Wildreservat zwar toleriert, nicht zuletzt, weil die Begegnung mit San für viele Besucher den Höhepunkt ihrer Tour darstellte (Gordon 1998: 112). Jedoch wurden sie später wegen der steigenden Bedeutung der Etosha-Wildtiere als Tourismusattraktion nach und nach

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Die Symbole ‘//’ und ‘!’ in Hai//om bzw. !Xun stehen für Klicklaute in Khoisan Sprachen (Barnard 1992).

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aus dem Gebiet vertrieben (Garland/Gordon 1999: 274, Friederich/Lempp 2009: 72). Spätestens ab 1954, nach ihrer endgültigen Vertreibung aus dem Park, waren sie gezwungen, auf Farmen weißer Siedler zu arbeiten, wo es einen hohen Bedarf an Arbeitskräften gab. Für den westlichen Massenkonsum produzierte Darstellungen machen das damals wachsende Interesse an den San als Menschen »im Einklang mit der Natur« deutlich. Zum Beispiel sammelten die Mitglieder der Denver Africa Expedition von 1925 fotografisches Material und kreierten laut Gordon romantisierte Bilder von San als edlen Jägern (Gordon 1997: 123). Sie stellten die San-Kulturen als ursprünglich und unverfälscht dar und erzeugten den Eindruck von Menschen, die einem extremen Gegensatz zu den Angehörigen der, wie man meinte, hochentwickelten Kulturen in Nordamerika und Europa stünden. Auch die vielgelesenen Bücher von Laurens Van der Post wie The Lost World of the Kalahari (1958) oder The Heart of the Hunter (1961) stützten das Bild der traditionellen San. Van der Posts Fernsehserie THE LOST WORLD OF THE KALAHARI (1956) sowie die zeitlose Darstellung von San in dem filmischen Bestseller THE GODS MUST BE CRAZY (Uys 1980) oder in der Discovery Channel Dokumentation HUNTERS OF THE KALAHARI (Derrick 1995) trugen dazu bei, Mythen und Stereotypen zu verstärken. Mitglieder der Marshall-Familie waren mit die ersten, die Langzeitforschungen bei San-Gruppen durchführten (Marshall, E. 1959, Marshall, J. 1957, Marshall, L. 1976). Ihre Filme umfassten sowohl traditionelle Darstellungen wie in THE HUNTERS (1958) als auch Versuche, das Leben der Ju/‘hoansi San in der Nyae Nyae Conservancy und die Veränderungen in ihrer Lebenswelt in den 1950ern darzustellen. Der Film N!AI: THE STORY OF A !KUNG WOMAN, den John Marshall 1980 produzierte, konzentriert sich auf diesen Wandel. Laut Van Vuuren (2009: 559) hatte John Marshalls Arbeit einen doppelten Effekt: Seine Dokumentarfilme waren sowohl ein Werkzeug, um San wissenschaftlich zu erforschen, als auch dazu geeignet, ihre Traditionen darzustellen, und in gewisser Weise trug auch er dazu bei, visualisierte Erzählungen zu produzieren, die das Publikum faszinierten. Zudem betrachteten die sogenannten Traditionalisten unter den Ethnologen wie De Vore und Lee (1968; Lee 1968) die San als Menschen, die bis in die jüngste Zeit unverändert in Isolation gelebt hätten und damit ein Modell der frühen Menschheit darstellten (z.B. Lee 1979). Kritisiert wurde dies von den sogenannten Revisionisten wie Denbow und Wilmsen (1986),

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die der Ansicht waren, dass San-Gruppen in ständigem Austausch mit Bantu-Völkern gestanden hätten und dass im historischen Prozess die San marginalisiert und zunehmend abhängig von Almosen und Zuwendungen von Touristen gemacht habe (Wilmsen 1990: 140). Mit dem Aufkommen von Ökotourismus und kulturellem Tourismus in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts erhielt das traditionelle San-Bild noch einmal einen neuen Schub. Der südafrikanische Ethnologe und Kulturwissenschaftler Tomaselli hat kritisiert, dass es im Interesse dieser neuen Tourismusformen sogar teilweise zu einem wissenschaftlichen Ziel geworden sei, San und Natur in eine enge Verbindung zu bringen, ja gleichzusetzen (Tomaselli 2005: 112). Auch weiße Großgrundbesitzer trugen zu den divergierenden Bildern der San bei. In der Umgebung von Tsintsabis wurden San als Arbeitskräfte gesehen, die – verglichen mit Arbeitern anderer ethnischer Herkunft – ihre Aufgaben gewissenhaft verrichteten. Gleichzeitig schien man sie jedoch in anderer Hinsicht als minderwertig zu betrachten. So war ein deutschsprachiger namibischer Farmer davon überzeugt, dass die San wie in der Steinzeit lebten und nicht an die Zukunft dachten, während ein Jagdfarmbesitzer sie als Arbeitskräfte betrachtete, denen ein Vorarbeiter immer zeigen müsse, wie sie ihre Aufgaben zu erledigen hätten. Auch Angehörige der namibischen Bantu-Gruppen Owambo und Herero sahen Mitglieder der San als ihnen unterlegen an. Historisch gesehen standen San oft in den Diensten von Herero, was diese Haltung zumindest teilweise erklären mag (Hüncke 2010: 27, 29). Missionare, Kolonialbeamte, physische Anthropologen, weiße Großgrundbesitzer, Mitglieder von Bantu-Gruppen, Medien, Tourismusagenten und Ethnologen haben zu den Bildern von San beigetragen und – ob beabsichtigt oder nicht – bewirkt, dass San als die »Anderen« gesehen wurden. Im Tourismus überwiegt das Bild von edlen Wilden im Einklang mit einer ursprünglichen afrikanischen Landschaft (Buntman 2002: 69-70, Taylor 2003: 259). Es ist Teil des historischen Kontexts, in dem es entstanden ist, aber es ist aus heutiger Sicht unvollständig. Ihm muss zunächst das Bild von San als ins Abseits gedrängte Opfer des Apartheidsregimes und der globalen Ökonomie gegenübergestellt werden (Hitchcock et al. 2006: 1). Doch erst im letzten Jahrzehnt wurden darüber hinausgehend San von Ethnologen wie Taylor (2000) und Dieckmann (2007) als Akteure gesehen, die den Kontext, in dem sie sich befinden, beeinflussen und daran arbeiten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, u.a. auch um die gängigen

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Bilder zu korrigieren. Mit dem Fokus auf der Vermarktung ihres kulturellen Erbes tauchte zudem das Bild von geschäftstüchtigen San auf (Comaroff/ Comaroff 2009: 86-98). Ungeachtet ihrer wachsenden Distanz zu der verbreiteten Vorstellung von ihnen als naturnahen Menschen, die abseits westlicher Zivilisation leben, sind sich die San wohl durchaus des Dilemmas bewusst, in dem sie sich befinden: Das Image des »Anderen«, das ihre Marginalität bekräftigt, ist zugleich der selling point des San-Kulturtourismus. Sich völlig dieser Erwartungshaltung zu entziehen, wäre nicht nur schwierig, sondern ökonomisch sehr riskant. Das von mir untersuchte Projekt Treesleeper Camp versucht hier einen eigenen Weg zu gehen.3

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IN

T SINTSABIS , N AMIBIA

Während der deutschen Kolonialzeit war Tsintsabis eine Polizeistation und entwickelte sich in der südafrikanischen Apartheidzeit zu einem Stützpunkt der South African Defence Force (SADF), für die auch etliche Hai//om arbeiteten. Nach der Unabhängigkeit Namibias wurde Tsintsabis zum Neuansiedlungsgebiet für in erster Linie San-Gruppen. Rund 65% der heutigen Einwohner sind Hai//om und rund 20% sind !Xun-San. Aber auch Mitglieder anderer ethnischer Gruppen wie Owambo, Damara, Herero und Kavango konnten sich in Tsintsabis ansiedeln, da die namibische Regierung sich zum Ziel gesetzt hat, Mitgliedern derjenigen ethnischen Gruppen Land zur

3

Der Beitrag beruht auf Teilergebnissen einer sechsmonatigen Feldforschung 2009/10 zum kulturellen, community-basierten Tourismusprojekt Treesleeper Camp in Tsintsabis. Durch teilnehmende Beobachtung bei touristischen Aktivitäten und aufgrund von 20 informellen Interviews mit Touristen war es mir möglich, die Sicht von Touristen auf das Projekt zu analysieren. Um einen Einblick in die Ansichten der lokalen Bevölkerung gegenüber Touristen und dem Tourismusprojekt zu erhalten, führte ich u.a. 40 semi-strukturierte Interviews mit Dorfbewohnern durch, d.h. mit Mitarbeitern des Treesleeper Camps und anderen Einwohnern von Tsintsabis. Bei etwa 25 der 40 Interviews übersetzte Bettie Khous-oos, Tsintsabis, von Englisch nach Hai//om und umgekehrt. Die anderen Interviews wurden auf Englisch geführt.

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Verfügung zu stellen, die während der Apartheidszeit von ihren Siedlungsgebieten vertrieben worden waren. Das Tourismusprojekt Treesleeper Camp ist vor allem wegen seiner Nähe zum Etosha Nationalpark, dem früheren Siedlungsgebiet der Hai//om, attraktiv für Touristen, die neben der Begegnung mit Landschaft und Tierwelt auch kulturelle Erfahrungen in ihrem Reisepaket enthalten haben möchten. Da Tsintsabis auf der Route von Etosha nach Windhoek liegt, lässt sich Treesleeper in den Reiseplan vieler Anbieter leichter integrieren als z.B. die Nyae Nyae Conservancy, die durch die Forschung von Biesele und Hitchcock (2011) recht bekannt geworden ist, jedoch weiter ab von gängigen Reiserouten liegt und nur über eine Schotterstraße erreichbar ist. Die Treesleeper-Anlage liegt etwa 1 km von der Hauptstraße und ca. 1,5 km vom Dorf Tsintsabis entfernt. Der räumliche Abstand zum Dorf soll zum einen gewährleisten, dass sich weder Dorfbewohner noch Touristen voneinander gestört fühlen. Zum anderen wurde die Lage des Camps so gewählt, dass es sich in einer natürlich scheinenden, touristisch ansprechenden Umgebung befindet. Der Name Treesleeper spielt auf die wörtliche Übersetzung von »Hai//om« an. Während ihrer Jagdzüge pflegten die Hai//om auf Bäumen zu schlafen, wenn sie abends nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten. Unter den Bäumen entzündeten sie ein Feuer, um Moskitos fernzuhalten oder um sich vor Raubtieren zu schützen. Gäste des Camps können ebenfalls zu Baumschläfern werden, wenn sie auf Plattformen übernachten, die von hohen Pfählen getragen werden, den sogenannten Baumdecks. Die Idee, durch Tourismus Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung zu schaffen, wurde schon seit 1993 im Entwicklungskomitee des Dorfes diskutiert. In diesem Komitee, das sich aus Vertretern verschiedener ethnischer Gruppen zusammensetzt, sah man die Möglichkeit, Touristen mit geringem bis mittlerem Budget durch ein community-orientiertes Camp anzuziehen, um die Kleinökonomie in Tsintsabis zu stimulieren (Koot 2000: 62). Unterstützt vom Niederländer Koot, der 1999 eine Forschung über Landrechte in Tsintsabis durchführte, trieb das Entwicklungskomitee die Umsetzung eines Tourismusprojekts voran. Wie erwähnt verfolgte man das Konzept, durch die für einen Zwischenstopp geeignete Lage von Treesleeper vom Etosha Nationalpark zu profitieren. Außerdem wollte man Hai//om und !Xun aktiv am kulturellen Tourismus beteiligen. Nachdem Fördermittel aus den Niederlanden durch den neu gegründeten Verein Foundation for

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Sustainable Tourism in Namibia (FSTN) eingeworben worden waren und das namibische Ministerium für Land und Umsiedlung zehn Hektar für das Projekt zur Verfügung gestellt hatte, begannen Freiwillige aus Tsintsabis im Jahr 2004 mit dem Bau des Camps. Eine Motivation vor allem für junge Leute war dabei sicherlich, dass sie die Möglichkeit erhielten, Trainings als Touristenguides, PC-Kurse und handwerklich orientierte Trainings zu absolvieren, um sich für eine Stelle bei Treesleeper zu qualifizieren. Im August 2005 besuchte die erste Touristengruppe das Camp, das 2006 um ein kulturelles Zentrum erweitert wurde. Mit Hilfe des Legal Assistance Centre, Windhoek,4 wurde der Tsintsabis Trust als Rechtsorgan und Entscheidungsträger für das Tourismusunternehmen eingerichtet (Tsintsabis Trust 2004). Mitglieder waren neben SanDorfbewohnern zunächst auch die Niederländer Koot und Bounin, die den Aufbau des Camps unterstützt hatten. Durch die Einsetzung des Trusts als Rechtsorgan erhielten die San in Tsintsabis Gruppenrechte, obwohl ethnischen Gruppen in Namibia eigentlich keine Gruppenrechte zustehen, nicht zuletzt, da es während der Apartheid Rechte für ethnische Gruppen gab (vgl. Widlok 1999, 2001). Die beiden Niederländer gehörten sowohl der Organisation FSTN, die Spenden für Treesleeper sammelte und Freiwillige für den Aufbau des Camps organisierte, als anfänglich auch dem Trust an und beeinflussten somit – gewollt oder nicht – Entscheidungen in der Bauphase von Treesleeper. Dass auch Nicht-San Mitglieder des Trusts waren, machte vor allem The Working Group of Indigenous Minorities of Southern Africa (WIMSA) misstrauisch (Dieckmann 2007: 318), und während der ersten Jahre war die Beziehung zwischen der FSTN, dem Trust und der lokalen Bevölkerung einerseits und WIMSA andererseits unklar oder sogar angespannt. Nachdem sich die FSTN im Juli 2007 zurückgezogen hatte, unterstützte die britische Organisation Voluntary Service Overseas das Projekt für weitere zwei Jahre, und der San Moses //Khumûb, der beim Aufbau des Camps mitgearbeitet hatte, übernahm die Rolle des Camp Managers. Treesleeper bietet inzwischen Arbeit für acht Vollzeitbeschäftigte und trägt zu einem zusätzlichen Einkommen von lokalen Kunsthandwerkern

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Das Legal Assistance Centre ist eine namibische NGO, die Menschen ohne Zugang zu einer Rechtsberatung in rechtlichen Angelegenheiten berät und vertritt.

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und von Tänzern und Sängern bei, die eine sogenannte Traditional Performance aufführen. Diese Vorführung und eine zweite Aktivität, der Bushwalk, finden auf der zehn Hektar großen Anlage statt. Touristen haben aber auch die Möglichkeit, an der Village Tour teilzunehmen und dabei Familien im Dorf zu besuchen.

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Als touristisches Unternehmen präsentiert das Projekt Bilder von San und von Afrika. Dies wird bereits an den Begrüßungsworten auf der Treesleeper-Homepage deutlich: »Welcome to Treesleeper Camp! Your cultural experience in the African bush«.5 Einerseits ist Treesleeper ein Unternehmen, das sich an den Wünschen der Touristen orientiert, aber als Entwicklungsprojekt möchte es auch ein komplexes Bild vom heutigen Leben der Hai//om vermitteln. Die Membran der touristischen Bubble ist bei diesem community-basierten Projekt deutlich durchlässiger als bei Tourismusunternehmen des hochpreisigen Marktes (vgl. Van Beek 2007: 152, 157). In letzterem Segment ist man bemüht, Touristen ein möglichst perfektes Ambiente zu bieten, d.h. Touristen finden hier eine frontstage (MacCannell 1976, Goffman 1959), die zwar neu und interessant, aber auch den Erwartungshaltungen entsprechend und damit keinesfalls schockierend ist und wo der Abstand zwischen Gast und Gastgebern aufrecht erhalten wird. Treesleeper bietet verschiedene Aktivitäten an, die als Treffpunkt von Touristen und Gastgebern verstanden werden können und die für die vermittelten Bilder wichtig sind. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die lokalen Touristenführer, die den »Bushwalk« leiten, und die Familien, die bei der traditionellen Vorstellung tanzen und singen oder beim Gang durch das Dorf besucht werden. Etwa 80% der Gäste buchen den »Bushwalk«, 40% die »Traditional Performance« und ca. 50% die »Village Tour«.6

5

Siehe www.treesleeper.org (abgefragt am 03.06.2012).

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Dies ergibt sich aus Treesleepers Gästefragebögen zur Zeit der Feldforschung. Für die Traditional Performance und die Village Tour ist normalerweise eine Voranmeldung nötig, was begründen kann, dass diese Angebote seltener genutzt werden als der Bushwalk.

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Während meines Aufenthalts in Tsintsabis nahmen Touristen erwartungsgemäß aus unterschiedlichen Gründen an den Treesleeper-Aktivitäten teil (vgl. Garland/Gordon 1999: 276). Einige Touristen versuchten, wie MacCannell es ausgedrückt hat, hinter die Kulissen des »Anderen« zu schauen, um näher an das sogenannte authentische »Andere« heranzukommen. Sie hatten oft ein besonderes Interesse an Treesleeper als communitybasiertem Projekt bzw. Entwicklungsprojekt, sei es, dass sie bei ihrer Suche nach einem Camp auf die Treesleeper-Homepage gestoßen waren und ihr entsprechende Informationen entnommen hatten, sei es, dass sie selbst oder ihre Freunde in der Entwicklungszusammenarbeit oder in der SanForschung tätig waren. Im Gegensatz dazu schienen andere Reisende mit dem zufrieden zu sein, was ihnen präsentiert wurde. Sie waren weniger darauf aus, die Tourist Bubble zu durchstoßen, um mehr über ihre Gastgeber zu erfahren. Dies lag wohl an ihren Erwartungen, die z.B. durch Erklärungen ihrer Reiseleiter oder Broschüren von Reiseveranstaltern geweckt worden waren. Diese Broschüren greifen oft das Bild von ursprünglichen San auf (Gordon 1992: 129) und stellen das angebliche Leben von Jägern und Sammlern dar. So heißt es in der Beschreibung einer geführten Tour eines namibisch-deutschen Tourismusanbieters »to the Tribes of Northern Namibia« über den Aufenthalt bei Treesleeper: »After breakfast depart for the ›Treespleeper Camp‹ near Tsintsabis. It is home to Hei//omn Bushmen, the former habitants of Etosha and surroundings, and the !Kung Bushmen. Until recently the Bushmen practiced a lifestyle of hunting and gathering. They will show you their traditional way of life in a ›historic living village.‹«. (SWA Safaris 2010)

Bushwalk Die Touristengruppe von bis zu 20 Teilnehmern betritt einen gewundenen Pfad mit 15 Haltepunkten, die innerhalb des Treesleeper-Geländes angelegt worden sind. Während der zweistündigen Führung informiert der englischsprechende Hai//om Guide, der Jeans und T-Shirt trägt, über die Tier- und Pflanzenwelt und erklärt, wie diese als Nahrungsquelle, für die Jagd und für medizinische Zwecke genutzt werden kann. Am Ende des Bushwalk entzündet der Guide, der sich inzwischen umgezogen hat und nun einen Len-

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denschurz trägt, auf einem Platz vor traditionell gebauten Hütten mit natürlichen Materialien ein Feuer. Wenn ich Touristen nach ihrer Meinung zum Bushwalk fragte, äußerten sich fast alle begeistert darüber, wie informativ die Aktivität für sie war und wie angetan sie vom kulturellen Wissen ihres Guide waren. Mehrmals konnte ich miterleben, wie zwischen Gästen und Guide ein persönlicher Kontakt entstand, da der Guide auch bereit war, Fragen zu seinem eigenen Leben zu beantworten. Dies mochte dazu beitragen, dass sich die Touristen auf Augenhöhe mit ihm sahen. In einem Fall berichtete ein Ehepaar nach dem Bushwalk: »The guide was really up to date. [...] He knew about so many things.« (15.07.2009) Auch die Guides begleiteten die Gäste gern auf dem Bushwalk. So erklärte ein Guide, der sich stark mit der Darstellung der San-Kultur bei dieser Aktivität identifizierte: »The walk is the best activity. I’m proud to be the guide during the walk because it is about the old lifestyle and nearly everything about the traditions is included. It is about hunting, gathering and tracking. I think it is good that we wear traditional outfits at the end as a kind of surprise for tourists. They don’t know that before. I introduce this usually as ›At the end you are going to meet my twin brother‹.« (02.10.2009)

Zunächst hatte der Touristenführer an einem der Haltepunkte demonstriert, wie man eine Schlinge für Perlhühner auslegt, und Erklärungen dazu gegeben. Indem er den gefangenen Vogel imitierte und gleichzeitig das Jägerund Sammlerleben der San mit ihrem jetzigen Leben verglich, war er sowohl Darsteller als auch Vermittler. Dies stand im Gegensatz zum Ende des Bushwalk, wo er seine westliche Kleidung mit traditioneller Bekleidung tauschte und demonstrierte, wie man mit Stöcken, Rinde und trockenem Gras ein Feuer entfacht. Auch die Bühne, auf der er das Feuermachen vorführte, war mit traditionellen Elementen ausgestattet, wie zwei nachgebauten Hütten. Indem er die Teilnehmer des Bushwalk frühzeitig darauf vorbereitete, dass sie später noch »eine andere Person« treffen würden, unterschied der Guide seine Rolle während des Bushwalks von der Rolle, die er am Ende einnahm. Wollte er auf diese Weise mitteilen, dass das Feuermachen eine reine Darbietung war und normalerweise nicht im heutigen Leben der San praktiziert wurde? Offensichtlich erkannte der Guide die Wider-

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sprüchlichkeit der Vorführung und wusste um die Gefahr, dass sich in den Köpfen der Touristen das Bild festsetzte, dass San heutzutage im Einklang mit der Natur leben. Die Ambivalenz, in der er sich befand, wurde in seinem Balance-Akt deutlich. Interessant waren die unterschiedlichen Reaktionen der Touristen, die das Feuermachen beobachteten. Einige versuchten weiterhin mit dem Guide zu kommunizieren, indem sie Fragen zu seinen Handlungen stellten. Durch diesen Versuch, die Beziehung auf der gleichen Ebene wie zuvor beim Bushwalk zu halten, wollten diese Touristen offenbar mit ihm in Verbindung bleiben, so, als ob sie dadurch die Kluft zwischen sich und der dargestellten Kultur überbrücken könnten. Andere wurden still, schauten weg und versuchten den Darsteller im Lendenschurz nicht anzustarren. Später meinte eine Teilnehmerin, die sich insgesamt sehr lobend über den Bushwalk geäußert hatte: »But the fire-making in the end was odd. We found the loincloth and the performance quite strange and pretty bold.« (15.07.2009) Die zurückhaltenden Reaktionen mochten damit zu tun haben, dass diese Touristen nach einem »modernen« San suchten, einem Bild, das der Guide im ersten Teil des Bushwalks bedient hatte, aber das sie während der Demonstration des Feuermachens nicht wiederfanden. Im Gegensatz dazu machte ein Teilnehmer einer Reisegruppe Fotos und beobachtete aufmerksam die Bemühungen des Guides beim Feuermachen. Dieser Tourist stellte klar: »This is why we booked the bushwalk. Our tour guide told us that there will be some traditional fire-making in the end.« (14.08.2009) Ein anderer Tourist bemerkte: »These guys really know how to live out there in the wild. [...] Stone-age people also knew how to make fire.« (20.08.2009) Die Vorführung des Feuermachens vor traditioneller Kulisse durch den Touristenführer im Lendenschurz schien die Erwartungen an Exotik bei diesen Touristen erfüllt und ihr Bild vom »Anderen« bestätigt zu haben. Ein Teilnehmer einer anderen Reisegruppe imitierte nach der Vorführung des Feuermachens einen Tänzer der traditionellen Vorführung, die die Gruppe am Vorabend besucht hatte, indem er sein Hinterteil bewegte und hin- und herschlurfte, woraufhin einige andere Touristen lachten. Das Imitieren des Tänzers und das Lachen der anderen Touristen deuteten darauf hin, dass die Touristen die Darbietungen als exotisch ansahen und sich über sie lustig machten. Sowohl der Tänzer der traditionellen Vorführung als

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auch der Guide (sobald er seinen Lendenschurz anhatte) wurden als »anders« und vielleicht auch als »primitiv« wahrgenommen. Anscheinend stellt das Feuermachen im Vergleich zum ersten Teil des Bushwalk einen weniger durchlässigen Teil der Tourist Bubble dar. Mit zwei nachgebildeten traditionellen Hütten im Hintergrund und dem Guide, der sich ganz auf sein Tun konzentriert, finden viele Touristen nicht leicht einen Weg hinter die Kulissen. Auch könnten Touristen den Rollenwechsel des Guides als eine Art Bedrohung für die Schutzzone der Tourist Bubble wahrnehmen. Traditional Performance Während der Abendveranstaltung auf dem Treesleeper-Gelände sitzen die Touristen auf Baumstämmen gegenüber den etwa zehn Darstellern aus den beiden Familien, die während der später beschriebenen Village Tour besucht werden.7 Die Darsteller bilden einen Halbkreis und tragen teilweise Lederkleidung. Zwei Männer, die mit Lendenschurzen bekleidet sind, singen und tanzen, wobei sie sich ständig um ein Lagerfeuer herumbewegen, das in der Mitte zwischen Zuschauern und Sängern brennt, während die Frauen, die teilweise Lederröcke und Lederoberteile tragen, singen und mit Holzbrettchen den Rhythmus klatschen. Bevor die Gesänge und Tänze beginnen, erläutert der Guide kurz, worum es in den drei Tänzen, dem Ahnentanz, Initiationstanz und Freudentanz, geht. Laut Treesleepers Homepage ist die traditionelle Aufführung der San etwas Magisches. Dies könnte das Bild von einem exotischen »Anderen« unterstützen. Gleichzeitig ist es aber Treesleepers Ziel, dass die Teilnehmer mithilfe des lokalen Führers als Mediator (Smith 2001: 199, Cohen 1985) etwas über rituelle Tänze und Zeremonien und ihre Bedeutung erfahren.8 Was es heißt, diese beiden gegensätzlichen Ziele vereinen zu wollen, wurde durch eine Aussage des Camp-Managers deutlich, der betonte: »We don’t want to create an image as if [Hai//om] were still dressed in traditional outfits. The performers show how Hai//om people lived in the past [...],

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Entgegen der Information auf der Treesleeper Hompage trat die Schülertanzgruppe der Tsintsabis Junior Secondary School zum Zeitpunkt der Feldforschung nicht mehr bei der Traditional Performance auf.

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Siehe www.treesleeper.org (abgefragt am 03.06.2012).

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[and] some tourists are keen to see people dressed in traditional clothes.« (24.9.2009) Seine Bemerkung verwies auf den schmalen Grat, auf dem die Gastgeber sich zwischen ihrer Rolle als Darsteller und ihrem alltäglichen Leben bewegen. Obwohl der jeweilige Guide versuchte, den Show-Charakter der Vorstellung zu betonen, bekam ich immer wieder mit, dass Reisende davon ausgingen, dass die San während ihrer nicht für Touristen bestimmten Tänze im Dorf ebenfalls Lederkleidung trugen. Ein Tourist verlangte sogar, einem »echten« traditionellen Tanz im Dorf beizuwohnen, in der »tatsächlichen« Umgebung der San, um eine lebendigere Vorstellung zu erleben, bei der z.B. Trommeln eingesetzt würden. Diese konkrete Erwartung ließ vermuten, dass der Zuschauer das Bild von farbenfrohen, fröhlichen afrikanischen Kulturen, wie es in Medien und Reisebroschüren populär ist, als authentisch ansah und es auf die San übertrug. Nicht wenige Touristen sahen die Darsteller gern in traditioneller Bekleidung, weil es die Tänze in ihren Augen authentisch machte. Andere Gäste äußerten die Sorge, dass den San dadurch ein Image der Marginalität angeheftet werden könnte. Ihrer Ansicht nach brachte die traditionelle Kleidung nicht den Stolz der Darsteller auf ihre Kultur zum Ausdruck, sondern machte sie zu Objekten, die sich für Touristen in Szene setzten. Viele der Sänger und Tänzer waren allerdings gerne bereit, traditionelle Kleidung zu tragen. Dies ist kein Beweis für eine hypothetische negative Selbstwahrnehmung als Folge der romantisierten Bilder von rückständigen San; vielmehr bekundeten manche, dass sie stolz auf ihre Gebräuche und ihre Herkunft seien und ihren kulturellen Status aktiv nutzten. Auf meine Frage, wie es sich anfühle, an der Traditional Performance teilzunehmen, äußerte ein Tänzer: »I have no problem with traditional cloths [...]. It is good. We can show tourists our tradition and I can earn money.« (30.09.2009) Teilweise kritisierten Touristen auch, dass die Vorstellung nicht ihren Erwartungen entsprochen habe, weil die Tänze und Gesänge für sie kaum unterscheidbar wären und weil sie die Sänger und Tänzer als wenig geübte und wenig engagierte Darsteller empfunden hätten, die es nicht schafften, ihre Traditionen eindrucksvoll zu präsentieren. Diese Touristen wollten selbstbewussten und traditionsbewussten San begegnen, wie sie einen beim Bushwalk kennen gelernt hatten. Sie zeigten Ablehnung, als ein Tänzer ihr Gesicht mit einem Federbusch berührte. Ihre Enttäuschung brachte einige

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dazu, nach einem neuen Orientierungspunkt zu suchen zwischen dem, was sie erlebt hatten, und dem, was sie erwartet hatten. So sahen sich am nächsten Morgen die Mitarbeiter des Treesleeper Teams oder der lokale Touristenführer der Village Tour mit den Fragen konfrontiert, woher denn die Sänger und Tänzer kämen; warum man gerade sie engagiert habe; wie sie die Tänze gelernt hätten und warum die Mitarbeiter von Treesleeper nicht selbst tanzen würden, wie es in anderen Tourismuscamps der Fall sei. Diese Touristen versuchten also, die Kulisse (frontstage) der Traditional Performance zu überwinden und Informationen über den Alltag der Dorfbewohner, den Bühnenhintergrund (backstage), zu erhalten (MacCannell 1976). Tatsächlich wurde im Dorf einer der Tänze, der Ahnentanz, nicht nur für touristische, sondern auch für Heilungszwecke praktiziert. Einige Darsteller waren sogar überzeugt, dass die Vorführungen ihnen geholfen hatten, einen Sinn in der Wiederbelebung ihrer Riten und Gebräuche zu entdecken, obwohl das Tanzen vor Touristen in erster Linie eine Einkommensquelle darstellte. Man könnte die Vorführungen also als neue Überlebensstrategie mit kulturellen Mitteln bezeichnen, bei der frontstage und backstage ebenso verschwimmen wie die Unterscheidung zwischen Darstellern und Publikum, indem die Darsteller selbst erleben, wie sie ihre kulturelle Identität realisieren (vgl. Comaroff/Comaroff 2009: 26). Auch wenn Treesleeper mit der Traditional Performance recht erfolgreich darin ist, Touristen von ihrem romantisierten Image abzubringen, kann die Darbietung dennoch ein zwiespältiger Beitrag für das Ziel sein, ein tiefergehendes Verständnis für San-Kulturen zu erzeugen. Hier ist besonders der Guide gefordert, der zwischen Zuschauern und Darstellern vermitteln kann. Wenn die Touristen erleben, dass sich der lokale Guide in seiner Kultur auskennt und ihnen den Kontext vermitteln kann, in dem die Traditional Performance stattfindet, könnten sie eher ihre Vorurteile gegenüber San überwinden und bereit sein, sich neuen Einsichten zu öffnen. Jedoch ist die Mediation des Guide kein Allheilmittel. Der Camp-Manager wies auf die Spannung hin zwischen dem, was einige Touristen erwarten, und dem, wozu die Darsteller bereit sind, indem er rhetorisch fragte: »The question is: What do tourists want to see? Do they want to see how Bushmen [are]? Should we change because of tourists or should tourists accept how we are?« (24.09.2009) Der Manager wollte offensichtlich nicht alles daransetzen, die Wünsche der Touristen in jedem Fall zu befriedigen, sondern es schien ihm letztlich

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darum zu gehen, die Selbstachtung der San zu stärken und die Entwicklung einer San-Identität zu ermöglichen. Village Tour Während mit dem Bushwalk und der Traditional Performance die Ziele verbunden sind, Touristen etwas von dem traditionellen Wissen der San über die Natur zu vermitteln und ihnen die Begegnung mit kulturellen Traditionen der San zu ermöglichen, soll die Village Tour laut Selbstdarstellung auf der Treesleeper-Homepage bei den Teilnehmern ein besseres Verständnis für eine Kultur erzeugen, in der Traditionen mit der sogenannten modernen Welt interagieren.9 Diese Aktivität stellt in erster Linie die heutige Lebensweise der San vor und präsentiert sie daher nicht in ihrer traditionellen Kleidung. Im Zentrum der Tour stehen die Besuche bei einer !XunFamilie und einer Hai//om-Familie, die in einiger Entfernung zum Dorf wohnen. Zu beiden Familien gehören jeweils etwa 10 Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeit und die Besuche von Touristen verdienen. Die Hütten dieser Familien bestehen weitgehend aus natürlichen Materialien – nicht zuletzt deshalb, weil diese Familien besonders arm sind und sich nichts anderes leisten können – und ähneln früheren Hai//om- und !Xun-Hütten. In einer der Behausungen zeigt ein im Dorf anerkannter !Xun-Heiler den Umgang mit Pfeil und Bogen und erklärt Jagdpraktiken. Dabei stellt er eine Verbindung zum heutigen Leben her, indem er darauf hinweist, dass die Jagd in vielen Gebieten, so auch in Tsintsabis, nicht mehr legal betrieben werden kann. Trotzdem, so wurde mir versichert, jagt sowohl die !Xun-Familie als auch die Hai//om-Familie gelegentlich illegal mit Schlingen, außerdem sammelt man essbare Pflanzen. Die Begegnung mit dem !Xun-Heiler verdeutlicht beispielhaft Treesleepers erklärtes Ziel, während des Besuchs im Dorf auf Riten und Gebräuche hinzuweisen. Damit versucht Treesleeper, Touristen entgegenzukommen, die Interesse am Leben von Jägern und Sammlern haben. Auch die Hütten sind Teil dieses Konzepts, denn sie wurden aus natürlichen Materialien unter Anleitung von Treesleeper-Mitarbeitern nach dem Vorbild von traditionellen Behausungen von Hai//om und !Xun gebaut, allerdings wird hier auch Plastikfolie als

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Siehe www.treesleeper.org (abgefragt am 03.06.2012).

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Baumaterial benutzt. Jedoch kann man die Hütten mit einigem Recht als Teil einer Vorführung bezeichnen, denn im Unterschied zu den beiden »Vorzeige-Familien« leben die meisten Dorfbewohner in Unterkünften aus Wellblech oder in Ziegelbauten,10 und niemand jagt mehr mit Pfeil und Bogen. Ein Treesleeper-Guide, der Touristen durch das Dorf führte, unterstrich diesen Vorführ-Charakter, indem er mir gegenüber betonte: »The village tour is just a show, [...] one of the !Xun houses is not exactly built in the style as these people used to build houses [...]. They also do not always speak !Xun, but I as a guide just say that they do.« (25.9.2009) Der Besuch der beiden Familien bildet den Schwerpunkt der dreistündigen Village Tour, zumal der Weg zu ihren Hütten am Rand des Dorfes recht weit ist. Auf dem Weg zurück zum Camp passieren die Teilnehmer eine Kirche, die Schule, die Gesundheitsstation, die stillgelegte Bäckerei und einige Shebeens (Kneipen), in denen neben Alkohol auch Produkte des täglichen Bedarfs verkauft werden. Gelegentlich können die Teilnehmer der Tour erleben, wie im Dorf Tombo gebraut wird, ein hochprozentiges alkoholisches Getränk, oder kommen kurz in Kontakt mit Einwohnern. Allerdings erlaubt die angesetzte Zeit für die Village Tour es normalerweise nicht, diese Dorfeindrücke zu vertiefen. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Touristen zögerten, von den selbstgebauten Hütten und ihren Bewohnern Fotos zu machen. Dies begründeten sie damit, dass sie die Lebensbedingungen der Gastgeber als äußerst ärmlich empfanden und deren Privatsphäre respektieren wollten. Sie wollten wohl vermeiden, die Bewohner zum Objekt von Neugier zu machen, und distanzierten sich vom Typ des Touristen, der nach dem »object of gaze« sucht (Urry 1990). Auch Ethnologen, die Tourismus als negative Beeinflussung der lokalen Bevölkerung betrachten (z.B. Smith 1977), hätten das Fotografieren wohl in ähnlicher Weise als unangemessenes ZurSchau-Stellen der Gastgeber bezeichnet, selbst wenn – oder gerade weil –

10 Die beiden Familien, die in ihren Hütten von Touristen besucht werden, sind ärmer als die »Durchschnittsfamilien«, die sich Ziegelhäuser oder Wellblechhütten errichten konnten. Darüber hinaus hatten einige ärmere Dorfbewohner in früheren Jahren Zugang zu Ziegeln, die durch das Ministerium für Land und Umsiedlung kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. So besteht im Dorf ein Nebeneinander von Ziegelhäusern, Unterkünften aus Wellblech und einfachen Hütten.

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diese eine Vergütung dafür erhielten, die auf Anraten von Mitarbeitern von Treesleeper aus Lebensmitteln bestand. Entgegen dieser kritischen Einstellung erklärte ein älterer Mann, der regelmäßig von Touristen besucht wurde: »Tourists [...] take photos of us. That is good because they bring us food […]. We [...] feel good if the tourists take photos of us, then we know that tourists like us.« (01.11.2009) Offenbar förderte das Fotografieren das Selbstwertgefühl der Gastgeber, und wenn sie im Gegenzug eine Anerkennung dafür erhielten, fühlten sie sich nicht als zur Schau gestellte Objekte. In dieser Sichtweise waren die Mitbringsel der Touristen keine milden Gaben, sondern ein Entgelt für eine Dienstleistung. Und obwohl die Gastgeber sich als arm bezeichneten, schienen sie ihre Situation nicht als so verzweifelt anzusehen, wie sie manchen Touristen erschien. Diese sahen teilweise die Bewohner der Hütten als Menschen, die zwar versuchten, mit ihrer Situation klarzukommen, aber letztlich daran scheiterten. Einige Touristen fingen während des Besuchs sogar an zu weinen oder wollten den Rundgang abbrechen. Während die Touristen später angaben, dass sie noch nie eine solche Armut gesehen hätten, vermuteten die Gastgeber, die Besucher wären krank oder sie hätten mit der Hitze zu kämpfen. Trotz ihres Wunsches nach neuen Erlebnissen (Urry 1990) empfanden die meisten Touristen die Armut, mit der sie konfrontiert wurden, als schockierend. Sie passte nicht zum erwarteten Bild und stand ihrem Bedürfnis nach eigenem Wohlbefinden entgegen (Van Beek 2007). Ihr Entsetzen machte deutlich, dass sie sich in einem »echten« Dorf wiederfanden, das Merkmale heutigen Lebens aufwies und somit keinen Museumscharakter hatte. Die Tourist Bubble der Village Tour erwies sich als durchlässiger als die der anderen Aktivitäten, da die Touristen hier teilweise mit realen Lebensumständen konfrontiert wurden, mit dem Bereich hinter den Kulissen (MacCannell 1976). Die Village Tour ist sicher ein erfolgreiches Mittel in Treesleepers Kampf gegen das Bild vom ursprünglichen San. Dennoch spiegelte die Sicht, die manche Touristen beim Besuch der Hütten gewannen, nicht das wider, was Treesleeper eigentlich mit dieser Aktivität erreichen will: nämlich bewusst zu machen, dass San bei ihrer Anpassung an eine veränderte Lebensweise Elemente ihrer Kultur bewahrt haben. Dass Treesleeper die Bewohner der traditionellen Hütten stark in den Mittelpunkt seiner Village Tour stellt, auch um diese besonders armen Menschen zu unterstützen, macht es Touristen schwer, eine überzeugende Demonstration von Traditi-

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onen der San oder ihrer Anpassung an eine veränderte Lebensweise zu erkennen. So korrespondiert die touristische Wahrnehmung von bedürftigen und hilflosen San teilweise mit dem eingangs erwähnten kolonialzeitlichen Bild von rückständigen Menschen, die unfähig zur Entwicklung sind. Sie erinnert an das Bild von unselbstständigen, unterlegenen San, das weiße Großgrundbesitzer und Bantu-Nachbarn entworfen haben, und entspricht der Sicht der Revisionisten, die die San als marginalisierte und zunehmend von Almosen und Zuwendungen abhängige Gruppe sahen. Mit der Village Tour stellt Treesleeper das Bild vom ursprünglichen San in Frage, aber leistet ironischerweise dem Bild des marginalisierten San Vorschub.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Begegnung zwischen Gästen und Gastgebern bei Treesleeper eröffnet den Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund. Dabei bringen Touristen, die an community-basiertem kulturellem Tourismus interessiert sind, oft zwei unterschiedliche San-Bilder mit: entweder das romantisierte Bild von Menschen, die ihre Riten und Bräuche praktizieren und eng mit der Natur verbunden leben, oder die Vorstellung von »modernen« Afrikanern, die stolz auf ihren Ursprung sind und einen wirtschaftlichen Nutzen aus ihrem kulturellen Wissen ziehen. Das Bild vom ursprünglichen San, das von den ersten Siedlern und der frühen Kolonialverwaltung erzeugt wurde und teilweise von physischen Anthropologen und Ethnologen aufgenommen wurde, ist bis heute in den Medien zu finden und wird von der Tourismusindustrie genutzt, um Kunden anzuziehen, die Menschen mit einer »unverfälschten« Kultur kennen lernen wollen. Inzwischen haben kritische Tourismusforschung und kritische Medien dazu beigetragen, dieses zeitlose Bild – das allerdings im Kontext seiner Entstehung gesehen werden muss – aufzubrechen. Touristen, die sich für kulturellen, community-basierten Tourismus interessieren und Zugang zum Leben der lokalen Bevölkerung finden möchten, suchen häufig nach dem »modernen« San, der fähig ist, sein kulturelles Wissen zu nutzen. Sie begegnen im community-basierten kulturellen Tourismus Gastgebern, die ihnen als »moderne« Menschen ähnlich sind, aber sich von ihnen durch ihr kulturelles Wissen und ihre kulturelle Praxis unterscheiden (Garland/Gordon 1999: 275). Da die Traditionen der San einen zentralen

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Aspekt des San-Tourismus ausmachen, können Touristen leicht den Eindruck gewinnen, die San seien modern und traditionell zugleich. Nach Garland und Gordon ist dies allerdings ein Bild von Menschen, die sich auf halbem Weg in einem Entwicklungsprozess nach westlichem Vorbild befinden, auf einem Stand, den Homi Bhabha beschrieben hat als »not quite like us, not yet« (Garland/Gordon 1999: 280-283). Obwohl es unmöglich erscheint, die Touristen-Wunschvorstellungen nach einerseits modernen und andererseits traditionell lebenden San gleichzeitig zu erfüllen, versucht Treesleeper diesem widersprüchlichen Verlangen seiner Kunden mit einer flexiblen Tourist Bubble zu entsprechen. Dabei bringt besonders das traditionelle San-Bild Treesleeper in einen Konflikt, denn als community-basiertes Entwicklungsprojekt möchte es vor allem Respekt erzeugen für die heutige Lebensweise der San. Andererseits ist es für Treesleeper als kulturelles Tourismusprojekt unabdingbar, dass es Begegnungen mit der traditionellen Lebensweise der San ermöglicht, wobei darin auch die Chance gesehen wird, Traditionen wiederzubeleben und die Selbstachtung der Akteure zu stärken. Um Touristen anzusprechen, muss der Anbieter die Balance halten zwischen ihrer Erwartung des »Anderen« und ihrer Erwartung des Bekannten; anders gesagt, die Balance halten zwischen Abenteuer und Wohlbefinden (Van Beek 2003: 284). Die von mir beobachteten und befragten Touristen gingen aufgrund der Informationen zu den angebotenen Aktivitäten davon aus, dass sie während des Bushwalk etwas über das reichhaltige traditionelle Naturwissen der San erfahren würden, dass sie bei der Traditional Performance eine eindrucksvolle Vorführung traditioneller Lieder und Tänze erleben würden und durch die Village Tour einen differenzierten Eindruck vom Alltag ihrer San-Gastgeber erhalten würden. Bei all diesen neuen Erlebnissen und Begegnungen wollten sich die Touristen aber auch wohl fühlen. Dies wurde deutlich, als einige Gäste versuchten, beim Feuermachen am Ende des Bushwalk die Verbindung zum Guide aufrecht zu erhalten, als sie während der Traditional Performance den physischen Kontakt zum Tänzer ablehnten oder während der Village Tour angesichts der Armut der Gastgeber schockiert reagierten. Besonders Touristen, die auf der sogenannten »Augenhöhe« mit ihren Gastgebern kommunizieren wollten, fühlten sich teilweise unwohl bei den Aktivitäten. Sie waren irritiert vom Neben- und Ineinander von Traditionellem und Modernem und vom Wechsel

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zwischen Durchlässigkeit und Undurchlässigkeit der Tourist Bubble. Die Inhomogenität der San-Gastgeber trug zu ihrer Verunsicherung bei. Aber auch Touristen, die auf der Suche nach den authentischen, naturverbundenen San waren, zeigten sich – wenngleich in deutlich begrenzterem Maß – enttäuscht oder irritiert. Zwar hat Treesleeper versucht, mit seinem Angebot eines kulturellen Erlebnisses im afrikanischen Busch11 eine Tourist Bubble zu schaffen, also eine Art geschützte Kontaktzone für Touristen mit San, jedoch wurden die vorgefassten Bilder der Touristen beim Zusammentreffen mit den Gastgebern herausgefordert, sodass sich die Touristen während der Aktivitäten nicht immer in dem erwarteten Kokon wiederfanden. Während die meisten Dorfbewohner von Tsintsabis Touristen nur im Vorbeigehen wahrnahmen, trafen Camp Manger, Touristenführer und die besuchten Familien bzw. die Tänzer und Sänger regelmäßig mit ihnen zusammen. Der Camp Manger und die Guides, die eine Schule besucht hatten, über gute Englischkenntnisse verfügten und sich kulturelles Wissen während ihres Touristenführer-Trainings angeeignet hatten, machten deutlich, dass sie ihre Kultur wertschätzten. In der Begegnung mit den Touristen traten sie meist selbstbewusst auf. Dies hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie häufig sehr positive Reaktionen von ihnen erfuhren, besonders in Bezug auf den Bushwalk oder die Ausstattung des Camps. Ein kritischeres Feedback der Touristen blieb normalerweise aus. Die Dorfbewohner, die für die Traditional Performance trainiert worden waren und während der Village Tour besucht wurden, sprachen kaum Englisch. Sie wohnten weit weg vom Camp und betraten es nur für die Traditional Performance, wobei das Setting durch das Treesleeper-Team vorbereitet war und ein Guide die Kommunikation mit den Touristen übernahm. Auch bei der Village Tour begleitete ein Guide die Touristen, informierte sie und stand ihnen für Fragen zur Verfügung. Nur selten übersetzte der Guide Fragen der Touristen und Antworten der Gastgeber. Deren Möglichkeiten, mit den Touristen in Kontakt zu treten und etwas von ihrem Leben mitzubekommen, waren also sehr eingeschränkt. Dies mag erklären, warum die Tänzer und Sänger offenbar nicht vom fehlenden Verständnis der Touristen und ihrer oft distanziert-höflichen Zurückhaltung bei der Traditional Performance tangiert wurden. Für diese San, deren materielle Lage auch im Vergleich zu anderen Dorfbewohnern unterdurchschnittlich

11 Siehe www.treesleeper.org (abgefragt am 03.06.2012).

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war, war die Traditional Performance in erster Linie eine Einkommensquelle. Aber sie erlebten die Tänze und Gesänge teilweise auch als Möglichkeit, Bräuche wiederzubeleben und ein positives Gruppengefühl aufzubauen. Während der Village Tour empfanden die Gastgeber die Besucher als freundlich und fürsorglich und nutzten bereitwillig ihre Hilfsangebote. Möglicherweise verstärkten die Geschenke der Touristen hier zwar das Bewusstsein, arm zu sein, jedoch nicht in einem negativen Sinn von Minderwertigkeit. Das Entsetzen einiger Touristen angesichts der materiellen Armut nahmen die San nicht als solches wahr, denn auch sie identifizierten »the ›ultimate, distant other‹ in terms of their own main values and their own interests« (Van Beek 2003: 286). So interpretierten sie beispielsweise das Weinen einiger Besucher als Hinweis auf Krankheit oder Hitzebeschwerden und das Fotografieren als Ausdruck dafür, dass die Touristen sie mochten. Ähnlich wie die Touristen sich in einer Tourist Bubble befanden, die das Treesleeper-Konzept für sie gestaltet hatte, um ihre Vorstellungen nach Möglichkeit zu bedienen, befanden sich auch die Gastgeber in einer Art Schutzzone; in einer Host Bubble, könnte man sagen. Diese war für den Camp Manger und die Guides begrenzt durchlässig und für die Sänger und Tänzer extrem undurchlässig. Wesentliche Merkmale dieser Host Bubble waren die physische Distanz zwischen Camp und Dorf und die durch das Konzept von kulturellem community-basiertem Tourismus beeinflusste Touristenauswahl. Bei manchen Besuchern dürfte vor allem das Bild von marginalisierten San im Gedächtnis geblieben sein, andere werden das Camp verlassen haben mit dem Eindruck, dass die San eine heterogene Gruppe sind und keine allgemeinen Aussagen über sie gemacht werden können. Einige Touristen werden das von Garland und Gordon angesprochenen Bild von San auf halbem Weg in einem (westlich verstandenen) Entwicklungsprozess mitgenommen haben. Dabei wird das San-Bild bei einigen stärker durch einen modernen Anteil, bei den anderen durch einen stärker traditionellen Anteil geprägt gewesen sein. Aber da Touristen für gewöhnlich nur einmal in ihrem Leben Treesleeper besuchen, die Gastgeber jedoch regelmäßig Touristen begegnen, ist es wohl wichtiger, nach den Folgen für die Gastgeber zu fragen. Offenbar ermöglicht die Kommerzialisierung der SanKultur im Tourismusprojekt Treesleeper einigen Dorfbewohnern von Tsintsabis, ein Einkommen zu erwirtschaften, sich ihrer Traditionen bewusst zu

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werden, Bräuche wiederzubeleben und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Ein community-basiertes kulturelles Tourismusprojekt kann allerdings nur begrenzt dabei helfen, die Herausforderungen zu bewältigen, denen die San gegenüberstehen.

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D IE TOURIST B UBBLE

DES

»TREESLEEPER C AMPS «

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Sharing and Protecting Der Umgang mit Chancen und Risiken des Tourismus in nordamerikanischen Indianerreservationen M ARKUS H. L INDNER Die Indianer kommen: Vor allem die Kultur der Prärieindianer stößt auf immer größeres Interesse bei Europäern. Dabei sollte man jedoch keinesfalls die heiligen Handlungen der Ureinwohner als Möglichkeit missverstehen, die »eigene Mitte« zu finden oder sich als Heilsbringer für die »armen Indianer« verwirklichen zu wollen. Gerade solchen Besuchern begegnen die Indianer meist äußerst kritisch. (JEIER 2012: 82)

Wie auch bei anderen »exotischen« Reisezielen üblich, ist der »IndianerTourismus«1 geprägt von Stereotypen und dem Wunsch einer gewissen statischen Tradition. Souvenirs und touristische Tanzdarbietungen sind dabei oftmals negativ konnotiert, da sie nicht als authentisch beziehungsweise 1

Ich benutze »Indianer« als Sammelbezeichnung für die indigene Bevölkerung Nordamerikas mit Ausnahme des Polargebietes. Die Nutzung englischer Begriffe wie Native American, American Indian oder First Nation ist aufgrund der regional unterschiedlichen Verwendung nicht zielführend.

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bereits als Zeichen für Kulturverlust angesehen werden. Und auch wenn der zu Beginn zitierte Artikel aus einem Reisemagazin vor falschen Erwartungen warnt, kommt auch er nicht um die Nutzung entsprechender Stereotype herum – vor allem bei den dort verwendeten Bildern (vgl. Jeier 2012). An dieser Stelle soll keine Diskussion über Authentizität geführt werden, doch ist dieser Aspekt für die Begegnung mit der indigenen Bevölkerung Nordamerikas von zentraler Bedeutung. Wie wir wissen, ist Tradition nicht statisch, und so ist zunächst einmal alles authentisch, was der Fall ist. Diese scheinbar banale Einsicht spiegelt sich jedoch nicht zwangsläufig in der Auffassung der Touristen. Besonders bewusst wurde mir dies bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion, an der ich im März 2009 teilnahm. Dabei erzählte einer der Besucher von seinen Erlebnissen im Südwesten der USA, die ich frei wiedergebe: »Ich war in einem Pueblo, und es war schrecklich, dass auf jedem Dach eine Satellitenschüssel stand. Und ein Indianerdorf im Grand Canyon konnte man früher nur auf dem Pferd erreichen, jetzt werden sie dort von Touristen überschwemmt, die mit dem Hubschrauber ins Tal zu dem Dorf fliegen. So geht die Kultur kaputt.«

Der scheinbare Verlust der »wahren« Kultur (ohne Satellitenschüsseln und moderne Transportmittel) scheint demnach die Gemüter zu bewegen, insbesondere wenn diese scheinbar durch die »Ware« Kultur ersetzt wird (vgl. Görlich, in diesem Band). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich in Nordamerika um einen sogenannten Vierte-Welt-Tourismus handelt, also um Reisen zu indigenen Minderheiten eines Nationalstaates. Dies verbindet den »Indianer-Tourismus« beispielsweise mit dem Reiseverkehr zu den Samen in Skandinavien oder den Ainu auf der japanischen Insel Hokkaido. Viele Entscheidungen, die Reservationstourismus betreffen, werden dabei nicht von den Stämmen,2 sondern von staatlichen Stellen getroffen. Aus diesem Grund war der indigene Einfluss auf den Reiseverkehr ins Indianerland bis vor wenigen Jahren gering, und die Stämme konnten nur auf die Reisenden reagieren, statt selbst aktiv zu werden. Dies hat sich in

2

Der Stammesbegriff ist zwar heute in der Sozialanthropologie umstritten, ist aber im regionalen Kontext angebracht, da Stamm (tribe) mehrheitlich die offizielle und selbstbenutzte Bezeichnung ist.

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den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren geändert, und die Stämme handeln zunehmend selbstbewusster. In der Folge möchte ich vor dem Hintergrund allgemeiner Aspekte des Indianer-Tourismus zeigen, wie historisch und aktuell mit den – oft nur gefühlten – Risiken eines solchen Tourismus umgegangen wurde und welche Chancen die indigenen Verantwortlichen darin sehen. Ein weit verbreiteter Grundsatz ist dabei »sharing and protecting«3, ein Motto, das mit der Geschichte des Indianer-Tourismus zusammenhängt, welche deshalb nicht außer Acht gelassen werden kann.

G ESCHICHTLICHER Ü BERBLICK Die Entwicklung des Indianer-Tourismus geht auf eine für den Tourismus überdurchschnittlich lange Geschichte zurück und unterscheidet diesen somit von anderen »exotischen« Reisezielen, die oft erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Urlaubsdestinationen wurden. Mit der voranschreitenden Besiedelung Nordamerikas und vor allem nach dem Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien reisten immer mehr Menschen und trafen dabei absichtlich oder unabsichtlich auf die indigenen Bevölkerungsgruppen. Von Beginn an sammelten sie Souvenirs, und so verwundert es nicht, dass die Bewohner der Nordwestküste schon im frühen 19. Jahrhundert begannen, Argillitschnitzereien4 mit neuen Motiven oder als reine Andenken, wie z.B. nicht funktionierende Tabakspfeifen, zu verkaufen. Etwas früher hatten schon die Huron of Lorette und die Micmac am SanktLawrence-Strom im nordöstlichen Waldland begonnen, die traditionelle Verzierung von Birkenrinde mit Elchhaar an den Geschmack und die Bedürfnisse der weißen Käuferschicht anzupassen. Neben verschiedenartigen Dosen entstanden so Zigarettenschachteln und Nadelkissen. Waren die Elchhaarstickereien piktographisch gestaltet, zeigten sie romantische Szenen vom »edlen Wilden« (Bolz/Peyer 1987: 48; Penney 1991: 62-63; Phillips 1991).

3

Karen Paetz, persönliches Gespräch (14.08.2002).

4

Argillit ist ein schwarzer Tonschiefer, der leicht bearbeitbar ist und sich so zum Herstellen von Skulpturen eignet.

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Abb. 1: Salesroom for Indian Goods

Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Niagarafälle zu einer Touristenattraktion wurden, gehörten Indian Goods selbstverständlich zu den wichtigsten Marketingmitteln. Quelle: Frank Leslie’s Illustrated Newspaper (1879: 171)

Die romantische Entdeckung der wilderness am Ende des 19. Jahrhunderts führte zu einer positiven Neuentdeckung der indigenen Bevölkerung, die nun als schützenswert betrachtet wurde. Die sesshaften Stämme im USamerikanischen Südwesten, denen schon aufgrund ihrer Lebensweise eine gewisse Zivilisation zugestanden wurde, wurden sogar als Beweis einer amerikanischen Geschichtlichkeit angesehen (Hyde 1990: 218-229, Lindner 2002). Die indigenen Kulturen zu erkunden war jedoch kein eigener Reisezweck, sondern Beiwerk des eigentlichen Reiseziels, der Landschaft. Dies galt sowohl für die Niagarafälle ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als auch für den Yellowstone und den Glacier Nationalpark, aber einige Jahrzehnte später auch für den gesamten Südwesten der USA. Zugleich störten die Bewohner aber auch das Bild der unberührten Natur und wurden deshalb beispielsweise gewaltsam aus dem kalifornischen Yosemite Park vertrieben (Keller/Turek 1998: xi, 21-22). Zudem blieben auch die Begegnungen von Touristen mit Indianern nicht immer ohne Zwischenfälle. So wurden 1877 zwei Reisegruppen in der Nähe der Fälle des Yellowstone River von auf der Flucht befindlichen Nez Percé überfallen, wobei es mehrere Tote und

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Verwundete gab. Keller und Turek (1998: xi) bezeichnen diese Ereignisse als »ill-omened beginning for the relationship between the national parks and American Indians«. Die Entwicklung war eine Folge der neuen Zugverbindungen, die zwischen 1860 und 1890 gebaut wurden und die an die Pazifikküste führten. Mehr und mehr Reisende nutzen diese Chance, um die Naturschönheiten des Westens zu sehen, und so entwickelte sich die tourist frontier rasant. In der Regel fühlten sich die wohlhabenden Reisenden von den verwahrlosten Indianern belästigt, die an den Strecken und auf den Bahnsteigen versuchten, Töpferwaren, Körbe und Schnitzereien zu verkaufen, was zwischenzeitlich zu einem negativen Indianer-Stereotyp führte. Aus diesem Grund taten die Eisenbahngesellschaften zunächst alles, um zu verhindern, dass die Reisenden durch Indianer gestört würden, was sich Anfang des 20. Jahrhunderts änderte. Nun hatten vermehrt Reisende den Südwesten der USA zum Ziel, weil sie durch die Landschaftsgemälde der Künstlerkolonie in Taos, New Mexico, angelockt wurden. Schon 1907 entstand durch kostenlose Jahreskalender der Santa Fe Railroad der sogenannte »Santa Fe Indian«: »What the artist did for the landscape, the Santa Fe calendar did for the Indian. The calendar alerted the public to the existence of the railroad and of Indian culture in the Southwest. The calendar had predominately Indian theme, generally romantic, that was illustrated by original works from the newly established Taos and Santa Fe artists’ colonies. Hundreds of thousands of calendars found their way into school, businesses households, and onto Santa Fe railway stockholders’ walls. The ›Santa Fe Indian,‹ who dominated the calendar, came into being. This Indian possessed an aura of glamour. An intangibility. An ineffable essence. The idea was to present a radiant image of Indian life.« (McLuhan 1985: 19)

Von nun an warben die Eisenbahngesellschaften, die zugleich Hotels betrieben, mit den indianischen Kulturen im Südwesten, zählten Dörfer an den Strecken auf und erklärten Bräuche und Traditionen. Ebenso wie diese Unternehmen warb auch die Fred Harvey Company mit Indianern und ihren Produkten. Sie bot ab den 1920er Jahren sogenannte Indian Detours an – geführte Ausflüge zu Pueblos und anderen Orten. Schon zwanzig Jahre zuvor wurden Tanzgruppen zur Unterhaltung der Reisenden engagiert und Souvenirläden eingerichtet, die nicht nur den Bedarf vor Ort deckten, son-

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dern das Kunsthandwerk über Versandkataloge US-weit vertrieben (Hyde 1990: 235, 240-242, Lujan 1993: 109, Pitts/Guerin 1998: 185-186, Sweet 1991: 60-61). Abb. 2: Snake Dance im Acoma Pueblo

Zeremonien wie hier der Snake Dance im Acoma Pueblo, New Mexico (ca. 1900), waren schon früh eine große Besucherattraktion, wie man auch an den Besuchern im Bildhintergrund erkennen kann. Quelle: Library of Congress

Für die betroffene indigene Bevölkerung war der Tourismus ein zweischneidiges Schwert. So informativ die Touren für die Reisenden waren und so sehr die »indianische« Tradition dadurch positiv vorgestellt wurde, vermieden es die Anbieter jedoch, negative Aspekte des Lebens wie Alkoholmissbrauch, Krankheiten oder ähnliches zu erwähnen. Die Darstellung war dadurch einseitig positiv gefärbt: »By carefully excluding evidence of the harshness of human existence, the Santa Fe created a romantic and onedimensional view of Indian life and the Southwest landscape. […] The Indian was promoted as an item to be consumed by the tourist.« (McLuhan 1985: 44) Von der Vermarktung des Kunsthandwerks als Touristenprodukte profitierten aber auf den ersten Blick beide Seiten. Die Touristikunternehmen steigerten ihren Umsatz und ihr Prestige und die indigenen Gemeinschaften

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und Künstler erhielten finanzielle Unterstützung, während zugleich das Ansehen der Produkte stieg und sie zu begehrten Sammlerobjekten und schließlich zu Kunst wurden (ebd.: 44-45). Nicht alle Sammler aber wollten in den Südwesten reisen und Indianern begegnen. Sie gaben sich dann mit »virtuellem Tourismus« zufrieden, den beispielsweise Grace Nicholson schon seit dem frühen 20. Jahrhundert anbot. Zusammen mit Produkten aus anderen Regionen vertrieb sie das Kunsthandwerk aus dem Südwesten über Kataloge in den ganzen USA. Ihre Kundschaft bestand vor allem aus wohlhabenden Frauen von der Ostküste, die weder an Indianern noch am unkomfortablen Reisen interessiert waren. Stattdessen suchten sie nur Navajo-Decken oder Töpferware aus den Pueblos (Bsumek 2003: 133). Im Verkauf und Marketing verband Nicholson die Gegenstände mit Fotos und eigenen Berichten und schuf so eine Geschichte, um die gewünschte Authentizität nachzuweisen und die Wünsche der Mittel- und Oberschicht zu befriedigen (ebd.). Da die Nachfrage auch alte Objekte umfasste, hatte der Kunsthandwerksmarkt neben den oben genannten positiven Auswirkungen aber große Nachteile für die Herkunftsgruppen. So verschwanden zum Teil in kurzer Zeit Zeremonialobjekte vollständig aus den Ursprungskulturen und mussten bei Bedarf von Missionaren oder Händlern geliehen werden. In ihrem Artikel über den Konsum von indianischen Objekten aus dem Südwesten rekapituliert Erika Marie Bsumek deshalb, dass »the consumption of Indian-made goods […] worked to deprive southwestern Indians of some of their most important cultural vessels« (Bsumek 2003: 136). Parallel zu dieser Entwicklung wurden Indianer nun nicht mehr stereotyp als Einheit betrachtet, sondern man zwischen den sesshaften und somit quasi »zivilisierten« und den anderen, ehemals nomadisch lebenden Stämmen unterschied. Anne Farrar Hyde (1990: 231) stellt fest, dass die »idealen« Indianer zu dieser Zeit nach weißen Regeln in der Reservation lebten, aber noch genug ihrer Kultur bewahrt hatten, damit sie erkannt und romantisiert werden konnten. Schlecht war es dagegen, zu weiß oder »unzivilisiert« zu sein: »White Americans wanted to celebrate the Indians for their ancient culture and for their ability to live in the wilderness, but they wanted Indians to fulfill this role on white terms« (ebd.).

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INDIANER

UND

T OURISMUS HEUTE

Es war also schon früh so, dass die Besuchten den Vorstellungen der Besucher entsprechen mussten. Wie auch das eingangs angeführte Zitat aus der Podiumsdiskussion zeigt, muss man davon ausgehen, dass sich in einhundert Jahren nicht viel an der Einstellung einiger Touristen geändert hat. In Bezug auf die Vermarktung indianischer Kulturen scheint sich ebenfalls nicht viel gewandelt zu haben. Beschränkte sich diese schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen auf Tänze und den Verkauf von Kunsthandwerk, so ist dies auch heute eine wesentliche Einnahmequelle von Indianern im Tourismusgeschäft.5 Im Gegensatz zu früher sind es aber heute die Stämme selbst, die sich und ihre Kultur vermarkten. Den politischen Strukturen entsprechend sind sie zwar auch integraler Bestandteil des Tourismusmarketings der Bundesstaaten, doch bestimmen sie die zu vermittelnden Inhalte heute mehr und mehr selbst. Die daraus resultierenden Vorteile wurden in den 1980er Jahren vor allem aus ökonomischer Perspektive betrachtet: »For some reservations, the tourist trade seems to offer the greatest potential for economic development and attracting income. Even in cases where tourism is not likely to become a major source of tribal income, it may serve as a supplement to other revenue sources. By controlling the tourism development of their reservations, Indians have the opportunity to assert a measure of economic independence as they capitalize on two of their most valuable assets—the natural beauty of their lands and their Native American cultural traditions.« (Browne/Nolan 1989: 361)

Der Kulturgeograph Bertram Postner stellt allerdings fest, dass zu häufig Touristen als »lästiges Übel« wahrgenommen werden, statt sie als Einnahmequelle zu betrachten (2002: 142). Zugleich weist er darauf hin, dass Tourismusprojekte nicht immer von Erfolg gekrönt sind:

5

Ich schließe in der Betrachtung die indianischen Spielkasinos aus, da sie zwar Tourismuseinnahmen produzieren, die Spieler aber in der Regel ohne Bezug zur Kultur der Eigentümer dorthin gehen. Sie sind insofern nur bedingt in die Kategorie »Indianer-Tourismus« zu fassen.

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»Das Ausbleiben eines schnellen Erfolgs hat nicht wenige Stämme frühzeitig desillusioniert und Frustration, Resignation sowie Desinteresse ausgelöst. […] Auf einigen Reservationen hat die Zuwendung zum Tourismus die Situation sogar verschlechtert statt verbessert. Die Ursachen für den mangelnden Erfolg bzw. Misserfolg liegen meist in der fehlenden oder unangepassten Planung begründet sowie einer unrealistischen Erwartungshaltung.« (Postner 2002: 139)

Ende der 1990er Jahre war schon ein Tourismusboom absehbar, für den Lew und Van Otten empfahlen, dass der beste Schutz vor den negativen sozialen Auswirkungen, die eigenständige Beteiligung am Reisegeschäft sei: »In the decades to come, tourism will have an increasing presence on Native American reservations, and in the entire world. Simultaneously, tribes will continue to be expected to achieve greater independence and self-reliance from the federal government. Under these circumstances, it is unlikely that reservations can address tourism issues with the same degree of ambivalence as many have in the past. If they continue to ignore tourism, off-reservation communities will gain the greatest economic benefits from Indian tourism, while reservation residents will still have to deal with tourism’s unintended social impacts.« (Lew/Van Otten 1998: 220)

Mit diesem Bewusstsein gründete das United Tribes Technical College in Bismarck, North Dakota, im Jahr 2001 die Tribal Tourism Initiative, die es ermöglichen sollte, in Reservationen einen nachhaltigen und erfolgreichen Tourismus zu bertreiben. Karen Paetz, die damalige Leiterin des Programms, bezeichnete 2002 »sharing and protecting« als die Grundlage ihrer Tourismusausbildung (siehe Fn. 3). Dabei beinhaltete sharing die Vermittlung von historischen und kulturellen Inhalten durch die Stämme selbst, protecting dagegen meinte den Schutz vor negativen Einflüssen durch die Touristen – nicht so sehr den Tourismus als solchen. Hintergrund des Programms an dem intertribalen College war das damals bevorstehende 200jährige Jubiläum der Lewis-und-Clark-Expedition, der ersten Regierungsexpedition, die einen Landweg an den Pazifik finden sollte. In die nationale Vermarktungsstrategie waren auch alle Stämme eingebunden, die entlang des neu geschaffenen »Lewis & Clark Trail« lagen und Kontakt mit der Expedition gehabt hatten. Den Stämmen bot sich so die Chance, im Rahmen des mit einem hohen Budget geförderten Jubilä-

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ums ihre Kulturen und die Geschichte aus eigener Sicht vorzustellen, während das allgemeine Marketing ausschließlich historisch auf das Jubiläum ausgerichtet war.

K ATEGORIEN

DES INDIANER -T OURISMUS

Bevor ich mich dem »sharing and protecting« zuwende, scheint mir ein kurzer Blick auf die verschiedenen Arten des Tourismus in Reservationen wichtig. Neben dem an dieser Stelle ausgeklammerten Glückspieltourismus (siehe Fn. 4) wird vor allem Ökotourismus und vereinzelt auch Erholungstourismus angeboten, z.B. das Ski-Resort der Mescalero Apache in New Mexico. Den größten Umfang macht aber der Kulturtourismus (cultural tourism, cultural heritage tourism) aus, der fünf Aspekte umfasst: darstellende Künste, bildende Künste und Kunsthandwerk, Feste, Museen und Kulturzentren, historische Stätten und Informationszentren (Novie/Joppe 2005: 3). Erikson betont, dass bei Indianer-Tourismus auch heute noch Exotik und ein romantisiertes Bild eine wichtige Rolle spielen: »By cultural tourism I intend to refer to geographic pilgrimages where the attraction is an ›other‹ that is somehow distanced and exotic in comparison to the traveler. Embedded in this endeavor is a romantic notion of a culture as a pristine, bounded people. In this formulation, the pilgrim’s objective is to view this culture, gain insights into it, and demonstrate this encounter by collecting it in some way.« (Erikson 2003: 251)

Eines der großen Probleme des Indianer-Tourismus ist, dass selbst im stark besuchten Südwesten oft nicht die Reservationen oder Pueblos vom Reiseverkehr profitieren, sondern die »weißen« Nachbarorte, in denen die Besucher übernachten und einkaufen. Die betroffenen Stämme reagieren darauf, wenn möglich, in dem sie selbst Einkaufszentren, Übernachtungsmöglichkeiten (Motels, Hotels, Campingplätze) und ähnliches errichten (Turco/ Riley 1998: 172, 177). Kontrollieren die indigenen Gemeinschaften das Geschäft, wird in der Regel von Aboriginal/Native Tourism gesprochen. In der Regel beinhaltet diese Art des Tourismus Tänze, Musik, Geschichtenerzählen, die Vermittlung von Geschichte aus eigener Sicht und Essen.

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Zwar bieten viele Reservationen auch Naturerlebnisse, Jagd und Fischen an, doch wird dies im Allgemeinen nicht zu Native Tourism gezählt (Research Resolution & Consulting Ltd. 2004: 26, Turtle Island Tourism Company 2006: 20). Von den finanziellen Ressourcen, der geographischen Lage und stammesinternen Entscheidungen ist es abhängig, in welcher Form sich das Angebot entwickelt. Schon vor dem Kasinoboom der 1990er Jahre reichte es vom sogenannten Full Scale Resort Development mit Resorts wie dem Apachi Ski Resort oder Dem Kah-Nee-Ta Resort auf der Warm Springs Reservationen (Oregon) bis zum Special Event Tourism, der beispielsweise ausschließlich Powwows (Tanzfeste) und Zeremonien umfasst (Browne/ Nolan 1989: 365-367). Protecting Dass bei dem Ausbau von Tourismusprogrammen über das Lewis-undClark-Jubiläum hinaus gedacht wurde, war für die Verantwortlichen beispielsweise in der Standing Rock Indian Reservation selbstverständlich (Lindner 2007). Genauso wichtig war es aber auch, den möglichen negativen Auswirkungen von vornherein entgegenzuwirken und dabei die Skeptiker unter den Reservationsbewohnern einzubinden. Diese sahen in Touristen vor allem Diebe, die am Ufer des Missouri Gräber schänden würden – ein Vorurteil, dass fern der Realität war, wie mir der damalige Stammesarchäologe Byron Olson bestätigte.6 Durch Features im Reservationsradio KLND 7 und öffentliche Diskussionsveranstaltungen wurden der Reservationsbevölkerung die Vorteile des Tourismusprogramms auch für die eigene Infrastruktur vermittelt. Postner nennt diese Einbindung der Bevölkerung »Schaffung eines touristischen Wir-Gefühls« und sieht sie als Grundlage für eine Umgebung, in der »sich Besucher auch wohlfühlen« (Postner 2002: 147). Im Jahr 2004, als das Jubiläum Standing Rock erreichte, war dort jede öffentliche Skepsis ver-

6

Persönliches Gespräch (2002).

7

Für das Akronym KLND gibt es keine hinreichende Erklärung. »LND« steht nach Aussage eines ehemaligen Moderators für »Lakota, Nakota, Dakota«. Für das »K« gibt es keine mir bekannte Interpretation.

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schwunden, was jedoch sicher auch am eher überschaubaren Reiseverkehr lag, der weit von den Millionenprognosen für das bicentennial entfernt war. Dass die Befürchtungen jedoch keineswegs unberechtigt waren, zeigt eine Studie von Turco und Riley (1998:178), in der sie nachweisen, dass mit steigendem Reservationstourismus Verbrechen gegen Touristen, Alkoholismus, Schmuggel und allgemeine Spannungen zwischen Besuchten und Besuchern zunehmen. Die eigene Kontrolle über den Reiseverkehr hilft jedoch, den sozialen und ökonomischen Nutzen und den Erhalt der eigenen Kultur sicher zu stellen. Dabei verlangt nachhaltiger Tourismus eine frühzeitige Festlegung auf die Frage, was geteilt und was geschützt werden muss (Sweet 1990, Turtle Island Tourism Company 2006: 19). Innerhalb der Gemeinschaften gibt es diesbezüglich oft erhebliche Differenzen. Die Entscheidungsträger in den Reservationen sind sich aber meist der positiven und negativen Aspekte bewusst. In der Regel sehen sie Tourismus aber als ökonomisch nützlich und nur bedingt gefährlich an (Rock 1992: 300, 302, Browne/Nolan 1989: 370-371). In Taos Pueblo stellte Lujan (1993: 118) Anfang der 1990er Jahre fest, dass hier die jüngeren Bewohner skeptisch waren, während ältere dem Tourismus aufgeschlossen gegenüberstanden. Visitor Etiquette Der Südwesten war wie schon oben erwähnt, die erste Region, in der die indigene Bevölkerung der USA mit größeren Besuchermassen zu tun hatte. So verwundert es nicht, dass dort (und früher als dies in anderen Regionen der Fall war) Maßnahmen gegen negative Einflüsse auf die indigene Gemeinschaft entwickelt wurden, die den Besuchern auch aktiv vermittelt wurden: »They must protect their homes, villages, and activities from becoming tourist attractions, and they must develop ways to control the flow of visitors and place limits on how far ›backstage‹ those visitors may roam. The Pueblo people of New Mexico and Arizona appear to be actively setting such limits. The entrance to a Pueblo Indian reservation is marked by one or more signs listing the village’s regulations for visitors. Typically these signs prohibit photography, sketching, and notetaking, and some set a village curfew for visitors. Sometimes portions of a village are marked as being off-limits to visitors, and an entire village

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might be temporarily closed during certain ritual occasions, a limitation that might even be enforced by armed guards at the village entrance. The Pueblo village officials are very serious about their rules and vehemently enforce them. Violators might be fined, have their film confiscated, or be escorted out of the village. When visitors set foot onto a Pueblo reservation, they must accept a new set of rights and obligations.« (Sweet 1990)

Inzwischen gibt es solche Regeln nahezu in jeder Reservation, auch wenn die Vermittlung auf jeweils unterschiedliche Weise erfolgt. Erstaunlicherweise werden die Einschränkungen und Vorschriften von den Reisenden in der Regel meist nicht ablehnend wahrgenommen. In Pueblos werden sie sogar im Gegenteil als Merkmal von Authentizität betrachtet (ebd., 1991: 70). Verallgemeinern lässt sich diese Beobachtung allerdings nicht. In Kanada werden Reservate als negativ wahrgenommen, wenn es Warnschilder gibt, und bereits eine sinnbildliche »welcome mat« löst ein positives Gefühl bei den Besuchern aus (Research Resolutions & Consulting Ltd. 2004: 16-18). Die oft Visitor Etiquette genannten Informationen fallen heute in einigen Reservationen mehrseitig aus, während sie an anderen Orten gar nicht existieren. Im Südwesten, wo sie entstanden waren, sind sie in der Regel kurz gefasst. Sie unterliegen aber einem stetigen Wandel, der momentan in die Richtung einer sprachlichen und inhaltlichen Verschärfung zu führen scheint. So umfasst beispielsweise die Internetseite des Indian Pueblo Cultural Center, auf der gemeinsame Rules of Etiquette für die 19 Pueblos publiziert sind, momentan 17 Punkte; von dem Tipp, vor dem Besuch nach Öffnungszeiten zu fragen, bis zum Verbot von Alkohol und dem Hinweis, dass Film- und Fotokameras konfisziert werden können (Indian Pueblo Cultural Center nd. b). Vergleicht man diese Version mit einer älteren von etwa 2006 (Indian Pueblo Cultural Center o.J. a), fällt nicht nur der gewachsene Umfang auf, sondern auch eine sprachliche Veränderung. Es wird mehr erklärt, und es werden religiöse Argumente genannt. Letztlich wird sogar gedroht. So wurde aus »Do not litter« (Indian Pueblo Cultural Center o.J. a) »Nature is sacred on the Pueblos. Littering is strictly prohibited« (Indian Pueblo Cultural Center o.J.. b), und aus »Always ask permission before photographing residents of the pueblo« (Indian Pueblo Cultural Center o.J. a) wurde folgende Formulierung:

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»Most Pueblos require a permit to photograph, sketch or paint on location. Some Pueblos prohibit photography at all times. Please check with the Tribal Office for the permitting process before entering the Pueblo. Once a permit is obtained, always ask for permission before taking a photograph of a tribal member. REMEMBER: cameras and film can be confiscated.« (Indian Pueblo Cultural Center nd. b; Hervorhebung im Original)

Sharing Dass restriktive Vorschriften nicht nur positive Gefühle hervorrufen zeigt eine Untersuchung von Laxson, die herausgefunden hat, dass nur etwa ein Drittel der Museumsbesucher im Südwesten der USA auch Pueblos besuchen. Der Rest fühlt sich dort nicht willkommen (Laxson 1991: 367). Es scheint also eine Hemmschwelle zu geben, die überwunden werden muss. Diese hängt offenbar auch mit dem Gefühl zusammen, sich gegenüber Indianern falsch verhalten zu können, und diese so zu verärgern. Das North Dakota Humanities Council geht deshalb in seinem Informationsbüchlein »A Lewis and Clark Chapbook« (2002), das in Frage-undAntwort-Form geschrieben ist, gezielt auf dieses Problem ein (alle Hervorhebungen im Original): »How welcome are visitors on the Indian reservations today? Most welcome. The Indians of North Dakota are eager for you to spend time in their communities. They see the Lewis and Clark Bicentennial as an opportunity to show you their communities, and to tell their versions of the Lewis and Clark story and American history. Just remember that when you enter an Indian reservation, you are now the guest.« (Jenkinson 2002: 19) »How can I avoid offending the Indians I meet? Be humble. Bring an open mind. Try to set aside the preconceptions you have about Indians. Ask respectful questions. When in doubt, ask. Remember that Indians are your fellow Americans, but they are also members of tribal nations. Try remember that Indians frequently see things differently from their white counterparts. Keep in mind that the Indian nations were in America long before Columbus or your ancestors. […] All this may sound daunting. But it need not be. When you are on a reservation or in a setting that includes Indians, try to behave as you would if you were staying in the

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private home of someone you do not know well. Use good sense. Err on the side of politeness. If you follow this simple code of behaviour you will almost certainly have an extremely satisfying experience and be treated with real generosity on Indian reservations.« (Jenkinson 2002: 21-22)

Oftmals stehen die Kontrolle der Besucher und die Offenheit in engem Zusammenhang. Die meisten Reservationen und Pueblos haben Begrüßungsschilder an den Grenzen oder an Einrichtungen wie beispielsweise am Makah Cultural and Research Center (Washington): »Welcome to this house, all of you who have traveled near and far. Welcome to our beach; we tie up your canoe.« (zitiert nach Erikson 2003: 526) Auch auf öffentliche Veranstaltungen und Zeremonien wird gezielt hingewiesen. Im Informationszentrum von Zuni Pueblo erhalten Besucher nicht nur eine filmische Einweisung und kulturelle Informationen, sondern zu Shalako, einem Fest, das im November/Dezember stattfindet, auch eine detaillierte Karte mit den Veranstaltungsorten. Diese ist nicht nur ein hilfreicher Wegweiser, sondern schützt zugleich davor, dass sich die Besucher an Orte begeben, die für sie gesperrt sind. Zentren wie das der Zuni sind häufig der zentrale Ort in Reservationen, an dem Touristen Informationen über die Kultur und Geschichte aus Sicht des Stammes erhalten können. Sie haben dabei meist eine Doppelwirkung nach innen und außen. Das Mashantucket Pequot Museum and Research Center (Connecticut), das durch das Kasino des Stammes finanziert wird, trägt beispielsweise wesentlich zum Nachweis historischer Kontinuität des bis vor wenigen Jahren fast verlorenen Stammes bei (Bodinger de Uriarte 2003: 550). In der »Indian Bowl« der Lac du Flambeau Chippewa (Wisconsin) finden seit Mitte des 20. Jahrhunderts Tanzaufführungen für Touristen statt, wodurch diese wesentlich zum Erhalt dieser Tänze beigetragen haben (Nesper 2003: 464). Das Makah Cultural and Research Center (Washington) beinhaltet nicht nur ein Museum, sondern ist zugleich Bibliothek und Lernort für Kunsthandwerk und Sprache (Erikson 2003: 524). Museen und Kulturzentren dienen also nicht nur der Information der Besucher, sondern sind auch Element der eigenen Bildung und der Erhaltung von Kultur und Geschichte. Ab den 1960er Jahren in Reservationen aufgebaut sind indigene Museen heute auch Kontaktzonen. Besucher können hier ungestört und ohne Angst vor Fehlverhalten der fremden Kultur

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gegenübertreten (Erikson 2003: 526-527, Mauzé 2003: 514, Turtle Island Tourism Company 2006: 20). Einen anderen Weg geht beispielsweise der Standing Rock Sioux Tribe (North/South Dakota). Zwar ist auch dort ein Besucherzentrum geplant, doch konzentrierten sich die im Vorfeld des Lewis & Clark Bicentennial begonnenen Tourismusmaßnahmen vor allem auf die Errichtung des Standing Rock National Native American Scenic Byway. Entlang der Straße liegen u.a. das Sitting Bull Memorial, die Rekonstruktion eines historischen Pelzhandelsforts (Ft. Manuel Lisa), die Twin Buttes und der Lewis & Clark Legacy Trail, ein Naturlehrpfad. All das soll dazu dienen, durchreisende Touristen in der Reservation zu halten. Zusätzlich wurden im Mai 2010 in den beiden stammeseigenen Spielkasinos Informationscomputer aufgebaut, welche die Spieler auch in die anderen Gebiete der Reservation locken sollen. Zeitgleich wurden an den Sehenswürdigkeiten Informationstafeln aufgestellt (Abb. 3), über die sich die Reisenden informieren können (Sitting Bull College & Standing Rock Sioux Tribe 2001, Standing Rock Tourism 2012, Standing Rock National Native American Scenic Byway 2008, Standing Rock National Native American Scenic Byway o.J., Lindner 2007: 109-129). Abb. 3: Informationstafeln entlang des Native American Scenic Byway

Informationstafeln, anhand derer Touristen die Standing Rock Reservation selbst erkunden können, finden sich in dieser Reservation entlang des gesamten Native American Scenic Byway. Foto: Markus H. Lindner, 2010

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Das gewachsene Selbstbewusstsein, sich selbst repräsentieren zu können, zeigt sich auch in Bezug auf nicht-indianische Touristenattraktionen. Im Tal des Yosemite Nationalpark ist nicht nur ein Miwok-Dorf rekonstruiert, sondern es gibt auch eines der ältesten Nationalparkmuseen, in dem die Kultur der Ureinwohner dargestellt wird. Darüber hinaus gibt es umfangreiche Literatur zu den »Yosemite Indians« und einen kleinen Laden mit Kunsthandwerk. Da im Großen und Ganzen aber die zwanghafte Vertreibung der Einwohner ab den 1850ern ausgespart wird, verlangen die Nachfahren der früheren Bewohner heute, dass ihre Geschichte im Museum korrekt wiedergegeben wird – ein Anspruch, der lange Zeit nicht artikuliert wurde (Keller/Turek 1998: 22). Öffentliche Veranstaltungen Öffentliche Zeremonien wie den Shalako der Zuni gibt es nicht überall. Auf Standing Rock gibt es beispielsweise nur eine Reihe von lokalen Powwows, die beworben, aber nur selten von Touristen besucht werden. In anderen Regionen sind solche Tanzveranstaltungen jedoch große Besuchermagnete. Wie schon der Hopi Snake Dance zu Beginn des 20. Jahrhunderts, werden auch heute noch insbesondere im Südwesten der USA Zeremonien durchgeführt, die nur unter Beschränkungen für Besucher zugänglich sind. Wie groß der Andrang ist und wie damit umgegangen wird, zeigt Jill D. Sweet eindrucksvoll in ihrem Artikel »›Let ‘em Loose‹. Pueblo Indian Management of Tourism«: »While the number of tourists attending the 1988 prelude performance was typical of past years, the dawn ceremony on the following day attracted approximately 250 tourists – more than twice the number I had observed in previous years. The increase was probably due to the fact that in 1988 the event fell on a Saturday and the weather was relatively mild. Apparently, the village officials were prepared for the increase with an elaborate system of control. As car after car entered the pueblo, drivers were directed to park by the church on the west side of the village. There the tourists sat waiting; a village official with a megaphone repeatedly told them they must remain in their cars. Through a series of signals from the performers in the eastern hills, the message was relayed to the church lot that the ceremony was soon to begin and the tourists could now leave their cars. I could hear officials calling to each other, ›OK, let ’em loose, let ’em loose!‹ In moments, all the tourists were out

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of their cars and walking to the east side of the village. When they reached the base of the eastern hills, they were directed to stand at one side of the road while all the San Ildefonso Pueblo people stood on the other side. Surprisingly, although a few tourists found the entire situation amusing and some commented on feeling like cattle being herded to pasture, I did not hear any serious complaints about these measures taken to control them.« (Sweet 1991: 69)

Die Bewältigung der Besuchermassen, die wie eine Kuhherde ins Pueblo geführt werden, ist dabei nur ein Aspekt solcher Veranstaltungen. Viele Besucher unterscheiden nämlich nicht zwischen religiösen, sozialen oder touristischen Veranstaltungen. Oftmals sehen sie Zeremonien und Powwows gleichermaßen als »entertainment« (Research Resolutions & Consulting Ltd. 2004: 21) oder »show« (Laxson 1991: 370) an. Evans-Pritchard (1989: 92-93, 95) geht noch weiter und bezeichnet Touristen als ignorant und uninformiert. Ihrer Ansicht nach sehen sie nur das, was sie sehen wollen. Wenn zu viele von ihnen bei einer Veranstaltung anwesend sind, dann nehmen sie diese wiederum als inauthentisch wahr (Laxson 1991: 369). Kunsthandwerk Die oftmals unreflektierte Sichtweise von Touristen spielt auch bei Souvenirs beziehungsweise im Bereich des Kunsthandwerks eine große Rolle. Ebenso wie die Bewohner des nordöstlichen Waldlandes und die der Nordwestküste schon vor 1800 begonnen hatten, neue Formen zu schaffen, um den Markt zu bedienen, so webten die Navajo beispielsweise im späten 19. Jahrhundert statt mit Naturfarbe gefärbte Decken Teppiche, die sie mit stärkeren, chemischen Farben behandelten (Hyde 1990: 227). Die Ware war also einem bewussten Prozess der Veränderung und Anpassung unterworfen. Heute verlangen die meisten Reisenden, die es sich finanziell leisten können, nach »authentischen« Produkten. Dies gilt insbesondere für den Südwesten der USA, wo sie immer eine besondere Rolle gespielt haben, wie Leah Dilworth feststellt: »Indian arts and crafts have signified authenticity to generations of non-Indian Americans and are a vital part of the region’s economy« (Dilworth 2003: 105). Insbesondere die Idee der Handarbeit wird dabei als besonders authentisch wahrgenommen und verursacht »a kind of willful blindness, a fantasy

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of the auratic magic of such objects« (ebd.: 107). Die Produzenten sind sich der Bedürfnisse der Kunden bewusst und bedienen deren Wünsche gerne, wenn es dem Verkauf dient. Dass manche Künstler reine Ziersymbole mit Geschichten versehen (Evans-Pritchard 1989: 95) um die Erwartungen der Käufer zu erfüllen, erklärt Dilworth mit einem ethnographischen Bedürfnis: »This expectation may derive from the ethnographic approach to objects as metonymic or representative of cultures […], but it also suggests a fantasy of playing Indian: the tourist can reanimate the object by retelling the Indian’s story.« (Dilworth 2003: 107; Hervorhebung im Original)

Eine Reaktion auf den Anspruch auf Authentizität ist seit 1935 die gesetzliche Regelung der Frage, was »indianisch« ist und was nicht. Auch wenn sein Ziel der Schutz indianischer Kunst ist, ist der Indian Arts and Crafts Act (Indian Arts and Crafts Board o.J.) als paternalistisches Instrument durchaus umstritten. Er ist ein Zeichen der amerikanischen Bürokratie, in der die indigene Bevölkerung als »Domestic dependent nations« (U.S. Supreme Court 1831) lebt. Zwar verhindern weder das Gesetz noch die späteren Anhänge und Erläuterungen Innovationen, doch sind die Folgen bedeutend. Die Federal Trade Commission legt im gesamten Südwesten Broschüren aus, die Reisenden erläutern, »How to Buy Genuine American Indian Arts and Crafts«. Darin wird nicht nur darauf hingewiesen, wo man kaufen soll und auf welche Label man achten muss, sondern es wird auch detailliert auf verwendete Materialien und Techniken eingegangen (Federal Trade Commission 2006). Zwar ist der primäre Zweck, Touristen und Produzenten, deren Einnahmen sonst gefährdet sind, vor Fälschungen zu schützen, doch ist die strenge Reglementierung nicht unumstritten. Dilworth hebt besonders das Problem hervor, dass das Gesetz genau vorschreibt, wer als Indianer angesehen werden kann und wer nicht. Dabei gilt vor allem die in den USA gängige Definition über Blut, die über das Produkt gestellt wird, als diskriminierend: »In the ethnic art market, Indian blood signifies the inescapable, the natural—and the market’s demand for it naturalizes tradition as a kind of timeless inheritable magic. For most of this century Indian artists and artisans have not been recognized as historical agents; instead the market insists that they do what they do naturally

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and that artists, dealers, and collectors are participating not in real market, but in a kind of benign magical exchange, in which a mystical essence that has rubbed off on the object from the caress of an Indian hand can be accumulated by the buyer. In these exchanges, the object of desire represents continuity and perhaps a connection with an imagined ›other‹ and past. This continuity is represented by a racial notion of tradition rather than by any notion of tradition as a function of human history, as a process that is complicated by conflict and disruptions.« (Dilworth 2003: 112)

Bei der Ausarbeitung des Gesetzes hätte man aus Erfahrung lernen können. In den 1980er Jahren sollten für den Verkauf unter den Arkaden des Museum of New Mexico (Abb. 5) in Santa Fe neue Regeln eingeführt werden, die die Authentizität der Produkte sichern sollten. Abb. 4: Tanzausrüstung im Museum des Yosemite Nationalparks

Chris Brown (Chief Lemee, 1900-1956), ein im Yosemite Valley geborener Miwok, tanzte ab den 1920er Jahren für Parkbesucher. Seine Tanzausrüstung begrüßt heute die Besucher im Museum des Nationalparks. Foto: Markus H. Lindner, 2008

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Dies führte zu Protest einiger der Künstler, da plötzlich Materialvorgaben gemacht und die Benutzung der Töpferscheibe verboten wurden. Zudem durften nur noch Angehörige bestimmter Stämme dort verkaufen. Die Künstler befürchteten nicht nur die Bevorzugung einzelner Familien, sondern sahen auch keinen Raum mehr für Innovationen, da sogar Stile und Muster eingeschränkt wurden (Sweet 1990). Deirdre Evans-Pritchard sieht gerade diese Reglementierung als Verfälschung, da technologischer Fortschritt und stilistische Änderungen unterbunden werden. Aus ihrer Sicht sind die Produkte dadurch heute im negativen Sinne authentischer als sie es je zuvor waren (Evans-Pritchard 1987: 294). Abb. 5: Die Arkaden des Gouverneurspalastes in Santa Fe, New Mexico

Die Arkaden des Gouverneurspalastes in Santa Fe, New Mexico, sind eine der wichtigsten Verkaufsstellen von indianischem Kunsthandwerk im Südwesten der USA. Im Gegensatz zu manchem Geschäft in der Stadt kann man hier als Käufer davon ausgehen, dass die Produkte wirklich von Indianern hergestellt werden. Foto: Markus H. Lindner, 2010

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Unbestritten beeinflussen Tourismus und Touristen – und auch der Kunstmarkt – das Kunsthandwerk der indigenen Bevölkerung Nordamerikas (Lew/Van Otten 1998: 217, Turco/Riley 1998: 180-181), doch ist es offensichtlich der beabsichtigte Schutz vor Verfälschung, der dazu führt, dass im Bereich des Kunsthandwerks eine große Gefahr der Bildung von Stereotypen (Turtle Island Tourism Company 2006: 20) und zur Musealisierung von Kultur (Lew/Van Otten 1998: 218) besteht.

B ESUCHER

UND

B ESUCHTE

Bei allen Aspekten spielt das Verhältnis zwischen den Besuchern und den Besuchten eine große Rolle. Meist ist es vor allem für die Gastgeber ein ambivalentes: Touristen stören, bringen aber Geld und können sogar kulturell hilfreich sein, indem sie beispielsweise Handwerksprodukte kaufen oder Tänze anschauen, für deren Aufführung es sonst keinen Grund mehr gäbe (Browne/Nolan 1989: 361, Evans-Pritchard 1989: 100, Turtle Island Tourism Company 2006: 19). Trotz der beschriebenen Verhaltenshinweise für Reisende verhalten sich diese natürlich nicht immer »korrekt«. Evans-Pritchards Beobachtung nach gelingt es den Indianern im Südwesten der USA, mit Verfehlungen von Reisenden durch die Bildung von Stereotypen humorvoll umzugehen. Sie sieht dabei aber die Gefahr, dass Vorurteile durch den kurzen Kontakt sogar verstärkt werden können (Evans-Pritchard 1989: 98, 102). Bestätigt wird diese Befürchtung auch durch eine Untersuchung von Laxson (1991: 368). Diese stellt fest, dass das negative Image von Touristen oft so stark ist, dass positive Erlebnisse mit Besuchern nicht automatisch zu einer Änderung des Touristenbildes führen, sondern die Gäste neu kategorisiert werden. Sie werden dann als »Weiße« oder gar als »Freunde« positiv wahrgenommen, während alle negativen Eindrücke weiterhin auf Touristen bezogen werden, und sich so das schlechte Bild quasi selbst bestätigt. Trotz solcher Probleme spielt der »Indianer-Tourismus« aber eine wichtige Rolle für das gegenseitige Verständnis: »A whole dimension of comparatively simple, harmonious and differentiated forms of existence have been missed by a West which has assumed dominance. Tourism can now be a prime catalyst for the ennoblement and enrichment of a mutually-

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rewarding cultural diversity in North America – as it can elsewhere – via the provision of informed storylines. That would, over time, be for considerable reciprocal gain. The Western episteme, currently imagining itself as the universal for the rest of the world, can eventually be replaced by a synthesis of the cultural logics of many different hues.« (Hollinshead 1992: 62)

Diese mutuality lässt sich allerdings durch ethnologische Untersuchungen bisher nicht ernsthaft nachweisen. Die Aboriginal Cultures und Tourism Working Group der Federal-Provincial-Territorial Culture/Heritage and Tourism Initiative wiederholt die übliche Ansicht, dass »[tourism] can play a role in fostering creativity, reinforcing identity and social cohesion and improving cross-cultural understanding« (Aboriginal Cultures and Tourism Working Group 2005: 4), während ihre Studie zeigt, dass das touristische Interesse an Aktivitäten mit Indianer-Bezug größer ist, wenn Reisende schon zuvor Erfahrungen mit indianischen Kulturen gemacht haben: »In other words, exposure to Aboriginal peoples and their cultures may set the pre-conditions for increased interaction between Aboriginal and nonAboriginal Canadians through travel« (Aboriginal Cultures and Tourism Working Group 2005: 12). Auch das umgekehrte Anwachsen von Verständnis lässt sich bisher nicht nachweisen. Die oben erwähnte Stereotypenbildung von Besuchten gegenüber Besuchern trägt sogar dazu bei, dass das negative Touristenbild gestärkt wird. Bei Gesprächen während meiner Forschungen wurde ich zudem darauf aufmerksam gemacht, dass die Reservationsbewohner meist selbst keine (bewusste) Erfahrung als Touristen haben und das eines der größten Probleme darstelle, um das dahinter stehende Konzept zu begreifen und die Besucher entsprechend zu bewerten.

R ESÜMEE Wenn heute etwas zum gegenseitigen kulturellen Verständnis beitragen kann, dann vor allem die aktive Beteiligung der indigenen Bevölkerung am Wirtschaftszweig Tourismus. In nahezu allen Reservationen wird er als Möglichkeit zur ökonomischen Entwicklung gesehen, auch wenn dies sich meist nicht direkt nachweisen lässt. Zwar waren auch die Indianer zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs passiv Beteiligte, wie die Anpassung

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des Kunsthandwerks an den Markt zeigt, die Organisation des Reiseverkehrs lag aber in den Händen »weißer« Unternehmer oder der Regierung. Projekte wie die Tribal Tourism Initiative des United Tribes Technical College zeigen, dass die Verantwortlichen das Thema heute sehr gezielt angehen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Entscheidung für oder gegen Tourismus nicht nur eine Frage der Abwägung von Vor- und Nachteilen ist, sondern auch in Abhängigkeit zu nationalen oder bundestaatlichen Entscheidungen gefällt wird. Im Rahmen meiner Arbeit zur Entwicklung von Tourismusprojekten auf der Standing Rock Reservation (Lindner 2007) konnte ich den Einfluss externer Faktoren auf den Prozess beobachten, der von der Genehmigung von Straßenschildern bis hin zu der Grundsatzentscheidung für das Lewis & Clark Bicentennial reichte, dem die betroffenen Reservationen nicht ausweichen konnten. Bei ihrer Betrachtung muss deshalb berücksichtigt werden, dass sie ein semisouveräner Teil der USA sind. Dass »sharing and protecting« als Motto der Tourismus-Initiative gewählt wurde, ist nicht verwunderlich. Der Schutz vor den negativen Auswirkungen des Tourismus, die oft nur imaginär zu sein scheinen, ist eines der größten Anliegen der indigenen Gemeinschaften. Dies gilt nicht nur für die Privatsphäre sondern auch für die sozialen und kulturellen Bereiche – von religiösen Zeremonien bis zum Kunsthandwerk. Bei der Vermarktung und Durchführung von Tourismusprojekten eigenverantwortlich handeln zu können, wird dabei als Chance gesehen, die Risiken zu kontrollieren. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen wird auch die Möglichkeit gesehen, den Reisenden einen indigenen Blick auf die eigene Kultur und die Geschichte zu geben und das Vermittlungsmonopol nicht der Wissenschaft oder staatlichen Museen zu überlassen. Für den ehemaligen Tribal Economic Development Director der Standing Rock Indian Reservation war dieser Aspekt sogar wichtiger als der ökonomische. In einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung, die der Information der Reservationsbevölkerung diente, machte er das mit einem Statement deutlich: »Tourism is a chance for us to teach, not so much to make money, but first to teach« (Kary, Standing Rock Tourism Conference, 21.05.2002). Derartige Bemerkungen zeigen zugleich, dass ein Bewusstsein existiert, dass ausbleibende Erfolge bei zu hohen wirtschaftlichen Erwartungen zu Frustration führen können (vgl. Postner 2002: 139). So verwundert es auch nicht, dass Karen Paetz für ihre Tribal Tourism Initiative vier Punkte defi-

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nierte, die über Tourismus vermittelt werden sollten, und dabei keine wirtschaftlichen Aspekte erwähnt:8 »1 - Have our own people telling our own story. 2 - Dispelling the stereotype and misconceptions. 3 - We are not reenacting our culture – it’s alive. 4 - We do not disappear – we are still here.«

Sharing und protecting haben so eine kulturbezogene Verbindung und prägen den Umgang mit den Chancen und Risiken von Reservationstourismus. Dass heute wirtschaftliche Interessen vor dem Hintergrund kultureller Auswirkungen betrachtet werden, ist ein Zeichen für die Souveränität der Stämme, die trotz aller Abhängigkeiten von den Nationalstaaten eigene Entscheidungen treffen können. Zwar waren die Indianer auch zu Beginn der touristischen Erschließung Nordamerikas keineswegs hilflose Opfer, sondern wussten ihre Vorteile aus der Situation zu gewinnen, doch waren diese meist wirtschaftlicher Natur. Wie es sich auch bei Museen zeigt, bei denen die indigene Bevölkerung immer größeres Mitspracherecht über Inhalte bekommt – man sehe sich vor allem das National Museum of the American Indian in Washington, D.C., an –, ist die Hoheitsgewalt über die Interpretation und Darstellung der eigenen Kultur und Geschichte heute einer der wichtigsten Aspekte der indigenen Selbstdarstellung. In dieser Beziehung ist auch das Konzept des sharing als sehr erfolgreich anzusehen, während zugleich Schutzmaßnahmen nach innen und außen ebenfalls als Zeichen kultureller und politischer Souveränität wirken. Inwieweit der Reiseverkehr aber zu einem gegenseitigen Verständnis führt, lässt sich kaum beurteilen. Die verschiedenen Studien, die es bisher gibt, lassen zumindest Zweifel daran aufkommen. Die Stämme nutzen zwar auch Ferienresorts, Skipisten und Spielkasinos, in die viele Touristen kommen, zur Selbstdarstellung, die Reisenden nehmen dieses Angebot aber nur selten wahr. Auch in einer anderen Hinsicht kann man geteilter Meinung über die Erfolge sein. Der Schutz der eigenen Kultur vor den Einflüssen des Tourismus gelingt sicher gut, wo es Verhaltensregeln beispielsweise bei Zeremonien gibt. Andererseits verhindern zu strenge Regeln kreative oder wirt-

8

Persönliches Gespräch (14.08.2002).

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schaftliche Entwicklungen und können so zu einer Musealisierung führen. Bei all dem darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass alle Entscheidungen zum Tourismus in Reservationen auch von national- und einzelstaatlichen Einflüssen abhängen. Insofern ist der Umgang mit Chancen und Risiken des Tourismus in Indianerreservationen von den Anfängen bis heute auch ein Beispiel dafür, wie sich die indigene Bevölkerung mit den »Kolonialstaaten« arrangiert, in denen sie ihre Position finden muss.

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Die Leute hinter den Masken Kleinunternehmer und die Kommodifizierung von Kultur im senegalesischen Tourismus 1 G EORG M ATERNA

Wer in Dakar das Flughafengelände verlässt, wird umringt von Personen, die Souvenirs, Taxifahrten, Telefonkarten oder Erfrischungen verkaufen wollen, sich als Reiseführer oder Geldwechsler anbieten, ihre Geschichte erzählen möchten oder einen gleich als neuen Bruder beziehungsweise neue Schwester adoptieren. Ähnlich verhält es sich an vielen touristischen Orten des Senegal. Der Besucher erregt schnell das Interesse von Kleinunternehmern,2 welche die unterschiedlichsten Waren und Dienstleistungen feil bieten und die ein einfaches »Nein, danke!« nicht von weiteren Offerten abhalten wird. Für Hotels und Reiseagenturen sind die »informellen« Angebote der Kleinunternehmer zu einer starken Konkurrenz geworden. Offizielle Stellen sehen in den Kleinunternehmern aufgrund ihres häufig offensiven Auftretens gar ein Hindernis für die weitere Tourismusentwicklung. Obwohl diese 1

Ich danke Georg Klute, Gerd Spittler und den Herausgebern für hilfreiche Kritik an früheren Versionen dieses Textes. Fehler und Auslassungen verantworte ich selbst.

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Ich beziehe mich überwiegend auf männliche Kleinunternehmer in den Regionen Saint-Louis, Dakar und Thiès. Unter Handwerkern, Kleinhändlern und im touristischen Kleingewerbe arbeitenden Migranten stellen sie die große Mehrheit. Frauen arbeiten vor allem als Kleinhändler.

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Akteure – nicht nur im Senegal – eine kaum zu vernachlässigende Rolle im Tourismus spielen, wurden sie bisher nur selten untersucht. Häufiger in der Literatur behandelt wurden in den letzten Jahren stattdessen der Ethnotourismus und die damit einhergehende Kommodifizierung von Kultur. Dieses beinhaltet Fragen danach, wie die Bereisten ihre eigene Kultur gewinnträchtig vermarkten können und welche (zumeist) positiven Dynamiken daraus entstehen. In diesem Zusammenhang bieten die hier behandelten Kleinunternehmer ein gutes Gegenbeispiel. Zwar verdienen auch sie größtenteils mit »ihrer« Kultur ein Auskommen, eine Entwicklung zum Ethnotourismus, die auch mit einem größeren Einfluss auf kapitalträchtigere Akteure des Tourismusgeschäfts einherginge, bleibt ihnen jedoch verwehrt. Um dies zu ergründen, beginne ich mit theoretischen Anmerkungen zu Kultur und Kommodifizierung im Tourismus. Anschließend gehe ich auf Besonderheiten des Tourismus im Senegal ein. Es folgen ethnographische Beispiele von Kleinunternehmern im Tourismus sowie eine Darstellung gegenwärtiger Konfliktfelder zwischen diesen und der Tourismusindustrie. In der Schlussdiskussion werde ich die dargestellten Themen miteinander verbinden.

K ULTUR

UND

K OMMODIFIZIERUNG

Ein Fokus auf Kultur kennzeichnet sowohl die Anfänge der »Ethnologie des Tourismus« (Nuñez 1963, MacCannell 1999, Smith 1977) als auch ihre rezenten Diskussionen (Chabloz/Raout 2009, Trupp/Trupp 2009, Scott/ Selwyn 2010, van Beek/Schmidt 2012). Diskutierte Themen waren und sind die Kommodifizierung von Kultur, ihre Authentizität im touristischen Kontext, der Wandel materieller Kultur unter dem Einfluss des Tourismus oder die Bilder, die sich Reisende und Bereiste vom jeweils anderen machen. Ein Unterschied zwischen den frühen Studien und jüngeren Arbeiten besteht darin, dass durch den Tourismus ins Leben gerufene Dynamiken heute positiver gesehen werden. Anfänglich glaubten einige Autoren, Touristen setzten Prozesse der Akkulturation in Gang, die zum Verschwinden kultureller Vielfalt führen könnten (Boutillier et al. 1978). Ebenso wurde die Spezialisierung des Kunsthandwerks auf den touristischen Markt mit

D IE LEUTE HINTER DEN MASKEN

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ästhetischem und qualitativem Verfall gleichgesetzt (Himmelheber 1975). Im Gegensatz dazu werden in den letzten Jahren eher die mit der Vermarktung von Kultur einhergehenden Chancen betont. Besonders überzeugend erarbeiten dies Jean und John Comaroff (2009). Sie beobachten, wie vor allem in den USA und in Südafrika immer mehr ethnische Minderheiten ihre kulturelle Identität betonen. Zum einen werden individuelle Zugehörigkeit und persönliche Identität im Umfeld von (Post-) Modernität, gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Individualisierung immer wichtiger. Zum anderen geht mit der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit in diesen Gesellschaften die Chance einher, staatlich anerkannte Rechte, wie ein eigenes Territorium oder eine politische Repräsentanz, in Anspruch nehmen zu können. In der Konsequenz entwickelt sich eine regelrechte Zugehörigkeitsindustrie (identity economy), über die Identitätsmarker angeboten werden. »We stress, then, it is not just that culture is being cumulatively commodified. Or that vernacular ways and means (›tradition‹) are made and remade, visibly, in the course of their transaction […]. It is that commodity exchange and the stuff of [cu ltural] difference are inflecting each other, with growing intensity: just as culture is being commodified, so the community is being rendered explicitly cultural […].« (2009: 28, Einfügung GM)

Im Streben nach juristischer und gesellschaftlicher Anerkennung verdichten ethnische Gruppen ihre kulturelle Identität, vermarkten sie in einigen Fällen massenwirksam auf (inter-)nationalen Märkten und werden, bei erfolgreicher Vermarktung, zu Lifestyle-Modellen für bis dahin fremde Individuen beziehungsweise Gemeinschaften (ebd.: 98-114, 122-130). Für das Thema dieses Kapitels sind diese Ausführungen interessant, weil die Vermarktung von Kultur durch die Kulturträger selbst auch im Tourismus zu beobachten ist. Waren zum Beispiel Dogon, Massai oder Tuareg bis vor einigen Jahren noch Statisten in für Touristen aufgeführten Ethno-Schauspielen (vgl. Bruner/Kirshenblatt-Gimblett 2005), gibt es mittlerweile von ihnen selbst geführte Reiseagenturen und Hotels (Scholze 2009, Wijngaarden 2010). Die entsprechenden Akteure werden zu »Ethnopreneuren« (vgl. Comaroff/Comaroff 2009: 51f), die ihre eigenen Kulturen im (Ethno-)Tourismus vermarkten und dadurch zum Teil die Abhängigkeit

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von ihren bisherigen, zumeist europäischen oder nordamerikanischen Arbeitgebern durchbrechen. Folgt man Stephen Brittons Darstellung der politischen Ökonomie des Tourismus in »Entwicklungsländern«, dann steigen die lokalen Akteure als »Ethnopreneure« von der dritten beziehungsweise untersten Stufe des Systems auf die zweite, intermediäre, wo Vertreter der touristischen Quellmärkte mit solchen der Zielländer die Realisierung der an Touristen zu verkaufenden Reiseprodukte aushandeln (1982: 343-346). Was die Comaroffs als verallgemeinerbare Möglichkeit darstellen, bleibt den Kleinunternehmern des Tourismus im Senegal jedoch verwehrt. Zwar bieten auch sie vornehmlich kulturtouristische Angebote wie Masken, Statuen oder Kleidung mit Lokalkolorit beziehungsweise Führungen durch »ihre« Stadt oder »ihre« Region. Oft sind sie sogar die eigentlichen Kulturträger, also entweder die Produzenten des touristisch vermarkteten Kulturguts, lokal beheimatete Akteure oder zumindest Experten für die kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Region. Im Unterschied zu Dogon, Massai oder Tuareg existieren von ihnen jedoch kaum populärkulturelle Darstellungen, mit denen sie das Interesse von Touristen wecken könnten. Es gibt für sie keine positiv besetzten transkulturellen imaginaries (Salazar 2010: 5-8) oder tourist tales (Bruner 2005: 22), ohne die Ethnotourismus nicht funktioniert. Dieses Argument wird deutlich, wenn man die Entwicklung des Tourismus im Senegal betrachtet.

T OURISMUS

IM

S ENEGAL

Der Senegal gehört heute zu den wichtigsten Reisezielen Westafrikas (Machila 2010). Aufgrund seiner politischen Stabilität und historisch gewachsener Beziehungen zu Frankreich ist das Land vor allem für Franzosen zu einem beliebten Reiseziel geworden (ANSD 2009: 159). Nach offiziellen Angaben werden im Tourismus etwa 100.000 Menschen beschäftigt. Er generiert mit 170 Millionen Euro den zweitgrößten Posten der senegalesischen Exporteinnahmen (SAPCO 2012a). Der Senegal plant für die nächsten Jahre große Infrastrukturmaßnahmen und sieht im Tourismus eine wichtige Zukunftsbranche (ANSD 2009: 162f). Dennoch sind die Besucherzahlen seit einiger Zeit rückläufig. Optimistische Beobachter sprechen von 700.000 Touristen jährlich (SAPCO 2012a), andere Quellen schreiben

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von 500.000 Touristen in 2008 (ANSD 2009: 159) und 350.000 Touristen in 2009 (Machila 2010). Diese Zahlen geben einen ersten Eindruck von der gegenwärtigen Situation. Wichtiger für das Thema dieses Beitrages ist jedoch ein Verständnis dafür, wie sich der Tourismus im Senegal entwickelte und welche Möglichkeiten sich für bestimmte Gruppen daraus ergaben. In diesem Zusammenhang betone ich zweierlei: Einerseits entwickelte der Tourismus eine spezifische Nachfrage, auf welche die Kleinunternehmer reagierten. Andererseits kann Arbeit an sich, also auch Arbeit im Tourismus, nicht als wertfreie Tätigkeit betrachtet werden, denn jede Kultur verbindet Vorstellungen und Wertungen mit spezifischen Tätigkeiten. Mit dem Tourismus entstand im Senegal ein neuer Arbeitsbereich, dessen Aneignung durch lokale Kleinunternehmer nur verstanden werden kann, wenn man sie in den Kontext lokaler Bewertungen von Arbeit stellt (Beck/Spittler 1996). Im Senegal sind über 90 Prozent der Bevölkerung islamischen Glaubens. In den 1960er und 1970er Jahren war es folglich für Senegalesen nicht selbstverständlich, im entstehenden Tourismus eine Arbeit zu suchen, bei der Alkohol ausgeschenkt wird, Frauen relativ knapp bekleidet herumlaufen und die ehemaligen christlichen Kolonialherren auf ihre Kosten kommen wollen; besonders wenn man beachtet, dass viele der entstehenden Arbeitsplätze nicht für die in französischen Schulen gebildeten évolués beziehungsweise assimilés gedacht waren, sondern nach schulisch gering qualifizierten senegalesischen Arbeitern verlangten (Diop 1986: 222-226). Tourismus im Senegal stellt somit einen Arbeitsbereich dar, der von den in ihm engagierten senegalesischen Akteuren entweder gewisse ethische Zugeständnisse einfordert (Beck/Spittler 1996) oder Abgrenzungsmechanismen ins Leben ruft, mit denen sich Distanz wahren lässt (Abbink 2000).3

D IE E NTWICKLUNG DES T OURISMUS

IM

S ENEGAL

Der Massentourismus entwickelte sich ab den späten 1960er Jahren. Gemeinsam mit der Elfenbeinküste gehörte der Senegal zu den ersten großen westafrikanischen Reiseländern. Technische Neuerungen vergünstigten

3

Eine dritte Möglichkeit, ethische Indifferenz gegenüber einer Arbeit im Tourismus, halte ich in diesem Kontext für vernachlässigbar.

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Langstreckenflüge, und der wirtschaftliche Aufschwung in den Industrieländern (les trente glorieuses) ließen die Nachfrage nach touristischen Angeboten steigen (Boutillier et al. 1978: 7-10). Ein senegalesisches Tourismusministerium wurde 1967 eingerichtet. Zur Koordination der Tourismusentwicklung schuf die senegalesische Regierung in Zusammenarbeit mit der Weltbank 1975 außerdem die Société d’Aménagement de la Petite Côte (SAPCO; Ciss 1983: 37, 48f), deren Befugnisse 2004 auf den ganzen Senegal ausgeweitet wurden (Tendeng 2010). Das touristische Angebot beschränkte sich anfänglich größtenteils auf die »vier S« – Sonne, See (Ozean), Sex und Sand (Boutillier et al. 1978: 7). Erst in den 1990er Jahren versuchte man umzusteuern und auch kulturtouristische Angebote, zum Beispiel Aufenthalte in historisch gewachsenen Städten wie Saint-Louis, der alten Hauptstadt des Senegal, in das Besucherprogramm mit aufzunehmen (DRT 1996). Bis heute gilt jedoch die einseitige Ausrichtung auf Badeurlaub als ein Hauptproblem des senegalesischen Tourismus (Froger 2010: 20). Um Gästen neben den »vier S« einige Anregung zu bieten, organisierte man in den 1970er Jahren Abende mit senegalesischer Musik (soirées sénégalaises) und brachte den Touristen die materielle Kultur der Lokalbevölkerung in Form von für den Verkauf vorgesehenen Kunstgegenständen wie Masken, Statuen, Schmuck und anderen Produkten nahe. Auf diese Art entwickelte sich eine ökonomische Nische, die viele Senegalesen als Einkommensquelle entdeckten und die sie in der Folge als Kleinunternehmer zu bedienen versuchten. Unterstützt wurde die Nachfrage für afrikanische Kunst, Touristenkunst oder Airport Art durch die internationale Kunstszene. Besonders afrikanische Masken und Statuen, meist aus Holz geschnitzt, galten seit den 1920er Jahren als Zeugnisse eines von vielen europäischen Künstlern (z. B. Picasso, Matisse, Nolde) gesuchten ursprünglichen figürlichen Ausdrucks, der nicht als Illustration literarischer Klassiker oder heiliger Texte verstanden werden musste, sondern für sich allein stehend an Wert besaß (Laude 1999: 18f). Bis in die 1960er Jahre entstand ein Netzwerk aus europäischen Kunsthändlern und afrikanischen Mittelsmännern, das vor allem über Dakar und Abidjan, Elfenbeinküste, eine große Menge an Kunstgegenständen in Richtung Europa und Vereinigte Staaten transportierte. Ab den 1970er Jahren galten die afrikanischen Bestände als weitgehend erschöpft, und der Handel verlagerte sich auf die Nordhalbkugel, wo die angesammelten Objekte in Geschäften zwischen Museen und Sammlern Rekordpreise erziel-

D IE LEUTE HINTER DEN MASKEN

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ten (Steiner 1994: 6f). Der »Mythos« afrikanischer Kunst hatte jedoch die Massen erreicht, sodass Touristen im Senegal gezielt Masken, Statuen und andere Kunstgegenstände als Souvenirs nachfragten. In allen touristisch genutzten Orten fanden sich fortan Kleinunternehmer, von denen dementsprechende Objekte in den unterschiedlichsten Variationen angeboten wurden. Abb. 1: Kleiner Souvenirstand in Saint-Louis

Foto: Georg Materna, November 2011

Der Senegal war für Touristen nicht nur ein Urlaubsland mit Sonne und Strand, sondern er hatte auch Anteil an der hochkulturellen Faszination für die »ursprüngliche« und im europäischen Kontext avantgardistische afrikanische Kunst. Für viele der Touristen war es jedoch weniger wichtig als für Kunstsammler, ob die von ihnen gekaufte Maske oder Statue tatsächlich »authentisch« war, das heißt antik und nicht genuin für den Kunstmarkt hergestellt. Sie kauften bei den Kleinunternehmern des Tourismus, bei denen es die gewünschten Objekte en masse und in vom Original nur schwer zu unterscheidender Form gab. Einer dieser Touristen, den Christopher B. Steiner, der zum Kunsthandel in der Elfenbeinküste forschte, gegen Ende der 1980er Jahre interviewte, sagte: »Why should I spend so much money to buy art in the Hôtel Ivoire [art gallery] when I can get stuff that looks exactly the same, for almost nothing, right here.« (Steiner 1999: 98, Einfügung im Original)

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Bis heute erinnert eine Art Berufsbezeichnung für die Kleinunternehmer im Tourismus daran, dass sich ihre wirtschaftliche Nische ursprünglich aus dem Handel mit antiken Gegenständen entwickelte. Egal, ob sie als Straßenhändler, in kleinen Boutiquen oder als »informelle« Reiseführer arbeiten, geläufig ist für sie bis heute die Bezeichnung antiquaires (vgl. Salomon 2009). Die Präsenz der Kleinunternehmer wird in vielen Publikationen zum senegalesischen Tourismus erwähnt (z. B. Diouf 1987: 256-249, Schlechten 1988: 147f, Masurier 1998: 161-170). Unerwähnt bleibt dabei jedoch, dass die Kleinunternehmer, besonders am Anfang der touristischen Entwicklung, vor allem der traditionell endogamen Wolof-Gruppe der ñeeño entstammten. Durch die Entwicklung des Tourismus und unterstützt vom Interesse an afrikanischer Kunst und Kultur waren es vor allem ihre Produkte und Fähigkeiten, die von den Touristen in steigendem Maße nachgefragt wurden.

F RÜHE K LEINUNTERNEHMER

IM

T OURISMUS

In der traditionellen Arbeitsteilung der größten senegalesischen Volksgruppe, den Wolof, wird zwischen géér und ñeeño unterschieden. Während die géér für Bodenbau, Fischfang und Viehzucht zuständig waren, differenzierten sich die ñeeño in verschiedene im Handwerk tätige Gruppen: Holzfäller und -bildhauer (loabé), Schmiede und Kunstschmiede (tëgg), Schumacher (uudé) sowie Weber (rabb). Ebenso zählen Griots (géwël) zu den ñeeño, die am Hofe der Könige die jeweiligen Machthaber besangen und die Geschichte reicher Familien memorierten. Zwischen géér und ñeeño gab es eine enge Interaktion. Sie lebten gemeinhin in Patronagebeziehungen zusammen. Um die überlegene Stellung der géér zu festigen, gab es Meidungsgebote. Diese betrafen neben der Arbeit auch Heiratsverbote und einen Verhaltenskodex, der die géér zu Bescheidenheit und Sittlichkeit aufforderte. Für die ñeeño war es hingegen nicht ehrenrührig, offensiv Geschenke zu verlangen oder ein von Ausschweifungen geprägtes Leben zu führen (Diop 1981: 32-35, 51f, 61f). Durch die Urbanisierung und mit dem Entstehen moderner Berufszweige löste sich die Trennung zwischen géér und ñeeño in einigen Bereichen auf. Als Angestellte und Arbeiter teilte man dasselbe Büro oder dieselbe

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Fabrikhalle. Abgesehen von Tätigkeiten in der staatlichen Bürokratie oder den wenigen Industriebetrieben lebten die Unterschiede zwischen beiden Gruppen jedoch fort. Zu spüren war und ist dies insbesondere in Bezug auf Heiratspräferenzen. Außerdem ergriffen die géér anfänglich nur langsam die neuen Möglichkeiten im Kleinhandel (Silla 1966: 745-756), und auch die traditionellen Handwerke wurden weiterhin von den ñeeño dominiert. Bis in die jüngste Zeit wird über diese Meidungsgebote, obwohl sie im Alltag weiterhin eine wichtige Rolle spielen, im Senegal nicht öffentlich diskutiert (vgl. Mbow 2000). Es ist somit weniger verwunderlich, dass die meisten Publikationen zum Tourismus es entweder übersehen oder, im Fall senegalesischer Autoren, als uninteressant betrachten beziehungsweise bewusst verschweigen, dass es vor allem Angehörige der ñeeño waren, die sich anfänglich als Kleinunternehmer im Straßenverkauf von Souvenirs engagierten – nur Gérard Salem (1981) und Ndéye Faty Sarr (2004: 107) sind mir gegenwärtig als Ausnahmen bekannt. Es waren vor allem Holzbildhauer, Schmiede, Schumacher, Weber und Griots, die den Touristen in den 1970er Jahren bieten konnten, wonach sie suchten, wenn sie sich für die Kultur und Kunst des »traditionellen« Senegal interessierten, und die berufsethisch kaum Probleme hatten, sich im Tourismus zu engagieren. Meinen Recherchen4 zufolge spezialisierten sich von den verschiedenen Gruppen der ñeeño zuerst die laobé genannten Holzbildhauer auf die touristische Nachfrage. Als Angehörige einer seit Jahrhunderten mit dem Islam in Kontakt stehenden und wahrscheinlich seit dem 19. Jahrhundert weitgehend islamisierten Gesellschaft (Diouf 2001: 105-132) produzierten sie, im Unterschied zu den im westafrikanischen Inland lebenden Holzbildhauern anderer Ethnien (vgl. Tamari 1997), keine als heidnisch angesehenen Masken mehr, als die Nachfrage nach ihnen den Senegal erreichte. Sie waren

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Die Datengrundlage der folgenden Aussagen entstammt zweier Feldforschungen (Mai-Juli 2010, Oktober-Dezember 2011) im Senegal, während derer ich die Arbeit von Kleinunternehmern im Tourismus untersuchte. Die dargestellten (Lebens-)Geschichten habe ich durch Rückfragen bei verschiedenen Informanten zu prüfen versucht. Zweifelhafte und wenig plausible Aussagen habe ich kenntlich gemacht. Für Unterstützung danke ich dem Institut für Ethnologie, Leipzig, und der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS).

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spezialisiert auf Gebrauchsgegenstände wie Mörser oder Kalebassen, aber auch auf die Klangkörper von Trommeln oder auf den Bau von Fischerbooten (pirogues). Meinen Informanten zufolge begannen einige laobé nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus Holz geschnitzte Miniaturen von Booten, verschiedenen Früchten oder Trommeln an in Dakar stationierte Militärs zu verkaufen. Anschließend fingen sie an, auf den Lebensmittelmärkten der Stadt, wie Tilène, Sandaga oder Kermel, die überdies in den 1950er Jahren jedem Besucher Dakars von offizieller Seite als überaus sehenswert empfohlen wurden (Dulucq 2009: 37), gezielt nach Kaufinteressenten zu suchen. Abb. 2: Beispiele für »traditionelle« Produkte der laobé

Foto: Georg Materna, Juni 2010

Als die laobé von den Militärs oder den ersten Touristen nach weiteren Produkten, wie Ledertaschen oder Portemonnaies, gefragt wurden, reichten sie die Bestellungen an die Schuhmacher weiter, von denen daraufhin einige ihre Produktion umstellten. Die Kunstschmiede hingegen mussten ihr

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Angebot kaum ändern. Europäer und Amerikaner waren zumeist an afrikanischen Schmuckstücken interessiert. Abb. 3: Angebot selbstgefertigter Lederwaren in Dakar

Foto: Georg Materna, Juli 2010

Ausgehend von Dakar erreichte der Kleinhandel mit Souvenirs in den 1970er Jahren auch Mbour und die Petite Côte. Nachdem einer der in Mbour ansässigen loabé bemerkte, dass sich die Besucher der Stadt für Muscheln und kleine Holzobjekte interessierten, machte er daraus ein Geschäft. Zusammen mit einer ständig wachsenden Gruppe anderer ñeeño arbeitete er zuerst auf dem Markt von und später an den Stränden um Mbour – im Laufe der Zeit verstärkt von Migranten sowie einzelnen géér. Unterstützt wurde die Nachfrage nach afrikanischer Kunst durch die erste »Exposition d’Art Nègre«, die 1966 in Dakar stattfand und anschließend im »Grand Palais« von Paris eine viel beachtete Neuauflage erlebte (Salem 1981: 94). Für die »Exposition d’Art Nègre« baute man in Dakar eigens ein Handwerkerdorf (village artisanal von Soumbédioune), in dem die Handwerke der ñeeño einem größeren Publikum vorgestellt wurden. Auf das ganze Land breitete sich der Souvenirhandel in Handwerkerdörfern anschließend durch ministeriellen Beschluss und mit Unterstützung des Präsidenten Léopold Sédhar Senghor Ende der 1970er Jahre aus (vgl. Dilley 2005: 235).

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Parallel zu den guten Geschäften in Senegal expandierten die laobé nach Frankreich. Zwischen 1970 und 1980 entwickelten sie ein Händlernetzwerk, von dem das ganze Land abgedeckt wurde. Schwerpunkt waren die Côte d’Azur und das Elsass (Salem 1981: 89-95). Anschließend gingen sie in weitere europäische Länder, vor allem nach Italien, Belgien, Spanien und Deutschland. Viele der heute 50 bis 60 Jahre alten im Tourismus tätigen laobé haben mehrere Jahre in Europa gelebt und berichten freudig über ihre Erlebnisse. Exemplarisch möchte ich Teile der Migrationsgeschichte von Abdou Sow anführen, der hier gerne mit seinem richtigen Namen erscheint.5 Sie illustriert, wie stark die Nachfrage nach Holzobjekten in den 1970er und 1980er Jahren gewesen sein dürfte und bietet damit einen guten Vergleich zur heutigen Situation, die im Anschluss näher ausgeführt wird. Ende der 1970er Jahre ging Abdou aus Dakar, wo er aus persönlichen Gründen keine weitere Zukunft für sich sah, nach Ziguinchor im südlichen Senegal. Schon am ersten Tag in Ziguinchor ging ihm das Geld aus. Also suchte er einen Holzverkäufer und überredete ihn, ihm für 500 Francs CFA Holz auf Kommission zu überlassen. Aus dem Holz schnitzte er in kurzer Zeit Miniaturen von zwei Booten und einem Wildschwein und verkaufte sie anschließend für mehrere tausend Francs CFA am Flughafen von Ziguinchor. Er zahlte seine Schulden zurück und arbeitete weiter. 1979 hatte er genug Geld zusammen, um mithilfe eines in GuineaBissau lebenden Verwandten ein Visum für Portugal zu bekommen. In Portugal angekommen, erschöpften sich jedoch erneut bereits auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel seine finanziellen Mittel. Er hatte noch vier Dollar, sollte aber zehn für das Taxi zahlen. Auch sprach er kein Portugiesisch, sondern nur etwas Schulenglisch, weswegen ihn der Taxifahrer in ein von Amerikanern geführtes Hotel brachte. Dort erklärte er, am nächsten Tag Geld bei der Bank holen zu wollen, woraufhin ein Hotelmitarbeiter die Taxirechnung für ihn beglich. Am nächsten Morgen nahm er einige seiner mitgebrachten Holzobjekte, um mit ihnen in der Stadt etwas Geld zu machen. Noch an der Tür des Hotels verkaufte er die ersten Objekte, insgesamt kam er an diesem Tag auf 11.000 Escudos (ca. 220 Dollar), womit er seine Schulden und das Hotelzimmer bezahlen konnte. Abdou blieb noch einige Monate in Portugal und reiste dann nach Spanien weiter, wo er bis

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Die Namen aller anderen Kleinunternehmer sind anonymisiert.

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1983 an Stränden, in Bars und anderen touristischen Orten vor allem im Souvenirhandel tätig war.

ARBEIT UND O RGANISATION GEGENWÄRTIGER K LEINUNTERNEHMER IM T OURISMUS Das anfängliche Monopol der laobé auf den Handel mit Holzartefakten ist mittlerweile gefallen – sie zählen jedoch weiterhin zu den wichtigsten Produzenten. In Zeiten ökonomischer Not ist der Tourismus für alle Bevölkerungsgruppen zu einer potentiellen Einkommensquelle geworden (Sarr 2004: 107). Heute arbeiten tausende Kleinunternehmer im Souvenirverkauf und bieten überdies etliche weitere Dienstleistungen an. Um die gegenwärtige Situation der Kleinunternehmer zu verdeutlichen, möchte ich für die Akteurskategorien Handwerker, Kleinhändler und Migranten jeweils ein ethnographisches Beispiel geben. Diese Kategorien sind nicht trennscharf. Ein Handwerker kann in den Senegal migriert sein und seine Produkte auch selbst verkaufen. Auch ist »Migrant« im Gegensatz zu »Handwerker« und »Kleinhändler« keine Berufsbezeichnung. Dennoch geben die drei Beispiele einen ersten Eindruck von im Tourismus aktiven Kleinunternehmern. Ihnen ist gemein, dass die beschriebenen Kleinunternehmer selbständig tätig sind. Sie bekommen kein Gehalt, sondern leben von ihren selbsterwirtschafteten Einnahmen. Das »Sich-Durchschlagen« (Wolof: góor-góorlu) im Kontext wirtschaftlicher Unsicherheit gehört für alle drei zu ihrem Alltag (vgl. De Villers/Jewsiewicki/Monnier 2002). Ein Handwerker im Tourismus: Bamba und seine Familie Das Beispiel von Bamba und seiner Familie soll verdeutlichen, welche Arbeitsbedingungen ein junger laobé im Tourismus heute vorfindet. Als Angehöriger einer Gruppe, die sich früh auf das Geschäft mit Touristen spezialisierte, verfügt er über familiäre Kontakte, die ihm den Zugang zu Produkten und Absatzmärkten erleichtern. Bambas Familie ist bereits in der dritten Generation im Tourismus tätig. Sein Großvater ›Petit Prix‹ erkannte schon Anfang der 1970er Jahre die Möglichkeit, mit lokal ansässigen Weißen und Touristen Geld zu verdienen. Auf dieser langfristigen Aktivität im Tourismus basieren einige der von den ñeeño vorgebrachten Argumente

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gegen sie ausgrenzende rezente Entwicklungen, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde: Bamba arbeitet als antiquaire in Saint-Louis. 1990 wurde er in Dakar geboren, wo er die ersten Jahre seines Lebens verbrachte. Anschließend zog er zu seiner matrilinearen Großmutter nach Saint-Louis und ein Jahr später nach Mbour. In dieser Zeit wurde er in das Handwerk der laobé, die Holzbildhauerei, eingewiesen. Zwar kennt Bamba die Abläufe des Produktionsprozesses, geübt ist er jedoch nur in der Fertigstellung von Objekten (Arbeit mit Schleifpapier, Ölen und Bemalen). Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die kein Französisch sprechen und deswegen nur in der Produktion der Holzobjekte arbeiten, ist Bamba beinahe ausschließlich im Verkauf tätig. Eine Schule besuchte Bamba nur für wenige Jahre. Wichtig sei es, Französisch zu lernen, danach liege die Priorität auf der Herstellung und dem Verkauf von Holzobjekten für Touristen, erklärte er. Nach einigen Jahren bei seinem Vater in Mbour, der noch zehn weitere Kinder hat, von denen alle Söhne – bis auf einen – im Tourismus arbeiten, wurde er, der jüngste Sohn, von seinem Onkel Iba, dem Bruder seiner Mutter, der selber »nur« zwei Töchter hat, im Alter von etwa 13 Jahren nach Saint-Louis geholt, um dort für ihn zu arbeiten. In Saint-Louis lebt Bamba bei der Familie seines Onkels Iba, ist aber gleichzeitig in eine große Gemeinschaft von laobé integriert, die, ähnlich wie sein Onkel, Holzobjekte für Touristen anbieten oder auch als informelle Geldwechsler im Tourismus tätig sind. Bamba selbst arbeitet gemeinsam mit anderen laobé seiner Altersgruppe, die er Brüder nennt, im Verkauf von auf der Straße ausgestellten Holzobjekten. Seine Arbeit besteht unter anderem darin, Touristen an einen der Souvenirstände seiner Verwandten zu holen. Dafür engagiert er sich als Straßenhändler (bana-bana), der unter anderem mit Holzobjekten im Arm Besucher der Stadt anspricht. Wenige der Objekte, die er zum Kauf anbietet, gehören ihm selbst. Als ich ihn zuletzt sah (Dez. 2011), verkaufte er lediglich aus Metall nachgebaute cars rapides (landestypische pittoreske Kleinbusse des öffentlichen Personennahverkehrs) auf eigene Rechnung. Die sonst von ihm angebotenen Waren besorgt er sich je nach Marktlage bei befreundeten und verwandten Händlern. Manchmal verkauft er Schals, ein anderes Mal Masken oder kleine Holzobjekte. Außerdem nutzt er sich bietende Chancen als Vermittler zwischen Touristen und Verkäufern, wofür er am Gewinn etwaiger Geschäfte beteiligt wird. Was er verdient, schickt er zum Teil an seine

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Familie in Mbour. Außerdem steuert er kleine Beträge zum Unterhalt der Familie seines Onkels Iba bei. Bambas familiäre Einbettung bietet ihm, neben ökonomischen Vorteilen, auch in schlechten Zeiten einen gewissen Lebensunterhalt (vgl. Elwert 1980, Evers 1987). Er hat entfernte Onkel, die über den Kontakt mit Touristen nach Europa gekommen sind. Außerdem baut ein Teil seiner Familie im nahe gelegenen Ross-Béthio Reis an, wodurch sich die Ernährungssicherheit von Bambas Familie verbessert und sie auch in Krisenzeiten weiter auf das Geschäft mit Touristen setzen kann. Ein Kleinhändler im Tourismus: Moussa, der Bay Fall 6 Im Gegensatz zu Bamba ist Moussa, der als Kleinhändler von Souvenirs in Saint-Louis tätig ist, weniger gut platziert. Als Griot hat er keinen privilegierten Zugang zur Souvenirproduktion und auch keine »traditionelle« Spezialisierung, die weitgehend frei von Konkurrenz geblieben ist. Ein in den 1970er Jahren erfolgreich aufspielender Onkel von Moussa sagte, gegenwärtig sei die Musik ein freier Markt. Es gibt Migranten aus Guinea, andere Ausländer und sogar géér, die mit der Musik ihr Glück versuchen. Ein Griot hat es somit schwerer, im Tourismus zu starten, als ein laobé; obwohl »traditionelle« Verhaltensweisen der Griots, wie Redegewandtheit und eine gewisse »Schamlosigkeit« (Diop 1981: 34), auch heute hilfreich sind, um mit Touristen Geschäfte zu machen. In Moussas Fall kommt seine gelebte Religiosität hinzu, die er in die Interaktion mit Touristen einfließen lässt: Geboren in einem kleinen Dorf in der Nähe von Thiès, half Moussa seinem Vater schon als 8-Jähriger beim Verkauf von Souvenirs an Touristen. Einen Großteil seiner Jugend verbrachte Moussa in der Koranschule und als

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Das religiöse Leben im Senegal wird geprägt von Sufi-Bruderschaften. Eine der wichtigsten unter Ihnen ist die Muridiyya. Diese kennt zwei zentrale Figuren: Ahmadou Bamba, um den die »Bewegung« um die Wende zum 20. Jahrhundert im Senegal entstand, und Cheikh Ibra Fall, seinen ersten und wichtigsten Schüler. Cheikh Ibra Fall unterwarf sich Ahmadou Bamba und arbeitete sehr hart für diesen. Die heutigen Bay Fall folgen diesem Beispiel und unterwerfen sich dafür einem Marabout in patrilinearer Nachfolge von Cheikh Ibra Fall (Cruise O’Brien 1971).

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Bay Fall im Dienste seines Marabouts. Heute arbeitet Moussa zusammen mit einem jüngeren Bruder und seinem Vater auf dem »Marché Khelcom« in Saint-Louis und verkauft alte Masken und Holzobjekte. Sein Vater ist ein erfolgreicher Händler, der viele Länder Westafrikas bereist hat. Unter Moussas Onkel sind einige Griots, die als Musiker gutes Geld verdienten und teilweise in Europa tätig waren. Moussa selbst singt nicht und spielt kein Instrument. Seine Brüder arbeiten größtenteils in anderen Berufen: unter anderem als Tischler, Mechaniker und Fischer. Moussas Alltag ist geprägt von seiner Arbeit im Tourismus, aber auch durch seinen religiösen Glauben. Als Bay Fall kann Moussa jederzeit von seinem Marabout angerufen und um bestimmte Leistungen gebeten werden (ndigël). In den zwei Monaten, die wir 2010 zusammen verbrachten, wurde er einmal aufgerufen, Verpflegung für die Schüler seines Marabouts, die an einer Moschee bauten, nach Touba, der heiligen Stadt der Mouriden, 7 zu bringen. Ein anderes Mal wollte er zum Geburtstag des Marabouts Brot und Kaffee beisteuern. Beide Male brauchte er knapp 60.000 Francs CFA (ca. 90 Euro), die es mit Geschäften im Tourismus zu erwirtschaften galt. In Gesprächen mit Touristen kam er immer wieder auf seine Religion zu sprechen. In den ersten Kontakten gab er sich als ernsthafter und vertrauenswürdiger Gesprächspartner, womit er sich von anderen Kleinunternehmern abgrenzen wollte. Letztendlich drängte er Touristen aber oftmals doch, ihn mit einem kleinen Kauf in seinen religiösen Aufgaben zu unterstützen. Kaufwillige Touristen schließt er gerne in seine Gebete mit ein. Als Dank für meine Unterstützung für die zweite Reise nach Touba ließ er mich am baraka (Segen) seines Marabouts teilhaben und gab mir einen Glücksbringer (gris-gris) für die komplikationslose Geburt meines Kindes. Moussas Beispiel zeigt, wie die Griots ihre »traditionelle« Spezialisierung auf Gesang und Musik langsam verlieren. Im Unterschied zu den laobé ist nur ein kleiner Teil von Moussas Familie im Tourismus tätig. Sein Bespiel beschreibt jedoch auch, wie er als Bay Fall eine neue Bindung eingegangen ist, die ihm zum einen im senegalesischen Kontext die Zugehörigkeit zu einer politisch einflussreichen Gruppe gewährt (Villalón 1995), andererseits aber auch eine gewisse »Exotik« im Wettbewerb um touristische Aufmerksamkeit verleiht.

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»Mouriden« sind Anhänger der Muridiyya.

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Ein Migrant im Tourismus: Khalil und seine Geschichte Der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit von Touristen ist ein wichtiges Thema. Besonders für Migranten, die ohne Startkapital und spezifische Qualifikation in den Senegal kommen, ist es schwierig, als Kleinunternehmer im Tourismus ein Auskommen zu finden. Die folgende kurze Geschichte von Khalil, einem Migranten aus Guinea-Conakry, den ich in Saint-Louis traf, dient in diesem Kontext als Beispiel, wie man auch ohne Produkt oder Dienstleistung, allein mit »seiner Geschichte«, versuchen kann, mit der Aufmerksamkeit von Touristen Geld zu verdienen: Als ich Khalil kennen lernte (Mai 2010), war er 15 Jahre alt und zog mit einer Musikgruppe aus jungen Guineern durch die Altstadt von SaintLouis. Er sagte, dass er aus Guinea-Conakry komme und gehofft habe, im Senegal als Fußballer ein Auskommen zu finden. Abb. 4: Musikgruppe in Saint-Louis

Foto: Georg Materna, Juli 2010

Khalil ist der uneheliche Sohn eines Senegalesen und einer Guineerin. Nach seiner Geburt ging sein Vater zurück in den Senegal und seine Mutter heiratete einen anderen Mann. In Konfliktsituationen mit seinem Stiefvater erinnerte ihn dieser oft daran, dass er nicht sein richtiger Vater sei. 2008, im Alter von 13 Jahren, entschied er sich gegen den Willen seiner Mutter, zu

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seinem leiblichen Vater nach Louga zu fahren – eine Strecke von mehr als 1.000 km. Doch sein Vater weigerte sich, ihn aufzunehmen. Abgewiesen ging er in das von Louga etwa 70 km entfernte Saint-Louis. Dort traf er einen jungen Franzosen, der im Krankenhaus ein Praktikum machte und sich um ihn kümmerte. Er kaufte ihm Kleidung und sorgte für seine Ernährung. Am Ende seines Aufenthaltes gab er Khalil 200.000 Francs CFA (ca. 300 Euro). Mit einem Teil dieses Geldes reiste Khalil zurück zu seiner Mutter, das Restgeld überließ er ihr. Doch die Situation mit seinem Stiefvater wurde nicht besser und er entschied sich erneut zu gehen. Nach einigen Umwegen kam er wieder nach Louga, wo er noch einmal abgewiesen wurde, woraufhin er in Saint-Louis neuerlich sein Glück versuchte. Er hoffte, hier Arbeit zu finden – oder einen Weißen beziehungsweise einen Touristen als »Sponsor« zu gewinnen (»gagner un blanc«). In Saint-Louis schloss er sich einer Gruppe von Migranten aus Guinea an, die sich als Musikanten im Tourismus verdingten. Viele dieser (meist) jungen Männer (aventuriers) wagen die Migration (aventure) in die Fremde, um ein Auskommen zu finden und ihre Jugend hinter sich zu lassen. Sie betrachten diese Zeit als Schule des Lebens, in der sie leiden, aber auch heranreifen. Sie entziehen sich der Kontrolle ihrer Familien und führen einen oftmals durch Drogen geprägten Lebenswandel (Semadeni/Suter 2006: 29-37). Khalil selbst lehnte den Konsum von Alkohol und anderen Drogen ab, betrachtete sich aber auch als aventurier. Kurz bevor ich Saint-Louis verließ, suchte Khalil mich auf und sagte, er müsste schnellstens die Stadt verlassen. Er habe sich mit den anderen Guineern überworfen. Diese würden ihn nicht bedrohen, aber er könne nicht weiter bei ihnen bleiben. Er brauche sofort 10.000, am besten 15.000 Francs CFA (ca. 23 Euro), um zu Bekannten nach Gambia reisen zu können. Von dort würde er sich zurück zu seiner Familie durchschlagen. Ich zweifelte an seiner Geschichte, gab ihm 2.000 Francs CFA (ca. 3 Euro) und sagte, ich nähme ihn mit nach Dakar, wohin ich am nächsten Tag reisen wollte, und bezahlte ihm dort das Taxi nach Gambia. Ich sah Khalil nie wieder. So wie Bamba und Moussa ist auch Khalil zur Sicherung von Ernährung und Unterkunft auf die Integration in eine Gruppe angewiesen. Khalil selbst leistet seinen Beitrag, indem er seine Französischkenntnisse einsetzt, um Touristen auf die Musikanten aufmerksam zu machen oder mit »seiner Geschichte« etwas Geld zu verdienen. »Gagner un blanc« heißt im Falle

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Khalils, durch eine Mitleid, Aufmerksamkeit und/oder Zuneigung erregende Geschichte, mit einem Touristen oder expatrié (oder auch Ethnologen) eine »instrumentelle Freundschaft« aufzubauen (Wolf 1966: 10-14), die es ihm erlaubt, zeitweilig seine ökonomische Unsicherheit zu lindern – wovon auch andere aventuriers profitieren. Damit verdeutlicht Khalil in ungewohnter Weise, was Alexis C. Bunten in Bezug auf die Arbeit von native guides in Alaska mit dem Begriff kommodifizierte Persönlichkeit beschreibt (2008: 381f). Anderseits deutet sein Beispiel darauf hin, wie wichtig es für die Kleinunternehmer in der Konkurrenz um Touristen ist, eine persönliche Beziehung mit diesen aufzubauen. In Khalils Fall geschieht dies mithilfe einer performativen, Aufmerksamkeit erregenden Maske, die seinem Gegenüber von den Fährnissen seines Lebens berichtet.

K ONKURRENZ UM T OURISTEN Die Kleinunternehmer konkurrieren untereinander und als Gruppe mit staatlichen Angeboten sowie mit der aus Reiseveranstaltern, -agenturen und Hotels bestehenden internationalen Tourismusindustrie. Ich beschränke mich auf eine kurze Skizze der Lage in Saly-Portudal, wo es durch ein hohes Touristenaufkommen gute Einkommensmöglichkeiten, aber auch viele Reglementierungen der Handlungsfreiräume für Kleinunternehmer gibt. Saly-Portudal, etwa 70 km südlich von Dakar und in unmittelbarer Nachbarschaft von Mbour gelegen, ist einer der Hauptorte des senegalesischen Tourismus. Die Region ist seit den 1970er Jahren ein Schwerpunkt touristischer Investitionen (Diouf 1987: 94-104). Hier entstand beispielsweise der 1973 eröffnete, hauptsächlich von Deutschen besuchte »Club Aldiana« (Ciss 1983: 77). Saly-Portudal selbst wurde seit Mitte der 1980er Jahre zu einem der größten Touristenorte (stations balnéaires) Westafrikas ausgebaut und bietet gegenwärtig 8.000 von 20.000 der in Senegal vorhandenen Hotel- und Herbergsbetten (SAPCO 2012b). Ein Großteil des Ortes besteht aus abgeschirmten Klub- und Hotelanlagen sowie Residenzen, in denen Hausbesitzer und deren Bekannte ihren Urlaub verbringen. Den Kleinunternehmern ist der Zutritt zu den genannten touristischen Anlagen gemeinhin verwehrt. Sie arbeiten im village artisanal, im centre commercial, in kleinen Boutiquen, die sich zumeist

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entlang der Hauptstraße nach Ngaparou und auf dem in Anlehnung an die Pariser Prachtstraße sogenannten »Boulevard Haussmann« befinden, oder als ambulante Händler, welche die Straßen und Strände nach Kundschaft absuchen. Die Arbeit am Strand ist jedoch nur eingeschränkt möglich. Jedes Hotel erlaubt lediglich einer begrenzten Anzahl von ausgesuchten Händlern, neben dem Hotel auf Gäste zu warten. Diese Händler besitzen einen badge, um sich als zugelassene Händler ausweisen zu können, und haben das Recht, an festgelegten Tagen auch innerhalb des Hotels ihre Waren auszustellen. Alle anderen Händler können zwar den Strand entlang ziehen, dürfen sich aber nicht länger neben den Hotels niederlassen. Auch die Arbeit auf der Straße wird reglementiert. So bezahlt die SAPCO »Aufpasser«, die besonders auf den Straßen um die Klubanlagen und Hotels darauf achten, dass Kleinunternehmer und Touristen möglichst wenig und wenn, dann konfliktfrei interagieren. Der Zugang zur tourist bubble (vgl. Hüncke in diesem Band, Crick 1989: 327, van Beek/Schmidt 2012: 12-16), die in Saly-Portudal durch die kapitalintensive touristische Infrastruktur gebildet wird, ist für die Kleinunternehmer somit nur eingeschränkt möglich. Dies führt zu Konflikten. Die Kleinunternehmer fühlen sich in ihrer Arbeit und ihrem Zugang zu Touristen behindert. Hoteliers und Klubbetreiber ihrerseits fürchten jedoch, ihre Gäste könnten aufgrund der »Belästigungen« durch die Kleinunternehmer unzufrieden abreisen. Im Folgenden möchte ich die angesprochenen Spannungen illustrieren. Ich gehe zuerst auf eine Situation ein, die als exemplarisch für die negativen Erfahrungen von Touristen mit den Kleinunternehmern gelten kann. Anschließend beschreibe ich die spannungsgeladenen Diskurse zwischen Kleinunternehmern und Tourismusindustrie. Ibou lässt nicht locker Kaum war ich in Saly-Portudal aus dem Taxi gestiegen, sprach mich Ibou an. Er wollte mir den Ort zeigen und ließ auch nicht locker, nachdem ich mehrmals bekräftig hatte, allein bleiben zu wollen. Da unsere Begegnung einen guten Eindruck davon gibt, weswegen die Kleinunternehmer vonseiten des Staates und der Tourismusindustrie als entwicklungshemmend für den Tourismus angesehen werden, möchte ich sie mit einem Ausschnitt aus meinem Feldtagebuch näher beschreiben. Die Darstellung gibt gleichzeitig

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einen Eindruck davon, mit welchen Strategien die Kleinunternehmer in der Interaktion mit Touristen arbeiten: »Mein erster Tag in Saly. Ich wollte das village artisanal besuchen. Ibou aber ließ sich nicht abwimmeln. Bevor wir uns trennten, müsse er mir seine Visitenkarte geben. Leider hatte er sie nicht bei sich. Wir könnten sie aber aus seiner Boutique holen gehen. Wir liefen länger und länger, und ich begann, ihm zu misstrauen. Ibou ließ sich jedoch nicht beirren. Um mir Mut zuzusprechen, sprach er einen zufällig vorbei kommenden Mann an, den er als chef de village vorstellte und der mir versicherte, dass Ibou keine schlechten Absichten habe. Schließlich erreichten wir seine Boutique. Vor ›seiner‹ Boutique, die genauen Besitzverhältnisse blieben mir unklar, saßen sechs oder sieben Männer, die zu den benachbarten Boutiquen zu gehören schienen. Ibou stellte mir jemanden vor, der etwas Deutsch sprach. Von einer Visitenkarte war keine Rede mehr. Als mir beide ihr Geschäft zeigen wollten, verabschiedete ich mich und ging. Ibou folgte mir verärgert. Er forderte mich auf, das alte Fischerdorf von Saly sofort zu verlassen oder er würde nicht länger seinen Mund gebrauchen, um mit mir zu kommunizieren. Ich sei ein Rassist und hätte kein Interesse an den Menschen in Senegal. Egal, was ich bisher in Senegal glaubte, verstanden zu haben, es sei falsch. Ich würde gar nichts verstehen. Wir fingen an zu diskutieren. Nach einiger Zeit gingen wir zurück. In einer Boutique zusammensitzend fragte er mich nach meinem Namen und schlug mir ein Holzobjekt zum Kauf vor. Ich lehnte ab. Er erklärte mir, dass die zwei hinter uns arbeitenden Holzschnitzer mir nun den Schlüssel für das Dorf (clé de village) anfertigen würden, mit dem ich mich frei bewegen könnte. Welchen Namen meine Frau trüge, fragte er nebenbei. Die Holzschnitzer schnitzten meinen und den Namen meiner Frau in zwei hölzerne Halsbandanhänger. Als beide fertig waren, nahm Ibou ein Schreibheft, in dem viele Namen gefolgt von Geldbeträgen standen. Er forderte mich auf, ebenfalls etwas beizusteuern. Es wäre für die Entwicklung des Dorfes und die Verbesserung der Lebenssituation der Kinder. Er drehte sich um und zeigte auf einen etwa zweijährigen Jun gen: ›Sieh ihn dir an!‹ Schlussendlich gab ich ihm eine Münze von 500 Francs CFA (ca. 0,80 Euro) und machte mich auf den Weg. Die anderen Boutiquebesitzer beruhigten Ibou, dem dieser Betrag zu wenig schien. Gemeinsam gingen wir zurück zur Hauptstraße. Eine Stunde später als gedacht, fing ich an, mir das village artisanal anzuschauen.«

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Die Begegnung mit Ibou verdeutlicht einige Charakteristika der Interaktion zwischen Kleinunternehmern und Touristen. Einem doch wenigsten die eigene Visitenkarte, die man aber leider nicht bei sich habe, geben zu können, wird an allen mir bekannten touristischen Orten in Senegal vorgeschlagen, um die Begegnung mit Touristen zu verlängern. Auch ist es im Milieu der Kleinunternehmer üblich, Touristen durch scheinbar zufällige Kommentare zu vergewissern, dass deren jeweilige Gesprächspartner ihnen nichts Böses wollen – was meistens auch stimmt. Ibous Ärger über den scheinbar ignoranten Touristen (Ethnologen) verdeutlicht, dass das touristische System von Kleinunternehmern kritisch gesehen wird. Die Kleinunternehmer kennen die Preise der Hotels sehr genau und bekommen dadurch einen Eindruck von der ökonomischen Asymmetrie zwischen ihnen und den Touristen. Gestützt von Diskursen über die historische und gegenwärtige Dominanz ausländischer Akteure in Senegal und im Tourismus fällt es ihnen mitunter schwer zu verstehen, warum ein Tourist keine fünf Euro für sie übrig hat. Als allgemein für die Interaktion mit Touristen kann ebenso gelten, dass die Kleinunternehmer ihr Gegenüber mit kleinen Gaben für sich gewinnen wollen. Sie vergeben kleine Ketten und Anhänger oder fangen ungefragt an, für den Touristen zu arbeiten. Sie versuchen dadurch, eine persönliche Beziehung zum Touristen herzustellen und die Chancen für weitere Interaktionen zu erhöhen. Zu dieser persönlichen Ebene gehört ebenso, dass einige Kleinunternehmer humanitäre Aspekte in ihr Verkaufsgespräch mit einfließen lassen. Für die Kleinunternehmer sind diese Geschichten und Handlungsmodi wichtig, um in der Konkurrenz um Touristen zu bestehen. Die Konkurrenzsituation zwischen ihnen und kapitalkräftigeren Akteuren der Tourismusindustrie hat sich besonders in Saly-Portudal in den letzten Jahren zugespitzt. »C’est la bonne guerre« »Es ist beinahe wie Krieg«, sagte einer meiner Gesprächspartner, selbst Mitarbeiter eines touristischen Dienstleisters, der Jet-Skis und Boote an Reiseveranstalter und Hotels verleiht, über die Konkurrenzsituation in SalyPortudal. Ibous Versuch, mit mir Geld zu verdienen, kann als Beispiel für die Geschichten dienen, die über die Kleinunternehmer im Kontext von Hotels und Reiseveranstaltern kursieren. Kommt eine Reisegruppe an, gibt

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es am ersten Tag ein briefing über die im Hotelbereich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, aber auch über die Situation außerhalb des Hotels. Hierbei wird darauf hingewiesen, dass auf den Straßen und an den Stränden Personen warten, denen man nicht uneingeschränkt vertrauen sollte. Das Problem mit Angeboten der Kleinunternehmer sei nicht nur der manchmal überzogene Preis, sondern auch, dass es keine Rechtssicherheit gebe, betonten meine für und in Reiseagenturen arbeitenden Gesprächspartner. Sollte ein Unfall geschehen, ist man nicht versichert, will man sich beschweren, gibt es niemanden, an den man sich wenden könnte. Bei Buchungen in Hotels und Reiseagenturen sei dies anders. Die Kleinunternehmer betrachten diese Geschichten als geschäftsschädigenden Rufmord und kontern die Warnungen der Tourismusindustrie auf zweierlei Art. Erstens setzen sie den Negativgeschichten eigene Narrative entgegen: Den Hotels und der SAPCO gehe es nur darum, die Touristen unter ihren Fittichen zu halten. Der Tourismus müsste jedoch allen Senegalesen etwas bringen. Stattdessen sei er gegenwärtig eine neue Form des Kolonialismus, die diesmal den Touristen kolonialisiert. Dieser begegne nicht dem wirklichen Senegal, wenn er sich mit den offiziellen Reiseführern bewegt. Diese sprächen nicht von Ungerechtigkeiten oder Politik. Der »informelle« Reiseführer hingegen könnte die wahre (»authentische«) Realität in Senegal zeigen. Zweitens versuchen die Kleinunternehmer, die Besucher nicht als Touristen anzusprechen, sondern als Freunde, Geschwister oder sénégaulois. Redewendungen wie »Geld geht, aber die Freundschaft bleibt« oder »Gute Taten gehen niemals verloren« überspielen, dass die Beziehung zwischen Tourist und Kleinunternehmer immer (auch) auf Geld basiert. Neben den über sie kursierenden Geschichten ist der durchorganisierte Aufenthalt der Touristen für die Kleinunternehmer ein Problem. Einmal vor Ort haben viele Touristen ein bis zum letzten Tag durchgeplantes Programm, das wenig Zeit für individuelle Ausflüge lässt, argumentierte ein Kleinunternehmer. Die bevorzugte Klientel sind deswegen Individualtouristen. Staat und Tourismusindustrie wollen die »informellen« Praktiken der Kleinunternehmer jedoch nicht länger akzeptieren. Es gehe darum, den Tourismus weiter zu entwickeln, zu professionalisieren. In einem formellen Interview angesprochen auf das »Problem« mit den Kleinunternehmern,

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machte der Direktor der SAPCO in Saly-Portudal sein Verständnis des Tourismus deutlich: »Der Tourismus, der funktioniert mit Reiseagenturen sowie ausgebildeten und anerkannten Reiseführern. Hua! Weil es Armut gibt, heißt das nicht, dass jede Person, die hierher kommt, auch im Tourismus arbeiten kann.« Auch der Direktor des Syndicat d’Initiative et de Tourisme in SaintLouis, einem Zusammenschluss von Hoteliers und Reiseagenturen, unterstreicht, dass beispielsweise die Arbeit als Reiseführer an eine staatlich organisierte Ausbildung geknüpft ist. In Saint-Louis ist diese jedoch nur mit Schulabschlüssen möglich, die kaum ein Kleinunternehmer vorweisen kann. Neben den Möglichkeiten, als Reiseführer ein Auskommen zu verdienen, ist auch das Geschäft mit Souvenirs hart umkämpft. Einige der Kleinunternehmer kritisieren diesbezüglich am offiziellen Diskurs, dass er die verschiedenen Kleinunternehmer nicht differenziert. In Saly-Portudal scheinen die Warnungen vor betrügerischen Praktiken keinen Unterschied zwischen Straßenhändlern und den Boutiquebesitzern des village artisanal zu machen. Außerdem haben sich die Hotels in den Souvenirhandel gedrängt. In Hotels muss man nicht handeln, sondern zahlt Festpreise, was vielen Touristen entgegenkommt. Eine Touristin, die seit 22 Jahren regelmäßig Saly-Portudal besuchte, sagte, bis dato die üblichen Preise im Ort nicht zu kennen. Sie wolle sich nichts ständig übers Ohr gehauen fühlen und kaufe daher lieber im Hotel.

K LEINUNTERNEHMER VON K ULTUR

UND DIE

K OMMODIFIZIERUNG

Die Leute hinter den im Tourismus zum Verkauf angebotenen Masken waren anfänglich vor allem Abkömmlinge der ñeeño und besonders die auf die Holzbildhauerei spezialisierten laobé. Mit der Zeit verloren die laobé ihre Vorrangstellung. Heute sind im touristischen Kleinhandel mit Souvenirs und Dienstleistungen eine Vielzahl von Akteuren tätig (vgl. Sarr 2004: 88-97). Als Kleinunternehmer aktive ñeeño und laobé werden durch die zunehmende Konkurrenz und die sie benachteiligende rezente Tourismusentwicklung sukzessive marginalisiert.

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Im Gegensatz zum Ethnotourismus, wo die Kulturträger die Vermarktung »ihrer« Kultur vorantreiben oder zumindest daraus entstehende Gewinne einfordern können, haben es die ñeeño in Senegal nicht vermocht, mit dem Verweis auf ein spezifisch touristisches Interesse an ihrer Gruppe gegen diese Marginalisierung anzukämpfen; obwohl es seit Jahrzehnten vor allem ihre Produkte sind, die von Touristen nachgefragt und von den Hotels in großer Zahl aufgekauft werden. Betrachtet man die Entwicklung des Tourismus, dann zeigt sich, dass die zeitweilige Hochkonjunktur für Masken, Statuen und andere materielle Güter mit der Faszination für afrikanische Kunst einherging. Die Kleinunternehmer profitierten von »global cultural flows« (Appadurai 1998: 33), welche die materielle Kultur Afrikas bekannt machten. Dean MacCannell bietet für diesen Zusammenhang ein hilfreiches analytisches Konzept. Er beschreibt eine touristische Sehenswürdigkeit wie folgt: »All tourist attractions are cultural experiences. A cultural experience has two basic parts which must be combined in order for the experience to occur. The first part is the representation of an aspect of life on stage, film etc. I call this part the model […]. The second part of the experience is the changed, created, intensified belief or feeling that is based on the model. This second part of the experience I call the influence.« (MacCannell 1999: 23f, Hervorhebung GM)

Übertragen auf den Souvenirverkauf war das Modell (the model bei MacCannell), von dem die Kleinunternehmer im Souvenirverkauf anfänglich profitierten, die hochkulturelle Faszination für afrikanische Kunst. In den 1970er und 1980er Jahren wurden massenhaft die gleichen Masken und Statuen produziert, um sie an Touristen zu verkaufen. Folgt man der Argumentation von Christopher B. Steiner, dann zeigte sich in der Serialität der angebotenen Produkte der Versuch, die Touristen beim Kauf eines Objektes am Original und damit am »Mythos« afrikanischer Kunst partizipieren zu lassen. »Because an object’s economic worth in the African art market depends not on its originality or uniqueness but on its conformity to ›traditional‹ style, displays of nearly identical objects side by side underscore to prospective tourist buyers that these artworks indeed ›fit the mold‹. […] In this scheme, the unique object repre-

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sents the anomalous and undesirable, while a multiple range of (stereo-)types signifies the canonical and hence the most desirable to collect.« (Steiner 1999: 95f)

Diese Beschreibung des touristischen Kaufinteresses ist heute nicht mehr gültig. Touristen sagen, die Kleinunternehmer bieten seit Jahren das gleiche, es gäbe keine Innovation. Gesucht werden zwar immer noch Andenken, aber originelle oder praktische Souvenirs. Erfolgreich verkauft sich gegenwärtig vor allem »Recycling-Kunst«, also aus Altmetall und anderen Wertstoffen hergestellte Objekte. Aufgrund der nachlassenden Faszination für afrikanische Kunst versuchen die Kleinunternehmer, ihren Kunden ein anderes model zu verkaufen. Statt Serialität ist es heute die Singularisierung8 der Objekte und Erlebnisse, die einen Verkaufserfolg verspricht. Der Kleinunternehmer deklariert den Kauf eines Objekts als wichtige Hilfe in einer schwierigen persönlichen Situation, er erzählt die Geschichte des Objekts, des Produzenten und/oder Verkäufers und kreiert damit »singuläre imaginaries«, die der Tourist mit seinem Souvenir verbindet. Die Schwächung des model, der Faszination für afrikanische Kunst, mindert einerseits die Erlebnisintensität beziehungsweise den kulturellen Einfluss (the influence bei MacCannell) der von den Kleinunternehmern angebotenen Souvenirs. Anderseits verringert sich dadurch auch der Einfluss der Kleinunternehmer – als Produzenten und Anbieter einer weniger nachgefragten Ware – auf die anderen Akteure des Tourismus. Parallel dazu verringern sich im Moment die Touristenzahlen in Senegal, was den Druck auf Staat und die Tourismusindustrie erhöht, ihre Investitionen in Infrastruktur und Hotels profitabel zu halten. Die Konsequenz ist eine zunehmende Enklavierung des Tourismus (vgl. Appadurai 1986: 25, 57f), wie ich sie in Bezug auf Saly-Portudal beschrieben habe. Es wird versucht, die tourist bubble weniger durchlässig zu machen.

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Für Kopytoff geht mit der Kommodifizierung von Objekten ihre verstärkte Austauschbarkeit und damit Homogenisierung einher. Das Gegenteil einer Ware sei eine Gabe und somit ein singuläres Objekt, das sich nicht widerstandslos austauschen lässt, schreibt er (vgl. 1986: 72-74). Ich wandele Kopytoffs Verständnis von Singularisierung etwas ab; ähnlich wie es Appadurai (vgl. 1986: 17) einfordert.

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Neben ökonomischen und kulturellen Aspekten beinhalten die skizzierten Kommodifizierungsprozesse jedoch auch soziale Dynamiken (vgl. Hart 1982). Es ist falsch zu glauben, dass durch das Interesse an einer Kultur die Dogon oder die Wolof profitieren. Es sind bestimmte Gruppen und Kulturträger. In Senegal waren es anfänglich die ñeeño, genauer, vor allem die laobé, und wenn man noch genauer schaut, was ich hier aus Platzgründen vermieden habe, waren es insbesondere die laobé yett und unter diesen wiederum vor allem die Kunsthandwerker, die vom Interesse an Holzobjekten profitierten (vgl. Diop 1981: 53, Salem 1981: 179-181). In der Literatur wird oft davon berichtet, dass der Tourismus das Handwerk revitalisiert (z. B. Deitch 1989, Smith 2001, Leite/Graburn 2012: 44f, 50f). Ausführungen darüber, was die Revitalisierung mit der Gruppe der Kulturträger macht, das heißt mit denen, die das Handwerk praktizieren, oder wie um die Kulturträgerschaft gerungen wird, finden sich jedoch selten.9 Die im Text angeführten Personen zeigen, dass es in Senegal Bevölkerungsgruppen gibt, die zum Teil seit drei Generationen im Tourismus arbeiten (wie im Falle von Bamba). Da es für sie jedoch keine positiv besetzten tourist tales gibt, schaffen sie sich ihre eigenen touristischen Inszenierungen (tourist realisms; vgl. Bruner/Kirshenblatt-Gimblett 2005: 56), »singulären imaginaries« oder verkaufsfördernden performativen Masken, mit denen sie Besucher des Senegal für sich zu interessieren versuchen (Khalil und Moussa). Für seit mehreren Generationen im Tourismus tätige Kleinunternehmer, wie Bamba und Moussa, sind die Enklavierungs-Versuche von Staat und Tourismusindustrie befremdlich. Es ist für sie schwer nachzuvollziehen, mit der Begründung vertrieben zu werden, dass alles seine Ordnung haben müsse, wenn sich gleichzeitig der Verkauf »ihrer« Holzobjekte in angrenzende Boutiquen und, was als das eigentliche Problem angesehen wird, in die Hotels abwandert. Besonders merkt man diese Entwicklung in Saly-Portudal. Ibous Versuch, mit mir etwas Geld zu machen, besitzt eine gewisse Legitimität, wenn man die ökonomische Asymmetrie zwischen Kleinunternehmer und Tourist beziehungsweise Tourismusindustrie bedenkt. Viele der Kleinunternehmer, besonders die Kleinhändler, bleiben manchmal wochenlang ohne Einkommen. In solchen Fällen überlebt man nur durch die Integration in eine Fami-

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Für ein Gegenbeispiel siehe Klute 2012.

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lie oder Gemeinschaft. Außerdem kaufen sich die Kleinunternehmer in Notfällen, wenn auch mit Verlust, gegenseitig ihre Waren ab. Derjenige, der Erfolg im Verkauf hatte, teilt seine Einkünfte auf diese Art innerhalb der Berufsgruppe auf. Gegenwärtig ist durch den Rückgang der Besucherzahlen jedoch auch dieser Mechanismus geschwächt. Dieses Kapitel ist kein Plädoyer für die Kleinunternehmer im Tourismus. Sie könnten den Tourismus in Senegal nicht allein betreiben. Vielmehr habe ich in diesem Beitrag versucht, durch die Betrachtung ökonomischer, kultureller und sozialer Prozesse einige der vom Tourismus in Senegal ausgelösten Dynamiken verständlich zu machen. Ich hoffe, ich konnte auf diese Art die Leute hinter den »traditionellen« sowie den neueren performativen Masken des Tourismus als wichtige Akteure im Prozess der Kommodifizierung von Kultur sichtbar werden lassen.

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Der Shop als Spiegel des Museums Ausstellungsobjekte, Souvenirs und Identitätspraktiken im Jüdischen Museum Berlin und im Yad Vashem, Jerusalem A NJA P ELEIKIS UND J ACKIE F ELDMAN

Spektakuläre Museumsneubauten und die Umgestaltung in aufsehenerregende Erlebnis- und Konsumwelten haben die Bedeutung von Museen in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Galten Museen früher als heilige Tempel der Hochkultur, in denen vor allem gesammelt, bewahrt, geforscht und durch Ausstellungen Wissen vermittelt wurde, werden sie heute immer mehr zu Dienstleistungsbetrieben, die innovativ und kreativ versuchen, Kultur und Unterhaltung als ein abwechslungsreiches und attraktives Erlebnispaket anzubieten. Dabei konzentrieren sich viele Museen nicht mehr nur auf die Vermittlung kulturellen Wissens, sondern versuchen, weitere Freizeitbedürfnisse der Museumsbesucher zu bedienen, wie Essen, Shopping, Unterhaltung und geselliges Beisammensein. Immer stärker gehören gut sortierte Shops, museumseigene Cafés und Restaurants sowie Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Tanzabende und Diskussionsrunden zu Museen, die sich im Trend der Erlebniskultur inszenieren (vgl. Kotler 2001). Entsprechend sind es heute auch nicht mehr ausschließlich Museumsdirektoren, Kuratoren und Mitarbeiter der Bildungsabteilung, die die inhaltliche Ausrichtung festlegen und umsetzen, sondern immer häufiger sind Marketingspezialisten, PR-Experten und Museumsshopmanager daran be-

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teiligt, Museen zu tragfähigen und wirtschaftlich erfolgreichen Dienstleistungsbetrieben auszubauen (vgl. McPherson 2006). Ungeachtet dieser immer stärkeren Vermischung von Kultur und Kommerz, Ausstellung und Shop, Wissensvermittlung und Konsumerlebnis stellen nur wenige sozialwissenschaftliche Studien diese Entwicklung ins Zentrum ihrer Museumsanalysen (z.B. de Groot 2009, Hampel 2010, Kent 2010). In unserer vergleichenden Forschung über das neue Yad Vashem Museum und das Jüdische Museum Berlin liegt der Fokus auf sozialen Praktiken, Repräsentationen und Identifikationsprozessen, die nicht nur in Ausstellungen, sondern eben auch in Museumsshops, Cafés, Restaurants, temporären Märkten und Veranstaltungen stattfinden.1 James Clifford hat Museen als Kontaktzonen beschrieben, in denen unterschiedliche Akteure – wie Direktoren, Kuratoren, Bildungspersonal und Besucher – aufeinander treffen und, mit unterschiedlichen Macht- und Einflussbefugnissen ausgestattet, sich selbst und andere durch ihre Beziehungen konstituieren (Clifford 1997: 192). Davon ausgehend betrachten wir nicht nur die spezifischen Ausstellungsbereiche eines Museums als Kontaktzonen, sondern alle seine Bereiche, Ausstellungen genauso wie Shops, Cafés und Restaurants. Während Clifford museale Kontaktzonen vor allem als Räume der Konfrontation beschrieben hat, sehen wir Museumsshops eher als Orte der Verhandlung und Inszenierung von Identitäten unterschiedlicher Besuchergruppen (vgl. Clifford 1997). Das Sammeln und Anhäufen von Dingen ist eine wesentliche Komponente der Identitätskonstruktionen in der westlichen Welt, eine Praxis, mit der wir uns unseres Selbsts vergewissern, unsere Identitäten formen und

1

Das Forschungsprojekt »After the Survivors. Performing the Holocaust and the Jewish Past in the New Yad Vashem Museum and in the Jewish Museum, Berlin« ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Ben Gurion Universität, Beer Sheva (Dr. Jackie Feldman) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Burkhard Schnepel und Dr. Anja Peleikis) und wird von der German-Israeli-Foundation (GIF) gefördert (2009-2012). Die Forschung in Israel wurde darüber hinaus auch von der Israel Science Foundation (394/07) unterstützt. Für konstruktive Gespräche, Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag bedanken wir uns bei den Herausgebern Felix Girke, Eva Maria Knoll und Burkhard Schnepel sowie bei unseren Mitarbeiterinnen Yamima Cohen und Tanja Kersting, die uns auch bei der Forschung unterstützt haben.

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ausdrücken (Clifford 1994). Das Jüdische Museum Berlin (JMB) und das neue Yad Vashem Museum (NYV) sind solche Orte, an denen bei der Betrachtung und beim Erwerb, Aneignen und Sammeln von Souvenirs und Artefakten deutsche und israelische, jüdische und nicht-jüdische Identitäten dargestellt, konstruiert und ausgehandelt werden. Lange Zeit wurden Museumsshops – vor allem von kritischen Berichterstattern und Kunsthistorikern – als verpönte Anhängsel betrachtet, ein notwendiges Übel, das es den Museen angesichts knapper öffentlicher Kassen und einer hohen Konkurrenz in der Freizeit- und Tourismuswirtschaft erlaubt, die durch den Kommerz erzielten Einnahmen für ihre Ausstellungs- oder Bildungsarbeit einzusetzen. Manche Autoren warnten, dass dem Museum die Verwandlung zum Einrichtungshaus drohe und dass das Getöse um Unterhaltungswerte und Schmuckqualitäten das Original verstummen lasse (Rauterberg 1999: 16-17). Die wahre Kunst werde zur Ware Kunst, die durch kitschige Reproduktionen entweiht und banalisiert werde (vgl. Rauterberg 1999). Unabhängig von solchen moralisierenden Bewertungen richten wir unseren ethnographischen Blick auf Interaktionen und zeigen auf, dass Identifikationsprozesse und die Verbreitung von musealen Botschaften eben auch in kommerzialisierten Räumen zu beobachten sind. Beide ausgewählte Museen setzen sich jeweils mit dem Holocaust und der jüdischen Vergangenheit auseinander, sind gleichzeitig jedoch in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten verortet. Dies eröffnet uns die Möglichkeit, durch Vergleich und Kontrastierung zu erforschen, wie auf unterschiedliche Arten und Weisen Identifikationsangebote und -praktiken, Museumspolitiken und Metanarrative nicht nur in den Ausstellungen, sondern eben auch in kommerzialisierten musealen Räumen sichtbar werden. Der von uns beobachtete unterschiedliche Umgang mit Kommerzialisierung und Ökonomisierung der Erinnerung in den beiden Museen lässt sich jedoch nicht einfach auf die unterschiedliche Ausrichtung der beiden Museen zurückführen, das eine als Jüdisches Museum und das andere als Holocaust-Gedenkstätte. Vielmehr reflektieren Ausstellungskonzepte und -politik, Bildungsprogramme sowie die Ausprägung der Kommerzialisierung komplexe Entscheidungen und Machtkonstellationen von Kuratoren, Direktoren und Museumsmitarbeitern in den jeweiligen lokalen, nationalen und globalen Kontexten. Museumsbesucher sind in diesem Gefüge nicht nur passive Konsumenten unveränderbarer Museumspolitiken. Indem sie sich entscheiden, das

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Museum und seine Angebote zu besuchen, Artefakte anzuschauen oder zu berühren, sich Objekten zu- oder von ihnen abzuwenden, interaktive Elemente auszuprobieren, ihre Meinungen in Gästebücher zu schreiben, bestimmte Museumssouvenirs auszuwählen und zu kaufen, bestätigen und verstärken sie durch ihr Handeln und ihre Präsenz Ausstellungspolitiken und -praktiken. Gleichzeitig können sie durch das Fernbleiben von bestimmten Teilen eines Museums, dem Ignorieren von Ausstellungsobjekten, dem veränderten Gebrauch von bestimmten interaktiven Elementen sowie dem Kritisieren von Ausstellungspraktiken auch Museumspolitiken herausfordern und dazu beitragen, diese zu verändern.

D AS J ÜDISCHE M USEUM B ERLIN UND DAS NEUE Y AD V ASHEM M USEUM Das Jüdische Museum Berlin (JMB) und das neue Yad Vashem Museum (NYV) in Jerusalem wurden 2001 bzw. 2005 eröffnet. Sowohl das JMB, entworfen vom polnisch-amerikanischen Architekten Daniel Libeskind, als auch das NYV, geplant vom kanadisch-israelischen Architekten Moshe Safdie, gelten als spektakuläre Beispiele zeitgenössischer Architektur und sind in beiden Ländern herausragende Sehenswürdigkeiten. Beide Museen verfolgen das Ziel, mittels außergewöhnlicher Architektur und innovativem Ausstellungsdesign nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern ebenso spezifische Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle zu ermöglichen. Sie unterscheiden sich dabei jedoch in ihren Botschaften und damit auch im Ziel, welche Emotionen und Erfahrungen bei den Besuchern ausgelöst werden sollen. Das Jüdische Museum Berlin propagiert eine »2000jährige deutschjüdische Geschichte«, die den Blick auf Kontinuitäten wirft und in den Dienst aktueller gesellschaftspolitischer Debatten über eine multi-kulturelle deutsche Gesellschaft stellt. Die jüdische Vergangenheit wird dabei vor allem als eine gemeinsame jüdisch-deutsche Geschichte erzählt. Aktuelle Themen wie Vielfalt und Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft werden in den Mittelpunkt gestellt und auf die Vergangenheit projiziert, während der Holocaust als ein temporärer Bruch in einer langen Geschichte dargestellt wird. Im Gegensatz dazu besteht die dominante Botschaft des neuen Yad Vashem Museums in der Ermahnung zur Erinnerung und zum Gedenken an

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das Leid der Opfer und den Mut der Überlebenden des Holocaust. Mit den ausgestellten Erinnerungsobjekten und den filmischen Erinnerungen der Zeitzeugen wird eine sakrale Aura kreiert, die zusammen mit der Architektur und der geographischen Lage das Museum zu einem nationalen Heiligtum werden lässt. »Spielplatz der Geschichte«: Das Jüdische Museum Berlin Das Jüdische Museum ist einer der wichtigsten touristischen Anziehungspunkte Berlins mit jährlich circa 750.000 Besuchern (Jüdisches Museum 2012a). Viele Touristen kommen, um das symbolisch aufgeladene Gebäude zu sehen, das Libeskind selbst als einen Versuch beschrieben hat, den Holocaust physisch und geistig in das Bewusstsein und das Gedächtnis der Stadt zu integrieren (Libeskind 1998: 6). Das Bauwerk wurde auch als ein »Gefühlsmonument« beschrieben, in dem gerade im Untergeschoss Gefühle von Beklemmung, Ausweglosigkeit und Verlorenheit evoziert werden sollen (Beyer 1999).2 Im Untergeschoss eröffnet sich dem Besucher ein Wegesystem aus drei Achsen, die symbolisch für drei Wirklichkeiten der Geschichte jüdischer Deutscher stehen: Vernichtung, Emigration und Kontinuität. Die Achse des Holocausts ist eine Sackgasse. Sie wird immer schmaler und führt durch eine schwere schwarze Stahltür in den Holocaust-Turm. Wie ein Betonverlies erscheint der kleine spitzzulaufende Raum mit hohen, nackten Sichtbetonwänden, in den einzig durch einen schmalen Spalt am oberen Ende ein blasser Lichtstrahl eindringt. Die Achse der Emigration führt nach draußen ans Licht, in den Garten des Exils. Auf dem Weg dorthin ist der Boden uneben und steigt an. Die dritte und längste Achse ist die Achse der Kontinuität. Sie verbindet den Altbau mit der Haupttreppe und führt vom Untergeschoss steil nach oben in die Dauerausstellung. Vitrinenbänder sind in die Wände der Achsen eingelassen, die anhand persönlicher Gegenstände von Verfolgung, Flucht und Vernichtung erzählen. Da die Objekte und Ausstellungstafeln nicht auf Augen-, sondern auf Bauchhöhe platziert sind, muss der Besucher den Kopf leicht neigen, um

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Zur Architektur des Museums siehe auch: Al-Taie (2008), Dorner (2006), Pieper (2006: 237-255), Schneider (1999), Young (2000: 154-173).

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die Objekte hinter der Glasscheibe zu sehen und die Erklärungen lesen zu können. Abb. 1: Vorderansicht Jüdisches Museum Berlin

Foto: A. Peleikis

In der Achse des Holocausts sind die Vitrinen zudem mit schwarzem Glas überdeckt und weisen nur an einigen Stellen klares Glas auf. Diese Gestaltung gibt die Blickrichtung und Position der Besucher vor. Tatsächlich konnten wir beobachten, dass die Besucher den in die Architektur eingeschriebenen »Anweisungen« folgten: sie verneigten sich vor den Objekten und blieben ruhig an der Stelle der Vitrine stehen, die durch das klare Glas den Blick auf die Objekte ermöglicht. Auffällig war die aufmerksame und andächtige Stimmung, die in der Interaktion zwischen Ausstellungsarchitektur und den zu ihr in Bezug tretenden Besuchern kreiert wurde. Sogar wenn sich viele Besucher in diesem Ausstellungsteil befanden, so verhielten sie sich hier sehr respektvoll und leise, schauten sich konzentriert die Objekte an, lasen die Tafeln, sprachen bedacht und flüsterten. In Gesprächen über diesen Ausstellungsteil mit Besuchern verschiedenen Alters und aus vielen unterschiedlichen Ländern kommend, äußerten viele ähnliche Erfahrungen und Gefühle. Beispielhaft dafür sind die Äußerungen dieser vier Studenten aus London:

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Student 1: I found the cold room [Holocaust Tower] remarkable. Student 2: Yes, the small room, it has very high walls, it’s quite cold inside. Student 3: The feeling is amazing. Student 4: Like being in a prison. Student 1: Yeah, it’s worse. Student 3: Even worse than being in a prison. Isolation. Student 4: Even sad, a sad and depressing site – it’s like I want to get out of there. Student 3: It makes you think. I think of people who had to go to jail or people who had to go to this kind of camp in which they felt so much isolation – they were apart from the family, the people they loved. So maybe these kinds of feelings are the ones that I felt in that place.

Während die Besucher die andächtige Stimmung im Untergeschoss beschreiben und Gefühle der Enge, Traurigkeit, Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit in den Achsen und vor allem im Holocaust-Turm erfahren und beschreiben, vermitteln sie im Obergeschoss des Museums eine ganz andere Vielfalt von Eindrücken und Gefühlen. Die Dauerausstellung »2000 Jahre jüdisch-deutsche Geschichte« wird vor allem als witzig, informativ, unterhaltsam, spannend, interessant, bunt, lebendig und interaktiv beschrieben. Tatsächlich sind viele Besucher zuerst über den Schwerpunkt der Dauerausstellung erstaunt, da sie vor allem eine Auseinandersetzung mit Verfolgung, Flucht und Vernichtung erwartet haben. Das Museum greift dieses Überraschungsmoment bewusst auf und wirbt in einer Postkarten- und Posterserie mit irritierenden Bildern, die zumeist unbelebte Dinge zeigen, die sich in Tiere oder Pflanzen verwandeln. Dabei steht der Satz: »Nicht das, was sie erwarten.« Geboten wird dem Besucher eine lebendige und vielfältige deutschjüdische Geschichte, die durch interaktive Elemente und Medienstationen spielerisch entdeckt werden kann und leicht zugänglich ist. Der Medieneinsatz unterstreicht dabei den Anspruch des Museums, alle Bevölkerungsgruppen anzusprechen und nicht nur gebildete, erwachsene Museumsgänger, wie es der Direktor Michael Blumenthal in einem Interview ausgedrückt hat: »Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wollen ein Museum machen, das für alle interessant ist. Auch ein Bürger mit begrenzter Schulbildung soll hierher kommen und es interessant finden und etwas daraus lernen. Daher sollen hier nicht nur Sa-

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chen gezeigt werden, für deren Verständnis man eine Universitätsbildung braucht.« (Michael Blumenthal in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung 2001: 20)

Abb. 2: Postkarte »Nicht das, was Sie erwarten«

Quelle: Motiv aus der Imagekampagne © Jüdisches Museum Berlin, entwickelt von Scholz & Friends Berlin

Überall werden Besucher eingeladen, Schubfächer und Klappen zu öffnen, Schilder zu wenden und an bunten Rädern zu drehen, um genauere Informationen zu einer bestimmten Thematik oder Person zu bekommen. Dabei werden im Rahmen der gesamten Ausstellung biographische und familiengeschichtliche Details in den Vordergrund gestellt. Interaktive Medienstationen, bei denen gerade gelerntes Wissen getestet werden kann, unterstützen den spielerischen Entdeckungsansatz des Museums.3 Darüber hinaus knüpfen diese Stationen vor allem bei Jugendlichen an ihre computergestützte Spiele- und Alltagswelt an. So kann man beispielsweise der mittelalterlichen Glikl aus Hameln auf ihrer Reise nach Bremen computergestützt beim Kofferpacken helfen und entscheiden, welche Objekte die jüdische Händlerin mitnehmen soll. Oft konnten wir Besucher beobachten, die allein oder mit mehreren Personen konzentriert an den Stationen standen und aktiv ins »Spiel« involviert waren. Zwei Frauen brachten dies klar zum Ausdruck.

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Bzgl. des Konzeptes des Entdeckungslernens im Museum vgl. Lepenies (2003: 66-76).

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Eine 25-jährige US-Amerikanerin stellte fest: »I like such a game more than showcases, because it’s entertaining and involves me more.« Eine ähnliche Haltung wurde von einer 21-jährigen Niederländerin formuliert: »It was pretty good because you read about the woman [Glikl of Hameln] and what she does and what she thought at her time. You learn about her what it meant to be a woman and Jewish at her time. Yeah it is fun to think about this and to get these explanations by playing the game. Yeah, to play the game is also more interactive.«

Viele Objekte werden im JMB nicht distanziert und zur auratischen Aufladung hinter Glas präsentiert, stattdessen liegt der Ausstellungsfokus auf Repliken, die aus der Nähe betrachtet und teilweise sogar angefasst werden können. Lernen und Verstehen erschließt sich so nicht ausschließlich über den Blick auf das Objekt und das Lesen der dazugehörigen Infotafeln, sondern über alle Sinne und in Bewegung. An einer Maschine können Moses-Mendelssohn-Münzen gepresst werden, unter dem Hochzeitsbaldachin erklingt Musik, die Jugendliche schon mal zum Tanzen animiert, und an einem Automaten können für zwei Euro koschere Gummibärchen gezogen und probiert werden. Viele Angebote sprechen insbesondere auch Familien mit Kindern an, für die Attraktionen über den ganzen Ausstellungsparcours verteilt sind. Der Entdeckungsansatz und das »Hands-On«-Konzept4 des Museums wirkt möglichen Berührungsängsten mit dem jüdischen Anderen entgegen. So motiviert die Ausstellungsarchitektur die Besucher »teilzunehmen« und sich in die Lebenswelten der jüdischen Menschen hineinzuversetzen. Diese Erfahrung schildert auch eine junge dänische Besucherin, die eine Medienstation im Segment »Nationalsozialismus« in der Dauerausstellung ausprobiert hat: »Ich finde, dass diese Medienstationen sehr gut funktionieren, weil man teilnimmt. Das versetzt einen plötzlich in die Situation, als wäre man plötzlich dabei. Das ist unmittelbar, als wenn man plötzlich in die Situation reinkatapultiert wird. Da spürt man, wie es den Menschen ergangen sein muss. Das berührt mich sehr.«

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Statt »Berühren verboten« heißt es bei diesem Museumskonzept »Anfassen erlaubt«, was zu einem Lernen durch Handeln und eigenes Erleben führen soll (vgl. z.B. Lepenies 2003).

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Während also in dem größten Teil der Dauerausstellung die deutschjüdische Geschichte vor allem lebendig, optimistisch und bunt inszeniert wird, konzentriert sich das Segment über den Nationalsozialismus darauf, die begrenzten Möglichkeiten aktiven Handelns in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei fordern »Mit-Mach«- und »Hands-On«-Stationen in allen Segmenten die Besucher dazu auf – unabhängig vom Alter, der Herkunft, der Religion oder des Geschlechts –, in die Rolle eines jüdischen Deutschen bzw. deutschen Juden zu schlüpfen. Vergangene jüdische Lebenswelten werden in der Gegenwart fühlbar und regen dazu an, über Themen wie Migration, Integration und Identität, Zugehörigkeit und Vielfalt in der deutschen Gesellschaft in der Gegenwart zu diskutieren. Diese Fragen stellen sich dem Besucher nicht nur indirekt, sondern werden vom Museum mit einer Installation am Ende der Ausstellung aufgegriffen. Auf einem Bildschirm wird beispielsweise die Frage gestellt: »Sollten alle Personen, die heute in Deutschland geboren werden, die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen?« Die Besucher können auf große Knöpfe drücken und mit »Ja« oder mit »Nein« abstimmen. Der spielerische und optimistische Zugang zur jüdischen Vergangenheit und Religion im Jüdischen Museum Berlin liefert zumindest Visionen eines vielfältigen und toleranten Zusammenlebens in Deutschland. »Nationales Heiligtum der Erinnerung«: Das neue Yad Vashem Museum Während im Jüdischen Museum Berlin der Holocaust als ein kurzes Intervall in einer 2000jährigen Geschichte dargestellt wird, stehen im neuen Yad Vashem Museum die jüdischen Opfer des Holocaust im Zentrum der Ausstellung. »Yad Vashem« heißt wörtlich übersetzt »Denkmal und Name« und wurde 1953 durch einen Beschluss des israelischen Parlaments als nationale Gedenkstätte gegründet.5 Das Ziel war, einen Ort der Trauer für die Überlebenden einzurichten, die keine Grabstätten für ihre Angehörigen hatten, das Andenken an die Toten zu wahren und der Welt zu zeigen, dass Jerusalem der geeignete Ort der Erinnerung ist. Dies wurde bereits bei der Gründung von Yad Vashem festgeschrieben:

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Vgl. Haß (2002), Krakover (2005), Gutterman/Shalev (2008), Kurths (2008), Young (1993), Brog (2003), Handelman/Shamgar-Handelman (1997).

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»[…] and at the same time remind the world that Jerusalem is the appropriate place in which the victims to be remembered. This name [Yad Vashem] also says that Israel our land, and Jerusalem our city is the place and memory for them […] Her e is the heart of the nation, the heart of Israel. Everything should be concentrated here …« (Dinur in Divrei Haknesset [Knesset Proceedings] 14 (1953): 1311, 1313 [Original in Hebräisch, Übersetzung ins Englische Jackie Feldman])

Yad Vashem erstreckt sich über ein weitläufiges Gelände, dem »Berg der Erinnerung«, auf dem sich verschiedene Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie eine Vielzahl von Skulpturen, Denkmälern und Gedenkorten befinden. Die direkte Nachbarschaft zum Herzlberg, auf dem das Grab von Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus, sowie die Gräber der ehemaligen Staatspräsidenten und der israelische Militärfriedhof zu finden sind, macht das Yad Vashem-Gelände zu einem Teil der nationalen israelischen Erinnerungslandschaft. Tatsächlich bestimmt der nationale Erinnerungsauftrag, die Nähe zu staatlicher Erinnerungspolitik sowie die enge Beziehung zu den Überlebenden Yad Vashems institutionelle Ausrichtung. Abb. 3: Eingang zum neuen Yad Vashem Museum

Foto: A. Peleikis

Steigende Besucherzahlen, neue Forschungsergebnisse und sich verändernde museale Präsentations- und Erzählformen führten zu dem Bestreben, ein neues historisches Museum zu bauen, um das 1973 eröffnete alte Museum zu ersetzen. Gleichzeitig war die Yad Vashem-Leitung mit der Tatsache

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konfrontiert, dass die Zeitzeugen immer älter wurden und starben, während eine neue Generation ohne direkten Bezug zum Holocaust aufwuchs bzw. ohne Angehörige, die von der Zeit erzählen konnten. Die Vermittlung der Holocaust-Geschichte an die junge Generation erforderte neue bildungspolitische Programme und Ausstellungspolitiken, die in einem neuen Museum realisiert werden sollten. Nach zwölfjähriger Planungs- und Bauphase konnte schließlich 2005 das neue Yad Vashem-Museum für die Geschichte des Holocaust eröffnet werden. Inzwischen ist das neue Museum zu einer der wichtigsten israelischen Sehenswürdigkeiten geworden und zieht jährlich etwa eine Million Touristen aus aller Welt an. Daneben besuchen vor allem israelische Soldaten, Schüler und Diplomaten das Museum.6 Der Eintritt ist frei, was deutlich macht, dass sich die Institution als Gedenkstätte versteht, in der die Besucher Gäste oder Pilger sind und keine zahlenden Kunden. Kinder unter zehn Jahren ist der Eintritt verboten. Dies verstärkt den Eindruck eines stillen Gedenkortes, an dem spielende Kinder unerwünscht sind. Ähnlich wie das Jüdische Museum Berlin ist auch das neue Yad Vashem-Gebäude eine architektonische Metapher. Der prismenartige, dreieckige Bau, der den »Berg der Erinnerung« von der einen Seite bis zur anderen durchdringt, erscheint von innen wie ein finsterer »HolocaustTunnel« (Knapp 2005).7 Am Ende des Tunnels ist Licht erkennbar. Um aber auf die Terrasse am Ende der Ausstellung zu gelangen und den Blick über die Berge Judäas schweifen lassen zu können, muss der Besucher einem genau festgelegten, der Historie folgenden Weg durch alle Ausstellungsräume folgen (Rotem 2010: 104-116). Die Inszenierung von Objekten, Filmen und Fotos im Museum orientiert sich dabei an dem Anspruch, die Geschichte des Holocaust anhand von Einzelschicksalen deutlich zu machen (vgl. Harel 2010). Da die Nazis Juden zu namenlosem und unwertem Leben degradierten und brutal ermordeten, sollen diesen Menschen durch die Erinnerung ihre Würde und ihre Namen wiedergegeben werden. Um dieses Ziel zu erreichen, werden mittels modernster Technik, innovativem Ausstellungsdesign, Originalgegen-

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Für Diplomaten zählt der Besuch des Yad Vashem-Museums zum obligatori-

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Zur Architektur des neuen Yad Vashem-Museums siehe Oppenheimer Dean

schen Besuchsprogramm in Israel. (2005), Safdie (2006), Rotem (2010).

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ständen und Augenzeugenberichten die Erfahrungen und Biographien von Zeitzeugen in den Mittelpunkt der Ausstellung gestellt. Die besondere Bedeutung der Erinnerungsobjekte und Zeitzeugen für das neue Yad Vashem Museum macht Museumsdirektor Avner Shalev in einem Interview deutlich: »When we wrote the program [for the new museum] and opened an architectural competition, in parallel, we knew that we wanted to amplify dramatically the authority of the artifacts we possess. Over the last decade, we undertook a dramatic process of collection that brought thousands of objects to Yad Vashem. […] The objects were to serve as metonyms for the individual victims, to tell their story: Many survivors told me this, when we opened the museum for a week just for them. The response was tremendous and the sentence that repeated itself over and over was ›now we know that we can leave the world. Someone took over the ability to transmit what we wanted to transmit to others‹.«8

Dorit Harel, die als Kuratorin für das Ausstellungskonzept verantwortlich war, nennt ihr Design-Konzept »Facts and Feelings«: Es hat den Anspruch, die historischen Fakten durch das Ausstellungsdesign und den Fokus auf Einzelschicksale so zu präsentieren, dass sie in dem Betrachter Gefühle wie Trauer, Entsetzen, Mitleid, Wut, Empathie und Respekt vor den Opfern auslösen (Harel 2010). Das Zusammenwirken von Gebäude, den hinter Glas präsentierten persönlichen Erinnerungsstücken sowie den Zeitzeugenberichten schafft eine sakrale Aura und weckt damit Ehrfurcht vor dem ungeheuren Leid der Opfer. Dies zeigt sich sowohl in der Anordnung der Ausstellungsobjekte als auch in den Reaktionen der Besucher. Zu sehen sind beispielsweise die zu Ikonen des Holocaust gewordenen Schuhe und Koffer der ermordeten Menschen. Im Yad Vashem Museum ist ein geöffneter Koffer zu sehen, in dem verschiedene Objekte gezeigt werden: persönliche Fotos, eine Kopfbedeckung (Kippa), ein Gebetbuch, ein Gebetsschal (Tallith) und Gebetsriemen (Tefillin) – Symbole der jüdischen Kultur und Religion. Indem Glas über den Inhalt des Koffers gelegt wird, werden die alltäglichen Relikte der Vergangenheit zu Ausstellungsobjekten, die eine Aura ausstrahlen sollen, welche von der Vergangenheit, von Verlust und Zerstörung, aber auch von

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Interview von Jackie Feldman mit Avner Shalev am 25.09.2005.

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heldenhaftem Überleben und Bewahrung der Traditionen kündet. Gleichzeitig ermöglichen diese Relikte es überhaupt erst, dass der Blick auf die Opfer gelenkt wird, wie es David Lowenthal prägnant ausgedrückt hat: »If the preservation of written records was the privilege of the powerful – the Nazis, the relics allow the victims to be represented.« (Lowenthal 1985: 244) Neben dem Koffer steht ein Bildschirm, auf dem Originalaufnahmen aus der Zeit der Deportationen zu sehen sind. Es wird eine Szene gezeigt, in der Koffer in einen Lastwagen getragen werden. Der Film wird gestoppt und ein Koffer wird herangezoomt, wobei der Name der Besitzerin – in großen weißen Buchstaben auf den Koffer geschrieben – deutlich zu lesen ist: »Ruth Sara Lax«. Dann wird ein Foto von Ruth Lax auf dem Bahnhof gezeigt und berichtet, dass sie in Polen ermordet wurde. Dieses filmische Mittel verweist eindringlich auf Yad Vashems Botschaft: Jeder Koffer hat einen Besitzer, und jedes Holocaust-Opfer hat einen Namen und ein persönliches Schicksal, das Yad Vashem aufspüren und deutlich machen möchte. Im Yad Vashem-Museum werden – wie auch im Jüdischen Museum Berlin – Objekte mittels gegenwärtiger, moderner Ausstellungskunst eingesetzt, um beim Besucher Gefühle zu mobilisieren. Die Unterschiede sind aber offensichtlich. Yad Vashem präsentiert die Erinnerungsobjekte, die zumeist Originale und persönliche Erinnerungsstücke sind, hinter Glas in einer Distanz zum Besucher. Dies verleiht den Objekten Sakralität, die die Besucher dazu bringt, in respektvoller Stille der Toten zu gedenken. Die Aura der Objekte wird durch audiovisuelle Zeitzeugenberichte verstärkt. Diese Videoerinnerungen der Überlebenden können die Besucher nicht einzeln über Kopfhörer hören, sondern sie werden mit Ton laut abgespielt. Dies hat den Effekt, dass oft mehrere Besucher zusammenkommen, sich ein Objekt angucken und dabei gleichzeitig der Erzählung der Überlebenden lauschen. Darüber hinaus gibt es im Yad Vashem einige speziell gestaltete Erinnerungsräume, die Besucher zusammenführen, die in stiller Andacht gedenken wollen. Dass sie die besondere Atmosphäre im Museum empfinden, drücken viele Besucher insbesondere in ihrer Körpersprache aus. Immer wieder lässt sich beispielsweise bei Gruppen beobachten, wie sie über die Brücke zum Eingang des Museums gehen, sich laut unterhalten, lachen und mit ihren iPhones spielen. In dem Moment, in dem sie das Gebäude betreten, ver-

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stummen sie, andachtsvoll stehen viele vor den Ausstellungsobjekten. 9 Weiterhin konnten wir beobachten, dass manche jüdische Männer sich beim Betreten des Museums eine Kippa aufsetzen und damit den für sie religiösen Charakter des Gebäudes ausdrücken.10 Besonders deutlich wird die erhabene und ehrfürchtige Stimmung, die durch das Gebäude und die Ausstellung evoziert wird, in der »Halle der Namen«. Dieser Ausstellungsraum ist ein kreisrunder, von oben natürlich belichteter Kuppelraum, der sich in der Wasseroberfläche eines darunter in den Fels gehauenen, entsprechend großen Beckens spiegelt. In diesen Hohlraum ist ein kleineres Kuppelgehäuse eingefasst, dessen Gewölbe innen mit Hunderten von Fotografien von Holocaust-Opfern ausgekleidet ist (vgl. Knapp 2005). In dem Schacht spiegeln sich undeutlich die in der Kuppel befestigten Fotografien. Der Architekt Moshe Safdie wollte damit bewirken, dass bei den Besuchern Gedanken an die vielen anonymen Opfer ausgelöst werden, denen die Präsenz in der »Halle der Namen« versagt ist (Safdie 2006: 92-93). Wir konnten tatsächlich beobachten, dass viele Besucher in diesem Raum schweigend und andächtig in den tiefen Schacht schauen. Auch bei geführten Museumsbesuchen konnten wir sehen, dass viele Besucher nach den Erklärungen einige Minuten still verharrten und kontemplativ in den Schacht schauten. Direkt neben der »Halle der Namen« befindet sich ein Raum, in dem Besucher die Daten von ihnen bekannten Holocaust-Opfern eintragen können. So machen die Verantwortlichen deutlich, dass sie sich dafür einsetzen, alle Namen der sechs Millionen Opfer identifizieren zu wollen. Für jedes bekannte Holocaust-Opfer wird eine Seite geführt (Page of Testimony). Oft kommen Angehörige hierher, um die Seite ihrer Angehörigen auszudrucken. Obwohl sie dies an jedem beliebigen Computer machen könnten, hat der Yad Vashem-Ausdruck für viele eine ganz besondere Bedeutung. So konnten wir beispielsweise einen Mann beobachten, der den Ausdruck in zitternden Händen hielt und sagte: »Look! Here it is, that’s what’s left of my family!« Die Yad Vashem Page of Testimony ist für viele

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Die Beobachtungen haben wir während mehrerer Besuche im Yad Vashem im Laufe des Jahres 2011 und 2012 gemacht.

10 Eine Kippa ist eine vornehmlich in Ausübung der Religion gebräuchliche Kopfbedeckung, die männliche Juden vor allem in der Synagoge tragen.

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eine Reliquie, die durch ihren Ausdruck im Yad Vashem ihre heilige Bedeutung bekommt.

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Der Blick auf die Museumsshops und auf weitere kommerzielle Aktivitäten in beiden Museen zeigt, dass die spezifischen Museumsziele und -politiken ihren Ausdruck nicht nur in den Ausstellungen finden, sondern eben auch in den Serviceeinrichtungen verhandelt und sichtbar werden. Museumsshops eröffnen den Besuchern eine weitere Dimension im Umgang mit Ausstellungsobjekten und Dingen. Während in den meisten Museen Artefakte vor allem angeschaut werden, können in den Shops Objekte angefasst, ausgesucht und erworben werden. Sie werden zu Souvenirs, die im wahrsten Sinne des Wortes Erinnerungen an den Museumsaufenthalt festhalten und zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wieder hervorrufen können (vgl. Butler 2005). Im Zuge der Umgestaltung zu besucherfreundlichen und dienstleistungsorientierten Museen kommt den Museumsshops eine immer größer werdende Bedeutung zu. Viele Museen verfolgen dabei die Idee, dass der Museumsbesuch im Idealfall nicht mit dem Ausstellungsrundgang endet, sondern eben erst nach dem Besuch des Museumsshops. Ziel ist es, dass das hoffentlich positive Bild, das die Ausstellung geboten hat, sich auch in den übrigen Serviceeinrichtungen fortsetzen oder gar verstärken kann (Hütter 2000: 15). Museumsshops werden so zur »Visitenkarte« und zum Schaufenster eines Museums, die den Gesamteindruck und das Gesamterlebnis der Besucher mitprägen (vgl. Günter 2000: 74). Durch den Verkauf von Merchandising-Artikeln, die wiederum an Dritte verschenkt werden oder öffentlich getragen zur Schau gestellt werden, können die Museumsshop-Produkte zu einem wichtigen Multiplikationsfaktor werden (Hampel 2010: 80). In diesem Prozess kann die »Marke Museum« Verbreitung und Etablierung finden, neue Besucher anlocken und alte Besucher auf die Idee eines erneuten Besuchs bringen.

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Shopping the Message Im Jüdischen Museum Berlin wird die Vision eines multikulturellen und toleranten Deutschlands, die als Lehre aus dem Holocaust lebendig, fröhlich und bunt in der Dauerausstellung inszeniert wird, nicht nur in der Ausstellung verbreitet, sondern findet genauso Eingang in die bunte Warenwelt des Museumsshops. Der Laden ist in die Konzeption und Architektur des Museums integriert, befindet sich direkt am Ein- und Ausgang des Museums und kann auch besucht werden, ohne Museumseintritt zu bezahlen. Er wird von der Firma CEDON geführt, die sich auf die Belieferung von Museen spezialisiert und bundesweit viele Museumsshops aufgebaut hat. Das Sortiment konzentriert sich zum einen auf speziell für das Jüdische Museum abgestimmte Literatur, wobei der Schwerpunkt auf der Geschichte der deutschen Juden liegt. Daneben gibt es weitere Literatur zum Holocaust, zur jüdischen Religion und Kultur in Form von Romanen, Sachliteratur, Biographien, Literatur für Kinder sowie den eigenen Katalogen und Publikationen des Jüdischen Museums. Zum anderen liegt der Schwerpunkt auf Merchandisingprodukten. Dies sind Dinge, die Objekte oder Bilder der Ausstellung aufgreifen, diese nachbilden oder auf Gebrauchsgegenständen und Kleidungsstücken abbilden (vgl. Hampel 2010: 84-85). Genauso gehören Artikel zum Merchandising dazu, die das Logo oder den charakteristischen Schriftzug des Museums zeigen. Im Museumsshop des Jüdischen Museums gibt es unzählige Merchandisingprodukte mit dem JMB-Logo, dem »Zickzack«, das die Grundrissform des Neubaus zeigt. Stifte, Radiergummis, Hefte, Taschen, Trinkflaschen und Schirme sind mit dem »Zickzack«-Logo bedruckt. Andere Produkte, wie Briefbeschwerer und Schlüsselanhänger, wurden direkt in der Form des JMB-Zickzacks produziert. Diese Niedrigpreisartikel und »Mitnahme-Artikel« sind vor allem am Eingang und in Kassennähe zu finden und motivieren die Besucher, spontan eine Kleinigkeit »zur Erinnerung« an den Museumsbesuch zu kaufen. Diese Souvenirs sind kein beliebiger Schnickschnack, sondern repräsentieren originelle Ideen, die den Charakter des JMB widerspiegeln: frech, lebendig, bunt und modern. Viele Objekte und Design-Souvenirs verweisen auf den spielerischen Charakter des Museums: So kann man Karl Marx, Sigmund Freud, Albert Einstein und Moses als Finger- und Handpuppen und als aufziehbare »Action-Figures« erwerben.

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Über diese Artikel hinaus, die einen direkten Bezug zu dem Museum haben, gibt es eine ganze Reihe ergänzender Produkte, welche die Botschaft des Museums als angesagten, lebendigen, spielerischen und erlebnisreichen Ort verstärken. Dies sind vor allem Produkte aus der breiten Angebotspalette von CEDON: Accessoires und kleine Geschenke fürs Wohnen wie besondere Vasen und Servietten genauso wie auffällige Schreibwarenartikel und Spielzeug. Diese Produkte werden zumeist zusammen mit JMBMerchandising-Produkten und Büchern mit jüdischem Themenbezug präsentiert und ergeben ein einheitlich ästhetisches Bild. So steht beispielsweise auf dem Tisch mit Kinderliteratur und neben den Büchern über Anne Frank eine Schale mit orangefarbenen Anspitzern in Form eines Fisches. Die witzigen Anspitzer erinnern an die leichtherzige Kinderwelt, die gleichzeitig durch die Bücher zu Anne Frank gebrochen und herausgefordert wird. So wie in der Ausstellung ein spielerischer Zugang zur jüdischen Kultur und Geschichte angeboten wird und gleichzeitig Gedenken und Erinnerung an den Holocaust in das Gebäude eingeschrieben sind, so stehen auch im Museumsshop ernsthafte und anspruchsvolle Bücher neben humorvollen Lifestyle-Artikeln, neben Berlin-Reiseführern, Postkarten und Souvenirs. Während üblicherweise in Museumsshops Nachbildungen von Originalen verkauft werden, die zuvor im Museum angeschaut werden konnten, fällt im Jüdischen Museum die Vermischung der Ausstellungs- und Warenwelt besonders ins Auge. So werden beispielsweise im Museum gewöhnliche Kippas oder Chanukka-Leuchter ausgestellt, die dann auch im Shop erworben werden können. Während also im Museumsshop Ausstellungsobjekte gekauft werden können, kann man im Ausstellungsraum koschere Gummibären kaufen und im »Shtehcafé«,11 das in den Ausstellungsrundgang integriert ist, koschere Kekse und Wein genießen. Gleichzeitig bedienen sich die Museumsmacher der Konsumbedürfnisse der Besucher, indem sie über die Inszenierung der Warenwelt und bei der Auswahl der Produkte ihre jeweiligen Ziele kommunizieren. In diesem Prozess ist eine enge Verzahnung zwischen den unterschiedlichen Mitarbeitern zu beobachten. So steht beispielsweise die CEDON-Shopmanagerin im JMB in engem Kontakt zur Museumsleitung, zu Kuratoren und zur Marke-

11 Der Name »Shtehcafé« für das kleine Steh-Café im Ausstellungsrundgang verweist auf ein Wortspiel: »Sheteh Cafe« heißt auf Hebräisch: »Trink Kaffee!«.

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ting-Abteilung, um über geplante Ausstellungen, Themen und Ziele informiert zu sein. In ihrer Produktauswahl versucht sie dann, einen engen inhaltlichen Bezug von angebotenen Verkaufsartikeln zu Ausstellungsinhalten zu schaffen. Das Ziel ist dabei, über Merchandisingprodukte Museumsideen und -inhalte zu transportieren. Sie erklärte uns: »Unser Sortiment spiegelt die Themen der Museumsausstellungen wider. Wenn eine neue Sonderausstellung eröffnet wird, dann gibt es immer einen Tisch mit Angeboten zu dieser speziellen Ausstellung. Als wir zum Beispiel eine Sonderausstellung über jüdische Comics hatten, waren vor allem Comics und Literatur über ComicAutoren auf dem Tisch zu finden.«

In dem Shop können selbst Dinge verkauft werden, die von manchen Besuchern vielleicht als störend oder sogar antisemitisch betrachtet werden können. Ein solches Beispiel ist die Bade-Ente in Form eines orthodoxen Juden (Chassid). Die Shopmanagerin zeigte auf die besondere Bade-Ente und erklärte uns: »Wir haben gezögert, so eine Bade-Ente hier zu verkaufen, aber die Museumsleitung hat uns darin unterstützt. Das Museum kann einfacher provozieren. Wir müssen da vorsichtig sein.« Abb. 4: Bade-Enten mit dem Aussehen orthodoxer Juden im Museumsshop

Foto: A. Peleikis

Das Beispiel zeigt, dass sich das Shop-Personal immer wieder auch mit dem Museum abstimmt und vom Museum abgesichert wird. Gleichzeitig

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werden in der engen Verzahnung zwischen CEDON und den Museumsmachern die Kernbotschaften des Museums herausgefiltert, benannt und in der Produktion und im Verkauf von Waren umgesetzt. Die Vision einer multikulturellen und toleranten Gesellschaft, die in der Dauerausstellung präsentiert wird, zeigt sich also nicht nur dort, sondern spiegelt sich auch in dem Angebot des Museumsshops. Damit werden Konsum und Kommerz zu Mitteln, die eingesetzt werden, um die museumseigenen Vermittlungsinteressen zu verbreiten und um ganz unterschiedliche Besuchergruppen anzuziehen. Kommerzielle Aktivitäten im Jüdischen Museum Berlin dienen jedoch nicht nur der Verbreitung von musealen Kernbotschaften: Museumsbesucher nutzen die soziale Praxis des Konsumierens gleichzeitig zur Selbstdarstellung und Identifikation. Die Museumsshopleiterin berichtete uns von der Nachfrage von amerikanisch- und israelisch-jüdischen Touristen nach »deutsch-jüdischem« Kunsthandwerk und Judaica: »Diese Touristen wollen keine jüdischen Produkte, die bei ihnen zu Hause in den USA oder Israel produziert werden. Sie suchen deutsch-jüdische Judaica. Aber diese Produkte gibt es hier kaum. Deshalb suche ich Künstler, die jüdisches Kunsthandwerk und Schmuck herstellen können.«

Die touristische Nachfrage nach jüdisch-konnotierten Produkten aus Deutschland hat also dazu geführt, dass diese überhaupt erst hergestellt werden. Ruth Ellen Gruber hat dieses Phänomen als die Entstehung einer »virtuell jüdischen Kultur« beschrieben (Gruber 2002). Damit meint sie z.B. jüdische Restaurants, jüdisch-konnotierte Souvenirläden sowie Kulturerbestätten und -einrichtungen, die in den letzten 20 Jahren an Orten in West- und Osteuropa aufgrund einer hohen touristischen Nachfrage entstanden sind. Gleichzeitig werden viele dieser Einrichtungen von nichtjüdischen Bewohnern betrieben, da in diesen Ländern kaum noch Juden leben (Gruber 2002). Erica Lehrer hat die virtuell jüdische Kultur am Fallbeispiel der »Wooden Jews« in Polen untersucht (2003; 2010). Dies sind aus Holz geschnitzte, jüdisch-konnotierte Figuren, die vor allem an Touristen verkauft und von Nicht-Juden produziert und vermarktet werden. Während diese Figuren oftmals als inhaltsleere Touristenware abgewertet werden,

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argumentiert Lehrer, dass die Entdeckung der jüdischen Vergangenheit für Touristifizierungsprozesse in Polen eine große Chance für den jüdischpolnischen Dialog sowie für Auseinandersetzungen und Identifizierungsprozesse mit dem jüdischen Erbe darstellt (Lehrer 2003; 2010).12 In ähnlicher Weise haben die jüdisch-konnotierten Souvenirs im Jüdischen Museum für viele amerikanisch- und israelisch-jüdische Touristen, vor allem für diejenigen mit deutschen Vorfahren, eine besondere identitätsstiftende Bedeutung. Sie werden als Erinnerung an ihre Reisen nach Europa gekauft und stehen für Spurensuche und die persönliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihrer Familienangehörigen. Gleichzeitig repräsentieren diese Souvenirs auch ihre neuen Eindrücke vom jüdischen Leben in Deutschland, etwas, was sie nicht erwartet haben: die Präsentation einer lebendigen, bunten 2000jährigen jüdisch-deutschen Geschichte. Diese Erfahrung begrenzt sich nicht nur auf jüdische Touristen, sondern kann von allen Besuchern im Museumsshop gemacht werden. Sigmund Freud oder Albert Einstein als Stoffpuppen in den Koffern von Touristen aus aller Welt können Gespräche über diese Figuren, aber eben auch über jüdischdeutsche Ko-Existenz in Geschichte und Gegenwart auslösen. Die Botschaft einer deutsch-jüdischen Symbiose verbreitet das Jüdische Museum nicht nur in seiner Ausstellung und im Museumsshop, sondern auch in weiteren temporären Konsum- und Erlebniswelten, wie z.B. bei dem jährlich zur Weihnachtszeit stattfindenden Chanukka-Markt. Beide Feste, Chanukka und Weihnachten, werden zur winterlichen Jahreszeit gefeiert und überschneiden sich dabei meistens zeitlich. Chanukka-Märkte gibt es in der jüdischen Tradition nicht, sondern es war die Idee des Jüdischen Museums, mit dieser Veranstaltung des »etwas anderen Weihnachtsmarktes« Besucher anzuziehen und ihre Botschaft an eine breite Öffentlichkeit zu tragen. Noch deutlicher als in der Dauerausstellung und im Shop vermischen sich bei diesem Markt Ausstellungsfläche, Shoppingmeile und Restaurantbetrieb. Große Infotafeln stehen neben Verkaufsbuden und erklären die Bedeutung des achttägigen jüdischen Lichterfestes. In den Buden werden ähnlich wie im Museumsshop bunte Waren mit jüdischem Bezug

12 Vgl. auch den Artikel im Berliner Tagesspiegel »Spätes Erbe« vom 02.09.2012. Der Autor Paul Flückiger beschreibt darin ebenfalls die positiven Auswirkungen der touristischen In-Wertsetzung des jüdischen Erbes in Polen. Sie habe zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Ostjudentum geführt.

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sowie koschere Lebensmittel verkauft. An einem Stand kann man die auf deutschen Jahr- und Weihnachtsmärkten typischen Lebkuchenkerzen kaufen. Nur die Aufschriften wie z.B. »Happy Hanukka« oder »Shalom« sind anders und verweisen auf die museale Botschaft: Hier vermischen sich Weihnachten und Chanukka, jüdische und deutsche Lebenswelten, bunt und vielfältig wie die mit farbigem Zucker verzierten Lebkuchenherzen und -sterne. Abb. 5: Lebkuchen auf dem Chanukka-Markt im JMB

Foto: A. Peleikis

Diese museale Botschaft zieht in Berlin neben Touristen – jüdischen und nicht-jüdischen Menschen aus aller Welt – auch die Berliner selbst an, die sich mit dieser Botschaft identifizieren, wie z.B. gebildete nicht-jüdische Deutsche. Gleichzeitig haben wir in unseren Gesprächen auch immer wieder Menschen getroffen, die sich nicht als Juden identifizierten, in deren Familien es jedoch eine jüdische Oma oder einen jüdischen Uropa gab. Auf dem Chanukka-Markt trafen wir beispielsweise ein älteres Ehepaar (69 und 70 Jahre alt), das an einem Tisch saß und Kaffee trank. Die beiden unter-

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hielten sich dann lange mit uns über den Chanukka-Markt. Beiläufig erfuhren wir Folgendes: »Meine Familie, die war früher jüdischen Ursprungs, aber das ist, das hat sich alles gegeben, das ist alles weltlich geworden. Das ist nicht mehr so. Wir haben gerne jüdische Gegenstände, Kronleuchter und so was. Aber mit dem jüdischen Glauben, das ist nicht mehr so.«

Hier im Museum, so erzählte uns der Ehemann, fühlten sie sich wohl. »Zur jüdischen Gemeinde gehören wir nicht; aber hier kommen wir immer mal wieder gerne her.« Eine andere Frau, die uns im dritten Gespräch erzählte, dass ihre Familie jüdisch sei, berichtete das Folgende: »Ich komme immer besonders gerne ins Jüdische Museum mit meinen deutschen nicht-jüdischen Freunden: Hier müssen sie sich nicht so schuldig fühlen und ich kann etwas über meine jüdische Geschichte erzählen und muss mich nicht als Opfer fühlen; hier ist das deutsch-jüdische Verhältnis etwas entspannter.«

Das Jüdische Museum bietet ihnen den Raum, in den Ausstellungen, Shops und Veranstaltungen ihre eigene komplexe jüdisch-deutsche Geschichte neu zu erleben und zu entdecken und sich mit ihren multiplen und vielfältigen deutsch-jüdischen Identitäten (neu) zu verorten. Gedenken und Spenden In beiden Museen spielt die Ökonomisierung der Vergangenheit eine wesentliche Rolle, die sich jedoch unterschiedlich zeigt. Während im Jüdischen Museum Berlin diese über Waren- und Erlebnisshopping stattfindet, hat sich im Yad Vashem, wie wir im Folgenden zeigen, eine ausgeprägte Spendenpraxis entwickelt. Dabei dienen der Umgang mit Waren und die (Nicht-)Kommerzialisierung auch hier der Verbreitung von Kernbotschaften und Zielen. Yad Vashem verfolgt in diesem Prozess jedoch eine gänzlich andere Strategie als das Jüdische Museum Berlin. Im Mittelpunkt des Museums steht das Gedenken an die sechs Millionen Opfer des Holocaust, denen durch die museale Repräsentation ihre Namen und Stimmen zurückgegeben

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werden sollen. Zu diesem in religiösen Mustern und Praktiken inszeniertem Gedenken passt kein direkter ökonomischer Tauschhandel. Für Geldgeschäfte und Handel ist kein Platz im religiösen Raum – zumindest auf den ersten Blick. Nichtsdestotrotz gibt es einen Museumsshop, jedoch nicht in exponierter Lage. Der Shop liegt außerhalb des Eingangsbereichs, weit weg vom direkten Ausgang des neuen Museums. Viele Besucher übersehen den Laden, andere – vor allem israelische Besucher – haben kein Interesse an dem Geschäft. Der Shop wurde von Yad Vashem an die größte israelische Buchhandelskette Steinmatzky vermietet. Hier wird vor allem ein breites Sortiment an Büchern verkauft: Im Mittelpunkt stehen dabei Biographien von Überlebenden, historische Arbeiten über den Holocaust und die von Yad Vashem veröffentlichten Kataloge und Bücher in verschiedenen Sprachen. Daneben gibt es eine ganze Reihe allgemeiner Literatur zu Israel und dem Judentum. Die Bücher stehen im Zentrum und nehmen die größte Fläche ein, während es darüber hinaus an den Außenwänden Regale mit den typischen Jerusalem- und Israel-Souvenirs zu kaufen gibt: T-Shirts, Schirmmützen und Tassen, die auch in jedem anderen Souvenir-Laden des Landes zu finden sind und keinen Bezug zum Yad Vashem haben. Die räumliche Trennung zwischen »heiligen« Büchern und »profanen« Souvenirs springt ins Auge und verweist auf zwei unterschiedliche Zielgruppen. Die Bücher sind für die wichtigste Zielgruppe gedacht: Holocaust-Pilger aus aller Welt, die gedenken und erinnern wollen. Die Israel-Souvenirs hingegen werden vor allem für nicht-jüdische Gruppenreisende angeboten, die auf der Suche nach einem typischen Israel-Andenken sind und die in ihrem Reiseablauf generell sehr wenig Zeit für die Souvenirsuche haben. Im Gegensatz zu anderen Touristen-Shops in Israel fehlen im Yad Vashem-Geschäft jedoch die typischen Andenken für die große Zahl christlicher Pilger, die auf ihrer Reise »ins Heilige Land« auch das Yad Vashem besuchen. Es gibt weder Jesus- oder Maria-Figuren, Kreuze oder Rosenkränze. Ein Steinmatzky-Verkäufer erklärte uns dies folgendermaßen: »Sie [die christlichen Pilger] suchen immer etwas vom Heiligen Land, ein bisschen von Jesus. Aber wir müssen sensibel in Bezug auf den Charakter dieses Ortes sein; es würde einige Mitarbeiter von Yad Vashem irritieren.« Der Verkäufer betont also, dass die Gefühle und Einstellungen der Yad Vashem-Mitarbeiter respektiert werden, die Vorrang vor der Nachfrage ausländischer Touristen nach christlich konnotierten Souvenirs haben. Da-

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rüber hinaus ist auch die Auswahl an Merchandising-Produkten im Yad Vashem-Shop begrenzt. Angeboten werden z.B. ein Yad Vashem-Kalender, der in Konzentrationslagern entstandene Kunstwerke zeigt, eine CD mit Liedern, die in den Ghettos gesungen wurden, Postkarten, Yad Vashem-Schlüsselanhänger, eine Gedenkkerze, eine Yad Vashem-Anstecknadel und Stifte mit dem Yad Vashem-Logo. Dies ist ein sechsarmiger Kerzenleuchter, der eine Abwandlung der Menora ist, dem religiösen Symbol des Staates Israel. Während eine Menora sieben Arme hat, verweist der sechsarmige Kerzenleuchter des Logos von Yad Vashem auf die sechs Millionen Toten des Holocaust. Im Shop gibt es keine der sonst üblichen Reproduktionen von Ausstellungsobjekten zu kaufen. Da diese oft persönliche Gegenstände der Opfer waren, würde die Reproduktion für viele Angehörige eine Entweihung der ihnen heiligen Erinnerungsstücke bedeuten. Oft haben die Verwandten diese Objekte Yad Vashem vertrauensvoll übergeben, um ihrer Toten öffentlich zu gedenken. Hiermit Geld zu verdienen ist für die meisten undenkbar und unmoralisch. Die wenigen Dinge, die erworben werden können, stehen dem Gedenken an die Opfer nicht entgegen. Diese Objekte des Gedenkens gibt es seit kurzem auch in einem kleinen, neuen Verkaufsort, der direkt am Ausgang des Museums aufgebaut wurde und in der unmittelbaren Nähe der Büros der Yad Vashem»Spenden-Abteilung« zu finden ist. Interessanterweise stehen die Souvenirs und Yad Vashems Veröffentlichungen hier offiziell nicht zum Verkauf, sondern sie werden als Geschenke im Austausch für eine Spende angeboten, wie uns erklärt wurde: »Wir verkaufen diese Stifte nicht. Es ist ein Geschenk im Austausch für eine 25-Dollar-Spende. Wenn Sie 25 Dollar spenden, dann erhalten Sie diesen Stift als Zeichen unseres Dankes.« So gibt es auch eine Sonderausgabe des Yad Vashem-Museumskatalogs in einem eleganten Schuber als Geschenk für eine 250-Dollar-Spende. Es kommt auch vor, dass Besucher gar keine »Geschenke« möchten, sondern ihre Kreditkarten belasten, ohne etwas dafür entgegenzunehmen. Mit diesem »Spenden-Stand« am Ausgang des Museums erreicht Yad Vashem die Besucher direkt nach dem Verlassen des Museums. Viele sind noch emotional aufgewühlt und spenden aus Betroffenheit, persönlicher

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Involviertheit oder auch aus Schuldgefühlen heraus.13 Dabei konnten wir beobachten, dass auch Reiseführer Touristen dazu motivieren, die Yad Vashem-Gedenknadel für 4 Euro zu erstehen. Sowohl die Tatsache, dass im Fall von Yad Vashem der Museumsshop weit weg vom Museum liegt, als auch die Klassifizierung von Produkten als »Geschenke«, die im Austausch gegen »Spenden« überreicht werden, macht Yad Vashems Ambivalenz bezüglich der Kommerzialisierung im Museum deutlich. Yad Vashem präsentiert sich als das nationale Heiligtum der Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust, das sich für Gedenken und Erinnerung einsetzt. Auf keinen Fall soll der Eindruck entstehen, dass die Institution mit diesem Gedenken Geschäfte betreibt oder die Gefühle der Angehörigen »benutzt«, um mit Leid und Trauer Geschäfte zu machen. Gleichzeitig wirbt Yad Vashem für Spenden: auf seiner Internetseite, in Veröffentlichungen, mit Flyern und Hinweisschildern. Auf der Internetseite kann man in einer Maske die Höhe der gewünschten Spende anklicken. Als niedrigste Spende sind 36 Dollar angegeben, als höchste 10.000 Dollar. Darüber hinaus kann man eine von den Vorgaben abweichende Spendenhöhe selbst bestimmen. Die Menschen, die besonders hohe Spenden für Yad Vashem übermittelt haben, werden auf der Internetseite hervorgehoben, wie Sheldon und Miriam Adelson, die im November 2011 ihre zweite 25-Millionen-Dollar-Spende übergeben haben. Die Namen der Spender werden nicht nur in den verschiedenen Medien und Publikationen genannt, es hat sich darüber hinaus auch eine auffällige Plakettenkultur auf dem Yad Vashem-Gelände entwickelt. So wie Juden für eine Synagoge spenden können und als Dank eine Tafel mit ihrem Namen aufgehängt wird, so sind überall auf dem Gelände und im Museum auffällige Dankes- und Erinnerungstafeln für großzügige Spender zu finden. 14 Während also der direkte ökonomische Tauschhandel abgelehnt wird, ist die »Schenkökonomie« bzw. der »Gabentausch« eine akzeptierte Praxis. In dieser »Kultur der Gabe« werden ohne eine direkt erkennbare Gegenleistung Güter und Dienstleistungen weitergegeben, in unserem Beispiel Geld

13 Diese Motive wurden in unseren Gesprächen mit Yad Vashem-Besuchern zum Thema »Spenden« am häufigsten genannt. 14 Vgl. Kosansky (2002) als aufschlussreiches Beispiel für den Unterschied zwischen sanktioniertem kommerziellem Austausch und akzeptierten Spenden im Rahmen von Pilgerfahrten zu jüdischen Heiligen in Marokko.

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für die Arbeit von Yad Vashem. Reziprozität findet jedoch beim Gabentausch zumeist verzögert statt – so auch im Yad Vashem. Die Spender, die die Arbeit des Yad Vashem mit oft hohen finanziellen Mitteln unterstützen, erhalten vor allem soziale Anerkennung, Prestige und Wertschätzung, die sich symbolisch in den Dankestafeln ausdrückt. Diese Plaketten machen weithin sichtbar, dass sich die betreffende Person für die Arbeit Yad Vashems einsetzt, jedem Opfer seinen Namen wiederzugeben. Oft steht auf den Tafeln auch, in wessen Erinnerung die Menschen spenden. Damit werden die Spender zu Akteuren, die mit Hilfe ihrer Spende an Yad Vashem dazu beitragen, ihren ermordeten Familienangehörigen eine Stimme und einen Namen zu geben, der auf den Tafeln für alle sichtbar ein Teil des Museums wird. Abb. 6: Beispiel von Gedenktafeln auf dem Yad Vashem-Gelände

Foto: A. Peleikis

Viele Spender sind amerikanische Juden, die mit einer Plakette im Yad Vashem ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und zu Israel ausdrücken können. Gleichzeitig markiert Yad Vashem mit der Größe der Tafeln auch den Statusunterschied zwischen den Spendern. Diejenigen, die besonders viel gespendet haben, die »Hauptsponsoren« sind, bekommen besonders große und sichtbare Schilder an signifikanten Positionen im Museum. Die Nähe zu religiösen Gaben und zur Wohlfahrt wird auch in einer weiteren Fundraising-Strategie deutlich: Yad Vashem bietet Bar/Bat Mitz-

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vah Zeremonien in Yad Vashems-Synagoge an.15 Dieses Angebot wird vor allem von aus den USA stammenden Jugendlichen wahrgenommen, die in diesem Rahmen Informationen über die Lebensgeschichte eines etwa gleichaltrigen Holocaust-Opfers erhalten. Für jeden Teilnehmer sucht Yad Vashem einen im Holocaust ermordeten Jugendlichen aus, der den gleichen Vornamen trug. In der Vorbereitung zu ihrer Bar/Bat Mitzvah setzen sich die Jugendlichen dann mit der Lebens- und Leidensgeschichte ihres »Partners« auseinander und haben die Möglichkeit, deren oder dessen Angehörige und Verwandte zu kontaktieren, um mehr über ihr bzw. sein Leben zu erfahren. Zu der Bar/Bat Mitzvah Zeremonie in der Yad Vashem Synagoge gehört auch eine Museumsführung und die Verleihung einer Bar/Bat Mitzvah-Urkunde in der »Halle der Namen«. Wenn die Familie dann wieder zu Hause ankommt, erwartet sie schon ein Brief von Yad Vashem inklusive der Bitte um Spenden.16 Yad Vashem bietet den Jugendlichen und ihren Familien eine ganz besondere Bar/Bat Mitzvah an, mit der die Jugendlichen nicht nur ihre eigene Religionsmündigkeit feiern können, sondern gleichzeitig der Kinder und Jugendlichen gedenken können, die vielleicht selbst kurz vor dieser Zeremonie standen, diese aber nicht mehr erleben durften. Religiöse Praxis, Holocaust-Gedenken und Spendenpraxis vermischen sich bei dieser Yad Vashem-Fundraising-Praxis, und können zugleich für die Jugendlichen einen ganz besonderen identitätsstiftenden Moment repräsentieren.17

15 Bar Mitzvah (hebr.: »Sohn der Pflicht«) und Bat Mitzvah (hebr.: »Tochter der Pflicht«) bezeichnet im Judentum die religiöse Mündigkeit. Jungen erreichen sie im Alter von 13 Jahren, Mädchen im Alter von 12 Jahren. Die Religionsmündigkeit wird mit einer Feier begangen. 16 Dies wurde uns von Familien in Philadelphia/USA erzählt, die an so einer Bar Mitzvah-Zeremonie im Yad Vashem teilgenommen haben (23.04.2012). 17 Siehe die Ankündigungen von Yad Vashem für Bat/Bar Mitzwa-Zeremonien im Yad Vashem und persönliche Erfahrungsberichte unter http://www1.yadvashem. org/yv/en/remembrance/names/bar_bat_mitzvah.asp (abgefragt am 01.08.2012).

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ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Indem wir den Blick auf die Ökonomisierung und In-Wertsetzung von jüdischem Kulturerbe und von Erinnerung in zwei Museumsshops geworfen haben,18 konnten wir die deutlichen Unterschiede der beiden Institutionen herausarbeiten. Während das Jüdische Museum Berlin sich als modernes Dienstleistungsunternehmen inszeniert, in dem historische Repräsentationen auch in Form von hippen Lifestyleprodukten im Museumsshop und durch besondere Events verbreitet und vermarktet werden, stellt sich die Gedenkstätte Yad Vashem als gemeinnützige Institution dar, deren Arbeit durch wohltätige Spenden unterstützt wird. In diesen unterschiedlichen Strategien der Ökonomisierung von Erinnerung werden die jeweiligen Vermittlungsinteressen und Museumsziele deutlich: das Jüdische Museum Berlin repräsentiert sich – auch im Museumsshopmarketing – als trendiges In-Museum im »neuen Berlin«. Dabei werden die deutschen Juden der Vergangenheit als weltoffene Projektionsfläche für das gegenwärtige multikulturelle Zusammenleben in Deutschland inszeniert. Yad Vashem hingegen repräsentiert sich als nationale Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Holocaust, in der die »heiligen Objekte der Erinnerung« nicht durch Kommerzialisierung und Handel entweiht werden sollen. Gleichzeitig wird aber auch hier durch die weitverbreitete Spendenpraxis die In-Wertsetzung der Erinnerung deutlich. Der unterschiedliche Umgang mit Konsum und Kommerzialisierung der Erinnerung in beiden Institutionen lässt sich nicht einfach auf die unterschiedliche Ausrichtung der beiden Museen, einerseits als Jüdisches Museum und andererseits als Holocaust-Gedenkstätte, zurückführen. Es gibt Jüdische Museen, die sich als Gedenkstätten inszenieren und interaktive Holocaust-Museen, die auf Kommerz setzen. Ausstellungskonzepte und -politiken, Bildungsprogramme und -ziele, Kommerzialisierung und Spendenpraxis sind das Ergebnis komplexer Verhandlungen und Machtkonstellationen in den jeweiligen Institutionen, eingebettet in ihre spezifischen gesellschaftlichen Kontexte. Gleichzeitig machen unsere Beispiele deutlich, dass Marketing- und Fundraising-Praxen nicht nur Wege sind, um das Einkommen in Zeiten be-

18 Bzgl. der In-Wertsetzung von Kulturerbe siehe Bendix/Bizer (2010); siehe auch Schnepel, Bendix und Thurner, alle in diesem Band.

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grenzter staatlicher Zuwendungen zu verbessern. Diese ökonomisierten Formen der Erinnerung, angeboten, inszeniert und performiert in gegenwärtigen jüdischen und Holocaust-Museen, bieten neue Räume der Verhandlung, Repräsentation, Interaktion und (Neu-)Verortung vielfältiger jüdischer und nicht-jüdischer, nationaler, lokaler und urbaner Identitäten in einer globalisierten und kommerzialisierten Welt.

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Kurzbiographien der Autoren

Regina Bendix ist seit 2001 Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Seit 2008 leitet sie eine interdisziplinäre Forschergruppe zum Thema Cultural Property, worin auch Fragestellungen zu Kulturerbe und Tourismus verhandelt werden. Sie beschäftigt sich außerdem mit Themen der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Kommunikationsethnographie und der Ethnographie der Sinne. Seit 2007 ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift Ethnologia Europaea. Jackie Feldman ist Senior Lecturer am Department of Sociology and Anthropology an der Ben Gurion University (Israel) und war Gastwissenschaftler an der University of Pennsylvania sowie der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pilgertum, Tourismus, Ethnologie des Christentums, Holocaust-Gedenken, kollektives Gedächtnis und ethnographisches Schreiben. Felix Girke ist Ethnologe und wissenschaftlicher Koordinator am Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, mit früheren Anstellungen an den Universitäten Bielefeld und Mainz sowie dem MPI für ethnologische Forschung. Seine wichtigsten Themenfelder sind Rhetorische Kulturtheorie, Ethnizität sowie der Nexus von Tourismus und Kulturerbe. Er arbeitet empirisch zu Südäthiopien und Myanmar. Joachim Görlich arbeitet zu Tausch und Verwandtschaft, Ritual und Kosmologie, Transformationen von Subjekt-Objekt-Beziehungen, Lokalität und Globalisierung (insbesondere Tourismus) und historischer Anthropolo-

344 | KULTUR ALL INCLUSIVE

gie. Er hat Feldforschungen in Papua-Neuguinea, Australien und Neuseeland durchgeführt. Nach früheren Anstellungen an den Universitäten Köln, Tübingen und München sowie Lehraufträgen an den Universitäten Luzern, Zürich und Heidelberg ist er heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPI für ethnologische Forschung. Anna Hüncke studierte Kulturwirtschaft mit dem Regionalschwerpunkt Südostasien an der Universität Passau und hat sich im Rahmen des Forschungsmasterprogramms African Studies an der Universität Leiden (Niederlande) mit community-orientiertem San-Tourismus in Namibia beschäftigt. Seit August 2011 ist sie Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ethnologie und Kulturanthropologie der Universität Konstanz. In einem DFG-finanzierten Promotionsprojekt forscht sie zum Kampf gegen Menschenhandel in Südafrika. Eva-Maria Knoll studierte Völkerkunde und Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Wien und ist seit 2001 Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Institut für Sozialanthropologie). 2011 promovierte sie zur Thematik von Grenzüberschreitungen im Zusammenhang mit Reproduktionsmedizin. Sie arbeitet zu Themen der sozialanthropologischen Tourismus-, Geschlechter-, Medizin-, und Technologieforschung sowie zu medizinischer Mobilität, insbesondere im Zusammenhang mit Thalassämie in der Republik Malediven. Markus H. Lindner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuvor arbeitete er am Museum der Weltkulturen Frankfurt am Main und kuratierte verschiedene Ausstellungen. Seine Dissertation beschäftigt sich mit der Entwicklung von Tourismusprojekten auf der Standing Rock Indian Reservation. Seine wichtigsten Forschungsschwerpunkte sind Indianer Nordamerikas (insbesondere Lakota und Hopi), Tourismus, zeitgenössische Kunst, indigene Selbstrepräsentation, Museumsethnologie und Repatriierung. Georg Materna studierte unter anderem Ethnologie in Leipzig, Halle/Saale und Wien sowie Französisch in Clermont-Ferrand. Nach dem Magisterabschluss war er als Wissenschaftliche Hilfskraft im Institut für Ethnologie in Leipzig tätig. Derzeit ist er Junior Fellow an der Bayreuth International

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Graduate School of African Studies (BIGSAS) mit einem ethnologischen Promotionsprojekt über Kleinunternehmer im senegalesischen Tourismus sowie Stipendiat des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst. Anja Peleikis ist Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient, Berlin, mit früheren Anstellungen an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg sowie am MPI für ethnologische Forschung. Ihre wichtigsten Forschungsschwerpunkte sind Tourismus- und Museumsethnologie, Erinnerungspraktiken sowie transnationale Migration. Sie arbeitet empirisch zu Litauen und dem Libanon. David Picard hat 2001 an der Universität von La Réunion in Anthropologie promoviert, und war anschließend am französischen Institut für Entwicklungsforschung in Madagaskar und am Zentrum für Tourismus und Kulturwandel (CTCC) in Sheffield und Leeds tätig. Seit 2009 hält er eine Forschungsstelle am Zentrum für anthropologische Forschung der Neuen Universität von Lissabon in Portugal. Er war als Gastwissenschaftler an der Universität von Kalifornien in Berkeley, am Ministerium für Umweltressourcen und Tourismus der Republik Tansania und der Universität von Queensland in Australien tätig. Seine Forschungsinteressen sind Tourismuskulturen, Entwicklungspolitik, Formen der Gastlichkeit, Kulturen der Moderne, Zauber und Kulturwandel, mit empirischer Forschung vor allem im Indischen Ozean (La Réunion, Madagaskar und jüngst auch Australien). Burkhard Schnepel ist Professor für Ethnologie und Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Regionalstudien an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben Formen der Verbindung von Religion und Politik in Afrika und Indien auch ethnohistorische Methoden und Problematiken, eine »Anthropologie der Nacht«, die indische Diaspora, Hafenstädte im Indischen Ozean, transmaritime Bewegungen und Austauschprozesse sowie die Insel Mauritius. In Bezug auf diese multi-ethnische Insel beschäftigen ihn unter anderem die gegenwärtigen Auswirkungen des globalen Tourismus auf das soziokulturelle und wirtschaftliche Leben sowie die Geschichte ihrer Besiedlung. Thomas Schmitt ist Humangeograph mit Schwerpunkten in Sozial-, Kultur-, Stadt-, Politischer und Religionsgeographie und arbeitet derzeit am Geo-

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graphischen Institut der Universität Erlangen. Seit 2003 forscht er, neben anderen Themen, zur Governanz des UNESCO-Welterbes. Hasso Spode studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie und Religionswissenschaften mit einer Promotion an der FU Berlin und Habilitation an der Leibniz-Universität Hannover. Dort erhielt er die Venia Legendi für Historische Soziologie. Er ist zudem Leiter des Historischen Archivs zum Tourismus (Willy-Scharnow-Archiv) an der TU Berlin. Er hat zahlreiche Forschungsarbeiten in den Feldern Anthropologie, Sozial- und Kulturgeschichte sowie politische Prozessanalyse vorgelegt; Themenschwerpunkte sind dabei zur Zeit die Geschichte des Alkohols und des Tourismus. Ingrid Thurner ist Ethnologin und Lehrbeauftragte am Institut für Kulturund Sozialanthropologie der Universität Wien zum Thema Tourismus sowie freie Mitarbeiterin eines Studienreisebüros. Sie arbeitete als Kuratorin für verschiedene ethnographische Museen, gestaltete Ausstellungen zum Regionalgebiet Afrika und führte sozial- und kulturwissenschaftliche Auftragsarbeiten durch. Schwerpunkte ihrer Forschungsinteressen sind Mobilitäten, Reisen und Fremdwahrnehmungen.

Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder September 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 November 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Oktober 2013, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Januar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt September 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

Anett Schmitz Transnational leben Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland Oktober 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2328-4

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Kultur und soziale Praxis Andrea Baier »Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?« Gesundheit und soziale Ungleichheit. Erfahrungen einer Frauengruppe mit einem Gesundheitsprojekt Juni 2013, 144 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-2490-8

Sonja Buckel »Welcome to Europe« – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa« September 2013, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1

Matthias Forcher-Mayr Fragile Übergänge Junge Männer, Gewalt und HIV/AIDS. Zur Bewältigung chronischer Arbeitslosigkeit in einem südafrikanischen Township Dezember 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2302-4

Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5

Valerie Moser Bildende Kunst als soziales Feld Eine Studie über die Berliner Szene

Alfred Nordheim, Klaus Antoni (Hg.) Grenzüberschreitungen Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik Juli 2013, 248 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2260-7

Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Dezember 2013, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4

Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung Mai 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2

Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1

Caroline Schmitt, Asta Vonderau (Hg.) Transnationalität und Öffentlichkeit Interdisziplinäre Perspektiven November 2013, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2154-9

Mai 2013, 346 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2331-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de