Werte: Geschichte eines Versprechens [1. Aufl.] 978-3-476-04834-9;978-3-476-04835-6

Werte haben Konjunktur. Sie versprechen Orientierung und Verbindlichkeit, auch wenn sie durch den technologischen Fortsc

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Werte: Geschichte eines Versprechens [1. Aufl.]
 978-3-476-04834-9;978-3-476-04835-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Einleitung (Christoph Zeller)....Pages 1-40
Kleine Kulturgeschichte der Werte (Christoph Zeller)....Pages 41-60
Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn (Christoph Zeller)....Pages 61-106
Liberalismus für alle: Ökonomische Werte als Heilsversprechen (Christoph Zeller)....Pages 107-155
Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion (Christoph Zeller)....Pages 157-206
Im Labor der Seele: Mehrwert und Minderwertigkeit (Christoph Zeller)....Pages 207-249
„Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter (Christoph Zeller)....Pages 251-298
Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung (Christoph Zeller)....Pages 299-346
Abrechnung folgt (Christoph Zeller)....Pages 347-388
Back Matter ....Pages 389-431

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Christoph Zeller

Werte

Geschichte eines Versprechens

Werte

Christoph Zeller

Werte Geschichte eines Versprechens

Christoph Zeller Vanderbilt University Nashville, TN, USA Gefördert durch die Vanderbilt University, Nashville

ISBN 978-3-476-04834-9 ISBN 978-3-476-04835-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Foto: Brigida_Soriano/photocase.de J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Die Wertvorstellungen von heute werden morgen veraltet sein. Technische, wissenschaftliche und geschichtliche Entwicklungen werden sie überholt erscheinen lassen. Unser Selbstverständnis wird davon nicht verschont bleiben, ebenso wenig die Ideen, auf die wir unsere Gesellschaft gründen. Was wir unter „Demokratie“ verstehen, war vor nicht langer Zeit allein wohlhabenden Männern vorbehalten, was sich „Humanismus“ nennt, hinderte westliche Nationen nicht daran, „unzivilisierte“ und „gottlose“ Menschen zu unterdrücken, was wir unter „Leben“ begreifen, definieren Weltreligionen anders als Genetiker, und was wir gemeinhin als „Maschine“ bezeichnen, wird vielleicht eines Tages Bewusstsein entwickelt haben. Werte müssen wir stets neu definieren. Wer sich lediglich auf Werte beruft, ohne sie erklären zu können, bewegt sich auf dünnem Eis, denn mit der bloßen Forderung nach ihrer Geltung gestehen wir zu, uns ihrer nicht mehr sicher zu sein. Sie aufzurufen, ist ein Symptom der Ungewissheit. „Aufgerufen“ werden sie mehr denn je, um sie für diese oder jene Zwecke in Anspruch zu nehmen, immer aber für die „gute“, „bessere“ oder „vielversprechendere“ Sache. Selten erfahren wir, welche Auffassungen sich hinter Werten verbergen. Wer Werte beschwört, beschränkt sich meist auf Schlagworte und Andeutungen. Von den Werten des „Fortschritts“, des „Wissens“, der „Gleichheit“ und des „Friedens“, der „Familie“ und der „Sicherheit“, des „Christentums“, der „Geschichte“ oder des „Westens“ ist dann die Rede, ohne dass wir wüssten, was diese Werte bedeuten, welchen Ursprungs sie sind und weshalb sie uns wichtiger als andere sein sollten. Zu erklären, was Werte sind, warum wir von ihnen sprechen, unter welchen Umständen wir sie bemühen und weshalb sie für uns von Gewicht sind, ist das Ziel dieses Buchs. Wichtig sind uns Werte allemal. Ohne sie fehlte es uns an moralischer Orientierung, einem angemessenen Verhältnis zu unseren Mitmenschen und letztlich zu uns selbst. Unser Weltverständnis beruht auf Werten, die wir Dingen und Menschen zuschreiben. Doch Werte sind uns nicht von Geburt an eigen. Sie sind durch gesellschaftliche Traditionen geformt, anerzogen und ändern sich im Lauf des Lebens. Zu verstehen, warum wir ohne sie nicht auskommen, und die historischen Umstände zu kennen, unter denen sie entstanden sind, bildet die Voraussetzung unseres Wissens und unserer Handlungen. Niemand kann wertfrei über Werte sprechen. Die folgenden Erörterungen sind von wissenschaftlicher Neugierde für den Gegenstand geleitet, von Offenheit für verschiedene Perspektiven, von Skepsis

V

VI

Vorwort

gegenüber allen Meinungen – auch gegenüber den eigenen –, von Kritik als wissenschaftlicher Methode, von Empathie für die Menschen, die zu je unterschiedlichen Zeiten Wertvorstellungen vertraten oder ihnen unterworfen waren, und von Achtung vor denjenigen, die der Geschichtlichkeit unseres Denkens Ausdruck und Form gegeben haben. Die verschiedenen, in diesem Buch behandelten Bereiche – Philosophie, Ökonomie, Religion, Psychologie, Politik, Informationstechnologie und Lebenswissenschaften – bilden den Hintergrund für eine kulturwissenschaftliche Analyse. Es geht darum festzustellen, wie Begriffe in jeweils unterschiedlichen Kontexten verwendet werden, was sie unterscheidet, aber auch, was sie miteinander verbindet. Eine der grundlegenden Annahmen dieses Buches lautet daher, dass sich trotz unterschiedlicher Anwendungen des Wertbegriffs Gemeinsamkeiten erhalten haben. Diese oft verborgenen oder unbekannten Ähnlichkeiten bloßzulegen und Zusammenhänge herzustellen, wo wir sie nicht vermuten, dienen begriffsgeschichtliche Hinweise ebenso wie das Stilmittel der Analogiebildung. Wenn uns in Reden und Druckschriften Werte begegnen, haben sie die Form von Appellen, die nicht das Wirkliche, sondern das Erstrebenswerte zeigen. Sie richten sich dabei meist auf eine Vergangenheit, die es nie gab, und schaffen ein nostalgisches Bild von einer Welt, in der zwar nicht alles gut, aber angeblich vieles besser war. Zugleich drückt sich in ihnen die Sorge um eine unsichere Zukunft aus: Was sich nicht abwenden lässt, möge wenigstens durch Werte gebändigt werden. In ihnen wird das Vergangene verklärt und das Zukünftige erträglich. Zukunftsängste sind oft mit der Furcht vor ökonomischen Verlusten und sozialem Abstieg verbunden. Erst im 18. Jahrhundert ist der Wertbegriff aus dem Bereich der Wirtschaft in die Sphäre der Philosophie gelangt. Was einst dem Begriff der „Tugend“ zugedacht war, fand mit dem Aufstieg des Liberalismus unter der Bezeichnung „Werte“ den Weg ins gesellschaftliche Bewusstsein. Die neu erwachte Möglichkeit zur ökonomischen Entfaltung gab die ethischen Richtlinien vor. „Freiheit“, „Gleichheit“, „Fortschritt“, „Wissen“ und „Bildung“ waren Händlern und Kaufleuten selbstverständlich, bevor sie zu Maximen der Aufklärung wurden. Denn Kaufleute „befreiten“ sich durch ökonomischen Fortschritt vom traditionellen, auf Herkunft und Landbesitz beruhenden Machtmonopol der Aristokratie, vergrößerten durch Wissen ihre Befähigung zur Innovation und leiteten mit der Forderung nach Bildung einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel ein. Durch Bildung sollte jedem Menschen die Chance auf sozialen Aufstieg und persönlichen Wohlstand gegeben werden. Je mehr Menschen dazu in der Lage waren, ihre Kenntnisse zur Hebung des persönlichen Wohlstands zu nutzen, desto mehr florierten wiederum die Märkte. Auf diesen Märkten traten, nach den Vorstellungen von Adam Smith, wirtschaftlich befreite, gebildete und selbstbestimmte Individuen durch den Tausch von Gütern und Dienstleistungen miteinander in Beziehung. Philosophen und Ökonomen stehen seither in einem unvermuteten und oft als unbequem empfundenen Verwandtschaftsverhältnis. Sie denken wechselweise an „richtiges Handeln“ oder „einträglichen Handel“, an Wertorientierung oder Wertschöpfung, Wertewandel oder Wertsteigerung. Während sich ethische Werte meist über größere Zeiträume hinweg wandeln, wird der Wandel ihrer materiellen Verwandten oft von kurzfristigen Schwankungen

Vorwort

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begleitet. In Wertpapieren und Wertanlagen, die in Börsenkursen eine mathematische Abbildung finden, kommt ihre Instabilität zum Ausdruck. Börsenhändler heißen nicht zufällig Spekulanten. Sie sind „Beobachter“ (von lat. „speculator“ = „Kundschafter“ oder „Späher“), die Schlüsse auf mögliche Entwicklungen in der Zukunft ziehen, ohne zu wissen, ob ihre Prognosen eintreffen werden. Wie groß die Auswirkungen von Fehlspekulationen sein können, hat die deutsche Bevölkerung um die Zeit des Ersten Weltkriegs herum erfahren. Schon vor Ausbruch der Kampfhandlungen waren Anleihen auf den zukünftigen Sieg gegen Frankreich ausgegeben worden – Urkunden ohne Absicherung, die nach dem Krieg nicht das Papier wert waren, auf das sie gedruckt worden sind. Während der Hyperinflation zwischen 1920 und 1923 verloren viele Menschen durch die Entwertung des Geldes ihre Ersparnisse. Wer keine Immobilien oder Wertgegenstände besaß, sah sich in einen bodenlosen Abwärtstaumel versetzt. Das Versagen der ehemaligen politischen Eliten trat nach dem Krieg in ganzem Ausmaß zutage. Schon zuvor hatten die Grabenkämpfe und Materialschlachten an der Westfront alle Vorstellungen davon zunichte gemacht, dass ethische Werte von Dauer sein könnten. Vom „Verlust der Werte“ sprachen all jene, die Zeugen davon wurden, wie eine für gültig erachtete und auf christlichen Ideen gegründete Werttradition in Stücke geschossen wurde, aber auch jene, die für einen Laib Brot eine Schubkarrenladung von Banknoten zu entrichten hatten. Zeitgenossen wussten nur zu gut, dass der Wertbegriff von doppelter Bedeutung war. Stand der Wertbegriff in Jahren der existenziellen Not, des politischen Tumults und der Orientierungslosigkeit um 1918 hoch im Kurs, so lässt sich die Popularität, die ihm heute widerfährt, nicht allein auf eine Krisensituation zurückführen. War das Leben nicht immer schon eine unsichere Angelegenheit? Geht es uns nicht besser als je zuvor? Nie sei der allgemeine Wohlstand größer gewesen, vertritt etwa Steven Pinker, nie habe es mehr Arbeit, mehr Bildung, mehr Gleichheit und mehr Emanzipation gegeben. Das Massensterben der Arten, die Verschmutzung der Weltmeere, die Erwärmung der Erdatmosphäre und die steigende ökonomische Ungleichheit böten keinen Anlass zur Sorge, meinen unbeugsame Optimisten. Durch Erfindungsgeist und Wagemut habe die Menschheit schließlich stets einen Ausweg aus misslichen Lagen zu finden gewusst. Wer solchen Optimismus teilt und die aufklärerischen Werte der „Vernunft“, der „Wissenschaft“, des „Humanismus“ und des „Fortschritts“ für universell erachtet, wird sich einzugestehen haben, dass sich mitunter Vernunft in Unvernunft, Wissenschaft in Ignoranz, Humanismus in Kolonialismus und Fortschritt in Ausbeutung verwandeln können, ganz so, wie es uns die Geschichte lehrt. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass wir ohne die Prinzipien der Aufklärung auskommen könnten, um zukünftige Probleme zu bewältigen. Es wird aber darauf ankommen, wie wir sie gebrauchen, verstehen und umsetzen, damit dem Wohlergehen aller Menschen und nicht nur wenigen Profiteuren gedient ist. Bei diesem Buch handelt es sich daher nicht um eine Kritik an ökonomischen Prinzipien – denn ökonomisch handelten Menschen sei jeher –, sondern um den Versuch zu verstehen, was aus den Idealen der Aufklärung im Zeitalter des Liberalismus und Neoliberalismus geworden ist. Den hohen Lebensstandard, der uns wie keiner anderen Generation zuvor vergönnt ist, haben wir teuer erkauft. Spätere Generationen werden dafür zahlen, was

VIII

Vorwort

wir heute zerstören. Unser Wohlstand beruht auf der Nutzung fossiler Energieträger, deren Verbrennung seit der industriellen Revolution eine ungeheure ökonomische Dynamik freigesetzt hat. Wir befinden uns inmitten einer geschichtlichen Situation, die kein höheres, über uns schwebendes Fatum ist, sondern das Resultat eines bestimmten Gesetzen gehorchenden ökonomischen Handelns. Dieses Handeln lässt sich ethisch nicht mehr rechtfertigen. Künstliche Verknappung, Monopolisierung und Gewinnstreben verlagern die Kosten für die verursachten Schäden an unserer Umwelt auf die Allgemeinheit. Ein hoher Lebensstandard steht in unmittelbarem Verhältnis zur Vernichtung des Lebensraums aller auf dem Planeten lebenden Arten – einschließlich des Menschen. Der Liberalismus, dem wir so viel verdanken, sei gerade deshalb an sein Ende gelangt, meint Patrick Deneen, weil er so erfolgreich war. Was einst der Freiheit, dem Frieden und dem Wohlstand diente, hemme heute genau jene Freiheit und gefährde jenen Frieden durch die Fixierung auf rasche Wertzuwächse und hohe Profitmargen. Wir seien dabei, unsere moralischen Werte für materielle Gewinne aufzugeben. Einer der Lösungsvorschläge, den uns beispielsweise Pharmakonzerne und Hightechunternehmen anbieten, zielt darauf ab, nicht die Umwelt, sondern den Menschen zu verändern. Künstliche Intelligenz und Genetik stehen im Begriff, ein Wesen hervorbringen, das dem, was wir heute „Mensch“ nennen, bald nicht mehr ähnlich sein dürfte. Ginge es nach den Vorstellungen der neuen Industrien, werden wir nur dann vollkommen zu uns selbst gefunden haben, wenn alles Menschliche hinter uns liegt. Ganz Mensch zu sein, hieße, die Fesseln der Evolution abgeworfen zu haben. Die Hoffnung auf ein kommendes Zeitalter, in dem Krankheit und Tod überwunden sein werden und das Leben unserem Willen gehorchen wird, wächst in gleichem Maß, wie die Konflikte um Ressourcen aufgrund der Zerstörung unseres Lebensraums zunehmen. Allein das Zusammenspiel von Biologie und Technik halte Möglichkeiten bereit, die in Zeiten der Gefährdung einen Ausweg böten. Die Verbindung von Informationstechnologie und Genetik, heißt es, wird uns Fortschritte erlauben, die wir einst für undenkbar hielten. In diesem Klima der technischen Neuerungen und rascher gesellschaftlicher Veränderungen, ökonomischer Umschichtungen und des blinden Vertrauens auf die Lösbarkeit aller zukünftigen Probleme durch technische Innovationen gedeiht der Wunsch nach Werten. Sie halten die Illusion aufrecht, dass wir das Bekannte in ein vollkommen andersartiges Morgen retten können. In ihnen spiegeln sich unsere Ängste und Sehnsüchte angesichts einer ungewissen Zukunft wider. Werte geben daher ein Versprechen auf Ordnung und Stabilität, jedoch eines, das sich kaum einlösen lässt. Januar 2019

Christoph Zeller

Danksagung

Ohne wertvolle Hinweise und Anregungen wäre die Entstehung dieses Buchs nicht möglich gewesen. Bedanken möchte ich mich besonders bei Johannes Endres, der mit Rat und Geduld zur Seite stand, Roberto Simanowski, der mit seinen Einsichten zu Ethik und Technik den Blick öffnete, und Alexander Kurz, der für Klarheit sorgte, wo es nottat. Wichtige Fingerzeige gehen auf Gespräche oder Korrespondenzen zurück, unter anderem mit Richard T. Gray, Ulrich Breuer, Nikolaus Wegmann, Heinz Schlaffer, Paul Michael Lützeler, Nadja Gernalzick, Alexander Joskowicz, Meike Werner, Lutz Koepnick, Kerstin Bönsch, Andrea Mirabile, Douglas C. Schmidt, Jochen Hörisch, Michael Bess, Jane Landers, Frank E. Dobson, Kevin Leander, Paul Kramer, Ken A. Paulson und Alice Stašková. Ute Hechtfischer vom Verlag J.B. Metzler danke ich für ihr Vertrauen, der Vanderbilt University für die finanzielle Förderung zur Fertigstellung des Manuskripts und meiner Familie für die Zeit, die sie mir zum Lesen und Schreiben eingeräumt hat.

IX

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Wo das Wünschen noch geholfen hat“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurück in die Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einmaleins der Wertneurologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Werten sprechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 11 21 28

2 Kleine Kulturgeschichte der Werte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3 Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn. . . . . . . . . Theorie als Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Postulat der Wertfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertetyrannei von Nietzsche bis Schmitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiburger und Frankfurter Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 68 75 86 95

4 Liberalismus für alle: Ökonomische Werte als Heilsversprechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keinen Heller wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideologie der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werte-Fetischismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ende des Liberalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 107 115 128 138 145

5 Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion. . . . . . . . . . . . . . . Ritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube auf Pump. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konsumreligion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomische Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zivilreligion und ihre Spielarten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 157 164 177 189 197

6 Im Labor der Seele: Mehrwert und Minderwertigkeit. . . . . . . . . . . . . Die Vermessung der Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thermodynamik als Ordnungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Triebökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr Sein als Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 207 216 225 234 239 XI

XII

Inhaltsverzeichnis

7 „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter. . . . . . . . . Was Propaganda bewirkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie man Wahlen gewinnt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weshalb neue Medien polarisieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche „Werterevolution“ Nationalsozialisten meinten. . . . . . . . . . . . . . . Warum Demokratie käuflich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251 251 262 271 279 290

8 Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung. . . . . . . . . . . Nichts als Zeichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nullwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logik und Mystik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dada-Kunst nach Kaufmannsart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik als literarische Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299 299 308 319 328 337

9 Abrechnung folgt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ein Menschenleben wert ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrollverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der neoliberale Cyborg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347 347 362 374

Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

1

Einleitung

„Wo das Wünschen noch geholfen hat“ Werte an sich gibt es nicht. Sie stehen immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Erst wenn Werte auf dem Spiel stehen, gelangen sie ins Bewusstsein. Sie sind allgegenwärtig, gehen aber dem Denken voraus. Erziehung, Anpassungsdruck und Disziplinierung haben sie in uns geformt. Weil sie immer schon in uns vorhanden zu sein scheinen, herrschte lange Zeit der Glaube, dass Werte vorab gegeben seien und nach unserem Tode fortbestünden. Man meinte, sie einer höheren Instanz zuschreiben zu können – wenn nicht Gott, dann dem Universum, der Biologie oder wenigstens den Verrichtungen der Psyche. Stattdessen gilt heute als sicher, dass Kinder mit den Wertvorstellungen ihrer Eltern und Großeltern, Freundinnen und Bekannten, Nachbarn und Vorgesetzten, Lehrer und Professorinnen aufwachsen. Durch Werte fügen wir uns in die Gesellschaft ein und erlernen, was uns von anderen Menschen als Konvention vorgegeben ist. Sie sind verinnerlichte Verbotsschilder und Verhaltensvorschriften, Richtlinien dessen, was einer Gesellschaft vorgeblich zum Guten dient. Dabei sind Werte so vielfältig wie die Kulturen, in denen sie sich entfalten, und selbst innerhalb von Kulturen, Subkulturen und losen Gruppen von Menschen sind Werte stets in großer Vielfalt anzutreffen. Von Idealen, Normen, Geboten, Gesetzen, Vorurteilen, Stereotypen und Klischees unterscheidet sie ihre Unbestimmbarkeit.1 Was uns in Lebensratgebern, Zeitungsartikeln und Blogs als „Wert“ angeboten wird, reicht von guten Manieren bis zu passivem Fahren, von Nächstenliebe bis Nationalstolz, von Wellness bis Arbeitseifer und von Schönheit bis Wahrheit. Ehrlichkeit wird ebenso als

1Während Werte lediglich Präferenzen anzeigen, stehen Ideale für Vollkommenheitsmuster, Normen für traditionell akzeptierte Verhaltensweisen, Gebote für ethisches Sollen, Gesetze für Rechtsgrundlagen, Vorurteile für unreflektierte und unbewusste Urteile, Stereotype für allgemein akzeptierte und weitgehend vereinfachte – oft falsche – Sachverhalte und Klischees für veraltete, abgenutzte Redensarten. Viele dieser Begriffe überschneiden sich.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_1

1

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1 Einleitung

Wert deklariert wie Offenheit, Selbstbewusstsein und gesunde Ernährung. Werten lässt sich kaum widersprechen, auch wenn nicht einmal klar ist, worum es sich bei ihnen handelt. Ihre bloße Nennung hält allzu oft als Beleg für ihre Gültigkeit her. Weil es schwer ist, ihnen beizukommen, sind sie bei Predigern und Schuleiterinnen, Politikerinnen und Meinungsforschern beliebt. Das Bedürfnis nach Werten ist umso größer, je mehr es an Vertrauen in ihre Berechtigung mangelt. Es zählt zu den Begleiterscheinungen der Demokratie, dass Werte in ihr stets neu verhandelt, diskutiert und infrage gestellt werden. Die Befreiung von festgefügten Wertvorstellungen schafft Ratlosigkeit und Ängste. Wer sich seiner Werte nicht mehr sicher sein kann, wird sie mitunter umso heftiger verteidigen wollen. Die Unsicherheit darüber, was Werte sind, liegt in ihrer Geschichte begründet. Sie lassen sich nur in einem historischen Rahmen begreifen. Was wir für ethische Prinzipien oder Fundamente unserer persönlichen Integrität halten, ist jüngeren Ursprungs. Ein Blick in historische Abhandlungen und Wörterbücher, philosophische Traktate und literarische Texte, Zeitschriften und Romane der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte belehrt uns darüber, dass der Wertbegriff noch im 18. Jahrhundert ausschließlich dem Bereich der Ökonomie angehörte. Erst mit dem Aufstieg des Bürgertums und den Ideen des freien Marktes, des Wettbewerbs und Eigennutzes ging der Wertbegriff von der Ökonomie auf die Philosophie über. In ihr gab das Bürgertum dem liberalen Wirtschaftssystem eine ethische Begründung. Die politische Brisanz der Verbindung von Ethik und Ökonomie ist kaum zu unterschätzen. Zwar diente Politik seit dem Aufkommen des Parlamentarismus und der Demokratie im 19. Jahrhundert immer stärker dazu, den Willen des Volkes zu repräsentieren, doch wurde dieser Wille zugleich nach ökonomischen Gesichtspunkten manipuliert und beschnitten.2 Werte, die sich in bare Münze verwandeln lassen, stehen zu ethischen Größen in unmittelbarem Bezug. Sie lassen sich nicht voneinander scheiden und waren immer schon eng miteinander verknüpft. Ökonomen verwenden den Wertbegriff, um Gütern Preise zuzuschreiben und die Verwandlung von Waren in Kapital als Wertschöpfungsprozess darzustellen. Philosophinnen verstehen ihn im Rahmen der Ethik und haben Handlungen im Sinn, die dem guten Leben, dem Wahren und Schönen dienen. Geistliche denken an die Bedingung von Gottgefälligkeit, Andacht und Bekenntnis. Politikerinnen unterstreichen ihre Positionen, wenn sie etwa auf Familie und Gesetze, die Verfassung oder den Staat schwören. Psychologen untersuchen das Verhältnis von Selbstwert und Minderwertigkeitsgefühlen. Künstlerinnen und Schriftsteller

2Dass

sich dieser Prozess in Zeiten des Neoliberalismus verschärft und zunehmend dazu geführt hat, dass Menschen ihrer Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess beraubt werden, zeigt Wendy Brown an zahlreichen Beispielen: Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution, New York: Zone Books 2015. Vor allem die zunehmende Ökonomisierung staatlicher Institutionen und der freien Presse entmündige, Brown zufolge, Menschen und beraube sie ihrer demokratischen Rechte. Übersetzungen werden im Folgenden entweder umschrieben oder sind vom Verfasser (C.Z.) übertragen, sofern nicht ausdrücklich in anderer Form angegeben.

„Wo das Wünschen noch geholfen hat“

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berücksichtigen unter „Wert“ die Stellung der Materialien in einer Komposition oder der Worte in einem Gedicht. Doch fraglos gilt, dass auch monetäre Werte in der Kunst eine Rolle spielen, Minderwertigkeitsgefühle mit beruflicher und finanzieller Anerkennung zu tun haben, Werte wie „Familie“ und „Staat“ von ökonomischen Erwägungen nicht zu trennen sind und materieller Reichtum Religionsgemeinschaften und Kirchen nicht fremd ist. Zu jeder Zeit verrät sich ihr Ursprung aus der Ökonomie. Wir sprechen von „Vermögen“ und meinen entweder „Können“ oder „Reichtum“, sagen „Anlage“ und haben entweder „Talent“ oder „Geldvermehrung“ im Sinn, machen „Schulden“ und laden „Schuld“ auf uns, „erwerben“ Wissen, auch wenn wir es nicht kaufen, sondern nur mühsam erlernen können, wir „verdienen“ Respekt, auch wenn nichts davon auf unserer Gehaltsabrechnung erscheint. Der Volksmund kennt solche Zusammenhänge und gibt sie in Redensarten und Sprichworten wieder: „Morgenstund hat Gold im Mund“, „Zeit ist Geld“, „Umsonst ist nur der Tod, und der kostet das Leben“. Jede ökonomische Entscheidung zeitigt unweigerlich ethische Folgen, wie umgekehrt jede ethische Handlung Einfluss auf die Ökonomie hat. Der Zusammenhang von Ethik und Ökonomie wirkt sich auf alle Bereiche von Wissenschaft und Gesellschaft aus. Die Kapitel dieses Buchs stellen hierzu exemplarische Fälle vor. Wie Ökonomie und Ethik zusammenhängen, wenn konkrete Werte genannt werden, sei an zwei Fällen erläutert. So sehr wir „Erziehung“ auch als Wert an sich erachten wollen, der der Persönlichkeitsbildung und Identitätsstiftung dient, so wenig lässt sich leugnen, dass Menschen, die in den Genuss einer höheren Erziehung kommen, nicht nur mit einem höheren Einkommen rechnen können, sondern insgesamt „gesünder leben, sich seltener scheiden lassen und mehr zu einem funktionierenden Gemeinschaftswesen beitragen als Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad“.3 Zwischen Einkommen und Lebensdauer besteht ebenfalls ein Zusammenhang. Der Unterschied zwischen dem vermögendsten Teil der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Amerika und dem ärmsten betrug zwischen 2001 und 2014 beträchtliche 14,6 Jahre bei Männern und 10,1 bei Frauen, während sich die Schere der Lebenserwartung im gleichen, relativ kurzen Zeitraum um nicht weniger als 2,3 Jahre bei Männern und 2,9 bei Frauen weitete.4 Höhere Einkommen gehen gemeinhin auf ein höheres Bildungsniveau zurück. 3„People who pursue more education and achieve it make more money, live healthier lives, divorce less often, and contribute more to the functioning and civility of their communities than less educated people do“, Michael Hout: „Social and Economic Returns to College Education in the United States“, in: Annual Review of Sociologiy 38 (2012), 379–400, hier 394. 4Raj Chetty u. a.: „The Association Between Income and Life Expectancy in the United States“, 2001–2014, in: Journal of the American Medical Association, Bd. 315, Nr. 16. (2016), http://www. jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/2513561?redirect=true (3. Dezember 2018). Die Unterschiede dürften in Deutschland mit einem ausgewogeneren sozialstaatlichen Sicherungsnetz geringer ausfallen. Es sollte aber zu denken geben, wenn darüber geklagt wird, dass zu viele Gymnasialabsolventen studieren wollen und damit das Universitätssystem überlasten. Wäre es nicht unethisch, jungen Menschen einen höheren Bildungsstandard zu versagen und ihnen damit ein höheres Einkommen ebenso vorzuenthalten wie die Möglichkeit, ein längeres, produktiveres und erfüllteres Leben zu führen?

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1 Einleitung

Gewiss formt Erziehung unsere Persönlichkeit, sie zahlt sich im Durchschnitt aber auch in barer Münze und in einem längeren Leben aus.5 Wer sich für den Wert der „Familie“ stark macht, meint damit zumeist den Kern unserer Gesellschaft schützen zu müssen. Worin dieser „Kern“ besteht, ist jedoch ungewiss. Da die Reallöhne in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht gewachsen, die Teuerungsraten für Güter und Dienstleistungen indes stetig gestiegen sind, haben sich Familienstrukturen geändert. Doppelverdiener sind heute der Normalfall, der Stress für das Familienleben durch höhere Anforderungen im Beruf, den Zwang zur Mobilität und zu flexiblen Arbeitszeiten größer. Der Staat redet unterdessen bei der Familienplanung mit und ermutigt Paare durch finanzielle Anreize für Nachwuchs zu sorgen. Steuererleichterungen und Kindergeld bieten Entlastung, entschädigen aber kaum für die Entbehrungen, die Familien in Kauf nehmen müssen. Einen Rückgang der Geburtenraten konnten derartige Anreize daher nicht aufhalten. Der Grund liegt nicht etwa in größerer Selbstsucht oder geringerer Opferbereitschaft jüngerer Generationen, sondern in den finanziellen Hürden.6 Für viele Paare sind Kinder heute selbst in reichen Ländern zum Risiko für die eigene Existenz geworden. Teuer wird es zudem in Scheidungsangelegenheiten: Rechtsanwälte, getrennte Haushalte, Unterhaltszahlungen, Abfindungen und oft auch psychische Erkrankungen verursachen hohe Kosten. Im Scheidungsfall wird klar, warum Gesetzgeber Ehen als „Gütergemeinschaften“ bezeichnen, also von ökonomischen und nicht von ethischen Wertvorstellungen oder sogar dem romantischen Wert der Liebe ausgehen. Wer „Familie“ als einen Wert erachtet, sollte bedenken, dass Familienstrukturen heute komplexer sind als noch vor einigen Jahrzehnten, dass andere Einkommensverhältnisse bestehen, Patchworkfamilien zum Normalfall, Rollenklischees untauglich und gesetzlich anerkannte gleichgeschlechtliche Partnerschaften längst Realität geworden sind.

5Wie sehr indes die Einkommensunterschiede und damit auch die Lebensaussichten durch Bildungschancen zementiert sind, zeigen die Aufnahmepraktiken an Ivy-Leage-Universitäten in den USA, wo eine deutlich höhere Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern aus dem höchsten Einkommenssegment – den „top one percent“ der Bevölkerung- zum Studium zugelassen werden als aus den 60 % der niedrigen Einkommensklassen, vgl. o. A.: „Some Colleges Have More Students From the Top 1 % Than the Bottom 60. Find Yours“, in: The New York Times, 18. Januar 2017, http://www.nytimes.com/interactive/2017/01/18/upshot/some-colleges-have-more-studentsfrom-the-top-1-percent-than-the-bottom-60.html (3. Dezember 2018). 6Aus den Angaben des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass es 1950 705.452 Eheschließungen in Deutschland gab. 2007 waren es nur noch 368.922. Im gleichen Zeitraum ging die Zahl der Geburten von 1.116.701 auf 648.862 zurück, vgl. Statistisches Bundesamt: „Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten. Eheschließungen, Geborene und Gestorbene. 1946–2015“, 30. Juni 2016, http://www.destatis.de/DE/Publikationen/ Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsbewegung/ZusammenEheschliessungenGeboreneGestorbene5126102157004.pdf?__blob=publicationFile (3. Dezember 2018).

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Werte sind funktionaler Natur. Ihre Bedeutung entsteht, frei nach Wittgenstein, durch ihren „Gebrauch in der Sprache“,7 ihre Unschärfe ist Teil ihrer semantischen Struktur. Sie werden im Modus des Appells vorgetragen und drücken keine Fakten aus, sondern sind als Aufforderungen an andere zu verstehen, eine erwünschte Wirklichkeit mitzugestalten. Sie stellen keine Inhalte dar, sondern erfüllen einen Zweck. Appelle erhalten erst dann Gewicht, wenn wir ihnen Folge leisten. Deshalb sind Werte auf Zustimmung aus. Um ihnen Bedeutung zu geben, bedürfen sie des Zuspruchs. Erst wenn sie Zuspruch gefunden haben, können wir von ihrer Geltung sprechen. Ihre Geltung wiederum stärkt das Gefühl von Zugehörigkeit. Die soziale Funktion von Werten liegt also darin, Gemeinschaft zu stiften. Wer Werte teilt, fühlt sich einer Gruppe zugehörig, wer sie ablehnt, ist außen vor und muss gegebenenfalls mit Sanktionen rechnen. Diejenigen, die Werte nicht teilen, sollen dazu gebracht werden, sich einer Gemeinschaft anzuschließen – in Demokratien durch Überzeugungskraft, in Diktaturen durch Zwangsmaßnahmen bis hin zur Gewalt. Demokratische Staatsführer berufen sich deshalb, wenig überraschend, ebenso sehr auf „gemeinsame Werte“ wie einst die Nationalsozialisten, die sich als „Wertegemeinschaft“ betrachteten und von einer „Werterevolution“ sprachen. Wir verleihen Werten Sinn, indem wir von ihnen sprechen. Nur durch ihren Kontext gewinnen sie an Konturen: „Werte sind nichts, was dem Bewerten vorausgeht, sondern etwas, was aus dem Bewerten hervorgeht. Werte sind nicht vorausgesetzt, sondern abgeleitet. Sie sind nicht die Prämissen, sondern die Resultate des Bewertens.“8 Werte kennen kein Bezeichnetes, wodurch ihr Sinn zum Ausdruck käme. Vielmehr sind sie „Projektionsflächen, die es jeder und jedem erlauben, darauf einzutragen, was sie für konform mit ihren Interessen, Präferenzen halten.“9 Wir können sie als ein Schema ohne Inhalt verstehen und daher als Fiktion – Darstellung einer Realität, wie sie sein könnte.10 Wie die „regulative Idee“ Immanuel Kants ist der Wertbegriff deshalb „der P r o b i e r s t e i n d e r Wa h r h e i t “.11 Erst im Vergleich mit anderen gewinnt ein Wert an Gewicht, wird seine „Wahrheit“ fassbar. Über Dinge, die sich vergleichen lassen, kann man streiten, und sei es nur über ihre Unwichtigkeit. Man heftet dem für besser, nützlicher oder schöner Befundenen das Etikett des Wertes an, ohne den jeweiligen Wert zu erklären oder auf die Bedingungen seiner Verwendung hinzuweisen. Dem weniger hoch Geschätzten wird – ob gewollt oder ungewollt – Minderwertigkeit

7Ursprünglich

lautet der Satz: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, neu durch­ gesehen von Joachim Schulte, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, 262 [Nr. 43]. 8Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart: Metzler 2016, 16. 9Ebd., 173. 10Ebd., 12. 11Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“ [1781], in: Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, 8. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, Bd. IV, 567.

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1 Einleitung

unterstellt. Jede Verteidigung eines Wertes beruht auf einer negativen Folie, denn Werte sind ohne ein Gegenstück nicht denkbar. Außerhalb der Sprache kommen Werte beispielsweise auch in Gesten, Verhaltensweisen oder Moden zum Ausdruck – Verständigungsmöglichkeiten, durch die wir uns gegenseitig Anerkennung zollen. Aufgrund ihrer Unbestimmtheit müssen Werte von Generation zu Generation in ein neues Gleichgewicht gebracht werden. Während einige Werte verschwinden, werden andere weitergegeben. Durch die Weitergabe entsteht der Schein von Dauer. Ihre Veränderlichkeit schürt dagegen Ängste, denn was uns einst als Wert galt, erscheint uns heute oft als peinlich, inkorrekt, schädlich, deplatziert oder einfach nur unwichtig. Während ökonomische Werte Schwankungen unterliegen, stehen ethische Werte in einer pluralistischen Gesellschaft zur Diskussion und müssen durch Mehrheiten bestätigen werden. Ihre Instabilität ist die Bedingung ihrer Existenz. Wertepluralismus befindet sich in Demokratien im Einklang mit den Prinzipien der Freiheit und der Wahl, in liberalen Wirtschaftsordnungen mit denjenigen von Angebot und Nachfrage. Auf dem Markt der Ideen entscheiden Zustimmung oder Ablehnung über den Erfolg. Werte bezeichnen nämlich nicht nur die sich „wiederholende positive Bewertung eines Gutes“, sondern auch Konzepte, Vorstellungen und Ideale, die eine „Beurteilung von erwünschten Gegenständen, Handlungszielen und Handlungsmitteln“ verlangen.12 Unweigerlich stellt sich damit die Frage nach ihrer Nützlichkeit: Was bringen gewisse Werte ein? In welcher Weise helfen sie? Zustimmung und Geltung hängen wesentlich vom Verhältnis ab, in dem Werte – etwa derjenige der Selbstlosigkeit – zu ihrem Nutzen stehen. Utilitarismus – die Lehre von der Nützlichkeit ethischer Werte – weist einen engen Bezug zum Liberalismus auf, der vorherrschenden ökonomisch-politischen Maxime des bürgerlichen Standes seit dem späten 18. Jahrhundert. Die ideologische Seite dieser Maxime ist der Kapitalismus, eine Ideologie, die wir derart verinnerlicht haben, dass sie uns glauben macht, ein Naturzustand zu sein. Der wirtschaftliche Liberalismus des 18. Jahrhunderts suchte einst danach, ethische Werte in ökonomische zu überführen, denn längst kündeten maschinelle Produktionsweisen, effiziente Handelsabläufe und durch Arbeitsteilung veränderte Sozialformen von einer neuen Zeit, die es zu deuten galt. Drückt sich nach der Logik des Liberalismus Wohlstand in Zahlen aus, muss es jenen gutgehen, deren Haushalte prosperieren. Materielle Güter beglaubigen das ethisch Gute. Ein philosophisches Wertverständnis kommt in Worten zum Ausdruck. Sowohl Zahlen wie Worte dienen als Wertzeichen. Während Geld ein Speicher von finanziellen Werten und ein Tauschmittel ist, das Dinge zu Zahlen in Bezug setzt, sind Worte Bedeutungsträger, die Buchstabe und Vorstellung verknüpfen. Durch Zahlen und Worte, schaffen wir Relationen und gliedern sie in Hierarchien. Denn wie das

12Arnim

Regenbogen: Art. „Wert/Werte“, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler, 3 Bde., Hamburg: Meiner 2010, Bd. 3, 2973–2979, hier 2973 f.

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Geld den Dingen einen Zahlenwert zugesteht, so steht das sprachliche Zeichen für eine Sache oder Idee, die in der Kommunikation eine Bedeutung relativ zu ­anderen Zeichen erhält. Und wie Geld durch den Preis eine Hierarchie erwerblicher Güter anzeigt, so weisen Werte auf die Wichtigkeit von Ideen hin, die wir einem Urteil unterwerfen. Wird die Durchsetzung von Werten zum Ziel, lassen deren Verfechter häufig einen Hang zum Totalitären erkennen. Dem Appell, sich auf sie zu besinnen, geht das Bewusstsein von moralischer Überlegenheit voraus. Bereits die Behauptung, sich für Werte einzusetzen, unterstellt, dass die andere Seite Werten weniger Gewicht gibt, „falsche“ Werte vertritt oder keinerlei Werte hat. Die Berufung auf Werte symbolisiert daher bereits selbst einen Wert und zeigt einen Überschuss an moralischer Integrität, den seine Verfechter für sich beanspruchen. Nur wer Werte auf seiner Seite sieht, glaubt an die Wertlosigkeit und moralische Verrohung der anderen. Wer Werte teilt, gehört einer lediglich imaginären Gemeinschaft an, denn „Werte kandidieren allenfalls für Interpretationen, unter denen ein Kreis von Betroffenen gegebenenfalls ein gemeinsames Interesse beschreiben und normieren kann. Der Hof intersubjektiver Anerkennung, der sich um kulturelle Werte bildet, bedeutet noch keineswegs einen Anspruch auf kulturell allgemeine oder gar universale Zustimmungsfähigkeit. Daher erfüllen Argumentationen, die der Rechtfertigung von Wertstandards dienen, nicht die Bedingungen von Diskursen. Im prototypischen Fall haben sie die Form einer ästhetischen Kritik.“13 Besonders im Begriff der Kultur kommen Werte, ihren Befürwortern zufolge, zur Anschauung. In Werten wiederum findet der Umstand, Teil eines größeren historischen Ganzen zu sein, ihren Ausdruck. Jeder Hinweis auf Werte gleicht einem Aufruf zum Handeln – im geringeren Fall zur Akklamation, im schwerwiegenderen zum Kampf, um der Bedrohung durch fremde oder fehlende Werte Einhalt zu gebieten.14 Eindeutigkeit ist hier auch durch Gesetze nicht zu erwarten. Werte fußen in pluralistischen Gesellschaften z. B. auf dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Zwar ist die Berufung auf Werte durch die Verfassung geschützt, doch sind es bestimmte Werte an sich nicht. Eine demokratische Verfassung muss ihrer pluralistischen Ausrichtung gemäß auch denjenigen ein Recht zur Meinungsäußerung einräumen, die sich gegen gemeinhin akzeptierte Werte richten. Politische Instabilität vermeiden demokratische Gesellschaften allein dadurch, dass sie auf die moralische

13Jürgen

Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, Bd. 1, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 41. 14Richard Wagner: Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte, Berlin: Aufbau Verlag 2008, ist nur eines von vielen Beispielen für einen Werteradikalismus, der sich im Kampf gegen eine wie auch immer geartete „schleichende Islamisierung unserer Alltagskultur“ sieht, die nur durch eine, „entscheidende Schlacht in Europa geschlagen“ werden könne (160). Im Gegensatz zu Wagner konzentriert sich Hans Joas: „Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung“, in: Die kulturellen Werte Europas, hg. von Hans Joas und Klaus Wiegandt, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Fischer 2005, 11–39, hier 17 f., auf „gemeinsame“ europäische, westliche, christliche oder abendländische Werte, deren zwingende Präsenz und Bedeutung aus seinen Ideen nicht hervorgeht.

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I­ntegrität ihrer Mitglieder und die Regeln eines fairen, offenen Diskurses rechnen. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat“, erklärt der frühere Richter am Bundesgerichtshof Ernst-Wolfgang Böckenförde im Hinblick auf den inneren Widerspruch von Werten für die demokratische Gesellschaft, „lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“15 Demokratien setzen sich demzufolge ständig der Gefahr einer Aufhebung ihrer eigenen Grundlagen aus. Sofern sie Grundrechte in ihren Verfassungen garantieren, können Demokratien keine Gewähr für den Rückfall in den Totalitarismus geben. Eine Alternative zum offenen Austausch gibt es indes nicht. Den Pluralismus von Werten wie Carl Schmitt der „Tyrannei“ zu bezichtigen, ist dagegen ein Zeichen von Demokratiefeindlichkeit und des Wunsches nach einer erzwungenen ideellen Einheit, die sich im „starken“, autoritären oder totalitären Staat zu vollenden hätte. Zu den Feinden der „offenen Gesellschaft“, die Karl Popper aus historischer Nähe in Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus erleben konnte, ehe ihm die Flucht ins Exil gelang, zählen letztlich jene, die einen intellektuellen Gedankenaustausch erschweren, Meinungen unterdrücken und so die Herstellung eines Konsenses verhindern.16

15Ernst-Wolfgang

Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, 92–114, hier 112 f. 16Daher macht sich Karl Popper in The Open Society and Its Enemies [1945] zwar für die Meinungsfreiheit als einer Bedingung der Demokratie stark, betont aber auch die Notwendigkeit zur Wehrhaftigkeit, das heißt zur Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, sofern es zum Umsturz des Staates, seiner Organe und Repräsentanten missbraucht werde, ganze Völker verunglimpfe und zu Hass und Gewalt führe (die hier zugrunde liegende Ausgabe: The Open Society and Its Enemies. New One-Volume Edition, with a new introduction by Alan Ryan and an essay by E. H. Gombrich, Princeton und Oxford: Princeton University Press 2013, 581, hier FN 4). Wer heute über Werte spricht, sollte sich des von Böckenförde angeführten Dilemmas bewusst sein. Das ist schwerlich der Fall bei Günter Ogger, der Werte unter Generalverdacht stellt und sich gegen einen Diskurs der Political Correctness wendet, wie er besonders in den USA von konservativen, bisweilen anti-demokratischen Kräften kritisiert wird: Die Diktatur der Moral. Wie „das Gute“ unsere Gesellschaft blockiert, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2015. Ein weiteres Beispiel für eine angeblich von Gängelung und despotischen Moralvorstellungen geprägte Idee von Werten, wenn auch auf philosophisch anspruchsvollerem Niveau, bietet Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte, Stuttgart: Klett-Cotta 2010.

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Werte zeigen die Welt, wie sie sein soll, nicht wie sie ist, wie sie gewollt, aber nie verwirklicht wurde, wie sie angeblich einmal war, doch nie existierte. „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“17 lautet die Formel, mit der eine Geschichte der Werte beginnen könnte. Wie Märchen spiegeln Werte unsere Wünsche und Sehnsüchte wieder. Sie sind Versprechen, die sich nicht einlösen lassen, denn die Rückkehr zu einer Gemeinschaft, die für alle von ihren Verteidigern aufgerufenen Werte einsteht, hat es nie gegeben. Werte werden daher immer von einem nostalgischen „Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung“ begleitet,18 das zugleich ein „sehnsüchtiges Verlangen nach Gemeinschaftlichkeit mit kollektiver Vergangenheit“ hervorruft.19 Der in Werten aufscheinende Wunsch nach Kontinuität in einer Welt, die brüchig und unsicher geworden zu sein scheint, hat wiederum mit ihrer ökonomischen Verfassung zu tun. Denn die „Freiheit“, die der Liberalismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts versprach, gab es nur um den Preis von Unsicherheit und Risiko. Die Verantwortung für das individuelle Wohlergehen, das einst in die Domäne des Staates fiel, war nun dem Individuum überlassen. Einmal aus traditionellen Zwängen entlassen, die Herrschaftsverhältnisse und Zünfte, Klassenzugehörigkeit und Familienbande mit sich brachten, fiel die Wahl des Berufs, des Wohnorts, des Partners und die Initiative zur Zukunftsgestaltung auf das Individuum zurück. Die Sorge um ein geregeltes Einkommen, um Gesundheit und ein würdiges Dasein im Alter war jedem selbst anheimgestellt. Wer seine Haut zu Markte trug, musste sich im Wettbewerb mit anderen beweisen. Wissen, Fachkenntnisse und Erfahrungen verschafften Vorteile im Konkurrenzkampf. Mit den Freiheiten der neuen, dem Geist des Unternehmers nachempfundenen Gesellschaft, kam die Verantwortung für das eigene Glück. Die Furcht vor dem durch staatliche Gewalt erzeugten „Konformitätsdruck“ löste nun die „gleichermaßen quälende Angst ab, sich als unfähig zu erweisen“.20 In dieser Situation wendet sich der Blick zurück: „Statt in eine ungewisse und allzu offensichtlich nicht vertrauenswürdige Zukunft, investierte man alle Hoffnungen auf gesellschaftliche Verbesserungen nunmehr in ein halbvergessenes Gestern, an dem man vor allem dessen vermeintliche Stabilität und folglich Vertrauenswürdigkeit schätzenswert fand. Durch diese Kehrtwende wird die Zukunft, vormals natürliches Habitat der Hoffnung und berechtigter Erwartungen, zum Schreckensszenario drohender Alpträume.“21 Die Möglichkeit des Verlusts von Arbeitsplatz und Einkommen, Wohnung und sozialem Status sind ständige Begleiter in einer neuen, liberalen gesellschaftlichen Ordnung, die vermeintlich unbegrenzte Möglichkeiten bietet. In diesem Stand der materiellen Unsicherheit schaffen Werte geistige Abhilfe.

17Jakob

und Wilhelm Grimm: „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“, in: Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der 3. Auflage (1837), hg. von Heinz Rölleke, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 23–26, hier 23. 18Svetlana Boym: The Future of Nostalgia, New York: Basic Books, 2008, XIII. 19Ebd., XV. 20Zygmunt Bauman: Retrotopia, Berlin: Suhrkamp 2017, 14. 21Ebd., 14 f.

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Das Versprechen von Ökonomen, individuelles Glück und allgemeinem Wohlstand miteinander zu verbinden, Hunger und Armut hinter sich zu lassen und Güter gerecht zu verteilen, ist bislang nicht eingelöst worden. Philosophen haben dieses Versprechen ererbt und tragen es im Begriff der Werte fort. Eine ethisch begründete Wertphilosophie muss indes zwangsläufig scheitern, wenn sie sich nicht ihre historischen Wurzeln vergegenwärtigt.22 Der neoliberale, seit Jahrzehnten anhaltende Kurs der Weltwirtschaft unterstreicht wie zum Trotz die unter Konzernlenkern herrschende Ansicht, dass sich mit den Mitteln von Deregulierung und verstärktem Wettbewerb, Innovation und Technik, Optimierung und Steigerung alle Nöte beheben ließen – Mitteln also, die jene Probleme schufen, für deren Lösung sie nun sorgen sollen. Der Aufstieg des Liberalismus war immer schon von Widerstand und Gegenbewegungen, Kriegen und Revolutionen, Armut und Leid begleitet. Als sich kurz nach dem Ende des Kalten Krieges die Hoffnung vieler Länder – gerade auch in den osteuropäischen, in die „Freiheit“ überführten Staaten – zerschlagen hatte, dass die freie Marktwirtschaft für ein gleichmäßiges, allen Menschen zugutekommendes ökonomisches Wachstum bürgen würde, wuchs die Skepsis gegenüber einer von Globalisierung, Wettbewerb, Monopolisierung und Eigenverantwortung getragenen Wirtschaftsordnung. Nicht zuletzt deshalb steigt weltweit der Unmut über die sich verschärfende Ungleichheit, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die globale Erwärmung und geopolitische Kriege. Dass zu keiner Zeit weniger Armut auf der Welt geherrscht habe, wird nur freuen, wer den starken Anstieg der Weltbevölkerung und die Belastung der Umwelt vergisst, die es zunehmend schwieriger machen werden, Menschen angemessen zu ernähren und einen zufriedenstellenden Lebensstandard zu garantieren. Hatte der real existierende Sozialismus soziale Gerechtigkeit nicht schaffen können, so hat der Liberalismus mit seiner kapitalistischen Fortschrittsmaxime wenig Grund sozialer Ungleichheit ein Ende zu bereiten, zumal in seiner neoliberalen Zuspitzung. Die von ihm propagierten Ideale des persönlichen Glücks, der Freiheit und der Selbstverwirklichung auf einem überbevölkerten, von Naturkatastrophen bedrohten und von Kriegen heimgesuchten Planeten werden sich nur verwirklichen lassen, wenn ihn vorausschauende, auf Ausgleich und Verteilungsgerechtigkeit abzielende Gesetze bändigen.23 Wer nichts zu essen hat, dem werden marktwirtschaftliche Ideale ebenso wenig nützen wie der Hinweis auf moralische Werte. Ethische Lehren bewegen Menschen daher selten zur Umkehr, wenn sich Sein und Sollen in permanentem Widerspruch befinden. Werte sind

22So

gibt Sommer: Werte, 174, zwar wichtige Hinweise auf den fiktionalen Charakter von Werten, berücksichtigt ihren historischen und ökonomischen Hintergrund indes wenig und versucht, allein auf der Grundlage ihrer Ontologie wertphilosophische Standpunkte wiederzubeleben: „Philosophie soll dabei nicht als ‚Wertwissenschaft‘ im Stil von Rickert und Windelband auftreten und versuchen, die Werte möglichst genau zu definieren […], sondern Werte als imaginäre Projektionsflächen kritisch und zugleich wohlwollend ihrer Analyse unterziehen.“ 23Pankaj Mishras: Age of Anger. A History of the Present, New York: Farrar, Straus and Giroux 2017, 14–18 und 27 f.

Zurück in die Zukunft

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dann lediglich noch Trost für Versäumtes, Verpasstes und Verspätetes. Wir müssen sie uns, mit Zygmunt Bauman, als „Retrotopien“ vorstellen: „Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“.24 Als „Retrotopien“ beziehen sie „ihren Reiz aus der Hoffnung auf eine endgültige Versöhnung von Freiheit und Sicherheit: ein unmögliches Kunststück“,25 an dem sie scheitern müssen, wenn sie als Tatsachen vorgetragen werden, obwohl sie lediglich Sehnsüchte abbilden. Wie fern diese „Sehnsüchte“ von der Realität sind, wenn wir den raschen technologischen und wissenschaftlichen Forschritt berücksichtigen, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.

Zurück in die Zukunft War es nicht schon immer ein Menschheitstraum, Gedanken lesen zu können? Was nach Zukunft klingt, ist längst Realität. Fast ohne Unterlass und von beinahe jedem Ort der Welt aus, „lesen“ private Unternehmen unsere Gedanken und tragen Daten zusammen, die sich mithilfe von Predictive Analytics zu einem umfangreichen Persönlichkeitsprofil zusammenstellen lassen.26 Private Korrespondenzen, politische und religiöse Neigungen, sexuelle Vorlieben, Verwandtschaftsverhältnisse und Beziehungen zu Freunden, Konsumverhalten, Einkünfte, Aufenthaltsort und Bewegungsmuster ergeben ein Bild, das mehr über uns aussagt, als wir wahrhaben wollen.27 Was wir uns im persönlichen Umgang aus ethischen Gründen versagen würden, erlauben wir anderen, ohne dass wir zum gesammelten, ausgewerteten und weiterverkauften Wissen über unsere Person Zugang hätten. Ohne Zögern geben wir den Betreibern von Internetseiten und App-Entwicklern unser Einverständnis dafür, dass selbstlernende und sich ständig verbessernde Algorithmen verlässliche Voraussagen über unsere zukünftigen Handlungen treffen. Mit Deep Learning haben Technologiekonzerne und die mit ihnen verflochtenen Werbefirmen ein Werkzeug zur Hand, das bald dazu in der Lage sein wird, unseren Datenausstoß – selbst den ungewollten und unautorisierten – in einer Weise zu verwenden, die unsere Umgebung unserem Denken immer ähnlicher macht. Bevor wir es wissen, steht uns vor Augen, was wir wollen, denn Konzerne

24Bauman: 25Ebd.,

Retrotopia, 13.

17.

26Inwieweit

„Lesen“ als ein interpretativer, bedeutungsgebender Vorgang zu erachten ist, wird in der einschlägigen Forschung kontrovers diskutiert. Während Lesen dabei von der einen Seite allein Menschen vorbehalten ist, wird von anderer Seite erörtert, inwieweit Algorithmen je nach programmierter Zielsetzung Daten, ähnlich wie wie Menschen, „interpretieren“ und mit Bedeutung versehen. 27„Der Algorithmus ist der Psychoanalytiker des 21. Jahrhunderts, der Verhaltensmuster feststellt, die bisher im Verborgenen lagen“, Roberto Simanowski: Data Love, Berlin: Matthes & Seitz 2014, 25.

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k­ ennen unsere Wünsche, noch bevor sie in uns Gestalt annehmen. „Vorschläge“ zum Kauf von Gütern und „Ideen“ zur effizienteren Gestaltung unseres Alltags erscheinen dann auf unseren Bildschirmen.28 Galt uns gestern unsere Privatsphäre als Wert von großer Selbstverständlichkeit, wird es sie morgen wohl nicht mehr geben.29 Informationstechnologien bieten keinen Schutz der Privatsphäre, sondern entmündigen uns, sofern sie überwiegend Unternehmen und ihren auf Profite, Konsumsteigerung und Aufmerksamkeitserregung angelegten Geschäftsmodellen dienen. Leichtfertig geben wir ethische Bedenken für billige Gegengaben auf: vermeintlich kostenfreien E-Mail-Versand und die Nutzung von Internetplattformen, die es uns erlauben, Bilder mit anderen zu teilen. Die Auflösung ethischer Wertestandards macht den ungeheuren Wertgewinn börsenorientierter Unternehmen erst möglich, die mit der Kenntnis unserer Verhaltensweisen Handel treiben. Aus Selbstbestimmung wurde Fremdbestimmung, weil andere aus unseren Daten, dem höchsten Gut in der Informationsgesellschaft, Kapital schlagen. Internetpropaganda wird bald nicht mehr nur auf Monitore beschränkt sein. Die Technik zur Gedankenübertragen – Brain-to-Brain Interface (BBI) – gibt es bereits seit 2013. Sie erlaubt, feinste synaptische Spannungen, die sich in Gehirnströmen messen lassen, durch Transcranial Magnetic Stimulation anderen Menschen zu übermitteln. Waren beim ursprünglichen Experiment zwei Ratten durch einen „Encoder“ und einen „Decoder“ über große Entfernung miteinander verbunden, sodass eines der Versuchstiere eine dem anderen antrainierte Aufgabe ausführte,30 bewegte im Folgeprojekt 2015 ein Mensch seinen Arm – eine Bewegung, die sich der andere Proband erdacht hatte, ohne dass Sichtkontakt zwischen beiden bestand. Die Verbindung der Versuchsteilnehmer durch Elektroden ermöglichte die Übertragung von Gehirnwellen. Inzwischen steht die Technik vor einer neuen

28Selbst

wenn Daten nicht ohne ausdrückliche individuelle Erlaubnis an Dritte weitergegeben werden können, wie es die seit 25. Mai 2018 angewandte Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) vorschreibt, bleibt Unternehmen ein großer Spielraum zur Nutzung des Datenbestands, auf den sie Zugriff haben. 29Einen Überblick über die Geschichte der Privatsphäre in den Vereinigten Staaten gibt Sarah Igo. Erst 1890, so Igo, habe der von Louis Brandeis und Samuel Warren verfasste Aufsatz „The Right to Privacy“, in: Harvard Law Review 4 (1890), 193–220, dazu beigetragen, ein juristisches Verständnis von „Privatsphäre“ zu erzeugen, und zwar durch den massiven Einbruch der „trinity of press, photography, and publicity“ in eine Welt, die wir für geschützt hielten, The Known Citizen. A History of Privacy in Modern America, Cambridge, Massachusetts, und London: Harvard University Press 2018, 34. Im digitalen Zeitalter habe sich die Situation grundlegend gewandelt: „Today’s analog is the algorithm: the set of rules, often generated by machine learning, whereby individuals are systematically ranked and rated by a host of commercial, financial, and government agencies. Citizen’s fates are being shaped by proprietary formulas that they could not decipher even if they had access to them“ (ebd., 357). Auf deutscher Seite wäre Beate Rössler zu nennen, die davon ausgeht, dass Privatheit zunehmend auf dem Rückzug ist, Der Wert des Privaten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 30Miguel Pais-Vieira u. a.: „A Brain-to-Brain Interface for Real-Time Sharing of Sensorimotor Information“, in: Nature, Scientific Reports 3, Nr. 1319 (2013), http://www.nature.com/articles/ srep01319 (3. Dezember 2018).

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Stufe ihrer Entwicklung und es lässt sich leicht absehen, dass bald die gedankliche Welt anderer für uns offenstehen wird – ob mit oder ohne Einwilligung der Betroffenen. Bald schon, glauben Wissenschaftler, werden wir einen revolutionären Wandel der Art und Weise erleben, wie wir miteinander kommunizieren. Ganz wörtlich werden wir die Welt durch die Augen anderer sehen und erleben können.31 Begonnen hatte alles in den 1970er Jahren, als die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) auf dem Gipfel des Kalten Krieges Forschungen im Bereich der Brain-to-Computer-Interfaces (BCI) anstieß. Wie das Internet, das von der Vorgänger-Agentur ARPA in den 1960er Jahren entwickelt wurde, um eine dezentralisierte Kommunikation im Fall eines Atomkriegs zu ermöglichen, diente BCI militärischen Zwecken. Es wurde geschaffen, um schnellere Verbindungen von Gedanken mit Waffensystemen herzustellen, eine Technik, die heute in Kampfflugzeugen und in der Raumfahrt bereits angewandt wird. Zweifellos erfüllen Brain-to-Computer-Interfaces auch nützliche zivile Zwecke. Sie helfen beispielsweise, Menschen mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder mit Locked-in-Syndrom sprachliche Äußerungen auf einen Bildschirm zu projizieren oder Gliedmaßen eines weitgehend gelähmten Körpers durch die bloße Kraft der Gedanken zu bewegen.32 Selbst bei Virtual-Reality-Programmen, die uns durch Sichtgeräte von der Außenwelt abschirmen und unserem Gehirn eine eigene Wirklichkeit vorspielen, können wir von einem Brain-to-Computer-Interface sprechen, denn unsere Verhaltensweise bestimmt die nächsten Schritte im Programm. In Zukunft, so heben die Befürworter dieser Technik hervor, lassen sie sich nicht nur in Computerspielen, Flugsimulatoren oder bei Museumsbesuchen nutzen, wie heute schon üblich. Augmented, Artificial, und Virtual Reality könnten etwa die Ausbildung von Ärztinnen und Polizisten auf ungeahnte Weise erleichtern, indem sie auf Situationen vorbereiten, die sonst nur in der Wirklichkeit erfahren würden. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion wäre dann indes nicht mehr zu unterscheiden, das Leben gliche einem Wachtraum, der von Künstlicher Intelligenz permanent kontrolliert, gesteuert, „verbessert“ und unseren Bedürfnissen angepasst wird. Wir würden nichts anderes mehr wollen, als das, was wir sehen, doch läge uns

31Dies

meint jedenfalls Kristyn Bates, Neurowissenschaftlerin an der University of Western Australia, vgl. „Brain-to-Brain Interfaces: The Science of Telepathy“, in: The Conversation, 8. März 2015, http://www.theconversation.com/brain-to-brain-interfaces-the-science-of-telepathy-37926 (3. Dezember 2018). 32Auch für Menschen, die nicht an einer Krankheit leiden, wird der Nutzen des Gedankenlesens erprobt. Die Kommunikation zwischen Gehirn und Computer könnte sich etwa durch das am Massachusetts Institute of Technology entwickelte AlterEgo Headset deutlich vereinfachen. Das Gerät erkennt Worte, die wir nur denken, aber nicht sagen, mit einer Genauigkeit von 92 %. „Gelesen“ werden dabei neuromuskuläre Spannungsunterschiede auf der Kopfhaut, die, durch Künstliche Intelligenz unterstützt, Informationen über Sprechabsichten innerhalb eines virtuellen neuronalen Netzwerks simulieren und auf diese Weise verlässliche Vorhersagen ermöglichen, vgl. Liam Tung: „MIT’s AlterEgo Headset Reads Your Face to See Words You’re Really Only Saying in Your Mind“, in: ZDNet, 6. April 2018, http://www.zdnet.com/article/mits-alteregoheadset-reads-your-face-to-see-words-youre-only-saying-in-your-mind/ (3. Dezember 2018).

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der Gedanke fern, dass wir manipuliert werden. Mit Science-Fiction hat das nichts zu tun. 2014 war Oculus VR, eine Technologiefirma, die 2012 mit „Rift“ ein erschwingliches, tragbares Gerät zur Projektion von Virtual und Artificial Reality anbot, Facebook immerhin 2,3 Mrd. US$ wert. Mark Zuckerbergs Antwort auf die Frage, wie er sich die Zukunft vorstelle, lässt aufhorchen. Wir würden uns, meint der Facebook-Gründer, durch permanent tragbare Geräte in einer Augmented Reality zu Hause fühlen und auf diese Weise unsere Erfahrungen und Kommunikation verbessern. Eines Tages seien wir dazu in der Lage, komplette Gedanken durch den Einsatz von Technologie direkt zu übermitteln: „You’ll just be able to think of something and your friends will immediately be able to experience it too if you’d like. This would be the ultimate communication technology.“33 Haben lernfähige Programme erst einmal Zugriff auf unsere Gefühle und Gedanken, werden unsere Absichten und Wünsche, Träume und Hoffnungen, unser Ärger und unsere Worte – lange vor dem Sprechen – automatisch analysiert und verwertet worden sein. Zweifellos verfügen diejenigen, die unsere Gedanken kennen, über enorme Macht, ob es sich um Menschen, Unternehmen, den Staat oder eine Künstliche Intelligenz handelt. Eine solche Intelligenz könnte sich unsere Wertesysteme aneignen und unter den Kriterien der Effizienz, der Optimierung und der Gewinnmaximierung – den ehernen Gesetzen des Liberalismus – weiterentwickeln. Wir wären dann nicht etwa „frei“, wie es der Liberalismus verspricht, sondern bewegten uns in einer dystopischen Welt. Wir mögen uns darüber hinwegtrösten, dass Gedanken über die in uns implantierten Encoder und Decoder – ähnlich wie bei den Experimenten mit Ratten aus dem Jahr 2013 – unmittelbar übertragen und Kommunikation von Gehirn zu Gehirn möglich sein wird. Wir dürften sogar begrüßen, dass nicht nur Gedanken, sondern gespeichertes Wissen, Kenntnisse und Fähigkeiten in Sekundenschnelle zur Verfügung stünden. Wir könnten unmittelbar mit den leblosen Objekten in unserer Umgebung eine Verbindung herstellen, denn im Internet der Dinge ist alles miteinander vernetzt, selbst wir, die biomorphen Objekte der Informationsgesellschaft. Wir würden von uns selbst fasziniert sein und über uns hinauswachsen, uns jedoch – aus heutiger Perspektive – nicht mehr wiederkennen. Hätten wir uns eine solche Welt erschaffen und gäben anderen Einsicht in ein Inneres, das unser Äußeres geworden ist, so wird sich unser Verständnis von Recht und Unrecht, von Identität und Persönlichkeit,

33William Davies: „Mark Zuckerberg and the End of Language“, in: The Atlantic, 11. September 2015, http://www.theatlantic.com/technology/archive/2015/09/silicon-valley-telepathy-wearables/ 404641/ (3. Dezember 2018). Ähnlich äußerte sich einmal Eric Schmidt, der frühere Vorstandsvorsitzende von Google, und unterstrich den Datenhunger seiner Firma: „We know where you are. We know where you’ve been. We can know more or less what you’re thinking about“, zit. nach Yasha Levine: „Google’s For-Profit Surveillance Problem“, in: Pando, 16. September 2013, http://www.pando.com/2013/12/16/googles-for-profit-surveillance-problem/ (3. Dezember 2018). Zur hohen Zahl an Daten, die Google trotz Regulierungsvorgaben von seinen Nutzern abschöpft, hat Douglas C. Schmidt einen ausführlichen Bericht vorgelegt: „Google Data Collection“, in: Digital Content Next, August 2018, http://www.digitalcontentnext.org/blog/2018/08/21/googledata-collection-research/ (3. Dezember 2018).

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von Gut und Böse, von Klasse und sozialem Status, schließlich von Leben und Tod notwendig geändert haben. Denn es wird die Maschine sein, die uns Alternativen aufzeigt, unsere Werthaltungen dominiert und unsere einst für stabil erachteten Anschauungen hinwegschwemmt. Wir werden uns über das, was wir heute für Werte halten, in einigen Jahren nur wundern können. Die Pointe, wonach Algorithmen auch nur Menschen seien, lässt den Umkehrschluss umso beunruhigender erscheinen. Dass Menschen auch nur Algorithmen sind, ist die Prämisse selbstlernender Maschinen, die sich menschliches Verhalten aneignen, bevor Mittel zu ihrer Kontrolle und Gesetze zu ihrer Regulierung bestehen. Machine Learning oder Deep Learning, die technologischen Verfahren nach dem Vorbild neuronaler Vernetzung, sind nicht nur bei der unterschiedslosen Anhäufung von Daten im Einsatz. Data Mining ist die Grundlage zur Optimierung jedes Programms. Das gilt für Sprachprogramme ebenso wie für Navigationssysteme. Längst schreiben derartige Systeme Konzernberichte oder Zeitungsartikel, produzieren Romane, komponieren Symphonien, stellen Bilder und Video-Clips her und simulieren eine von der Welt getrennte, rechenbasierte Umgebung, um aus dem eigenen Lernen zu lernen.34 Sie sind dazu in der Lage, menschliche Handlungsmuster mithilfe von Millionen von Daten, Bildern, SocialMedia-Profilen und professionellen Webseiten im Internet zu studieren, Gefühle von Gesichtern abzulesen und eigenständig zu imitieren. Wie viel Wissen sich Maschinen bereits angeeignet haben, können Computerfachleute nicht sagen. Denn Programme, die sich ohne Zutun des Menschen verbessern und erweitern, entziehen sich naturgemäß dem Zugriff ihrer Erzeuger. Algorithmen sind keineswegs neutral. In sie gehen Vorurteile und Abwehrhaltungen, Widerstände und Abneigungen, Vorlieben und Glaubensmaßstäbe ein. Fangen Programme damit an, sich selbstständig weiterzuentwickeln, ändern sich daher auch die Werte, denen sie sich verdanken. Sie lösen sich vom Menschen,

34Österreichischen

Wissenschaftlern ist es gelungen, ein lernfähiges Computerprogramm zu entwickeln, das es Quanten-Computern erlaubt, selbstständige Experimente in einem simulierten quantenmechanischen Umfeld zu kreieren. Die Ergebnisse sind nicht mehr ohne Weiteres vom Menschen nachzuvollziehen, vgl. Alexsey A. Melnikov u. a.: „Active Learning Machine Learns to Create New Quantum Experiments“, in: Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America (PNAS), Early Edition, 18. Januar 2018, http://www.pnas.org/content/early/2018/01/17/1714936115 (3. Dezember 2018). Anders als herkömmliche Computer, die einen Zustand entweder in den Zahlen 0 und 1 (oder Bits) ausdrücken, stehen Quantencomputer mehrere, Quantenbits oder kurz Qubits genannte Zustände gleichzeitig zur Verfügung, bei zwei Zahlen also in vier möglichen Kombinationen, bei fünfzig Zahlen in 250 Kombinationen. Diese „Superposition“ genannte Ausgangslage erlaubt es einem Quantencomputer, viele Rechenvorgänge gleichzeitig und um ein Vielfaches schneller durchzuführen, als es herkömmliche Computer vermögen. Diese physikalischen Zustände stehen allein im Augenblick ihrer Messung zur Verfügung, wobei die dem Quantencomputer zugrunde liegende Physik auf der Verschränkung der Quantenbits beruht. Das heißt Informationen lassen sich über große Distanzen hinweg vermitteln, ohne dass sie verändert werden können, denn jeder Eingriff durch einen Dritten würde eine Veränderung des Zustands bedeuten. Übertragungen von Informationen zwischen Quantencomputern wären somit ein jeweils einmaliger, nicht zu kopierender Vorgang.

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werden zur „Seele“ der Maschine. Führten die dem Liberalismus zugrunde liegenden Werte der Optimierung und Effizienzsteigerung zur Schaffung von selbstlernenden Maschinen, so verstärken sich jene Werte in ihnen um ein Vielfaches durch ihre Technisierung und weltweite Verbreitung. Erfindungsgabe und Lernfähigkeit haben einen ökonomischen Ursprung. Denn Erlerntes erhöht zwar die Komplexität von Entscheidungsfindung und Urteil, aber es vereinfacht zugleich die Anwendung erworbener Fähigkeiten, Handlungsabläufe und Denkprozesse. Lernen schafft Raum für neue Bereiche, die sich erkunden, neue Kenntnisse, die sich erwerben, neue Fähigkeiten, die sich aneignen lassen – und Neues wird der Übergang vom Menschen zur Maschine gewiss hervorbringen. Messbarkeit, die seit der Antike sowohl unser Verständnis des guten, „maßvollen“ Lebens wie der in Zahlen zu bemessenden Umwelt in sich einschloss, fiel seit der Neuzeit und mehr noch seit der Epoche der Aufklärung allein auf die Seite des Wissens. Die Domäne des Wissens ist aber heute die der Maschine. Als Instrument der Macht übernehmen lernfähige Programme, was einst den Herrschaftsanspruch des Westens begründete: „Es hat das Schicksal der Neuzeit gezeichnet, daß nur das Messen, das ein Maß an eine Sache heranträgt und so Wissen vermittelt, als wirkliches Wissen gilt, so daß die neuzeitliche Wissenschaft Herrschaftswissen und – wie Heidegger es genannt hat – kalkulatorisches Denken geworden ist. Nur das heißt Wissen – und nicht der Sinn für Maß und Harmonie, wie es zum Beispiel im Wohlbefinden und im Schönfinden erfahren wird und […] jeder vernünftigen Anwendung zugrundeliegt.“35 Wenn unter der Kontrolle lernfähiger Maschinen ethische Werte dem Diktat ökonomischer Prinzipien folgen, werden Maschinen nicht davor zurückschrecken, Schranken aufzuheben, die ihnen vom Menschen vorgegeben sind. Wo sich Maschinen verselbstständigen, werden keine menschlichen Werte bestehen können. Denn aus Sicht der leistungsfähigeren Maschine müssen solche Werte als Hindernis und als Mangel, als Defizit an Effizienz, Lernfähigkeit und Erfindungsgabe erscheinen. Um die kommenden Veränderungen von Wertvorstellungen zu verstehen und Algorithmen unsere Vorurteile und Neigungen auszutreiben, müssen wir zunächst begreifen, was „Werte“ überhaupt sind. Denn nur wenn wir wissen, wovon wir sprechen, können wir auch den Wandel von Werten nachvollziehen. Selbstlernende Algorithmen nehmen weitaus komplexere Formen Künstlicher Intelligenz vorweg, die durch Vernetzung von Daten und Dingen einmal mehr sein werden als nur auf bestimmte Aufgaben spezialisierte Werkzeuge. Wie der Mensch durch seine biologischen Voraussetzungen werden lernfähige Maschinen dazu in der Lage sein, sich durch ihre technischen Möglichkeiten zu reproduzieren. Der Evolutionsgeschichte des Menschen ähnlich werden sie sich deutlich schneller durch Auswahl und Lernerfolge verbessern als ihre biologischen Erfinder. Die

35Hans-Georg Gadamer: „Europa und die Oikoumene (1993)“, in: Gesammelte Werke, 10 Bde., Tübingen: Mohr 1985–1995, Bd. 10, Hermeneutik im Rückblick, Tübingen: Mohr 1995, 267–284, hier 280.

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Frage nach der Essenz des Menschlichen – der Conditio humana – wird sich aus Sicht der Künstlichen Intelligenz neu stellen. Keineswegs ist dabei mit einem Showdown zwischen Mensch und Maschine zu rechnen wie ihn Hollywood-Filme beschwören. Maschine und Mensch werden sich stattdessen aller Wahrscheinlichkeit nach miteinander verbinden. Die Vermählung von technisch Erschaffenem und biologisch Gezeugtem hat bereits begonnen. Ohne Zugang zum Internet, glauben nicht wenige, wäre unser Leben ärmer. Wir überlassen uns dem Gerät und setzen Daten an die Stelle unserer Person. In der bereits miteinander verschränkten – „verlinkten“ – Welt sind wir präsent ohne physische Präsenz, Abbild ohne sichtbares Urbild, täuschend echter Doppelgänger. Selbstaufgabe – eine der Tugenden, die nach christlicher Vorstellung den Weg ins Himmelreich ebnen sollte – gehört zu unserem Alltag, wenn auch auf eine Weise, die den Ethiken der Antike, des Mittelalters und der Moderne fremd gewesen wäre. Die Theorie der Selbstaufgabe im technologischen Zeitalter liefern Vordenker der Transhumanität. Mit Marvin Minsky, dem Gründer des Artificial Intelligence Lab am Massachusetts Institute of Technology,36 und dem Robotik-Ingenieur und Futurologen Hans Moravec37 sind seit den 1980er Jahren elaborierte Konzepte des Transhumanen gegeben. Den Übergang vom humanen ins transhumane Zeitalter erfahren nicht nur Chirurgen und Wissenschaftler, Computer-Ingenieure und Auto-Entwickler aus nächster Nähe, sondern all jene, die von neuen Behandlungsmethoden und der Erneuerung beschädigter Körperteile und der Verbesserung der Lebensqualität durch eine intensive Verbindung von Mensch und Maschine profitieren. Selbst Künstler treten aktiv für die Erweiterung unserer Wahrnehmungsfähigkeit durch elektronische Implantate ein, wie etwa der Gründer der Cyborg Foundation, Neil Harbisson, der mithilfe einer direkt an sein Gehirn angeschlossenen Antenne Farben „hören“ und Töne „sehen“ kann.38 Künstliche Intelligenz wird nicht zögern, Menschen zu „optimieren“, um ihren Nutzen und ihre Funktionalität zu erhöhen. In „Selbstüberschreitung“ und „Steigerung“ sah Georg Simmel die Bestimmung des Lebens schlechthin, lange bevor die technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zur Verfügung standen.39 Die Vorteile der Automatisierung, die sich schwerlich bestreiten lassen, liefern die ethischen Argumente, die einmal zur Abschaffung menschlicher Wertvor-

36Marvin

Minsky: Computation. Finite and Infinite Machines, Engelwood Cliffs: Prentice Hall 1967, sowie The Society of Mind, New York: Simon & Schuster 1986. 37Hans Moravec: Mind Children. The Future of Robot and Human Intelligence, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1988. 38Informationen und illustrative Videobeispiele finden sich bei Roger Soldevila u. a.: Cyborg Project. A Transmedia Documentary about the Experience of not Perceiving Colors and the World of Cyborgs, http://www.cyborgproject.com (3. Dezember 2018). 39In seiner teils autobiographischen, teils philosophischen Abhandlung Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel meint Simmel, „Leben“ sei nur seiner Steigerungsform nach zu begreifen, es sei „Mehr-Leben und es ist Mehr-als-Leben“, in: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, 23 Bde., Frankfurt a. M 1989–2015, Bd. 16, hg. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1999, 209–425, hier 229.

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stellungen führen wird. Werte werden ihrem ökonomischen Ursprung vor allem dann gerecht, wenn Menschen keine Entscheidungsbefugnis mehr über die in Maschinen wirkenden Algorithmen haben. Allzu sehr sind wir damit beschäftigt, den Wettlauf um die Schaffung Künstlicher Intelligenz zu gewinnen, als dass wir uns Zeit nehmen würden, um deren Möglichkeiten infrage zu stellen und ethische Verhaltensregeln zu definieren, die das Mögliche mit dem Sinnvollen verbinden.40 Stattdessen dienen wir Künstlicher Intelligenz zur Handreichung. In ihr wollen wir uns wiedererkennen, doch nur, um uns selbst zu überwinden und uns von der Evolution zu befreien. Wie Gott zu sein, bedeutet dann in der Tat, sich vollkommen aufgegeben zu haben. War die Geschichte der Mensch-Maschine mit der Kybernetik in eine neue Phase getreten, deren ethische Implikationen Norbert Wiener frühzeitig erkannt hatte,41 so wird bereits über ihr Ende spekuliert. Um das Jahr 2045 sei, nach Ray Kurzweil, mit der Übernahme menschlicher Entscheidungsprozesse durch Maschinen zu rechnen,42 dann nämlich, wenn Genetik, Robotik und Nanotechnologie den Menschen dazu in die Lage versetzt haben werden, seine „Konstruktionsfehler“

40Bislang

ist jede ethische Anleitung und jedes Gesetz – etwa der vom Committee of Human Gene Editing: Human Genome Editing. Science, Ethics and Governance, Washington, D.C.: The National Academies Press 2017, 159, vorgebrachte Vorschlag: „Regulatory agencies should not at this time authorize clinical trials of somatic or germline genome editing for purposes other than treatment or prevention of disease or disability“, durch das wissenschaftlich und technisch Machbare überholt worden. Das belegt das Team um den Mediziner He Jiankui, das genetisch modifizierte Kinder erzeugt hat, die nicht von der Immunschwächekrankheit Aids infiziert werden können: „The birth of the first genetically tailored humans would be a stunning medical achievement, for both He and China. But it will prove controversial, too. Where some see a new form of medicine that eliminates genetic disease, others see a slippery slope to enhancements, designer babies, and a new form of eugenics“, kommentiert Antonio Regalado: „Chinese Scientists Are Creating CRISPR Babies“, in: MIT Technology Review, 25. November 2018, http:// www.technologyreview.com/s/612458/exclusive-chinese-scientists-are-creating-crispr-babies/ (3. Dezember 2018). Der Begriff „Designer-Baby“ wurde erstmals im Zusammenhang mit Adam Nash gebraucht, der im Jahr 2000 durch In-vitro-Fertilisation gezeugt wurde, um seiner sechsjährigen Schwester Molly das Leben zu retten, die an einer seltenen genetisch bedingten Blutkrankheit litt. Noch im Reagenzglas wurde Adam daraufhin getestet, ob er sich als Stammzellenspender eignet. Auch wenn es bis heute aufgrund des komplexen Zusammenspiels von Mutation und Variation, medizinischen Eingriffen und äußeren Faktoren umstritten ist, ob sich Intelligenz oder Schönheit durch Eingriffe ins Erbgut steuern, vielleicht auch bestimmte Krankheiten z. B. psychischer Natur ausschließen lassen, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die technischen Barrieren überwunden sind und wir Menschen als „künstlich“ oder „genetisch modifiziert“ bezeichnen werden. 41Vgl. Norbert Wiener: „Some Moral and Technical Consequences of Automation“, in: Science. New Series, Bd. 131, Nr. 3410 (1960), 1355–1358. Auf die Parallelen von Gott und Maschine wies Wiener kurze Zeit später hin: God and Golem, Inc. A Comment on Certain Points where Cybernetics Impinges on Religion, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 1964. Der Vergleich fällt zugunsten des Golem aus, dem vom Menschen hervorgebrachten, indes ihm fremden Geschöpf. 42Ray Kurzweil: The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology, London: Penguin 2006, 136.

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zu beheben, seine inneren Organe durch mechanische Komponenten auszutauschen und sein Bewusstsein in künstliche Gehirne zu übertragen. Von dem, was wir heute Mensch nennen, bliebe dann nichts mehr übrig. Wir wären Maschinen, doch göttliche Maschinen, die das Ziel immerwährender Steigerung verinnerlicht hätten. Ewiges Leben zu erlangen, daraus macht Kurzweil kein Geheimnis, ist der Grund all jener Anstrengungen, in die inzwischen große Summen von Risikokapital fließen. Firmen wie Googles Calico („California Life Company“), Craig Venters Human Longevity Inc. und Nir Barzilais CohBar widmen sich der Verlängerung des Lebens und sehen den Tod als medizinisches Problem, dessen Lösung bevorsteht.43 Einen Anspruch auf Unsterblichkeit erheben vor allem finanzkräftige Wirtschaftslenker wie Peter Thiel, Jeff Bezos und Larry Page, die sich ihren Platz im Olymp des Liberalismus durch Wertschöpfung zum Wohle der Menschheit glauben verdient zu haben. Gründer von Technologie-Imperien denken in neoliberalen Wertdimensionen, die wenig mit philosophischen Ethikrichtlinien zu tun haben. Ein Gutteil ihrer Investitionen fließt bereits in die Überwindung biologischer Schranken. Wer Kurzweils Fantasien – übrigens fast ausschließlich Männern vorbehaltene Wunschvorstellungen – vor nicht langer Zeit für bedrohlich gehalten und als Spinnerei abgetan haben mochte, wird sich heute seiner Optimierungsstrategien erinnern. Nur wenige Jahre nach der Publikation von The Singularity is Near (2006) erlaubte Genetik bereits die zielgenaue Abwandlung des Erbguts, ermöglichte Robotik die Ersetzung von Körperteilen, die sich an unser Nervensystem anbinden lassen, und versprach Nanotechnologie Anwendungen in der Medizin, der Material- und Militärtechnik, die zuvor kaum vorauszusehen waren. Gemeinsam mit der Informationstechnologie bilden Genetik, Robotik und Nanotechnologie die Grundlage im Kampf gegen den Tod, um ökonomischen Werten ewigen Zins einzubringen. Der neuen, transhumanen Lebensform gaben die Ingenieure und Kybernetiker Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline den Namen „Cyborg“ (von Cybernetic Organism). Obwohl den optimierten biomechanischen Systemen konkrete Aufgaben zugedacht waren, ahnten die Autoren, dass die Verschmelzung von Mensch und Maschine weitreichende Folgen für das menschliche Selbstverständnis haben würde. Denn die Raumfahrt, in deren Interesse sie forschten, verlangte nicht nur nach einer technischen, sondern nach einer physiologischen und letztlich spirituellen Veränderung des Menschen, da wir zukünftig eine „aktive Rolle in unserer biologischen Evolution“ spielen würden.44 Im Cyborg verbindet sich die spirituelle Hoffnung auf Verwandlung mit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit – Idealen, die der Französischen Revolution ein Motto gegeben haben und von Marx als Ziel der kommunistischen Weltrevolution erachtet worden

43Im

Fokus steht dabei unter anderem der Verfall von Mitochondrien, die eine Schlüsselrolle beim Schutz und der Weitergabe unseres Genoms haben. 44Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline: „Cyborgs and Space“, in: Astronautics, September 1960, 26 f. und 74 f., hier 26: „Space travel challenges mankind not only technologically but also spiritually, in that it invites man to take an active part in his own biological evolution“.

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sind.45 In Wahrheit liegt die Bedeutung des Cyborgs in der technischen Vollendung des Kapitalismus, nicht in dessen Überwindung. Durch „kreative Zerstörung“46 wird die Mensch-Maschine die von ihren Schöpfern verinnerlichten ökonomischen Tugenden der Optimierung, Funktionalität, Effizienz und Profitabilität zu steigern wissen. Werte, die den transhumanen Lebensformen Macht verliehen, werden jenen zum Fluch, die für sie einstanden. Denn der Cyborg wird den Menschen nach seinem Nutzen für die weltumspannende vernetzte Maschine – das Internet der Dinge – bemessen, wiegen und für zu leicht befinden.47 Wenigen wird es aufgrund ihres Reichtums vergönnt sein, sich selbst in die neue Lebensform einzuspeisen. Den Preis wird der überwiegende „Rest“ der Gesellschaft zahlen, der für die Maschine ohne Bedeutung sein dürfte.48 Ungleichheit wird es nur deshalb nicht mehr geben, weil die Benachteiligten, Abgehängten und für die Mensch-Maschine Wertlosen nicht mehr ins System passen. Schon heute zeichnet sich ab, dass die neuen Wissens- und Einkommenseliten der Zukunft durch die selbstgeschaffenen technischen Möglichkeiten ihren Abstand zu den weniger Gebildeten und ärmeren Schichten der Bevölkerung, vor allem aber zu Menschen in wirtschaftlich weniger erfolgreichen Ländern, vergrößern werden. Zertrümmert sind dann alle sozialen Ordnungen, mit ihnen aber auch alle Wertvorstellungen. Dem Irrglauben, Menschen könnten Maschinen Menschlichkeit beibringen, wird Künstliche Intelligenz nicht verfallen. Was der neoliberale Cyborg einmal sein wird, lässt sich heute nur vermuten. Gewiss aber wird sich der Mensch, der ihn schuf, einer Intelligenz gegenübersehen, die sein Fassungsvermögen überschreitet. Ethische Werte, wie wir sie heute vertreten, wird es nicht mehr geben können, weil dann keine Menschen in der uns bekannten Form existieren werden

45Donna

J. Haraway hat die Grenzüberschreitungen des Cyborgs dagegen zum feministischen Programm erhoben. Eher Cyborg als Frau zu sein, bedeute den Abschied von Rollenklischees und verkrusteten sozioökonomischen Strukturen, vgl. „A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Twentieth Century“, in: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London: Free Association Press 1991, 149–181. 46Joseph Schumpeter: Capitalism, Socialism and Democracy, with a new introduction by Tom Bottomore, New York u. a.: Harper Colophon Books 1975 [1942], 137. 47Den babylonischen Kronprinzen und königlichen Statthalter Belsazar ereilt nach dem alttestamentlichen Buch Daniel das Schicksal dessen, der sich an seine Schätze klammert und die falschen Götter anbetet. Nach dem rätselhaften Wortspiel, das eine körperlose Hand des nachts an eine Wand schreibt, neigen sich die Tage des Königs dem Ende zu. „Mene mene tekel u-parsin“ (Dan 5,25) übersetzt sich aus der akkadischen Sprache nach Deutung des an den Hof gerufenen Propheten als „gezählt“, „gewogen“, „geteilt“: gezählt seien die Tage des Königs, der „auf der Waage gewogen und zu leicht befunden“ wurde, geteilt werde schließlich sein Reich (Dan 5,27), vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1985, Das Neue Testament, 848 (Zitate aus der Bibel sind im Folgenden im Text mit der üblichen Kapitel- und Textstelle angegeben). 48Nick Bostrom hat die Szenarien durchgespielt, nach denen sich Künstliche Intelligenz wahrscheinlich entwickeln würde. In allen Fällen ist der Mensch für die Maschine nur von begrenztem wert, Superintelligence. Paths, Dangers, Strategies, Oxford: Oxford University Press 2014.

Einmaleins der Wertneurologie

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und niemand ihren Handlungsmaximen Folge leisten könnte. Die humane Tradition bleibt der „Ethik“ der Maschine zwangsläufig fremd, auch wenn sie ihr einst als Wissensmatrix gedient haben mochte. Denn „Werte“ spielen im transhumanen Zeitalter nur eine Rolle, wenn sie messbar und daher mathematische Größen sind, die sich maschinell verarbeiten lassen und den Anforderungen der Maschinen-Ökonomie genügen. Im Cyborg steigert sich das kapitalistische Denken ins Unendliche: Wachstum als Ewigkeit, Innovation als Schöpfung, ­ Profitabilität als Erlösung. Das in Werten gegebene Versprechen der Befriedigung ureigener Wünsche und Sehnsüchte, von Glück und Wohlstand, Friede und Harmonie würde nur dann seine Erfüllung gefunden haben, wenn mit den Wünschen auch die ­Wünschenden der Vergangenheit angehören. Was aber sind Werte und wie ­entstehen sie?

Einmaleins der Wertneurologie Werte verweisen nicht auf Absolutes, vorab Bestehendes, sondern sie werden erlernt. Unsere biologischen Voraussetzungen steuern erste Wertentscheidungen: Lärm erscheint als bedrohlich, harmonischer Klang als beruhigend, Nahrung als begehrenswert, Hunger als leidvoll. Was sich gut anfühlt, ist wünschenswert, was als störend, unangenehm oder schmerzhaft wahrgenommen wird, vermeiden wir. Wir beginnen zu unterscheiden.49 Erst die Fähigkeit zur Unterscheidung lädt zum Vergleich ein. Aus solchen Vergleichen gehen Hierarchien hervor. Werte sind Repräsentationen solcher Hierarchien. Schon als Säuglinge scheiden wir Gutes von Schlechtem, Schönes von Hässlichem, Harmonisches von Störendem.50 Wir lernen, das Verhalten, die Tonlage, die Gesten und den Gesichtsausdruck unserer Eltern zu deuten, und wissen, wann wir auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen. Bereits in diesem frühen Stadium werden wir konditioniert und diszipliniert, ­setzen Verhaltensweisen und Stimmungen in Bezug zueinander und hierarchisieren sie.

49Schon

William James hat auf die Bedeutung von Unterscheidungen bei der Ausbildung von Wahrnehmungsweisen hingewiesen. Erste Erfahrungen seien schockartig und wir müssten lernen, zwischen den vielen auf uns einströmenden Eindrücken zu unterscheiden. In einem knappen Aufsatz fasst William N. Dember James’ Hypothese folgendermaßen zusammen: „The infant’s task, as it matures, is to separate out from this fortuitous aggregation of elementary sensation discrete experiences that, at the very least, accurately map the different modalities (vision, hearing, touch, smell, etc.) and their attributes. The infant, in short, must refine its perceptual discriminations“, „William James on Sensation and Perception“, in: Psychological Science 1.3 (Mai 1990), 163–166, hier 163. 50Mögen diese grundlegenden Voraussetzungen für die meisten Menschen gleich sein, so spielt die soziale Umgebung für spätere Wertentscheidungen eine bedeutende Rolle: „Social conditions generate the content and meaning of value structures and permeate all thought and action; values are not learned by a neutral organism, but the very conditions of living at a particular time and place – in a specific historical, social, and biological milieu – determine what can and will be known and valued“, George Mandler: „Approaches to a Psychology of Value“, in: The Origin of Values, hg. von Michael Hechter u. a., New York: Aldine de Gruyter 1993, 229–258, hier 229.

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Reaktionen auf Erfahrenes und Sanktioniertes sind der jeweiligen Situation angepasst. Anpassung ist ein Überlebenskriterium, das für alle Lebewesen gilt. Begegnen Eltern frühkindlichen Ängsten mit Zuwendung, Interesse und Liebe, geben sie uns Sicherheit. Reagieren sie mit Unmut, Gleichgültigkeit und Ärger, werden sie Apathie und Angst auslösen. Unser späteres Leben ist geprägt von den ersten Erfahrungen, mit denen wir uns unserer Umwelt anzugleichen suchen. Entsprechend richten sich unsere Werturteile nach den anfänglichen Begegnungen mit Menschen aus unserer unmittelbaren Umgebung. Das Erlernen von Gesichtsausdrücken und Gesten ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat von komplexen kognitiven Prozessen. Diese Prozesse resultieren in der Fähigkeit zur Wiederholung – der Grundlage für gesellschaftliche Konventionen. Sie zählen zum Regelwerk jedes Sozialwesens, das von Geburt an erlernt wird. Niemand ist frei in der Wahl von Konventionen und daher auch nicht in der Wahl jener Kriterien, auf denen Werturteile beruhen. Selbst die Rebellion gegen Konventionen, etwa im Teenager-Alter, erfüllen einen Zweck, nämlich das Austesten alternativer Lebensformen und damit anderer Werturteile. Rebellionen in jungen Jahren sind der Nährboden für den allmählichen Wandel von Werten. Werte haben – wie auch die Auflehnung gegen sie – evolutionsbiologische Ursachen. Das menschliche Gehirn ist auf Musterkennung ausgerichtet. Jede Abweichung von Mustern, z. B. auffälligen, schnellen oder ungewöhnlichen Bewegungen in der Umgebung, signalisieren Gefahr. An das mit dem Rückenmark verbundene Stammhirn schließt sich das limbische System an. Das Stammhirn ist der älteste, auch Reptilienhirn genannte Teil des Gehirns, das unser vegetatives oder autonomes Nervensystem (ANS) beherbergt und unmittelbare, instinktive Reaktionen auslöst: Fight – Flight – Freeze. Das limbische System stellt die Verbindung zwischen dem Stammhirn und dem evolutionsgeschichtlich jüngeren Großhirn (Cerebrum) her. Es ist für die Verarbeitung von Sinneseindrücken und unsere Wach-/Schlafzyklen (im Zwischenhirn oder Diencephalon), Bewegungsabläufe und unbewusstes Lernen verantwortlich, beispielsweise den frühen Spracherwerb und das Erlernen von Sozialverhalten etwa im Kleinhirn oder Cerebellum. Die vorderen Stirn- oder Frontallappen bilden das Großhirn und sind mit kognitiven Prozessen befasst. Die Fähigkeit zum logischen Denken, zur Argumentation und Überprüfung von Fakten, zur Entwicklung und zum Verständnis von Konzepten wie Zeit, Zukunft, Planung oder Geschichte, zur Schaffung von Wissen und zur Ausbildung von Fertigkeiten oder anderer Formen von Kreativität. In ihren Versuchen haben Daniel Kahneman und Amos Tversky dargelegt, dass die vorderen Hirnareale deutlich mehr Zeit zur Verarbeitung von Informationen benötigen, als die älteren, auf Instinkten und unbewusstem Lernen angelegten Bereiche, ja, dass beide Bereiche häufig zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, zudem zu verschiedenen Zeitpunkten. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von „Reaction“ und „Response“. Reaktionen sind das Ergebnis unmittelbarer Erregung des limbischen Systems. Bewusste Antworten dagegen sind durchdachte Schlussfolgerungen, die verlangen, unmittelbare Reaktionen zurückzustellen, um zu einer angemessenen Erwiderung zu finden. Wie schwer das fällt, lässt sich zeigen, wenn wir uns beleidigt fühlen. Selten fallen Antworten

Einmaleins der Wertneurologie

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dann angemessen aus, häufig sind überschnelle Reaktionen die Folge. Kahneman und Tversky sprechen vom „langsamen“ und „schnellen Denken“, das ausnahmslos alle unsere Entscheidungen anbelangt, miteinander verknüpft und häufig in Widerspruch zueinander setzt.51 Das Konzept der zwei Geschwindigkeiten trägt zum Verständnis von Werten bei, da sich das unbewusste, von früher Kindheit an geprägte Erlernen von Werten – unsere Disziplinierung – vorwiegend dem limbischen System zuordnen lässt. So ist zu erklären, weshalb Werte im Unbewussten verbleiben und oft starke Reaktionen hervorrufen, wenn wir sie in Gefahr sehen, auch ohne uns über unsere Werte im Klaren zu sein. Selbst der Wertewandel lässt sich mit dem Konzept der zwei Geschwindigkeiten erläutern, denn neue Werte bedürfen der Erörterung und Überzeugung. Trotz besseren Wissens müssen wir uns dazu anhalten, eine veränderte Welt und ein verändertes Sozialverhalten zu akzeptieren. Die Auflehnung gegen tradierte Werte, wie wir sie von Jugendlichen kennen, ist der evolutionsbiologisch konsequente Versuch, die gegebenen Verhältnisse durch Ausprobieren anderer Lebensformen zu verändern und zu verbessern. Solche Versuche mögen scheitern, dennoch haben sie einen tieferen Sinn, und zwar nicht nur für unsere eigene Persönlichkeitsentwicklung und die unserer Kinder, sondern für die Gattung Mensch. Durch das Ausprobieren anderer Lebensformen tragen wir der Evolution Rechnung. Wir erlauben der Gattung, eine bessere, das heißt den Umweltbedingungen angepasste Form des Zusammenlebens zu finden. Selektion betrifft nicht nur die genetischen Bausteine, wie wir heute wissen, sondern setzt bei unseren Verhaltensweisen an. Zwei Bereiche des limbischen Systems spielen eine besondere Rolle, da sie mehrere Gehirnareale miteinander verbinden. Die in beide Gehirnhälften hineinreichende Amygdala, die einem Mandelkern gleicht wie ihr griechischer Name besagt, wird heute oft mit Emotionen in Verbindung gebracht, z. B. dem Gefühl der Angst und den mit ihr unmittelbar zusammenhängenden Überlebensfunktionen. Recht gut erforscht ist zudem der Hippocampus („hippo“ aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem Seepferdchen). Dort laufen die Stränge von Wahrnehmung, Empfindung und kognitiver Verarbeitung zusammen. Der Hippocampus kann Eindrücke verarbeiten, die zunächst dem reaktivem Bereich unseres Gehirns zugeführt werden, aber auch Fakten deuten und unmittelbare Erfahrungen in bleibende Erinnerungen umwandeln. Wie auch der Rest des Gehirns hat der Hippocampus die Fähigkeit, bis ins hohe Alter hinein neue neuronale Verbindungen herzustellen.

51Genauer

ist von „zwei Systemen“ die Rede: „System 1 operates automatically and quickly, with little or no effort and no sense of voluntary control. System 2 allocates attention to the effortful mental activities that demand it, including complex computations. The operations of System 2 are often associated with the subjective experience of agency, choice, and concentration“, Daniel Kahneman: Thinking Fast and Slow, New York: Farrar, Straus and Giroux 2011, 20 f. Kahnemans und Tverskys Forschungen zielen auf den Nachweis der Vorurteile ab, die unser bewusstes Denken (System 2) leiten. Wir sind demnach nicht in der Lage, allein durch kognitive Anstrengungen in alltäglichen Situationen vorurteilsfreie Schlüsse zu ziehen. Gerade auf unsere ökonomischen Entscheidungen hat das intuitive System 1 einen entscheidenden Einfluss.

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1 Einleitung

Die Bedeutung von Amygdala und Hippocampus für die Wertediskussion ist leicht einzusehen: Bedrohung führt zu emotionalen Reaktionen – zur Verteidigung von Werten –, während die Verarbeitung von Erfahrungen und Fakten zur Änderung von Werteinstellungen im limbischen System führen können. Dabei spielen die Frontallappen eine entscheidende Rolle, denn hier entwickeln wir ein Verständnis von uns selbst und einen Sinn für moralische Urteile. Wie wir uns im Laufe des Lebens verändern, so können auch unsere moralischen Urteile stark von früheren Einstellungen abweichen. Empirische Forschungen haben zur Genüge gezeigt, dass sich mit persönlichen Veränderungen auch unsere Werte ändern. Werte sind jedoch umso stabiler, je weniger die kognitive Seite des Gehirns – sein vorderer, ausgeprägter und größter Teil – Werte infrage stellt und auf ihre Geltung hin überprüft. Über das limbische System sind Werte also mit Gefühlen verknüpft. Während Wertentscheidungen auf intuitiven, emotionalen, vorwiegend unbewussten Vorgängen beruhen, erscheint die plötzliche Einsicht in konkrete Werte („Mir ist Familie wichtig“, „America First“) oft als Eingebung, die im Nachhinein notdürftig gerechtfertigt wird.52 Erklärungen für konkrete Werte haben wir nicht und machen uns darüber auch keine Gedanken. An ihre Stelle treten stattdessen Rationalisierungen unbewusster Vorgänge: „Es gefällt mir eben“ – „Das macht man so“ – „Weil es das Beste ist“ – „Weil es unser Land verdient“. Derartige Scheinbegründungen erklären nichts, obwohl sie weithin akzeptiert werden. Auch wenn die Ursachen für Wertenscheidungen Individuen verborgen bleiben, geben Werte dennoch häufig Anstoß zur Diskussion. Wer für bestimmte Werte einsteht, benötigt keine tiefere Kenntnis ihrer Entstehung oder der Konventionen, auf denen sie beruhen. Obwohl wir wissen, was ein Bleistift ist, haben die wenigsten Kenntnisse von seiner Herstellung. Allein ihn zu benutzen, ist von Bedeutung. Der Widerspruch von konservativen Werthaltungen und dem Wunsch nach Neuem, das die eigenen Werthaltungen einer Überprüfung aussetzt und Veränderungen bewirkt, wird auf emotionaler Ebene ausgetragen, denn die Einsicht in einen Wert bedeutet nicht, dass wir auch für ihn einstehen wollen. Emotionale Reaktionen gehen aus dem Gegensatz von Erwartung und Ereignis hervor. So hat Mandler gezeigt, dass die Erregung des autonomen Nervensystems (ANS) auf eine Abweichung von zu erwartendem Geschehen und tatsächlich eintretendem Ereignis zurückzuführen ist. Dieser Gegensatz setzt Emotionen frei und verlangt nach kognitiver Evaluation, nach Bewertung also, die den Zusammenhang von tief in uns liegenden Instinkten und Gefühlen unterstreicht. Das zu erwartende Geschehen bilden Individuen laut Mandler in einem „Schema“ ab, das, anders als die Imago, nicht nur ein unbewusstes Idealbild einer anderen Person wiedergibt,

52„Generally

speaking, we exercise simple values unconsciously. We know what we like. Choices and preferences come unbidden and usually without deliberation. We know what people we like, what foods and works of art we prefer, and we know that automatically, without reflection. And we ‚exercise‘ many of our social values of competition and cooperation, humanism and racism, altruism and self-aggrandizement, patriotism and chauvinism in a similar fashion“, Mandler: „Approaches to a Psychology of Value“, 233.

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sondern sich ebenso auf Handlungen, Situationen und Objekte erstreckt. Unser autonomes Nervensystem reagiert, wenn es zu Unterbrechungen, Abweichungen, Blockaden, Frustrationen, Neuerungen und anderen, von Mustern abweichenden Änderungen kommt.53 Erst dann beginnen wir, die jeweils neue Situation zu beurteilen. In der Verknüpfung des evaluativen Prozesses und der Erregung des autonomen Nervensystems ist daher die Ursache für die Entstehung von Gefühlen zu sehen. Gefühle sind aber nicht nur die Grundlage von Werturteilen, sondern Werte sind umgekehrt der Grund für bestimmte Gefühlslagen: Wir fühlen, was uns unsere Werte vorgeben. Ändern sich unsere Wertvorstellungen, können sich auch die Gefühle ändern, die mit einstigen, nun fraglichen Werten in Verbindungen stehen. Was es einmal zu verteidigen galt, was vielleicht Trauer, Furcht oder Angst auslöste, mag nun als überwunden, bewältigt oder unwichtig erscheinen, was einmal Freude auslöste, kann später einmal Ablehnung hervorrufen. Unser Verhältnis zur Realität spielt beim Umgang mit Werten eine außergewöhnliche Rolle. Was im allgemeinen Sprachgebrauch „Wirklichkeit“ genannt wird, ist nicht etwas außerhalb des Menschen Liegendes, sondern eine Projektion unseres Gehirns. Die voluminösen Frontallappen verwandeln Sinneseindrücke in Repräsentationen, die nicht einfach die Außenwelt „zeigen“, sondern diese Abbildungen mit zusätzlichen Informationen, z. B. mit Erinnerungen und Gefühlen ausstatten. Diese Kartografie der Welt (Mind Map), die nicht die Wirklichkeit, sondern nur die durch Sinneseindrücke erzeugten Vorstellungen darstellen, entstehen im Verbund sogenannter Grid Cells. Dieser Typ von neuronalen „Gittern“, deren Funktion erstmals 2005 von Edvard und May-Britt Moser vollständig und zuvor schon in Umrissen von John O’Keefe beschrieben wurde, stellt ein inneres Navigationssystem dar, das ständig unsere Position und Richtung berechnet.54 Grid Cells sind jedoch nicht nur zur räumlichen Orientierung vonnöten, denn sie bringen Orte mit Ereignissen in Verbindung und sind für die Entstehung unseres Erinnerungsvermögens von entscheidender Bedeutung. Neuere Theorien gehen davon aus, dass Grid Cells für die evolutionsbiologische Entwicklung kognitiver Fähigkeiten ausschlaggebend waren. Der antiken Rhetorik war die Verbindung von Orten, Ereignissen und menschlicher Rede, einer Repräsentation des Denkens, seit Langem bekannt. In der Mnemotechnik (von altgr. „μνήμη“, „mnémē“ =  „Gedächtnis“ und „τέχνη“, „téchnē“ = „Technik“ oder „Kunst“) entwickelte die Rhetorik ein wirkungsvolles Mittel, um den Ablauf einer öffentlichen Rede an Erinnerungsbilder, meist Orte, zu knüpfen. Die Urszene der

53„Interruptions,

discrepancies, blocks, frustrations, novelties etc. are occasions for ANS activity. Whether or not an emotional construction accompanies such arousal depends on the evaluative activity of the individual“, ebd., 238. 54Vgl. Edvard und May-Britt Moser u. a.: „Microstructure of a Spatial Map in the Entorhinal Cortex“, in: Nature, 436.7052 (2005), 801–806. Schon 34 Jahre zuvor hatte John O’Keefe von „Place Cells“ berichtet, welche die Forschung schließlich auf eine neue Fährte führte: „The Hippocampus as a Spatial Map. Preliminary Evidence from Unit Activity in the Freely-Moving Rat“, in: Brain Research 34.1 (1971), 171–175.

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1 Einleitung

Mnemotechnik geht auf Simonides von Keos zurück, der, nach Ciceros Erzählung, an einem Festmahl zu Ehren des thessalischen Aristokraten Skopas teilnahm. Als dieser ihm nach dem Vortrag nur die Hälfte der vereinbarten Summe zahlen wollte, erhielt Simonides Nachricht, dass zwei junge Männer auf ihn warten würden. Draußen angelangt, fand er niemanden vor, wurde jedoch Zeuge, wie das Dach des Palastes einstürzte und alle Teilnehmer des Festmahls unter sich begrub. Die Leichen waren so entstellt, dass Simonides sie nur aufgrund ihrer Sitzordnung zu identifizieren wusste, die sich seinem Gedächtnis während des Vortrags eingeprägt hatte: „Daher müssten diejenigen, welche diesen Teil ihres Intellekts trainieren, Plätze wählen und das, was sie im Gedächtnis festhalten wollten, sich bildlich vorstellen und an diese Plätze versetzen. So werde die Anordnung der Plätze die Anordnung der Dinge bewahren, die Vorstellung von den Dingen aber werde die Dinge selbst bezeichnen und wir würden die Plätze statt Wachstafeln, die Abbilder statt der Buchstaben benützen.“55 Die Neurowissenschaften bestätigen nun die Grundlagen der Mnemotechnik als Prinzip unserer gesamten Hirntätigkeit. Bei jedem Sinneseindruck feuern in bestimmten Regionen des Hirns Neuronen in Clustern, die anzeigen, welche Areale zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv sind – viele davon in den Stirnlappen, die uns überhaupt erst eine Realitätsvorstellung ermöglichen. Hier kommen die Grid Cells in Spiel, die uns einen Erinnerungsraum zu gestalten helfen. Was wir sehen, ist also nicht irgendeine Wirklichkeit, sondern ein Bild, das wir in unserem Gehirn produzieren. In dieser von Illusionen der Wirklichkeit beherrschten Innenwelt, übernehmen Werte im genaueren Sinne die Funktion, zwischen Bildern zu unterscheiden, die wir uns selbst geschaffen, kategorisiert, katalogisiert und hierarchisiert haben. Werte sind also nicht an Inhalte gebunden sind, sondern schlichtweg ein Modus unseres ­Denkens. Gespeist werden die Bilder, die wir in uns von der Außenwelt machen, durch Energie: Licht, Wärme, Elektrizität, chemische Prozesse, die im Gehirn als elektromagnetische Impulse messbar sind. Alle Wahrnehmungen sind Formen von Energie und lassen sich dadurch im Gehirn überhaupt erst verarbeiten. Die Bilder, die wir im Innern unseres Gehirns „sehen“, entsprechen energetischen Zuständen. Als Energie sind sie zugleich Information, denn Information bezeichnet, einer ihrer vielen Definitionen gemäß, die Menge an Atomen, die in einem vorgegebenen Modell von A nach B gelangt – etwa den synaptischen Verknüpfungen, über die ein elektromagnetischer Impuls von einem Neuron im Gehirn zu einem anderen überspringt. Weit mehr als nur ein Abdruck von etwas, wird Energie als Information zwischen Gehirnzellen weitergeleitet, die sie mit bereits gespeicherten Informationen abgleichen und ergänzen. Werte können wir folglich in dreifacher Weise bestimmen. Sie sind einerseits – wie alle Prozesse in unserem Gehirn – energetisch aufgeladene Zustände, die sich physikalisch messen lassen, also eine mathematische Größe oder einen Messwert darstellen. Des ­Weiteren

55Marcus Tullius Cicero: „De Oratore. Über den Redner“, in: Ausgewählte Werke, Bd. IV, hg. und übersetzt von Theodor Nüßlein, München: Artemis & Winkler 2008, 232 [2. Buch, Abschn. 354].

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geben sie einen qualitativen Inhalt wieder, wonach sich ein Eindruck, den wir empfangen, zu einem inneren Bild zusammensetzt und als gut oder schlecht, angenehm oder abstoßend „bewertet“ wird. Schließlich lassen sich Werte, im Sinne von Claude E. Shannons und Warren Weavers Theory of Communication (1949), dahingehend bestimmen, dass sie Überraschendes und Unerwartetes beisteuern, das sich von dem zu erwartenden Ausgang eines Übertragungsprozesses von A nach B unterscheidet. Bestätigt der Informationsfluss lediglich Muster, die lange zuvor in uns angelegt waren, wird ihr Informationsgehalt für gering erachtet. Daher treten Werte nicht ins Bewusstsein. Sie gewinnen erst dann als Werte an Bedeutung, wenn sie infrage stellen, was bereits bekannt ist. Erst wenn sich Werte einer Konfrontation ausgesetzt sehen – und sei es einer wissenschaftlichen Analyse –, sind sie kognitiven Prozessen zugänglich. Anders gesagt: Sind wir uns unserer Werte sicher, spielen sie keine Rolle; sehen wir sie in Gefahr, werden sie uns wichtig. Der evolutionsbiologische Sinn liegt in der Effizienzsteigerung des Gehirns. Bekannte Muster können wir vernachlässigen, um mehr Raum für Planung und Kreativität zu gewinnen. Shannon und Weaver sprechen von „Information“, wenn ein Signal vom Vorhersagbaren und zu Erwartenden abweicht.56 Mustererkennung ist in der Informationstheorie ein wichtiger Faktor, der uns auch in der Evolutionsbiologie begegnet. So folgt Sprache gewissen grammatikalischen Regeln: syntaktischen Strukturen, Vokabeln mit bestimmten Modi-Verknüpfungen, semantischen Feldern und pragmatischen Kontexten. Maschinelle Spracherkennung, antwortende Bots und automatisierter Journalismus, wie sie heute Standard sind, wären ohne die Grundlagen der Informationstheorie nicht möglich. Erst das Neue, Abweichende, ist nach Shannon Information. Gerade weil es nicht in vorgegebene Muster passt, wird es vom Gehirn anders verarbeitet: Es bleibt im Gedächtnis. Im Laufe des Lebens, so ein häufig anzutreffender Irrtum, begegnet uns immer weniger „Neues“, da wir Unterscheidungen schon früh erlernt und getroffen haben. In Wahrheit isolieren wir uns gegen unbekannte Einflüsse, weil wir meinen, unsere Integrität wahren zu müssen. Indem wir an Mustern festhalten, halten wir auch an Werten fest, die als vertraut, bekannt und gültig erscheinen. Aus der Sicht der Informationstheorie sind Werte lediglich Vereinfachungen, die unsere Entscheidungsprozesse im Alltag beschleunigen, indem sie Kapazitäten für andere Prozesse freisetzen, also den Fluss an Informationen komprimieren. Man darf sich Werte getrost als Karteikästen vorstellen, in die sich Erfahrenes ablegen lässt, es sei denn, keine der bereits vorhandenen Kästen bietet sich als passend an. Sich auf Werte zu konzentrieren, die wir, wenn auch unbewusst, bereits kennen und denen wir intuitiv zustimmen, ist – um noch einmal Kahneman und Tversky zu bemühen – ein „schneller“ Prozess; Werte infrage zu stellen, ist dagegen ein

56Informationen

sind demnach als das Unwahrscheinliche in sprachlichen Handlungen zu erachten, das jene Anteile repräsentiert, die wir, unter Berücksichtigung von Claude Shannon und Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication, Urbana: University of Illinois Press 1949, nicht bereits kennen und deshalb vorwegnehmen können.

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1 Einleitung

k­ ognitiver, „langsamer“ Prozess, der Energie benötigt, um Informationen in Form elektromagnetischer Impulse zu verarbeiten.57 Genau hier trifft das Modell der zwei Systeme – die Annahme der Gehirntätigkeit als zweier, parallel verlaufender Operationsmodi – auf die Informationstheorie Shannons. Werte sind demzufolge Informationen, die durch ihre sprachliche Realisierung an Bedeutung gewinnen. Obwohl immer vorhanden, bleiben sie im Verborgenen, solange sie in die Muster unserer Vorstellungswelt passen. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Vorstellungen, die nicht mit den eigenen, schon vorhandenen übereinstimmen, bringt Werte überhaupt erst ins Bewusstsein. Wenn wir von Werten als Informationen sprechen, geht es also nicht um konkrete Werte, die sich Menschen einander mitteilen, sondern um Erfahrungen in Bezug auf vorgefertigte Muster.

Von Werten sprechen Wer glaubt, in Wörterbüchern und Nachschlagewerken Aufschluss über die Ursprünge und Anwendungsweisen des Wertbegriffs, sozusagen den „Sinn“ von Werten, zu finden, wird sich getäuscht sehen. Denn es liegt in der Natur von Werten, über sie nicht ohne Wertvorgaben sprechen zu können. Werte lassen sich nur unter Schwierigkeiten nach lexikalischen Kriterien beschreiben: „Im Falle von Werten mag man zweifeln, ob überhaupt ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium vorliegt oder ob wir hier, wenn überhaupt, ein Medium im Prozeß des Entstehens beobachten können; denn eine entsprechende Semantik gibt es erst seit etwa zweihundert Jahren. […] Werte sind also nichts anderes als eine hochmobile Gesichtspunktmenge. Sie gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten.“58 Unter „Wert“ listet der Duden fünf unterschiedliche und zugleich eng miteinander verknüpfte Bedeutungsbereiche auf. Ein ökonomischer Ursprung und Verwendungszusammenhang steht an erster Stelle. „Wert“ bezeichne zunächst die „einer Sache innewohnende Qualität,

57Der

zahlenmäßige Zugewinn an Menschen, der nötig ist, um Werte durchzusetzen, entsteht durch ein Netzwerk – andere Gehirne, die sich durch sprachliche Kommunikation verknüpfen und das etablieren, was als Konvention erfahren wird. Im Netzwerk multipliziert sich die Verarbeitung („Computation“) von Information. Durch Verarbeitung steigt ihr Energiegehalt. Vgl. hierzu César Hidalgo: Why Information Grows. The Evolution of Order, from Atoms to Economies, New York: Basic Books 2015, 44: „Our society’s ability to accumulate information requires flows of energy, the physical storage of information in solid objects, and of course our collective ability to compute.“ 58Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., 2. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1999, Bd. 1, 341 f. Seine Skepsis gegenüber einem Wertbegriff, der sich semantisch nicht klar bestimmen lasse, hat Luhmann zuvor bereits in mehreren Aufsätzen dargelegt, z. B. in „Complexity, Structural Contingencies and Value Conflicts“, in: Detraditionalization. Critical Reflections on Authority and Identity, hg. von Paul Heelas u. a., Cambridge, Massachusetts: Blackwell Publishers 1996, 59–71.

Von Werten sprechen

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aufgrund deren sie in einem gewissen Maße begehrenswert ist [und sich verkaufen, vermarkten lässt]“, dann, im Sinne des Marxismus, die „in einer Ware vergegenständlichte, als Tauschwert erscheinende gesellschaftliche Arbeit, deren Maß die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist.“ Von der Verwendung als ökonomischer Maßeinheit leitet sich eine weitere Bedeutung ab: „Dinge, Gegenstände von großem Wert, die zum persönlichen oder allgemeinen Besitz gehören“. Gemeint sind kulturelle Güter von großem historischen Wert, die der Identifikation einer Kulturgemeinschaft dienen. Von den Dingen verschieben sich Werte hier bereits auf Konzepte, die mit diesen Dingen in Verbindung stehen. Gerade kulturellen Gütern wird dabei zugleich immer auch ein materieller Wert zur Seite gestellt. So zählt etwa der Kunstmarkt, der dem Bereich der Kultur zugerechnet wird, zu den spekulativsten unter den Handelsmärkten, denn für kulturelle oder historische Objekte sind Sammler bereit, viel Geld auszugeben, ohne zu wissen, ob sich ihre Investitionen in der Zukunft finanziell lohnen werden. Einer dritten Bedeutungskomponente zufolge vollzieht der Begriff den Schritt vom Objekt, dem ein materieller Wert beigemessen wird, zur Idee, da zum künstlerischen Wert nun „ideelle, ewige“ Werte hinzutreten. Der Abgleich mit dem Gegenteil bestätigt die Auffassung vom Wert als einer Idee, die positiv besetzt ist, während Minderwertigkeit einen Mangel, eine Krankheit, ein moralisches Vergehen oder – bezogen auf Gegenstände – etwas Unpraktisches oder Unnützes bezeichnet. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten meint „Wert“ hingegen schlichtweg ein „in Zahlen oder Zeichen ausgedrücktes Ergebnis einer Messung, Untersuchung oder Ähnliches“. In seiner speziellen Anwendung findet der Begriff als „zu einem Satz gehörende Briefmarke mit einem bestimmten aufgedruckten Wert“ Verwendung, ähnlich dem an der Börse gehandelten „Wertpapier“, das ebenfalls dem allgemeinen Begriff des „Wertes“ eine konkrete Bedeutung verleiht.59 Die Herkunft des Begriffs unterstreicht seinen ökonomischen Ursprung. „Wert“ ist seit dem 8. Jahrhundert im Althochdeutschen, Altsächsischen und Altfriesischen belegt und leitet sich vom Germanischen „werþa“ = „Wert, Preis, Kostbarkeit“ ab.60 Es handelt sich dabei um eine Substantivierung des Adjektivs „wert“, das sowohl in ökonomischer als auch in ideeller Verwendung in Betracht kam, indem es auf das Prädikat „würdig“ anspielte. Was des Kaufs für „würdig“ erachtet wurde, übertrug sich gelegentlich auch auf Handlungen, Konzepte und Menschen. Im Vordergrund stand die Wertschätzung in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, die immer einen „Gegenwert“ voraussetzt.61 Die „Sonderbedeutung ‚gegen‘“ bezieht das Adjektiv wiederum aus seinem indogermanischen Ursprung,

59O.A.: Art. „Wert“, in: Duden. Die deutsche Sprache. Wörterbuch in drei Bänden, Berlin u. a.: Dudenverlag 2014, Bd. 3, 2287. 60Friedrich Kluge: Art. „Wert“, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 25., durchgesehene und erweiterte Aufl., Berlin und Boston: De Gruyter 2011, 983. 61Friedrich Kluge: Art. „wert“, in: ebd., 983.

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1 Einleitung

der auf das Verb „werden“ zurückgeht, indes zugleich „wenden“ meint. Noch im Lateinischen „vertere“ = „wenden“, „drehen“ hat sich dieser Bedeutungsbezug erhalten: „Wert“ und „Gegenwert“ sind hier als relative und eng miteinander verbundene Bezugsgrößen kenntlich.62 Wenn Kant annahm, dass es sich bei der menschlichen „Würde“ um einen absoluten Wert handle, dann schließt sein Wertbegriff notwendig den ökonomischen Aspekt mit ein.63 Des Kaufs für „würdig“ befunden wurden nicht nur Dinge, sondern etwa auch der Sklave oder der Leibeigene, die Kant von den allgemeinen ethischen Regeln ausnahm, indem er ihnen „Würde“ absprach. Die Tatsache, dass westliche Ethiken seit der Antike – Platon und Aristoteles lebten bekanntlich in Staaten, die den Sklavenhandel für geltendes Recht erachteten – Rassismus durch derartige Ausschlussverfahren eigen war, ist stets zu bedenken, wenn wir den philosophischen Begriff der „Werte“ definieren wollen. Der universelle Gültigkeitsanspruch ethischer Regeln ist von einer geschichtlichen Situation belastet, die im Handel mit Menschen kein Unrecht sah. Daher wird sich auch in Zukunft nur schwer von universalen Werten sprechen lassen, selbst wenn es an guten Absichten nicht fehlt. Westliche Ethiken entstanden in mancher Hinsicht in einem geschichtsvergessenen Vakuum und schlossen vor der Realität der Unterdrückung und Sklaverei die Augen.64 Dem Wertbegriff im Deutschen ist, „wie seinen Äquivalenten ‚valor‘, ‚valeur‘, ‚value‘, […] die Abkunft aus dem ökonomischen Bereich an die ‚Stirn geschrieben‘.“65 Das Historische Wörterbuch der Philosophie beschränkt sich daher in seiner Darstellung des Begriffs auf die relativ kurze Phase der Wertphilosophie, die mit Rudolf Hermann Lotze einsetzte, in der Folge vor allem die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus um Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert beeinflusste und im amerikanischen Pragmatismus bei John Dewey, George Herbert Mead, Hillary Putnam und Richard Rorty eine Theorie der flexiblen gesellschaftlichen Verständigung über Werte fand. Wertphilosophie ging in Sprachphilosophie über und so überrascht es nicht, dass sich auch die analytische Philosophie seit Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein von der Wertphilosophie im weiteren Sinn entfernte und sich eng begrenzten Problemen der sprachlogischen Voraussetzungen von Wertzuschreibungen zuwandte.66 Mit Robert S. Hartman und Archie Bahm gewannen die sprachanalytischen und auf

62Friedrich

Kluge: Art. „werden“, in: ebd., 982. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], in: Werkausgabe, Bd. VII, 68. 64Den Widerspruch zwischen universellem Anspruch aufklärerischer Ideale und rassistischem, menschenverachtendem Menschenhandel hat Achille Mbembe: Critique of Black Reason, Durham: Duke University Press 2017, gezeigt. Nur durch den Ausschluss von Menschen mit dunkler Hautfarbe aus der Gemeinschaft der Menschen – ihrer Stigmatisierung als „nicht-menschlich“ – konnten Aufklärungsphilosophen ihren auf weiße Europäer ausgerichteten „Universalismus“ verteidigen.“ 65Anton Hügli: Art. „Wert. I. Einleitung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., 13 Bde., Schwabe: Basel und Stuttgart 1971–2007, Bd. 12, Basel: Schwabe 2004, 556–558, hier 556. 66Vgl. die zum Eintrag „Wert“ gehörigen Teile II (Sven Schlotter, 558–564), III (Anton Hügli, 564–568), III B (Peter Schaber, 568–571), IV (Alois Rust, 571–576), V (Neil Roughley, 576–580) und VI (Anton Hügli, 580–583), in: ebd., Art. „Wert“, 556–583. 63Kant:

Von Werten sprechen

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­ ethodologische Probleme konzentrierten Versuche der Axiologie an Popularität, m auch wenn sie wenig Erfolg damit hatten, kulturelle Erscheinungen zu erklären.67 Nichtsdestoweniger lebte seit den 1970er Jahren die Diskussion um den ethischen Kern von Werten wieder auf. Werte, so nahm man an, würden, von politischen Einflüssen unabhängig, als Modell ethischer Orientierung dienen können. Beriefen sich Theoretiker einer universalistischen Lehre allgemein gültiger Werte vor allem in den USA auf John Rawls Theory of Justice (1971), demzufolge Freiheit und Gleichheit als maßgebliche Leitvorstellungen rational handelnder Individuen zu verstehen seien, so hoben Rawls Kritiker – allen voran Charles Taylor, Alasdair MacIntyre, Amitai Etzioni und Michael J. Sandel – den prägenden Einfluss von Gemeinschaften für das ethische Selbstverständnis hervor. Nicht der an sich gegebene Universalismus von Werten sei entscheidend, sondern die sozialisierenden, gemeinschaftsbildenden Aspekte, unter denen sich Werte herauskristallisierten. Während „Universalisten“ im Sinne Rawls die Rolle des Individuums betonten, das sich, von sozialen Kontexten unbeeinflusst, moralische Ordnungen schaffe, stellten „Kommunitaristen“ Werte als von Gruppen – Familie, Kirchen, Schulen und Vereinen – vermittelt dar.68 Kritik an der Theorie des politischen Liberalismus, der Werte zu Universalien erhebt, setzte an den Dogmen des freien Marktes an. Kommunitaristen zufolge zerstöre eine freie, allein von ökonomischen Prinzipien gesteuerte Marktwirtschaft ihre eigenen gesellschaftlichen Grundlagen, indem sie Individualismus, Profitstreben und ökonomische Effizienz auf Kosten von Allgemeinwohl und demokratischer Mitbestimmung unterstreiche.69 Hier wird der ideelle gegen den ökonomischen Wert ausgespielt, die ökonomische Bedeutung als destruktiv charakterisiert, die ideelle dagegen als dauerhaft und von Vorteil für die Gesellschaft. Einer verbreiteten und an John Dewey angelehnten Formel Clyde Kluckhohns zufolge, sei unter „Wert“ ein für Individuen oder Gruppen charakteristisches Konzept des ­gesellschaftlich Wünschenswerten zu verstehen. Kluckhohn mochte seine Studie als Beitrag zu einer Handlungstheorie verstanden wissen und sieht in Werten die Bedingung

67Schon Robert S. Hartman hatte in seinem der Sprachlogik verpflichteten Werk The Structure of Value, Carbondale: Southern Illinois University Press 1967, vor allem einen konkreten Wert, nämlich den des Guten, vor Augen. Archie J. Bahm kehrt in Axiology: The Science of Values/Ethics: The Science of Oughtness, Albuquerque: World Books 1980, zu dem umfassenden Anspruch zurück, den die Wertphilosophie einst hatte, nämlich Grundlagen- und Leitwissenschaft für alle anderen Wissenschaften zu sein. Eine der wohl umfassendsten Studien zur analytisch ausgerichteten Wertphilosophie hat Hermann T. Krobath vorgelegt: Werte. Ein Streifzug durch Philosophie und Wissenschaft, mit einem Vorwort von Hans Albert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 68Vgl. Daniel Bell: Art. „Communitarism“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/entries/communitarianism/ (3. Dezember 2018). 69Hans Joas beabsichtigt in seiner Studie Die Entstehung der Werte (2. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 2001), universalistische und kommunitaristische Standpunkte miteinander zu verbinden (vgl. 291). Joas Werk ist philosophiegeschichtlich angelegt, der Wertbegriff als Diskurselement konzipiert, gerade deshalb jedoch auf ein westlich-demokratisches Verständnis beschränkt, das im Begriff des Guten die platonische Tradition aufgreift (vor allem im 10. Kapitel, „Werte und Normen: Das Gute und das Rechte“, 252–293).

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für bestimmte Verhaltensweisen.70 Werte entsprechen seiner Definition nach Einstellungen oder Überzeugungen, die erfassbar und erklärbar sind. Sie ließen sich in Umfragen ermitteln und quantifizieren. Ähnlich schließen Soziologen und Politologinnen – allen voran Meinungsforschungsforscherinnen – aus Statistiken auf Wertvorstellungen und treffen Voraussagen etwa im Hinblick auf das Wahlverhalten von spezifischen, gesellschaftlich repräsentativen Altersgruppen und sozialen Milieus. Die empirische Werteforschung stellt keine Fragen nach dem Wesen von Werten, sondern ermittelt konkrete Einstellungen, die sie dann mit Werten gleichsetzt. In ihrem Mittelpunkt steht die Veränderung, nicht der Ursprung und die Form des Wertens. Von einem „Wert“ können wir demzufolge dann sprechen, wenn wir glauben, dass ein gewisser Verhaltensmodus oder eine Lebensweise persönlich oder sozial anderen Formen des Verhaltens oder der Lebensweise vorzuziehen seien. Ein „Wertesystem“ wiederum wiese eine beständige Organisationshierarchie derartig gewichteter Glaubensannahmen auf.71 Von Kluckhohn und Rokeach sind indes ebenso wenig Impulse und Antworten für die Kulturwissenschaften zu erwarten wie von der empirischen Werteforschung der Soziologen.72

70„A

value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action“, Clyde Kluckhohn u. a.: „Values and Value-Orientation in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification“, in: Toward a General Theory of Action, hg. von Talcott Parsons and Edward A. Shils, Cambridge: Harvard University Press 1951, 388–433, hier 395. John Deweys Definition, auf die sich Joas berufen wird, lautet: „Every person in the degree in which he is capable of learning from experience draws a distinction between what is desired and what is desirable whenever he engages in the formation and choice of competing desires and interests“, „Theory of Valuation“, in: International Encyclopedia of Unified Science, hg. von Otto Neurath u. a., Bd. 2, Chicago: University of Chicago Press 1939, 379–447, hier 31. Auch Martin Kaufhold möchte über die „Wirkungsbedingungen und Wirkungshorizonte der Wertvorstellungen vergangener Epochen“ auf die für „moderne Europäer“ gemeinsamen Handlungsmaßstäbe schließen, Europas Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen. Ein historischer Essay, Paderborn u. a.: Schöningh 2013, 18. 71„A value is an enduring belief that a specific mode of conduct or end-state of existence is personally or socially preferable to an opposite or converse mode of conduct or end-state of existence. A value-system is an enduring organization of beliefs concerning preferable modes of conduct or endstates of existence along a continuum of relative importance“, Milton Rokeach: The Nature of Human Values, New York and London: The Free Press 1973, 5. Kluckhohns und Rokeachs Definitionen prägen soziologische Studien bis in die Gegenwart hinein, vgl. z. B. Gisela Maag: Gesellschaftliche Werte. Strukturen, Stabilität und Funktion, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, sowie Karl-Heinz Hillmann: Wertwandel. Ursachen, Tendenzen, Folgen, Würzburg: Carolus 2003. Unumstritten ist in einschlägigen Fachlexika inzwischen, dass Werte als „Ergebnisse komplexer geschichtlich-­ soziokultureller Entwicklungs- und Wandlungsprozesse“, als historisch „entstanden, kulturell relativ, wandelbar und somit auch bewusst gestaltbar“ zu interpretieren seien, vgl. Karl-Heinz Hillmann: Art. „Wert“, in: Wörterbuch der Soziologie, hg. von Karl-Heinz Hillmann, begründet von Günter Hartfiel, 5., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart: Kröner 2007, 962–964, hier 962. 72Vgl. z. B. Antje Bednarek-Gilland: Researching Values with Qualitative Methods. Empathy, Moral Boundaries and the Politics of Research, Farnham, Surrey, und Burlington, Vermont: Ashgate 2015, 18: „I suggest that values are formed in situations which possess a fundamentally transformative quality in that they further self-transformation and self-transcendence.“ Im World Value Survey etwa fassen Soziologen Phänomene zusammen, die auf politische und religiöse Einstellungen, Offenheit gegenüber Minderheiten, Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Bedeutung von Traditionen schließen lassen, vgl. World Value Survey Association: World Value Survey, October 2016, http://www.worldvaluessurvey.org/wvs.jsp (3. Dezember 2018).

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Eine auf Dauer und Bleibendes angelegte Wertphilosophie strebte ihr Begründer Rudolf Hermann Lotze an, der im Geist der Zeit den ethischen Seiten des Begriffs mit anatomischen und psychologischen Erkenntnissen beizukommen hoffte. In seiner 1841 erschienenen Metaphysik weist der Wertbegriff auf die Zeitlosigkeit von Werten hin. Man müsse sie als das „wahrhaft Wirkliche, das, was in allem Erscheinenden das Seiende ist“ betrachten.73 Ähnlich wie Kant, der Menschen einen Wert, Dingen aber einen Preis zuordnete, richtete sich Lotzes Interesse auf die Ethik, die ihren wertphilosophischen Höhepunkt in Max Schelers dreibändigem Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (2 Bde., 1913–1916) fand. Im Titel klingt noch der Hinweis auf die Ökonomie an, die für Scheler allerdings am unteren Ende der Werteskala zu finden ist. Dagegen führt das zu Anfang des 19. Jahrhunderts begonnene Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm mittelhochdeutsche, frühneuhochdeutsche und barocke Quellen an, die „Wert“ lediglich als „Preis“ oder „Kaufsumme“ umschreiben, oft in Verbindung mit Waren oder Geld.74 Weiter zurückreichende Lexika, die sich im Zeitalter der Aufklärung als Bestandsaufnahmen „vernünftig“ erworbenen Wissens verstanden, geben allesamt einen Eindruck von der rein ökonomischen Seite des Wertbegriffs. So sah etwa Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (68 Bde., 1732–1754) im „Werth“ eine Vergleichsgröße, deren philosophische Herleitung auf den Rechtsbegriff des „Eigenthums“ bezogen bleibe und stets auf ökonomische Belange hinweise: „Werth, oder Wehrt, sonst auch der Preiß, die Ware, der Anschlag, die Schätzung, oder Würdigung einer Sache, Lat. Valor, Aestimatio, Frantz. Valeur, so den Dingen, die wir in menschlichen Leben nöthig haben, gesetzet wird, ist eine eingebildete Grösse“, die ein Verhältnis der Dinge zueinander abbilde.75 Wie viele andere Lexika der Epoche, beruhte Zedlers Lexikon auf „­Kollaboration“. Der Herausgeber scheute sich nicht, Artikel unter dem Vorwand des gemeinschaftlichen Interesses am Thema von anderen Nachschlagewerken zu kopieren. Zuweilen gewann Zedler aber auch die Verfasser mancher Artikel unmittelbar für sein Projekt. So dürfte Georg Heinrich Zincke für den „Werth“-Eintrag infrage kommen. Zincke hatte in seinem eigenen Allgemeinen Oeconomischen Lexicon im Jahr 1731 den Begriff des Wertes ausdrücklich als ökonomische Vergleichsgröße beschrieben und eine Art Ursprungsgeschichte in knapper Form gegeben: „Nachdem derer Menschen

73Rudolf

Hermann Lotze: Metaphysik, Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung 1841, 6. Im Wesentlichen handelt es sich bei Lotzes Buch um eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels. 74Jakob und Wilhelm Grimm: Art. „Wert(e)“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 29, 470, http:// www.dwb.uni-trier.de/de/ (3. Dezember 2018). Der 29. Band ist erst 1960 in Leipzig bei Hirzel erschienen, wurde indes im Geiste der Brüder Grimm fortgeführt. Daher ist der Quellenverweis hier von größerer Bedeutung als die lange währende Publikationsgeschichte des Deutschen Wörterbuchs. 75Johann Heinrich Zedler: Art. „Werth“, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 55, Leipzig und Halle 1748, 570–582, hier 570, http://www.zedler-lexikon.de (3. Dezember 2018).

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viel wurden, einer aber das, der andere jenes zu seinem zeitlichen Wohlstand brauchte oder nicht brauchte, so der andere hatte oder nicht hatte, und denn die gesellige Liebe erforderte, einander damit zu dienen, folglich geben und empfangen nöthig war, die Gleich- und Billigkeit aber erheischete, daß einer vor dem anderen nicht mehr erhielt, als er von diesem empfing, so musten die nützlichen und ergötzenden Dinge gegen einander gehalten und nach einem gewissen Grunde verglichen werden, in welchem sie einander gleich oder ungleich zu achten.“76 Die „Ordnung“ des Wertes, an die Zincke dachte, ist diejenige einer Hierarchie, die aus dem Vergleich der Waren untereinander hervorgeht. Erst im Verhältnis zweier Objekte zueinander kommt der Wertbegriff zum Ausdruck. Die kulturell und ethisch angereicherten Bedeutungsformen, die in öffentlichen Debatten um einen angeblichen Verlust von Werten, um Werteerziehung und die Abhängigkeit von materiellen Gütern kreisen, sind neueren Datums und verkennen oft die ursprüngliche ökonomische Funktion, die dem Begriff zukam. Aktuelle Wirtschaftslexika versuchen diesem Umstand Rechnung zu tragen, indem sie den Singular „Wert“ von seiner Plural-Verwendung „Werte“ unterscheiden. „Werte“ seien etwa „Strukturen normativer Erwartungen, die sich im Zuge reflektierter Erwartungen (Tradition, Sozialisation, Entwicklung einer Weltanschauung) herausbilden.“77 Dass sich die „Bevorzugung von Gegenständen oder Handlungen“ dabei durchaus zunächst nach ökonomischen Gesichtspunkten und erst dann nach ethischen Prinzipien richtet, findet keine Erklärung: Es sei zwischen Werten zu unterscheiden, „die sich aus der Funktion des Bewerteten für einen übergeordneten Zweck“ ergeben würden, und solchen, „die den Zweck selbst darstellen“, wobei Ökonomik sich für ersteres, Ethik für letzteres interessiere.78 Unter „Wert“ verstehe man in der Makroökonomik wiederum einen „Ausdruck der Wichtigkeit eines Gutes, die es für die Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse besitzt, wie sie sich etwa in seinem Nutzen und in der betreffenden Präferenzordnung des Wirtschaftssubjektes widerspiegelt.“79 Die „Präferenzordnung“ wird

76Georg Heinrich Zincke: Art. „Werth“, in: Allgemeines Oeconomisches Lexicon, 4. Aufl., Leipzig 1764,

Bd. 2, 3187–3192, hier 3188, https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1-318684 (3. Dezember 2018). 77Günter W. Maier: Art. „Werte“, in: Gabler Wirtschaftslexikon, Wiesbaden: Springer ­Gabler 2018, http://www.wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/werte-49667/version-272895 (3. Dezember 2018). 78Ebd. 79Martin G. Möhrle: Art. „Wert“, in: ebd., http://www.wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ wert-49005/version-327305 (3. Dezember 2018). Meghnad Desai erörtert Wert im Unterschied zum Begriff des Preises, und zwar als Problematisierung von Marx’ Ökonomie und ausschließlich mithilfe mathematischer Kriterien: „The problem of the relationship between value and price – the so called transformation problem – is a central issue in Marxian economics. In one sense it can be posed as a technical or mathematical problem of deriving a set of prices from a given set of value equations. But if it were only a technical problem then it should have a definite answer – either a solution exists or it does not. It is surprising therefore that this problem has continued to attract succeeding generations of economists since the date of publication of Volume 3 of Capital in 1894“, Art. „Value and Price“, in: The New Palgrave. A Dictionary of Economics, hg. von John Eatwell u. a., Bd. 4, London u. a.: MacMillan 1987, 789–792, hier 789.

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vorausgesetzt, gerade so, als hätte sie keinen Ursprung. In ihr sei der „Ausdruck der Wichtigkeit eines Gutes“ gegeben, doch unterscheidet sie sich keineswegs von der Ordnung „von Gegenständen oder Handlungen“, die dem ethisch gefärbten Plural des Wertbegriffs eignet.80 In der Praxis bestätigt sich die Unterscheidung zwischen ethischen „Werten“ (im Plural) und ökonomischem „Wert“ (im S ­ ingular) indes nicht, denn wir können durchaus von einem einzelnen ethischen „Wert“ oder der Summe erwirtschafteter „Werte“ sprechen. An seiner funktionalen Struktur und seinen gesellschaftsformenden Voraussetzungen gehen Wörterbücher und Nachschlagewerke in ihren Definitionsversuchen zum Wertbegriff in der Regel vorbei, gleich, ob sie sich auf den deutschen Wortschatz, die Philosophie, die Religion oder die Ökonomie spezialisieren.81 Fruchtbar sind dagegen semiotische Ansätze, die bereits auf die Zeit der Wertphilosophie zurückgehen und eine Gegenposition zu ihr einnehmen. Am Wertbegriff zeigt sich, wie wir mit Ernst Cassirer annehmen können, die „Grammatik der symbolischen Funktion“,82 denn aus dieser „Grammatik“ gehe die Vermittlungsfähigkeit des Zeichens hervor. Durch Sprache treten wir in ein mittelbares Verhältnis zu den Erscheinungen. Sie ist mit einem Werkzeug vergleichbar, das Menschen in Distanz zu den Dingen setzt, doch nur, um sich ihnen gleichzeitig zu nähern. Befreit vom Zwang unserer Triebe, so Cassirer, erlaube das mittelbare Verhältnis zu unserer Umwelt „neue und andere Arten der Aneignung, der theoretischen und praktischen Beherrschung“, die den „Weg vom ‚Greifen‘ zum ‚Begreifen‘“ anzeigen.83 Erst wenn wir einen Gegenstand beschreiben können, haben wir ihn auch begriffen. Durch Distanz finden wiederum naturwissenschaftliche und mythische, ästhetische und religiöse Erkenntnisweisen zur „Einheit der Form“.84 ­Cassirers Erörterungen sind für unser Verständnis des Wertbegriffs von Nutzen, weil die „Grammatik der symbolischen Funktion“ von Werten vor allem in der Schaffung von Relationen und Hierarchien, von Gemeinschaft und Disziplinierung, von Wünschenswertem und Idealem besteht. Eine solche „Grammatik“ zieht sich durch alle Felder der Kultur, die in diesem Buch ein eigenes Kapitel beanspruchen – die

80Ebd. 81Man

wird im wichtigsten deutschsprachigen Nachschlagewerk zur Religionsgeschichte jeden Hinweis auf den ökonomischen Ursprung des Begriffs vermissen. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearbeitete Aufl., hg. von Dieter Betz u. a., 9 Bde., Tübingen: Mohr Siebeck 1998–2007, Bd. 8, bietet auf den Seiten 1467–1476 unter dem Stichwort „Wert/Werte“ Einträge zu den Begriffen „I. Philosophisch“ (Michael Großheim), „II. Fundamentaltheologisch“ (Matthias Heesch), „III. Ethisch“ (Matthias Heesch), „IV. Naturwissenschaftlich“ (Dirk Evers), „V. Pädagogisch und praktisch-theologisch“ (Reinhold Mokrosch) und „VI Rechtlich“ (Thomas Würtenberger). 82Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, Die Sprache, hg. von Claus Rosenkranz, in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, 26 Bde., Hamburg: Meiner 1998–2009, Bd. 11, Hamburg: Meiner 2001, 17. 83Ebd., Bd. 13, 324. 84Ebd., Bd. 11, 20.

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Philosophie und die Ökonomie, die Religion und die Psychologie, die Politik und die Literatur, die Informationstechnologie sowie die Lebenswissenschaft. In einer historischen Phase, in der sich gesellschaftliche Strukturen änderten, Nationen verschwanden und ökonomische Werte „verfielen“, ist es kein Zufall, dass neben der Wertphilosophie des Neukantianismus eine Theorie entstand, die sich auf die Bedeutung der Zeichen und ihre wiederkehrenden Muster verlegte. Beschränkte sich der Neukantianismus darauf, konkrete Wertannahmen als Produkt unserer Vorstellungswelt darzustellen, ohne ihre Beliebigkeit und Austauschbarkeit erklären zu können, nahm die Semiotik ihre Struktur in den Blick. Sprache ist, wie Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen hervorhob (3 Bde., 1924– 1929), die gesellschaftliche Grundlage kultureller Verständigungsprozesse. Das sprachliche Zeichen ist für ihn „keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertig gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.“85 Daher findet „alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der S y m b o l i k und S e m i o t i k , auf die es sich stützt.“86 Besonders an literarischen Texten lässt sich der Zusammenhang von formaler Strenge und gedanklicher Repräsentation gut nachvollziehen. In der ästhetischen Gestalt der Sprache verwirklichen sich Codes, die Lautbild und Schriftbild in symbolischer und fiktionaler Form miteinander verbinden. Sie sind symbolisch, weil sich in ihnen der Verweis auf Anderes anschaulich bündelt; und sie sind fiktiv, weil Reales in ihnen als semantisches Bedeutungsfeld erscheint, das mit der „wahren“ Natur der Dinge nichts gemein hat. Realität entsteht in unseren Köpfen. Worte sind daher zugleich Ding und Idee, weil sie uns helfen, der Wirklichkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie überhaupt erst zu schaffen. Aufgrund ihrer eigentümlichen Natur bürgen sie für ästhetische Erfahrungen, die wir aus literarischen Texten beziehen, indem sie Komplexität, Symmetrie, Emotion und Verstand zusammenführen, ohne sich dem Verstehen, wie Hans-Georg Gadamer meint, vollständig zu ­ reignischarakter literarischer Sprache hebt sie über den Status erschließen.87 Der E der alltäglichen Kommunikation h­ inaus. In ihr reflektiert sich das Medium selbst.

85Ebd.,

Bd. 11, 16.

86Ebd. 87Hans-Georg

Gadamer: „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Hermeneutik I, 305, weist auf die Wirkungsgeschichte hin, die das „historische Bewußtsein“ beeinflusse: „Wenn wir aus der für unsere hermeneutische Situation im ganzen bestimmenden historischen Distanz eine historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte.“ Für die geschichtliche Situation, aus der wir unseren Gegenstand in Augenschein nehmen, führt Gadamer daher den Begriff des „Horizontes“ an: „Wer Horizont hat, weiß die Bedeutung aller Dinge innerhalb dieses Horizontes richtig einzuschätzen nach Nähe und Ferne, Größe und Kleinheit. Entsprechend bedeutet die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation die Gewinnung des rechten Fragehorizontes für die Fragen, die sich uns angesichts der Überlieferung stellen“ (307 f.). Durch Horizontverschiebungen ergeben sich folglich neue Sichtweisen, die der eigenen Situation – dem eigenen Horizont – gerecht werden.

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Die Sprache der Literatur ist I­ magination und Wirklichkeit, Wunsch und Realität in einem. Diese Verbindung von Fiktivem und Imaginärem rückt sie in die Nähe zum Wertbegriff, der durch sie symbolisch zur Anschauung kommt. Wie die Literatur sind Werte an eine Theorie der Sprache gebunden, der sich die zur Zeit der Wertphilosophie entstandene Linguistik widmete. Ferdinand de Saussures Definition des Zeichens erlaubte eine kultursemiotische Deutung­ sprachlicher Symbolik. In einer Reihe von Vorlesungen in den Jahren 1907 bis 1911, die seine Schüler Charles Bally und Albert Sechehaye 1916 aufgrund von Mitschriften unter dem Titel Cours de linguistique générale herausgegeben haben, hatte Saussure eine synchrone von einer diachronen Ebene, ein linguistisches von einem sprachgeschichtlichen Paradigma unterschieden. Willkürlichkeit bestimme dabei das Verhältnis von Vorstellung und Lautbild. Zeichen, meinte Saussure, leiten sich von Konventionen ab. Sprache drücke nicht etwa das Verhältnis von Namen und Sache aus, sondern gebe im Laut einen „psychische[n] Eindruck“ unserer „Empfindungswahrnehmungen“ wieder.88 Saussures sprachwissenschaftliche und kultursemiotische Theorie verdankt sich seinem Interesse an der Ökonomie. An vielen Beispielen illustriert sein Cours de linguistique générale die Funktionsweise der Sprache mithilfe von ökonomischen Metaphern und veranschaulicht damit zugleich die sprachliche Struktur der Ökonomie. So sei Sprache, nach Saussure, „ein System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird.“89 Worte, Silben, Endungen, Satzteile, ganze Sätze, Äußerungen oder Redeteile definieren sich durch ihr Verhältnis zueinander. Bedeutungen kann Saussure daher als arbiträr, das heißt als willkürliche Zuschreibungen, bezeichnen, die keineswegs von vornherein durch Dinge, Ideen oder gar eine höhere Macht gegeben sind. Sowohl Ökonomen als auch Linguisten dient ein funktionaler Wertbegriff dazu, Relationen und Hierarchien zu beschreiben. Wie die Ökonomie das Äquivalent einer Ware durch das Symbol des Geldes darstellt, so bildet die Sprache das Äquivalent einer Vorstellung im Symbol des Wortes ab. Sprache repräsentiert Denken, und Denken ist durch Sprache vorgeformt. Werte müssen wir entsprechend als Funktionen erachten, die bestimmte Aufgaben des Denkens erfüllen, ohne von prägnanten Inhalten auszugehen. Bedeutungen geben wir ihnen erst in einem zweiten Schritt. Nicht wenige setzen die Bedeutungen von Werten mit ihrer Funktion gleich und glauben, ein konkreter Wert bestimme sich durch seine Semantik, nicht durch seine Grammatik. So verfingen sich etwa viele Philosophen des Neukantianismus in der Erstellung von Werthierarchien oder wollten, wie Scheler, Werten nachträglich eine formal-­ logische Erklärung aufprägen, die nichts anderes als eine Bedeutungszuschreibung war. Betrachten wir hingegen Sprache als Bedingung für die Vermittlung, ja für die Existenz von ethischen Werten, so deckt sich der symbolische Charakter von Werten mit ihrer besonderen grammatischen Anlage. 88Ferdinand

de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger, 3. Aufl., mit einem Nachwort von Peter Ernst, Berlin und New York: de Gruyter 2001, 77. 89Ebd., 95.

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Zweifellos spielt der Blick auf die Sprache als Medium der Wertrepräsentation eine wichtige Rolle. Von ihr leiten sich andere symbolische Darstellungen von Werten ab, die in unterschiedlichen Medien zur Anschauung kommen: in der Theorie als Vermittlung von Denken und Wirklichkeit (lat. medium = „Mitte“, „Mittelpunkt“ und altgr. „μέσov“, „méson“  =  „das Mittlere“), dem Geld als Bindeglied von Menschen, Waren und Dienstleistungen, dem religiösen Ritual als Kommunikationsform zwischen Diesseits und Jenseits, dem Persönlichkeitstest als Vermessung des Ichs in der Psychologie, der Propaganda als massenmedialem Mittel zur politischen Beeinflussung, dem sprachlichen Zeichen als Vermittlungsform schlechthin und schließlich dem Menschen als Informationspool, der schon heute zwischen belebtem Organismus und leblosem Ding, Körperzellen und Daten anzusiedeln ist.90 Diese Medien sind der Ausgangspunkt für die Analyse des Wertbegriffs in seinen je unterschiedlichen kulturellen Erscheinungsformen. Sie gehen jeweils einem der folgenden Kapitel voraus, um die Verknüpfung von Wertvorstellung und Wertdarstellung zu verdeutlichen. Nicht erst Medienwissenschaftler haben damit begonnen, die Verbindung von Sprache, Symbol und Ökonomie unter dem Begriff der Information in Augenschein zu nehmen. Vor allem in den humanistischen Fächern stießen die Verbindungen symbolischer Darstellungen ökonomischen Denkens durch Sprache, Kunst, Religion, Psychologie und Politik auf großes Interesse. Hatten Soziologen wie Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel, Émile Durkheim, Marcel Mauss und Thorstein Veblen auf die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsformen, Glaubensvorstellungen und gesellschaftlichen Normen aufmerksam gemacht, richteten sich später die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, der französische Poststrukturalismus um Jacques Derrida, Jean Baudrillard, Jean-Joseph Goux und Michel Foucault,91 die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die von Marc Shell begründete Schule des New Economic C ­ riticism92 an einer „symbolischen Ökonomie“ (Goux) aus, um

90Der

hier gebrauchte Medienbegriff ist weit gefasst und wird nicht im Einzelnen die medientheoretischen Unterschiede zwischen Gerät, Technik, Apparat und Kommunikation oder Software erörtern, da sie für diese Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine umfassende, für diese Studie in Betracht kommende Medienontologie schlägt beispielsweise Boris Groys vor. Demnach können wir unter komplex ineinander verwobenen Repräsentationsformen von Medien ausgehen („Medienträgern“). Ein Medium kann prinzipiell alles sein, solange es den Zweck der Vermittlung erfüllt – vom Zeichen zum Text, von der Zeitschrift zum Verlag, vom Stück zum Theater, vom Bild zum Internet, vom Staat zu Gott, vgl. Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München und Wien: Hanser 2000, 47. 91Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, 7. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1998 [frz. 1967]; Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz 2005 [frz. 1976]; Jean-Joseph Goux: Marx, Freud. Ökonomie und Symbolik, Frankfurt a. M u. a.: Ullstein 1975 [frz. 1973], und Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Bd. 2, Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, hg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2004. 92Z. B. Marc Shell: The Economy of Literature, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1978; sowie Money, Language, and Thought. Literary and Philosophical Economies from the Medieval to the Modern Era, Berkeley: University of California Press 1982; außerdem im Überblick Martha Woodmansee und Mark Osteen (Hg.): The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London und New York: Routledge 1999.

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wirtschaftliche Themen in die Kultursemiotik einzubinden. Eine Vielzahl jüngerer Studien, etwa von Jochen Hörisch, Nadja Gernalzick, Bernd Widdig, Norbert Bolz, Richard T. Gray, David Graeber, Joseph Vogl, Christina von Braun und Manuel Bauer,93 setzen aus unterschiedlichen Perspektiven an der kulturwissenschaftlichen Erforschung ökonomischer Muster an, doch findet der Wertbegriff in ihnen kaum Beachtung. Wo Werte dennoch Erwähnung finden, bleiben sie häufig auf spezifische kulturelle Bereiche beschränkt, ohne dass Verbindungslinien deutlich ­würden. Wir können den Menschen als Verkörperung von Werten begreifen. Manche Menschen stehen für Ideen, die wir bewundern und verehren oder aber ablehnen und verachten. „Ideen“ sind das Ergebnis biochemischer Prozesse oder thermodynamischer Umwandlungen von Energiezuständen, die sich in organischer Masse verwirklichen und sich in materiellen Trägern – dem menschlichen Gedächtnis, der Schrift, dem Buch, der Maschine und anderen Speichermedien – entfalten. Unter den einst vom Liberalismus eingeforderten Prinzipien der Effizienz, der Optimierung und Steigerung verschmelzen Ding und Mensch. Dinge werden menschenähnlich, Menschen werden verdinglicht. Durch die Quantifizierung unseres Lebens in Form von Algorithmen, durch Robotik und Genetik finden unbelebte Materie und lebende Organismen zusammen.94 Mit Hilfe von Technik wird der Mensch im Zeitalter des Neoliberalismus zur Information, die es zu bemessen und zu optimieren gilt.95 Wir bauen Maschinen und suchen nach Methoden, um ein „besseres“ Abbild von uns selbst herzustellen. Für die

93Von

den vielen Büchern Jochen Hörischs sei hier neben Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, 3. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1998, noch Man muss dran glauben. Die Theologie der Märkte, München: Fink 2013, genannt. Vgl. des Weiteren Nadja Gernalzick: Kredit und Kultur. Ökonomieund Geldbegriff bei Jacques Derrida und in der amerikanischen Literaturtheorie der Postmoderne, Heidelberg: Winter 2000; Bernd Widdig: Culture and Inflation in Weimar Germany, Berkeley: University of California Press 2001; Norbert Bolz: Das Konsumistische Manifest, München: Fink 2002; Richard T. Gray: Money Matters. Economics and the German Cultural Imagination, 1770–1850, Seattle und London: University of Washington Press 2008; David Graeber: Debt. The First 5,000 Years, Brooklyn, New York: Melville House 2011 (Graebers erstes Buch verspricht im Titel eine Analyse des Wertbegriffs, den es aber nicht einlöst, Toward an Anthropological Theory of Value. The False Coin of Our Own Dreams, New York: Palgrave 2001); Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 7. Aufl., Zürich: Diaphanes 2016; Christina von Braun: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin: Aufbau Verlag 2012; Manuel Bauer: Ökonomische Menschen. Literarische Wirtschaftsanthropologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen: V&R unipress 2016.

94Heute sprechen wir von „materialities of information“ als „properties of representations and formats that constrain, enable, limit, and shape the ways in which those representations can be created, transmitted, stored, manipulated, and put to use […]“, Paul Dourish: The Stuff of Bits. An Essay on the Materialities of Information, Cambridge, Massachusetts, und London: MIT Press 2017, 6. 95„Who we are is composed of an almost innumerable collection of interpretive layers, of hundreds of different companies and agencies identifying us in thousands of competing ways“, John Cheney-Lippold: We Are Data. Algorithms and the Making of Our Digital Selves, New York: New York University Press 2017, 6. Die Datenschichten, aus denen wir bestehen, bilden die Grundlage zur „Uminterpretation“ des Menschen in der Genetik.

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Maschine sind wir indes keine Individuen, sondern ein numerischer Code – „Biomedien“, die dem ökonomischen Nutzen weniger dienen.96 Wie Maschinen zeichnen sich Menschen demnach durch physikalische Zustandsveränderungen aus, die als „Handlungen“ erscheinen. In den Schaltkreisen von Computer-Netzwerken hat der Mensch als „vibrierende Materie“97 die Form von Energie angenommen und ist unmittelbar in die Zirkulation der Waren und Dinge eingegangen. Nur wenn wir begreifen, woraus Werte hervorgegangen sind, werden wir sie als Schlüssel zum Verständnis einer marktwirtschaftlichen Ordnung erachten können, die alle Wissensbereiche umfasst. Aus der Geschichte ihres Gebrauchs erfahren wir vom ökonomischen Ursprung des Wertbegriffs und vom Dilemma der Philosophen, die ethische Tradition mit wirtschaftlicher Rationalität zu vereinen. Die Form von Werten können wir über das prominenteste Medium, die Sprache, analysieren und deuten. Dieses Buch nimmt deshalb die historischen, funktionalen und imaginativen Dimensionen von Werten in den Blick, indem es Kulturgeschichte, Semiotik und Mediengeschichte miteinander verbindet. Erst wenn wir verschiedene Zeichensysteme in ihrer geschichtlichen Entwicklung in Betracht ziehen, werden sich uns die Wirkungsweisen des Wertbegriffs erschließen und uns Auskunft darüber geben, welchen Einfluss Werte auf unser Denken haben.

96Eugene Thacker: „Bioinformatics and Bio-logics“, in: Postmodern Culture 13.2 (2003), o.S., http:// www.muse.jhu.edu/article/41974 (3. Dezember 2018), spricht von Menschen als „Biomedien“, die das Resultat einer „informatic recontextualization of biological components and processes“ seien. 97„Each human is a heterogeneous compound of wonderfully vibrant, dangerously vibrant, matter. If matter is lively, then not only is the difference between subjects and objects minimized, but the status of the shared materiality of all things is elevated. All bodies become more than mere objects, as the thing-powers of resistance and protean agency are brought into sharper relief […]. The ethical aim becomes to distribute value more generously, to bodies as such“, Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham und London: Duke University Press 2010, 12 f.

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Kleine Kulturgeschichte der Werte

Martin Heidegger hat 1943 mit seinem Aufsatz „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ die gut einhundertjährige Geschichte der Wertphilosophie vorläufig beendet, indem er sie der Metaphysik bezichtigte.1 Dennoch stieg das Interesse am Thema „Werte“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stetig an. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht allein in dem von Heidegger geforderten Abschied von der Metaphysik oder dem Bedeutungsverlust der Religion als verbindlicher Grundlage für moralisches Handeln zu sehen. Ideologen hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das mit dem Aufstieg des Liberalismus und der Vorherrschaft ökonomischen Denkens entstandene Wertvakuum füllen wollen. Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft blieben davon im Osten Deutschlands der Sozialismus, im Westen der Kapitalismus bestehen. Der Wunsch nach stabilen Wertvorstellungen war in einem geteilten, vom Krieg verwüsteten und moralisch bankrotten Land allzu verständlich. Ordnung und Orientierung hatten höchste

1Martin Heidegger: „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, in: Gesamtausgabe, hg. von Käte ­ BröckerOltmanns u. a., bislang 98 Bde., Frankfurt a. M 1975–2018, I. Abteilung, Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 5, Holzwege, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M: Vittorio Klostermann 1977, 209–267, hier 227: „Im 19. Jahrhundert wird die Rede von den Werten geläufig und das Denken in Werten üblich. Aber erst zufolge einer Verbreitung der Schriften Nietzsches ist die Rede von Werten populär geworden. Man spricht von Lebenswerten, von den Kulturwerten, von Ewigkeitswerten, von der Rangordnung der Werte, von geistigen Werten, die man z. B. in der Antike zu finden glaubt. Bei der gelehrten Beschäftigung mit der Philosophie und bei der Umbildung des Neukantianismus kommt man zur Wertphilosophie. Man baut Systeme von Werten und verfolgt in der Ethik die Schichtungen von Werten. Sogar in der christlichen Theologie bestimmt man Gott, das summum ens qua summum bonum, als den höchsten Wert. Man hält die Wissenschaft für wertfrei und wirft die Wertungen auf die Seite der ­Weltanschauungen. Der Wert und das Werthafte wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische. Der Häufigkeit des Redens von Werten entspricht die Unbestimmtheit des Begriffes. Diese ihrerseits entspricht der Dunkelheit der Wesensherkunft des Wertes aus dem Sein. Denn gesetzt, daß der in solcher Weise vielberufene Wert nicht nichts ist, muß er wohl sein Wesen im Sein haben.“

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_2

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2  Kleine Kulturgeschichte der Werte

Priorität, die Energie von Staat und Bürgern galt dem Wiederaufbau, sowohl in praktischer wie in geistiger Hinsicht. Gerade weil das Wertesystem des Westens dasjenige des Osten spiegelverkehrt abbildete, glich es dem vom sowjetischen „Bruderstaat“ aufgezwungenen in mancher Hinsicht. So erhielt in der von sozialer Marktwirtschaft und Pluralismus geprägten Bundesrepublik das „wirtschaftliche Wachstum“ den Status eines ideologischen Dogmas. Materielle Werte schienen moralische zu ersetzen, ohne die existenzielle Lücke schließen zu können, die viele Zeitgenossen empfanden. Schon nach dem Krieg wurde der enge Zusammenhang zwischen Ökonomie und Ethik deutlich, als die Befriedigung materieller Bedürfnisse Vorrang vor dem ethisch Gebotenen hatte. Statt sich dem Wert der „Gerechtigkeit“ durch das Bekennen von Schuld, der Bitte um Vergebung und den Versuch der Wiedergutmachung zuzuwenden, standen die Verbrecher von einst nur selten vor Gericht. Die Öffentlichkeit musste nahezu zwei Jahrzehnte auf die Aufarbeitung der in Auschwitz begangenen Gräuel warten, bis die Prozesse in Frankfurt (1963–1965) die Wahrheit ans Tageslicht brachten. Nach Jahren der Entbehrung und des Schreckens war man sich im vermeintlich entnazifizierten, demokratischen, vom Liberalismus Ludwig Erhards und der konservativen Politik Konrad Adenauers geprägten Wirtschaftswunderland einig in dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Der Kalte Krieg diktierte, wer als Freund oder Feind, was als politisch gut oder schlecht zu betrachten war. Erst mit den Protesten der Studierenden, die sich nicht zuletzt gegen die von der Elterngeneration begangenen Verbrechen richtete, gerieten ethische Einwände wieder in den Blick. Auch die wirtschaftsliberale Ordnung der Bundesrepublik stand dabei in der Kritik, wie die von studentischer Seite zum Ausdruck gebrachten Sympathien für linkspolitische Positionen zeigten, die von basisdemokratischer Mitbestimmung über die Mitgliedschaft in kommunistischen Parteien bis zum Terrorismus der Rote Armee Fraktion reichten. Wer nun meint, Werte hätten ein gemeinsames Fundament, seien allgemein ­gültig oder universell, sieht sich getäuscht. Die Allgemeine Erklärung der Menschrechte beispielsweise reicht lediglich ins Jahr 1948 zurück.2 Erst die Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere der Holocaust, erlaubten ihre Ausrufung vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Nur wenige Jahre zuvor war es im vorgeblich zivilisierten Europa nicht nur möglich, sondern legal gewesen, Menschen zu quälen, herabzuwürdigen, zu entrechten und zu töten. „Wertes“ Leben wurde von „unwertem“ geschieden. Um die Menschenrechte, selbst wenn offiziell als Wertekatalog akzeptiert, ist es nach wie vor schlecht bestellt. Rassismus, ­Ausbeutung und

21993 wurde die Allgemeine Menschrechtserklärung unterdessen durch die Bangkok Declaration of Human Rights wieder relativiert, wonach nationale und regionale Wertvorstellungen in andere, von der Weltgemeinschaft abweichende Ideen von Menschenrechten eingehen dürfen, vgl. Artikel 9: „States have the primary responsibility for the promotion and protection of human rights through appropriate infrastructure and mechanisms […]“, Asia-Pacific Human Rights Center: Bangkok Declaration [1993], http://www.hurights.or.jp/archives/other_documents/section1/1993/04/final-declaration-of-the-regional-meeting-for-asia-of-the-world-conference-on-human-rights.html (3. Dezember 2018).

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die Verfolgung von Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Meinung und ihrer kulturellen Zugehörigkeit sind an der Tagesordnung. Seit Europäer ihre kulturellen Vorstellungen mit der Entdeckung der Neuen Welt gewaltsam, missionarisch und mit gewinnsüchtiger Zielstrebigkeit in alle Welt getragen und seit technische Erfindungen die Menschen in die Lage versetzt haben, immer mehr und immer schneller Waren zu produzieren, opfern wir unseren Lebensraum und unsere moralischen Wertvorstellungen, um Gewinne zu erzielen. Einer Welt, die so eingerichtet ist, dass sie die Mechanismen von Unterdrückung und Unrecht in ihren gesellschaftlichen und politischen Institutionen zementiert, begegnete Theodor W. Adorno mit moralischem Rigorismus: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“3 Aus der Perspektive des „falschen“ Lebens erscheinen Werte als durchsichtiger Versuch, die eigenen Unzulänglichkeiten hinter nichtssagenden Worten zu verbergen. „Was unser Gewissen quält“, meint Norbert Bolz, „ist ja nicht nur das Wissen vom Elend der Welt, sondern auch das Bewußtsein, daß unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends ist.“4 Werten kommt in den Gesellschaften des Westens deshalb die Aufgabe zu, das Streben nach materiellen Gütern mit ethischen Prinzipien zu versöhnen. Sofern sich Philosophen ökonomische Denkmuster zu eigen machen – etwa in Form von Arbeitsethos, Effizienz, Steigerung und Fortschritt –, kapitulieren sie vor dem Primat wirtschaftlicher Interessen. Das wird deutlich, wenn die Ökonomie umgekehrt der Philosophie Eingang in die volkswirtschaftliche Theoriebildung gewährt und als „Wirtschaftsphilosophie“ ökonomisches Handeln ethisch bemäntelt. Selten ist jedoch Altruismus der Beweggrund von Wirtschaftsunternehmen, wird das ethisch Notwendige zum Ziel ökonomischen Handelns ausgerufen. Vor dem strengen Gericht von Anteilseignern und Investoren ist soziale Verantwortung ein Hindernis auf dem Weg zu wirtschaftlichem Erfolg, auch wenn sie Unternehmensführer permanent im Munde führen.5 Im Zweifelsfall tritt die ­kosmetische Bedeutung der Ethik für die Ökonomie zutage. Ethische Einwände

3Theodor

W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951], in: Gesammelte Schriften, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Bd. 4, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1980, 43. 4Bolz: Das Konsumistische Manifest, 121. 5Die Unternehmensberater von Ernst & Young erstellen seit einigen Jahren Umfragen zu Betrugs- und Korruptionsfällen weltweit. Von den befragten Unternehmensführern unter 35 Jahren meinten im Jahr 2018 nicht weniger als ein Fünftel, dass Betrug und Korruption gerechtfertigt seien, von den über 35-jährigen waren es immerhin noch ein Achtel. Die Diskrepanz zwischen der Bereitschaft zu kriminellen Handlungen und der Einsicht in die Notwendigkeit, Kriminalität im Wirtschaftsleben zu bekämpfen, steht dazu im Widerspruch. 97 % der Befragten meinte, es sei wichtig, dass das eigene Unternehmen von Integrität getragen sei. Der Schein von Glaubwürdigkeit zur Verbesserung der Marktaussichten tritt hier offenbar an die Stelle von nachweislich ethischem Verhalten. Der Verdacht liegt nahe, dass die von liberalen Wirtschaftssystemen beklagten Integritätsprobleme struktureller Natur sind. Wenn der Druck zu größeren Gewinnmargen steigt, sinkt die Schwelle zur Begehung krimineller Handlungen, vgl. Andrew Gordon: „Integrity in the Spotlight. The Future of Compliance. 15th Global Fraud Survey 2018“, [Ernst & Young], http://www.fraudsurveys.ey.com/media/1627/ global_fraud_survey_2018.pdf (3. Dezember 2018).

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können sich ihrer Folgenlosigkeit sicher sein, solange sie nicht für eine höhere Werbewirksamkeit einstehen. Hatten die Akteure des Kalten Krieges alle ethischen Ideale den Argumenten der Freiheit oder des Klassenkampfs geopfert und unter dem Banner der Ideologien Menschen unterdrückt, gefoltert und getötet, sieht sich der Westen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in eine Spirale von Unruhen, Aufstand und Hass verstrickt, der sich unter den Abgehängten im eigenen Land, mehr aber noch in der übrigen Welt breitmacht und in Extremismus und Terrorismus umschlägt. Der Überfluss nicht weniger als der Mangel an Gütern provoziert den Ruf nach anderen, „höheren“ Werten, die für Stabilität sorgen sollen. Die Verlierer der Globalisierung wenden sich enttäuscht von der Demokratie ab, weil sie bislang nicht die versprochene Freiheit gewährt und kaum ökonomische Vorteile verschafft hat. Wer hingegen vom ökonomischen Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte profitierte, wird den gewonnenen Mehrwert verteidigen wollen. Die Neigung zum Populismus und zu autoritären Regimen findet sich daher gleichermaßen in armen wie in wohlhabenden Schichten der Bevölkerung. Beiden geht es um die Sicherung von sozialem Status, um Einkommen und Wohlstand.6 Sich auf Werte zu berufen, ist deshalb meist einem konservativen Impuls geschuldet: Abschottung gegen das Neue, gegen das Andere, gegen alles, was sozialen Abstieg und materiellen Niedergang bedeuten könnte. Es verwundert wenig, wenn Rufe nach „europäischen“, „christlichen“ oder „amerikanischen“ Werten gerade dann besonders laut werden, wenn kulturelle Verschiebungen – ob demographischer oder technologischer, sprachlicher oder politischer Natur – ins gesellschaftliche Blickfeld rücken. Der Westen profitiert vom globalen Handel. Dem globalen Wandel gegenüber zeigen sich viele seiner politischen Wortführer hingegen wenig offen. Werte dienen in einer Epoche beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen dazu, Identität zu stiften, und zwar umso mehr, wenn Identitätsmerkmale durch Migration und kulturelle Vielfalt, durch Globalisierung und vernetzte Märkte bedroht scheinen. Der Umgang mit der Bedrohung von Identitätsmonopolen ist keineswegs neu. Um die Verantwortung für die Zurichtungen der Welt abzumildern und die

6Hinweise

auf die Beweggründe des Populismus gibt etwa Jan-Werner Müller: What is Populism? Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2016. Edward Luce: The Retreat of Western Liberalism, New York: Atlantic Monthly Press 2017, hebt den Zusammenhang von ökonomischen Verlusterfahrungen und politischer Radikalisierung in westlichen Demokratien hervor, wie er auch in der Debatte um die ungleiche Verteilung von Einkommen und Gewinnen seit einigen Jahren unter Ökonomen eine Rolle spielt. Viel Kritik, aber noch mehr Zustimmung erfuhr beispielsweise Thomas Piketty: Capital in the Twenty-First Century, Cambridge, Massachusetts, und London: The Belknap Press of Harvard University 2014 [frz. 2013]. Piketty findet sich in Gesellschaft führender Ökonomen, die auf bestehende Ungerechtigkeiten und die ungleiche Verteilung von Vermögen hingewiesen haben. So hat etwa der Nobelpreisträger Peter Diamond gemeinsam mit Emmanuel Saez einen Vorschlag zur gesellschaftlich gerechten und ökonomisch sinnvollen Besteuerung von Spitzeneinkommen vorgelegt, wonach der „optimale Steuersatz“ bei 73 % liege, „The Case for a Progressive Tax. From Basic Research to Policy Recommendations“, in: Journal of Economic Perspectives 25.4 (2011), 165–190, hier 171, http:// www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/jep.25.4.165 (3. Dezember 2018).

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­ offnung auf Besserung nicht aufzugeben zu müssen, suchten schon ­ H frühere Epochen nach Trost und Beruhigung in religiösen und philosophischen ­Lehren. Werte sind Abkömmlinge der Ethik, einem Zweig der Philosophie, der Jahrtausende zurückreicht und sich bis heute mit den Weltreligionen das Vorrecht auf die Deutung des Wahren und Guten teilt. Ein gutes Leben führe zu seelischem Gleichgewicht, Zufriedenheit und Glück; es weise, religiösen Vorstellungen zufolge, den Weg ins Paradies. Persönliches Wohlbefinden und gesellschaftliches Miteinander sind der philosophischen Tradition gemäß jedoch nicht auf Werte, sondern auf Tugenden zurückzuführen. „Tugend“, von ­lateinisch „virtus“ und griechisch „ἀρετή“ („aretḗ“), deutet auf die „Tauglichkeit“ zum sittlich Guten hin, die Befähigung, moralisch richtige Entscheidungen zu treffen, um dem Gemeinwohl zu dienen. Nach Aristoteles bestimmt sich Tugend zum einen aus der Notwendigkeit zur guten Handlung,7 zum anderen aus dem Gleichgewicht von Affekt und Vernunft: „So ist also sittliche Werthaftigkeit eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung […] Sie ist die Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind […]: sie ist es dadurch, daß das Minderwertige teils hinter dem Richtigen zurückbleibt, teils darüber hinausschießt und zwar im Bereiche der irrationalen Regungen und des Handelns – wohingegen die sittliche Tüchtigkeit das Mittlere zu finden weiß und sich dafür entscheidet.“8 Ethische Werte setzen bei der Frage nach den Voraussetzungen für die „Entscheidung“ an, die dem „Mittleren“ gelten. Sie gehen davon aus, dass jeder Handlung, jedem Gedanken, jeder Weltvorstellung bereits Werturteile zugrunde liegen – ein Katalog moralisch fundierter Begriffe, der vorhanden ist, bevor sich­ Tugenden im Menschen überhaupt ausbilden. Für das wertphilosophische Denken des 19. Jahrhunderts sind Tugenden also nur Symptome, deren Ursachen beschrieben werden sollen. Werte hingegen bestehen angeblich schon vorab und ­unabhängig von uns. Die Verdrängung des noch in der Aufklärung zentralen Begriffs der Tugend durch denjenigen des Wertes belegt den wachsenden Einfluss der Ökonomie auf andere Bereiche des Wissens. Noch im 18. Jahrhundert wurde das tugendhafte

7Aristoteles:

Nikomachische Ethik, in: Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Ernst Grumach u. a., bislang 20 Bde., Berlin: Akademie-Verlag sowie Boston/Berlin: de Gruyter 1956 ff, Bd. 6, hg. von Hellmut Flashar, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, 7. Aufl., Berlin: Akademie-Verlag 1979, I/13, 25. 8Ebd., Buch II/6, 37. So ist es zu erklären, dass etwa Aristoteles unter Ökonomie die Lehre von der Hausverwaltung (von altgr. „οίκος“, „oikos“ = „Haushalt“ und „νόμος“, „nomos“ = „Norm“, „Gesetz“) verstand und Normen der Existenzsicherung und des guten Lebens von der Chrematistik (von altgr. „χρηματιστική“), der „Kunst“ und Theorie des Gelderwerbs, trennte: „Es leuchtet nun ein, daß die Kunst der Haushaltsführung nicht mit der Beschaffungskunst identisch ist; denn diese hat die Aufgabe, die Mittel bereitzustellen, jene andere dagegen, sie zu gebrauchen“, Politik, in: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9, Teil I, Über die Hausverwaltung und die Herrschaft des Herrn über Sklaven, Berlin: Akademie-Verlag 1991, Kap. 8, 21. Von der „Beschaffungskunst“ will Aristoteles wiederum die „gewinnsüchtige Erwerbskunst“ unterschieden wissen: „Sie ist verantwortlich für die Auffassung, Reichtum und Besitz sei keine Grenze gesetzt“ (ebd., 23).

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Leben des Bürgers demjenigen des „untüchtigen“, prinzipienlosen Aristokraten gegenübergestellt, während der Begriff des Wertes meist auf den Bereich der Ökonomie beschränkt blieb. Erst gegen Ende des Jahrhunderts unterschied Immanuel Kant den „relativen Wert“ des Preises, der als „Ä q u i v a l e n t “ einer Ware verstanden werden müsse, von einem „innern Wert“, wie er der Würde zukomme.9 Seine moralphilosophischen Schriften belegen zugleich die Herkunft des Begriffs aus der Ökonomie. So ist „Wertschätzung“, auf die sich Kant beruft, heute zwar eine Metapher für das Urteil von Menschen über andere Menschen, ihre wortwörtliche Anwendung stammt jedoch aus dem Wirtschaftsleben.10 Etwas zu schätzen wissen, hieß ursprünglich, eine möglichst genaue Ahnung vom Gewicht und vom Preis einer Ware zu haben.11 Das ökonomische Gut unterschied sich vom sittlich Guten durch die Möglichkeit, Werte in Zahlen auszudrücken. Anders als die „Mäßigung“ der antiken Lehre, die sich nur ungenau bestimmen lässt, setzt die „Wertschätzung“ der Ökonomie Exaktheit voraus.12 Ihr Wertemodell beruht auf Flächen- und Gewichtseinheiten, Arbeitszeit und Transportwegen, Investitionen und Profitmargen, die sich im Preis einer Ware niederschlagen. Kennen Philosophen Mäßigung als Bereitschaft zur Zurückhaltung, ist Ökonomen Zurückhaltung, zumindest im Geschäftlichen, fremd. Denn die Steigerung von Effizienz und Gewinn setzt zwar ein genaues Maß voraus, verlangt aber die permanente Erhöhung des Messbaren, das in Diagrammen und Tabellen anschaulich wird. Profitierten Philosophen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gewissermaßen von der Ökonomie, zeigte sich die zeitgenössische volkswirtschaftliche Theorie wiederum offen für ethische Konzepte, die sie benötigte, um wirtschaftliches Handeln moralisch zu rechtfertigen und unbotmäßiges Verhalten zu sanktionieren. Um dem Ideal des freien Marktes Glaubwürdigkeit zu verleihen, wurde ein Verhaltenskodex benötigt, den die Ethik zur Verfügung stellte. Soll und Sollen, Schuld und Schulden, Gut und Gutes stehen zwar seit alters her in einem sprachlichen und ideellen Zusammenhang, doch erlangte ihre Verschränkung erst im Zeitalter der Aufklärung eine Bedeutung, die permanenten wirtschaftlichen Fortschritt, Innovation und individuelles Arbeitsethos in sich einschloss. Ethiker konnten ihrerseits nicht länger die Wirklichkeit einer von wirtschaftlichen Erwägungen dominierten Welt leugnen und standen vor der Aufgabe, den Status der Philosophie in einem

9Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], in: Werkausgabe, Bd. VII, 11–102, hier 68. Ein Einfluss von Adam Smith auf Kant ist hier nicht auszuschließen. 10Ebd.: „Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen M a r k t p r e i s ; das, was auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen A f f e k t i o n s p r e i s ; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allen etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. W ü r d e .“ 11Darauf weist u. a. Hans Jonas hin, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 5. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1987, 160. 12Nach Augenmaß zu handeln, ist der treffende Ausdruck für einen Annäherungswert, der je nach Situation neu bestimmt werden muss.

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von ökonomischen Prinzipien geleiteten gesellschaftlichen Umfeld zu begründen. Philosophen bedienten sich nicht einfach nur des begrifflichen Repertoires von Ökonomen, sondern waren dazu gezwungen, ihre Stellung als Deuter und Ideengeber gegenüber dem Primat der Ökonomie zu verteidigen. Ihre Anpassung an die bürgerliche Realität, die auf der Produktion von Wohlstand beruhte, bedeutete zugleich, dass sich Philosophen ökonomischen Maßstäben zu unterwerfen und ihre Daseinsberechtigung stets aufs Neue zu beweisen hatten. Zu keiner Zeit mussten sich Philosophen so sehr der Frage nach ihrer Berechtigung stellen, wie seit dem Aufkommen des Liberalismus, der Ökonomen die Aufgabe übertrug, jeden Lebensbereich auf Zweck, Effizienz und Gewinn hin zu prüfen.13 Universitäten sind bis heute davon betroffen, sich für ihre „unnützen“, wenig gewinnträchtigen und unpraktischen humanistischen Fachbereiche rechtfertigen zu müssen.14 Mochten die sogenannten Geisteswissenschaften Sand im Getriebe sein, so bildeten sie zugleich das moralische Rückgrat einer ansonsten allzu selbstgewissen ökonomischen Ordnung. Denn Industrialisierung, Kolonialismus und Globalisierung waren zu dem Zeitpunkt, da sich der Liberalismus im 18. Jahrhundert als Wirtschaftstheorie zu formieren begann und den Segen der Philosophen suchte, bereits historische Fakten. Da die ökonomische, und das heißt die instrumentelle, Vernunft der Neuzeit der antiken Idee des guten Lebens ebenso widersprach wie dem christlichen Ethos, das nach Andacht, Mäßigung und dem Dienst an der Gemeinschaft verlangte, kam der Philosophie eine Ventilfunktion zu. Sie lieferte im Wertbegriff einerseits ein ethisches Kleid für ökonomische Konzepte, hielt aber andererseits der Gesellschaft einen Spiegel vor. Den Humanwissenschaften gestand die Gesellschaft einen Platz im akademischen „Betrieb“ zu, sofern sie sich dem ökonomischen Wertekatalog des Bürgertums unterwarfen. Kulturkritik ist seither die „Bußpredigt des Kapitalismus“15, wie sie etwa der Hegel-Schüler Karl Marx 1859 mit seiner Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie vorlegte. Die gegenseitige Befruchtung von Ökonomie und Philosophie war kein Zufall. Den Leitfaden für die Verschiebung des Wertbegriffs vom wirtschaftlichen auf den

13Sommer:

Werte, 38, meint dagegen, die Philosophie habe den Wertbegriff der Ökonomen listig „gekapert“, ihn „ausgeweidet und neu gefüllt auf dem Spielfeld kultureller Hegemoniekämpfe platziert, um ihrem eigenen Interesse, nämlich säkularer Ethik Nachdruck zu verschaffen, optimale Überlebensbedingungen zu sichern […].“ Ökonomen haben indes ebenso sehr von der Übernahme ethischer Vorstellungen profitiert, um sich soziale Anerkennung zu sichern. Dass bei Ökonomen der ethische Wertbegriff heute nur seiner „Schein-, Neben- oder Nichtexistenz“ nach wahrgenommen werde (37), entspricht nicht den Tatsachen. 14Gegenargumente liefert Martha Nussbaum: Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities, erweiterte Aufl., Princeton: Princeton University Press 2016. 15Bolz: Das Konsumistische Manifest, 111. Allerdings sieht Bolz den Kulturkritiker durch „Culture Jamming“ einerseits – eine Form des subversiven Widerstands anti-konsumistischer Aktivisten, die sich die Kultur des „Mainstreams“ zu eigen macht, um sie bloßzustellen – und „Shopping als Lifestyle“ andererseits gefährdet, die durch geschicktes Marketing die Frage nach dem Sinn des Konsums unterdrückt (ebd.).

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ethischen Bereich stand unter dem Einfluss des Moralphilosophen Adam Smith, der 1776 mit seiner Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations ein Grundlagenwerk des Liberalismus vorgelegt hatte. Der wirtschaftliche Erfolg des Einzelnen bestimme nach Smith über das Befinden der Gesellschaft, egoistisches Streben entscheidet über den Wohlstand – besser: das Wohlergehen – der Nation. Ohne dass wir wüssten, wie wir der Gesellschaft nutzen würden, sorge der Markt dafür, dass sich Güter auf alle Menschen verteilten und so dem Einzelnen die Chance gegeben sei, am wirtschaftlichen Fortschritt teilzuhaben. Für die verborgenen Gesetze des Marktes, denen wir unseren Wohlstand verdanken, ohne ihr Wirken genau zu kennen, verwendete Smith die Metapher der „unsichtbaren Hand“.16 Es sei müßig, auf das Entgegenkommen anderer zu hoffen, wenn wir mit weitaus größerem Erfolg an deren Selbstliebe appellieren könnten. Wer glaubhaft zu vermitteln imstande sei, dass andere Menschen zu ihrem eigenen Vorteil handelten, während ihre Handlungen uns selbst zugutekämen, der erweise nicht nur sich selbst, sondern der Gemeinschaft einen Dienst.17 Smith brachte auf den Punkt, was schon während des späten Mittelalters und der Renaissance mit dem Aufstieg der ersten Handelshäuser begonnen hatte. Obwohl nicht sein Erfinder, war Smith durchaus ein Beobachter und Vermittler des Liberalismus und seiner moralischen Auswirkungen. Die schon 1759 erschienene Theory of Moral Sentiments sah Smith als sein Hauptwerk an. Es ging ihm zu Lebzeiten stets um erzieherische Maßnahmen, die vom Zwang zum Guten absähen und dennoch den Weg zum allgemeinen Wohl weisen würden. Da die menschliche Natur zum Eigeninteresse tendiere, suchte Smith diesen Trieb auf einen für die Gemeinschaft nützlichen Gehalt zu reduzieren: Wie ließe sich die von ihm beobachtete Steigerung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, der zunehmenden Arbeitsteilung und der Verbesserung von Produktionsabläufen auf das Allgemeinwohl anwenden, wenn der Mensch im Grunde nur an sich selbst denke? Seine Thesen beruhen auf Überlegungen zeitgenössischer Ökonomen, etwa diejenigen Adam Fergusons, die er in sein Werk bündig einarbeitete. Auch wenn sein moralischer Anspruch Anerkennung verdiente, sind bereits die Voraussetzungen, die Smith für akzeptabel erachtete, aus heutiger Sicht bedenklich: Rassismus, Ausbeutung, Kolonialherrschaft und ökonomische Ungleichheit, die einen fairen Wettbewerb nahezu ausschlossen. Dennoch wird Smiths Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations auch heute noch oft ohne Berücksichtigung der zu seiner Zeit maßgeblichen historischen Bedingungen gelesen und von Verfechtern des Wirtschaftsliberalismus als allgemeingültig erachtet. Die Selbstermächtigung des Individuums, wie sie Smith vorgeschlagen hatte, fand im deutschen Idealismus einen Niederschlag. Als Reaktion auf die politische Ohnmacht des Bürgertums in einem politisch restriktiven, in viele staatliche Einheiten zersplitterten Gebilde, propagierte Johann Gottlieb Fichte in seinen Vorlesungen über

16Adam

Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hg. von Roy Hutcheson Campbell und Andrew S. Skinner, 2 Bde., Oxford: Clarendon Press 1979, Bd. 1, 456. 17Ebd., 26.

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die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) einen D ­ ualismus von „Ich“ und „Welt“ (dem „Nicht-Ich“), das den Objekten ein Existenzrecht allein durch einen subjektiven Filter zugestand. Erst im Verbund gewänne dieses Ich als politisches Subjekt an Stärke, und so ist es kein Zufall, wenn sich Fichte später sowohl als Vordenker der nationalen Idee als auch als Ökonom einen Namen machte.18 Wie Fichte nahm auch Adam Müller in seinen Elementen der Staatskunst (1809) eine Gegenposition zu Smith ein. Müller baute auf die Gemeinschaft und lehnte sich gegen den von Smith propagierten Begriff der Nation als losem Konstrukt vieler um sich selbst sorgender Individuen auf: „Adam Smith sieht im Nationalreichtume weiter nichts als die Summe aller einzelnen Privatreichtümer und in der Nationalproduktion nichts als den Inbegriff aller Privatproduktion.“19 Das nationale Erbe müsse geschützt, bewahrt und als Grundlage für alles Wirtschaften erachtet, das Kulturgut als ökonomischer Faktor berücksichtigt werden. Müller rechnete daher neben „Reichtum, Land, Arbeit und Kapital“20 auch das „geistige Kapital“ zu den ökonomischen Produktivkräften des Landes: Wissenschaften, Künste, Literatur, „Bibliotheken und Akademien“.21 Nach modernen Begriffen spielte Müller symbolisches gegen materielles Kapital aus und nahm in seiner Forderung zugleich die Entwertung von Bildung, Geschichte und individueller Selbstbestimmung vorweg, die im Kapitalismus zur Norm wurde. Die Gegenüberstellung von geistigem und materiellem Gut, obwohl nie von überzeugender Eindeutigkeit, prägte das folgende Jahrhundert. Von Balzac bis Dickens, von Austen bis Dostojewski, von Flaubert bis Fontane widmete sich die europäische Literatur der Darstellung eines Kultur lediglich als Dekoration erachtenden Großbürgertums auf der einen Seite und eines von Dünkeln gegenüber dem geist- und geschmacklosen Geldadel geprägten Bildungsbürgertums auf der anderen Seite. Wo der Gegensatz von Kultur und Kapital in den Vordergrund rückte, bewahrte sich auch die Erinnerung daran, dass beide Bereiche stets aufeinander bezogen bleiben. Während der Romantiker Müller die Antwort auf den zerstörerischen Charakter des Geldes im Nationalstaat sah, suchte sie der Klassiker Johann Wolfgang Goethe in der ästhetischen Form und der Produktion von Zeichen. Beide reagierten auf die radikalen Umwälzungen, die mit der Französischen Revolution verbunden waren. Sah sich Müller als der Jüngere im Widerstand gegen die staatliche Neuordnung, die mit der von Napoleon Bonaparte angeordneten Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1805 begann und sich in der Besetzung weiter

18Johann

Gottlieb Fichtes Der geschlossene Handelsstaat erschien im Jahr 1800, in: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, bislang 42 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1962–2012, Teil 1, Werke, Bd. 7, Werke 1800–1801, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1988, 1–141. 19Adam Müller: Elemente der Staatskunst, in: Vom Geiste der Gemeinschaft. Elemente der Staatskunst. Theorie des Geldes, zusammengefasst und eingeleitet von Friedrich Bülow, Leipzig: Kröner 1931, 1–238, hier 169. 20Ebd., 214. 21Ebd., 220 f.

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Gebiete durch das französische Militär, der Einführung des Code Civil und den Stein-Hardenbergschen Reformen fortsetzte, so richtete sich Goethes Hoffnung, wie diejenige Friedrich Schillers, auf Befriedung durch Kunst und Literatur. Über die Rolle des Geldes im heraufziehenden Zeitalter des Liberalismus machte sich Goethe keine Illusionen. Schon der Titelheld seines ersten Romans verwies auf die Doppelnatur eines Namens, der Ethik und Ökonomie in sich aufnahm. Die Leiden des jungen Werthers erschien 1774 und endete mit dem Freitod des unglücklich Verliebten. Werther stilisierte sich zur Christusfigur, um sein Selbstopfer zu rechtfertigen. Der Komparativ – „werter“ zu sein als ein gewöhnlicher Mensch – steht im Widerspruch zu der bescheidenen Rollenfunktion, die dem Individuum in einer zunehmend auf Spezialisierung ausgerichteten, von ökonomischen Interessen geleiteten Umgebung zustand. Werthers Tod stellte Goethe folgerichtig als krankhafte Form der Selbsterhöhung in einer selbst wiederum von Krankheit befallenen Gesellschaft dar. Sein Selbstopfer können wir als Kompensation der Ohnmacht und Wertlosigkeit in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung erachten.22 ­Wilhelm Meister zieht in seiner Bildungsgeschichte dagegen andere Schlüsse. Seine von Goethe geschilderten Lehrjahre (1795/1796) enden mit der Abkehr vom romantischen Künstlerdasein. Wilhelm reitet seiner Bestimmung als Gutsverwalter entgegen und wird zum sozial verantwortlichen Unternehmer, das Ideal der Klassik mit demjenigen des Liberalismus verbindend. Nicht ohne skeptischen Unterton ist der Text eine Allegorie von der Macht des Marktes und des Geldes, die den Lauf der Geschichte und die Entwicklung der Gesellschaft bestimmten. Nach Auffassung der Klassiker besteht „Wert“ indes im Bleibenden, das sich im ästhetischen Werk unmittelbar niederschlage, dadurch aber auch im ökonomischen Mehrwert, der in einem dauerhaften Einkommen besteht. Tatsächlich begann zeitgleich die literarische Moderne in Form des Buch- und Kunstmarkts, der sich von Mäzenatentum und herrschaftlicher Repräsentationssucht gelöst hatte und Schriftstellern wie Künstlerinnen ein vom Geschmack des Publikums abhängiges, von Verlegern und Händlern sanktioniertes Einkommen sicherte. Während Kultur sich gerade im Zeitalter der Klassik als dauerhaft und ewig vorstellte, war der Markt, den „klassische“ Werke zu ihrer Verbreitung benötigten, unzuverlässig und launisch. In den Künsten formierte sich daher der Widerstand gegen eine Kommunikationsform, die doch die materielle Grundlage ihrer Existenz bildete: diejenige des Geldes. Die Kräfte des Marktes mochten sich nicht beeinflussen lassen, vielleicht aber der Geschmack des Publikums, wie es Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) bezweckte. Zahlreiche

22Ausführlich hierzu Fritz Gutbrodt: „The Worth of Werther: Goethe’s Literary Marketing“, in: Modern Language Notes 110 (1995), 579–630. Der Ausstellungskatalog Goethe und das Geld. Der Dichter und die moderne Wirtschaft (hg. von Vera Hierholzer und Sandra Richter im ­Auftrag des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M: Frankfurter Goethe-Haus 2012 [zur Ausstellung Goethe und das Geld, 14. September–30. Dezember 2012]) listet die vielfältigen Seiten auf, die Goethe zur Auseinandersetzung mit einem Medium bewogen haben, das in vieler Hinsicht mit dem des Schriftzeichens verwandt ist.

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Abhandlungen über Schönheit, Grazie, Natürlichkeit, Baukunst, Malerei, Poesie und Dramentheorie erklärten um 1800, was für geschmackvoll zu gelten habe. Wer aber Geschmack zeigte, würde auch die Produkte jener Schriftstellerinnen kaufen, die bestimmten, was zu gefallen habe oder zu verwerfen sei. Dass ökonomisches Denken Eingang in die öffentlich akzeptierten Vorstellungen von Moral fand, führte Max Weber knapp 100 Jahre später auf die protestantische Tugendlehre zurück, die dem „Geist des Kapitalismus“ förderlich gewesen sei.23 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Übergang vom Begriffsfeld der Tugend auf den der Werte endgültig vollzogen und war zum festen Bestandteil im kulturellen Selbstverständnis geworden. Unter dem Einfluss Luthers und mehr noch Calvins hätten sich, nach Weber, religiöse Reformen an die Notwendigkeiten des beruflichen Alltags angepasst. In Abwandlung des antiken Mäßigungspostulats zählten zu den bürgerlichen Tugenden nun etwa auch wirtschaftliche Vernunft, Sparsamkeit, Effizienz und Fleiß. Von der Summe des Besitzes ließe sich, protestantischer Ethik zufolge, das Wohlwollen Gottes ableiten: Göttliches Heil bewiese sich im Diesseits, Reichtum bedeute Erlösung. Luthers Kritik hatte sich ihrerseits am Gewinnstreben der mächtigen und reichen katholischen Kirche entzündet. Der Ablasshandel, mit dem sich Sünder von Schuld freikaufen konnten, entsprach der engen Verbindung von Ökonomie und Religion – ein Ausweis irdischer Macht, an dem sich Luther zwar störte, ohne aber die gesellschaftliche Ordnung unter der Führerschaft von Aristokratie und Kirche grundsätzlich in Frage zu stellen. Die christlichen Tugenden der Armut und Nächstenliebe berührten die Institution der Kirche wenig, die für ihr Macht- und Gewinnstreben berüchtigt war. Die ökonomische Tradition des Katholizismus war durch unermesslichem Reichtum, den Prunk von Kathedralen und Abteien sowie zahlreiche ausufernde Ländereien hinreichend erwiesen. Kirchliche Institutionen, die allesamt den Anspruch erhoben, für das Seelenheil des Menschen verantwortlich zu sein, waren aus moderner Sicht florierende Unternehmen, deren „Firmenphilosophie“ in der Propagierung von Andacht und Bescheidenheit im Diesseits und der Belohnung im Jenseits, von Schuld und Sühne, Sünde und Vergebung bestand. Eine zum Ideal verklärte Armut steht im umgekehrten Verhältnis zum Reichtum etablierter religiöser Institutionen. Denn wer Armut predigt, sucht das Gute zu bemessen. In einer Ökonomie der Armut sind gute Taten das „Kapital“, das je nach „Investition“ – der Art und Wirkung, in der sich ethisch „richtiges“ Handeln „auszahlt“ – Prestige einbringt. Den Platz an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie sichern sich jene, die bereit sind, sich wie beim Potlatch – der Zusammenkunft nordamerikanischer Ureinwohner an der Pazifikküste – von ihren materiellen Gütern zu trennen, diese zu teilen, ja den weltlichen Dingen abzuschwören, um Menschen

23Max

Webers berühmte Studie Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus erschien in zwei Abschnitten im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20.1 (1904), 1–54, sowie 21 (1905), 1–110, im Folgenden zit. nach: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, in: Schriften 1894–1922, ausgewählt und hg. von Dirk Kaesler, Stuttgart: Kröner 2002, 150–226.

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für sich einzunehmen und die Götter zu beschwichtigen. Wer Besitz anhäuft, mag Anerkennung finden; wer aber Güter zu teilen versteht, wird bewundert. Deshalb konnte der im 4. ­Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebende Diogenes von Sinope einer überlieferten Anekdote zufolge Alexander den Großen mit der wenig respektvollen Erwiderung grüßen, er sei Diogenes, „der Hund“. Ein Hundeleben verdiente nach Auffassung der von ethischem Skeptizismus und Bedürfnislosigkeit geleiteten Schule der Kyniker (von altgr. „κύων“, „kýōn“ = „Hund“) höchsten Respekt. Im Mittelalter stellten die Bettelorden der katholischen Kirche dann die institutionalisierte Form einer Ökonomie des Glaubens dar, die im Armutsideal ihren Ausgang hat. Darin sah die etablierte Kirche eine Gefahr für ihr Glaubens- und Wirtschaftsmonopol und versuchte, die der Häresie bezichtigen Bettelorden auf dem Zweiten Konzil von Lyon unter Papst Gregor X. zu verbieten.24 Armut und Entbehrung, wie sie die Bettelorden vertraten, waren auf höchsten Gewinn ausgelegt: die Gunst Gottes. Der bekannteste unter diesen Orden ist nach Franz von Assisi benannt. Der Legende nach zog der Kaufmannssohn G ­ iovanni Battista B ­ ernardone nach inneren Krisen ein Leben in Armut nach dem Vorbild Jesu seinem bis dahin unbeschwerten Bürgerdasein vor. Bewunderung war im Mittelalter auch Eremiten sicher, die sich von der Gesellschaft abschieden und gerade deshalb wie Heilige verehrt wurden. Der Handel mit ihren Reliquien war ein einträgliches Geschäft. Die Bibel kennt zahlreiche Beispiele der Selbstaufgabe, um Höheres zu erlangen. Auf die Frage, wie sich das „ewige Leben“ erwerben lasse, antwortet Jesus einem Schriftgelehrten (Lk 10,25–37) mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der einem Verwundeten zu Hilfe kommt, nachdem andere an ihm vorübergegangen waren. Doch wie lassen sich Taten, wie lassen sich Worte nach ihrem Gehalt an Gutem bemessen? Wie viel Nächstenliebe ist genug, um ewiges Leben zu erlangen? Gilt die Rettung eines Menschenlebens weniger als das von vielen? Ist die Opferbereitschaft des reichen Philanthropen höher einzuschätzen als die geringe Spende eines Armen? Vor allem aber: Wer bestimmt, was zu wenig und was angemessen ist? Der innere Widerspruch des Homo oeconomicus zwischen ethischem Sollen und unethischem Handeln verstärkte sich in einer Phase des wirtschaftlichen und sozialen Wandels, in der das Bürgertum zunehmend die Zentren staatlicher Macht erobert hatte und in den Genuss gesellschaftlichen Ansehens gelangt war. Zwar schuf der umorganisierte Staat die Bedingungen, unter denen die Wirtschaft florieren konnte, doch sah er sich im 19. Jahrhundert allmählich zur Mäßigung des grassierenden Laisser-faire-Kapitalismus gezwungen, der die Ausbeutung des neu entstandenen Proletariats auf die Spitze getrieben hatte.25 Die Liberalisierung der Gesellschaft gewährte einen größeren Handlungsspielraum, individuelle Freiheiten

24Nur

eine kleine Gruppe von Orden wurde anerkannt, andere bloß geduldet: Dominikaner, Franziskaner, Kapuziner, Minoriten, Klarissen und, in Maßen, Karmeliten und Augustiner. 25Die Einführung der Kranken- (1883), Unfall- (1884) und Rentenversicherung (1889) fiel in die Regierungszeit des konservativen Reichskanzlers Otto von Bismarck, der sich den Forderungen der in Parteien und Verbänden organisierten Arbeiter lange Zeit widersetzt hatte und nur widerstrebend nachgab.

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bei der Berufswahl, des Wohnorts und des Partners, doch nur um den Preis wachsender Unsicherheit, sozialer Instabilität und individueller Entfremdung. Ohnehin blieb den meisten, in den Fabriken und im agrarischen Alltag darbenden Arbeitern keine Wahl, denn für sie ging es ums nackte Überleben. Ethische Werte dienten seit dem 18. Jahrhundert der Idealisierung dessen, was durch die Entstehung moderner Arbeitsverhältnisse verloren ging – soziale, religiöse und finanzielle Sicherheit –, und sie entlohnten zugleich für die Entbehrungen, die viele Menschen zu erdulden hatten. Die besser gestellten Mitglieder der Gesellschaft wurden durch den Glauben an Werte wiederum von einem schlechten Gewissen entlastet, das von der Ausbeutung ihrer Mitmenschen beeinträchtigt war. Arbeiter, die der Not, dem Hunger und der Armut auf dem Land zu entfliehen gehofft hatten, mussten indessen bald schmerzhaft erfahren, dass sie zum Lumpenproletariat in den Städten zählten und ethische Werte so schwankend waren wie die Werte der Märkte. Die Industrialisierung verlief nicht nur in Deutschland in Schüben und war durch starke Wachstumseinbrüche geprägt. Auch wenn der Bau der ersten Eisenbahnlinien in den 1830er Jahren eine Periode der steigenden industriellen Wirtschaftsleistung einläutete, verloren in vielen Orten Menschen ihre Arbeit, da sie von Maschinen ersetzt wurden. Andernorts schufen neue Produktionsmethoden, gerade in der Eisenwaren-, später vor allem in der Textil- und der Chemieindustrie,26 Verdienstmöglichkeiten, ohne dass dadurch das Heer der Arbeitslosen gänzlich aufgefangen werden konnte. In diese Zeit der Neuerungen, aber auch der Verelendung, der großen Verheißungen und bitteren Enttäuschungen, der Landflucht und gewaltigen Auswanderungswellen, der neuen Götzen und religiösen Zweifel fiel der Beginn der Wertphilosophie, die mit dem Namen Rudolf Hermann Lotze eng verbunden ist. Lotze hatte in seiner Metaphysik 1841 den Begriff des Wertes im philosophischen Denken verankert und als ethische Kategorie legitimiert.27 Zahlreiche Bücher zur Wertphilosophie kamen bis zur Jahrhundertwende auf den Markt. Wortführer des Faches wie Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und später Max Scheler, aber auch Historiker, Psychologen, Ärzte, Soziologen und Schriftsteller wie ­Wilhelm Dilthey, Wilhelm Wundt, Franz Brentano, Alexius Meinong, Christian von Ehrenfels, Hugo Münsterberg, Georg Simmel, Max Weber und Hermann Broch beteiligten sich zwischen 1870 und 1930 rege an der Suche nach den Ursachen und Ausformungen, Einflüssen und Wirkungen von Werten. Auf andere Weise hatte der weit über akademische Zirkel hinaus bekannte Friedrich Nietzsche den

26David

Blackbourn: History of Germany 1780–1914. The Long Nineteenth Century, 2. Aufl., Malden, Massachusetts, u. a.: Blackwell 2003, 135–170. 27Ob der „Terminus ‚Wert‘ als ein Schlüsselbegriff der Philosophie“ schließlich „erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts“ zu einem philosophischen Begriff wurde, wie Galewicz meint, erscheint fraglich, denn der Prozess begann schon im 18. Jahrhundert und fand zur Mitte des 19. Jahrhunderts, nämlich mit den Schriften Lotzes, einen ersten bedeutenden Niederschlag in der Wissenschaftsgeschichte, vgl. Wlodzimierz Galewicz: „Wert und Gut. Zum phänomenologischen Wertpluralismus“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990), 270–277, hier: 270.

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ethischen Wertbegriff einer Kritik unterzogen und Werte als religiös gefärbte, tief in der westlichen Kultur verankerte Vorurteile gekennzeichnet. Seine polemischen Analysen schienen die Philosophie von irrationalen Bestandteilen zu „säubern“, näherten sie damit aber, wenn auch ungewollt, den vernunftorientierten, zweckmäßigen Maßstäben der Ökonomie an. Vernünftig war die lange einstudierte Praxis der philologischen Analyse, die Nietzsches Vorgehen leitete, aufgrund ihrer Wurzeln in der Aufklärung.28 Zweckmäßig war sie, weil sie sich zum Ziel setzte, die Ursprünge von Texten und die verborgenen Bedingungen hinter ihrer Entstehung bloßzulegen. Damit bedienten sich Philologen jener Mittel, die das ökonomische Selbstverständnis des Liberalismus für sich reklamierte, und rationalisierten unbewusste Denkmuster. Ob die Ideen der Aufklärung den Liberalismus inspirierten oder umgekehrt der Liberalismus die Ideen der Aufklärung beförderte, ist dabei nicht immer eindeutig zu bestimmen. Von ihren Überzeugungen eingenommen, vergaßen die Akteure des Liberalismus leicht, dass in seiner ideologischen Variante, dem Kapitalismus, nach wie vor mythische und religiöse Strukturen zur G ­ eltung kamen, obwohl viele Ökonomen bis heute die irrationalen Züge der marktwirtschaftlichen Ordnung leugnen. Seine Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) bildete den Höhepunkt von Nietzsches Anwürfen gegen den Begriff der Werte, doch schon Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873) und die Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) waren von einer kritischen Einstellung gegenüber dem Wertediskurs geleitet. Aus dem Nachlass wurde ein Entwurf unter dem Titel „Umwertung aller Werthe“29 publiziert, den seine Adepten als eigentliches Ziel von Nietzsches Philosophie ausgaben. Es ist kein Zufall, dass Nietzsches „Streitschriften“30 die Öffentlichkeit nur wenige Jahre nach Marx’ ­erstem Band von Das Kapital (Bd. 1, 1867) erreichten. Die ökonomische und die ethische Deutung des Wertbegriffs verliefen nahezu parallel zueinander und blieben, wie erwähnt, stets aufeinander bezogen. Die philosophische Kritik am Wertbegriff zielte gleichermaßen auf dessen Ursprünge wie auf dessen ökonomische Präsenz. Die Gleichzeitigkeit von Glaubenspostulaten, ethischen Prinzipien und Ökonomie ließ sich gerade dann nicht mehr ignorieren, als sich ethische einerseits von religiösen, andererseits von wirtschaftlichen Wertbestimmungen zu befreien hofften. Die Schnittstellen von Ökonomie und Philosophie, Religion und Literatur, Ethik und Psychologie ­wurden sichtbar, als mit der schon während des Ersten Weltkriegs

28Die

Philologie entstand aus der Bibelkritik und aus dem Studium der alten Sprachen, vornehmlich in Göttingen durch den Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis und den Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne, Professor für Beredsamkeit und Dichtkunst. 29Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 11, Nachgelassene Fragmente. 1884–1885, Neuausgabe, München: Deutscher Taschenbuch Verlag sowie Berlin und New York: de Gruyter 1999, 218. Alle Werke aus dieser Ausgabe im Folgenden „KSA“ mit Band- und Seitenangabe, hier KSA 11, 218. 30Der Untertitel von Zur Genealogie der Moral (1887) lautete „Eine Streitschrift“, KSA 5, 245–412, hier 245.

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einsetzenden ­Inflation und dem von ihr verursachten Verfall monetärer Werte bis zum 15. November 1923 – dem Tag der Einführung der Rentenmark – auch die Klagen über den Verfall ethischer Werte an Lautstärke und Dramatik zugenommen hatten. War der Krieg der Beleg für einen umfassenden Verlust an inneren Überzeugungen und ethischen Normen, unterstrich für nicht wenige Zeitgenossen der Wandel von Moden und Vorlieben den Verfall an moralischen Prinzipien. So galten etwa für manche Zeitgenossen schon neue Musikstile wie der Jazz oder das selbstbewusste Auftreten von Frauen, die rauchten und Hosenanzüge trugen, als Zeichen des Niedergangs, während sie für andere ein neues, freieres Zeitalter ankündigten. Oswald Spenglers zweibändiges Monumentalwerk Der Untergang des Abendlandes kam zwischen 1918 und 1923 heraus, genau in jener Phase, als die revolutionären Unruhen nach Kriegsende in einen Bürgerkrieg umgeschlagen waren und die Hyperinflation ihren Höhepunkt erreicht hatte. Spengler mochte seinen Abgesang auf westliche Werte als kulturelle Bestandsaufnahme geschrieben haben; gelesen und begriffen wurde sein Werk jedoch im Kontext des materiellen Niedergangs – eine wesentliche Voraussetzung für seinen Rang als Bestsellerautor. Nur wenigen war in dieser Phase so viel Erfolg beschieden wie Spengler. Wer nach ethischen Werten rief, dem schmolzen im Laufe der Hyperinflation die Ersparnisse weg, wer ohne materielle Grundlage sein Leben fristete, sah über ethische Maßstäbe hinweg, um zu überleben. Not zwang zur Sicherung der Existenz, selbst wenn der eigene Körper das Gut war, das auf dem Markt feilgeboten wurde. Die Prostitution erreichte in der Nachkriegszeit ein kaum gekanntes Niveau.31 Verzweiflung und Trauma stand wiederum ein Hang zum Hedonismus gegenüber. Während Aufrufe zur Umkehr zu hören waren und religiöse Sekten großen Zulauf erhielten, war man gleichzeitig leichtfertig und zum Abenteuer bereit. Klaus Mann beschrieb in Der Wendepunkt (postum 1952 erschienen) den Totentanz der Kultur: „Der Dollar steigt: lassen wir uns fallen! Warum sollten wir stabiler sein als unsere Währung? Die deutsche Reichsmark tanzt: wir tanzen mit! Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen. Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte, pensionierte Monarchen (mit Fürstenabfindung) und pensionierte

31Widdig:

Culture and Inflation in Weimar Germany, zeigt am Beispiel der Prostitution, inwieweit Ökonomie, Inflation und Gewalt zusammenhängen: „There is little doubt that the inflation caused an increase in the already widespread prostitution that characterized most modern European capitals in the early twentieth century“ (212). Der drastische Anstieg illegaler Prostitution signalisiere, dass der Sexualakt als Währung galt (213). Widdig definiert Inflation als gewaltsamen Bruch zwischen Produktion und Konsumption: „An inflationary economy often provides full employment while the sphere of consumption runs havoc. The fluctuation of money requires people’s full attention; it relentlessly commodifies every aspect of life; it forces quick and instantaneous acts of buying. Thus, the crisis of inflation is conceptualized predominantly within a narrative of modernity that stresses the distributive and consumptive sphere“ (197).

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Studienräte (völlig abgefunden) – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Die Dichter winden sich in seherischen Konvulsionen; die ‚Girls‘ der neuen Revuetheater schütteln animiert das Hinterteil. Man tanzt Foxtrott, Shimmy, Tango, den altertümlichen Walzer und den schicken Veitstanz. Man tanzt ­Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. […] Ein geschlagenes, verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz. Aus der Mode wird die Obsession; das Fieber greift um sich, unbezähmbar wie gewisse Epidemien und mystische Zwangsvorstellungen des Mittelalters. Die Symptome der Jazz-Infektion, die Zeichen der hüpfenden Sucht lassen sich im ganzen Land bemerken; am gefährlichsten betroffen aber ist das schlagende Herz des Reiches, die H ­ auptstadt.“32 Die Zumutungen eines Marktes, auf den Intellektuelle mehr als andere angewiesen sind, beschrieb der Soziologe Alfred Weber, als das lange 19. Jahrhundert gerade zu Ende gegangen war. Sein Werk Die Not der geistigen Arbeiter (1922) befasst sich mit den Folgen des Ersten Weltkriegs und des Liberalismus für die Geisteswissenschaften. Nach mehr als hundert Jahren der Dichterverehrung, der Kulte um Künstlerinnen und Publizisten, des heroischen Status, den die Gesellschaft ihren „geistigen Arbeitern“ zugestanden hatte, war das „geistige Kapital“, das Adam Müller noch so vehement für die eigene Zunft reklamiert hatte, aufgebraucht. Die Inflation traf die Wegbereiter und Fürsprecher der Kultur, die Professoren und akademischen Räte, wissenschaftlichen Mitarbeiter und Doktoranden besonders hart. Während der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Phase des ökonomischen Niedergangs fiel der Wert der „geistigen Arbeit“ ins Bodenlose. Den Zuhörern seines Vortrags rief Weber ins Bewusstsein, wie sehr der eine Bereich vom anderen abhing und wie wenig der philosophische Begriff der Kultur für Dauer zu bürgen imstande war: „Rings um uns ein geistiges Sterben, das Eingehen von Zeitschriften und Zeitungen, die wachsende Schwierigkeit der Publikation wesentlicher geistiger Dinge; die Institute, von denen die geistige Arbeit mit lebt, die Bibliotheken, von großen Forschungsanstalten zum Teil nur noch durch freiwillige Gaben gehalten, von denen niemand weiß, wie lange sie fortgewährt werden können […]. Kurz, wir alle [befinden uns] inmitten eines Zustands, in dem das Geistige in der Sandwüste der ökonomischen Not zu versickern, blutleer und anämisch zu Boden zu fallen droht. Wir gehören noch zu den Glücklichen, die sich bisher durchgerettet haben; aber wir wissen, was um uns vorgeht. Es ist ein Leichengeruch den wir verspüren.“33 Ökonomie war zu diesem Zeitpunkt längst zu einem Glaubensprinzip geworden, wonach die Macht der Märkte Risiko belohnen, Verstöße sanktionieren, Hoffnung geben, Leben zerstören und wie ein Fatum über die Menschheit

32Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, hg. von Friedrich Knoll, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, 170. 33Alfred Weber: Die Not der geistigen Arbeiter. Erweiterte Fassung eines Vortrags vor dem Verein für Sozialpolitik, in: Alfred-Weber-Gesamtausgabe, hg. von Richard Bräu u. a., 10 Bde., Marburg: Metropolis 1997–2003, Bd. 7, Politische Theorie und Tagespolitik (1903–1933), hg. von Eberhard Demm, Marburg: Metropolis 1999, 601–639, hier 601 f. Weber führt im Folgenden Statistiken an, die den Rückgang der Gehälter und die drastisch gestiegene Arbeitslosigkeit in den Humanwissenschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts belegen.

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hereinbrechen würde. Ökonomisches Handeln ist seither der Inhalt des Daseins. Von ihren religiösen Wurzeln hat sich die Wirtschaft bis heute nicht befreit. Obwohl nicht mehr im Gewand organisierter Religion, ist ihr spiritueller Habitus allgegenwärtig. Sie befeuert unsere Sehnsucht nach Höherem, nach Magie, nach einem Mehr an Bedeutung, das der triste Alltag nicht hergibt. So beruht der Erfolg des ökonomischen Rationalismus nicht zuletzt auf dem Geschäftsmodell religiöser Glaubensgemeinschaften. Aktienkurse bilden eine Wunschwelt ab, ihre Schwankungen sind mitunter von Stoßgebeten und Panik an den Börsen begleitet, die existenzielle Abgründe erkennen lassen; ihre Steigerungsraten versprechen hingegen das Paradies auf Erden. Auf dem Markt der Informationen ist „Erlös“ mit „Erlösung“ gleichzusetzen – dem ökonomischen Ursprung des Wortes entsprechend, der uns auch heute noch im Begriff der „Auslösung“ von Gefangenen begegnet. Die Verknüpfung von Glaube und Geld kehrt mit den modernen Informationstechnologien wieder an ihren gemeinsamen sakralen Ursprungsort zurück. Im Zeitalter von Big Data, Cloud-Computing, digitaler Vernetzung und permanenter Erreichbarkeit verselbstständigt sich der Traum von der Messbarkeit des „Guten“. Hier finden „Werte“ als Zahl, Ideal und Ware einen gemeinsamen Nenner. Jede Tat, jeder Besuch einer Website, jeder Aufenthaltsort lässt sich in ökonomische Beträge umrechnen und mit der Wirklichkeit unserer Wertvorstellungen abgleichen. Handlungen liefern mithilfe digitaler Instrumente Informationen, die sich unmittelbar in Zahlenwerte übersetzen lassen. Diese Zahlen verraten oft mehr über unsere Grundsätze und Haltungen, als wir zu glauben bereit sind. Obwohl bis auf Spezialisten kaum jemand die Funktionsweise der von uns verwendeten Instrumente versteht, sind sie zum Gegenstand unserer Verehrung geworden – Fetische religiösen Charakters, die wir vermissen würden, wären sie nicht längst schon zu ständigen Begleitern geworden. Die Kehrseite zweckrationalen Handelns ist der Wunsch nach dem Unerklärlichen und Einzigartigen, nach dem einprägsamen Erlebnis, wie es sich Menschen einst von der Begegnung mit Gott erhofft hatten. In den Goldenen Zwanzigern begann der Aufstieg von Stars durch Filme und Zeitungen, Werbung und Veranstaltungen. Begleitet wurde die Vergöttlichung einzelner Menschen von der Verherrlichung der Dinge. Konsumgüter erhielten ihren prominenten Platz neben den Stars in ebenjenen Medien, die zu ihrer dauernden Zurschaustellung beitrugen. Messen, Festspiele und Marketing-Veranstaltungen, die bereits im 19. Jahrhundert boomten und wenige Jahrzehnte später an Zahl und Intensität zunahmen, begleiteten die Fetischisierung von Menschen und Dingen, die an die Stelle der Götter und ihrer Symbole getreten waren. Durch Medien gewinnen Menschen den Status der Unberührbarkeit, denn sie sind unserem Zugriff entrückt. Luxusgüter erscheinen uns als unerschwinglich, während ihre Inszenierung gleichzeitig die Lust an der Berührung ins Unendliche steigert. Im Kauf und in einer täuschenden, durch Medien nur scheinbar vermittelten Nähe erschöpft sich jedes Faszinosum, das Dingen und Menschen anhaftet. Deshalb sind wir erstaunt, wenn wir erfahren, dass Stars auch nur Menschen und Konsumgüter lediglich Objekte sind, die in ihrem Wert rapide abnehmen, sobald sie zu unserem Alltag gehören. Ihr Zweck besteht in der Erzeugung des Wunsches nach Neuem. Konsum dient entsprechend als Ewigkeitsersatz, denn das Wünschenswerte bleibt stets

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u­ nerreichbar. Durch ihn verschiebt sich die Hoffnung auf Erfüllung und Erlösung auf ein unbestimmtes Morgen. Geld bildet den Zusammenhang von Ökonomie und Religion ab. Es ist Zeichen ohne Bezeichnetes, Zahl ohne Bedeutung. Erst im Tausch erfüllt sich seine Bestimmung, so wie sich ethische Werte erst im Akt des Wertens – im Urteilen – zeigen. Die Möglichkeit zum Tausch ist dem modernen Menschen zum Sinnersatz geworden. Denn wer viel Geld hat, wird nicht zögern, seinen Wert in Statussymbolen auszustellen. Wenn es um Status, Repräsentation, ja um Wertschöpfung und Wertanalysen geht, dann ist „Wert“ eine quantitative Vergleichsgröße im Wettbewerb um soziales Prestige. Mit von Vernunft geprägten Grundlagen des Handelns hat dieser Wettbewerb um Güter und Ansehen, der sich im Werturteil vollzieht, kaum etwas zu tun. Vielmehr müssen wir von einem „Spektakel der Unvernunft“34 ausgehen, das die selbst erzeugten Krisen und zur Hysterie neigenden Booms wird erklären können. Gerade wegen der Unwägbarkeiten des Marktes nehmen die Wirtschaftswissenschaften die Stelle einer „Glaubenslehre unserer Tage“35 ein, die das Dogma von der Rationalität ökonomischer Gesetze in die Welt tragen – Ökonomie sei rational, irrational dagegen handelten lediglich Menschen, die an ihr teilhaben. Ähnlich einer Theodizee, meint Joseph Vogl, sei Ökonomie zum Schicksal und zur Hoffnung geworden, habe damit aber die Funktion einer „liberalen oder kapitalistischen Oikodizee“ erhalten.36 Sie kann der „Rätselfrage nicht ausweichen, ob und wie scheinbare Irregularitäten und Anomalien mit einer vernünftigen Einrichtung ihres Systems korrespondieren, welche Ereignisse mit welchen anderen Ereignissen gemeinsam möglich und also kompossibel erscheinen, ob, wie und welche Gesetzmäßigkeiten sich darin artikulieren und wie die bestehende ökonomische Welt die beste aller möglichen sein kann.“37 Von seinen Lehrern Georg Simmel und Max Weber beeinflusst, sprach Walter Benjamin schon vor 1921, als die Wirtschaft in einer tiefen Krise steckte, vom „Kapitalismus als Religion“.38 In einer Sammlung von Fragmenten unter dem Titel Einbahnstraße (1928) zog er schließlich die Auswirkungen der Inflation auf den Menschen in Betracht. „Kaiserpanorama“ heißt einer der darin enthaltenen Prosatexte. Als Kaiserpanorama bezeichnete man ein seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beliebtes Unterhaltungsmedium, das bis zu 25 Besuchern gleichzeitig erlaubte, Bildserien durch Gucklöcher zu betrachten. Benjamin spricht in seinem Text von einer „Reise durch die deutsche Inflation“. In einer Zeit der monetären

34Vogl:

Das Gespenst des Kapitals, 7. 21. 36Ebd., 29. 37Ebd., 28 f. 38Vgl. Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf ­Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitarbeit von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, 7 Bde., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1972–1989, Bd. IV, 100–103. Die genaue Datierung des Fragments lässt sich nicht angeben, muss aber vor 1921 liegen, vgl. ebd., 690. 35Ebd.,

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Entwertung und des Verlusts an Gütern seien „die Erscheinungen des Verfalls […] das schlechthin Stabile.“39 Mit der individuellen Notlage befasst, gerate den Menschen ihre Verbindung mit sozialen und ökonomischen Vorgaben aus den Augen: „Der blinde Wille, von der persönlichen Existenz eher das Prestige zu retten, als durch die souveräne Abschätzung ihrer Ohnmacht und ihrer Verstricktheit wenigstens vom Hintergrunde der allgemeinen Verblendung sie zu lösen, setzt sich fast überall durch. Darum ist die Luft so voll von Lebenstheorien und Weltanschauungen, und darum wirken sie hierzulande so anmaßend, weil sie am Ende fast stets der Sanktion irgendeiner ganz nichtssagenden Privatsituation gelten. Eben darum ist sie auch so voll von Trugbildern, Luftspiegelungen einer trotz allem über Nacht blühend hereinbrechenden kulturellen Zukunft, weil jeder auf die optischen Täuschungen seines isolierten Standpunktes sich verpflichtet.“40 Märkte benötigen keine Moral, solange die Spielregeln beachtet werden. Das „Spiel“ der Märkte zielt auf die Mehrung von Profiten. Als Profit zählt auf den virtuellen Märkten der postdemokratischen, postindustriellen, posthumanen und postliberalen Gesellschaft nicht nur die Aufmerksamkeitsquote, sondern die Menge an Informationen, die im gegenseitigen Tausch erwirtschaftet wird. Konzerne, die über unsere Daten verfügen, erscheinen uns als allmächtig. Wie Götter kennen sie unsere Vergangenheit und wissen recht genau um unsere Zukunft. Wir verehren und verfluchen sie. Sie haben Kultstatus, denn sie versprechen, uns zu dienen, sofern wir ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen zustimmen und ihnen unsere Daten überlassen. Auch wenn uns diese „Götter“ nicht wohl meinen, dienen wir ihnen und verhelfen ihnen zu Einfluss und Reichtum. Die „Paradoxie des Glaubens“ an ihre Macht besteht indes gerade darin, dass sie „zum Schwindel, zum Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts und seine Irrationalität zur rationalen Veranstaltung in der Hand der restlos Aufgeklärten“ geworden ist.41 Zum „Schwindel“ waren schon den Menschen während der Inflation nahezu alle Zeichen geworden. Hatte einst Geld das Wort als Leitmedium abgelöst,42 so standen mit dem Medium des Geldes nun auch die sprachlichen Zeichen zur Diskussion, mit denen Werte zum Ausdruck kommen. Avantgarde-Bewegungen begannen daher, mit Zeichen, Buchstaben und Worten zu experimentierten, erdachten, wie Hugo Ball und Kurt Schwitters, Lautgedichte und gaben sich Namen, die radikale Veränderungen der ästhetischen Wahrnehmung oder, wie im Falle Dadas, die

39Walter

Benjamin: „Einbahnstraße“, hg. von Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug, in: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv, Bd. 8, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2009, 21. 40Ebd., 25. 41Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, 20 Bde., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1970–1986, Bd. 3, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1981, 37. 42Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, 3. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1998, 26.

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Sinnlosigkeit der Welt andeuteten: „Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.“43 Der „Unsinn“ der Dadaisten war ein Ausdruck des Protests gegen eine Werteordnung, die sich als ungültig, unzureichend und unerträglich erwiesen hatte. Diesem Protest ging es aber um mehr: um die Natur von Zeichen schlechthin, ihren Zweck und ihre Form. Denn nur so lassen sich Werte verstehen – als Zeichen, die aus Konventionen hervorgegangen sind, Veränderungen unterliegen und ein System gegenseitiger Verweise bilden.

43Tristan Tzara u. a.: Dadaistisches Manifest [1918], in: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart und Weimar: Metzler 1995, 145–147, hier 146.

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Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

Theorie als Medium Man könnte meinen, Max Schelers Werteskala ginge auf seine persönlichen Erfahrungen zurück. An Affären und Skandalen hatte es seinem Leben nicht gemangelt. So musste die Philosophie herhalten, um Ordnung im privaten Chaos zu schaffen. Sein mehrbändiges Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik war eine Verteidigungsschrift, die den Nachweis von der Dauer und Hierarchie konkreter Werte erbringen wollte. Nach Auffassung ihrer Apologeten widerstehen Werte dem Wechsel von Herrschern und Moden. Sie gehen, nach dem Dafürhalten Schelers, aller individuellen Vorliebe und sozialen P ­ rägung voraus. Individuen erfüllten dann schlichtweg die Forderung einer vorab gegebenen, unveränderlichen Moral. Werte übernehmen, einer solchen Logik zufolge, das Erbe des Absoluten, für das einst die Idee Gottes stand. Entsprechend meinte Scheler, Werte existierten apriori im Reich der Ideen, der Seele und des Göttlichen. Dass Begriffe wie „Idee“, „Seele“ und „Gott“ selbst Ausdruck bestimmter, anerzogener Werthaltungen sind, kam ihm nicht in den Sinn. Dinge, Handlungen und Einstellungen, verfocht Scheler stattdessen, seien das Resultat von allein im „Fühlen“ erfahrbaren Wertintentionen.1 In vier aufsteigenden Modi

1Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, in: Gesammelte Werke, hg. von Manfred S. Frings, 15 Bde., Bern und München: Francke 1954–1997, Bd. 2, 4. Aufl., hg. von Maria Scheler, Bern: Francke 1954, 80. Im Folgenden wird es darum gehen, auf die Originale von Philosophen zuzugreifen. Forschungsliteratur kann nur in begrenztem Maß berücksichtigt werden.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_3

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

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träten Werte in Erscheinung: zuunterst im Sinnlichen, dann im Vitalen, schließlich im Geistigen, das zur „reinen Wahrheitserkenntnis“2 führe, und schließlich im Heiligen, das die absoluten Gegenstände abbilde. Werte sind für Scheler Konstanten in einer sich verändernden Realität. Schon die symbolische Repräsentation von Werten ist für ihn der Beweis von Transzendenz: Werte gingen über die Erscheinungen hinaus, deuteten auf eine höhere, jenseitige Macht und garantierten für ewiges Leben. Durch den emotionalen Erkenntnisakt, das intentionale Wertfühlen, überwinde der Mensch die Entfremdung von seiner dinglichen, materiellen Umgebung und stelle die Verbindung zu einer vorab gegebenen, unveränderlichen und überzeitlichen Sphäre her. Schelers Werk ist deshalb zugleich der Versuch, der Philosophie die Hoheit über einen Wissensbereich zurückzuerobern, den sie längst an die Ökonomie, die materielle Seite von Werten, abgetreten hatte. Seine Wertphilosophie grenzt sich nicht nur vom Materialismus der Ökonomie ab. Sie verwirft auch die Weltanschauung der Naturwissenschaften, die mit Fakten und Tatsachen operiert und aus der Beobachtung allgemeine Gesetze ableitet. Im Titel seiner Schrift – der „materialen Wertethik“ – verweist ­Scheler auf den öffentlichkeitswirksamen Materialismusstreit der 1850er und 1860er Jahre, der mit einer Auseinandersetzung zwischen dem Göttinger Physiologen Rudolf Wagner und dem Gießener Zoologen Carl Voigt begonnen hatte. Wagner beharrte auf dem Christentum als Fundament der Naturwissenschaften. Voigt bestand darauf, dass sich das Geistige der Materie unterzuordnen habe. Erst mit der Schule des Neukantianismus fand der Streit zu einer Kompromissformel, die seither in mehrerlei Richtung wirkte. Die Rückbesinnung auf die Methodik Immanuel Kants sollte die Erkenntniskrise lösen, in der sich die Philosophie seit dem Ende des Idealismus befand. 1894 unterschied Wilhelm Windelband schließlich zwischen einer „nomothetischen“, das heißt naturwissenschaftlich-generalisierenden, und einer „ideographischen“, also historisch-individualisierenden Erkenntnisweise, die voneinander getrennt seien, ohne sich gegenseitig ihre Daseinsberechtigung streitig zu machen.3 Scheler meinte, dass seine Wertordnung nicht nur deduzierend verfahre, sondern fest in der Empirie verankert sei und daher beide von Windelband unterschiedenen Erkenntnisweisen miteinander verbinde. Er berief sich dabei auf einen „Formalismus“, der mit der mathematischen Logik Gottlob Freges, aber auch der psychologisierenden Philosophie Wilhelm Wundts4 und schließlich der Phänomenologie Edmund Husserls

2Ebd.,

128.

3Vgl. Wilhelm Windelband:

„Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaft“ [1894], in: Präludien, 2 Bde., 9. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 1924, Bd. 2, 136–160, hier 145. 4Wilhelm Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, 2 Bde., Stuttgart: Enke, 1880–1883.

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an Popularität gewonnen hatte.5 Frege hatte in seiner Begriffsschrift (1879) eine, wie es im Untertitel heißt, „der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens“ vorgelegt,6 die für die Mathematik wegweisend sein sollte, während Husserl auf Kants methodische Erkenntniskritik zurückzugreifen wusste. Wenn die Dinge an sich, wie Kant nachwies, unerkennbar bleiben, rücken notgedrungen die Aussagen über die Erscheinungen selbst in den Mittelpunkt der Philosophie. Husserl geht nun davon aus, dass zwischen der Welt und unserem Bewusstsein ein unmittelbares Verhältnis besteht, denn nur durch unsere Wahrnehmung erhalten wir einen „Begriff“ von den Dingen, in den „Sachen“ wiederum liege der Schlüssel für das Verständnis unserer Erkenntnisfähigkeit. Um unsere Begriffe von den Dingen zu analysieren, bedürfe es daher einer neuen Methode, die sich an der Logik orientiere und Aussagen über das Wahrgenommene auf ihre relative Wahrheit hin analysiere. Verstünden wir, wie sich unsere Ideen in Sprache und wie sich Sprache in Ideen verwandeln, näherten wir uns wiederum der „realen“ Welt der Dinge an, die nach Husserl – ebenso logisch wie paradox – mit unseren Begriffen verbunden sei. Worum handelte es sich bei Schelers Theorie der Werte, was sollte durch sie erklärt, was vermittelt werden? Zweifellos nahm Scheler eine Zwischenposition ein, und zwar in mehrfacher Weise. Beeinflusst vom Neukantianismus Windelbands und Heinrich Rickerts, vom Neufichteanismus seines Lehrers Rudolf Eucken und von der Phänomenologie Husserls, suchte er nach logischen Bestimmungen von Werten. Sollte nach phänomenologischer Maxime jegliche Vorannahme ausgeschlossen werden, indem die Analyse der sprachlichen Äußerungen ins Zentrum zu rücken habe, stellt die neue Anschauung von „Wahrheit“ indes weniger einen radikalen Bruch mit der Tradition als eine Beschränkung transzendentaler Vorstellungen auf das Gesagte und den Akt des Sagens dar. Gerade der von Scheler verehrte Eucken hatte eine philosophische Sicht wieder gesellschaftsfähig gemacht, die dem Formalismus der logischen Schule zuwiderlief. Durch die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Methoden setzte sich Scheler Angriffen von zwei Seiten aus. Die Transzendentalisten um Eucken machte er glauben, sein „Formalismus“ erlaube, hinter den Vorhang

5Will

die Phänomenologie, nach einem Ausspruch Husserls, „zurück zu den Sachen“, so wendet sich die analytische Philosophie der medialen Vermittlung der „Sachen“ durch die Sprache zu. Anders als Rudolf Eucken, hielten Philosophen sowohl der Phänomenologie wie der analytischen Philosophie den vorherrschenden Hegelianismus für metaphysische Spekulation. Beide Strömungen müssen als Protestbewegungen verstanden werden, die das philosophische und mit ihr auch das ökonomische Fundament auf eine logische Grundlage zu stellen suchten. Die Sprachkritik der analytischen Schule, wie sie von Charles Sanders Peirce, Bertrand Russell und George Edward Moore im englischen, Gottlob Frege und Rudolf Carnap im deutschen sowie Kazimierz Twardowski im polnischen Sprachraum entwickelt wurde, zählt seither neben der Phänomenologie zu den führenden philosophischen Richtungen im 20. Jahrhundert. Ihre gemeinsamen Wurzeln haben beide in den Schriften Franz Brentanos, der unmittelbar auf Husserl, aber auch auf den logischen Empirismus des Wiener Kreises Wirkung hatte. Bei Wittgenstein traf sich dann der Einfluss Russells und Moores mit demjenigen Brentanos und Alexius Meinongs. 6Gottlob Frege: Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle: Louis Nebert 1879. Freilich spielt der Titel auf Kants Kritik der reinen Vernunft an.

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der Dinge zu blicken; den Phänomenologen um Husserl aber wollte er es gleichtun, indem er transzendentale Ideen wie „Seele“ und „Gott“ mit begriffslogischer Schärfe meinte beschreiben zu können. Tatsächlich war Schelers System zwar in sich schlüssig, beruhte jedoch auf Vorannahmen, die in der Philosophiegeschichte als „Axiome“ oder „Postulate“ bekannt waren. Axiome sind allgemeine, unmittelbar einsichtige Sätze, die sich aus der Empirie ableiten und keine Beweise verlangen – so falsch sie im Einzelnen auch sein mögen. Ihre Fragwürdigkeit machte sie vielen Philosophen suspekt und es dauerte lange, bis sich eine ernsthafte Beschäftigung mit ihnen abzeichnete. Voraussetzung dafür war die Einsicht in ihre Bedingtheit. Der Mathematiker David Hilbert erkannte etwa die Relativität axiomatischer Aussagen, knüpfte Bedingungen an sie und führte sie auf diese Weise dem philosophischen Denken wieder zu. Ein Axiomensystem könne nicht unmittelbare Evidenz sein, sondern müsse sich durch Konsistenz und Widerspruchsfreiheit auszeichnen.7 Es kann kaum überraschen, dass der Begriff „Axiom“ aus dem Altgriechischen „ἀξίωμα“, „axíōma“ = „Wertschätzung, Urteil, als wahr angenommener Grundsatz“8 in den Sprachgebrauch gefunden hat und, genau wie Werte, im Modus des Geltens vorgetragen wird. Axiome beanspruchen also „wahr“ zu sein, obwohl sie den Beweis für ihre Gültigkeit erst erbringen müssen. Innerhalb eines geschlossenen Systems sind sie jedoch nur dann plausibel, sofern dieses System seiner Gänze nach nicht um Anerkennung werben muss, sondern guten Gewissens vorausgesetzt werden kann. Das aber ist in Schelers Der Formalismus in der Ethik nicht der Fall. Ihrer mangelnden Verankerung in der Wirklichkeit wegen, erscheinen sie zur Bildung von Theorien für ungeeignet. Theorien beruhen stattdessen auf Theoremen. Der Widerspruch löst sich folgendermaßen auf: Theoreme sind logische Ableitungen, deren Ausgangsfragen durchaus Berechtigung haben. Axiome können dagegen nicht selbst Gegenstand der Philosophie sein, denn sie sind, nach Kant, „synthetische Sätze a priori“,9 die allenfalls Ansprüchen der Mathematik genügten. Jene seien „einer intuitiven, diese aber einer bloß diskursiven“ Gewissheit fähig.10 Es ist daher konsequent, wenn Hilbert mehr als ein Jahrhundert später in seinen Grundlagen der Geometrie (1899) vertritt, dass Axiome nicht für Aussagen stehen, sondern lediglich für Aussagenformen, also nicht von sich aus wahr oder falsch sein können. Unter Axiomen versteht Hilbert methodische Bausteine, mit denen Probleme beschrieben werden, nicht aber zentrale Aspekte einer Theorie oder Gegenstände der Analyse. Neu ist die Verwandtschaft von Philosophie und Mathematik nicht; und auch die Nähe von Aussage, Anschauung und Wahrheit stand von Anfang an im Blickpunkt beider akademischer Felder. Denn sind Theoreme sowohl nach Platon wie nach Aristoteles „das Angeschaute,

7Vgl.

David Hilbert: Grundlagen der Geometrie, Leipzig: R.G. Teubner 1899, 5–26. Prechtl: Art. „Axiom“, in: Metzler Lexikon Sprache, hg. von Helmut Glück, Stuttgart: Metzler 1993, 79. 9Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werkausgabe, Bd. III, 206. 10Ebd., 203. 8Peter

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das Dargebotene oder das Schauspiel sowie im übertragenen Sinn das geistig Angeschaute“,11 dann ist klar, dass philosophische Erkenntnisse nicht ohne Vorbedingungen des Anschauens, nicht ohne Axiome, man könnte auch sagen: nicht ohne Spekulation, auskommen. Gehen Axiome in Theoreme über – also in „Angeschautes“ und „Dargebotenes“ –, erscheint auch die Funktion von Theorien in einem anderen Licht. Ihre etymologische Bedeutung gibt Aufschluss über ihre Verwendung, wonach Aussagen über die Welt, über die Wahrheit oder Gott in einem relativen Verhältnis zum Anschauenden stehen. Theorien sind weit davon entfernt, Absolutes zu formulieren, ja der Begriff des Absoluten ist – wortwörtlich – rein theoretischer Natur: ein Gedankenexperiment. Theorien sind das Medium der Philosophie. Durch sie verständigen sich Philosophen, Wissenschaftlerinnen, Denkende untereinander. Anschauungen gehen nun der Sprache voraus und erhalten durch sie eine Form – sei es eine logische, mathematische oder konventionelle –, die der Kommunikation im sozialen Kontext dient. Sprachzeichen sind symbolische Darstellungen, die zwar, wie Cassirer wusste, auf das Denken zurückweisen:12 Wir denken in Symbolen, wie wiederum nur durch Symbole die Verständigung über das Gedachte möglich ist. Am Theoriebegriff erweist sich jedoch die Problematik, an der sich Philosophen seither abarbeiten: „Das deutsche Wort ‚Theorie‘ wird im 16. Jh. aus spätlat. ‚theoria‘ entlehnt, das seinerseits auf altgr. ‚θεωρία‘ (‚Anschauung‘, ‚Betrachtung‘, auch ‚Erkenntnis‘) zurückgeht.“13 Ist der Theoriebegriff an ein Verständnis von Anschauung geknüpft, muss darum nicht unbedingt auch Erkenntnis die Folge sein. Denn wenn sich über die Dinge an sich nichts sagen lässt, fallen Weltverständnis, Angeschautes und „Erkanntes“ in eins. Daher erachtet Kant den Begriff des Transzendentalen lediglich als Möglichkeitsbedingung des Denkens, um auf diese Weise Beobachtetes in Selbstbeobachtung zu überführen. Lotze hat aus Kants Kritiken erstmals in seiner Metaphysik, dann in ­seiner Logik (1843) und schließlich, in veränderter Form, in seinem System der Philosophie (2 Bde., 1874–1879) entsprechende Folgerungen gezogen. In der Philosophie „ist vor allem nicht mehr von einer k a t e g o r i s c h e n Emanation alles Denkbaren und Wirklichen die Rede, welches aus irgend einem Anfangspunkte, nur getrieben von dem dort enthaltenen Plane einer Entwicklung, aber ohne Beihülfe anderer Bedingungen hervorginge; die Form der Wissenschaft wird wesentlich h y p o t h e t i s c h . Sie erzählt nicht, was ist und geschieht, sondern sie bestimmt, was sein und geschehen muß, w e n n bestimmte Verbindungen gegeben sind […].“14 Auch wenn uns Wissenschaft glauben macht, sie finde unerschütterliche Gesetze der Natur, beruht sie doch nur auf Vorannahmen und einem Akt des Anschauens – eben auf Theorien.

11Mechthild

Dreyer: Art. „Theorem“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1123–1128, hier 1123. 12Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 13Gert König und Helmut Pulte: Art. „Theorie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1127–1154, hier 1127. 14Rudolf Hermann Lotze: System der Philosophie, 1. Teil, Drei Bücher der Logik, Leipzig: G. Hirzel 1874, 176.

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Was eine Theorie kennzeichnet, hat sich im Vergleich zur Antike erstaunlich wenig verändert. Daran erinnert der österreichische Physiker und Philosoph ­Ludwig Boltzmann. Für ihn ist die Rolle der Einbildungskraft von entscheidender Bedeutung: „Ich bin der Meinung, daß die Aufgabe der Theorie in der Konstruktion eines rein in uns existierenden Abbildes der Außenwelt besteht, das uns in allen unseren Gedanken und Experimenten als Leitstern zu dienen hat, also gewissermaßen in der Vollendung des Denkprozesses, der Ausführung dessen im großen, was sich bei Bildung jeder Vorstellung im kleinen in uns vollzieht. […] Der erste Ausbau, die stete Vervollkommnung dieses Abbildes ist nun die Hauptaufgabe der Theorie. Die Phantasie ist immer ihre Wiege, der beobachtende Verstand ihr Erzieher.“15 In umgekehrter Weise verfährt Rudolf Carnap, wenn er die Naturwissenschaft zu Rate zieht, um den Begriff der Theorie zu veranschaulichen. Vielmehr dienten Theorien der „Vermittlung zwischen dem Bereich der Wahrnehmung“ und der physikalischen Erkenntnis. Theorie verstand Carnap als „eine Art von Wörterbuch“,16 das sich beliebig zum Verständnis in beiden Richtungen verwenden lasse. Komplettiert würde dieses „Wörterbuch“ von einer zeitlichen Komponente – der „Beschreibung des physikalischen Zustandes der Welt“ zu „zwei beliebige[n] Zeitpunkte[n]“.17 Carnap, neben Moritz Schlick der wichtigste Vertreter des Logischen Empirismus, ging es um die Austreibung des „Geistes“ aus der Philosophie, den Verzicht auf alles Metaphysische, das Ende der Spekulation. Sein Ziel war es, wie einst Kant, zur „reinen Vernunft“ oder, wie Frege, zum „reinen Denken“ zu gelangen. Seine Lösung des Erkenntnisproblems war von genialer Einfachheit und ließ den Erkenntnishungrigen zugleich ratlos zurück: Wenn Wahrheit unerreichbar ist, so können wir zumindest analysieren, wie wir über „Wahrheit“ sprechen. Im Wiener Kreis, dem neben Carnap und Schlick zeitweise auch Wittgenstein angehörte, ist die Theorie zur Methode geworden, ohne gänzlich ihren Status als Anschauung verloren zu haben. Was den einen als Analyse unserer Erkenntnisbedingungen gilt, erscheint den anderen indes als Kapitulation vor den wichtigen Fragen des Seins, die nun lediglich noch als Fragen nach der Form des Aussagens über dieses Sein ein Schattendasein führten. Ob „Abbild“, „Wörterbuch“ oder Ideal: Theorien setzen Werturteile voraus, sei es in Form von erworbenen Ansichten und Stereotypen oder – um der Begrifflichkeit der Philosophie treu zu bleiben – von Postulaten und Axiomen. Die Grenze zwischen Vorurteil und Axiom ist nicht deutlich auszumachen, wie das Beispiel Max Schelers zeigt, denn seine Werttheorie gibt „Anschauungen“ wieder, die es überhaupt erst zu untersuchen gilt. Seine vermeintliche Analyse von Werten ist Parteinahme

15Ludwig

Boltzmann: „Über die Bedeutung von Theorien“ [1890], in: Populäre Schriften, Leipzig: Barth 1905, 76–80, hier 77. 16Rudolf Carnap: Über die Aufgabe der Physik, in: Kant-Studien 28 (1923), 90–107, hier 99. 17Ebd., 101.

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für das ihm Wünschenswerte. Wie alle Werte, verlangen seine Ordnungsvorstellungen nach Zustimmung. Der „Formalismus“, den Schelers Theorie propagiert, erschöpft sich bereits im Titel seines Werks, seine Werthierarchie spielt auf der Klaviatur der Metaphysik, die das Heilige zum höchsten Wert erklärt.18 „Anschauung“ ist bei Scheler Weltanschauung, wie wir aus den Schriften der Folgejahre wissen, denn ohne Werte, meinte Scheler, herrschten Chaos und Zügellosigkeit, gäbe es kein Gesetz und keine Kultur. Ohne Kultur wiederum regierte Barbarei. Die „richtigen“ Werte zu besitzen, wird bei ihm zur Gesinnungsfrage – ein gängiges Schema im Denken vieler deutscher Intellektueller, die den Kulturbegriff eng an den deutschen „Nationalcharakter“ gekoppelt sehen wollten. Wie viele Gleichgesinnte begrüßte auch Scheler den heraufdämmernden Weltkrieg, durch dessen „reinigendes Feuer“ die Ursachen für den Kulturverfall beseitigt würden. Seine wertphilosophische Denkart war dem pessimistischen Grundton des kulturellen Niedergangs verpflichtet. In Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1914), Der Krieg als Gesamterlebnis (1916) und Die Ursachen des Deutschenhasses (1917) erachtete er die Anwendung von Gewalt als Programm zur Auslöschung einer kapitalistischen Ordnung, gegen die sich bereits Der Formalismus in der Ethik gerichtet hatte. Kapitalismus und „Leben“ waren für Scheler unvereinbar. Den Krieg verstand er als Aufruhr gegen ein kaltes ökonomisches Kalkül, von dem die moderne Welt gegeißelt werde. Die „Feinde“ Deutschlands seien die „Freunde“ kapitalistischer Zügellosigkeit, der „utilitaristischen Prinzipien der englischen Kaufmannsphilosophie“ und des „Ökonomismus aller Geschichtsauffassung“.19 Hatte die Philosophie den Wertbegriff einst von der Ökonomie übernommen, so mündete er bei Scheler in Nationalismus und Chauvinismus, in Kulturkolonialismus und Überlegenheitsfantasien, gewiss aber nicht im „Heiligen“ wie es seine formale Wertethik verlangte. Wer sich im Besitz der „richtigen“ Werte glaubt, wird der Gegenseite einen Mangel attestieren und auf andere herabschauen – ein Muster, dessen Gültigkeit allzu oft in politischen und philosophischen Debatten anzutreffen ist. Für Scheler ist Theorie in der Tat Spekulation und Ausdruck einer „Botschaft“, die von Glaubenshaltungen und Meinungen zeugt. Sie ist gewissermaßen das „reine“ Medium, da sie vermittelt, ohne Vermitteltes, überträgt, ohne auf Faktisches bauen zu können. Ließ sich Carnap von der Ansicht leiten, Logik sei Befreiung – eine „Botschaft“ anderer Art – verwandelte Scheler Logik in Rhetorik.

18Alle

Versuche Schelers, das Gegenteil zu belegen, münden in Behauptungen, die in Attributen wie dem der „Reinheit“ ihren Wunschcharakter verraten: „Unter den apriorischen Zusammenhängen können als (rein) ‚formal‘ jene bezeichnet werden, die von allen Wertarten und Wertqualitäten, sowie von der Idee des ‚Wertträgers‘ unabhängig sind und im Wesen der Werte als Werte gründen. Sie stellen zusammen eine reine Axiologie dar, die in gewissem Sinne der reinen Logik entspricht. Und ihr läßt sich wieder eine reine Lehre von den Werten selbst und von den Werthaltungen (entsprechend der logischen ‚Gegenstandstheorie‘ und ‚Denktheorie‘) scheiden“, Der Formalismus in der Ethik, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, 102. 19Max Scheler: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, 7–250, hier 36. Der Hoffnung, dass es mit diesem Kalkül zu Ende gehen möge, hatte Scheler schon 1914 in Die Zukunft des Kapitalismus zum Ausdruck gebracht. Die protofaschistische Struktur des Arguments lässt sich nicht ignorieren.

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Das Postulat der Wertfreiheit Als Theorie, die sich ausschließlich den Werturteilen widmet, hat sich die Axiologie etabliert. Axiologie leitet sich von altgr. „ἀξία“, „axia“ = „Wert“ ab und setzt die Tradition der Wertphilosophie auf der Ebene der Sprachanalytik fort. Anders als bei Scheler sind Werte in der Axiologie lediglich noch von relativem Rang. Wie der Logische Empirismus und andere, auf formale Kriterien verweisende Theorien ist sie dem Prinzip der Rationalität verpflichtet.20 Rationalität ist wiederum ein Kind der Ökonomie. Denn was im 18. Jahrhundert das Banner der Aufklärung trug, galt als Parole des aufstrebenden, wirtschaftlich unabhängigen, „vernünftig“ handelnden Bürgertums. Den Grundstein hatten religiöse Bewegungen gelegt, vornehmlich der Protestantismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen: dem Puritanismus, Calvinismus und Pietismus. Max Weber hatte die „Rationalisierung der Lebensführung“21 durch Arbeit und Enthaltsamkeit etwa im Sinne des Puritanismus erklärt und gezeigt, wie sich der Begriff der Vernunft im Lauf der Zeit in ökonomische Zweckrationalität verwandelt hatte und dem Ideal der Profitmaximierung Vorschub gab. Die logische Methode Husserls erlaubt der Wertphilosophie, sich bis heute in der Axiologie zu behaupten, einem Bereich der Ethik, der sich in einen formalen und einen materialen Bereich aufspaltete. Die formale Axiologie untersucht die Voraussetzungen des Wertdenkens, ihre materiale Seite richtet sich auf die Anwendung von Werturteilen in konkreten Handlungen. Scheler bezog sich auf Franz Brentano, wenn er „Axiome“ als „das Verhältnis des Seins zu positiven und negativen Werten a priori“ meinte bezeichnen zu können. Nach Scheler sei die Existenz eines positiven Wertes ein positiver, die Existenz eines negativen Wertes entsprechend ein negativer, die Nichtexistenz eines positiven wiederum ein negativer und die Nichtexistenz eines negativen hingegen ein positiver Wert.22 Die Axiologie entgeht dem Verdacht der Gebundenheit an konkrete Werte in ihren eigenen Aussagen durch einen einfachen Trick: Sie konzentriert sich auf die kognitiven Voraussetzungen des Wertens – und nicht der Werte – und seiner im Sprachgebrauch „natürlich gegebenen“, „intuitiven“, „emotionalen“ Seiten. Gerade sprachanalytische Untersuchungen von Werten verkennen hingegen ihre eigenen Voraussetzungen, denn nicht einmal die Wahl der Methode ist frei von Werturteilen. Kein noch so logischer Ansatz kann sich dem Nachweis von Wertvorstellungen entziehen, der die wissenschaftliche ­Analyse leitet.

20Durch

die sprachlogische Analyse den Fallstricken der Theorie zu entgehen, ist allerdings nicht möglich. Auch die formale Logik ist letztlich „Anschauung“, der zufolge der Theoriebegriff nach rationalen Gesichtspunkten zu betrachten sei. Von der analytischen Philosophie lernen wir allenfalls, dass „Theorie“ genau dann der Fall ist, wenn eine Menge T von Aussagen die Bedingungen von „Theorie“ erfüllen und jeder Satz, der aus T folgt, mit T in Verbindung steht. 21Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, in: Schriften, 201. 22Scheler: Der Formalismus in der Ethik, Bd. 1, 102. Scheler mochte an Franz Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig: Duncker & Humblot 1889, gedacht haben.

Das Postulat der Wertfreiheit

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Dennoch erklären Axiologen, nach welchen Kriterien wir Entscheidungen darüber treffen, was als gut und was als schlecht zu erachten sei. Am Beispiel der wertbesetzten Begriffe „Freiheit“ und „Gesundheit“ lässt sich indes leicht zeigen, welche Mühe die logisch-begriffliche Analyse von Wertentscheidungen bereitet. Ihrem Neutralitätsdogma entsprechend geht es Axiologen nicht um die Erklärung von Werten, sondern lediglich um deren Beschreibung. Doch schon die von ihr untersuchten Werte können unterschiedliche Bedeutungen haben. Allein die Tatsache, in einem Gemeinwesen zu leben, führt notwendig zur Einschränkung von Freiheiten, die wir akzeptieren, weil wir im Gegenzug dem Staat das Versprechen abnehmen, uns Infrastruktur, Bildung, Gesetze sowie Schutz nach innen und außen zu gewähren. Zu den Einschränkungen zählt ein gewisses Maß an Kontrolle und Einsicht in unser Privatleben, denn wir teilen Informationen über Wohnort, Ehestand, Religionszugehörigkeit oder die Anzahl der Kinder. Vor allem aber bezahlen wir für die Wohltaten des Staates durch die Abführung von Steuern. Freiheit verwandle sich unter diesen Bedingungen in Unfreiheit, werfen nun die unter dem Stichwort des „Neoliberalismus“ versammelten Befürworter „freien“ Unternehmertums und Gegner staatlicher Kontrolle ein. Freiheit, so relativ sie auch sein mag, könne nach neoliberaler Auffassung nur dann als solche erfahren werden, wenn der Staat auf ein Minimum reduziert, Steuern gesenkt und Wirtschaftssubjekten größtmöglicher Spielraum ohne Kontrolle und amtliche Regulierung gestattet würde. Ökonomischer Egoismus, heißt es dann im Sinne Smiths, komme dem Gemeinwohl zugute, individuelle Freiheit müsse als höchstes Gut erachtet werden. Axiologen setzen, ähnlich wie neoliberale Denker, bestimmte Begriffe – etwa denjenigen der „Freiheit“ – als absolut oder „intrinsisch“ voraus, als vorab gegeben und gewissermaßen voraussetzungslos. Die Frage, ob einem Gut ein „intrinsischer“ Wert beigemessen werden kann, verweist auf die Vermengung von ethischen und ökonomischen Gesichtspunkten in der Nützlichkeits-Debatte, die im 18. Jahrhundert Fragen nach der gerechten Verteilung von Gütern im neu entstehenden Liberalismus aufwarf. Unter dem Stichwort des Utilitarismus fand die Diskussion einige Jahrzehnte später in John Stuart Mills Verteidigungsschrift On Liberty (1859) einen Höhepunkt.23 Hier wird „Freiheit“ als unveräußerlicher Wert dargestellt, damit aber als „intrinsisch“ – vorab gegeben und aus sich selbst heraus

23Vgl.

John Stuart Mill: On Liberty, in: On Liberty with The Subjection of Women and Chapters on Socialism, hg. von Stefan Collini, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1989, 1–115. Ob es einen „instrinsischen“ Wert überhaupt gibt, ist in der Tat eine Frage, die den Essenzialismus der Wertphilosophie bis in die Gegenwart hineinträgt und den Utilitarismus für sich vereinnahmt, wie sich an Toni Rønnow-Rasmussens Überlegungen ablesen lässt: „Instrinsic and Extrinsic Value“, in: The Oxford Handbook of Value Theory, hg. von Iwao Hirose und Jonas Olson, New York: Oxford University Press 2015, http://www.oxfordhandbooks.com/ view/10.1093/oxfordhb/9780199959303.001.0001/oxfordhb-9780199959303-e-3?print=pdf (3. Dezember 2018). Auch Jonas Olsons Beitrag gibt Aufschluss über gegenwärtige Positionen: „Doubts About Intrinsic Values“, in: ebd., http://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/ oxfordhb/9780199959303.001.0001/oxfordhb-9780199959303-e-4?print=pdf (3. Dezember 2018).

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gerechtfertigt. Nützlichkeit und Werte sind seither gleichermaßen auf das Prinzip der Gewinnmaximierung zugeschnitten.24 Komplizierter wird es, wenn wir die Begriffe der Freiheit und der Gesundheit in ein Verhältnis setzen. Der Profit, den etwa der Handel mit Tabak, Alkohol oder Schusswaffen abwirft, steht unweigerlich im Widerspruch zur Gesundheit von Individuen in einem Gemeinwesen. Individuen sind durch diese Güter der Abhängigkeit preisgegeben, erkranken, sterben. Selbst ökonomische Argumente scheinen wenig zu fruchten, wenn ihre Nachteile gegen ihre vermeintlichen Vorteile aufgerechnet werden, um mit vernünftigen Argumenten ihr Verbot durchzusetzen. Wenn wir die Behandlung Süchtiger und die hohen Kosten, die bei Krankheiten im Zusammenhang mit Drogen anfallen, als auch die Kosten zur Heilung Verwundeter und Traumatisierter in Betracht ziehen, dann ist nicht einzusehen, weshalb der Staat weiterhin durch Steuern von der Verbreitung von gesundheitlicher Missstände profitieren sollte. Zwar gewährt der Staat die Freiheit zur Beschaffung von Tabak, Alkohol und Schusswaffen, doch schadet diese „Freiheit“ dem Gemeinwohl. Die Folgen sind beträchtlich. Wäre Gesundheit ein absoluter Wert, dem unbedingt Vorrang etwa über demjenigen der Freiheit einzuräumen sei, müssten Tabak, Alkohol und Waffen nach dem Gesetz des größten Nutzens für das Gemeinwesen verboten werden. Der Vergleich zwischen verschiedenen Kulturbereichen genügt, um die Relativität vermeintlich absoluter oder „intrinsischer“ Werte infrage zu stellen. Obwohl sich die Vereinigten Staaten von Amerika zu jenen Staaten zählen, die allen Menschen die gleichen Rechte und Freiheiten zusichern, ist hier der Besitz und in vielen Bundesstaaten auch das Tragen von Waffen, anders als in fast allen anderen westlichen Demokratien, durch die Verfassung geschützt. Freiheit wird in den USA mit dem Recht auf Waffenbesitz gleichgesetzt. Die Waffe ist das Symbol des Schutzes individueller Rechte gegenüber staatlichen Eingriffen. Bereits 2012 lag die Zahl der durch Schusswaffen ums Leben gekommenen Menschen mit über 33.000 höher als die Zahl

24In

gleichem Maß, wie die Axiologie aus der Ökonomie hervorgegangen ist, dient sie zur Quelle der Inspiration für ökonomisches Handeln. In der „Kosten-Nutzen-Analyse“ oder „Cost-­ Benefit Analysis“ (CBA) stellen Ökonomen beispielsweise den individuellen Nutzen dem der Allgemeinheit gegenüber und wägen den Preis eines Produkts gegen die Herstellungskosten ab. CBA ist zugleich ein Begriff der Politik, wenn etwa die Kalkulation der Kosten, die bei der Erzeugung von Strom durch erneuerbare Energien anfallen, zu politischen Entscheidungen führt. Ihren modernen Ursprung hat die CBA in den 1930er und 1940er Jahren, zu einer Zeit, als die Regierungspolitik in westlichen, freien Demokratien im Sinne marktwirtschaftlicher Erwägungen, aber auch in totalitären Regimen unter Anwendung von Zwangsmaßnahmen unter dem Eindruck ökonomischer Krisen das Modell des „Wohlfahrtsstaates“ hervorbrachte. Man spricht in der Fachliteratur von „New Welfare Economy“. Wirtschaftslenker sehen sich seither als Verteidiger des Allgemeinwohls, die einen für alle „vernünftigen Wert“ („Prudential Value“) erzeugen, vgl. Matthew D. Adler: „Value and Cost-Benefit-Analysis“, in: ebd., http:// www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780199959303.001.0001/oxfordhb9780199959303-e-18?print=pdf (3. Dezember 2018).

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der bei Verkehrsunfällen Gestorbenen, die auf ca. 32.000 sank25 – erschreckend hoch nicht nur im Vergleich zu Deutschland, wo 2014 820 Menschen ihr Leben durch Schusswaffen verloren haben, 70 durch Fremdeinwirkung, 750 durch Suizid (die Zahlen dürften sich in den Folgejahren kaum verändert haben).26 Die gefährlichsten Regionen der Welt liegen den Vereinten Nationen zufolge in Zentral- und Südamerika, mit Honduras, Venezuela und El Salvador an der Spitze, dicht gefolgt von Jamaika und Ländern im südlichen Afrika – Regionen, die anders als die USA mehrheitlich von politischer Instabilität gezeichnet sind. Viele der Waffen, die weltweit zum Einsatz kommen, um damit Menschen zu töten, stammen wiederum aus wirtschaftlich prosperierenden Staaten wie Deutschland und den USA.27 Auch nur danach zu fragen, ob wir es bei Begriffen wie „Freiheit“ und „Gesundheit“ mit „intrinsischen“ Werten zu tun haben, muss daher aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeit als naiv erscheinen. Keine Theorie ist wertneutral, am wenigsten jene, die sich als rational und objektiv ausgeben. Ihrer eigenen Voraussetzungen ungeachtet, beschränkt sich die Axiologie darauf, Werte in Relation zu setzen, ohne ihrer eigenen Voreingenommenheit Rechnung zu tragen. Sie imitiert vielmehr das System der Warenzirkulation, das sich in seiner Abstraktion – der Geldform – darstellen lässt. Als Äquivalent stellt Geld symbolische Bezugsgrößen zwischen Gütern und Dienstleistungen her. Axiologen fragen in ähnlicher Weise nach der Beziehung zwischen Wertbegriffen und geben ihnen eine Hierarchie und Ordnung. Ökonomie wie Axiologie stützen sich auf quantitative Maßeinheiten, um ihre Ergebnisse in verständliche Zeichen zu fassen. Gerade dort, wo Axiologen die Natur von Werten in den Blick nehmen, offenbaren sie ihre Abhängigkeit von ökonomischen Denkweisen, aus denen sie hervorgingen. Im Begriff des Wertes bekräftigte die Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert die Vorherrschaft ökonomischer Konzepte und machte ihn sich in den folgenden Jahrzehnten zu eigen. In der Axiologie hat sie das ökonomische Prinzip verinnerlicht und den Anpassungsprozess zu Ende geführt. Begonnen hatte dieser Anpassungsprozess im Anschluss an die Diskussionen, die Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations ausgelöst hatte. In Deutschland nahm beispielsweise Adam Müller in seinen Elementen der Staatskunst (1809) unmittelbar Bezug auf Smith. Schon zuvor hatte

25Adrienne Lafrance: „America’s Top Killing Machine“, in: The Atlantic, 12. Januar 2015, http://www.theatlantic.com/technology/archive/2015/01/americas-top-killing-machine/384440/ (3. Dezember 2018). Der National Safety Council schätzt dagegen, dass die Zahl der Verkehrstoten im Jahr 2017 bei rund 40.100 lag und führt den Anstieg unter anderem auf „distracted driving“, also die Verwendung von Smartphones während des Fahrens, zurück, vgl. National Safety Council: „2017 Estimates Show Vehicle Fatalities Topped 40,000 for Second Straight Year“, http://www.nsc.org/road-safety/safety-topics/fatality-estimates (3. Dezember 2018). 26Wolf Wiedmann-Schmidt: „Waffenland Deutschland“, in: Die Zeit Online, 16. Januar 2016, http://www.zeit.de/2014/04/waffen-deutschland (3. Dezember 2018). 27Vgl. die Angaben von World Trade Organization und Statista: Top 20 export countries worldwide in 2017 (in billion US Dollar), 2018, http://www.statista.com/statistics/264623/leading-export-countries-worldwide/ (3. Dezember 2018).

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

Johann G ­ ottlieb Fichte in Der geschlossene Handelsstaat (1800) eine Antwort auf das von Smith propagierte Modell eines „freien“, schrankenlosen, globalisierten Marktes gegeben. Die Übertragung des Wertbegriffs auf den Bereich der Ethik kann sich indes Lotze zugutehalten, der mit seiner Metaphysik 1841 die Wertphilosophie begründete. Mit dem Neukantianismus rückte die Wertphilosophie einige Jahrzehnte später zu einer humanistischen Leitwissenschaft auf, die sich Philosophen, Naturwissenschaftler, Psychologen und Mathematiker zu eigen machten. Anders als Kant, der Werte noch im ökonomischen Sinne verstand und von Gütern ableitete, führte Lotze Werte auf das subjektive Empfinden zurück. Im Gefühl fänden Werte Ausdruck. Wie später Scheler nahm schon Lotze einen absoluten oder unbedingten Wert an, der sich in der religiösen „Ahnung“ bekundet und in der „Idee des Guten“ wirksam werde. Das „Gute“ entfalte sich in der Wirklichkeit, die sich uns, dem platonischen Ideal gemäß, lediglich in seinen Erscheinungen zeige – Abbildern von höheren Prinzipien: „Wie die Ideen […] existieren Werte ewig.“28 Diesen Ewigkeitsanspruch zu verteidigen, nimmt die Wertphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts für sich in Anspruch. Vor allem die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus fand ihren ­Gegenstand in den Wechselwirkungen von wertendem Geist und bewertetem Sein. Wilhelm Windelband begriff die Philosophie schlechthin als „k r i t i s c h e Wi s s e n s c h a f t v o n d e n a l l g m e i n g i l t i g e n We r t e n “.29 In der Trias des Wahren, Guten und Schönen, die den Seelenvermögen des Denkens, Wollens und Fühlens entspreche, seien absolute Werte gegeben.30 Indem es alle Werte in sich zusammenfasse, komme dem „Heiligen“ eine Sonderstellung zu. Obwohl Windelbands Wertmodell der platonischen Lehre nahesteht, unterscheidet es sich von dieser durch das Vernunftprinzip: „Die Vorstellungen kommen und gehen; wie sie das tun, mag die Psychologie erklären: die Philosophie untersucht, welcher Wert ihnen unter dem kritischen Gesichtspunkte der Wahrheit zukommt.“31 „Wahrheit“ wäre demnach als Wechselverhältnis von Erfahrung und vorab gegebener „Idee“ zu betrachten. Sie ist gegenüber der Veränderung offen, auch wenn sie uns träge und unveränderlich vorkommt. Entsprechend können wir Windelbands Wertlehre als Versuch ansehen, „den konkreten Ideen gerecht zu werden, die den rationalen Gesetzen des Sollens zugrundeliegen“.32 Kann sich Transzendenz, Windelband zufolge, zwar auf die Wechselwirkung von Konkretem und Idealem berufen, kommt sie dennoch nicht ohne einen Rest an Unerklärlichem aus. Dieser „höhere“ Bereich ist dem Göttlichem vorbehalten – 28Annemarie

Gethmann-Siefert: Art. „Wertphilosophie“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstraß u. a., 4 Bde., Stuttgart und Weimar: Metzler 1995–1996, Bd. 4, Stuttgart und Weimar: Metzler 1996, 668–669, hier 668. 29Wilhelm Windelband: „Was ist Philosophie?“, in: Präludien, Bd. 1, 1–54, hier 29. 30Sven Schlotter: Art. „Wert. II. Kant bis Neukantianismus; Historismus; Psychologismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 558–564, hier 560. 31Windelband: „Was ist Philosophie?“, 25. 32Ferdinand Fellmann: Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg und München: Alber 1989, 22.

Das Postulat der Wertfreiheit

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eine Reminiszenz an Religion und Metaphysik. Im Zeitalter der Säkularisation verschob sich der Wunsch nach Übersinnlichem auf die Wissenschaften, die im Verbund mit der Technik vollkommen neue und unbekannte Horizonte eröffneten, einen unsichtbaren Kosmos durch Mikroskope und Röntgenbilder sichtbar machten, das Leben durch neue Transportmittel beschleunigten, und mithilfe von Kommunikationsformen wie dem Telegramm und dem Telefon Entfernungen mühelos zu überwinden halfen – Metaphysisches, das vom Physischen bestätigt wurde.33 Man sprach nun von „Wundern der Technik“ und pries die „wissenschaftlichen Genies“, einem Begriff, der aus antiken Kulten hervorging. Werte schienen für Gleichmaß in einer sich radikal wandelnden Umwelt zu bürgen. Philosophen reagierten auf die Veränderungen der Gesellschaft mit Erklärungen, die metaphysische Modelle in eine zeitgemäße Sprache übersetzten. Seither stellt der Wertbegriff einen Ersatz für Gott, Übersinnliches und Unfassliches dar. Die von Windelband und seinen Mitstreitern für die Philosophie beanspruchte Führungsrolle verhalf dem religiösen Empfinden zu einer zweiten, nun weltlichen Karriere. Die Frage nach der Erkenntnis absoluter Werte stand deshalb im Zentrum des Interesses, von dem sich der Neukantianismus leiten ließ. Das allen Menschen offenbar intuitive Handeln nach gewissen Wertvorstellungen musste sich vor allem gegenüber den im 19. Jahrhundert aufkommenden Naturwissenschaften behaupten. Denn während naturwissenschaftliche Erkenntnis allgemeine Gesetze aufgrund vorgefundener Tatsachen formulierten, vermuteten die Philosophen des Neukantianismus ihren Gegenstand geradewegs hinter den durch naturwissenschaftliche Gesetze bestimmbaren Phänomenen. Heinrich Rickert ersetzte bald die von Windelband getroffene Unterscheidung in eine „nomothetische“ und eine „ideographische“ Erkenntnismethode durch eine generalisierende und eine individualisierende. „Kultur“ erachtete Rickert dabei als die „Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein anerkannte W e r t e oder durch sie konstituierte Sinngebilde haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte g e p f l e g t werden“.34 Den Status „wissenschaftlicher Objektivität“ erhielten Werte – und mit ihnen Kultur – durch ihre Geschichtlichkeit. „Erkenntnis“ bedeutet in der Wertphilosophie Rickerts stets transzendierende, auf ein abstraktes Ziel ausgerichtete „K u l t u r a r b e i t “.35 Wertphilosophische Erwägungen im Sinne Lotzes, Windelbands, Rickerts und Schelers schließen vom Akt des Wertens auf Werte selbst. Die Philosophie der Werte bescheinigt den Kulturphänomenen ein Primat, ohne den Begriff des Wertes

33Christoph

Asendorf liefert hierfür das Standardwerk: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen: Anabas 1989. Vgl. auch ders.: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Weimar: VDG 2002. 34Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 5. Aufl., Tübingen: Mohr 1921 [erstmals 1899], 28. 35Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 5. Aufl., Tübingen: Mohr 1929 [erstmals 1896], 678 und 685.

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

zu erklären. Sie unterstellt Werten absoluten Rang, wo diese Werte erst Gegenstand der Erkenntnis sein müssten, und sie vermeidet Klarheit, indem sie auf ein platonisches Ideal zurückgreift: Was sich begrifflicher Eindeutigkeit verschließt, kann nur erahnt und gefühlt werden.36 Sich auf Werte zu berufen ist ihren Verfechtern selbst von Wert. Ihre Thesen erinnern an das Bekenntnis von Gläubigen einer religiösen Gemeinschaft, die in der gegenseitigen Bestätigung ihres Glaubens bereits meinen, einen Beweis für das Geglaubte zu haben. Theodor W. Adorno hat den Widerspruch der Wertphilosophie zusammengefasst: „Wertphilosophie, die […] abstrakt an sich seiende Werte postuliert, überantwortet sich dem Dogmatismus.“37 Unschwer lässt sich an Werten ein dogmatisch-religiöses Schema erkennen, an ihrem Sollen das Gebot, an ihrer Geltung das Heil und an ihrer Hierarchie die göttliche Ordnung, auf der sie angeblich beruhen. Geschichte erscheint den Philosophen des Neukantianismus eine Manifestation dieser Ordnung, Kultur ein Ausdruck ihrer objektiven Größe zu sein. Die historische Herleitung von Werten unterstreicht indes nicht etwa ihre Dauer, sondern ihre Veränderlichkeit. Denn die historischen Argumente, von denen die Wertphilosophen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgehen, folgen dem hegelianischen Lehrsatz der allmählichen Selbsterfüllung des Geistes. Noch die Widersprüche der menschlichen Entwicklungen – die Neigung des Menschen zu Gewalt, Massenwahn, Hysterie und Unmenschlichkeit – kann das hegelsche Geschichtsmodell in sich aufnehmen, indem es die Notwendigkeit des Negativen als Voraussetzung des Positiven erachtet: Ohne Übel kein Heil, ohne Leid kein Fortschritt. Nach dem dialektischen Modell des historischen Materialismus setzen sich apriorisch gegebene Werte durch, selbst wenn sie uns nicht zu Bewusstsein kommen und unethisches Handeln, Brutalität, Gewalt und Krieg den geschichtlichen Verlauf bestimmen. Werden Werte derart als intuitive Grundlage des Denkens vorausgesetzt, verwandelt sich Geschichtsschreibung in Ideologie, denn durch die historische „Erzählung“ verhärten sich vorab getroffene Urteile lediglich. „Wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt“, mahnte Weber daher in seiner Rede über Wissenschaft als Beruf (1919), höre „das volle Verstehen der Tatsachen“ auf.38 Dient Geschichte dazu, Werte zu begründen, dann blendet sie aus, was der Geschichtsschreibung vorausgeht. Beruhen Webers Hoffnungen

36„Der

philosophische Wertbegriff ist das Ergebnis einer Hypostasierung von Wertprädikaten, die Gegenständen oder Sachverhalten als Zeichen menschlicher Hochschätzung zugeschrieben werden. Von der Wertung wird auf einen Wert geschlossen, der als Quelle von Normen fungieren soll“, Großheim: Art. „Wert/Werte. Philosophisch“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8, 1467–1469, hier 1467. 37Theodor W. Adorno: „Einleitung zu Emile Durkheims ‚Soziologie und Philosophie‘“ [1967], in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 245–279, hier 259. 38Max Weber: „Wissenschaft als Beruf“, in: Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Horst Baier u. a., bislang 41 Bde., Tübingen: Mohr Siebeck 1984–2018, I. Abteilung: Schriften und Reden, Bd. 17. Wissenschaft als Beruf (1917/1919). Politik als Beruf (1919), hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, Tübingen: Mohr Siebeck, 1992, 70–111, hier 98.

Wertetyrannei von Nietzsche bis Schmitt

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auf der Forderung nach „Wertfreiheit“ und „Voraussetzungslosigkeit“,39 drückt sich darin indes nicht mehr aus als ein Wunsch, denn auch Webers Überlegungen sind von Werten geleitet, z. B. dem der Wertfreiheit. Ohne die Reflexion auf ihre von Werten dominierten Vorstellungen wird sich Geschichtsschreibung vergeblich daran üben, ihre Gegenstände von inneren Widersprüchen zu befreien. Bleiben die eigenen Voraussetzungen des Forschens und Schreibens unberücksichtigt, gerät sie zum Instrument jener Werte, die sie im Abgleich mit der Vergangenheit als veränderlich darstellen will. Nicht die Betrachtung der Fakten ist das bestimmende Element der Geschichtsschreibung, sondern die Frage danach, wie viel Zustimmung einer geschichtlichen Darstellung der Vergangenheit zuteil, wie überzeugend sie uns mitgeteilt wird. Mag höhere Zustimmung durch ein Mehr an Glaubhaftigkeit und Konsistenz erreicht werden, so knüpft sich die Durchsetzungsfähigkeit eines historischen Narrativs letztlich an ästhetische Maximen. Eine solche „Geschichte“ wird die Fiktionalität nicht leugnen können, die ihr zugrunde liegt. Gerade in dem Maß an Zustimmung, das eine geschichtliche „Erzählung“ erhält, treten wiederum die Werte der Geschichtswissenschaft zutage – Vergangenheit als quantitatives Prinzip. Zustimmung zu einer Idee, selbst wenn sie wenig mit der Wirklichkeit, viel hingegen mit Überzeugungskraft zu tun hat, schafft Gemeinschaft. Zu jeder Gemeinschaft zählen Dazugehörige und Außenstehende, Befürworter und Ablehnende, die, wie im wissenschaftlichen Disput, durch Grenzziehung ihre Position innerhalb oder außerhalb des jeweiligen Lagers aufzeigen. Transzendenz ist der Sinn von Gemeinschaften, unabhängig von der Idee, die sie leitet. „Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, daß er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, da alle Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurückwarfen und in sich verschlossen. Mit dem Abheben der Distanzlasten fühlt er sich frei, und seine Freiheit ist die Überschreitung dieser Grenzen.“40 Erst in der Gemeinschaft kommt die Verbindlichkeit von Werten zum Tragen, die solcherart auf die Vergangenheit ihre eigenen Wertvorstellungen spiegelbildlich zurückwirft.

Wertetyrannei von Nietzsche bis Schmitt Nietzsche maß dem Begriff der Werte eine besondere Brisanz bei. Dem akademischen Establishment gehörte er nicht an. Das eröffnete Spielräume. Wir können ihn weder dem Neukantianismus noch dem Transzendentalismus, weder dem Positivismus noch der Hermeneutik zurechnen. Gemeinhin wird Nietzsche 39Weber

spricht davon, dass etwa „auf der einen Seite ein gläubiger Katholik auf der anderen Seite ein Freimaurer“ nicht „zur gleichen Wertung“ kommen könnten, wenn sie religiöse Themen behandelten, während die Wissenschaft sich Wertungen zu enthalten habe: „Die im Sinne der Ablehnung religiöser Gebundenheit ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft kennt in der Tat ihrerseits das ‚Wunder‘ und die ‚Offenbarung‘ nicht. Sie würde ihren eigenen Voraussetzungen damit untreu“ (ebd., 98). 40Elias Canetti: Masse und Macht, 29. Aufl., Frankfurt a. M: Fischer 2003 [1960], 19.

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

mit der Lebensphilosophie in Verbindung gebracht, die auf ihn zurückgeht, ohne dass er ihr ausdrücklich angehört hätte. Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und Georg Simmel waren von seinen Schriften ebenso beeinflusst wie Max Scheler, Oswald Spengler und eine Reihe von Kulturpessimisten, die Nietzsche unterschiedlich und nicht selten gegensätzlich auslegten. Von allen Begriffen, die diesen Auslegungsmöglichkeiten zugrunde lagen, war derjenige des Wertes der vielleicht schillerndste. Die Wendung von der „Umwerthung aller Werthe“ taucht erst im Spätwerk Nietzsches auf, zunächst als Untertitel einer 1884 geplanten „P h i l o s o p h i e d e r e w i g e n Wi e d e r k u n f t “,41 dann im Sommer 1886 als Titelentwurf: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“.42 Erst mit der 1908 postum veröffentlichten autobiographischen Schrift Ecce Homo gelangte die Wortneuschöpfung Nietzsches zu größerer Prominenz und wurde bald zum Schlagwort: „U m w e r t h u n g a l l e r We r t h e : das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“43 „Selbstbesinnung“ bezieht sich dabei auf die moralischen Grundlagen des christlichen Abendlandes, die Nietzsche in der paradoxen Formel vom „Gott am Kreuze“ erkennt und als Resultat eines „Sklaven-Aufstandes“ der jüdischen Priesterkaste bezeichnet,44 von der sich das Christentum herleitet. Was in Jenseits von Gut und Böse (1886) anklang, präzisierte sich in der ein Jahr später erschienenen Genealogie der Moral. Nur durch einen „Akt der g e i s t i g s t e n R a c h e “, eine „radikale Umwerthung“ von den Werten der Herrschenden, habe sich das „priesterliche Volk“ Genugtuung verschaffen können.45 Befreiung von deren Moral lautet daher Nietzsches Programm, um an die „Stelle der m o r a l i s c h e n W e r t h e lauter n a t u r a l i s t i s c h e Werthe“46 zu setzen. Im „Übermenschen“, wie er sich in Also sprach Zarathustra (1884) ankündigte, erfülle sich das Schicksal der Menschheit – ein Überwinden ohne Ziel, ein Schaffen ohne Zweck, ein ständiges Werden und Vergehen: „Was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein U ­ ntergang.“47 „Umwerthung“ als eine Form des „Übergangs“ und „Untergangs“ war freilich Absicht, nicht Realität, der Begriff drückt einen Wunsch aus, nicht die Wirklichkeit. Bei Nietzsche, nicht anders als bei anderen Autoren, bringt der Begriff des Wertes einen

41Nietzsche:

Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, 218. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 109. 43Friedrich Nietzsche: Ecce Homo [1888 verfasst, postum 1908], KSA 6, 255–374, hier 365. 44Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse [1886], KSA 5, 9–243, hier 67. 45„Die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen […]“, Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 267. 46Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 342. 47Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra [1883–1885], KSA 4, hier 357. 42Friedrich

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Geltungsanspruch zum Ausdruck, der als Appell an eine „Gemeinde“ gerichtet ist. Die Forderung nach einer „Umwerthung der Werthe“ markiert nicht ihre tatsächliche Aufhebung, sondern lediglich eine Absicht. Mit der Forderung nach einer „Umwerthung“ wird der Wandel selbst zum Wert. Deshalb war das Werk Nietzsches den revolutionären Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, auf der rechten mehr noch als auf der linken Seite des politischen Spektrums, ein willkommener Bezugspunkt, denn Wandel heißt Veränderung, heißt Umsturz und Erneuerung, wie gewaltsam auch immer. Die „Umwerthung aller Werthe“ begründete Nietzsche mit dem Verweis auf das Leben. Sofern Werte aus der Moral abgeleitet werden, gehen sie auf die Trennung von einem diesseitigen Bereich der Erfahrung und einem jenseitigen der Ideen, eine physische und eine metaphysische Sphäre zurück. „Leben“ folgt dagegen keiner Trennung von Physis und Idee, wie sie im Platonismus und dem daraus abgeleiteten Christentum vorherrscht. Im Begriff des Lebens sah Nietzsche daher einen Weg zur Überwindung des Nihilismus, in den notwendig „jede rein moralische Werthsetzung“ münden müsse.48 Die Metaphysik des Abendlandes, wissen Philosophen seither, lässt sich nicht von der Idee des Nihilismus trennen, denn sie ist, wie Heidegger meint, „in ihrem Wesen das Ungedachte, weil vorenthaltene Geheimnis des Seins selbst“.49 Nietzsche ersetzt den Begriff der Metaphysik lediglich durch den des Lebens. Als Gegensatz zum „C u l t u s d e r C u l t u r “50 und zur positivistischen Geschichtsauffassung seiner Zeit tritt er in vielen Synonymen auf: dem Vitalen, Natürlichen oder Dionysischen. Nihilistisch wurde der Lebensbegriff indes, als er die „Verbesserung“ des Lebendigen in sich einschloss, um in Eugenik und Rassenwahn zu münden. Die rassistische Trennung zwischen „wertem“ und „unwertem“ Leben – von den Nationalsozialisten aufgegriffen, in Gesetze gegossen und auf grausame Weise durchgesetzt – zeigt das ethische Dilemma, in das die Reduzierung von Nietzsches Anschauungen auf einzelne Konzepte und isolierte Schlagworte führen muss. Die nationalsozialistische Ideologie stützte sich unvermittelt auf die von Nietzsche angeführten Ideale der Stärke, Reinheit, Größe und Macht, die ohne den Kontext seiner Philosophie leicht zu missbrauchen waren und sich in den Jahrzehnten nach seinem Tod verselbstständigt hatten. Getragen wurden derartige Ideale von der Erwartung auf das Kommende, angestoßen aber von einer Diagnose des Niedergangs und des Schwunds. War Kultur vielen Philosophen des 19. Jahrhunderts die Erscheinungsform absoluter Werte, so geriet sie im Zuge der „Umwerthung aller Werthe“ selbst ins Zentrum der Kritik. Kultur verstand Nietzsche geradezu als Eingeständnis der Schwäche und Auswuchs der von ihm kritisierten „Sklaven-Moral“.51 Die Geschichte der Skepsis gegenüber kulturellen Errungenschaften wird meist mit Jean-Jacques Rousseau in Verbindung

48Nietzsche:

Nachgelassene Fragmente 1885–1887, 318. „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, 265. 50Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches [1878–1880], KSA 2, hier 461. 51Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, 271. 49Heidegger:

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

gebracht, der Kultur ein idealisiertes Verständnis von Natur entgegenhielt. Im Naturzustand würden sich Vernunft und Tugend miteinander verbinden. Sich aus dem engen Korsett der Kultur und ihrem historistischen Verständnis zu befreien, ohne sich eines Gegenkonzepts bedienen zu müssen, war dagegen Nietzsches Absicht. Bei einem „gewissen Uebermaass“ des Geschichtlichen „zerbröckelt und entartet das Leben“, hatte Nietzsche schon 1874 in seiner Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben gewarnt. Seiner unmittelbaren Gegenwart attestierte er Anzeichen des Verfalls, da die Gesellschaft „das Leben in die kleinsten Gebilde zurückdrängt“: „Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung o d e r Feindschaft und Chaos […]. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“ Seine Epoche zeichne sich daher durch einen „Stil der décadence“ aus,52 der das bislang der Zivilisation vorbehaltene Künstliche und Naturferne sichtbar mache – ein Werturteil freilich, das von seinen Zeitgenossen dankbar aufgegriffen und geteilt wurde. Vielleicht nicht ihr Begründer, blieb Nietzsche dennoch die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die lauteste und einflussreichste Stimme des Kulturpessimismus. Symptome des Untergangs erkannten seit der Jahrhundertwende viele seiner Leser. Zu den bekanntesten können wir Oswald Spengler rechnen. Dessen monumentales geschichtsphilosophisches Werk Der Untergang des Abendlandes führt Nietzsche neben Goethe als Gewährsmann für eine „Morphologie der Weltgeschichte“ an, zufolge derer Kulturen als Organismen zu betrachten seien. Sie gehorchten den Gesetzen der Entfaltung, der Blüte und des Absterbens. Als lebendige Erscheinungsformen blieben sie auf ihr Ende gerichtet: „Zivilisationen sind die ä u ß e r s t e n und k ü n s t l i c h s t e n Zustände […]; sie folgten dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit […] als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein E n d e , unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer erreicht worden.“53 Spengler hat seine als Kulturvergleich angelegte Studie mit dem Anspruch geschrieben, Geschichte voraussagen, vielleicht sogar in ihren zukünftigen Ablauf eingreifen zu können.54 An der Gegenwart erkennt er nicht anders als Nietzsche die Spuren des Verfalls und benennt dessen Auswüchse: „Den Niedergang der Kunst, den wachsenden Zweifel am Werte der Wissenschaft; die schweren Fragen, welche aus dem Sieg der Weltstadt über das Bauerntum hervorgehen: die Kinderlosigkeit, die Landflucht; den sozialen Rang des fluktuierenden vierten Standes; die Krisis im Materialismus, im Sozialismus, im Parlamentarismus; die Stellung des einzelnen zum Staate; das Eigentumsproblem, das davon abhängende Eheproblem […].“55

52Friedrich

Nietzsche: Der Fall Wagner [1888], KSA 6, 9–53, hier 27. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., 68. Aufl., München: C.H. Beck 1923, Bd. 1, 41. 54Vgl. ebd., 3. 55Ebd., 64. 53Oswald

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Gegen Ende des Ersten Weltkriegs erschienen, traf Spenglers Werk den Nerv der Zeit. Die „Auswüchse“ der Moderne – Massenproduktion, Effizienzsteigerung und Taylorismus auf der einen, Politisierung, Pluralismus und die Herausbildung einer massenmedialen Öffentlichkeit auf der anderen Seite – führte Spengler auf den „Ty p u s e i n e r h i s t o r i s c h e n Z e i t w e n d e “ zurück, der einen ihr „s e i t J a h r h u n d e r t e n v o r b e s t i m m t e n P l a t z h a t t e “.56 ­Seines Elends und seiner Schrecken ungeachtet, erscheint ihm, wie auch Scheler und Simmel, der Krieg daher als notwendige Erneuerungsform und reinigendes Feuer, das dem Kommenden Platz schafft, indem es das Alte vernichtet. Spengler stand dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüber, verehrte jedoch den italienischen Faschismus. Mussolini verkörperte für ihn die von Theodor Mommsen zur Erklärung ins Spiel gebrachte politische Legitimationsform des Cäsarismus, wonach Stand und Familie durch Verdienst und Autorität ersetzen würden. Die Hoffnungen Spenglers richteten sich auf eine charismatische Führerfigur, die eine neue Epoche auf den Trümmern des Abendlandes errichten und Werte nicht etwa konservieren, sondern zuallererst schaffen würde. Sein antidemokratischer Impuls, seine Ablehnung der alten und die Beschwörung einer neuen, „ewigen“ Gesellschaftsordnung weisen ihn als Vertreter der konservativen Revolution aus: „Beim Nationalismus neuen Stils, der von sich behauptete, seine Feuertaufe im Kriege empfangen zu haben, verband sich die antidemokratische Gesinnung mit einer vehementen Ablehnung des Wilhelminismus, den man vorzugsweise mit dem Geist eines krassen Materialismus und Spießbürgertums identifizierte.“57 In ihrer Ablehnung gegen den überkommenen wilhelminischen Staat geeint und im Widerstand gegen die Errichtung kommunistischer Rätediktaturen geschult, beanspruchten Intellektuelle der konservativen Revolution den Begriff des Wertes ganz für sich. Die publizistische Besetzung des Wertbegriffs durch die neue nationalistische Bewegung unterband die Erörterung über das Wesen von Werten durch die simple Forderung nach neuen Werten. Dass die Rückkehr zu überwundenen Wertvorstellungen nicht möglich war, wussten die Mitglieder der konservativen Revolution. Mit Nietzsche ging es ihnen daher um eine „Umwerthung“, bei der sich Altes mit Neuem, Überwundenes mit Revolutionärem und radikal Anderem verbinden sollte. Unter den antidemokratischen Kräften, die nach dem Ersten Weltkrieg an Einfluss gewannen, waren die in der konservativen Revolution gebündelten sicher die heterogensten. Die konservative Revolution suchte „das Bewahrende, das Bleibende, das Ewige; aber sie findet es noch nicht in ihrer Zeit. Sie muß die von der vorangegangenen Epoche zugeschütteten Ewigkeitswerte wieder ausgraben, mit lebendigem Gehalt erfüllen; sie muß um der Erhaltung willen zum Mittel der Zerstörung greifen“.58 „Zerstören“ wollten die konservativen Revolutionäre nicht nur die Mechanismen 56Ebd. 57Kurt

Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1968, 28–29. Auf die Vielzahl der seit Sontheimers einflussreichem Werk erschienenen einschlägigen Studien zum Thema kann hier nicht eingegangen werden. 58Ebd., 120.

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der Moderne – Parlamentarismus, Pluralismus, Demokratie und Solidarität –, sondern die überkommenen Reste der abendländischen Kultur, deren Ordnung sich als schwach und unhaltbar erwiesen habe. Unerhörtes, Gewaltiges werde an ihre Stelle treten, wie Edgar Julius Jung, einer ihrer Wortführer, behauptete: „Konservative Revolution nennen wir die Wiederinachtsetzung aller jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft, an Stelle der mechanischen Wahl das organische Führerwachstum, an Stelle bürokratischen Zwangs die innere Verantwortung echter Selbstverwaltung, an Stelle des Massenglücks das Recht der Volksgemeinschaft.“59 Wer vom Verlust an Werten redet, fürchtet um den Zerfall der Gemeinschaft, wer Werte hingegen als gefährlich brandmarkt, diskreditiert jede öffentliche Diskussion. Obwohl nicht Mitglied des inneren Kreises, wurde Carl Schmitt zu einem der prominentesten Apologeten der konservativen Revolution. Seine Schriften duldeten keinen Widerspruch, seine Formulierungen verlangten nach Zustimmung, sein Stil war von autoritärer Überzeugungskraft. Jahre nach dem Krieg lieferte Schmitt eine Rechtfertigung für die in den späten 1920er und 1930er Jahren unter Konservativen weitverbreitete Verachtung für Demokratie und Parlamentarismus. Sein später in vielerlei Hinsicht rückblickender Essay über die Tyrannei der Werte (1967) nahm zugleich visionär den heute schwelenden „Kulturkampf“ vorweg. In diesem „Kampf“ sehen sich, im Anschluss an Samuel P. Huntington, meist politisch rechts stehende, populistische Ideologen, Parteien und autoritäre Staatslenker, wenn sie auf die Folgen der Globalisierung und die damit verbundene Durchlässigkeit der Kulturen mit Isolationismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus reagieren.60 Entscheidungsspielraum im öffentlichen Leben, meinte schon Schmitt, habe das menschliche Individuum angesichts der „absoluten Wertfreiheit des wissenschaftlichen Positivismus“ allenfalls in der Setzung von Werten. Der Preis dafür sei hoch: „Die rein subjektive Freiheit der Wertsetzung führt aber zu einem ewigen Kampf der Werte und der Weltanschauungen, einem Krieg aller mit allen, einem ewigen bellum omnium contra omnes, im Vergleich zu dem das alte bellum omnium contra omnes und sogar der mörderische Naturzustand

59Edgar

Julius Jung: „Deutschland und die konservative Revolution“ [Nachwort], in: Deutschland über Deutsche. Die Stimme des unbekannten Politikers, München: Langen-Müller 1932, 369–383, hier 380 (Hervorhebungen vom Verfasser, C.Z.). Hugo von Hofmannsthal hatte den Begriff der „konservativen Revolution“ in seiner 1927 verbreiteten Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ geprägt, worin er die Schaffung eines nationalen Bewusstseins unter entsprechend gesinnten Intellektuellen hat anregen wollen. Zu den Köpfen der konservativen Revolution zählten neben Spengler und Jung, Martin Spahn, Karl Christian von Loesch, Arthur Moeller van den Bruck und Wilhelm Stapel, zum Teil auch Othmar Spann und Leopold Ziegler. 60Vgl. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster 1996.

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der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes wahre Idyllen sind.“61 An die Stelle des Metaphysischen gerückt, seien Werte in der Demokratie durch keine ethische, spirituelle und juristische Autorität gedeckt. Ihre Setzung durch eine Mehrheit bedeute daher zugleich ihre Durchsetzung, denn ihre Geltung bestätigt den Sieg des Stärkeren. Zur Strategie der Durchsetzung von Werten gehört die Negation der Werte anderer. Als Gegner der Demokratie und der Weimarer Verfassung, die den Staat ausbeute und den Souverän – das Volk – in die Wahlkabine verbanne, setzt sich Schmitt für den starken Staat ein. Parlamentarismus bedeutet für ihn Schwäche und Mittelmaß: „Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch ewige Diskussion ewig suspendieren.“62 Schmitt erkannte das Dilemma einer allein von Werten geleiteten sozialen Ordnung. Wo Werte auf Vielfalt beruhen und stets neu verhandelt werden müssen, wo sie aus öffentlichen Debatten hervorgingen, müssten Gesellschaften mit politischer Instabilität rechnen. Hinter dem Abwehrmechanismus verbergen sich Furcht und Unsicherheit, die in jeder demokratischen Gesellschaft rasch in den Ruf nach „starken“ Führungspersönlichkeiten münden können und Menschen Aufmerksamkeit verschaffen, die an unsere Ängste appellieren, um Ordnung herzustellen und das Land zu befrieden. Schmitts antidemokratischer Affekt, der in vielen seiner Schriften zutage tritt, bestärkte zugleich Ansichten, die vorwiegend in rechtsgerichteten, national-konservativen und monarchistischen Kreisen vorherrschten. Stand er dem Nationalsozialismus zunächst skeptisch gegenüber, diente sich Schmitt dem neuen Regime bald an und hielt mit antisemitischen und rassistischen Ansichten nicht zurück. In seiner Warnung vor einer „Tyrannei der Werte“ klingen die Vorbehalte gegen den pluralistischen, demokratischen Staat an. Nicht Werte selbst, sondern deren Vielfalt gebe dem Staat, Schmitt zufolge, Anlass, auf die Durchsetzung der in der Verfassung niedergelegten Grundwerte zu drängen. Die Nationalsozialisten erkannten seines Erachtens nach die Schwächen des demokratischen Weimarer Staates, die in dessen Pluralismus an Wertauffassungen bestand, und „setzten“ Werte, indem sie sie „durchsetzten“, wie es Schmitt in seiner Politischen Theologie (1922) gefordert hatte. Ob Schmitt dem Nationalsozialismus aus Opportunismus oder Überzeugung seine Treue erwies, spielt eine untergeordnete Rolle.63 Wichtig ist allein, dass

61Carl

Schmitt: Die Tyrannei der Werte, 3., korrigierte Aufl., mit einem Nachwort von Christoph Schönberger, Berlin: Duncker & Humblot 2011, 39. 62Carl Schmitt: Politische Theologie, 8. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 2004, 67. „Diktatur“, meint Schmitt dagegen, „ist der Gegensatz zu Diskussion. Er gehört zum Dezisionismus der Geistesart von Cortes, immer den extremen Fall anzunehmen, das jüngste Gericht zu erwarten. Darum verachtet er die Liberalen, während er den atheistisch-anarchistischen Sozialismus als seinen Todfeind respektiert und ihm eine diabolische Größe gibt“, ebd. 63Nur eines von vielen Beispielen für die Diskussion von Schmitts nationalsozialistischer Vergangenheit bietet Franz Karl Graf von Ballestrem: „Carl Schmitt und der Nationalsozialismus. Ein Problem der Theorie oder des Charakters?“, in: Der demokratische Verfassungsstaat. Theorie, Geschichte, Probleme. Festschrift für Hans Buchheim zum 70. Geburtstag, hg. von Oscar W. Gabriel u. a., München: Oldenbourg 1992, 115–132.

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er im autoritären Staat seinen Platz fand. Der bald zum Preußischen Staatsrat ernannte Rechtsphilosoph war als Wissenschaftler, Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und Herausgeber der Deutschen Juristenzeitung von größtem Einfluss und pflegte enge Kontakte zu hohen Regierungskreisen. Die Machtübernahme rechtfertigte er in seinen Schriften und lobte selbst die Nürnberger Rassengesetze von 1935 als Teil einer „Verfassung der Freiheit“.64 Seinen Überlegungen zum Wertbegriff kam die Machtübernahme Hitlers entgegen. In der Diktatur erfüllte sich der neue Mythos vom Volk, der tragfähiger als jede Form der Demokratie sei. Die Durchsetzung des Stärkeren bedeutete für ihn ein Ende der „Tyrannei der Werte“, die nun im demokratischen Nachkriegsdeutschland – zu jener Zeit also, als Schmitt seinen aufschlussreichen Aufsatz von der Tyrannei der Werte verfasste – vor dem Hintergrund des verlorenen Krieges und der aberwitzigen nuklearen Bedrohung als „schwächlicher“ Pluralismus wieder zurückkehre. Werte würden in der demokratischen gesellschaftlichen Verfassungsform schlichtweg zu „Unwerten“: „Die alten Götter entsteigen ihren Gräbern und kämpfen ihren alten Kampf weiter, aber entzaubert und – wie wir heute hinzufügen müssen – mit neuen Kampfmitteln, die keine Waffen mehr sind, sondern scheußliche Vernichtungsmittel und Ausrottungsverfahren, grauenhafte Produkte der wertfreien Wissenschaft und der von ihr bedienten Industrie und Technik.“65 Schmitt erwähnte nicht, dass die „wertfreie Wissenschaft“ den Nationalsozialisten zu bedeutenden Fortschritten beim Versuch verhalf, eigene „scheußliche Vernichtungsmittel“ herzustellen. Nur durch Verneinung wird unter den Bedingungen einer „Tyrannei der Werte“ das Leben selbst zum höchsten Wert. So begründete das Pamphlet über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens (1920) von Alfred Hoche und Karl Binding schon früh die kommenden nationalsozialistischen Verbrechen. „Im Wertsystem und Wörterbuch der rassischen Weltanschauung“, weiß Schmitt, „erscheinen Wert und Leben innig verbunden an höchster Stelle. Hitler erklärte (vor der Presse am 10. November 1938) den Menschen, und zwar den deutschen Menschen, zu einem ‚unvergleichlichen Wert‘; das deutsche Volk war der ‚Höchstwert,

64Carl

Schmitt: „Verfassung der Freiheit“, in: Deutsche Juristenzeitung, 40.13 (1935), 1133– 1135, hier 1135. „Unser Recht soll nicht dem herzlosen Dämon der Entartung verfallen“, denn von ihm aus „bestimmt sich, was für uns Sittlichkeit und öffentliche Ordnung, Anstand und gute Sitten genannt werden kann“ (ebd.). 65Schmitt: Die Tyrannei der Werte, 39. Freilich hatte schon Nietzsche den Akt des ­ Wertsetzens mit dem „Willen zur Macht“ begründet – „die We r t h e u n d d e r e n Ve r ä n d e r u n g steht im Verhältniß zu dem M a c h t - Wa c h s t h u m des We r t h s e t z e n d e n “, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 353. Heidegger, auf den sich Schmitt beruft, folgert daher: „Die Werte sind die vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingungen seiner selbst. Erst da, wo der Wille zur Macht als der Grundzug alles Wirklichen zum Vorschein kommt, d.h. wahr wird und demgemäß als die Wirklichkeit alles Wirklichen begriffen wird, zeigt sich, von woher die Werte entspringen und wodurch alle Wertschätzung getragen und geleitet bleibt“, Heidegger: „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“, 231.

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den es überhaupt auf dieser Erde gibt‘“.66 Den Begriff des Wertes wandte Schmitt indes seiner Doppeldeutigkeit nach in ethischer wie in ökonomischer Hinsicht an. Die Schwächen der Weimarer Verfassung hatte er seinerzeit in seiner einflussreichen Studie Legalität und Legitimität (1932) bloßgelegt. Den Formalismus der im August 1919 in Kraft getretenen demokratischen Verfassung Weimars kritisierte er darin ebenso wie deren rechtsstaatliche Institutionen. Den Pluralismus partikularer Interessen könne dagegen allein ein starker Staat bändigen, in dem sich die Wirtschaft frei entfalte und Wohlstand zur Befriedung aller schüfe. Diktatur und ökonomischer Liberalismus schließen sich seiner Auffassung nach nicht aus. Für ökonomische Positionen, die von einem starken Staat die Schaffung und Aufrechterhaltung von Märkten verlangten, standen die Nationalsozialisten in der Tat ein. Viele Konzernlenker sahen sich als Gewinner der Kriegswirtschaft, die Hitler vorschwebte. Hier erfüllte sich das Modell von einem Staat, der dem Volk „diente“, indem er die Rahmenbedingungen für einen „freien“ Markt schuf –, auch wenn dies auf Kosten derer geschah, die von diesem Staat als „unwert“ gebrandmarkt wurden. Über die konservative Revolution hinaus, teilten andere Intellektuelle die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und kamen zu ähnlichen Schlüssen. Viele Künstler und Schriftsteller hatten einst die Begeisterung für den Kampf geteilt und in ihm nach einer gemeinsamen Wertebasis gesucht. So bezog Thomas Mann in seinem Aufsatz Gedanken im Kriege (1914) Position für den Einsatz von Waffen zur Durchsetzung politischer und kultureller Ziele. Noch in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zeigte er sich durchaus nicht als kosmopolitischer Humanist, sondern als Verteidiger eines deutschen Kulturideals, das notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden müsse. Auch Georg Simmel argumentierte in seiner Verteidigungsschrift Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (1917) aus der Perspektive kultureller Nationalwerte, die sich im Individuum spiegelten. Die Gegenwart sehe sich in einer Krisis der Kultur (1916), die eine „Entscheidung“ erfordere. Unter „Kultur“ verstand Simmel das gegenseitig abhängige Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft. Was sich nicht durch Introspektion und religiöse Hingabe erfüllen ließe, komme im Staat und seinen Errungenschaften – den Wissenschaften, der Kunst, der Politik – zur Entfaltung und gestatte dem Individuum, über sich hinauszuwachsen. Fortschritt, vor allem auf dem Gebiet der Technik und der Ökonomie, würde Unbehagen herrufen und in einer Epoche der Krise münden. Simmel kritisierte die Produktion von Gütern, Technologien und Wissen zum Selbstzweck. Durch ein Überangebot von Waren werde der Blick auf andere, sinnstiftende Lebensbereiche verstellt. Das Ganze der Kultur lasse sich im Kapitalismus nicht erschließen. „Geist“ nehme lediglich die Form von Geld an, das nur noch die Entleerung des kulturell Bedeutungsvollen symbolisiere: „Ein Mittel für Tausch und Wertausgleich, jenseits dieser Mittlerdienste ein radikales

66Schmitt:

Die Tyrannei der Werte, 17 f. Giorgio Agamben knüpft an das von Schmitt skizzierte Problem einer Wertbegründung des Lebens in seiner Studie Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Frankfurt a. M: Suhrkamp 2002) an.

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Nichts, jedes Wertes und Sinnes bar. Und gerade das Geld ist für die Mehrzahl der Kulturmenschen das Ziel aller Ziele geworden, der Besitz, mit dem, so wenig die sachgemäße Vernunft es rechtfertigen mag, die Zweckbemühungen dieser Mehrzahl abzuschließen pflegen.“67 Den Krieg erachtet Simmel als vorläufigen Ausweg, denn durch ihn fänden „Millionen von Menschen“ im „Ziel des Sieges und der Erhaltung der Nation“ wieder zusammen. Durch den Krieg werde das Übermaß an unnötigen Gütern vernichtet, werde Raum für Neues geschaffen. Da auf jeden Krieg eine Phase des Friedens folge, auf jenen indes wieder Kriege, könne die moderne Welt nur als Zustand der permanenten Krise gedacht werden – Mangel und Tod als dem Zynismus des kapitalistischen Wirtschaftens geschuldete Konsumanreize. Das Leben für einen permanenten Krisen- und Kriegszustand zu halten, stimmt nicht nur mit Simmels lebensphilosophischen Ansichten überein, sondern berührt sich mit sozialdarwinistischen Vorstellungen. Seinen Ausführungen ist der Pessimismus der Epoche anzumerken, der bei Nietzsche seinen Ausgang nahm und bei den Parteigängern der konservativen Revolution in der Forderung nach einem starken Staat mündete. Simmels Erörterungen beruhen zwar auf anthropologischen und soziologischen Interessen, wie viele seiner Zeitgenossen bekundete sich in ihnen aber zugleich die Hingabe an das Wilhelminische Reich – ein Wertdenken, das von der Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit geleitet wurde. Zu den Patrioten in vorderster Reihe zählte auch Rudolf Eucken, neben Ernst Haeckel der bekannteste und einflussreichste Professor der an Tradition nicht armen Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Wie Simmel hatte Eucken ein ausgeprägtes Gespür für die Themen, die ein breites Publikum beschäftigten. Seine dem deutschen Idealismus verbundene Philosophie fand Eingang in den Alltag und verhalf seinen Büchern zu weiter Verbreitung. 1908 hatte Eucken, in dessen Haus unter anderem Stefan George und Hugo von Hofmannsthal verkehrten, den Nobelpreis für Literatur erhalten. Schon zu Beginn des Krieges 1914 wandte sich Eucken verstärkt der Politik zu und bezog aus zweierlei Gründen Stellung für den Krieg, die uns heute nur als überraschend naiv erscheinen können: Zum einen führe der Krieg zu sittlicher Erneuerung durch Stärkung der Gemeinschaft, zum anderen sei er moralisch gerechtfertigt, wenn er einem „guten“ Zweck diene. Dieser Zweck bestehe in der Verteidigung der deutschen Kultur, deren Errungenschaften in höchstem Maß der Welt zugutekommen würden und daher unverzichtbar seien.68 Aus der Überlegenheit der deutschen Kultur ergibt sich für Eucken die Notwendigkeit des Kampfes, aus der Kulturhoheit des deutschen Volkes rechtfertigt sich wiederum der Kampf, der ihrer Verteidigung zu gelten habe – ein Zirkelschluss, der zum Argumentationsmodell für viele Intellektuelle während des

67Georg

Simmel: „Die Krisis der Kultur“, in: Gesamtausgabe, Bd. 13, 190–201, hier 194. Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin: Fest 2000, 18–23. 68Vgl.

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Krieges werden sollte.69 Wer sich im Kampf sieht, fühlt sich bedroht, wer kämpfen will, möchte siegen, wer verliert, dem bleibt nur, über den Verlust zu klagen, vor allem den Verlust an Werten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg war umso schwerer zu ertragen, weil sich die vorab so hoch gehandelte Kulturhoheit nicht in materielle Gewinne hat übersetzen lassen, weil der Verlust an Leben nicht mit dem Einsatz von ideellen Mitteln aufzuwiegen war und weil die ökonomischen Folgen, die im Vertrag von Versailles festgeschrieben waren, zum materiellen, aber auch zum kulturellen Kassensturz führten. Damit kehrt der Wertbegriff wieder von der Kultur zur Ökonomie zurück. Auf den ökonomischen Ursprung des Begriffs hatte Nietzsche stets angespielt. Einer Anekdote über den antiken Philosophen Diogenes von Sinope zufolge, mit der Nietzsche vertraut war, soll das Delphische Orakel den Kyniker angewiesen haben „die Münze umzuprägen“.70 Diogenes’ Lehre beruhte auf Bedürfnislosigkeit und der Ablehnung aller äußeren Zwänge. Der Sohn eines Falschmünzers, der selbst der Falschmünzerei bezichtigt wurde, hatte wenig Mühe, das Orakel als Aufforderung zu deuten, der gesellschaftlichen Konvention der Mehrung des materiellen Wohlstands abzuschwören. Das altgr. Wort „νόμισμα“, „nómisma“ bedeutete sowohl „Münze“ als auch „Satzung“, „Brauch“ oder „Konvention“.71 Nietzsches Versuch einer radikalen „Umwerthung aller Werthe“ hält die Erinnerung daran wach, dass Moralvorstellungen eng an ökonomische Voraussetzungen geknüpft sind. Schuld und Schulden, Glauben und Gläubiger, Gutes und Güter stehen in engem Bezug zueinander. „Gebote“ dienen dazu, Verpflichtungen zu regeln – ob nun Schuldeinlösungen oder moralische Verhaltensweisen. Mit „einem Cynismus der welthistorisch werden wird“, hat Nietzsche in Ecce Homo von der „U m w e r t h u n g a l l e r We r t h e “72 gesprochen und dabei den Hinweis auf die Falschmünzerei stets eingeschlossen. Sein Versuch zu zeigen, „wie man mit dem Hammer philosophiert“ – so der Untertitel seiner Götzen-­Dämmerung, deren Veröffentlichung im Jahr 1889 der bereits umnachtete Philosoph nicht mehr bewusst zur Kenntnis nehmen konnte –, bedient sich des

69Eucken

hatte sich einschlägig mit Fragen des „Wertes“ beschäftigt, besonders für die „verschiedenartige[n] Ströme“ des modernen Lebens, dessen „widerstreitende Richtungen“ und „abweichende Wertschätzungen“ nur noch schwer zu erfassen seien, Der Sinn und Wert des Lebens, 9. Aufl., Leipzig: Quelle und Meyer 1922 [erstmals 1908], 1. Die Einleitung verweist zudem seit der 5. und besonders der 8. Auflage von 1917 und 1921 ausdrücklich auf den Krieg und die russische Revolution, deren Auswirkungen in Deutschland mit der Bildung von Räterepubliken, politischen Organisationen und der Verbreitung des Kommunismus von großer Tragweite waren. Euckens Buch ist ein Versuch, die als Bedrohung erfassten Fortschritte der Technik, der Arbeitsorganisation, des sozialen Lebens und der medialen Vielfalt wieder zusammenzuführen und eine ethische Handlungsgrundlage zu schaffen. 70Winfried Schröder: Art. „Umwertung aller Werte“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 105–108, hier 106. 71Ebd. 72Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, 365.

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Wortschatzes der Ökonomie, denn gemeint ist der Prägehammer, der dem neuen, von überkommenen Moralvorstellungen befreiten Gesellschaftsverbund seinen Stempel aufdrückt.73

Phänomenologie Vom kulturprotestantischen Optimismus Rudolf Euckens, des Primus unter den deutschen Philosophen im Wilhelminischen Deutschland, war Edmund Husserl weit entfernt. Eucken wollte die bildungsbürgerlichen Werte mit den Anforderungen der Arbeitswelt und dem Takt der Moderne in Einklang bringen. Seine Wertvorstellungen waren lebensphilosophisch begründet, „Ideal“ und Empirie sollten im individuellen Erleben zueinanderfinden. In Stil und Ausrichtung grundverschieden, behauptete Husserl dagegen, auf metaphysische Verweise zu verzichten. Sein Interesse galt bewusstseinsimmanenten Strukturen der Bedeutungsbildung, wie aus seinen Logischen Untersuchungen (2 Bde., 1900–1901) hervorgeht. Zweifellos hat Husserls Phänomenologie Eucken viel zu verdanken – von der Bestimmung der Philosophie als Methode, bis zur „Reduktion“ als Möglichkeit der Verallgemeinerung. Auf den idealistischen Überbau verzichtete Husserl indes, um sich in streng wissenschaftlicher Sprache der „Intentionalität“ und „Evidenz“-Bildung des Subjekts zuzuwenden. „Wahrheit“ ist demnach nichts anderes als die Übereinstimmung von Gemeintem und Gegebenen, wobei „Evidenz“ der unmittelbaren Erfahrung oder der Intuition entspricht und „Intentionalität“ die Gerichtetheit auf einen Gegenstand meint, der erst im Prozess des Bewusstwerdens an Wirklichkeit gewinnt. Während es Eucken um die Versöhnung lebensweltlicher mit idealistischen Erfahrungen ging, richtete sich Husserls Interesse auf die Rationalisierung von Bewusstseinsvorgängen. „Phänomenologie“ beschreibt Husserl folgendermaßen: „Alles Weltliche, alles raum-zeitliche Sein ist für mich dadurch, daß ich es erfahre, wahrnehme, mich seiner erinnere, daran irgendwie denke, es beurteile, es werte, begehre usw. Das alles bezeichnet Descartes bekanntlich unter dem Titel cogito. Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchen cogitationes bewußt seiende und mir geltende. I h r e n g a n z e n S i n n u n d i h r e S e i n s g e l t u n g h a t s i e a u s s c h l i e ß l i c h a u s s o l c h e n c o g i t a t i o n e s . In ihnen verläuft mein ganzes Weltleben. Ich kann in keine andere Welt hineinleben, hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten und -handeln, die nicht in mir und aus mir selbst Sinn und Geltung hat.“74

73Andreas Urs Sommer: Art. „Umwerthung der Werthe“, in: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Henning Ottmann, Stuttgart und Weimar 2000, 345–346, hier 346. 74Edmund Husserl: Pariser Vorträge [1929], in: Gesammelte Werke (Husserliana), auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter Leitung von Herman Leo van Breda, Bd. I, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. und eingeleitet von Stephan Strasser, Den Haag: Matinus Nijhoff, 1950, 1–39, hier 8.

Phänomenologie

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Wird sich Husserl erst im Spätwerk mit dem Begriff der „Lebenswelt“ wieder an Eucken annähern – Eucken verwendete ihn nur wenige Jahre vor seinem Tod in Mensch und Welt (1918) –, so hatte er sich bereits in den Logischen Untersuchungen auf das philosophische Modell der Phänomenologie festgelegt, dass den Erscheinungen Vorrang vor den Ideen, der Wahrnehmung vor den Idealen und den inneren Strukturen vor dem bloß Äußerlichem gibt und der Wechselwirkung von Ding und Vorstellung Aufmerksamkeit schenkt. Husserl streift dabei den Begriff der Werte im Synonym des „Urteils“,75 bezieht sich dabei aber auf Brentano, der von großem Gewicht für die Entstehung der Phänomenologie war. Von seiner Skepsis gegenüber der Psychologie wollte Husserl Brentano ausdrücklich ausgenommen wissen: „Eine scharf abgegrenzte Klasse von Erlebnissen tritt uns hier entgegen, die alles in sich faßt, was in einem gewissen p r ä g n a n t e n Sinne psychisches, bewußtes Dasein charakterisiert.“76 Der von 1874 bis 1895 in Wien lehrende Brentano vertrat die Auffassung, Werte seien an Gefühle gebunden. Psychische Akte richteten sich „intentional“ auf Objekte, die nicht in der Wirklichkeit, sondern in der Vorstellung existierten. Brentanos Vermutung sollte in gewisser Weise später von den Neurowissenschaften bestätigt werden, die, wie in der Einleitung erwähnt, nach den Entdeckungen von Edvard und May-Britt Moser sowie John O’Keefe, heute von der Abbildung der erfahrenen Welt in einem von Grid Cells geschaffenen Orientierungsraum ausgeht. Dieser Raum ist unmittelbar mit dem Denken, mit Gefühlen und Erinnerungen verknüpft. Die „Objekte“ in diesem Raum entsprechen Vorstellungen, die der Wirklichkeit in zweiter Instanz nahekommen. Auf diese „Objekte“ richten sich nach Ansicht von Brentano Akte, die sich nach Vorstellungen, Urteilen und Gemütsbewegungen einteilen lassen.77 Mit Brentanos Urteilslehre war Husserl nicht nur durch die Lektüre etwa der Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874) vertraut. Zwischen 1884 und 1896 besuchte Husserl immer wieder Brentanos Vorlesungen in Wien, bevor er sich bei dem Brentano-Schüler Carl Stumpf in Halle habilitierte. Brentano bezeichnet Urteile als psychische Phänomene, die auf den schon erwähnten „intentionalen“ Akten beruhen, auf Vorstellungen also, die zu Anerkennungen oder Verwerfungen von Objekten führen.78 Urteile treten daher im Bewusstsein in doppelter Form hervor, nämlich als „vorgestellt und als anerkannt oder geleugnet“.79 „Jede Wahrnehmung“, heißt es in der Psychologie vom ­empirischen 75Vgl.

Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, in: Gesammelte Schriften (Husserliana), Bd. 19/1, Abschnitt V, 4. Kapitel: „Studie über fundierende Vorstellungen mit besonderer Rücksicht auf die Lehre vom Urteil“, 474–495. 76Ebd., 378. Auch bei Wilhelm Wundt machte Husserl eine Ausnahme. Dessen experimentelle Ausrichtung der Psychologie hatte ihn beeindruckt. Wundt kannte Husserl aus Vorlesungsbesuchen. 77Brentano spielte nicht nur für Husserl und die Phänomenologie eine Rolle, sondern übte auch auf den jungen Heidegger eine große Faszination aus. 78Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. I, Leipzig: Duncker & Humblot 1874, 277. 79Ebd., 266.

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Standpunkte, zählt bereits „zu den Urtheilen“.80 In seinen Untersuchungen zur Urteilstheorie unterzieht Husserl Brentanos Thesen einer kritischen Prüfung aus der Perspektive der Logik. Für Husserl geht Logik über die formalsprachliche Evidenzbildung hinaus und bezieht die empirische Welt der Gedanken, Gefühle und Gemütszustände ein, für die Brentanos Untersuchungen einen idealen Ausgangspunkt darstellen. Die zur Jahrhundertwende erschienenen Logischen Untersuchungen sprechen dann konsequent nur von Urteilen, nicht von Werten, die immer schon in ihnen eingeschlossen sind. Sie sind die Grundlage für Husserls Werttheorie, die erst mit den weniger bekannten Vorlesungen über Ethik und Wertlehre Gestalt erhält. Die ursprüngliche Fassung bezieht sich auf das Wintersemester 1908/1909 sowie die Sommersemester der Jahre 1911 und 1914, eine Zeit also, in der sich Husserl in Göttingen befand und seine oft erwähnte „idealistische Wende“ um das Jahr 1911 herum vollzog – eine „Wende“, die wir als Zuspitzung früherer Positionen verstehen müssen. Die Vorlesungen über Ethik und Wertlehre schließen erstmals ethische Gesichtspunkte ein und heben die Intentionalität des Wertens als einen Willensakt hervor. Husserls spätere Überarbeitung der Vorlesungstexte belegt die zunehmende Bedeutung der ethischen gegenüber der logischen Seite. Nicht auf Objekte richteten sich wertende Akte, sondern auf Werte selbst. Da sie nicht ohne Objekte auskommen, um sich sinnlich auf etwas zu richten, seien Werte objektivierbar: „Werten ist auch ‚Bewusstsein‘ und nicht bloß Vorstellen, Wahrnehmen, und Urteilen und dergl., und es ist wertendes und nicht denkendes oder wahrnehmendes Bewußtsein. Als wertendes Bewußtsein soll es für Objektivität, und zwar ihm wesentlich zugehörige Objektivität konstituierendes sein.“81 Ihre Intentionalität macht Werte, nach Husserl, zu einem dominanten Prinzip der Philosophie. Über ihre Bedeutung für die Erkenntnislehre und Strukturanalyse des Bewusstseins hinaus, müsse die Philosophie das Werturteil als Erkenntnisakt und als Bedingung des Denkens voraussetzen. Das Erkenntnisinteresse sei „r e i n v o n d e n i n d e r E r k e n n t n i s s e l b s t l i e g e n d e n We r t e n b e s t i m m t “.82 Der ethischen Fundierung von Werten als objektiven Willensakten geht die formal-logische Analyse des Wertens voraus, die sich später in der Axiologie zu einem eigenständigen Bereich verdichten wird. Die Aufdeckung von allgemeingültigen Prinzipien ist das Ziel der von Husserl vorgeschlagenen Erkenntnisanalysen, die sich aus logischen Schlussfolgerungen ergeben. So habe die „Übertragung irgendwelcher rein logischen Sätze auf Wertprädikate, und zunächst auf das allgemeine Prädikat ‚wert‘, axiologische Gesetze zur Voraussetzung […], nämlich diejenigen, welche feststellen, daß Wert als Prädikat behandelt werden könne.“83 Husserl

80Ebd.,

277. Husserl: Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1908–1914, in: Gesammelte Schriften (Husserliana), Bd. 27, 266. 82Ebd., 165 f. 83Ebd., 86. 81Edmund

Phänomenologie

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glaubt dabei, „alle Wertableitung auf letzte Grundwerte“ zurückführen zu können.84 Ohne diese „Grundwerte“ zu benennen, ist ihre Identität mit den „intentionalen Erkenntnisakten“ gegeben – Metawerte des Bewusstseins, die zwar vorausgesetzt, jedoch nicht näher bestimmt werden können. Husserls Wertlehre geht in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und zur phänomenologischen Philosophie auf – dem ersten Buch seiner Einführung in die reine Phänomenologie aus dem Jahr 1913 – und spielt in seinem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) noch einmal eine prominente Rolle in Form einer grundsätzlichen Kritik an der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung. Mit dem Wechsel von der „Intentionalität“ der Werte, die vom Willen des Individuums maßgeblich beeinflusst sind, zur Objektivität der Werte, die wir in den Dingen zu suchen haben, vollführt Husserl einen Schritt von geradezu genialer Einfachheit, doch gelangt er lediglich dort wieder an, worin sich viele Wertphilosophen im 19. Jahrhundert bereits einig waren. Schon Husserls Vorgänger in Freiburg, Heinrich Rickert, ging von der objektiven, von Individuen unabhängigen Natur von Werten aus, wenn sich ihre Begründung auch von Kants Wissenschaftslehre herleitete. Husserl wählte stattdessen den Weg über Freges formale Sprache der Logik und verbindet sie mit Brentanos psychologischer Wertphilosophie, doch nur, um schließlich den bewerteten Objekten selbst jene werthaltigen Eigenschaften zuzuschreiben, die wir ihnen zuallererst geben. So bestimmen sich Werte für Husserl in der Tat als von individuellen Präferenzen frei und gehorchen, wie die Wertbestimmungen der Ökonomie, dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sowie dem Grenznutzen, also dem Preis, den wir für ein Gut zu zahlen bereit sind, wenn wir Nutzen und Kosten gegeneinander abwägen. Ökonomischer und phänomenologischer Wert gehen also aus den Dingen hervor, denen wir einen Wert zugestehen wollen. Auch wenn sich Husserl wenig über diesen Umstand Gedanken gemacht haben sollte, ist die Nähe der Phänomenologie zu liberalen Wirtschaftskonzepten nicht von der Hand zu weisen und es kann nicht überraschen, dass die Phänomenologie wiederum von Bedeutung für die wirtschaftswissenschaftliche Theoriebildung war. Walter Eucken, Sohn des zu seiner Zeit bekanntesten Philosophen in Deutschland, avancierte zum wichtigsten Vordenker des Ordoliberalismus, einer frühen Variante des Neoliberalismus, der seit den 1970er Jahren dominierenden Lehrmeinung in der Ökonomie. Eucken war zu der Auffassung gelangt, dass dem Markt durch den Staat möglichst freie Hand gewährt werden müsse, um die wirtschaftlichen Krisen der Zeit zu bewältigen. Nur im Rahmen einer staatlich garantierten rechtlichen „Ordnung“ könnten Not und Unterversorgung überwunden und die Gefahr des Sozialismus gebannt werden. Eucken machte sich Husserls Philosophie zu eigen und geht von einer logisch begründeten Wirtschaftsordnung aus, deren „höchster“ innerer „Grundwert“ (s. o.) in der gerechten Verteilung der Güter besteht. Wirtschaftsordnung und logisches Werturteil,

84Gerade

wegen seiner Ausrichtung auf „Grundwerte“ war Husserl für Schelers Werttheorie von ebenso großer Bedeutung wie Rudolf Euckens Transzendentalismus.

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

ö­konomischer Wert und philosophische Erkenntnis bilden im Ordoliberalismus eine Einheit. Der intellektuelle Austausch zwischen Walter Eucken und Husserl trug maßgeblich zur Doktrin der „sozialen Marktwirtschaft“ bei, die erst nach dem Sieg über die Nationalsozialisten und mit der Durchsetzung der Währungsreform 1948 zum staatstragenden Prinzip der Bundesrepublik werden sollte. Der phänomenologische Wertbegriff beruht auf dem Verfahren der Reduktion, die es erlaubt, aus der Wechselwirkung von Erfahrenem und Vorgefundenem, Subjektivem und Objektivem auf „Wahrheiten“ zu schließen. Durch logische Urteile und ethische Willensakte gelangt das Ich zur Erkenntnis seines Bewusstseins, dem Metawissen um die Werthaftigkeit des Denkens, das letztlich, nach dem Dafürhalten Husserls, auf „Grundwerte“ zurückgeht. Werte beziehen sich ihrer „intentionalen“ Tendenz nach selbst wiederum lediglich auf andere Werte, nicht auf Objekte. Sie sind von höherer Ordnung und lenken die Wahrnehmung der Objekte, ohne über deren Natur etwas auszusagen. Anders gesagt: Was wir bewerten, ist nicht die von uns wahrgenommene Welt, sondern lediglich unsere Wahrnehmung selbst. Husserls phänomenologische Abstraktion und das Prinzip der Mittelbarkeit geht in den Ordoliberalismus ein. Ihren Namen erhielt die ökonomische Theorie durch die Zeitschrift Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Ökonomen und Staatsrechtlern unterschiedlicher Anschauungen ein Forum gab. Einig waren sich ihre Beiträger in der Überzeugung, dass die seit etwa 1880 stark monopolisierte und von Klassenkämpfen geprägte kapitalistische Wirtschaft zwar durch den Staat reguliert werden müsse (daher die Betonung des Ordnungsbegriffs), Wettbewerb hingegen nicht als Naturphänomen begriffen werden könne und nicht allein auf den Regeln zu seiner Liberalisierung fuße. Vor allem stimmten die Ordoliberalen darin überein, dass die freie Marktwirtschaft der Weg zu Wohlstand und Selbstverwirklichung sei. Der Markt verdankt sich „einem formalen Prinzip. Er ist ein Wesen, er ist ein eidos. Der Wettbewerb ist ein Prinzip der Abstraktion. Der Wettbewerb hat eine innere Logik, er hat eine eigene Struktur“.85 Demnach ging der Liberalismus von Annahmen einer höheren Gesetzmäßigkeit, von der Rationalität wirtschaftlicher Abläufe und von der

85Foucault:

Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2, 173. Der Einfluss Husserls auf den Ordoliberalismus ist mittlerweile zum Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen geworden, die den Ursprung neoliberalen Denkens bestätigen, konkretisieren und ergänzen. Vgl. z. B. Rainer Klump: „On the Phenomenological Roots of German Ordnungstheorie: What Walter Eucken Ows to Edmund Husserl“, in: L’ordolibéralisme allemand: aux sources de l’économie sociale de marché, hg. von Patricia Commun, Cergy-Pontoise: CIRAC 2003, 149–161; sowie Nils Goldschmidt: Entstehung und Vermächtnis ordoliberalen Denkens. Walter Eucken und die Notwendigkeit einer kulturellen Ökonomik, Münster u. a.: Lit Verlag 2002, 54–65; und ders.: „Das Reich der Wahrheit und die Lebensordnung. Welche Spuren haben Rudolf Eucken und Edmund Husserl in den Arbeiten Walter Euckens hinterlassen?“, in: Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft, hg. von Hans-Helmuth Gander u. a., Würzburg: Ergon 2009, 67–82 (mit weiterführenden Literaturangaben). Zu Foucault vgl. im gleichen Band Jan-Otmar Hesse und Frieder Vogelmann: „Zum Begriff des Staates im Ordoliberalismus und bei Michel Foucault“, ebd., 127–143. Foucault gegenüber kritisch ist Walter Reese-Schäfer: „‚Man erkennt sehr leicht den Einfluss Husserls …‘ – Wieweit trägt die Interpretation des Ordoliberalismus durch Michel Foucault?“, ebd., 103–125.

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Vorstellung aus, dass der Staat dem freien Markt einen ordnenden Rahmen verleihe. So problematisch es sein mag, Walter Euckens Wirtschaftstheorie auf den Versuch der Anwendung phänomenologischer Prinzipien zu reduzieren, erinnern seine Formulierungen dennoch stark an diejenigen Husserls, denen sich zumindest ihr methodologisches Fundament verdankt.86 In seinem nach dem Krieg zum Standardwerk avancierten Buch Grundlagen der Nationalökonomie (1939) zitiert Eucken aus Husserls Logischen Untersuchungen, um die Ökonomie als Erkenntniswissenschaft zu etablieren: „Die Wissenschaft will und darf nicht das Feld eines architektonischen Spiels sein. Die Systematik, die der Wissenschaft eignet, natürlich der echten und rechten Wissenschaft, erfinden wir nicht, sondern sie liegt in den Sachen, wo wir sie einfach vorfinden, entdecken. Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit, und zwar im größtmöglichen Umfange, zu erobern; aber das Reich der Wahrheit ist kein ungeordnetes Chaos, es herrscht in ihm eine Einheit der Gesetzlichkeit […].“87 Husserl kam 1916 nach Freiburg. Eucken wurde nach seinem Wechsel aus Tübingen 1927 sein Kollege. Schon zuvor kannten sich beide über Walters Vater Rudolf, doch handelte es sich nicht bloß um eine „ererbte“ Freundschaft. Als sein Vater starb, erhielt Walter Eucken von Husserl ein bewegendes Kondolenzschreiben. Rudolf Eucken hatte über Jahre hinweg versucht, Husserl für eine Professur nach Jena zu holen, scheiterte aber am Widerstand der Universität. Kenntnisse von den Schriften Husserls hatte der Vater nachweislich erst ab 1906, doch empfahl ihn der Sohn umso nachdrücklicher. Walter Euckens Wissen um die Philosophie Husserls steht außer Zweifel und lässt sich ohne Mühe aus seinen Arbeiten erschließen. Die Werttheorie Husserls war dabei von großem Gewicht. Gerade in Husserls phänomenologischer Begründung der Erfahrungswelt sah Eucken ein Fundament für die Wirtschaftsordnung der Zukunft.88 Nur über die Freiheit des Marktes lasse sich die Freiheit des Einzelnen, damit aber auch die Freiheit der Gesellschaft garantieren: „Dem methodischen Anspruch, mittels idealtypischer Betrachtungsweise und angewandter Phänomenologie zu einer krisenfesteren (ökonomischen) Wissenschaft zu gelangen und so dem ‚Reich der Wahrheit‘ näher zu kommen, steht im Eucken’schen Werk der Gedanke der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung gegenüber.“89 Die Herstellung einer „sozialen Ordnung“ beruht auf

86Eine

umfassende Diskussion von Einflüssen aus der Theorie unterschiedlicher akademischer Felder gibt u. a. Carsten Herrmann-Pillath: „Der Vergleich von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Wissenschaftsphilosophische und methodologische Betrachtungen zur Zukunft eines ordnungstheoretischen Forschungsprogramms“, in: ORDO 42 (1991), 15–67. 87Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie, 8. Aufl., Berlin u. a.: Springer 1965, 230. Das Originalzitat findet sich in Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, in: Gesammelte Schriften (Husserliana), Bd. 18, 30 f. [Hervorhebung vom Verfasser, C.Z.]. 88Rudolf Eucken habe die „Gefährdung der modernen Welt“ früh erkannt und „im Wechsel der Zeit etwas Festes“ finden wollen – „Werte, die unerschüttert sind und einen Halt bieten“, schrieb sein Sohn Walter im: „Vorwort“ zu Rudolf Eucken: Die Lebensanschauungen der Großen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Platon bis zur Gegenwart, 20. Aufl., Reprint, Berlin und Boston: de Gruyter 1950, V–VII, hier V. 89Goldschmidt: „Das Reich der Wahrheit“, 79.

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3  Spekulanten des Geistes: Werte im außermoralischen Sinn

einer Wertvorstellung, die Ökonomie, Ethik und Religion miteinander verbindet. Das entspricht in etwa den bildungsbürgerlichen Idealen des Wilhelminischen Zeitalters, die im protestantischen Elternhaus Euckens vorherrschten. „Kultur“ wurde von vielen Bildungsbürgern als höchster Wert erachtet, den es auch nach außen, wie vom Vater in seinen Pamphleten zur Verteidigung der Nation gefordert, zu schützen galt. Gesellschaftliche Veränderungen, die den Status der Kultur als Wert infrage stellen, mussten notwendig als Bedrohung empfunden werden. Diese Bedrohung sah Eucken in jungen Jahren zunächst im Kapitalismus, der sich nur durch regulative Eingriffe des Staates zügeln lasse. Es sei nicht zu verkennen, meinte er in seinem kurzen, aber viel beachteten Aufsatz „Die geistige Krise und der Kapitalismus“ (1926), dass die allzu freie Marktwirtschaft nicht wenig zur kulturellen Orientierungslosigkeit beigetragen habe. Ziel müsse es daher sein, wieder eine umfassende geistige Lebensordnung herzustellen.90 „Geist“ ist der Komplementärbegriff zu „Kultur“. In der Tradition des 19. Jahrhunderts wird Kultur oft im Widerspruch zu materiellen Gütern gesehen, zu Kapital und Profit, ohne dass die Abhängigkeit von Glaube und Handel, Gabe und Lohn, Idee und Produkt als Einheit gedacht worden wäre. Doch gehörten Besitz- und Bildungsbürgertum ebenso zusammen, wie die katholische Kirche und der Ablasshandel oder der Protestantismus und die moderne Arbeitsethik. Eucken folgt hier einem allzu gängigen antikapitalistischen Klischee, das Soziologen wie Simmel und Weber, Sombart und Durkheim, Veblen und Mauss durch den Nachweis einer spiegelbildlichen Entsprechung von Geistigem und Gültigem, Kultur und Kapital aufgelöst hatten. Die Unterschiede zwischen einzelnen, der „Freiburger Schule“ des Ordoliberalismus zuzurechnenden Ökonomen waren beträchtlich. Nach dem Ersten Weltkrieg befürwortete etwa Alexander Rüstow zunächst die Idee des Sozialismus, bevor er, beeinflusst von Franz Oppenheimer, einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus suchte. Wilhelm Röpke vertrat erst liberale, von sozialpolitischen Erwägungen geprägte Positionen, wie sie von einem klassischen, Ernst Troeltsch nahestehenden Ökonomen erwartet werden durften. Die in einem seiner Vorträge geäußerte Einschätzung des Nationalsozialismus als Massenaufstand gegen Kultur, Vernunft, Freiheit und Humanität zwang ihn ins Exil.91 Nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich Röpke dann wegen seiner autoritären, rassistischen und frauenfeindlichen Ansichten wachsender Kritik ausgesetzt. So wandte er sich gegen das Wahlrecht von Frauen und verteidigte die Apartheidpolitik in Südafrika.92 Alfred Müller-Armack wiederum, einer der Architekten der sozialen Marktwirtschaft

90Walter

Eucken: „Die geistige Krise und der Kapitalismus“, in: Die Tatwelt 2 (1926), 13–16. „Kritischer Vortrag des Marburger Nationalökonomen Wilhelm Röpke, 8. Februar 1933“, in: Zeitgeschichte in Hessen, http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2412 (3. Dezember 2018). 92Gerhard Schwarz: „Wilhelm Röpkes ‚liberale Mitte‘. Empörend, altmodisch und doch modern“, in: Neue Zürcher Zeitung, 14. April 2016, http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/wilhelm-roepkes-liberale-mitte-empoerend-altmodisch-und-doch-modern-ld.13591 (3. Dezember 2018). 91O.  A.:

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Ludwig Erhards, trat 1933 der Nationalsozialistischen Partei bei. Mit steigendem Unbehagen angesichts des Krieges und wohl auch wegen der Verbrechen der Nationalsozialisten wandte er sich der maßgeblich vom Katholizismus beeinflussten christlichen Soziallehre zu, die auch seine Tätigkeit im Wirtschaftsministerium unter Erhard prägen sollte. Den bildungsbürgerlichen Hintergrund Euckens teilten sich viele ordoliberale Denker, unter anderem Rüstow, dessen 1914 abgebrochenes Habilitationsprojekt der Erkenntnistheorie des Parmenides gegolten hatte. „Kultur“ war häufig der Fluchtpunkt, der das Projekt der Bändigung des Kapitalismus leitete. Dieses Projekt knüpfte in gewisser Weise an die wirtschaftsromantischen Ideen von Adam Müller an, der die Bedeutung „geistigen Kapitals“ erstmals unterstrichen hatte.93 Durch kulturelle Werte würden sich materielle Werte mehren, durch materielle Werte sich wiederum Wohlstand, Sicherheit, Prosperität und Frieden einstellen. Das „geistige Kapital“ der Gesellschaft erlaube Wertschöpfung sowohl im ökonomischen wie im ethischen Sinne.94 Garant dieses Wertschöpfungsprozesses sei der Staat, der ausgleichend auf die zum Monopol einerseits, zum Klassenkampf andererseits tendierenden Marktteilnehmer einwirke. Die von John Maynard Keynes favorisierten Steuerungsmechanismen durch den Staat lehnten die Ordoliberalen ab, weil sie den Markt zu sehr beschränken würden. In einem „starken“ Staat sah man dagegen durchaus keinen Widerspruch, sofern der Staat die Regeln des ökonomischen Wettbewerbs achtete. So erklärt sich die Neigung des Ordoliberalismus zu autoritären Herrschaftsformen. Die Ideale des Bürgertums im 19. Jahrhunderts gehen mit dem Ordoliberalismus reibungslos in die Ideologien des 20. Jahrhunderts über. Der bürgerliche Liberalismus wurde zum neuen, nun „autoritären Liberalismus“, der sich den Vorstellungen nationalsozialistischer Wirtschaftsauffassungen anpasste, jedoch erst in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig zur Entfaltung kam.95 Denn mit der vom Ordoliberalismus geprägten sozialen Marktwirtschaft fand die wirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik ihre staatsrechtliche Legitimation. Die Verbindung zwischen dem bildungsbürgerlichen, sich auf Kultur berufenden Ordoliberalismus und einer antidemokratischen Staatsauffassung stellte Carl Schmitt her, der sowohl direkt als auch indirekt auf die Mitglieder der Freiburger Schule einwirkte. So berief sich etwa der mit Eucken in Freiburg eng zusammenarbeitende Staats- und Wirtschaftsjurist Franz Böhm auf die Idee des von Schmitt geforderten starken Staates. Auch Hans Großmann-Doerth, der wie Böhm in Freiburg lehrte, war Schmitt ergeben. Angesichts der Zügellosigkeit des liberalen

93Müller:

Elemente der Staatskunst, 220 f. Wirtschaftskreisen hat diese Ansicht wenig an Attraktivität eingebüßt, stellvertretend etwa bei Kaspar Villiger, dem früheren Schweizer Bundespräsidenten und Verwaltungsratspräsidenten der Schweizer Großbank UBS, der im Jahr 2013 die Walter-Eucken-Vorlesung unter dem Titel Mit Freiheit und Werten zu Wohlstand hielt (Tübingen: Mohr Siebeck 2015). 95Vgl. Dieter Haselbach: Autoritärer Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden: Nomos 1991. 94In

94

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Marktes und der Schwächen der Demokratie, lautete die gemeinhin vertretene Ansicht, könne nur der starke Staat für Sicherheit und Wohlstand sorgen. Der Ruf nach einem autoritären Staat war die logische Folge eines Krisenbewusstseins, das viele Zeitgenossen in seinem Bann hielt, wie sich am Beispiel Alexander Rüstows zeigen lässt. Während sich Eucken hauptsächlich den wirtschaftlichen Abläufen und Rahmenbedingungen des Wettbewerbs zuwandte, war Rüstow zusammen mit Röpke und Müller-Armack an den Auswirkungen der Ökonomie auf das Leben – der sogenannten „Vitalpolitik“ – interessiert. Vom sozialistischen Denker hatte er sich zum Kritiker der sozialdemokratischen Regierung gewandelt, für die er bis 1924 im Wirtschaftsministerium arbeitete. Es verwundert daher nicht, dass Rüstow in persönlichem Verkehr mit Schmitt stand. So unterschiedlich deren Haltungen in tagespolitischen Fragen sein mochten – in der Forderung nach einer Liberalisierung des Marktes fanden sie zusammen. Während Schmitt sein Heil jedoch in einer Verfassung suchte, die dem Volk und der Nation zu „Größe“ verhelfen sollte, suchte der 1933 ins Exil nach Istanbul geflohene Rüstow nach dem Krieg die Lösung in einer reformierten sozialen Marktwirtschaft. Für einen solchen Ansatz stand der von ihm mitbegründete Begriff des „Neoliberalismus“.96 Dieser vereinte Denker der Österreichischen Schule wie Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek mit denen der Freiburger Schule um Walter Eucken, Röpke und Rüstow, die sich trotz vieler Gegensätze, die auf dem von Louis Rougier vom 26. bis 30. August 1938 organisierten Colloque Walter Lippmann in Paris zutage traten, auf ein gemeinsames Abschluss-Dokument einigen konnten – der Gründungsurkunde des Neoliberalismus. Die in den 1970er und dann wieder in den 1990er Jahren zu beobachtende Ideologisierung des Begriffs mit seiner zunehmenden Ablehnung staatlicher Regularien, war den Ur-Neoliberalen noch fremd. Wie für Eucken so sollte der Staat auch nach Ansicht Rüstows so weit in der Lage sein, ins wirtschaftliche Geschehen einzugreifen, wie es das Gebot der Fairness und der sozialen Gerechtigkeit verlangte, mehr aber auch nicht. Hatte Rüstow dabei die Gesamtheit der Bevölkerung im Auge, so Schmitt das „Volk“, von dem Juden, Sinti, Roma, politisch Andersdenkende und Homosexuelle ausgeschlossen waren. Die Wirtschaftsauffassungen des Nationalsozialismus stehen mit gängigen Ideen eines „freien“, wenn auch regulierten Marktes keineswegs im Widerspruch. Unschlüssig war man sich allein in der Frage nach dem Grad staatlicher Lenkung.97

96Seither

wird die Freiburger Schule im englischen Sprachraum meist als „German neo-liberalism“ bezeichnet. Viel mehr als es sich die dem Ordoliberalismus zugetanen Ökonomen wünschten, geht es den Vertretern des Neoliberalismus seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts um die Reduzierung des Staatsapparats und Deregulierung nach dem Muster des amerikanischen Laissez-faire, wie er von Neokonservativen, insbesondere dem von der Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei gegründeten Freedom Caucus, vertreten wird. 97Vgl. etwa die bei Johannes Bähr und Ralf Banken (Hg.) zusammengetragenen Beiträge: Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus. Studien zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts im Interventionsstaat des ‚Dritten Reichs‘, Frankfurt a. M: Klostermann 2006, sowie Christoph Buchheim: „Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese“, in: Historische Zeitschrift 282.2 (2006), 351–390.

Freiburger und Frankfurter Schule

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Bei aller guten Absicht, die Euckens Suche nach einer neuen „Lebensordnung“ leitete, überführte der Ordoliberalismus die Philosophie in politisches Handeln und eine ökonomische Ideologie, die der gesellschaftlichen Entwicklung abträglich war, indem sie sich zum Komplizen von Unterdrückung und Militarisierung machte. Auch wenn sich soziale Marktwirtschaft als erfolgreicher Mittelweg zwischen freiem Handel und Absicherung gegen individuelle Not, zwischen Warenfluss und Regulation erwies, so lässt sich ihre Geschichte nicht ohne ihre Anfänge vor und während des Zweiten Weltkriegs schreiben. Euckens Wertbegriff nahm einerseits das von Husserl bereitgestellte phänomenologische Instrumentarium an Ideen und Begriffen auf, andererseits beruhte es auf den Idealen des bürgerlichen Liberalismus, die es über alle Untiefen der Moderne hinweg zu erhalten suchte. Für die Ordoliberalen waren „Werte“ in semantisch doppelter und geradezu gegensätzlicher Weise besetzt. Einerseits trug man dem Staat die Aufgabe an, kulturelle und materielle Werte miteinander zu versöhnen, weil ein entfesselter Kapitalismus unweigerlich zur Zerstörung der kulturellen Fundamente führe, auf denen das gesellschaftliche Leben beruhe. Andererseits stützten sich Ordoliberale gerade auf die quantitativen Prinzipien der Profitmaximierung und der Effizienzsteigerung, die dem kulturellen „Leben“ ein ökonomisches und soziales Fundament geben sollten.

Freiburger und Frankfurter Schule Anders als der Ordoliberalismus galt dem 1924 von Felix Weil gegründeten, privat finanzierten Institut für Sozialforschung in Frankfurt die von Max Weber umrissene „irrationale Rationalität der kapitalistischen Gesellschaft“98 als leitendes Prinzip. Dem Marxismus – wie sein erster Direktor Carl Grünberg – zunächst gewogen, nahm das Institut für Sozialforschung allmählich eine grundsätzlich ideologiekritische Haltung an, aus der sich Methode und Denkweise der Kritischen Theorie herleiteten. Nach dem plötzlichen Tod Grünbergs 1927 blieb die Leitung des Instituts vakant, bis Max Horkheimer 1931 zum Ordinarius auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Sozialphilosophie berufen wurde und so auch den Vorsitz des Instituts übernehmen konnte. Freiburger und Frankfurter Schule waren sich ergänzende Widersacher in einem Prozess, bei dem jene ökonomische, diese aber gesellschaftliche Werte im Blick hatte – Bereiche, die freilich nicht voneinander zu trennen sind: „Die einen wie die anderen sind, wenn Sie so wollen, nach ihrem Exil in den Jahren 1945, 1947 nach Deutschland zurückgekehrt […], und die Geschichte ergab, daß die letzten Schüler der Frankfurter Schule 1968 mit der Polizei einer Regierung zusammenstießen, die von der Freiburger Schule inspiriert war: Sie haben sich auf beiden Seiten der Barrikaden verteilt, denn das war schließlich das doppelte, zugleich parallele, überkreuzte und antagonistische Schicksal des Weberismus in Deutschland.“99 Beriefen sich die Freiburger Ordoliberalen auf Husserl, so gründete

98Foucault: 99Ebd.,

Geschichte der Gouvernmentalitität II, 153. 154.

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die Vernunftkritik der Frankfurter Schule auf einer vehementen Ablehnung des einst geschätzten Philosophen. Horkheimer hatte 1921 ein Semester bei Husserl studiert; Herbert Marcuse hatte sogar seine gesamte Studienzeit in Freiburg verbracht und war auf Empfehlung Husserls nach Frankfurt gekommen; Adorno wurde 1924 mit einer Arbeit über Husserls Phänomenologie bei Hans Cornelius promoviert. Der Vernunftbegriff stand im Zentrum der Kritischen Theorie, die, anders als die Freiburger Schule, nicht auf Ordnung setzte, sondern das Konzept der Dialektik als Analyseerfahren wählte, das definitiven und apologetischen Aussagen widersprach und im Resultat ergebnisoffen blieb. Unter dialektischen Gesichtspunkten schied der Bezug auf Wahrheit als eines erkenntnistheoretischen Begriffs aus. Ganz anders hatte Husserl den Begriff der „Wahrheit“ unter sprachlogischen Voraussetzungen noch in den Mittelpunkt philosophischer Erörterung stellen wollen. Horkheimer hielt in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft (engl. erstmals 1946, deutsch 1967) dagegen, dass im Zeitalter des Kapitalismus alles Denken dem Diktat der Instrumentalisierung gehorche und auf die „behelfsmäßige, technische Zusammenfassung faktischer Daten“ beschränkt würde: „Begriffe sind zu widerstandslosen, rationalisierten, arbeitssparenden Mitteln geworden. Es ist, als wäre Denken selbst auf das Niveau industrieller Prozesse reduziert, einem genauen Plan unterworfen – kurz, ein fester Bestandteil der Produktion. […] Die Sprache ist im gigantischen Produktionsapparat der modernen Gesellschaft auf ein Werkzeug unter anderen reduziert. […] Soweit Wörter nicht offenkundig dazu verwandt werden, technisch relevante Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen oder anderen praktischen Zwecken dienen, unter die selbst die Erholung fällt, geraten sie in Gefahr, als leeres Geschwätz verdächtig zu werden; denn Wahrheit ist kein Selbstzweck.“100 Konservativen Kulturkritikern, darunter nicht nur Intellektuelle wie Spengler und Schmitt, sondern auch jene, die wir dem Ordoliberalismus zurechnen können, wirft Horkheimer vor, im Verein mit einer populistischen, anti-intellektuellen Bewegung zu handeln. Wer die Verdummung unterschätze, verkenne das humanistische Fundament auf dem er stehe: „Der menschliche Intellekt, der biologische und gesellschaftliche Ursprünge hat, ist keine absolute Wesenheit, isoliert und unabhängig. Dazu wurde er nur infolge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erklärt, um diese auf der Basis der natürlichen Konstitution des Menschen zu rechtfertigen. Die leitenden Funktionen der Produktion – Kommandieren, Planen, Organisieren – wurden als reiner Intellekt den manuellen Funktionen der Produktion als einer niedereren, unreineren Form von Arbeit, der Arbeit von Sklaven, gegenübergestellt.“101 Horkheimers Skeptizismus ist der Widerstand gegen die auf Logik bauende, instrumentelle Vorstellungswelt Husserls, der im Glauben, sich den Krisen des

100Max

Horkheimer: Kritik der instrumentellen Vernunft, in: Gesammelte Schriften, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 6, „Zur Kritik der reinen Vernunft“ und „Notizen 1949– 1969“, hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M: Fischer 1991, 21–186, hier 42 f. 101Ebd., 71.

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Geistes und der materiellen Not durch ein festes begriffliches Instrumentarium anzunähern, lediglich der kapitalistischen Ideologie das Wort redete.102 In Husserl sieht Horkheimer eine Zuspitzung des Historismus, der die Deutung von historischen „Tatsachen“ zu reinen Sprechakten vereinfacht, ohne weiter auf Inhalte eingehen zu müssen: „Es ist Husserls feste Überzeugung, daß sowohl in der psychischen wie in der physischen Natur, sowohl an Tatsachen des Bewußtseins wie an den Dingen im Raume, immer nur Sätze gewonnen werden können, die jeweils durch Tatsachen revidierbar sind.“103 Der Mensch, meint Horkheimer an anderer Stelle, werde in dem von Husserl entworfenen Weltbild zum Spezialisten am Ende einer „Kette von Urteilen und Schlüssen, als sozialer Faktor erscheint er sich als bloßer Gegenstand. […] Die Person fällt in zahllose Funktionen auseinander, der Zusammenhang ist unbekannt.“104 Die von Husserl verfochtene Logik der Wissenschaft hypostasiere einen abstrakten Begriff des „Gegebenen oder der Tatsache“, der dem „anonymen Verwertungsprozess der Gesellschaft“ vorarbeite.105 Für alles Unverstandene bemüht sie eine Vorstellung der Mystik, der nicht weniger ihre eigene Erkenntnisidee leitet.106 Denn ein von Bedeutung geleerter und von Kritik gänzlich absehender Formalismus, wie ihn Husserl biete, stellt sich in den Dienst eines „Herrschaftsapparats“, in dem die Menschen zwischen Tatsache und Abbild nicht mehr unterscheiden können: „In den jede innere Freiheit vernichtenden ökonomischen Mechanismus eingespannt, durch abgefeimte Methoden der Erziehung und Propaganda in der Entwicklung ihrer Intelligenz gehemmt, durch Angst und Schrecken um ihr Selbstbewußtsein gebracht, könnten die Menschen jenes Landes verkehrte Eindrücke haben, ihnen selbst widersprechende Handlungen begehen, in jeder Empfindung, jedem Ausdruck und jedem Urteil bloß Täuschungen und Lügen produzieren.“107 Adorno geht in seinem Urteil über Husserl einen Schritt hinaus. Seine ­Vorlesungen zur Einführung in die Dialektik aus dem Jahr 1958 bezeichnen „Dialektik“ – mit einer Anspielung auf die Phänomenologie – als Verfahren, das aus der „Sache“ selbst zu erfolgen habe. Husserls logische Analyse der Erkenntnis gebe vor, das reine Wesen der Dinge durch Allgemeinbegriffe zu erfassen, jedoch nur, um das Modell an die Stelle des Objekts zu setzen und dessen Wesen

102Vgl.

hierzu den Abschnitt „[Husserls Logische Untersuchungen]“ aus Max Horkheimer: Einführung in die Philosophie der Gegenwart (Vorlesung und Publikationstext) [1926], in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, 299–316. 103Ebd., 303. 104Max Horkheimer: „Der neueste Angriff auf die Metaphysik“ [1937], in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, 108–161, hier 130. 105Ebd., 131. 106Vgl. ebd., 132. 107Ebd., 135 f. Ähnlich kritisch beurteilt Horkheimer die Philosophie des Wiener Kreises und deren von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie entwickeltes wirtschaftstheoretisches Fundament.

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als Resultat von ­Verstandesoperationen auszuweisen.108 Adorno setzt damit Dialektik und Phänomenologie in einen strikten Gegensatz. Zwei Jahre zuvor, 1956, war Adornos Buch Zur Metakritik der Erkenntnistheorie erschienen – eine ausführliche und ans Polemische grenzende Abrechnung mit Husserl. Vorstudien reichen ins Jahr 1924 zurück; einen großen Teil verfasste Adorno zwischen 1934 und 1937. Dass nahezu zwei weitere Jahrzehnte bis zur Publikation vergingen, spricht für die Aktualität der Studie auch nach einer langen Zeit der Auseinandersetzung mit dem Thema. Zwischen den Anfängen und der Veröffentlichung liegen die Erfahrung des Krieges und des Wiederaufbaus – die für den Ordoliberalismus prägenden und seine Entfaltung stehenden Jahre. Im Nachkriegsdeutschland wurde sein Marktmodell zur wirtschaftlichen und politischen Realität. Sein Ideal des freien Wirtschaftens galt lange als Mittel, um Probleme zu lösen, die er selbst hervorbrachte: Ungleichheit, Schwankungen auf dem Finanzsektor, Abhängigkeit vom globalen Handel, letztlich die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen – ein Leben auf Kosten zukünftiger Generationen. Schon zu Beginn verweist Adorno auf die für unhaltbar zu erachtende „Seinssphäre absoluter Ursprünge“,109 die den vermittelten Charakter von Wahrnehmung und Denken schlichtweg negiere und sich auf ein „Erstes“, auf „Identität“ und Wesenhaftigkeit berufe.110 Husserls Phänomenologie entwirft demzufolge eine „Residualtheorie“: „Wahrheit soll sein, was übrig bleibt, die Neige, das Allerschalste. Der Inhalt auch von Husserls phänomenologischem Residuum ist ganz dürftig und leer und wird dessen überführt, sobald die Philosophie […] auch nur den kleinsten Schritt wagt, um aus dem Gefängnis des Residuums ins freie Leben sich zurückzubegeben.“111 Die Philosophie Husserls schaltet im Kleid der reinen Logik den Erkenntnisbestand jeglicher Kritik von vornherein aus: „Trotz der Parole ‚Zu den Sachen‘ sind seine Texte gerade in ihren fruchtbarsten Partien überaus formal und voll von terminologischen Distinktionen […]. Denken, Bewußtsein als ‚Seinssphäre absoluter Ursprünge‘ wird unterm Primat des Wissenschaftsideals als reines, von allem Vorurteil und aller theoretischen Zutat gereinigtes Forschungsthema behandelt.“112 Adorno schlägt nun den Bogen zu Marx’ Werttheorie. Im Sinne der Dialektik verweise eine derart verdinglichte und sich selbst entfremdete Form des Denkens auf die „Warenform, deren Identität in der ‚Äquivalenz‘ des Tauschwerts besteht“.113 Husserls Logik gebärt folglich „ein sich selbst uneinsichtiges

108Theodor W. Adorno: Einführung in die Dialektik (1958), hg. von Christoph Ziermann, in: Nachgelassene Schriften, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Abteilung IV, Vorlesungen, Bd. 2, 239 f. 109Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 7–245, hier 12. Adorno bezieht sich hier auf Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, die er aus der 2. Auflage, Halle an der Saale: Niemeyer 1922, 107, zitiert. 110Ebd., 15. 111Ebd., 23. 112Ebd., 55 f. 113Ebd., 76.

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gesellschaftliches Verhältnis“, ein „falsches Bewußtsein“, dessen „radikalisierte[r] Subjektivismus […] zum Phantasma der eigenen Überwindung“ wird.114 Schließlich weist Adorno der Philosophie Husserls einen geschichtlichen Ort im vom Liberalismus beförderten Kulturpessimismus zu: „Mit Phänomenologie schlägt das bürgerliche Denken zu seinem Ende in dissoziierte, fragmentarisch nebeneinander gesetzte Bestimmungen um und resigniert zur bloßen Reproduktion dessen, was ist. Husserls Ideenlehre ist das System im Zerfall, so wie die ersten Systeme klobig aus den Trümmern des ordo von einst zusammengeschichtet waren.115 Adorno konnte auf Horkheimers Studien zur phänomenologischen Philosophie bauen. In seinem programmatischem Aufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie“, der 1937 im sechsten Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung erstmals erschienen war, beschrieb Horkheimer Husserls Wissenschaftskonzept als Beispiel einer im bürgerlichen Zeitalter bis ins Irrationale verkehrten „traditionellen“ Theorie.116 Ihr Streben nach der harmonischen Stimmigkeit logischer Sätze, ihre Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit steht nach Horkheimers Auffassung für ein Denken, das sich verselbstständigt und von seinen Gegenständen entfernt hat. Die Spezialisierung entspricht „dem sonstigen Leben unter der industriellen Produktionsweise“, das auf den Prinzipien der Rationalisierung, Effizienz und Profitmaximierung beruht.117 Die kritische Theorie betone dagegen die Verflechtung des Denkens mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen und hebt die Absonderung der Theorie von der Lebenspraxis auf: In Wahrheit resultiere das Leben aus der „Gesamtheit der verschiedenen Produktionszweige“, zu denen auch die Wissenschaft zu rechnen sei. Die traditionelle Theoriebildung reproduziere lediglich das geltende Herrschaftsprinzip, das den „Schein der Selbständigkeit von Arbeitsprozessen“ hervorruft. Die unter den Vorzeichen des Kapitalismus verdinglichten Wirtschaftssubjekte glaubten lediglich, „nach individuellen Entschlüssen zu handeln, während sie noch in ihren kompliziertesten Kalkulationen Exponenten des unübersichtlichen gesellschaftlichen Mechanismus sind.“118 Wir können an dieser Stelle den Neukantianismus und die Schule des Wiener Kreises getrost in Horkheimers Rundumschlag einbeziehen, denn allesamt beruhen sie auf einem auf Harmonie bauenden Theorieverständnis fern jeglicher Kritik. Sie kapitulieren, nach Horkheimers Ansicht, vor der Wirklichkeit, um sich auf die Bedingungen der Erkenntnis zu beschränken, die sich lediglich logischen Sprechakten für zugänglich erweist. Die Kritische Theorie dagegen ziehe in Betracht, dass die „Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, […] in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert“ sind: durch den „geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.“119

114Ebd. 115Ebd.,

214 f. Horkheimer: „Traditionelle und Kritische Theorie“ [1937], in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, 162–216, hier 164. 117Ebd., 165. 118Ebd., 171. 119Ebd., 174. 116Max

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Auch die Hypothesenbildung der Wissenschaften erachtet Horkheimer im Sinne von Marx und Engels als „Arbeit“. Der daraus resultierende Wertbegriff verweist notwendig auf eine ökonomische und eine geistige Seite. Ist die Theoriebildung Resultat intellektueller Anstrengung, so ist sie zugleich aufs Engste an ihren ökonomischen Rahmen geknüpft. Theorie ist das Tauschobjekt, das dem Abnehmer für mehr oder weniger wertvoll erscheint, jedoch oft weit „unter ihrem Wert bezahlt“ gehandelt werde und das „Schicksal anderer konkreter und möglicherweise nützlicher Arbeiten“ teile.120 In der Tat entsteht moderne wissenschaftliche Hypothesenbildung in unmittelbarer Nachbarschaft zum wirtschaftlichen Liberalismus. Sie gehört daher, wie Horkheimer vermutet, zum „ökonomischen Gesamtprozeß“,121 der den Bedingungen des kapitalistischen Marktes gehorcht. Wissenschaftler, meint Horkheimer, ignorieren diesen Prozess und stehen beispielhaft für die Entfremdung des Menschen in der Ökonomie des Denkens, die sich in der „Trennung von Wert und Forschung, Wissen und Handeln“ niederschlägt.122 Die kritische Theorie versucht hingegen, über diese „Spannungen real hinauszugelangen“ und das Bild des Menschen in seiner Widersprüchlichkeit zu erfassen, ohne sich anzumaßen, diese Widersprüche aufzulösen. Sie untersucht eine „gesellschaftliche Praxis“, die in ihrer unvernünftigen und unmenschlichen Form „das Dasein bis in die Einzelheiten“ bestimme.123 Kritische Theorie verdeutlicht, so Horkheimer, „die Konstruktion des Geschichtsverlaufs als des notwendigen Produkts eines ökonomischen Mechanismus“ und enthält zugleich den „Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung“ des Menschen. Sie skizziert einen Zustand, „in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mechanismus, sondern aus Entscheidungen fließen“.124 Damit ist klar, dass auch das Objektivitätsgebot Max Webers, wonach wissenschaftliches Arbeiten von Werten frei sein müsse, hinfällig ist. Denn Wertfreiheit steht demnach im Dienst einer Ideologie, die sich als „neutral“ und von ihren ökonomischen Bedingungen losgelöst darstellt.125 In der Protestgeneration der 1960er Jahre, die in Horkheimer, Adorno und Marcuse Wortführer sahen, ist der Aufruf zum Widerstand gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich die Kritische Theorie auf die Fahnen geschrieben hat, auf offene Ohren gestoßen. Um die Allianz von Totalitarismus und Kapitalismus, nationalsozialistischer Ideologie und freier Marktwirtschaft, von Profitmaximierung und Massenmord wussten die Studierenden aus Vorlesungen und der Lektüre einschlägiger Literatur, als sie ihren Unmut auf den Straßen zum Ausdruck brachten. Der mit instrumenteller Vernunft geplante und von ökonomischen Erwägungen begleitete Genozid an Juden, Sinti und

120Ebd.,

180.

121Ebd. 122Ebd.,

182. 183 f. 124Ebd., 203. 125Vgl. Weber: „Wissenschaft als Beruf“, in: Schriften und Reden, Bd. 17, 70–111. 123Ebd.,

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Roma, war das schreiende Beispiel für die Stummheit und Lügen der Eltern, die von nichts gewusst haben wollten. Die ihrer Habe beraubten, ihrer Individualität benommenen, zu Bergen geschichteten Körper der Toten von Auschwitz, Majdanek oder Sobibor standen für die Kehrseite der im konsumversessenen Wirtschaftswunderland gedeihenden sozialen Marktwirtschaft. Gewiss war das wirtschaftliche System des Nationalsozialismus von einem hohen Maß an staatlicher Steuerung gekennzeichnet, doch waren es ordoliberale Denker wie ­Walter Müller-Armack und seinesgleichen, die noch während der Gewaltherrschaft der Nazis der sozialen Marktwirtschaft den Boden bereiteten und manche ihrer Steuerungsmechanismen in ihre ökonomischen Konzepte aufnahmen. Die Hoffnung der Studierenden richtete sich also nicht nur darauf, sich vom moralischen Ballast der Elterngeneration zu befreien, sondern vom Modell der sozialen Marktwirtschaft zu distanzieren, das während des nationalsozialistischen Terrors entstanden war. Im Protest versicherten sie sich ihrer freien Willensentscheidung und meinten, den Zwängen einer Ideologie zu entkommen, die durch ihre Anpassungsfähigkeit buchstäblich alles in sich aufnimmt und in ihr Kalkül einbezieht. Das Wort von der „Revolution“ war auf Spruchbändern und Pamphleten ebenso zu lesen wie auf den Titelseiten großer Tageszeitungen. Die Realität gab hingegen wenig Anlass, an einen radikalen Umbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu glauben. War die Sehnsucht nach einer Abkehr von den Zwängen der Konsumgesellschaft, die den Lebenssinn des Individuums auf die Zirkulation der Güter und die permanente Wiederholung von Arbeit, Entlohnung, Erholung und Kauf festlegt, einer der treibenden Faktoren für den Aufstand der Studierenden, so geriet selbst der Widerstand gegen den Kapitalismus zu einem seiner Markenzeichen. Subkultur wurde Popkultur, die als Protest begann und als Produkt endete. Die Revolution verwandelte sich bald zum verkäuflichen Gut auf dem Markt des Gedenkens an eine „coole“ Epoche, deren politischen Antrieb die Konsumgesellschaft längst absorbiert hatte. Dem im 19. Jahrhundert in Kunst und Ästhetik weitgehend beklagten Gegensatz von Kultur und Ökonomie stellt die Kritische Theorie eine radikale These gegenüber: Kultur selbst unterwirft sich dem Diktat der Ökonomie, ja sie dient ihr. Spricht Horkheimer anfangs noch von der „Abhängigkeit des Kulturellen vom ­ ultur Ökonomischen“,126 so rückt zunehmend die Imitation ins Zentrum, mit der K die Monopole ihrer Akteure in die für sie günstigste Richtung lenkten. „Kultur“ werde daher zu einem eigenständigen Industriezweig, zur „Kulturindustrie“. In ihrer im amerikanischen Exil ab 1942 verfassten, in kleiner Auflage 1944 und dann als Buch 1947 erstmals publizierten Dialektik der Aufklärung stellen Adorno und Horkheimer Kultur als „Massenbetrug“127 dar und beschreiben das Aufkommen der Kulturindustrie als zwingendes Resultat eines allumfassenden Rationalisierungsprozesses, der den Gesetzen der Gewinnmaximierung und Ausbeutung gehorcht.

126Horkheimer: 127So

„Traditionelle und Kritische Theorie“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, 211. der Untertitel des „Kulturindustrie“-Abschnitts.

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In ihrer Angleichung an die Produktionsweisen der Industrie – von Arbeitsteilung, Effizienzsteigerung und Technisierung – bringt die industrielle Herstellung von Kultur Produkte für jeden und alle hervor. In der Tat vollendet die Kulturindustrie den Traum vom Gesamtkunstwerk. Kunst gelangt damit an ihr Ende, denn sie existiert nur noch als Imitation ihrer selbst, als Kopie von Praktiken, die in der Werbung und der Ästhetisierung der Konsumgüter zur Erzielung des höchstmöglichen Gewinns Anwendung finden. Definiert Adorno in seiner Ästhetischen Theorie (postum 1970) Kunst als das grundlegend Andere der Gesellschaft, ja als deren Negation, ist der Kunstbegriff der Kulturindustrie ein degeneriertes Konzept des eigennützigen Marktes, dessen Oligarchen wir als Profiteure des guten Geschmacks zu begreifen haben. Die Ruhigstellung und unkritische Rezeption einer leicht verdaulichen, konsumierbaren Kultur ist die Basis für ökonomisches Wachstum; Kontemplation und kritische Reflexion sind darin nicht erwünscht. Das Leben selbst, suggerieren uns die „Waren“ der Kulturindustrie, ist aufregend, abenteuerlich und leidenschaftlich; die Anforderungen des kapitalistischen Marktes sind dagegen monoton, sinnlos und grausam. Der entfremdete, verdinglichte Mensch ist das Opfer jener Technologien, die ihm vormachen, die Hauptrolle im eigenen Film zu spielen. Das Drehbuch haben in Wahrheit andere geschrieben. Kultur fällt damit vollends unter das Primat der ökonomischen Nützlichkeit. Sie ist zum quantifizierbaren Gut geworden, dessen „Wert“ sich als Buchhaltungsgröße in den Bilanzen der Kulturindustrie niederschlägt: „Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur. Der Generalnenner Kultur enthält virtuell bereits die Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt. Erst die industrialisierte, die konsequente Subsumtion, ist diesem Begriff von Kultur ganz angemessen. Indem sie alle Zweige der geistigen Produktion in gleicher Weise dem einen Zweck unterstellt, die Sinne der Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend bis zur Ankunft bei der Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitsganges zu besetzen, den sie den Tag über selbst unterhalten müssen, erfüllt sie höhnisch den Begriff der einheitlichen Kultur, den die Persönlichkeitsphilosophen der Vermassung entgegenhielten.“128 Kultur wird unter den Vorzeichen des Kapitalismus zur Religion. Ihr Kult besteht im Konsum, ihre Ekstase in Unterhaltung, mit der sie die Ziele des Liberalismus verschleiert. Wenig konnten Horkheimer und Adorno von der Allgegenwart ahnen, mit der selbst die Arbeitswelt heute von kurzen Spannen der Unterhaltung durchdrungen ist. Moderne Technologien, mobile Bildschirme und das Internet stellen die Mittel bereit, die unsere Sinne in geringer, aber ständig verfügbarer Dosierung betäuben. Waren die Sphären der Arbeit und der Unterhaltung für die Denker der K ­ ritischen Theorie Mitte des 20. Jahrhunderts noch getrennt, so verschmelzen sie nun während des Arbeitens beim Empfang einer Nachricht oder eines Bildes

128Max

Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 152 f.

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auf dem Smartphone. Mächtige Unternehmen erhielten mit der Entwicklung der Informationstechnologien den gleichen Kultstatus wie die Produkte, die sie verbreiten. Sowohl die Geräte der Kulturindustrie als auch ihre digitalen Programme dienen der Erlösung des modernen Menschen, der sich seines Zwangs zur Arbeit und zum Konsum enthoben glaubt, solange ihm die vermeintliche Freiheit zur Wahl, zum heimlichen Ausbruch aus dem Alltag, zur Öffnung einer anderen, durch Apps und Browser bereitgestellten Welt erlaubt ist. In dieser Welt sind Arbeit und Freizeit eins, auch wenn Gesetze und „Best Policy“-Vereinbarungen eine Trennung vortäuschen. Hier ist die Work-Life-Balance – das Schlagwort einer Klasse, die sich das vermeintliche Kürzertreten erlauben kann, ohne sich ihrer Abhängigkeit vom ökonomischen Diktat des Neoliberalismus bewusst zu sein – bereits Wirklichkeit geworden, denn selbst die kurzen Momente der Ablenkung und der Freizeit dienen dem Konsum verwertbarer Daten, der neuen Währung des digitalisierten Marktes. In dieser Welt ist alles „Arbeit“, auch das „Leben“, alles Markt, nichts den Gesetzen der Quantifizierung, Profitabilität und Effizienzsteigerung entzogen. Allzu auffällig vermieden marxistische und politisch liberale Denker seinerzeit den philosophischen Wertbegriff. In der Tradition des Liberalismus und seiner Kritik, wie sie am deutlichsten von Marx formuliert worden war, kann „Wert“ nicht anders als ökonomisch verstanden werden. Horkheimer und vor allem Adorno lehnten den Wertbegriff der Philosophie nicht nur als Rückkehr zur Metaphysik ab – soweit waren sie sich mit Heidegger einig –, sondern verdammen die Idee des Wertes als Idealisierung einer vorweg angenommenen „Eigentlichkeit“ – dem Reinen und Unberührten, das zur Funktion des Kapitalismus geworden ist. Mit der ursprünglich als Anhang zur Negativen Dialektik (1966) vorgesehenen Schrift über den Jargon der Eigentlichkeit (1964) steht Adornos Auseinandersetzung mit Husserl in einem engen Verhältnis. Seine Schrift können wir als Angriff auf eine Sprache verstehen, die sich auf Kategorien beruft, die „stumm“ bleiben, wenn wir sie nicht mit Bedeutung füllen.129 Die Ideen des „­Reinen“, „Ursprünglichen“ und „Eigentlichen“ lassen sich für ideologische Zwecke gebrauchen – ob die des National-

129Adorno hatte Jargon der Eigentlichkeit nach eigener Aussage als Teil seiner Negativen Dialektik zwischen 1962 und 1964 verfasst, dann aber aus dem ursprünglichen Buchprojekt ausgegliedert. Über den Anlass des Textes gibt eine Notiz Auskunft, die am Schluss angefügt ist, und die die Quelle des auf Ursprünglichkeit angelegten Duktus in der deutschen Philosophie benennt: „Das bereitet Ärgernis: Stellen aus Jaspers, gedankliche Komplexe aus Heidegger werden auf gleicher Stufe mit einem sprachlichen Gebaren behandelt, das vermutlich die Schulhäupter mit Entrüstung von sich wiesen. […] Ihre Philosopheme bringen zutage, wovon der Jargon zehrt und was nicht ausdrücklich zu sagen einen Teil seiner Suggestivkraft ausmacht. Hat sich in den ambitiösen Entwürfen deutscher Philosophie aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre niedergeschlagen und artikuliert, wohin es damals jenen objektiven Geist zog, der blieb, was er war, und darum heute noch den Jargon redet, so ist erst an der Kritik jener Entwürfe die Unwahrheit objektiv zu bestimmen, die aus der Verlogenheit des Vulgärjargons widerhallt. Seine Physiognomik führt auf das an Heidegger sich Entbergende“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, 413–526, hier 525. In die Kritik war auch der Heidegger-Schüler Marcuse einbezogen, selbst wenn beide, Adorno und Marcuse, nun ähnliche Ansichten teilten (Marcuse war, wie erwähnt, ein Schüler Heideggers).

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sozialismus oder die des Liberalismus. So appelliert die Kategorie der „Reinheit“ im einen Fall an die völkische deutsche Seele und weckt Assoziationen von „Nation“, „Rasse“ und „Volk“; im anderen Fall weckt sie in uns den Wunsch nach unverstellter Natur, den das kapitalistische Wirtschaftsmodell mit seiner Technikverliebtheit und Verdinglichung des Menschen notwendig hervorbringt. Adorno hat es neben Husserls aber vor allem auf den der Philosophie Heideggers innewohnenden Wertbegriff abgesehen. „Eigentlichkeit“ wäre dann lediglich eine Funktion der kapitalistisch geprägten Marktwirtschaft, in der selbst die Klage um den Verlust (an „Ursprünglichkeit“ oder „Reinheit“) einen Gewinn an „geistigem Kapital“ (Adam Müller) abwirft und die Erfahrung von Entfremdung und Vereinzelung die höchste Stufe von Individualität darstellt. Die Kulturpessimisten des frühen 20. Jahrhunderts – zu denen Heidegger zählt – sind daher trotz ihrer Anwürfe keine Kritiker des Kapitalismus, sondern seine Komplizen. Sie schufen Erleichterung, wo das moderne Wirtschaftsleben Härte zeigte, und kompensierten den Verlust an materiellem mit einem Gewinn an symbolischem Kapital. So sehr sich Philosophen der Kritischen Theorie dagegen wehren, einen ethischen oder philosophischen Wertbegriff zu verwenden, so wenig sind sie von seinen Einflüssen frei. Denn Werturteile gehen philosophischer Kritik voraus. Fällen wir Urteile bereits im Augenblick der Wahrnehmung, dann spielt der Filter, durch den wir zu Urteilen gelangen, eine wichtige Rolle. Man hat Adorno immer wieder vorgeworfen, einen normativen Maßstab an Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft herangetragen zu haben, an dem sich sein Wertverständnis zeige. Dass etwa das Medium des Films durchaus eigenständigen ästhetischen Charakter haben und nicht allein der Unterhaltung dienen könnte, mag Adorno fremd gewesen sein. Nicht anders urteilte Adorno über Performance-Kunst, Pop-Literatur oder jede Form politisch engagierten ästhetischen Ausdrucks. Auch wenn selten von „Wert“ unter den Denkern der Kritischen Theorie die Rede ist – oder nur von seiner ökonomischen Natur –, war man sich des Widerspruchs und Wertfilters bewusst, der dem kritischen Urteil vorausging. Der vielleicht höchste in den Schriften der Kritischen Theorie gehandelte Wert dürfte derjenige der „Wahrheit“ sein. Dialektik, meint Adorno, habe einen ihr eigenen Hang zum Idealismus, denn sie beziehe sich immer auf eine „Wahrheit“, die sich durch Kritik – den Abgleich des tatsächlich Gegebenen mit dem Ideologischen – offenlegen lasse. Sie nehme, heißt es in den Vorlesungen zur Einführung in die Dialektik, eine eigene Position in ihrer Analyse ein und mache ihren Standpunkt deutlich.130 Den Wahrheitsgehalt der Kunst wüsste Adorno indes nicht, wie in der Ästhetischen Theorie vielfach angedeutet, von der gegenständlichen Dimension des Kunstwerks, seiner psychologischen Wirkung und seinem Formgesetz zu trennen. „Wahrheit“ ergibt sich dann aus der Komposition des Werks und dessen gesellschaftlichem Kontext. Ihr auf den Grund zu gehen, ist Teil der „Arbeit philosophischer Selbstreflexion“,131 die gerade das

130Adorno: 131Theodor

Einführung in die Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 272. W. Adorno: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, 7–412, hier 21.

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am Phänomen Unbegreifliche und Unsagbare in Augenschein nimmt. Adorno greift hier erneut den logischen, rationalistischen Sprachgebrauch Husserls und des frühen Wittgenstein an, die sich der Kunst verschlossen und den ästhetischen Wahrheitsgehalt ignorierten. Sein Programm einer Negativen Dialektik (1966) betont dagegen das gesellschaftlich Andere, Unerkannte, das jenseits der logischen Begrifflichkeit Liegende: „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.“132 Was mit dem Nichtidentischen gemeint ist, wird klar, wenn wir den historischen Kontext in Betracht ziehen, vor dem Adornos Negative Dialektik entstanden ist. Kam dem Liberalismus des 18. Jahrhunderts der Vernunftgedanke der Aufklärung mit seiner vermeintlich rationalen Anwendung ökonomischer Prinzipien zustatten, so reduzierte sich das Ideal der Vernunft unter den Vorzeichen von Fortschritt, Wachstum und Profitmaximierung auf seine instrumentelle Anwendung. Vernunft schlug in ihr Gegenteil um. Im Umfeld des Hochkapitalismus erschien die Wertphilsophie als Groteske, die geradewegs in die dunklen und rassistischen Auswüchse unter den Nationalsozialisten führte. Wer von Wert sprach, musste Unwert und Wertlosigkeit ins Kalkül ziehen. Unterdrückung, Ausbeutung, Raub und Leid waren das Resultat dieser Philosophie. Deshalb ist es verständlich, weshalb sich Adorno sowie politische Aktivisten und Intellektuelle des linken Spektrums dagegen sträubten, den Wertebegriff über seine ökonomische Bedeutung hinaus als philosophisches Konzept zu diskutieren, obgleich sie nicht weniger von Wertvorstellungen geprägt sind. „Wahrheit“ bleibt daher der letzte Grund, der nicht weiter benannt werden kann. Auf ihr beruht Adornos Forderung nach einem „neuen kategorischen Imperativ“, der das Denken und Handeln so einrichtet, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“133 Die „Wahrheit“ des Kulturmarktes sieht hingegen anders aus. Dort werden selbst die Protagonisten der Frankfurter Schule zu werthaltigen Objekten für den gehobenen Geschmack des Bildungsbürgers. Benjamin lautet der Titel des von Peter Ruzicka komponierten und inszenierten „Musiktheaters in sieben Stationen“, das am 3. Juni 2018 an der Staatsoper Hamburg seine Premiere feierte. Der im weißen Anzug mit Nickelbrille dem Klischee nachempfundene Walter Benjamin tritt uns darin in zwei Personen entgegen – die eine singend, die andere sprechend –, um uns den in sich gespaltenen, von Verzweiflung zerrissenen, suchenden und analytischen Philosophen nahezubringen. Umgeben von jenen, die ihm nahestanden – dem „Kabbala-Forscher“ Gershom Scholem, dem „Schachpartner“ Bertolt Brecht, der „lettischen Schauspielerin“ Asja Lacis und der Philosophin Hannah Arendt –, baut die Oper einen biographischen Spannungsbogen auf, der im Suizid Benjamins in der spanischen Grenzstadt Port-Bou endet.134 Zwischen Kunst und Unterhaltung

132Ebd.,

17. 358. 134Vgl. Peter Ruzicka: Benjamin. Musiktheater in sieben Stationen, Uraufführung am 3. Juni 2018, Staatsoper Hamburg, http://www.staatsoper-hamburg.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=146979 (3. Dezember 2018). 133Ebd.,

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für ein zahlungskräftiges Publikum ist kaum zu unterscheiden. Selbst ein Kritiker der Vermarktung wie Benjamin lässt sich vermarkten. Nicht zufällig fehlen hingegen in Benjamins musikalischem Bühnenleben die Figuren Horkheimers und Adornos, die mit ihrer Kritik an der Kulturindustrie ebenso gestört hätten wie Benjamins eigene Überlegungen zu den ästhetischen Wertvorstellungen im „Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“.135 Das Komplexe wird auf diese Weise zum Bekömmlichen.

135Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Gesammelte Schriften, Bd. VII, 350–384.

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Liberalismus für alle: Ökonomische Werte als Heilsversprechen

Keinen Heller wert „Wert“ bestimme sich, meinte einst der schottische Ökonom John Law, einerseits nach dem Nutzen, den ein Gut habe, andererseits durch die zur Verfügung stehende Menge und die daraus entstehende Nachfrage. So habe etwa Wasser einen großen Nutzen, jedoch einen geringen Wert, wohingegen Diamanten von geringem Nutzen, aber großem Wert seien.1 Ökonomen ist dieser Widerspruch als „klassisches Wertparadoxon“ bekannt. Mit seiner Grenznutzentheorie glaubte Carl Menger, die Lösung für den Widerspruch von Nutzen und Nachfrage gefunden zu haben. Seiner Theorie zufolge nehme der Wert eines Gutes bei großer zur­ Verfügung stehender Menge ab, bis das Bedürfnis gesättigt, der individuelle Nutzen also zurückgegangen sei, auch wenn die Nachfrage insgesamt hoch bleibe. Aus dem „Grenznutzen“ – jenem Bereich, ab dem kein Nutzen mehr fest­zustellen sei – würde sich der Wert eines Gutes ergeben. Laut Menger erscheint „Wert“ demnach als individuelle Größe, unabhängig von Geschichte, Politik und Kultur. „Wert“ betont in diesem Fall den Konsum gegenüber der Arbeitsleistung, die in ein Produkt eingeht. Schon 1871 bezeichnete Menger den „Werth“ von Waren daher als „Urtheil“, das sich „die wirthschaftenden Individuen“ über ein Gut bilden würden.2 Allgemein ließe sich, so Menger, „Werth“ als „Bedeutung“

1John

Law: Money and Trade Considered. With a Proposal for Supplying the Nation with Money, Glasgow: R. & A. Foulis 1705, 4: „Goods have a value from the uses they are applied to; and their value is greater or lesser, not so much from their more or less valuable, or necessary uses, as from the greater or lesser quantity of them in proposition to the demand for them. example; water is of great use, yet of little value; because the quantity of water is much greater than the demand of it. Diamonds are of little use, yet of great value, because the demand for diamonds is much greater, than the quantity of them.“ 2Carl Menger: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien: Braumüller 1871, 86. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_4

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beschreiben, „welche concrete Güter oder Güterquantitäten für uns dadurch erlangen, dass wir in der Befriedigung unserer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig zu sein uns bewusst sind“.3 Bis heute hat Mengers Theorie vom abnehmenden Wert eines Gutes Bestand, wie nicht weniger seine Unterscheidung von „Wert“ und „Preis“, die sich seither unter Ökonomen etabliert hat. Der Preis bestimmt sich dabei nicht nur aus der Nachfrage, sondern aus einem affektiven Bezug. Ein Laib Brot kann wenig kosten, aber viel wert sein, wenn wir großen Hunger haben. 10 EUR sind für einen Obdachlosen von großem, für einen Millionär von geringem Wert. Ein an sich unbedeutender Gegenstand, der keinen Heller wert ist, kann uns als unendlich wertvoll erscheinen, weil sich eine Erinnerung an ihn knüpft. Erinnerungen sind affektive Größen, keine objektiven, und gewiss nicht messbar. Im Grunde präzisierte und unterschied Menger, was historisch seit Langem in einem Zusammenhang stand. War mit dem lateinischen „pretium“ sowohl der Preis wie der Wert einer Ware gemeint, so verschob sich im Mittelalter der individuelle, affektive Aspekt zunehmend auf den Begriff „valor“ = „Wert“, während ethische Erwägungen durch gesonderte Attribute gekennzeichnet werden mussten, etwa in der Forderung nach einem „gerechten Preis“, dem „iustum pretium“.4 Im Preis erhält der Begriff des Werts ein sich stets änderndes, unbeständiges Maß, im Geld eine symbolische Form. Geld ist ein abstraktes Tauschmittel, das selbst von Wert sein kann, entweder, weil die verfügbare Geldmenge über die Qualität und die Zahl der zu tauschenden Güter entscheidet, oder weil es einen eigenen materiellen Wert besitzt. So haben Goldmünzen einen Materialwert, der sich wiederum aus der Nachfrage ergibt. Doch ob materieller oder abstrakter Wert – immer ist Geld ein soziales Konstrukt, das nur durch Übereinkunft entsteht und nur im Glauben an seine Gültigkeit überhaupt an Autorität gewinnt. Geld wird durch gesellschaftliche Gruppen oder Institutionen in begrenzter Menge verteilt, heute gemeinhin dem Staat, der selbst der Legitimierung bedarf und sich aufgrund seiner Anerkennung ein Monopol an der Emittierung einer Währung sichert. Aristoteles hat früh darauf verwiesen, dass es sich bei Geld um eine soziale Konvention handelt: „Deshalb muß alles, was ausgetauscht wird, irgendwie vergleichbar sein. Dafür nun ist das Geld auf den Plan getreten: es wird in gewissem Sinn zu einer Mittelinstanz, denn alles läßt sich an ihm messen, auch das Zuviel also und das Zuwenig, wie viel Schuhe denn etwa einem Haus oder Nahrungsmitteln gleichwertig sind. […] Denn wenn dies nicht so ist, kann es weder Austausch noch Gemeinschaft geben. Und diese proportionale Gleichwertigkeit kann es nicht geben, wenn die fraglichen Dinge nicht in irgendeiner Beziehung gleich sind.“5

3Ebd.,

78. Friedrich von Wieser wird an Mengers Überlegungen anknüpfen und sie vertiefen, vgl. Der natürliche Werth, Wien: Hölder 1889. 4Klaus Lichtblau: Art. „Wert/Preis“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, 586–591, hier 586. 5Aristoteles: Nikomachische Ethik, in: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Buch V/8, 106.

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Die heutigen Banknoten sind ihrem Wesen nach lediglich verkürzte Wechsel, Schuldverschreibungen, die einst nur über einige Monate hinweg gültig waren und verzinst wurden – Darlehen, die dem Nehmenden wie dem Gebenden zum Vorteil gereichten. Wechsel konnten selbst als Geldmittel eingesetzt und als Schuldverschreibungen weitergegeben werden. Genau hierin bestand das große Potenzial des Papiergeldes: „Die Geschichte der Bank of England zeigt, dass die Banknote ein unbefristeter Kredit ist, den die Bürger ihrem Staat gewähren. Jeder Geldschein verkörpert ein Zahlungsversprechen, das niemals eingelöst wird. Damit ähnelt die Banknote einem staatlichen Wechsel, der auf ewig zirkuliert – und tatsächlich waren die Wechsel die Vorläufer des Papiergeldes.“6 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erkannte die Bank of England dann den Vorteil einer ständig im Umlauf befindlichen Wechselwirtschaft und hatte kein Interesse daran, jemals ihre Schulden bei denjenigen zu tilgen, die Banknoten besaßen. Ganz vom Goldwert abgekoppelt wurde das Geld erst mit der einseitigen Aufkündigung des Bretton-Woods-Agreements 1971, das den Dollar bislang an den Goldstandard gebunden hatte. Währungen standen von nun an in direkter Konkurrenz zueinander, ihr Wert bestimmte sich durch den Handel auf dem Finanzmarkt. Das Resultat war ein selbstreferenzielles System von Verweisen, das die seltsame, oft als rätselhaft beschriebene Struktur des Geldes, auf die schon frühe Theoretiker hingewiesen hatten, offenlegt. Karl Marx, der als einer der ersten auf den Unterschied zwischen Geld und Kapital aufmerksam gemacht hatte, beschrieb den abstrakten, spiegelbildlichen Gehalt des Geldes treffend: „Sein funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles. Verschwindend objektivierter Reflex der Warenpreise funktioniert es nur noch als Zeichen seiner selbst und kann daher auch durch Zeichen ersetzt werden.“7 Stand Marx dem Auseinanderfallen von Wert und Ethos kritisch gegenüber, so sah Menger darin eine Befreiung. In der Geldtheorie glaubte er die objektiven Gesetze zur Beschreibung ökonomischer Abläufe ohne ethisches Hintergrundrauschen darstellen zu können und setzte dabei – wie seine Schüler Eugen von Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek – auf einen freien, deregulierten Markt. Eine funktionale, auf empirischer Forschung bauende Geldtheorie verband er dabei mit einem auf subjektiven Kriterien beruhenden Wertbegriff. Besonders die Werbeindustrie unternimmt heute große Anstrengungen, einem Produkt affektive Attribute zuzuweisen, die der Bereitschaft zum Kauf Vorschub leisten. Jeder Kauf sei ein Erlebnis, ein Rausch und ein Abenteuer, behaupten Werber, und an sich unbezahlbar; gerade deshalb seien Autos, Reisen, Alkohol und Kleidung begehrenswert. Je größer das Begehren nach einem Objekt, desto höher die

6Ulrike

Herrmann: Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen, 9. Aufl., München: Piper 2017, 114. 7Karl Marx: „Das Kapital“, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke [MEW], hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Berlin); Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung; Rosa-Luxemburg Stiftung, 44 Bde., Berlin: Dietz 1956–2018, Bd. 23, Berlin: Dietz 1970, 143 (im Folgenden mit Bandangabe unter „MEW“ und Seitenzahl).

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Summe, die wir entrichten. Über den Umweg der Ware bleiben Gefühl und Geld aneinander gekoppelt, wenn nicht sogar das Äquivalent selbst zum begehrenswerten Gut wird. Die Zweifel, die Menger an den mathematisch-logischen Seiten seines Modells durchaus hegte, gerieten im Verlauf der Geschichte in Vergessenheit. So interessierte sich Menger seinerzeit für die psychologischen Wertstudien von Franz Brentano, Alexius Meinong und Christian von Ehrenfels, die den Bezug von Werten zu Gefühlen in Augenschein nahmen. Unterdessen hatte der auf quantitativen Erhebungen beruhende Teil von Mengers Geldtheorie derart an Einfluss gewonnen, dass sie auch ohne ihren Urheber und dessen psychologische Neugierde auf die emotionale Seite des Wertdenkens – ob es sich nun auf Objekte oder Ideale richtet – auskam. Besonders in den USA hatte die Österreichische Schule der Nationalökonomie rasch Fürsprecher gefunden, bis sie in den 1960er und 1970er Jahren die Finanz- und Wirtschaftstheorie zu dominieren begann – nun vor allem mit Betonung mathematischer Markttheorien. Milton Friedman, der bekannteste Vertreter des neoliberalen Monetarismus, war von keinerlei ethischem Interesse mehr geleitetet. Die „Chicago Boys“, wie die Gruppe junger Ökonomen um Friedman genannt wurde, waren in den 1970er Jahren gern gesehene Gäste bei den Militärmachthabern Lateinamerikas. Sofern sich die Geldtheorie nicht auf eine Trennung der beiden Bereiche „Wert“ und „Preis“ einlassen wollte, war sie, wie bei Georg Simmel, zu einer dialektischen Kulturtheorie geworden, die unter Ökonomen praktisch keine Beachtung fand. Simmel verband die wertphilosophischen Grundlagen des Neukantianismus mit den psychologischen Einsichten von Brentano, Meinong und Ehrenfels auf der einen sowie der politischen Ökonomie und der Geldtheorie der Österreichischen Schule auf der anderen Seite. Seine Philosophie des Geldes (1900) führt die ökonomische Theorie des 19. Jahrhunderts gewissermaßen an ein Ende, während sie gleichzeitig Überlegungen zur Dialektik der Kultur vorwegnimmt, die in den Arbeiten Freuds und der Kritischen Theorie wieder auftauchen: „So sehr unser Leben durch den Mechanismus und die Sachlichkeit der Dinge bestimmt scheint, so können wir in Wirklichkeit keinen Schritt machen und keinen Gedanken denken, ohne daß unser Fühlen die Dinge mit Werten ausstattete und ihnen gemäß unser Tun dirigierte. Dieses Tun selbst aber vollzieht sich nach dem Schema des Tausches: von der niedrigsten Bedürfnisbefriedigung bis zum Erwerbe der höchsten intellektuellen und religiösen Güter muß immer ein Wert eingesetzt werden, um einen Wert zu gewinnen.“8 Anders als Ökonomen, die den Begriff des Wertes von dem des Preises trennten, und sich auf die Idee der Wertschöpfung durch kapitalintensives Wirtschaften konzentrierten, bezog Simmel den Wertbegriff unmittelbar auf den Menschen. Gewährleistet Geld den Tausch von Gütern und die zeitliche Verschiebung einer Bedürfnisbefriedigung, so zeigt sich in ihm zugleich etwas Bannendes und Irrationales: „Das Geld, das keine materielle Basis hat, löst ein tiefes Begehren aus, das nichts mit den Waren und Dienstleistungen zu tun hat, die damit zu erwerben sind. Bei Waren erlischt das Begehren, wenn man sie hat; beim Geld

8Georg

Simmel: Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, 63.

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verstärkt es sich noch. Denn dem Geld kommt eine symbolische, das Ökonomische überschreitende Bedeutung zu.“9 Christina von Braun ordnet es daher den Bereichen der Begierden und des Sakralen zu, „in deren Zentrum der Tod und der Glaube an eine – wie auch immer gedachte – Unsterblichkeit stehen.“10 Geld verweist „auf die Opfergemeinschaft, es verspricht ‚Leben‘, und es fordert unbedingten Glauben.“11 Dieser Glaube hat in der Tat mit der doppelten, in sich widersprüchlichen semantischen Struktur des Geldes zu tun. Als Bezeichnendes verweist es auf ein Maximum an Bezeichnetem. Geld kann quasi alles bedeuten. In gleichem Zug meint die Zahl, die eine fixe Summe darstellt, nichts Bestimmtes und erinnert immerzu an ein Defizit, wie uns Simmel lehrt: „Das Geld steht einmal in einer Reihe mit all den Mitteln und Werkzeugen der Kultur, die sich vor die innerlichen und Endzwecke schieben und diese schließlich überdecken und verdrängen. Bei ihm treten, teils wegen der Leidenschaft seines Begehrtwerdens, teils wegen seiner eigenen Leerheit und bloßen Durchgangscharakters die Sinnlosigkeit und die Folgen jener teleologischen Verschiebung am auffälligsten hervor […].“12 Gerade diese semantische Leere bringt eine maximale Fülle an religiösen Bedeutungen mit sich, die den Gebrauch des Geldes als den Kern kultischer Handlungen in Konsumgesellschaften erscheinen lassen. In der Tat war der schiere Glaube die vornehmliche Bedingung für das Aufkommen des modernen Zahlungsmittels Geld. Ohne den Glauben daran, dass Schuldner in der Lage sind, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen, ohne das Vertrauen darauf, dass Gläubiger die Wirtschaftskraft ihrer Darlehensnehmer beflügeln, hätte sich die Verwandlung von Gütern in gewinnbringendes Kapital, von Waren in Zeichen und von materiellen in immaterielle Formen dieses Glaubens nicht vollzogen. David Graeber beschreibt die Idee des Geldes daher als eine Geschichte der Schulden: Währungen seien keineswegs das Maß für den Wert eines Objekts, sondern würden lediglich das Vertrauen in andere Menschen bemessen.13 Nicht der Tausch sei als Anfang ökonomischer Transaktionen zu erachten – gefolgt von der Entdeckung des Geldes und der Entstehung eines Kreditsystems –, sondern gerade umgekehrt das virtuelle Geld als Vertrauensvorschuss. Münzen kamen erst später als Substitute hinzu und verbreiteten sich in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise. Zu keiner Zeit aber konnte das materielle Geld das virtuelle Schuldensystem ersetzen, mit dem wirtschaftliches Handeln seinen Ausgang nahm.14 Im Geld beanspruchte der moderne Staat darum nicht nur politische, sondern auch spirituelle Führerschaft. Erneuerten sich religiöse Versprechen in Riten,

9Braun:

Der Preis des Geldes, 13.

10Ebd. 11Ebd. 12Simmel:

Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, 393 f. this sense, the value of a unit of currency is not the measure of the value of an object, but the measure of one’s trust in other human beings“, Graeber: Debt, 47. 14Ebd., 40. 13„In

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die den Glauben an ihre Einlösung festigten und zugleich auf die Zukunft verschoben, so entwickelten Staaten ähnliche Rituale auch im Bereich der Ökonomie und der Geldwirtschaft, indem sie Einigkeit, Souveränität und Unerschütterlichkeit suggerierten. Vatikanischen Konzilen gleich kommen bis heute Wirtschaftsgrößen, hohe Beamte und Staatsführer, etwa in Davos, zusammen, um über Wirtschaftsund Währungsfragen zu beraten. Institutionen wie die Weltbank, staatliche Zentralbanken oder der Internationale Währungsfond sind die Hüter des Geldes, der Schulden und des Glaubens.15 Erschüttert wird der Glaube ans Geld, wenn Zeichen und Wert, den es anzuzeigen vorgibt, auseinandertreten. Von Marx als Zeichen eines Zeichens treffend beschrieben, beschränkt sich die Wertbestimmung des Geldes auf Relationen innerhalb eines Systems, dem nichts Reales mehr zugrunde liegt. Indem es Phantasien über die Möglichkeiten seiner zukünftigen Verwendung freisetzt und so Handlungspotenziale eröffnet, wird es zur „bloß symbolischen Existenz in einem Prozess“, „der es beständig aus einer Hand in die andre entfernt“.16 Geld definiert sich über Zirkulation, sein Preis ergibt sich aus seiner Fähigkeit zur Verwandlung – in Güter und aus Gütern – und dem Vergleich mit anderen Äquivalenten. Währungen dienen ihm als Maßstab, sein Wert wiederum ist auf den festen Glauben gestützt, dass sich etwas dafür eintauschen lässt – eine Ware, ein Traum und letztlich das Leben selbst: „Die moderne Gesellschaft, die schon in ihren Kinderjahren den Plutus [den Gott des Reichtums, C.Z.] an den Haaren aus den Eingeweiden der Erde herauszieht, begrüßt im Goldgral die glänzende Verkörperung ihres eigensten Lebensprinzips.“17 Jochen Hörisch hat daher Geld als „ontosemiologisches Leitmedium“ bezeichnet, das auf die grundlegenden Bedingungen unseres Daseins, unserer Sozialität, unser Verhältnis zum Tod und auf die Notwendigkeit verweist, uns als Kreaturen zu begreifen, die der Vermittlung zwischen Mensch und Welt bedürfen.18 Geld ist nicht nur das Medium der Ökonomie, es ist das Medium unserer Zeit, eine Abstraktion, der sich unsere Beziehungen zueinander unterwerfen und das uns in ein Verhältnis zu den Dingen setzt. Denn durch Geld treten wir miteinander in Verbindung, durch Geld kommunizieren wir, durch Geld drücken wir aus, wer wir sind, indem wir uns mit Gütern umgeben, die wir als Ausdruck unserer Persönlichkeit erachten. Geld spielt für intime Lebenspartnerschaften – die Ehe als „Gütergemeinschaft“ – eine ebenso große Rolle wie für alltägliche Kontakte, etwa an der Supermarktkasse, wo die Sprache des Geldes Worte ersetzt, mit denen wir uns „austauschen“. Schwindet der Glaube an die Möglichkeiten des Tausches, verliert das Geld die Fähigkeit zur Zirkulation. Die Energie des ins Stocken geratenen Geldkreislaufs überträgt sich auf die Zeichen selbst. Die permanente Vergrößerung der Zahl,

15Wie

sehr Geld umgekehrt unsere religiösen Praktiken und unseren Glaube an ein höheres Wesen beeinflusst, ist in Kap. 5 von Bedeutung. 16Marx: Das Kapital, in: MEW 23, 97. 17Ebd., 146 f. 18Hörisch: Kopf oder Zahl, 26.

Keinen Heller wert

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die wir während einer Inflation beobachten, spiegelt die Verringerung seines Wertes wider. Als Inflation bezeichnen Ökonomen einen „Prozeß anhaltender Preisniveausteigerungen bzw. anhaltender Geldentwertung“.19 Inflationen haben daher immer auch tiefgreifende politische Reformen zur Folge, an deren Ende oft ein Regimewechsel oder der Wechsel eines Wirtschaftssystems steht. Sie können zu Radikalisierungen politischer Ansichten führen, wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Nicht selten erzeugen sie Furcht und fördern Extremismus. War die Ausgangslage für das Deutsche Reich nach seiner wirtschaftlichen Konsolidierung und dem Sieg über Frankreich 1871 und die durch die Reparationszahlungen einsetzenden Gründerjahre für die Einführung des Goldstandards als günstig erachtet worden, so nahmen die Goldreserven zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab, während die Staatsverschuldung stieg. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte sich die Notenemission bereits erhöht, die Einlösepflicht, also die gesetzliche Verpflichtung der Banken, den auf einer Währung angegebenen Betrag auf Verlangen gegen Gold auszuzahlen, wurde hingegen aufgehoben. Kriegsanleihen wurden zur Finanzierung des Krieges in der Hoffnung auf einen Sieg und damit einhergehender Kompensationen durch die Deutschland unterliegenden Nationen ausgegeben. Der Staat erhielt auf diese Weise ein gewaltiges Darlehen, das ihm seine Bürger im Glauben an hohe Gewinne bereitwillig gewährten. Die Schuldenaufnahme betrug zwischen 1914 und 1918 96,9 Mrd. Mark. Zusätzliche Schatzanweisungen ließen weitere 51,2 Mrd. Mark in die Kriegskasse des Kaiserreichs fließen. Seit dem Jahr 1916 indes „lief die Banknotenemission den Goldreserven davon. 1918 waren Reichsbanknoten im Wert von 22,188 Mrd. Mark im Umlauf; der Banknotenumlauf hatte sich also, verglichen mit 1914, mehr als vervierfacht.“20 Die „Unbestimmtheit“ der Reparationsforderungen nach dem Krieg beförderte dabei die Instabilität der Reichsmark, während für die Regierung die „Stärkung und Förderung der produktiven Tätigkeit“ im Vordergrund stand.21 Damit entfiel der Anreiz für eine Haushaltssanierung, die „Verschuldung mithilfe von Schatzanweisungen wuchs unaufhörlich, die Notenpresse lief auf vollen Touren“.22 Die geringere Produktion in einer durch Entschädigungsleistungen geschwächten und von politischen Unruhen – von der Ausrufung der Münchner Räterepublik 1918 bis zum gescheiterten Putschversuch Adolf Hitlers 1923 – gezeichneten Wirtschaft verschärfte die „Diskrepanz zwischen Warenangebot

19Dieter

Cassel und Rolf Caspers: Art. „Inflation“, in: Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, hg. von Erwin Dichtl und Otmar Issing, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., München: C.H. Beck und Verlag Franz Vahlen: 1993, 956–957, hier 956. 20Vgl. Michael North: Kleine Gesichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute, München: C.H. Beck 2009, 186. 21Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914–1923, Berlin: de Gruyter 1980, 328. Im Überlick vgl. Gerald D. Feldman: The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, New York und Oxford: Oxford University Press, 1993. Weitere Zahlen zur Inflation in Deutschland sind in Kap. 8 angegeben. 22North: Kleine Geschichte des Geldes, 189.

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und Geldangebot und beschleunigte die Geldentwertung“.23 Investitionen ausländischer Geldgeber entfielen, Kapitalflucht begünstigte die Hyperinflation, die den angezeigten Tauschwert des Geldes in wahnwitzige Höhen trieb. Was zunächst ein bloß „monetäres Phänomen“24 zu sein schien, das überhaupt erst mit einer auf Notengeld basierenden Wirtschaftsform entstanden war, hatte Auswirkungen auf das gesamte Leben und wurde zur Bedrohung der Existenz. Der Glaube an die Banknote als Versprechen des Staates, für den Wert des Geldes einzustehen, war erschüttert. Zeichen verloren ihre Geltung, die symbolische Form der Kommunikation geriet aus den Fugen, sodass der Verlust an Werten zum Selbstverlust wurde: „Man hat nicht viel zuzusetzen. Das trommelt täglich auf die Nerven: der Zahlenwahnsinn, die ungewisse Zukunft, das über Nacht wieder fraglich gewordene Heute und Morgen. Epidemie der Angst, der nacktesten Not: dem Blick längst entwöhnt gewesene Käuferschlangen stehen wieder vor den Läden, erst vor einem, dann vor allen. Keine Krankheit ist so ansteckend wie diese. Die Anstehschlangen haben etwas Suggestives: der Blick dieser Frauen, ihre hastig angetanen Küchenkleider, ihre vergrämten, geduldigen Gesichter. Die Anstehschlangen sind immer wieder das gleiche Fanal: die Stadt, die große steinerne Stadt wird wieder einmal leer gekauft. Reis, gestern noch das Pfund 80,000 Mark, kostet heute 160,000 Mark, morgen vielleicht das Doppelte, übermorgen zuckt der Mann hinterm Ladentisch die Achseln […]. Das Stück Papier, das funkelnagelneue Notenpapier, noch feucht vom Druck, heute früh als Wochenlohn ausgezahlt, schrumpft an Wert auf dem hastigen Wege zum Kaufmannsladen. Die Nullen, die wachsenden Nullen! […] Haß, Verzweiflung Not. Tagesgefühle wie Tageskurse.“25 Der Preis für ein Kilogramm Brot betrug Ende Oktober 1923 wahnwitzige 680 Millionen Mark. Im Februar hatte die Reichsbank erstmals Banknoten in Höhe von 1 Million Mark in Umlauf gebracht, „im September überschritt man die Milliarden-, Anfang November sogar die Billionenschwelle. Das Geld wurde so schnell ausgegeben, wie man es erhielt“.26 Stellen Wertsetzungen Hierarchien dar, so bedeutete die Inflation die gänzliche Aufhebung von hierarchisch gegliederten, insbesondere gesellschaftlichen Ordnungen. Wer seine Einkünfte in Ersparnissen angelegt hatte, war „ruiniert oder nachhaltig geschwächt. […] Auf der anderen Seite gab es auch in den Mittelschichten viele, die aus der Geldentwertung Nutzen zogen: Haus- und Grundbesitzer wurden schuldenfrei und profitierten von der allgemeinen Privilegierung von Sachvermögen“.27 Besonders der Staat zählte, neben vielen von

23Ebd. 24Cassel/Caspers: Art.

„Inflation“, in: Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, 956. Kroner: „Überreizte Nerven“, mit Zeichnungen von Willibald Krain, in: Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 34, 26. August 1923, 673–674, hier 673. 26North: Kleine Geschichte des Geldes, 190. 27Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. 2, Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München: C.H. Beck 2000, hier Bd. 1, 448. 25Friedrich

Ideologie der Freiheit

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Zahlungsverpflichtungen bedrängten Großgrundbesitzern und Industriellen, zu den Gewinnern der Inflation. Mithilfe der Notenpresse enteignete er Sparer und befreite sich von der immensen Schuldenlast, die während des Krieges angefallen war: „Die Rückzahlung von Schulden und namentlich der gigantischen Summe der Kriegskredite in wertlosem Papiergeld kam einer Schuldenbefreiung gleich.“28 Frei zu sein hieß frei von Schulden zu sein. Wer aber keine Schulden hat, ist dem modernen Staat verdächtig, denn Schulden nehmen uns in die Pflicht. In der Konsumgesellschaft – einem System von Spekulationen auf eine unbekannte Zukunft – kommt all jenen höchste Wertschätzung zu, die Banken und Investoren mit bloßen Projektideen von der Gewinnträchtigkeit ihrer zukünftigen Produkte überzeugen und den Glaube an anstehende Erlöse nähren können. Darum beflügeln, wie es in einer vielsagenden Metapher zum Ausdruck kommt, junge Start-ups die „Phantasien der Märkte“. Wo sich bloße Ideen auszahlen, schwingt indes immer auch der Zweifel an Gewinnen mit, die Investoren versprochen wurden. Als „Unicorns“ – Märchen entsprungene „Einhörner“ – werden Unternehmen bezeichnet, die allein in der Hoffnung auf zukünftige Profite hohe Börsenkurse erzielen, ohne jemals ihre ökonomische Tauglichkeit bewiesen zu haben. Menger dürfte jedenfalls Schwierigkeiten damit gehabt haben, die Nachfrage nach Aktien von Unternehmen zu erklären, die ihren Nutzen für ebenso groß wie den von Trinkwasser ausgeben, während sie ihren Wert mit dem von Rohdiamanten aufgewogen sehen wollen. Gewiss aber nimmt in diesen Firmen die Hoffnung auf schnellen Reichtum und das Misstrauen gegenüber ethischen Verbindlichkeiten Gestalt an.

Ideologie der Freiheit Fast könnte man meinen, Liberalismus sei prinzipiell eine gute Sache. Ganz im Dienst der Ethik, „befreit“ der nach dem lateinischen Wort „libertas“ (= Freiheit) benannte Liberalismus von aristokratischer Willkür und Unterdrückung, und zwar, indem jedem Menschen erlaubt sei, nach eigenen Vorstellungen innerhalb eines selbstbestimmten politischen Systems zu leben und zu arbeiten. In diesem Sinne deuteten ihn die Verfechter der Französischen Revolution. Der Schriftsteller und Aktivist Benjamin Constant warnte etwa vor den Feinden der Revolution, die ihre Herrschaftsansprüche gegen die aufklärerischen „idées libérales“ geltend machen wollten.29 Doch schon kurze Zeit später nahm Napoleon Bonaparte Constants ­Hinweis auf die liberalen Ideen der Aufklärung zur Rechtfertigung seines Staatsstreichs vom 18. Brumaire – dem 19. November 1799: Die Werte des Liberalismus wie „Großzügigkeit“, „Nachsicht“ und „Toleranz“ seien allein durch eine

28Ebd. 29Benjamin

Constant: Des réaction politiques, o. O. und o. J [1797], 26.

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starke staatliche Gewalt zu garantieren.30 Von Beginn an zeichnete den Begriff des Liberalismus also eine sonderbare Mehrdeutigkeit aus. Seine Bedeutung schwankte nicht nur zwischen Ökonomie und Politik, sondern zwischen ökonomischer Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Abhängigkeit, politischer Freiheit und staatlicher Unterdrückung. Was diesen im Namen der Freiheit für geboten erschien, beobachteten jene mit Abscheu, was manche für kriminelle Taten hielten, bewerteten andere als moralische Notwendigkeit. Nach dem Willen von Adam Smith hätte es keiner Revolution bedurft, um Wohlstand und Zufriedenheit unter den Menschen zu erzeugen. Allein der wirtschaftliche Erfolg, hatte Adam Smith in seiner Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations behauptet, bringe das Gute im Menschen hervor. Seine Idee des ökonomischen Liberalismus, die sich gemeinsam mit ihrer politischen Variante im 19. Jahrhundert allmählich durchsetzte, beruhte auf folgenden Vorschlägen: Nicht der Staat, sondern das selbstbestimmte Individuum solle den ökonomischen Erfolg tragen; Individuen hätten daher die Verantwortung für ihr Handeln und ihre Glückseligkeit zu übernehmen; Selbstinteresse diene dem Wohle aller Menschen; schließlich solle Konkurrenz den Wettbewerb fördern, damit sich nennenswerte Erfolge einstellten. Smith war Moralphilosoph und erachtete seine Theory of Modern Sentiments (1759) als sein Hauptwerk. Welche Tugenden, lautete die ihn leitende Frage, sollten gefördert werden, wenn die menschliche Natur Eigeninteressen in den Vordergrund stelle und bis zu einem gewissen Grad der Notwendigkeit zu selbstlosem Handeln gegenüber unempfänglich sei? Smith vertrat dabei die These, dass Eigeninteresse nicht mit Egoismus zu verwechseln sei, denn die Marktbedingungen, besonders der Wettbewerb, führten zur permanenten Selbstkontrolle: „Der tatsächliche und potentielle Druck der Konkurrenz hält das egoistische Verhalten laufend, unverzüglich und wirkungsvoll in gebotenen Grenzen. Er schützt die Schwachen, dient als Selbstverteidigung und straft sofort und wirksam. Als dynamischer Wettbewerb steuert er den Such-, Informations- und Kontrollprozeß und damit die Innovation.“31 Menschen seien offen für ein moderates, von Extremen absehendes und das Allgemeinwohl berücksichtigende Verhalten, das auf die Tugenden der Umsicht, Zurückhaltung, Sparsamkeit, Ehrlichkeit und des Fleißes verpflichtete – allesamt Formen der Selbstdisziplin, die ohne Druck von außen ihren Platz im moralischen Haushalt für sich beanspruchten. Diese Tugenden prägten schließlich den „Markt“,

30Zit. nach Ulrich Dierse: Art. „Liberalismus. I. Die Entstehung des politischen Liberalismus-Begriffs in der Französischen Revolution“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, 256–259, hier 257. Eric Voegelin: „Der Liberalismus und seine Geschichte“, in: Christentum und Liberalismus, hg. von Karl Forster, München: Zink 1960, 11–42, hier 17, meint dagegen, der politische Liberalismus-Begriff ginge auf die spanischen Cortes zurück, wo sich 1812 eine politische Gruppierung unter dem Namen „Liberales“ gebildet hatte: „Es handelte sich um eine liberale Verfassungspartei, die gegen die Restaurationsversuche Front machte. Von diesem Anfang her ist der Ausdruck ‚liberal‘ in den allgemein-europäischen Sprachgebrauch eingedrungen, und sehr bald können wir in ganz Europa die Formung liberaler Gruppen, Parteien und Bewegungen beobachten.“ 31Horst Claus Recktenwald: „Die Klassik der ökonomischen Wissenschaft“, in: Geschichte der Nationalökonomie, hg. von Otmar Issing, 2. Aufl., München: Vahlen 1988, 49–72, hier 54.

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einen Ort des ­Austauschs von Gütern, aber auch des sozialen Umgangs. Anders als im Merkantilismus, solle der liberale Markt den Verbrauch und den Nutzen für die Abnehmer in den Mittelpunkt stellen und nicht, wie bisher, allein den Produzierenden zugutekommen.32 Zweifellos sind Smiths Annahmen geprägt von Idealismus und dem Glauben an beste moralische Absichten des Menschen, auch wenn Verhaltensökonomen gezeigt haben gezeigt, dass Eigeninteresse durchaus nicht immer die für das Wohlergehen der Gemeinschaft wünschenswerten Ergebnisse zeitigt und irrationales Verhalten einen großen Raum in unserem Denken und Handeln einnimmt. Die Irrationalität ökonomischer Vernunft bildete lange schon die Grundlage für das politische Wirkungsfeld des Liberalismus. Das zeigt sich bei der Verteidigung dessen, was Menschen ihr Hab und Gut nennen. Dient nach Smith die Verpflichtung auf das Eigeninteresse dem Wohle aller, steht zwangsläufig das Eigentumsrecht, das der besitzenden und mächtigen Nobilität abgerungen werden musste, im Vordergrund, wenn es um die Durchsetzung einer liberalen Wirtschaftsordnung geht. Die Ökonomie war für das zwar strebsame, aber wenig einflussreiche Bürgertum der Hebel zu größerer politischer Mitsprache. Die vom Freiheitsgedanken der Aufklärung beseelten Bürger sahen im Handel eine Chance zur Wahrnehmung ihrer Ziele, die ihnen auf institutioneller Ebene verschlossen waren. Ökonomischer Erfolg habe politischen Einfluss zur Folge, lautete die berechtigte Hoffnung bürgerlicher Eliten. Die Freiheit des Liberalismus war daher auf der Anhäufung von Vermögen gegründet. Wer Geld besaß, konnte sie sich erkaufen. Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass eine erkaufte Freiheit mit den anderen während der Französischen Revolution propagierten Idealen der Gleichheit und Solidarität nicht in Einklang zu bringen war. Dennoch gab sich das handfeste materielle Vorteilsstreben des Bürgers als ethischer Imperativ aus. Schließlich komme, wie Smith meinte, die Hebung des Wohlstands den Ärmeren und Vernachlässigten zugute, würden alte Privilegien und Monopole abgeschafft, das Ende der Sklaverei in Aussicht gestellt, die protektionistische Handelspolitik des Merkantilismus allmählich abgebaut, Wissenschaft gefördert und Bildung zur Bedingung des allgemeinen gesellschaftlichen Aufschwungs erklärt werden. Auch wenn manches davon in die Tat umgesetzt wurde, blieben viele ökonomische Versprechen unerfüllt. Selbst im Westen können wir keineswegs von einer gerechten Verteilung des Wohlstands sprechen.33 „Ökonomie“

32Eine Rückkehr zu den moralischen Vorstellungen von Smith hat Yuval Levin bei seiner Verteidigung des Kapitalismus gefordert, verurteilt dann aber, dass die Kritiker des Kapitalismus stets „nur“ moralische, nicht aber auch ökonomische Argumente vorbrächten, vgl. „Recovering the Case for Capitalism“, in: National Affairs 3 (Spring 2010), 121–136. Levin wäre entgegenzuhalten, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was Smith ursprünglich bezweckt hat, sondern auf welche Weise seine Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations ausgelegt wurde. 33Zur ökonomischen Transformation der Gesellschaft in Deutschland in den frühen Jahren des Liberalismus vgl. James M. Brophy: „The End of the Economic Old Order. The Great Transition, 1750–1860“, in: The Oxford Handbook of Modern German History, hg. von Helmut Walser Smith, Oxford: Oxford University Press, 2011, 169–194.

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ist seither Teil einer Rhetorik, die dem Bereich des Politischen angehört. Der Begriff beschreibt das Mögliche, nicht das Bestehende, das unter Umständen Machbare, nicht das tatsächlich Erreichte. Smiths Werk können wir deshalb als Beginn der politischen Ökonomie betrachten – als Anfang einer über die Ökonomie ausgetragenen politischen Strategie, die das Faktische verschleiert, um gewissen Interessengruppen vorteilhafte Ziele durchzusetzen. Wir können ferner von einer politischen Ideologie sprechen, die im Kapitalismus eine folgenreiche Ausprägung erfuhr.34 Kapitalismus bezeichnet eine Form des Denkens, die alle gesellschaftlichen Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt des Ökonomischen betrachtet und sich auf die Mehrung von Kapital konzentriert. Ideologisch ist der Kapitalismus, weil er allein der „Idee“ nach als rational, fair und gerecht erscheint, in der Praxis hingegen diesen Ansprüchen nicht gerecht wird. Denn die Realität hatte mit der von Smith gezeichneten „freien“ Gesellschaft von gleichen, in Konkurrenz zueinander stehenden Individuen wenig gemein. Die ethischen, auf die Epoche der Aufklärung zurückgehenden Werte, die der Liberalismus für sich beanspruchte, unterstellten einen für alle Akteure gleichen Zugang zum Markt. Stattdessen bestimmt die Herkunft weitaus mehr als die persönliche Leistung und die finanzielle Ausgangslage mehr als alle Bildung über den ökonomischen Erfolg im Leben.35 Der Liberalismus fußt nicht nur auf Ungleichheit, er fördert sie durch das Konkurrenzprinzip und den von ihm gepredigten Egoismus.36 Das Resultat ist eine sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ständig vergrößernde Kluft zwischen Arm und Reich. Letztlich verschiebt der Liberalismus lediglich die ökonomischen und politischen

34Horst

Dräger nennt den Liberalismus eine „bürgerliche Ideologie“, in der die „allgemeine Gleichheitsforderung demokratischer Programmatik und die Forderung der Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft zunehmend in Widerspruch zueinander“ traten, Art. „Liberalismus. IV. Der Liberalismus in ideengeschichtlicher Betrachtung“, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, 264–272, hier 268. 35So studieren nach einer Untersuchung, die vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung in Hannover durchgeführt wurde, 79 von 100 Kindern aus Akademiker-Familien, aber nur 27 von 100 Nicht-Akademiker-Familien, vgl. Nancy Kracke u. a.: „Beteiligung an Hochschulbildung. Chancen(un)gleichheit in Deutschland“, in: DZHW Brief 3 (2018), 1–8. Auch wenn hier lediglich der Bildungsstand berücksichtigt wurde, ist in zahlreichen anderen Studien der Zusammenhang von Bildung und Wohlstand gut dokumentiert. Je höher das Einkommen der Eltern, desto größer die Chancen für die Kinder, selbst einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen und die bereits gehobene materielle Ausgangslage zu übertreffen. 36Soziale Ungleichheit bezeichnet „bestimmte vorteilhafte und nachhaltige Lebensbedingungen“, die für manche Menschen zugänglich sind, für andere indes nicht. Diese „Lebensbedingungen“ müssen erstens einen „gesellschaftlichen ‚Wert‘ darstellen“ und „als ein knappes und begehrtes ‚Gut‘ gelten“, zweitens „müssen die knappen und begehrten ‚Güter‘, so etwa die Einkommen, ‚ungleich‘ verteilt sein“ und drittens „müssen Vorstellungen oder wenigstens Vermutungen über sozial strukturierte, das heißt in der Organisation einer Gesellschaft verankerte, regelmäßige und überpersönliche Verteilungsmechanismen bestehen, damit Vor- bzw. Nachteile als ‚soziale Ungleichheit‘ gelten können“, meint Stefan Hradil: „Soziale Ungleichheit, soziale Schichtung und Mobilität“, in: Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, hg. von Hermann Korte und Bernhard Schäfers, 9., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Wiesbaden: Springer VS 2016, 247–275, hier 249.

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Machtverhältnisse von der bis dahin mächtigen Aristokratie auf das ­aufstrebende Bürgertum, das sich durch das Zensuswahlrecht seinerseits von ärmeren Bevölkerungsschichten abgrenzt und als neue politische Elite eine ähnliche Konzentration von Macht anstrebt, wie sie zuvor die kleine Gruppe an aristokratischen Landbesitzern oder die Profiteure einer merkantilen, protektionistischen Wirtschaft innehatten. Die heute von Neoliberalen vielgeschmähte Gleichheitsdebatte, die etwa von Thomas Piketty mit provokanten Thesen wieder angefacht wurde, ändert nichts an ihrer Berechtigung.37 Auch die Kritik von Steven Pinker, wonach Ungleichheit vor dem Zeitalter der Aufklärung weitaus größer gewesen sei, täuscht nicht darüber hinweg, dass selbst heute noch nur wenigen Menschen ein immenser Anteil am weltweiten Wertschöpfungsprozess zufällt. Wer wie Pinker „Aufklärung“ ernst nehmen möchte, kann nicht damit zufrieden sein, lediglich zu zeigen, dass früher alles schlechter war,38 westliche Staaten heute viel Geld für Sozialleistungen ausgeben39 und selbst Unterschichten nicht ärmer geworden, sondern nur einfach langsamer zu Wohlstand gekommen seien.40 Dass der Wirtschaft unter den Vorzeichen des Neoliberalismus Vorrang einzuräumen sei, weil durch ihr Wachstum alle Menschen ein „Stück des Kuchens“ abbekämen,41 widerlegt selbst ihre führende Institution. Ökonomisches Wachstum, heißt es in einer von Ambar Narayan und Roy van der Weide für die Weltbank erarbeiteten Studie, vergrößere zwar den Kuchen, garantiere

37Piketty

führt an, dass sich Kapital seit Jahrhunderten in Europa auf Seiten der Wohlhabenden konzentrierte, dass Reichtum oft durch gering oder gar nicht besteuerte Erbschaften entstand, dass Unternehmen unverhältnismäßig stark profitierten, und dass um der sozialen Gerechtigkeit willen nur eine radikale Steuerreform Abhilfe schaffen könne, der zufolge Einkommen in den obersten Einkommensschichten um bis zu 80 % zu versteuern sein sollten, vgl. Piketty: Capital in the Twenty-First Century. Die unter neoliberalen Denkern deutliche Ablehnung eines solchen Modells gibt einen Hinweis auf die ideologische Erstarrung der jeweiligen Lager, zeugt aber auch von einem allmählichen Umdenken, das mit der Sorge vor sozialen Unruhen und der weltweiten Zunahme an autoritären Regimen einhergeht. In einem wohlhabenden Land wie Deutschland waren im Jahr 2016 nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes ca. 16,5 % der Bevölkerung selbst bei Bezug von Sozialleistungen von Armut bedroht, ohne Sozialleistungen sogar 25,3 %, „Wirtschaftsrechnungen. Leben in Europa (Eu-SILC). Einkommen und Lebensbedingungen in Deutschland und der Europäischen Union“, Statistisches Bundesamt, Fachserie 15, Reihe 3 (2018), http://www. destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/EinkommenKonsumLebensbedingungen/LebeninEuropa/ EinkommenLebensbedingungen.html (3. Dezember 2018). 38Steven Pinker: Enlightenment Now. The Case for Reason. Science, Humanism, and Progress, New York: Viking 2018, 106 (Tab. 9.3). 39Ebd.,  108 (Tab. 9.4). 40„Inequality undoubtedly increased – the richer got richer faster than the poor and middle class got richer – but everyone (on average) got richer“, ebd., 114. 41Ebd., 119.

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indessen für den überwiegenden Großteil der Menschen keineswegs soziale Mobilität. Nur gleichmäßiges Wachstum über einen langen Zeitraum bei gleichmäßiger Verteilung der Einkommen etwa durch steuerliche Belastung oder die Ausschüttung von angemessenen Sozialleistungen ermögliche einen hohen Lebensstandard für breite Schichten der Bevölkerung. Das Beispiel der Vereinigten Staaten biete ein Beispiel der negativen Art. Die ungleiche Verteilung der Wachstumsgewinne hat zu einem Rückgang der absoluten Einkommensmobilität zwischen den 1940er und den 1980er Jahren geführt und sei dem tatsächlichen Wachstum der Wirtschaft nicht angepasst worden.42 Raj Chetty legt in einer anderen Studie drastische Zahlen vor. Seit den 1940er Jahren sei die Einkommensmobilität gemessen am durchschnittlichen Einkommen von 30-Jährigen von über 90 % eines Jahrgangs kontinuierlich auf unter 50 % zurückgegangen.43 Auch die Armutsrate ist in den USA erstaunlich stabil geblieben und lag von 1970 bis 2017 stets zwischen 11 und 15 % – je nach Stand der ökonomischen Gesamtsituation.44 Von wirtschaftlichem „Fortschritt“ kann daher für eine überwiegende Mehrheit ebenso wenig die Rede sein wie von „Wohlstand“. Einkommen verteilen sich zudem häufig nach ethnischer oder kultureller Herkunft und regionalen Demarkationslinien. Wie sehr ökonomische Ungleichheit im politischen Leben zum Tragen kommt, zeigt sich an der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten, die sich selbst bei einem gewissen Wohlstand um ihren sozialen Status sorgen. Populistische Bewegungen und autokratische Herrscher geben Abschiedsängsten nicht nur in armen, sondern auch in wohlhabenden Ländern Nahrung. Was könnte populärer sein, als das Versprechen höherer Einkommen, sicherer Arbeitsplätze, wirtschaftlicher Blütezeiten und steuerlicher Erleichterungen – Schlagworte aus dem rhetorischen Repertoire eines zur Ideologie erstarrten Liberalismus? Francis Bacon hatte den aus dem Griechischen stammenden Begriff der Ideologie – von „ἰδέα“, „idéa“ = „Idee“ und λόγος, „lógos“ = „Lehre“ – mit dem ebenfalls griechischen Wort für „Idol“ oder „Trugbild“ (von „εἴδωλον“, „eídōlon“) im Grunde falsch übersetzt und in seinem Novum Organon (1620) zu einem Programm der vier Idole ausgebaut: den Vorurteilen menschlicher Abstammung, den Vorurteilen unserer individuellen Vorstellungswelt, den sozialen 42„Economic growth, which increases the size of the economic pie, is important for achieving greater absolute mobility but does not guarantee it; achieving long-term improvements in the living standards of a large section of the population also requires growth to be sustained over time with its benefits distributed more equitably. The example of the United States […] provides a telling example – inadequate distribution of the benefits of growth has contributed much more to the decline in absolute income mobility between the 1940s and the1980s in the United States than any slowdown in aggregate growth“, Ambar Narayan und Roy van der Weide: „Fair Progress? Economic Mobility across Generations around the World“, hg. von der Bank of International Bank of Reconstruction and Development und der World Bank, Washington, D.C.: World Bank Publications 2018, 137, https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/28428 (3. Dezember 2018). 43Raj Chetty u. a.: „The Fading American Dream. Trends in Absolute Income Mobility since 1940“, in: NBER Working Paper 22910, September 2016 (revidiert im März 2017), hg. vom National Bureau of Economic Research 1–54, hier 32, http://www.nber.org/papers/w22910 (3. Dezember 2018). 44Kayla Fontenot u. a.: Income and Poverty in the United States 2017. Current Population Report, hg. vom US Bureau of Census, Washington, D.C., September 2018, 11, http://www.census.gov/content/dam/Census/library/publications/2018/demo/p60-263.pdf (3. Dezember 2018).

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Vorurteilen und schließlich jenen, die durch falsche Tatsachen erzeugt werden. Erst im frühen 19. Jahrhundert, zur Zeit der Entfaltung des Liberalismus, fand der Ideologiebegriff wieder in den philosophischem Wortschatz. Antoine Louis Claude Destutt de Tracy meinte, in seinem fünfbändigen Werk Élemens d’idéolgie (1801–1815) ein Descartes’ abstrakter Philosophie entgegengesetztes Modell der empirischen Vorstellungswelt gefunden zu haben. Napoleon I. wandelte Destutt de Tracys wissenschaftlichen Ideologiebegriff schließlich polemisch ab und verstand unter Idéologues metaphysische „Spinner“, die seines Erachtens Gegner des Fortschritts, Abtrünnige, ja Terroristen waren.45 Hier setzt der moderne Ideologiebegriff an, der mit Ideologen jene „Ideengeber“ bezeichnet, die, wie Marx und Engels in ihrer 1845/46 verfassten Deutschen Ideologie anmerkten, unter Verschleierung wahrer Interessen die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse umkehren und Menschen von ihrer „falschen“ Weltsicht überzeugen. Marx und Engels brandmarkten vor allem Hegels Staatsphilosophie und Feuerbachs Religionskritik, die ihnen für unzureichend erschienen, um gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären. Vor allem aber galt ihre Aufmerksamkeit der politischen Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo, die den Kapitalismus als natürliche menschliche Produktionsform erachteten.46 In der Tat gelangte auch der Begriff des „Kapitalismus“ – wie die des „Liberalismus“ und der „Ideologie“ – erst spät ins Vokabular europäischer Sprachen, und dann vor allem mit klassenkämpferischem Unterton. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sah man Kapitalisten „immer häufiger im Unterschied, bald im Gegensatz zu Arbeitern“ und bezog sich auf eine „Klasse der Lohnherren (Verlagseigner, Fabrikunternehmer und Kaufleute)“, die „nicht von Lohn oder Rente, sondern von Profiten lebten“.47 Engels und Marx konnten dabei auf den im Französischen etablierten Gebrauch des Kapitalismusbegriffs bauen, den etwa der Sozialist Louis Blanc als „Aneignung des Kapitals durch die Einen, unter ­Ausschaltung der Anderen“ ausgelegt hatte.48 Ein Jahr später bezeichnete Pierre-Joseph Proudhon den Pariser Wohnungsmarkt als „Festung des Kapitalismus“, bevor ­ Pierre Larousse in seinem Grand dictionnaire universel du XIX siècle (1867) „capitalisme“ als Neologismus aufführte.49 In Meyers Konversations-Lexikon ­findet

45Vgl.

Ulrich Dierse: „Napoleons Ideologie“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 22 (1978), 30–98, und 25 (1981), 131–169. Vgl. auch Angela Leona Oster: „Vom Begriff der Ideologie zum Faschismus der Sprache – Destutt de Tracy, Pasolini, Barthes“, in: Ideologien zwischen Lüge und Wahrheitsanspruch, hg. von Steffen Greschonig und Christine S. Sing, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2004, S. 233–251, hier 234 f. 46David Ricardo hatte mit On the Principles of Political Economy and Taxation (London: J. Murray 1817) einen der Klassiker der Nationalökonomie vorgelegt. 47Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, 3. Aufl., München: C.H. Beck 2017, 7. 48Ebd., vgl. auch Maria Elisabeth Hilger und Lucien Hölscher: Art. „Kapital, Kapitalist, Kapitalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner u. a., 8 Bde., Stuttgart: Kohlhammer 1982, Bd. 3, 399–454, hier 442. 49Kocka: Geschichte des Kapitalismus, 8.

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sich der Begriff erst seit 1876, nachdem er bereits seit einigen Jahrzehnten als Kritik gegen eine ausschließlich Wohlhabenden zugutekommende Wirtschaftsform gebraucht worden war.50 Erst durch den Einsatz von Kapital, so die Doktrin des Kapitalismus, seien Wohlstand, Prosperität und persönliche Entfaltung gesichert. In Wahrheit wurden durch die Konzentration von Kapital jedoch Klassengegensätze erzeugt und verschärft. Mag auch die neue soziale Mobilität in Einzelfällen zu sagenhaften Aufstiegsgeschichten geführt haben, so war dem weitaus größten Teil der Bevölkerung der Zugang zu den Ressourcen im liberalen Wirtschaftssystem verwehrt. Kapital ist dabei nicht einfach Geld, wie Fernand Braudel auf einfache Weise darlegt: „Ein Haus ist Kapital; gespeicherter Weizen ist Kapital; ein Schiff, eine Straße sind Kapital. Aber Kapitalgüter verdienen diesen Namen nur, wenn sie am ständig sich erneuernden Produktionsprozess teilhaben: Die Münzen eines Schatzes, der nicht benutzt wird, sind ebenso wenig Kapital wie ein ungenutzter Wald und so weiter.“51 Auch ein Mensch ist Kapital, wie Gary S. Becker nüchtern bemerkte, sofern er Geld in sich investiert, um seine Produktivkraft für den Arbeitsmarkt zu erhöhen. Umfassende Bildung und das Erlernen von Fertigkeiten sollen Rendite abwerfen. Spezielle Fortbildungen, etwa im Bereich der Informationstechnologie oder des Gesundheitswesens, aber auch die Aneignung von „Soft Skills“ wie Pünktlichkeit und Ehrlichkeit seien Kapital, da sie den Ertrag steigerten und zur Persönlichkeitsbildung beitrügen. Der Aufwand, der zur Fortbildung betrieben wird, ob nun finanzieller oder zeitlicher Art, sei eine Investition in die Zukunft. Profit aus diesen Investitionen sei indes nicht immer in Zahlen zu messen, sondern bezöge sich auf eine ganze Reihe von Merkmalen, die etwa in größerem Wissen, besserer Gesundheit und der Ausbildung von ethischen Werten bestünden.52 Damit wird der Mensch derart in den Zirkulationsprozess des Warentauschs eingebunden, dass zwischen Produktionsmitteln und Produktivkräften, Dingen und Individuen nicht mehr zu unterscheiden ist – Entfremdung als höchste Stufe kapitalistischer Ideologie.

50Ebd. In diesem Sinne sprach etwa Wilhelm Liebknecht vom Kapitalismus als „Moloch“, der auf den „Schlachtfeldern der Industrie“ sein Unwesen treibe, zit. nach Hilger/Hölscher: „Kapital, Kapitalist, Kapitalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 444. 51Fernand

Braudel: Die Dynamik des Kapitalismus, 4. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2011 [frz. 1985], 48. 52„Schooling, a computer training course, expenditures on medical care, and lectures on the virtues of punctuality and honesty are capital too in the sense that they improve health, raise earning or add to a person’s appreciation of literature over much of his or her lifetime. Consequently, it is fully in keeping with the capital concept as traditionally defined to say that expenditures on education, training, medical care, etc. are investments in capital. However, these produce human, not physical or financial, capital because you cannot separate a person from his or her knowledge, skills, health, or values the way it is possible to move financial and physical assets while the owner stays put“, Gary S. Becker: Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, 3. Aufl., Chicago und London: The University of Chicago Press 1993, 15 f.

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Als politische Ökonomie erlaubt der Liberalismus jeweils, ihn entweder in Form einer politischen oder aber einer ökonomischen Handlungsweise wahrzunehmen. Das zeigt sich vor allem in den USA. Hier gilt als politisch „liberal“, wer sich den Idealen der gerechten Verteilung von Gütern, der vernünftigen Haushaltung zur Unterstützung der Ärmsten, der Gesetzgebung zum Nutzen von Kranken und Schwachen und der Anerkennung von Minderheiten verschreibt, ob sie nun kultureller, religiöser oder sexueller Art sind. Liberal zu sein, heißt in diesem Kontext unter anderem, sich für steuerliche Umverteilung nach unten, höhere Staatsausgaben für Versicherungs- und Wohlfahrtsprogramme, die Regulierung von Monopolen oder von Finanz- und Arbeitsmärkten stark zu machen, also dem Primat der Wirtschaft – wie vergeblich auch immer – Grenzen zu setzen. Wer hingegen den ökonomischen Aspekt der politischen Ökonomie betont, wird unter „liberal“ die Öffnung der Märkte, die Reduzierung staatlicher Eingriffe, die Verantwortung der Menschen für ihr eigenes Wohlergehen und die Abschaffung von staatlichen Subventionen verstehen. In Deutschland spielte die Variante der von Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerufenen „sozialen Marktwirtschaft“ eine Rolle, die politisch liberal Gesinnten den Eindruck eines von gesellschaftlichem Konsens getragenen („sozialen“) Modells vermittelte, während sie Anhängern einer liberalen Wirtschaftspolitik genügend Spielraum gab, ihre Geschäftsinteressen zu wahren. Dem Staat wiesen die Vordenker der sozialen Marktwirtschaft eine Art Schiedsrichterfunktion zu, wonach die Fliehkräfte eines auf Konkurrenz und Ungleichheit ausgerichteten kapitalistischen Systems nur soweit zu bändigen seien, dass sich die Wirtschaft ohne größere Regulierung und Störfaktoren entfalten und Gewinne zeitigen konnte. Nicht weniger ein ideologischer Kampfbegriff wie „Liberalismus“ ist „soziale Marktwirtschaft“ programmatisch auf den Kapitalismus und seine Forderung nach Profitmaximierung verpflichtet. Denn Märkte sind unter dem Signum des Liberalismus genauso wenig „frei“, wie sie im eigentlichen Sinne Märkte darstellen – einen Ort, wo sich Interessenten und Händler auf Augenhöhe begegnen und durch faire Vertragsabschlüsse gegenseitigen Nutzen ziehen. Dass sich im Liberalismus rasch Monopole bilden, ist ein funktionales Element des Kapitalismus. Durch die Akkumulation von Gewinnen werden die Investitionsmöglichkeiten für wenige erhöht, für viele hingegen geschmälert. Schon bald nach der Einführung kapitalistischer Wirtschaftsformen gewann der Kapitalismus gerade durch seine Ablehnung an Profil. Verschiedene Gegenbewegungen wie etwa die des Saint-Simonismus oder des Frühsozialismus im Gefolge Proudhons kritisierten die herausragende Rolle des Eigentums für den Kapitalismus, seine Tendenz zur Individualisierung, zur Arbeitsteilung und damit zur Entfremdung – dem Resultat effizienter Produktionsweisen, die Arbeitsprozesse beschleunigten, die Produktion erhöhten, auf den einzelnen Arbeiter hingegen immer weniger Rücksicht nahmen. Die Industrialisierung brachte nicht nur immensen Wohlstand und das, was die Anhänger des Liberalismus als „Fortschritt“ priesen, sondern auch bittere Armut, Ungleichheit und Elend. Die Legitimationskrise des Liberalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts war daher nicht nur ökonomischer, sondern auch politischer und sozialer Natur. Ob der

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Liberalismus mit dem Verschwinden seiner einstigen, wenig attraktiven Konkurrenten – des Sozialismus und des Kommunismus – die alleinige staatlich präferierte Doktrin sein muss, sei angesichts der drängenden ökonomischen Fragen auf einem überbevölkerten Planeten dahingestellt: Wie lässt sich dauerhafter und bleibender Wohlstand schaffen? Wie lassen sich wirtschaftliches Wachstum und die Nutzung natürlicher Ressourcen miteinander in Einklang bringen, ohne die Umwelt zu zerstören? Wie lässt sich die durch wirtschaftliche Expansion erzeugte globale Erderwärmung eindämmen? Wie kann das Artensterben gestoppt werden, wenn wirtschaftliche Interessen seine Ursache sind? Mitunter wird Liberalismus mit Konservatismus in eins gesetzt.53 Konservativ ist der wirtschaftliche Liberalismus jedoch keineswegs. Er beruht im Gegenteil auf dem Prinzip der permanenten Zerstörung des Alten, um Neuem Platz zu machen. Innovation ist sein Mantra, Fortschritt sein Dogma. Joseph Schumpeter erfand dafür die Formel von der „schöpferischen Zerstörung“ – einem Prozess der „industriellen Mutation“, der unaufhörlich die ökonomische Struktur von innen heraus revolutioniert und alles Bekannte früher oder später verwirft.54 Konservative fürchten dagegen um den Niedergang einer alten, für besser und gerechter, heimeliger und vertrauter empfundenen Welt. Der Liberalismus zerstört aber nicht nur ökonomische Prozesse und gewonnene Güter, er verabschiedet auch den Glauben an ein zusammenhängendes soziales Gefüge, sei es der gesellschaftlichen Ordnung als Ganzes oder der oft als Keimzelle der Gesellschaft bezeichneten Familie. Denn im liberalistischen System wird alles monetarisiert, nicht zuletzt der Mensch. Der Begriff der „Familie“ ist ein Beispiel für den Widerspruch von Konservatismus und Liberalismus, denn wer in ihr einen Wert sieht, wird gerade die marktwirtschaftliche Ordnung für eine der Ursachen dafür halten müssen, dass seit den 1960er Jahren die Zahl an Scheidungen steigt, während die Zahl der Eheschließungen stetig abnimmt.55 Es fällt nicht schwer, einen Zusammenhang zwischen den materiellen Bürden zu sehen, die Familien

53Vgl. Voegelin:

„Der Liberalismus und seine Geschichte“, 18. Zerstörung“ sei ein Ablauf der „industrial mutation […] that incessantly revolutionizes the economic structure from within, incessantly destroying the old one, incessantly creating a new one“, Schumpeter: Capitalism, Socialism, and Democracy, 83. 55Etwa bis um das Jahr 2008 herum hielt sich die Scheidungsrate auf hohem Niveau, bis zu einem Zeitpunkt also, als in Deutschland eine hohe Zahl an Arbeitslosen zu verzeichnen war. Angaben zu Scheidungsraten und Eheschließungen stellt das Statistische Bundesamt zusammen: „Eheschließungen, Ehescheidungen, Lebenspartnerschaften“ und „Tabellen“ [o. J.], http://www. destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/EhenLebenspartnerschaften/ EhenLebenspartnerschaften.html (3. Dezember 2018). Wird gerade von konservativen Gruppen, wie der innerhalb der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) im April 2018 gegründeten „WerteUnion“, der Zusammenhang von Familienfeindlichkeit und Marktfreundlichkeit hartnäckig geleugnet, haben die Vordenker der freien Wirtschaftsordnung schon vor Jahrzehnten auf die Unvereinbarkeit von Konservatismus und Liberalismus hingewiesen, vgl. etwa Friedrich von Hayek: „Why I Am Not a Conservative“, in: The Constitution of Liberty, Chicago: The University of Chicago Press 1960, 397–411. 54„Schöpferische

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im gleichen Zeitraum auferlegt wurden. Familien mit nur einem Einkommen sind heute die Ausnahme, Doppelverdiener dagegen die Regel. Ein wesentlicher Grund liegt in der zunehmenden Liberalisierung der Märkte, die dazu führte, dass die Einkommen einer einstmals breiten Mittelschicht – in den USA mehr noch als in Deutschland – deutlich gesunken sind. Kritiker werden einwenden wollen, dass erst die Liberalisierung der Märkte in den 1970er Jahren einen Ausweg aus der Spirale hoher Löhne und damit hoher Produktionskosten bei gleichzeitig steigender Inflation gewesen sei, der sogenannten „Stagflation“. Tatsächlich brachte ein Maßnahmenbündel in den USA und in Großbritannien, das den Vorstellungen führender Ökonomen von der Chicago School of Economics entsprach – allen voran den Ideen Milton Friedmans, James Buchanans, Gary S. Beckers, George Stiglitz’, aber auch Friedrich von Hayeks – zunächst einen Umschwung unter Ronald Reagan. Doch stieg gleichzeitig die Staatsverschuldung massiv an, während die Armutszahlen beunruhigende Höhen erreichten. Trotz aller Unterschiede ähnelten die in Großbritannien unter Margaret Thatcher durchgeführten Reformen denjenigen unter Reagan und entsprachen weitgehend dem später vom Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank in den 1980er Jahren entwickelten und unter Federführung von John Williamson 1990 formulierten Wirtschaftsprogramm, das in knapper Form die Ideen des Neoliberalismus zusammenfasst: Entbürokratisierung und „Verschlankung“ des Staates, „staatliche Haushaltskonsolidierung, stabile Währungspolitik, Marktöffnung für ausländische Direktinvestitionen, Liberalisierung der Finanzmärkte sowie des Außenhandels, Schutz von Eigentumsrechten, Deregulierung der Wirtschaft und Privatisierung von Staatseigentum“.56 Wie wenig liberale Wirtschaftskonzepte, die in ihren Ausformungen höchst unterschiedlich sein können, mit einem demokratischen System zu tun haben, wie wenig sie einer gesellschaftlichen Übereinkunft bedürfen und stattdessen einen „starken“ Staat benötigen, der die Umsetzung der angestrebten Reformen im Sinne der freien, kapitalistischen Marktwirtschaft vorantreibt, zeigen die Anfänge des Neoliberalismus. Lateinamerika galt als Experimentierfeld der Umsetzung derartiger Programme. Nach dem Sturz von Salvador Allende setzte Augusto Pinochet mit brutaler Gewalt die Vorstellungen neoliberaler Politik um. Tausende Menschen starben, wurden gefoltert und endeten in Gefangenschaft. Kaum ließe sich sagen, ob es sich dabei lediglich um Opfer der Diktatur oder des wirtschaftlichen Systems handelte,

56Thomas

Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg: Junius 2015, 89. Aus der reichen Literatur zum Neoliberalismus seien lediglich einige Titel genannt, z. B. Peter Gowan: The Global Gamble. Washington’s Faustian Bid for World Dominance, London und New York: Verso 1999; Colin Crouch: Post-Democracy, Cambridge (UK) und Malden, Massachusetts: Polity Press 2004; ders.: The Strange Non-Death of Neoliberalism, Cambridge (UK) und Malden, Massachusetts: Polity Press 2011; Kean Birch und Vlad Mykhenenko (Hg.): The Rise and Fall of Neoliberalism. The Collapse of an Economic Order?, London und New York: Zed Books 2010; David Harvey: The Enigma of Capital and the Crises of Capitalism, London: Profile Books 2010, sowie ders.: Seventeen Contradictions and the End of Capitalism, New York: Oxford University Press 2014.

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denn Politik und Wirtschaft gingen Hand in Hand. Die Militärregime in Brasilien, Uruguay und Argentinien folgten dem Beispiel, sowohl politisch wie ökonomisch. Illiberale Regime benötigen Demokratie ebenso wenig wie Rechtsstaatlichkeit und freie Meinungsäußerung, um die Grundsätze des Neoliberalismus umzusetzen. Es zählen allein Profite. Werner Sombart hatte daher schon 1902 in seinem ­monumentalen Werk Der moderne Kapitalismus das System kühl als „eine ­ verkehrswirtschaftliche Organisation“ bezeichnet, „bei der regelmäßig zwei ­ verschiedene Bevölkerungsgruppen“ miteinander in Kontakt treten – ob unter demokratischen oder diktatorischen Bedingungen: die „I n h a b e r d e r P r o d u k t i o n s m i t t e l , d i e g l e i c h z e i t i g d i e L e i t u n g h a b e n “, also „Wi r t s c h a f t s s u b j e k t e “ sind, und „b e s i t z l o s e N u r a r b e i t e r ( a l s Wi r t s c h a f t s o b j e k t e ) “, die „d u r c h d e n M a r k t v e r b u n d e n “ sind.57 Die „E i g e n a r t s e i n e s E r w e r b s p r i n z i p s “, so Sombart weiter, äußere sich darin, dass unter der Herrschaft des Kapitalismus „der unmittelbare Zweck des Wirtschaftens nicht mehr die Bedürfnisbefriedigung eines lebendigen Menschen, sondern ausschließlich die Vermehrung einer Geldsumme ist. […] Die Wirtschaftsform des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist die kapitalistische Unternehmung. Sie bildet eine abstrakte Einheit: das Geschäft. Ihr Zweck ist die Erzielung von Gewinn.“58 Deutlich wird die Nähe von Liberalismus und Diktatur, wenn Sombart zur Beschreibung eines Typus des kapitalistischen Marktes ansetzt, die auch auf Demagogen passen würde – der des Gründers: „Der Gründer träumt das Riesengroße. Er lebt wie in einem beständigen Fieber. Die Übertreibung seiner eigenen Ideen reizt ihn immer von neuem und hält ihn in immerwährender Bewegung. Die Grundstimmung seines Wesens ist ein enthusiastischer Lyrismus. Und aus dieser Grundstimmung heraus vollbringt er sein größtes Werk: er reißt andere Menschen mit sich fort, daß sie ihm seinen Plan durchführen helfen. […] Er verspricht goldene Berge und weiß seine Versprechungen glaubhaft zu machen. Er regt die Phantasie an, er weckt den Glauben. Und er erweckt mächtige Instinkte, die er zu seinem Vorteil verwendet: er stachelt vor allem die Spielwut auf und stellt sie in seinen Dienst. Stimmung machen ist die Losung. Und dazu sind alle Mittel recht, die die Aufmerksamkeit, die Neugierde, die Kauflust erringen. Lärm wird Selbstzweck. Und die Arbeit des Gründers ist vollbracht, seinen Zweck hat er erreicht, wenn weite Kreise in einen Zustand des Rausches geraten, in dem sie alle Mittel zu bewilligen bereit sind, die er zur Durchführung seines Unternehmens braucht.“59 Sombart stand zunächst dem Marxismus nahe, zeigte sich mit Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) bald als Antisemit und fiel später den Verheißungen eines „Gründers“ zum Opfer, der die Überzeugungs- und Verkaufstechniken der Geschäftswelt geschickt für seine politischen Zwecke anzuwenden wusste. ­Sombart

57Werner

Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zu Gegenwart, 3 Bde., München und Leipzig: Duncker & Humblot 1928, hier Bd. I.1, 319. 58Ebd., Bd. I.1, 320 f. 59Ebd., Bd. I.2, 876.

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wurde zu den intellektuellen Befürwortern des Nationalsozialismus, huldigte dem „Führer“ und bestätigte damit in gewisser Weise die Unabhängigkeit des Kapitalismus vom politischen System, in dem er gedeiht. Obwohl der Neoliberalismus zunächst seit den 1930er, dann wieder seit den 1960er und 1970er Jahren als Versuch galt, die durch den Laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhundert mitverschuldete Krise zu überwinden, bediente er sich der Freiheits-Rhetorik seines Vorgängers und vertraute auf die gleichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen: Selbstverantwortung, Deregulierung, Eindämmung staatlicher Kontrollen und Öffnung der Märkte. Das dem Liberalismus eigene Misstrauen gegenüber dem Staat haben neoliberale Strategen zwar übernommen, blieben aber zugleich auf ihn angewiesen und bestärkten sogar staatliche Ambitionen zur Machtausschöpfung. In beinahe allen Fällen, in denen neoliberale Reformen eine durch wirtschaftliche Stagnation, hohe Arbeitslosigkeit oder Inflationsraten in die Krise geratene Regierung wieder stabilisieren sollten, spielte die Stärkung staatlicher Institutionen und des Militärs eine wichtige Rolle. Durch das Militär wird nach innen Sicherheit, nach außen Stärke vermittelt, werden Arbeitsplätze geschaffen und gegebenenfalls durch militärische Einsätze in Kriegsgebieten die nationale Einheit beschworen. Dwight D. Eisenhower sprach vom „Military-­ Industrial Complex“ (MIC) – ein Begriff, den Herbert Marcuse und die Denker der Kritische Theorie in polemischer Weise gegen die Ideologie des ökonomischen Liberalismus kehrten. Der Glaube, durch ein liberales Wirtschaftsprogramm ein universal gültiges Konzept gegen Krisen und Armut gefunden zu haben, erwies sich als trügerisch. In vielen Ländern, die den Neoliberalismus Friedmans und der Chicago School als Rettung begrüßt hatten, summierten sich am Ende Schuldenberge, deren Zinsen durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank eingetrieben wurden.60 Staatliche Defizite erhöhten sich ebenso wie die Abhängigkeit von privaten ausländischen Investoren. Durch oft drastische Senkungen der Spitzensteuersätze bei gleichzeitiger Erhöhung der indirekten Steuern wie Mehrwerts- und Verbrauchssteuern wurden ärmere Bevölkerungsschichten stärker belastet, reichere dagegen beschenkt. Nur in sehr geringem Ausmaß hat die Senkung von Steuern für Wohlhabende und Unternehmer dazu geführt, dass Gelder in Form von Investitionen der Wirtschaft eines Landes wieder zugutegekommen und Steuerausfälle auf der einen durch eine signifikante Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts aufgefangen worden wären. Mit Sicherheit aber ging in allen Ländern, die sich dem Neoliberalismus verschrieben hatten, die Schere zwischen den Profiteuren einer deregulierten Marktwirtschaft und jenen, die Selbstverantwortung zu tragen gezwungen waren, sich keiner staatlichen Wohlfahrtsprogramme mehr sicher sein konnten und mehr denn je von den Angeboten einer sich beschleunigenden kapitalistischen Arbeitswelt abhingen, auseinander. Die Folge war eine d­ramatische

60Zu den Zwangsmaßnahmen der Weltbank vgl. Elsa van Waeyenberge: „Tightening the Web. The World Bank and Enforced Policy Reform“, in: Birch/Mykhenenko: The Rise and Fall of Neoliberalism, 94–111.

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Zunahme ökonomischer Ungleichheit.61 „Freiheit“ mag im Sinne des Liberalismus als Wert erachtet werden, weil er die Möglichkeit zur Mehrung von Gewinnen meint, doch führt sie einkommensschwache Menschen – das Gros der Weltbevölkerung also – in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, wenn „freies“ ökonomisches Handeln nicht durch Gesetze in gewissem Maße auch dem Allgemeinwohl dient.

Werte-Fetischismus Unter den Nationalökonomen der historischen Schule nahm Gustav Schmoller eine führende Rolle ein. Schmoller wandte sich gegen den zu seiner Zeit grassierenden Manchester-Liberalismus mit seiner „naturrechtlichen Verherrlichung des Individuums und seiner Willkür“, aber auch gegen eine „alles verschlingende Staatsgewalt“.62 Was ihn umtrieb, war „der tiefe Zwiespalt, der durch unsere gesellschaftlichen Zustände geht, der Kampf, welcher heute Unternehmer und Arbeiter, besitzende und nicht besitzende Klassen trennt, die mögliche Gefahr einer uns zwar bis jetzt nur von ferne, aber doch deutlich genug drohenden sozialen Revolution“.63 Schmoller war vom Wunsch nach sozialem Frieden beseelt, einem seiner Natur nach konservativen Anliegen. Der im 19. Jahrhundert zum Topos erstarrte Gegensatz von Kultur und Kapital ist in vielen seiner Schriften von Bedeutung. Was als Rivalität erscheint, stand jedoch in komplementärem Verhältnis zueinander. Die Bildungselite hielt die Fahne der Aufklärung und des Humanismus hoch, mit der sich das Besitzbürgertum schmücken konnte. Denn die Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts lieferten dem Liberalismus die Rechtfertigung zur Ausgrenzung und Ausbeutung anderer Menschen. Dazu erfanden sie den Begriff der „Rasse“. Bis heute sind die Auswirkungen solcher auf Ausgrenzung bauender philosophischer Konzepte spürbar, die seit einigen Jahrzehnten von unterschiedlichen Theorien zum Postkolonialismus diskutiert wurden. Die Vermengung von „Culture“ und „Race“ tritt unter allen westlichen Demokratien vielleicht am deutlichsten in den USA hervor. Vertritt Samuel Huntington in The Clash of Civilizations (1996) die These, dass sich nach dem Zusammenbruch des

61„All of these practices form a collective site where the politics of accumulation by dispossession takes over as a primary means for the extraction of income and wealth from vulnerable populations, including the working classes (however defined). The stealing back of privileges once acquired (such as pension rights, health care, free education and adequate services that underpin a satisfactory social wage) has become a blatant form of dispossession rationalized under neoliberalism and now reinforced through a politics of austerity and ministered in the name of fiscal rectitude“, Harvey: Seventeen Contradictions and the End of Capitalism, 67 f. 62Gustav Schmoller: „Eröffnungsrede auf der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage 1872“, in: Geschichte der Ökonomie, hg. von Johannes Burkhardt und Birger P. Priddat, Frankfurt a. M: Deutscher Klassiker Verlag 2000, 595–603, hier 599. 63Ebd., 595.

Werte-Fetischismus

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Kommunismus ideologische Gegensätze nun auf den „Kulturkampf“ zwischen unterschiedlichen Zivilisationen verlagern würden, richtet sich in seinem Buch Who Are We? (2004) die Perspektive auf die amerikanische Gesellschaft. Hier gibt Huntington Auskunft über seine eigenen Werturteile: Der Zuwanderung lateinamerikanischer Immigranten solle ein Riegel vorgeschoben, vielmehr die anglo-protestantischen Werte Amerikas stärker betont werden.64 Den Begriff des „Kulturkampfs“ finden wir vor allem in ausgeprägt konservativen, ja rechtsextremistischen Gruppen wieder, wo er sich gegen eine von Chancengleichheit und Integration, Vielfalt und Offenheit getragene, als „Identitätspolitik“ gebrandmarkte Vorstellungswelt richtet. In Deutschland ist der Begriff der „Rasse“ aufgrund seines nationalsozialistischen Missbrauchs verpönt. Umso mehr dient der Kulturbegriff als Code-Wort für eine Politik, die sich gegen Andersgläubige und Andersdenkende richtet. Angst vor „Überfremdung“ ist in westlichen Gesellschaften inzwischen zum Mainstream geworden, während gleichzeitig, wie einst im 19. Jahrhundert bei Schmoller, die Sorge um den sozialen Frieden wächst. Der Wunsch danach, am „Eigenen“ festzuhalten, überwiegt gerade dann, wenn die Beben entfernter Kriege mit ihren Migrationsbewegungen in Europa zu spüren sind. Dass Einwanderung einer spezifisch deutschen Kultur kaum Schaden bereiten, stattdessen die Nachfrage nach Arbeitskräften befriedigen und auf Dauer das Sozialversicherungssystem stabilisieren würde, dringt nicht zu jenen durch, die auf Angst mit Abwehr reagieren. Um zu verstehen, weshalb Fragen der Identität mit den von einer gut erzogenen bildungsbürgerlichen Schicht verinnerlichten Prinzipien vertretenen Idealen Toleranz und Offenheit, der intellektuellen und ökonomischen Vernunft mit Elitismus und Arroganz selten in Einklang zu bringen sind, lohnt es sich, die Epoche der Aufklärung in Betracht zu ziehen, jene Zeit also, aus der der Liberalismus als globale Wirtschaftsdoktrin hervorgegangen ist. „Kultur“ wurde während der Aufklärung zum Ausdruck des überlegenen Geschmacks, die bürgerliche Lebensform als „natürlich“ gepriesen. Toleranz und Weltoffenheit lassen sich aus einer Haltung der Überlegenheit leichter predigen. Sprachen sich Philosophen der Aufklärung für Vernunft und Gleichheit aus, so verwiesen nicht wenige von ihnen zugleich auf Unterschiede, die auf vermeintliche Rassenmerkmale zurückführen seien. Ganze Volksgruppen ließen sich auf diese Weise erniedrigen und der Ausbeutung zuführen, sei es durch Sklaverei, Zwangsarbeit, Raub, Umsiedlung oder andere Praktiken, die den Handlangern des Kolonialismus wohlvertraut waren. Der seit der Aufklärung zu beobachtende Kultursnobismus verband militärische Gewalt mit ökonomischem Gewinnstreben und bereitete den Boden für Techniken des Neoliberalismus, der zwar Argumente zur Hebung des Wohlstands anführte, jedoch häufig den politischen Willen der Bevölkerung missachtete, wie auf dem lateinamerikanischen Kontinent in den 1960er und 1970er Jahren. Unterstützt wurde die Philosophie der Aufklärung von Naturforschern, die in ihren Klassifikationsmodellen auf ältere, bis ins Mittelalter und die Antike

64Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations sowie Who Are We? The Challenges to America’s National Identity, New York: Simon & Schuster 2004.

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z­urückgehende, teils auf Mythen und Hörensagen beruhende Einteilungsmuster zurückgriffen. Carl von Linné etwa führte die Gattung „Homo“ erstmals als eigenständige Gruppe von Lebewesen an und unterteilte Menschen nach ihrer Hautfarbe. Europäer seien demzufolge daran zu erkennen, dass sie „albus, sanguineus, torosus“, also weiß, lebhaft und muskulös seien. Amerikaner würden sich hingegen durch die Merkmale „rufus, cholericus, rectus“ (rot, cholerisch und aufrecht), ­ Asiaten durch „luridus, melancholicus, rigidus“ (gelb, melancholisch, starr), Afrikaner durch die Kennzeichnung „niger, phlegmaticus, laxus“ (schwarz, phlegmatisch und schlaff) auszeichnen. Jeder Rasse ordnete Linné eine Wertung zu, die über die Beschreibung von äußerlichen Merkmalen hinausreicht.65 Von der Klassifikation war das moralische Werturteil seither nicht zu trennen. Fortan orientierten sich die Denker der Aufklärung ebenso an Linnés Modell wie an denjenigen anderer Naturforscher, allen voran Georges Louis Leclerc Comte de Buffon und dessen Histoire naturelle de l’homme (44 Bde., 1749–1804). Kant sprach erstmals 1775 Von den verschiedenen Rassen der Menschen und bezog äußeres Erscheinungsbild, Charakter und Umwelt aufeinander, wobei die gemäßigte europäische Klimazone seines Erachtens von Vorteil für die Herausbildung der weißen „Rasse“ und deren Gemüt gewesen sei.66 Schon 1764 hatte Kant die untergeordnete Stellung aller nicht-europäischen Rassen auf das Gebiet der Ästhetik übertragen. „Geschmack“ war für viele Aufklärer ein Zeichen von Tugend, Geschmacklosigkeit barg hingegen den Vorwurf des Amoralischen in sich. In seinen Betrachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen heißt es: „Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. […] Die unter ihnen weit ausgebreitete Religion der Fetische ist vielleicht eine Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt, als es nur immer von der menschlichen Natur möglich zu sein scheinet. Eine Vogelfeder, ein Kuhhorn, eine Muschel, oder jede andere gemeine Sache, so bald sie durch einige Worte

65Carl

von Linné: Systema naturae per regna tria naturae secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus, differentiis, synonymis, locis, Bd. 1, Stockholm: Laurentii Salvii 1758, 20 f.

66Immanuel

Kant: Von den verschiedenen Rassen der Menschen [1775], in: Werkausgabe, Bd. XI, 7–30. Vgl. hierzu auch das einschlägige Kap. 7 und 8, „Enlightenment“ und „Black Exhibits“ bei Ibram X. Kendi: Stamped from the Beginning. The Definitive History of Racism in America, New York: Nation Books 2016, 79–103, sowie die Zusammenstellung vieler Texte zur Rassenlehre u. a. von Philosophen der Aufklärung bei Emmanuel Chukwudi Eze (Hg.): Race and the Enlightenment. A Reader, Cambridge, Massachusetts: Blackwell 1997. Einen knappen Überblick zur Geschichte der Rassenlehre geben Susanne Wernsig u. a. (Hg.): Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen, Ausstellungskatalog für das Deutsche Hygiene-Museum, Göttingen: Wallstein 2018. Aus der Vielzahl an Publikationen empfehlen sich zur Einführung neben Werner Conze und Antje Sommer: Art. „Rasse“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 135–178, vor allem Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, 3. Aufl., München: C.H. Beck 2017; Wulf D. Hund: Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus, Stuttgart: Metzler 2017; Imanuel Geiss: Geschichte des Rassismus, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1993; George L. Mosse: Toward the Final Solution. A History of European Racism, New York: Fertig 1978. Vor allem Achille Mbembe: Critique of Black Reason, liefert überzeugende Beispiele für die Dialektik von rassistischen Ausschlussverfahren und universellem Vernunftdogma.

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e­ ingeweihet worden, ist ein Gegenstand der Verehrung und der Anrufung in Eidschwüren. Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart, und so plauderhaft, daß sie mit Prügeln müssen auseinandergejagt werden.“67 Europäer dagegen hätten „einzig und allein das Geheimnis gefunden […], den sinnlichen Reiz einer mächtigen Neigung mit so viel Blumen zu schmücken und mit so viel Moralischem zu durchflechten, daß er die Annehmlichkeiten desselben nicht allein überaus erhöhet sondern auch sehr anständig gemacht hat.“68 Die auf Vorurteilen und die Beobachtungen unterschiedlicher menschlicher Phänotypen gestützte Rassenlehre wurde dann von dem Mediziner Johann Friedrich Blumenbach auf eine vermeintlich wissenschaftliche Grundlage gestellt, indem Messmethoden vorweg unternommene Klassifizierungsverfahren und die in sie eingegangenen Werturteile rechtfertigten. Blumenbach gilt daher vielen als der eigentliche Begründer der Rassen-Anthropologie. Auf ihn geht die Kraniometrie zurück, die Vermessung von Schädeln als Kriterium der Rassenunterschiede. Blumenbach bezog sich in seiner 1776 in lateinischer, 1798 dann in deutscher Sprache erschienenen Schrift Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte ausdrücklich auf Kant. Franz Joseph Galls Phrenologie, wonach Gemütszustände auf Charaktertypen mit „Rassemerkmalen“ verweisen würden,69 geht wiederum auf Blumenbach zurück und sollte noch Rudolf Virchow beeinflussen, der die von ihm entwickelte Anthropometrie auf weit über sechs Millionen Schulkinder anwandte. Virchow kam nach langwierigen und massenhaften Vermessungsprozeduren lediglich zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland keine „reine Rasse“ gäbe, wie er auf einem medizinischen Kongress in Karlsruhe 1885 eingestand. Später lehnte Virchow die Vermessung von Schädeln zur Bestimmung von Rassenmerkmalen gänzlich ab, weswegen ihn die Nationalsozialisten ignorierten. Virchows empirische Untersuchung können wir als Antwort auf die Rassenlehre Joseph Arthur de Gobineaus erachten. Dessen vierbändiger Essai sur l’inegalité des races humaines (1853–1855) war das Gründungsmanifest eines auf rassistischen Vorstellungen beruhenden Kulturpessimismus. Gobineau erklärte den Untergang Europas aus der Vermischung der „Rassen“. Zwar sei die „Degeneration“ der Rassen ein Naturgesetz, Geschichte aber „vollziehe sich in Stammes- und Völkerkämpfen, bei denen die Tüchtigeren sich durchsetzen, Herrschaft aufrichten und Völker minderer Rassenkraft überschichten. Die (göttlich vorbestimmte) F ­ ähigkeit dazu erkannte Gobineau nur der weißen, allein geschichtsträchtigen Rasse zu“.70 Freilich war auch Gobineaus mit pseudowissenschaftlicher Verve und ­sprachlichem Geschick vorgetragene

67Immanuel

Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764–1771], in: Werkausgabe, Bd. II, 821–884, hier: 880. Dass Kant nicht nur den grassierenden Rassismus seiner Zeit in seine Schriften aufgenommen hat, sondern auch antisemitische Ansichten darin vertritt, ist seit langem bekannt, vgl. z. B. Michael Mack: German Idealism and the Jew. The Inner Anti-Semitism of Philosophy and German-Jewish Responses, Chicago und London: University of Chicago Press 2003, 23–41.

68Ebd.,

881 f. Joseph Gall: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen, Wien: Gräffer 1791. 70Conze/Sommer: „Rasse“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 162. 69Franz

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Geschichtsphilosophie, die den Untergang der weißen Rasse betrauerte, nicht ohne ökonomische Pointe. Denn mit der von ihm zum Ideal erhobenen „reinen Rasse“ oder dem „reinen Blut“71 war das Adelsgeschlecht gemeint, dem er entstammte. Aristokraten mussten im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Beschneidung ihrer Privilegien hinnehmen und die ökonomische und politische Vormachtstellung des Bürgertums mitsamt deren neuer, kapitalistischen Wirtschaftsordnung anerkennen. Für Gobineau war „Rasse“ hingegen das alleinige Unterscheidungsmerkmal der Nobilität. Das von ihm verfochtene Prinzip der Ungleichheit war eines der Geburt und des „Blutes“, während dasjenige des Bürgers auf der Forderung des Wettbewerbs unter vermeintlich Gleichen beruhte.72 Das Bürgertum bediente sich in der Folge Gobineaus Rassenlehre, um ihrer Wirtschaftstheorie Nachdruck zu verleihen. Von Humanismus war nur dann die Rede, wenn das Eigene unter Ausschluss des Anderen erhöht, Fremde aber auf Tiere oder Produktionsmittel reduziert wurden, die sich jederzeit ersetzen ließen. Ökonomie und Rassismus waren im 18. und 19. Jahrhundert nicht voneinander zu trennen, denn der Handel mit Menschen war ebenso verbreitet wie der Handel unter Menschen. Die Voraussetzung dafür ist Ungleichheit, eines der Fundamente des Kapitalismus: „Der Capitalist“, schrieb Heinrich Luden 1811 in seinem Handbuch der Staatsweisheit oder Politik, „misbraucht leicht die Menschen, über welche ihm ihre Armuth die Herrschaft giebt. Immer weiter und weiter treibt er seine Unternehmungen; der Haufe, der für ihn arbeitet, wird größer und größer; der bestimmte und gewisse Lohn zieht diejenigen an, die desselben bedürfen; sie verstehen sich zu Einer bestimmten Arbeit, erlernen Einen Handgriff vollkommen, verlernen aber jeden andern Gebrauch ihrer Kräfte; dadurch verbessern sie die Producte ihrer Thätigkeit, und bereichern den Unternehmer, während sie selbst arm bleiben; Er, der Kapitalist, der ihrer nun gewiß ist, wird karger, verlangt mehr und gewährt weniger; sie, die Arbeiter, sind gezwungen, ihm nachzugeben, um das kümmerliche Leben zu erhalten.“73 Der von Adam Smith geschätzte schottische Ökonom Adam Ferguson brachte die Ansichten vieler seiner aufgeklärten Zeitgenossen auf den Punkt. Subjekt der Geschichte könne allein die bürgerliche Gesellschaft sein, die sich von den „Wilden“ und „Barbaren“ dadurch unterscheide, dass sie das natürliche Gleichgewicht der sozialen Ordnung verlassen habe, weil ihr Antrieb der Erwerb von Eigentum 71Ebd.,

161. unmittelbare historische Situation spielte ebenfalls eine Rolle bei der Abfassung von Gobineaus Essai sur l’inegalité des races humaines. Im Angesicht der aristokratischen Reaktion sah das Bürgertum in Frankreich „die Errungenschaften der großen Revolution gefährdet, die Julirevolution des Jahres 1830 brach aus, Karl X. mußte zugunsten von Louis Philippe (Regierung 1830–1848) abdanken. Sein Königtum stützte sich auf das Bürgertum und verzichtete auf Prunk und Glanz, und der Adel verlor nun endgültig den gesellschaftlichen Vorrang. In diesem Frankreich der Restauration und der Julirevolution hat Joseph Arthur Comte de Gobineau seine Kindheit erlebt“, Peter Emil Becker: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart und New York: Thieme 1990, 3. 73Heinrich Luden: Handbuch der Staatsweisheit oder der Politik, Bd. 1, Jena: Frommann 1811, 285, Anm. 1 (auch zitiert bei Hilger/Hölscher: „Kapital, Kapitalist, Kapitalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 439. 72Die

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geworden sei. Erst der freie Handel ermögliche Fortschritt, dieser aber bezeichne das, was wir als Geschichte kennen würden. Diente der Zusammenschluss unter ­Artgenossen der Stärkung individueller Vorteile im geschlossenen Verbund, sei in der Folgezeit das Sozialprinzip zur Idee der nationalen Einheit gereift. Was einmal eine Allianz zur Verteidigung war, wurde zur politischen Kraft. Die Sorge um das eigene Auskommen entwickelte sich schließlich zum Streben nach Reichtum und würde die Fundamente der „Wirtschaftskunst“ bilden.74 Fortschritt – ob kulturell oder ökonomisch – geht, nach Auffassung der Aufklärer, aus Tugenden hervor, diese aber aus der Natur des Menschen. Natur steht im Widerspruch zu den „unnatürlichen“ Herrschaftsordnungen, die noch das 17. Jahrhundert kannte. Als „unnatürlich“, da der eigenen Zivilisation fremd, galten nicht nur außereuropäische, „wilde“ Völker, sondern auch die absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts, die dem freien Handel Schranken aufgezwungen hatten. Die Logik wirtschaftlichen Denkens, die auf Fortschritt und Perfektibilität ausgerichtet war, verlangte daher nach einer Begrenzung der Macht des Sourveräns, sofern keine Aufhebung von Handelsbarrieren in Aussicht stand.75 Der Begriff des Liberalismus hatte also von Beginn an eine sowohl politische, als auch eine ökonomische Dimension. Er bedeutete Freiheit von willkürlicher Macht und restriktiven ökonomischen Rahmenbedingungen bei gleichzeitiger Beibehaltung einer wiederum als „natürlich“ erachteten und durch Naturforscher angeblich belegten Ungleichheit aller Menschen. War Ungleichheit erst einmal „wissenschaftlich“ etabliert, war der Weg zur Ideologie nicht weit, die sich auf die Überlegenheit der weißen „Rasse“ berief und Andersartigen alles Menschliche absprach. Gegenüber dem Souverän bildete die Wirtschaft das Betätigungsfeld, auf dem sich das Individuum ohne Eingriffe frei hat entfalten können. Gegenüber Nicht-Europäern war Ökonomie hingegen eine Lizenz zur Unterdrückung und gegenüber der neuen Klasse der Arbeiter die Befugnis zur Ausbeutung. Aufgrund seines ambivalenten Gebrauchs eignete sich der Wertbegriff zur Verschleierung des Zusammenhangs von Kapital und Gewalt, Aufklärung und Willkür. Verhalfen etwa Philosophen der Ökonomie zu gesellschaftlicher Anerkennung, indem sie ihr einen ethischen Rahmen gaben, so entlasteten sie zugleich die Ökonomie von Fragen der Ethik und der Religion. Kritik an dieser Verschleierung wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geäußert, vielleicht am deutlichsten von Nietzsche, der den Wertbegriff zur Kritik an den Moralvorstellungen des Christentums verwendete, und Marx, der ihn in ökonomischer Hinsicht deutete. Im ersten Band von Das Kapital befasste sich Marx

74„What was in one generation a propensity to herd with the species, becomes, in the ages which follow, a principle of national union. What was originally an alliance for common defence, becomes a concerted plan of political force; the care of subsistence becomes an anxiety for accumulating wealth, and the foundations of commercial arts“, Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh: Edinburgh University Press 1966, 121 f. 75Ferguson und Smith konnten sich auf John Locke berufen: „For no government can have a right to obedience from a people who have not freely consented to it […]“, John Locke: Second Treatise of Civil Government, in: The Works of John Locke. A New Edition, Corrected. In Ten Volumes, Bd. V, § 192, London 1823, Reprint, Aalen: Scientia Verlag 1963, 453.

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unter anderem mit der Warenform des Wertes. Im Kapitalismus spiegle die Ware „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge“ zurück, weshalb „auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“ erscheine.76 Nach Marx erkennen wir den eigentlichen Wert einer Ware nicht, gerade weil wir sie umstandslos verehren und daher blind für ihren Arbeits- und Mehrwert sind. Marx spricht deshalb vom „Fetischcharakter der Ware“ und beschreibt Wert als „gesellschaftliche Hieroglyphe“, also als rätselhaftes Zeichen, da Menschen ihre eigenen Arbeitsprodukte ungewollt in Beziehung zueinander setzten, verglichen, ja selbst ihren persönlichen Rang von diesen Produkten abhängig machten, ohne sich über ihre Werturteile im Klaren zu sein.77 „Mehrwert“ wiederum ergibt sich nach Marx, wenn das Äquivalent für die jeweilige Ware die in ihnen enthaltene Arbeitskraft übersteigt. Kommt Geld als Ware in Betracht, verwandelt es sich zu Kapital, das sich scheinbar wie von selbst reproduziert, akkumuliert und so, wie die Ware, zum Fetisch wird. Die ungleiche Verteilung von Kapital vollzieht sich laut Marx im Industriekapitalismus mit größerer Geschwindigkeit als in früheren Epochen, nicht aber mit weniger brutalen Mitteln: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichneten die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. […] Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz“,78 heißt es mit Blick auf das Feudalsystem. Die wirtschaftliche Ordnung des 19. Jahrhunderts stellt Marx nüchtern dar: „Kolonialsystem, Staatsschulden, Steuerwucht, Protektion, Handelskriege usw., diese Sprößlinge der eigentlichen Manufakturperiode, schwellen riesenhaft während der Kinderperiode der großen Industrie“,79 und wenn schon das Geld mit „Blutflecken auf einer Backe auf die Welt“ komme, dann sei „das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“.80

76Marx:

Das Kapital, in: MEW 23, 86. Ähnlich äußerte sich Marx schon in der ersten Fassung der separat erschienenen Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, 34–35: „Daß ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis sich als ein außer den Individuen vorhandener Gegenstand und die bestimmten Beziehungen, die sie im Produktionsprozeß ihres gesellschaftlichen Lebens eingehen, sich als spezifische Eigenschaften eines Dings darstellen, diese Verkehrung und nicht eingebildete, sondern prosaisch reelle Mystifikation charakterisiert alle gesellschaftlichen Formen der Tauschwert setzenden Arbeit. Im Geld erscheint sie nur frappanter als in der Ware.“. 77Marx: Das Kapital, in: MEW 23, 88. 78Ebd., 779. 79Ebd., 785. 80Ebd., 388.

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Nach der ökonomischen Theorie des Marxismus wird Wert entweder als „Arbeitswert“, sofern er sich auf Arbeitsleistung und Produktion, oder als „Mehrwert“ verstanden, sofern er sich auf Kapitalerträge bezieht. Seit Marx’ Kapital ist der Wertbegriff in der ökonomischen Vorstellungswelt deshalb an das kapitalistische Konzept der Profitabilität gekoppelt, er wird mit der Österreichischen Schule der Nationalökonomie von Menger, Böhm-Bawerk und Mises hingegen zunehmend auf den Preis als quantifizierendem Prinzip beschränkt, wonach Bedarf und Angebot in den Beträgen messbar sind, die jeweils für eine Ware bezahlt werden. Kommt Waren jedoch, nach Marx, ein „Fetischcharakter“ zu, so ist damit zugleich der irrationale, emotionale Aspekt einbezogen, an dem sich die ökonomische Theorie der Österreichischen Schule vergebens abarbeitete. Ihr ging es darum, die Rationalität der Märkte zu belegen. Deren Irrationalität kam sie nicht bei. Bezeichnete Kant die Religion der „Neger“ als „läppisch“, da sie auf Fetischen beruhe, ist der Fetisch der Moderne, wie Marx meinte, auf die Ware und von der Ware schließlich auf das Kapital übergegangen, dessen Zauberkraft gerade in der permanenten Zirkulation liege. Wir sprechen von einem Fetisch (von lat. „facticius“ = „gemacht, künstlich“, port. „feitiço“ und schließlich frz. „fétiche“ = „Zauber[mittel]“), wenn wir einem Gegenstand höhere Macht zuschreiben – eine Kraft, die meist von einer göttlichen, unerklärlichen Instanz ausgeht. Dieser Gegenstand kann eine bannende Wirkung auf uns ausüben: „Fetische wie Idole sind immer materiell; doch beide gehen darin nicht auf. Das Besondere an ihnen ist es, dass sie Materie sind, die etwas ‚anderes‘ eingekörpert hat: Bedeutungen, Symbole, Kräfte, Energien, Macht, Geister, Götter usw.“81 Die „überlegene“ europäische Zivilisation hat den Fetischismus in ihrem Verhältnis zum Konsum also keineswegs hinter sich gelassen, sondern aufs Höchste gesteigert. Was Kant einst für „läppisch“ erachtete, ist der Antrieb unserer Kultur. Marx’ Kapital kann als Theorie der Verwandlung gelesen werden und daher als Kulturtheorie: Arbeit verwandelt Objekte in Waren, Waren verwandeln sich in Äquivalente und Geld in Kapital, das die Zirkulation von Waren und Geld beschleunigt. So wird die Vermehrung des Profits zum Selbstzweck. Gerade an ihrem Selbstbezug sind gesellschaftliche Handlungen zu erkennen.82 Von Geheimnis und Zauber sieht Marx diese Verwandlungen wie nicht weniger die Waren selbst umgeben, weil sie den Charakter der menschlichen Beziehungen verbirgt, der sich in ihnen und ihren Werten abbildet: „Wir verfolgen die Befestigung dieses falschen Scheins. Er ist vollendet, sobald die allgemeine Äquivalentform mit der Naturalform einer besonderen Warenart verwachsen oder zur Geldform kristallisiert ist. Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist. Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eigenen Resultat und läßt keine Spur zurück.

81Hartmut

Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012, 35. 82Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft.

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Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigene Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenköper. Diese Dinge, Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde herauskommen, sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes.“83 So sehr sich Marx von der Religion distanziert, so nahe kommt er ihr in der Beschreibung des Fetischcharakters der Ware. Traditionell eine Domäne der Religion erscheinen Verwandlungen von Totem zu Lebendigem und von Materiellem zu Immateriellem dem Menschen entweder als heilig oder unheimlich, wenigstens aber von übermenschlicher Natur. In Riten zelebrieren Angehörige religiöser Gemeinschaften die Initiation ihrer Mitglieder und feiern Übergänge in andere Zustände – von der Jugend ins Erwachsenenalter, vom individuellen in den gebundenen Stand der Ehe, vom Leben in den Tod. Gottheiten veranschaulichen diese Metamorphosen, die Menschen entweder in Abbildern oder in Geschichten, Mythen oder Heiligenlegenden darstellen. Die den Göttern zugeschriebenen Zustandsänderungen werden in Riten nacherlebt, z. B. in Opferbräuchen, in denen sich das Opfer in eine von einem Gott gesegnete Gabe verwandelt, oder im Moment der Transsubstantiation, in dem, nach katholischer Auffassung, Brot und Wein in den Leib und das Blut des Gottessohns übergehen. Die Anbetung eines Abbilds ist der Anbetung einer Ware ähnlich, weshalb sie für Marx „ein vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“.84 Es zählt heute zum guten Ton jeder Kapitalismuskritik, ob sie nun von marxistischer oder religiöser Seite vorgetragen wird, dass sie unser Verhältnis zu den käuflichen Dingen und zum Geld – dem Medium des Kaufs – ächtet und verteufelt. Teil dieser Kritik ist es, Geld ebenso wie materielle Dinge als Fetisch zu kennzeichnen. In der Psychoanalyse wiederum wird die Kritik am Fetischismus des Kapitals schließlich rationalisiert und ins Individuum hineinverlegt, ohne ökonomische Grundlagen in Betracht zu ziehen. Dabei handelt es sich um eine Form der Internalisierung, die vielleicht nicht einmal Sigmund Freud bewusst war. Den Bezug zwischen Sexualität und Fetischismus stellte Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) her. In seiner Sexualtheorie erläutert Freud, wie unser Verhältnis zu den Dingen zur Verdinglichung des Subjekts führt.85 Ohne dass der Begriff der Ökonomie explizit genannt würde, hält sie Eingang in die psychologische Methodik. Denn nach Freud ist es die dem Menschen eigene Triebökonomie, die den Ansporn für unser Verhalten darstellt: „Der Ersatz für das Sexualobjekt ist ein im allgemeinen für sexuelle Zwecke sehr wenig geeigneter Körperteil (Fuß, Haar) oder ein unbelebtes Objekt, welches in nachweisbarer Relation mit der Sexualperson, am besten mit der Sexualität derselben, steht (Stücke der Kleidung, weiße Wäsche). Dieser Ersatz wird nicht mit Unrecht

83Marx: 84Ebd.,

Das Kapital, in: MEW 23, 107.

85. 85Zum Begriff der Verdinglichung vgl. Axel Honneth: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Mit Kommentaren von Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear und einer Erwiderung von Axel Honneth, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2015.

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mit dem Fetisch verglichen, in dem der Wilde seinen Gott verkörpert sieht. Den Übergang zu den Fällen von Fetischismus mit dem Verzicht auf ein normales oder perverses Sexualziel bilden Fälle, in denen eine fetischistische Bedingung am Sexualobjekt erfordert wird, wenn das Sexualziel erreicht werden soll. (Bestimmte Haarfarbe, Kleidung, selbst Körperfehler).“86 Es sind also die Bereiche der Religion, der Ökonomie und der Psychologie, in denen sich der Fetischismus entfaltet und uns auf je eigene Weise mit den Dingen in Bezug setzt. Objekte, die wir fetischisieren, können in vielfältiger Weise auftreten und „als Gebrauchsgegenstände, Prestigegüter, Repräsentations- oder Tauschobjekte Verwendung finden – vom afrikanischen Nagelfetisch über Talismane und Amulette bis hin zu Kleidungsstücken (der begehrten Person), Körperteilen und Markenartikeln sind dem Beispielreichtum keinerlei Grenzen gesetzt. Darüber hinaus können auch ‚NichtDinge‘ – wie Personen, Ideale abstrakte Wunschziele usw. – ver-dinglicht und als Fetische behandelt werden.“87 Die „fetischistische Valenz“, der Wert also, den wir den Dingen und verdinglichten „Nicht-Dingen“ zuschreiben, ist nach dem Dafürhalten von Johannes Endres keineswegs objektiv, sondern ein Ergebnis „menschlicher ‚Inspiration‘“.88 Im Wertbegriff der Konsumgesellschaft kommen sich daher „Wert“ und „Preis“ wieder nahe, denn wer mehr begehrt, zahlt auch mehr. Ist der Fetisch zu einem der „zentralen Mechanismen kultureller Synthesis“ geworden, tritt das „Objekt des Begehrens“ aus dem „Sperrbezirk privater Sammlungen oder Clubs“ an die Oberfläche.89 Dabei „entwertet“ die „Integration in die kapitalistische Ökonomie“ den Fetisch nicht etwa, wie Böhme annimmt,90 sondern belässt ihm einen Rest an Magie, den wir ihm als Statussymbol zuschreiben. Dinge bleiben daher immer an Gefühle, Leidenschaften und Phantasien gebunden, für die wir Geld ausgeben. Handelt es sich nicht um Gebrauchsgegenstände, dann sind es unsere Hoffnungen und Erwartungen, durch die uns der Erwerb eines Objekts als wünschenswert erscheint. Da wir Dinge, die wir begehren, nicht immer auch erwerben können, schreiben wir dem Begehren selbst einen Wert zu. Indem die ökonomische Theorie den Wertbegriff von subjektiven Präferenzen, kulturellen Hintergründen, Sozialisation und Bildung abtrennt, wahrt sie den Schein wissenschaftlicher Objektivität und konzentriert sich auf wenige, marktorientierte Faktoren zu seiner Bestimmung. So findet der Wertbegriff aus ökonomischer Sicht seine Berechtigung vornehmlich im Bereich der Finanzmärkte und betriebswirtschaftlichen Analysen. Wertpapiere zeigen über Kurse den Wert eines Konzerns an, der sich aus seinen Bilanzen und zukünftigen Investitionen, seiner Rolle im Marktgeschehen und seiner Stellung im Vergleich mit anderen Marktteilnehmern

86Sigmund

Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., 11 Bde., Frankfurt a. M: Fischer 2000, Bd. V, 37–145, hier 63. 87Johannes Endres: Literatur und Fetischismus. Das Bild des Schleiers zwischen Aufklärung und Moderne, Paderborn: Fink 2014, 17 f. 88Ebd., 18. 89Böhme: Fetischismus und Kultur, 343. 90Ebd., 345.

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ergibt. Nicht zufällig verstehen eine Vielzahl finanz- und betriebswirtschaftlicher Fachleute unter „Wert“ einen positiv besetzten Begriff, der einen Investitionsanreiz bezeichnet. Diesem Wertbegriff steht die „Wertlosigkeit“ oder der „Verlust“ im ökonomischen Kalkül gegenüber. Die positive Bestimmung des Wertbegriffs und seine finanzwirtschaftliche Deutung ist die Existenzgrundlage für Consulting-Firmen, deren Aufgabe letztlich allein darin besteht, Betrieben auf die Sprünge, das heißt in den Bereich schwarzer Zahlen zu helfen.91 Dem Markt kommt darin quasi-religiöse Funktion zu: Profit ist ein Wert an sich, seine Hinterfragung ein Sakrileg. Insofern müssen wir „Kapital“ in der Tat als Fetisch erachten, und zwar von jener Art, der seine Herkunft „verdunkelt und verleugnet […]; er täuscht darüber, wen er vertritt; er macht undurchsichtig, was ihm fesselnd ist; er virtualisiert die Einbildungskraft; er ist prinzipiell ohne Moral; er ist kreativ, aber nicht reflexiv.“92

Selbstbeobachtung Der Liberalismus stellt sich, Foucault zufolge, gegenüber den Ideologien des 20. Jahrhunderts als Regierungstechnik dar, die den Souverän von der Sorge um die Sicherheit, Stabilität, Gesundheit, Produktivität, Wissenserweiterung und Mehrung des Wohlstands der Bevölkerung befreit und sie auf das Individuum überträgt. Da, der Theorie nach, im liberalen Staat die Ziele des Einzelnen unweigerlich dem Wohl der Allgemeinheit dienen, erscheint die individuelle Vorteilssuche als Ausdruck von natürlichen, menschlichen Anlagen. Gleichzeitig verdichten sich bürgerliche Kommunikationsformen im 18. Jahrhundert zu dem, was Jürgen Habermas „Öffentlichkeit“ nannte, eine Entwicklung, die sich in der explosionsartig ­wachsenden Zahl von Publikationen und der Entstehung von Zeitschriften zeigt.93 Hier ­verständigen sich Individuen über ihre Fortschritte, Absichten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Im Lichte der Vernunft entfalteten die Kameralistik, die Ästhetik, die Pädagogik und die Theologie gemeinsam mit anderen Humanwissenschaften voneinander geschiedene Wissenschaftsbereiche zur Erforschung der „natürlichen“ Entwicklung des Menschen. Dem Staat blieb als Interventionsfeld

91Die

wohl einflussreichste Unternehmensberatungsfirma McKinsey verfügt über eine eigene Verlagsreihe, die sich auf wertsteigernde Maßnahmen konzentriert. Bücher aus dieser Reihe, in der McKinsey & Company stets als Co-Autor genannt wird, stammen etwa von Tim Koller u. a.: Valuation. Measuring and Managing the Value of Companies, Hoboken/New Jersey: Wiley & Sons 2005; sowie Tim Koller und Richard Dobbs: Value. The Four Cornerstones of Corporate Finance, Hoboken/New Jersey: Wiley & Sons 2010. Aus der großen Anzahl finanzwirtschaftlicher Publikationen zum Thema „Wert“ seien folgende Beispiele genannt: Nick Gogerty: The Nature of Value. How to Invest in an Adaptive Economy, New York: Columbia University Press 2014; sowie Stephen M. Horan u. a.: Strategic Value Investing. Practical Techniques of Leading Value Investors, New York: McGraw Hill 2014. 92Böhme: Fetisch und Kultur, 343. 93Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, mit einem Vorwort zur 4. Aufl. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1990.

Selbstbeobachtung

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die Regierungspraxis im engeren Sinne (die Exekutive), die politische Ökonomie als – wenn auch beschränkter – Steuerungsmechanismus (Haushaltshoheit und Gesetzgebung zur Lenkung der wirtschaftlichen Entwicklung) sowie die Kontrolle der Bevölkerung. Die Vereinbarung war einfach: Jeder Mensch wurde auf Selbstoptimierung, und das heißt auf Selbstbeobachtung, verpflichtet, während der Staat sie dabei beobachtete. Den Moment, als die neue Regierungstechnik zwischen individueller Freiheit und staatlicher Kontrolle, dem minimierten, der Logik des ökonomischen Laissez-faire gehorchenden Staates auf der einen Seite und dem Polizeistaat auf der anderen Seite eine Balance zu suchen begann, bezeichnet Foucault als „Geburt der Biopolitik“.94 Dem Primat der Religion in der Politik, durch das sich absolutistische Herrscher legitimierten, bereitete das bürgerliche Dogma der Vernunft ein Ende. Freilich war nicht nur die Politik, sondern auch die institutionalisierte Religion selbst davon betroffen. Beide wurden sich im bürgerlichen Zeitalter ihrer Geschichtlichkeit bewusst. Denn Fortschritt und Wachstum müssen einen Ausgangspunkt haben, der diesen Fortschritt erkennen lässt und plausibel erklären kann. Aufklärungsphilosophen maßen die Religion an ihrem Beitrag zum Fortschritt der Menschheit, einem ökonomischen Kriterium, das zunehmend als Gradmesser der kulturellen Entwicklung diente. Das wachsende historische Interesse an der Natur des Menschen und das Aufkommen neuer Wissenschaftsfelder kam der neuen, rationalen Regierungstechnik und ihrem Blick auf das Wohlergehen der Bevölkerung entgegen. So kann die Ökonomie von sich behaupten, eine „atheistische Disziplin“ zu sein, „eine Disziplin ohne Gott“, eine Disziplin, „die nicht nur die Nutzlosigkeit, sondern die Unmöglichkeit einer souveränen Perspektive manifestiert, der Perspektive des Souveräns auf die Gesamtheit des Staates, den er zu regieren hat“.95 Zugleich bleiben in der Ökonomie religiöse Denkmuster erhalten und verschieben sich vom Bereich des Sakralen auf den des Profanen. Das lohnende „Opfer“ – das den Kern religiösen Lebens in allen Kulturen bildet – besteht nun in Arbeit, Bildung oder Investitionen, die einen Mehrwert einbringen sollen. Die Fetische aber, die uns einst das Wohlwollen einer höheren Macht sichern sollten, sind nun Waren und Ideen, die zu quasi-religiösen Symbolen und Dogmen geworden sind. Bezeichnen wir Ökonomie als Summe rationalen Handelns, das auf der Abwägung von Vorteilen und Nachteilen zur Existenzsicherung beruht, dann verstehen wir, weshalb der Staat einen Teil seiner Kontrolle auf seine Subjekte übertrug. Die Internalisierung der Selbstbeobachtung ist ein ökonomisches Mittel der staatlichen Kontrolle – „Outsourcing“ zur Effizienzsteigerung. Zupass kam

94So

der Untertitel des zweiten Bandes seiner Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2, 387. Vgl. auch Patrick J. Deneen: Why Liberalism Failed, New Haven und London: Yale University Press 2018, 23: „The achievement of liberalism was not simply a wholesale rejection of its precedents, but in many cases attained its end by redefining shared words and concepts and, through that redefinition, colonizing existing institutions with fundamentally anthropological assumptions.“.

95Foucault:

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dem Staat dabei die Religion, in der ökonomische Selbstbeobachtungstechniken lange schon eingeübt worden waren. Im Pietismus etwa sollte die strenge Selbstprüfung des Ichs zur Erlösung führen. In der Ökonomie wiederum vermochte sie Prosperität und Wohlstand einzubringen. Im Begriff der Werte ist ein Instrument zur Selbstbeobachtung gegeben, das religiöse und säkulare Formen der internalisierten Kontrolle auf oft ungewöhnliche Weise miteinander verbindet. Im 1909 eskalierenden „Werturteilsstreit“ – mit Weber und Sombart auf der einen, Schmoller auf der anderen Seite – vertrat Weber die Ansicht, nicht die Wissenschaft habe sich um die praktische Anwendung und Beurteilung ihrer Erkenntnisse zu kümmern, sondern die Politik.96 Dieser aber kommt es zu, die ökonomischen Rahmenbedingungen ökonomischen Handelns zu sichern, dem die Wissenschaft wiederum zuarbeitete – ein Kreislauf, den Weber nicht in Betracht zog. Eigentlich ging es ihm nur um eine Art intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Forschungsergebnissen. Dass wissenschaftliche Forschung nicht frei von Werten ist und schon die Wahl des Forschungsgegenstandes ein Werturteil darstellt, gestand er ein: „Gewiß: ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen, und wie ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos ist, so wird die Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele, seiner Arbeit die Richtung weisen. Und die Werte, auf welche der wissenschaftliche Genius die Objekte seiner Forschung bezieht, werden die ‚Auffassung‘ einer ganzen Epoche zu bestimmen, d. h. entscheidend zu sein vermögen nicht nur für das, was als ‚wertvoll‘, sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos, als ‚wichtig‘ oder ‚unwichtig‘ an den Erscheinungen gilt.“97 Wie viele seiner Zeitgenossen vertrat Weber die Auffassung einer Hierarchie der Werte, die sich im subjektiven Wertdenken objektiv spiegle: „Gerade jene innersten Elemente der ‚Persönlichkeit‘, die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas ‚objektiv‘ Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden.“98

96Max

Weber: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ [1904], in: Schriften 1894–1922, 77–149, hier 77 f. 97Ebd., 115 f. Der Hinweis auf das „individuell Wirkliche“, das sich auf der Objektivität von Werten gründet, geht auf Heinrich Rickert zurück, den Weber aus Freiburg kannte. Aufgrund der persönlichen Überschneidungen in den Lebensläufen, aber auch wegen ihrer philosophischen Anschauungen bezeichnete Adorno Weber als „Rickertianer“, vgl. Adorno: „Einleitung zu Emile Durkheims ‚Soziologie und Philosophie‘“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 258. Tatsächlich hatte Weber den Begriff der „Kulturwerte“ Rickerts Schrift über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung entlehnt, die 1896 erstmals erschienen war. 98Max Weber: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in: Schriften 1894–1922, 81.

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Webers Wertbegriff geht über die bloße Verbindung von ethischen mit ökonomischen Werten hinaus. Wir könnten meinen, sein Wertbegriff beruhe auf einem Schema der dialektischen Verschränkung, beschreibe aber lediglich einen unlösbaren Widerspruch. Zum einen sollen ethische Werte nicht das Ziel der Forschung sein, auch wenn die wissenschaftliche Erkenntnis nicht frei von ihnen ist. Zum anderen dient die Wissenschaft dem Verständnis der Wertvorstellungen einer Epoche, obwohl sie sich nicht von ihnen lösen kann. Aus Wertvorstellungen leitet Weber wiederum ökonomische Folgerungen ab. Vom Begriff der „Wirtschaft“, der für die Bildung von Gemeinschaften ausschlaggebend ist, könne nur dann die Rede sein, „wo einem Bedürfnis [ein] knapper Vorrat von Mitteln und möglichen Handlungen zu seiner Deckung gegenübersteht und dieser Sachverhalt Ursache eines spezifisch mit ihm rechnenden Verhaltens wird“.99 Die rationale Erklärung des Ökonomiebegriffs aus dem Grundriß der Sozialökonomik (1921) schließt auch religiöse Phänomene in sich ein: „Gebete und Seelenmessen können in der Tat ebensogut Gegenstände der Wirtschaft werden, wenn die für ihre Veranstaltung qualifizierten Personen und deren Handeln knapp und daher nur ebenso gegen Entgelt zu beschaffen sind, wie das tägliche Brot.“100 Religiöse Handlungen lassen sich aus der Perspektive der Ökonomie bemessen, sofern sie etwa den für allgemein erachteten Gesetzen der Knappheit und der Nachfrage entsprechen. Aus ökonomischen Erwägungen ließen sich also auch religiöse Handlungen erklären. Umgekehrt könnten wir aus religiösen Einstellungen ökonomische Prozesse ableiten, wie Weber eineinhalb Jahrzehnte zuvor in seiner wohl berühmtesten Schrift dargelegt hatte. Die „protestantische Ethik“ erfülle sich im „‚Geist‘ des Kapitalismus“, stellte Weber fest und legte damit den ökonomisch-rationalen Mechanismus bloß, dessen Ausbreitung im westlichen Kulturraum irrationale Ziele beförderte. „Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse bezogen“,101 lautet Webers Beschreibung einer der Maximen des Kapitalismus. Bei der Mehrung des Wohlstands achtete der dem Kapitalismus offenstehende Protestantismus dabei auf das „Seelenheil“102 seiner Anhänger. Denn Wohlstand galt fortan als Ausweis göttlicher Gnade und als Belohnung für eine gottgefällige, „sittliche“ Lebensweise. Wer dem Gebot der Arbeit folge, seinen Tag tugendhaft, und das heißt: tüchtig, zubringe, dem schenke Gott seine Gunst. Askese begründe schließlich das ökonomische Handeln: „Der Mensch ist ja nur Verwalter der durch Gottes Gnade ihm gewendeten Güter, er hat, wie der Knecht der Bibel, von jedem anvertrauten

99Max

Weber: „[Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im Allgemeinen]“, in: Gesamtausgabe, Bd. 22/1, 71–107, hier 78. 100Ebd. 101Weber: Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, in: Schriften 1894–1922, 164. 102Ebd., 195.

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Pfennig Rechenschaft abzulegen, und es ist zum mindesten bedenklich, davon etwas zu verausgaben zu einem Zweck, der nicht Gottes Ruhm, sondern dem eigenen Genuß gilt.“103 Unter Anwendung psychologischer Methoden – im Jahr der Abfassung des ersten Teils seiner Schrift war Weber einer Einladung des Psychologen Hugo Münsterberg zur Teilnahme an einer Konferenz in die USA gefolgt – sei zu schließen: „Die innerweltliche protestantische Askese […] wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengt die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern […] direkt als gottgewollt ansah.“104 Schien das Handeln des protestantischen Menschen rational zu sein, beruhte es auf Annahmen, die, für sich genommen, nicht mehr rational zu begründen waren. „Vernünftig“ ist an diesen Annahmen lediglich die Funktion der Selbstbeobachtung, der das religiöse Weltbild dient: 1. Es gibt einen Gott; 2. Es gibt eine Seele; 3. Gott belohnt den Menschen für ein tugendhaftes Leben mit irdischen Gütern; 4. Die Mehrung des Reichtums dient dem Ruhm Gottes. Das Interesse von Nationalökonomen und der ökonomisch interessierten Soziologen an den Ursachen des modernen Wirtschaftslebens führte um 1900 unweigerlich zur Religion zurück, von der sich der Liberalismus im Zuge der Aufklärung zu befreien geglaubt hatte. Errichteten Ferguson und Smith ihre Argumente auf den Grundlagen der Vernunft in Abgrenzung zur Religion, gingen aus den historischen Fragestellungen von Karl Knies, dem Vorgänger Webers auf dem Lehrstuhl für Ökonomie in Heidelberg, und Schmoller ethische Postulate hervor, die auf den religiösen Ursprung der Wirtschaft zurückverwiesen. Eine Reihe von Historikern, Soziologen und Ökonomen knüpfte an diese Postulate an und rückte zunehmend den Zusammenhang zwischen Geld und Geist in den Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen, allen voran Sombart,105 Weber und Troeltsch. Sombart konzentrierte sich in seiner Untersuchung über die Ursprünge des Kapitalismus auf den Calvinismus und das Quäkertum, später, mit antisemitischem Einschlag, auf das Judentum;106 Weber und Troeltsch107 auf den Protestantismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Zahlreiche Detailstudien beispielsweise zur Situation der Landarbeiter, zu regionalen Konflikten zwischen Bevölkerungsschichten im Kontext ökonomischer Entwicklungen und religiöser Vorstellungen, zu neu aufkommenden „Typen“ wie dem Bourgeois oder zu „Klassen“ wie dem Proletariat untermauern

103Ebd.,

214. 215. 105Kurz vor Webers Studie über die Protestantische Ethik und den „Geist“ des Kapitalismus erschienen die ersten beiden Bände von Sombarts Der moderne Kapitalismus (1902). 106Wie oben bereits erwähnt vor allem in Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig: Duncker & Humblot 1911. 107Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München/Berlin: Oldenbourg 1911. 104Ebd.,

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das enge Verhältnis zwischen Wirtschaft, Mentalitäten und sozialem Wandel. Der Eindruck bestätigte sich, dass ökonomische Prozesse auf beinahe allen gesellschaftlichen Ebenen wirksam waren, ob sie nun die Religion, die Ästhetik, die Politik oder die Wissenschaften betrafen. Galt seit Ludwig Feuerbachs Wesen des Christenthums (1841) Religion als Erfindung des Menschen, die ihm in Zeiten der Not und Verlassenheit Linderung versprach, so wurde nun deutlich, dass der Liberalismus nicht nur die Befreiung aus religiösen Restriktionen, sondern auch aus Bindungen mit sich brachte, die dem Menschen Halt und Bedeutung gegeben hatten. „Freiheit“, die der Liberalismus versprach, wurde zur Last. Die „Geburt des Proletariats“, meinte etwa Sombart, sei „gleichbedeutend mit der Vernichtung tausend alter Beziehungen“:108 „Der Kapitalismus hat reine Bahn gemacht: er hat die ‚Aufklärung‘ gebracht und mit der Aufklärung […] auch der Masse den Unglauben. […] Da sterben denn zunächst auch alle Wertempfindungen ab. Eine bleierne Gleichgültigkeit befällt die Massen. Sie trotten ihren Gang ohne einen Funken von Glauben an eine bessere Zukunft; aber auch ohne Auflehnung, ohne Empörung. Unverdrossen. Mutlos. Hoffnungslos. Nicht einmal ‚gottergeben‘: wenn sie keinen Gott mehr haben, in dessen Hände sie sich und ihr Los befehlen könnten.“109 Der neue „Gott“ war der Staat, der die Belange der Ökonomie vertrat, indem er ihr den Status eines Kultes verlieh. Im Kult des Kapitalismus gehen Individuen ganz und gar auf, haben nicht nur teil, sondern sind Güter im Kreislauf der Waren. Nur wenige Jahre vor Weber hatte Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes die „Freiheit“ des Individuums an die Bedingungen der modernen, von Tausch und Äquivalenz geprägten Wirtschaftsform geknüpft: „Die so bedingte Personalität nun wird in den geldwirtschaftlichen Verhältnissen fast gänzlich aufgelöst. Der Lieferant, der Geldgeber, der Arbeiter, von dem man abhängig ist, wirken garnicht als Persönlichkeiten, weil sie in das Verhältnis nur nach der je einen Seite eintreten, daß sie Waren liefern, Geld geben, Arbeit leisten, und anderweitige Bestimmtheiten ihrer garnicht in Betracht kommen, deren Hinzutreten zu jenen doch allein ihnen die persönliche Färbung verleihen würde […].“110 Arbeitsteilung mehrt die Effizienz, spaltet aber die Persönlichkeit des Subjekts in unzählige Rollen auf. Bringt die Liberalisierung des Handels keine Freiheit, weil der Kapitalismus zur Bürde wird, müssen die Fundamente der Aufklärung als Hemmnis und Übel erscheinen. Mit der zunehmenden Rationalisierung ökonomischer Abläufe geben sich daher die zerstörerischen Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu erkennen. Vereinsamung und Vereinzelung, Bindungslosigkeit und Abhängigkeit traten, wie Simmel hervorhob, gerade durch den Waren- und Geldverkehr zutage und entpersonalisierten das Subjekt. In dieser Welt ohne Subjekte

108Werner

Sombart: Das Proletariat. Bilder und Studien, Frankfurt a. M: Rütten & Loening 1906, 79. 109Ebd., 75–77. 110Simmel: Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, 393 f.

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wird das Geld zum „absolut geeignete[n] Träger“ einer gänzlichen „Beziehungslosigkeit“, denn „es schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben, es ist das genaue Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihnen: die Enge der sachlichen Abhängigkeiten, die es stiftet, ist für das unterschiedsempfindliche Bewußtsein der Hintergrund, von dem sich die aus ihnen herausdifferenzierte Persönlichkeit und ihre Freiheit erst deutlich abhebt.“111 Mit jedem Versuch, den Liberalismus als rationale Antwort auf religiös fundierte, hierarchisch organisierte Bindungen zu beschreiben, verstärkte sich der Verdacht, dass die Ökonomie selbst irrationale Züge trägt. Hatte Marx die „Warenform“ als Vergegenständlichung der „gesellschaftlichen Charaktere“112 durch menschliche Arbeit beschrieben, Geld aber als „Wertzeichen“ und „funktionelles Dasein“ des Werts einer Ware, der durch Arbeit in sie einging,113 analysiert Simmel im Detail die Auswirkungen, die mit der neuen Wirtschaftsweise einhergehen. Horkheimer und Adorno stehen mit ihrer Dialektik der Aufklärung schließlich in einer Tradition, die mit der politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert beginnt und über Marx zu Simmel und Weber führt, dessen Wort von der „Entzauberung“ der Welt als Voraussetzung der Kritischen Theorie gelten kann. Statt von Religion sprechen Horkheimer und Adorno von „Mythen“, um die sprachlich-ästhetische Form hervorzuheben, in die sich das an sich Undarstellbare in einen verständlichen Kontext überführen lässt. Jede Religion ist demnach eine Sammlung von Geschichten: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“114 Wir dürfen schließen, dass der Kapitalismus selbst die Form des Mythos annimmt und zu einer Geschichte ohne Ursprung wird, die den Menschen in ein gewissermaßen natürliches Verhältnis zu seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ rückt. An Schärfe hat die Analyse von Horkheimer und Adorno bis in die Gegenwart hinein nichts verloren, weil sie Kultur, Kapitalismus, Konsum und Information als Einheit zeigt und die Ohnmacht der Individuen herausstreicht: „Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert. Dabei treiben diese die Gewalt der Gesellschaft über die Natur auf nie geahnte Höhe. Während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt. Im ungerechten Zustand steigt die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten Gütermenge. Die materiell ansehnliche und sozial klägliche Hebung des Lebensstandards der Unteren

111Ebd.,

404.

112Marx:

Das Kapital, in: MEW 23, 86. 142 f. 114Adorno: Dialektik der Aufklärung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 19. 113Ebd.,

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s­piegelt sich in der gleißnerischen Verbreitung des Geistes. Sein wahres Anliegen ist die Negation der Verdinglichung. Er muß zergehen, wo er zum Kulturgut verfestigt und für Konsumzwecke ausgehändigt wird. Die Flut präziser Information und gestriegelten Amüsements witzigt und verdummt die Menschen zugleich.“115 Die Antithese von Geld und Geist, die noch im 19. Jahrhundert häufig als Gegensatz von materieller und immaterieller „Kultur“ auftrat, fiel Horkheimer und Adorno zufolge in eins und stand gänzlich unter dem Diktat des Kapitals. Die Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Gesetze von Angebot und Nachfrage, Profitabilität und Nutzen zeigt den Menschen als unbedeutende Größe im Getriebe des Marktes. Werte sind hier lediglich noch Zweck eines Systems, das allein sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegt. Menschen stehen nicht mehr für Werte ein, sondern sind deren Funktion. Die Monopolisierung von Ökonomie und Kultur unter den Nationalsozialisten war Horkheimer und Adorno bei der Abfassung ihrer Kritik ebenso im Bewusstsein wie die Erfahrung des amerikanischen Exils. Nahe der Traumfabrik Hollywood war „Kultur“ der Inbegriff einer enthemmten, vom Liberalismus geprägten gesellschaftlichen Ordnung. Der „American Way of Life“ galt als Verspechen des nie endenden Fortschritts, der unbegrenzten Möglichkeiten, des unaufhaltsamen Aufstiegs. Nirgendwo anders als in den Vereinigten Staaten war der Liberalismus so widerspruchslos zur dominierenden Staatsdoktrin geworden, die Individuen umfassende „Freiheiten“ einräumte, solange sie dem Diktat ökonomischer Interessen gehorchten: „Der Liberalismus wurde als staatsgründendes und -legitimierendes Prinzip bemüht. Nicht der Staat begrenzt sich selbst durch den Liberalismus, sondern das Erfordernis des Liberalismus begründet den Staat.“116 In der Kulturindustrie, die den Traum vom sagenhaften Aufstieg und den unbegrenzten Möglichkeiten vor Augen führte, verwandelten sich ethische in materielle Werte, die sich in Reichtum und Status messen ließen.

Vom Ende des Liberalismus Krisen hatte der Liberalismus zu bewältigen, seit sich sein ökonomischer Arm, die freie Marktwirtschaft, durchgesetzt hatte. Dass nur „frei“ war, wer es sich leisten konnte, leuchtete nicht nur denen ein, die ihm zum Opfer fielen, sondern auch jenen, die sich ihrer nun moralisch fragwürdigen Privilegien erfreuten. So entstammte z. B. der Frühsozialist Henri de Saint-Simon einem Adelsgeschlecht. Saint-Simon wollte Privateigentum gerecht verteilen, gleiche Ausbildungs- und Erziehungsmöglichkeiten fördern und Leistung als alleiniges Prinzip für den sozialen Aufstieg gelten lassen. Wir können seine Lehre als Begleiterscheinung des Liberalismus erachten. Andere Alternativen drängten nicht weniger entschlossen nach vorn. Die Forderung, Privatbesitz in Allgemeingut zu überführen, war eine

115Ebd.,

14 f. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2, 303.

116Foucault:

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Konstante des Sozialismus. In Schottland entstand – unter dem Einfluss Ricardos – eine Bewegung, die auf Robert Owens „Report to the County of Lanark“ (1820) fußte. Den Vorschlägen des Fabrikbesitzers Owens zufolge sollte die Entwicklung neuer Gemeinschaftsformen die grassierende Armut bekämpfen. In „Owen’s Villages“ wurde privater Besitz zum Allgemeingut erklärt, Arbeit über Tausch vergeben und nicht durch Geld entlohnt. Der Owenismus verbreitete sich nicht nur im Vereinigten Königreich und in Kanada, sondern auch in den USA, vor allem in New York und Philadelphia. Oft wurden Forderungen nach einer gerechten sozialen Ordnung zum Politikum und standen mit dem Wunsch nach nationaler Einheit und der Begrenzung staatlicher Macht in unmittelbarem Zusammenhang. Der Geheimbund des „Jungen Europa“ (seit 1834) – einem Zusammenschluss von in Frankreich, Polen und Deutschland entstandenen Bewegungen nach dem Vorbild von Guiseppe Mazzinis „Jungem Italien“ – folgte etwa dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Humanität“. Hatten religiöse Gruppen mitunter politische Absichten, so trugen politische Aktivisten wie die in einigen europäischen Ländern auftretenden Anarchisten ihrerseits religiöse Züge. Manche Gründerfiguren des Anarchismus wie Proudhon („Eigentum ist Diebstahl“117) oder Michail Bakunin galten unter ihren Anhängern als Propheten oder fanden, wie Gustav Landauer und zuvor schon Saint-Simon, gleich selbst zu religiösen Weltanschauungen zurück.118 Einen Hang zur Prophetie und zur teleologischen Auslegung, die den großen Weltreligionen ähnelt, findet sich auch bei Marx. Die Teleologie des Christentums bestand bereits in Hegels Konzept von der Vervollkommnung des Geistes. Bei Marx kehrte sie in der Idee einer neuen Gesellschaft zurück, die nach kommunistischer Doktrin eines Tages den Kapitalismus überwinden wird. Dem Argument der Rationalität des Liberalismus begegneten seine Kritiker zwar mit dem Hinweis auf die religionsgleiche Unvernunft des Kapitalismus, ohne aber selbst von religiösen Anwandlungen frei zu sein. Religiöse und politische Bewegungen scheinen dabei gleichen Mustern zu folgen. „Bewegungen“ richten sich, ihrem Begriff nach, auf ein Ziel, sie unterstellen in ihren extremsten Formen die Notwendigkeit eines „langen Marschs“ (Mao Zedong) oder eines „Marschs auf Rom“ (Benito Mussolini), und nehmen damit die Metapher beim Wort. Sie missachten, wie im populistischen Kontext, das Establishment, sind antipluralistisch und behaupten, für eine unterdrückte Mehrheit – die Verlierer, die Opfer, die Arbeiter, das Volk – zu

117Pierre-Joseph Proudhon: „Qu’est-ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement“, in: Œvres complètes de P.-J. Proudhon, Nouvelle Édition, Paris: Librairie Internationale 1873, 13: „Qu’est-ce que la propriété? […] ce le vol.“ 118So wandte sich Gustav Landauer der christlichen Mystik zu, vgl. Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik, in: Ausgewählte Schriften, 16 Bde., Lich: Verlag Edition AV, 2008–2018, Bd. 7, hg. von Siegbert Wolf, Lich: Verlag Edition AV 2011. Saint-Simon kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen. An der Spitze der neuen gesellschaftlichen Ordnung, die sich dem industriellen Fortschritt zur Mehrung des Wohlstands verpflichtete, sollten, seinem letzten Werk zufolge, Priester stehen: Nouveau Christianisme. Dialogues entre un conservateur et un nouvateur, premier dialogue, Paris: Bossange Père 1825.

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sprechen. Populisten verstehen sich als Stellvertreter eines Mehrheitswillens, wie sehr dieser Wille auch erzwungen, verbogen und eingebildet sein mag.119 In ihren orthodoxen, ideologischen und oft extremistischen Ausformungen arbeiten derartige Bewegungen letztlich auf die Umdeutung der Begriffe von „Recht“, „Staat“ und „gesellschaftlicher Ordnung“ zu eigenen Gunsten hin. Rein ideologische Bewegungen führen das populistische Element ins Extreme. Das Alte soll niederbrennen, das Neue auf seinen Trümmern erstehen. Der Kommunismus begann ebenso als „Bewegung“ wie der Faschismus und der Nationalsozialismus. Ideologische Konzepte können ihrer eigenen Logik nur dann folgen, wenn sie sich anderen Anschauungen verschließen. Zu Recht erkennen sie in der Meinungsvielfalt eine Gefahr. Daher sind sich Ideologien, trotz ihrer oft großen Ähnlichkeiten, einander stets feindlich gesonnen. Im 19. Jahrhundert teilen sie die Gegnerschaft zum Kapitalismus, der dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollends als Quelle gesellschaftlichen Übels gebrandmarkt wird. Dabei bildet gerade der Liberalismus den Nährboden für Ideologien, denn mit der Autonomie, die er den gesellschaftlichen Akteuren gestattet, räumt er auch die Möglichkeit zur Ablehnung seiner eigenen Prinzipien ein – die Freiheit zur Unfreiheit. Nicht erst das Erstarken von Ideologien schuf ein Bewusstsein für die Krisensituation des Liberalismus. Die Anzeichen für seine Fehlleistungen und leeren Versprechungen waren nicht zu übersehen. Massenverelendung, Hungersnöte, ungerechte Verteilung der Löhne, Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft, Unterdrückung von Frauen, Sozialdarwinismus und Rassenwahn hätten an sich genügt, um auch die hartgesottensten Befürworter des Liberalismus zum Nachdenken zu bringen. Doch erst der massive Wertverlust auf den Finanzmärkten, die der Erste Weltkrieg und die Jahre der wirtschaftlichen Krise bis hin zur Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 hervorgebracht hatte, führte zu einem hart umkämpften Richtungswechsel. Der 24. Oktober 1929 ging in die Geschichte als „Black Thursday“ ein, als der Handel an der Börse in New Yorker zusammenbrach.120 Vorausgegangen war eine starke Steigerung der Industrieproduktion in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, eine massive Ausdehnung der Kreditvergabe an private Haushalte, durch die sich Konsumgüter finanzieren ließen, vor allem aber der durch Auslandskredite an die beteiligten Kriegsnationen und deren Verschuldung beschleunigte Aufstieg der USA zur führenden Wirtschaftsmacht. Als der Aktienboom 1929 mit einer Blase endete, deren Platzen sich seit Juni in alarmierenden Wirtschaftsdaten angekündigt hatte, gingen die Finanzströme schlagartig zurück, Deflation setzte ein, die Produktion sank rapide. Der weltwirtschaftliche Handel nahm stark ab, Massenarbeitslosigkeit und Armut waren die Folge. Eine Spirale

119Die

Merkmale des Populismus benennt Müller in knapper Form in What is Populism?. erreichte die Nachricht vom stärksten Kurssturz in der Weltwirtschaftsgeschichte erst am folgenden Tag, daher die Bezeichnung hierzulande „Schwarzer Freitag“. 120Deutschland

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von protektionistischen Maßnahmen in einzelnen Ländern etwa durch Schutzzölle verhinderte den Austausch von Waren. In Deutschland trugen die finanziellen Lasten durch den Versailler Vertrag zur ökonomischen Lähmung bei. Nachdem die Hyperinflation der Jahre 1918 bis 1923 die Ersparnisse der Mittelschicht vernichtet hatte, brachte der Dawes-Plan zunächst Erleichterung.121 Die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932 beendete dann jedoch die kurze Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs. Der Niedergang wurde zur stärksten und unmittelbaren Bedrohung der noch jungen Demokratie. Kommunisten auf der einen, Nationalsozialisten auf der anderen Seite verzeichneten in den 1920er Jahren großen Zulauf. Viele sahen sich den Schwankungen der Weltwirtschaft wie einem Fatum ausgeliefert, das bald zu ihren Gunsten ausschlug, bald zu bitterster Not führte. In diesem Klima schien das Pendel der Nationalökonomen zugunsten eines sozialen Ethos auszuschlagen, das der Politik zu Interventionen riet, um Solidarität zu bekunden und wirtschaftliche Sicherheit, wenn schon nicht für alle, so doch für viele zu garantieren. Manch einer suchte sein Heil in der Diktatur, der am ehesten zugetraut wurde, mit den Auswirkungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise umgehen zu können. Der Zustrom zu autoritären Bewegungen in den 1920er und 1930er Jahren war ein Resultat der Instabilität. Diktatoren versprachen Dauerhaftigkeit und Standfestigkeit, je mehr die Märkte schwankten. Viele westliche Demokratien reagierten dagegen mit der Regulierung der Märkte und makroökonomischer Steuerung. John Maynard Keynes schlug beispielsweise vor, in Krisenzeiten die wirtschaftliche Leistung durch einen erhöhten, mithilfe von Krediten finanzierten Staatshaushalt anzukurbeln. Infrastrukturprogramme sollten die hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen und allzu großen Preisschwankungen zuvorkommen.122 Keynes versuchte, die freie Marktwirtschaft zu retten, indem er den Laissez-faire-Kapitalismus begrenzte. Der Marxismus schwebte ihm dabei als Schreckgespenst einer überzogenen, von größtmöglichen staatlichen Eingriffen geprägten Wirtschaftsform vor, die es zu vermeiden galt. Franklin D. Roosevelt wird Keynes’ Vorschlägen folgen. Der „New Deal“, den Roosevelt am Tag seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten am 2. Juli 1932 seinen Wählern ankündigte, sah ein tiefgreifendes Programm zur Reformierung des Finanzsektors, ein umfangreiches Infrastrukturprogramm, vor

121Der Dawes-Plan sah die Regelung der Reparationszahlungen, die Kontrolle der Finanzmärkte und des Währungssystems vor und schuf durch Anleihen eine finanzielle Basis für die Wiederbelebung der Wirtschaft. Die zur Verfügung gestellten Mittel halfen, Industriestandorte wieder zu errichten, Arbeitsplätze zu schaffen und die Binnenkonjunktur zu heben, die durch die Exportbeschränkungen der Siegermächte zum wichtigen ökonomischen Faktor wurde. Ohne den Dawes-Plan wären die „Goldenen Zwanziger“ nicht möglich gewesen. 122Die Rede ist von „loan expenditure“, vgl. John Maynard Keynes: „The General Theory of Employment, Interest and Money“ [1936], in: The Collected Writings of John Maynard Keynes, hg. von der Royal Economic Society, Great Britain, 30 Bde., London: McMillan und New York: St. Martin’s Press 1971–1989, Bd. 7, hg. von Austin Robinson und Donald Moggridge, 3. Aufl., Cambridge (UK): Cambridge University Press for the Royal Economic Society 2007, 128–131.

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allem aber ein Programm zum Ausgleich von Einkommensunterschieden und zur Abmilderung sozialer Härten vor. Der „Social Security Act“ von 1935 schuf ein Netz an sozialen Absicherungen, wie es in anderen Demokratien und parlamentarischen Systemen des Westens längst bestand. Das Gesetzeswerk versprach jenen Menschen soziale Sicherheit, die von der Misere des Finanz- und Wirtschaftssektors unmittelbar betroffen waren. Anders als sein Vorgänger Herbert Hoover, der auf die Selbsthilfe der Bürger gesetzt hatte und ein Fürsprecher des Liberalismus gewesen war, gründete Roosevelt seine Überlegungen auf eine Gruppe von überwiegend an der Columbia University ausgebildeten Ökonomen, die unter dem Einfluss der Thesen Keynes Ratschläge erteilte und der Öffentlichkeit als „Brain Trust“ bekannt geworden ist. Die Erfolge staatlicher Interventionspolitik zeigten erst nach einigen Jahren Wirkung, sodass inzwischen Gegenstimmen laut wurden, allen voran diejenige Henry Calvert Simons, einem Mitbegründer der Chicago School of Economics. In einem schmalen Band unter dem Titel A Positive Program for Laissez-Faire (1934) legte Simons den Grundstein für die gegen staatliche Interventionen gerichtete Rückkehr zu liberalen wirtschaftlichen Positionen, wie sie in ähnlicher Weise den Ordoliberalen während des Colloque Walter Lippmann 1937 vorschwebten und von Europa aus unter Begriff des „Neoliberalismus“ Verbreitung fanden.123 Schon vor der Weltwirtschaftskrise, vornehmlich unter dem Eindruck der Russischen Revolution, hatten die Verfechter des Liberalismus damit begonnen, sich neu zu formieren. Ludwig von Mises beispielsweise leitete den Liberalismus in seiner gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1927 aus den logischen wirtschaftlichen Prinzipien her, für die die Österreichische Schule einstand. Von Mises sah seine Ansichten durch seine eigenen politischen Maßnahmen im österreichischen Finanz- und Wirtschaftssektor, gerechtfertigt, den er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in verantwortlicher staatlicher Position zu stabilisieren half: Liberalisierung der Märkte und Senkung der Steuern bei gleichzeitiger, doch nur vorsichtiger Regulierung der Finanzströme und des Währungskurses.124 Die Lehren der Wiener Ökonomen fanden nicht allein in den deutschsprachigen Ländern Gehör, sondern vor allem in den Vereinigten Staaten. Von Mises emigrierte 1940 in die USA, wo er von 1945 bis 1969 an der New York University lehrte. Zehn Jahre nach seiner Flucht folgte ihm sein Schüler Friedrich von Hayek, der zwischen 1950 und 1962 an der University of Chicago Ökonomie und Wissenschaftsgeschichte zu seinen Unterrichtsfächern zählte. Von Hayek galt als Mitglied der Chicago School of Economics, obwohl eine gewisse Distanz bestehen blieb, vor allem mit Blick auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit. In Chicago traf von Hayek auf Milton Friedman, der vier Jahre vor ihm eingetroffen war und einer der Lehrer

123Henry Calvert Simons: A Positive Program for Laissez-Faire. Some Proposals for a Liberal Economic Policy, Chicago: University of Chicago Press 1934. 124Vgl. Ludwig von Mises: Liberalismus, Jena: G. Fischer 1927.

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Gary S. Beckers werden sollte. Sowohl Friedman (1970–1972) als auch Becker (1990–1992) waren für je zwei Jahre Präsidenten der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, die Hayek 1947 gegründet hatte und deren erster Vorsitzender er war. Die Mont-Pèlerin-Gesellschaft bringt bis heute Ökonomen, Philosophen, Historiker, Journalisten und Geschäftsleute zusammen, um Wirtschaftsentwicklungen zu diskutieren und den Liberalismus im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern. Fünfzehn ihrer Gründungsmitglieder waren bereits Teilnehmer am Colloque Walter Lippmann, bei dem sich Ordoliberale und Mitglieder der Österreichischen Schule der Nationalökonomie getroffen hatten – nur ein Jahr, nachdem Keynes’ Theorie zur Regulierung der Märkte publik geworden war. Wie schon in Paris während der Gründungsveranstaltung des Neoliberalismus ging es bei den Treffen der Mont-Pèlerin-Gesellschaft darum, ökonomische Eingriffe des Staates zu verhindern und den Sozialismus aufs Schärfste zurückzuweisen, dem sich nach Auffassung der Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann Keynes gefährlich angenähert hatte. Noch heute wird Politikerinnen in den USA, die sich für Sozialprogramme und Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitswesen starkmachen, vorgeworfen, sozialistisches Gedankengut zu verbreiten, obwohl regulierte Märkte und ein stärkeres Engagement des Staates lediglich eine marktwirtschaftliche Variante des Liberalismus darstellen und weit von der Dogmatik dessen entfernt sind, was unter dem Begriff „Sozialismus“ zu Repressalien, Unterdrückung und Todesopfern geführt hatte. Eine Antwort auf die Probleme, die mit der freien Marktwirtschaft überhaupt erst entstanden waren, hatten die Neoliberalen, wie sie sich seither nannten, indes nicht. Im Gegenteil. Das Gespenst der Weltwirtschaftskrise verfolgte die Teilnehmer, die sich umso vehementer für den Liberalismus aussprachen, je weiter sein vorgebliches Ziel der gerechten Verteilung von Gütern in einer von gleichen Wertanschauungen getragenen Gesellschaft entfernt schien. Bis heute ist die Frage nach der gerechten Güterverteilung nicht gelöst. Gerade wirtschaftsliberale Denker sind eine Antwort schuldig geblieben.125 Das Problem der Ungleichheit, die der Neoliberalismus fördert, wird von seinen Anhängern mit dem Hinweis auf den insgesamt gewachsenen Wohlstand in der Welt und die Senkung der Armut zurückgewiesen – ein Pyrrhussieg, dem im Hinblick auf die Steigerung der Weltbevölkerung, die Vernichtung unseres Lebensraums und das beispiellose Artensterben jede moralische Grundlage fehlt. Der „Erfolg“ des Liberalismus beruht in letzter Konsequenz auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der Verbrennung fossiler Energieträger. Der von ihm propagierte „Fortschritt“ hat die ihm aufgezeigten Grenzen seit Langem überschritten. Die Aufrechnung monetärer Gewinne hilft, die Augen vor der schleichenden

125Vgl.

zuletzt etwa Alvin E. Roth: Who Gets What and Why. The Economics of Matchmaking and Market Design, Boston: Houghton Mifflin Harcourt, 2015. Roth nutzt eine Variante der Spieltheorie, die unter „Design“ das komplexe „Spielfeld“ wirtschaftlicher Transaktionen begreift, um zu erklären, wie etwa Organe von Spendern an Notleidende gelangen. Die ethischen Implikationen der Verteilung knapper Güter sind hier bereits in der Wahl der „Ware“ gegeben, Zweifel daher bereits an den Hypothesen des Buchs angebracht.

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­ atastrophe zu verschließen. Der kurzfristige Gewinn schiebt die Frage auf, ob K wir diese Gewinne eines Tages einzulösen imstande sein werden. Der menschliche Erfindungsgeist und technologische Innovationen – jene Instrumente also, die vom Liberalismus missbraucht wurden – seien die Stärke des Kapitalismus, hören wir Neoliberale sagen, und ahnen, dass es sich, wie auf den Finanzmärkten, lediglich um eine große Wette handelt, bei der es diesmal ums Ganze geht.126 Der Liberalismus mit seiner Ideologie der permanenten Steigerung von Industrieproduktion und Konsumgüterausstoß führt notwendig in eine Sackgasse, denn diese Wette ist nicht zu gewinnen. Logisch zu Ende gedacht, meint daher Patrick Deneen, sei der Liberalismus in keiner Hinsicht tragfähig. Weder könne er eine Ordnung aufrechterhalten, die zunehmend die konstitutionellen Rechte autonomer Individuen beschneide, noch sei endloses materielles Wachstum in einer Welt begrenzter Mittel möglich.127 Das Dogma der Gewinnmaximierung setzt voraus, Moral als dem wirtschaftlichen Nutzen abträglich zu veranschlagen. Profitorientiertes Wirtschaften führt, wie viele Studien belegen, notwendig zur Ausbeutung von Rohstoffen, Verschmutzung von Ozeanen, Abholzung von Regenwäldern, Industrialisierung der Tierhaltung, zu Monokulturen, Erodieren von Böden, Zerstörung von Lebensraum und schließlich zur Erwärmung der Erdatmosphäre. Seit den Warnungen des Club of Rome in seiner erstmals 1972 veröffentlichten Schrift Die Grenzen des Wachstums128 sind die Konsequenzen menschlichen Wirtschaftens in ihren Ausmaßen weitgehend bekannt, ohne dass sich Regierungen und Wirtschaftsführer – von Ausnahmen in einzelnen Bereichen, wie etwa der Begrenzung des Ausstoßes klimaschädlicher Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die der Ozonschicht schadeten – auf allgemeine, einheitliche und verbindliche Regeln zum Schutz des Planeten geeinigt hätten. Dass die damals getroffenen Prognosen seither vielfach geändert wurden, ändert am Gesamtbild wenig. Beruht der gewachsene Wohlstand der Weltbevölkerung auf der Verbrennung fossiler Rohstoffe, so handelt es sich, ganz nach den Gesetzen der Thermodynamik, lediglich um eine Umwandlung von Energie. Die erzeugte Wärme bedroht das Erdklima und damit unsere Zukunft. Seit dem vielgepriesenen Übereinkommen von Paris vom 12. Dezember 2015 zwischen den Mitgliedsstaaten der UN-Klimakonvention ist wenig geschehen, denn die vorgeschlagenen Richtwerte sind unverbindlich und weder durch Kontrollen, noch durch Gesetze oder Sanktionen durchzusetzen. Auch die Nachfolgekonferenz in Kattowice im Dezember 2018 setzt

126„Capitalists

and their agents engage in the production of second nature, the active production of its geography, in the same way as they produce everything else: as a speculative venture, more often than not with the connivance and complicity, if not active collaboration, of the state apparatus“, Harvey: The Enigma of Capital and the Crises of Capitalism, 187. 127„Taken to its logical conclusion, liberalism’s end game is unsustainable in every respect: it cannot perpetually enforce order upon a collection of autonomous individuals increasingly shorn of constitutive social norms, nor can it provide endless material growth in a world of limits“, Deneen: Why Liberalism Failed, 41 f. 128Donnella Meadows u. a.: The Limits to Growth, New York: Universe Books 1972.

152

4  Liberalismus für alle: Ökonomische Werte als Heilsversprechen

in ihrer Abschlussvereinbarung lediglich auf freiwillige Berichte einzelner Staaten und sieht von legislativen und exekutiven Instrumenten ab. Ökonomische Argumente, die wirtschaftlichen Fortschritt, die Vergrößerung des Wohlstands und die Sicherung von Arbeitsplätzen versprechen, stechen ethische Erwägungen immer dann aus, wenn finanzielle Interessen von großen Anteilseignern auf dem Spiel stehen – eine Grundlage des Neoliberalismus.129 Wer sich auf unseren hohen Lebensstandard beruft, um die Werte der Aufklärung als universell darzustellen, wird zu berücksichtigen haben, dass unser Wohlstand teuer erkauft wurde. Kriege um Ressourcen sind zum Normalfall geworden, nie war die Zahl der Flüchtenden vor Hunger, Gewalttaten und Umweltschäden größer. Selbst in den Ländern des erfolgsverwöhnten Westens steigt die Skepsis gegenüber pluralistischen politischen Systemen, vergrößern sich die politischen Spannungen, übernehmen Autokraten und Populisten das Ruder und machen gegen Meinungsvielfalt und kosmopolitische Ideen mobil. Grenzbefestigungen sind Symbole der Hilflosigkeit, Versuche, mit denen der Westen Hergebrachtes und Traditionelles zu schützen versucht, während alles in Fluss geraten und nichts mehr stabil zu sein scheint – von unseren Alltagsgewohnheiten bis zu den politischen Systemen, die wir in unseren Verfassungen festgeschrieben zu haben glauben.130 Dass auch die schrecklichsten Verbrechen der M ­ enschheit in die Zeit nach der Aufklärung, nämlich ins 20. Jahrhundert fallen, bestätigt die Annahme, dass Vernunft rasch in Unvernunft und Humanismus in ­ Unmenschlichkeit umschlagen kann. Es genügt daher nicht, Wissenschaft und Innovation als Werte zu proklamieren, ohne zu fragen, wie sie zu nutzen und anzuwenden sind. Erst wenn sie dem

129Dass

ökonomisches Handeln von neuen, langfristigen Zielen und einem radikalem Umbau von Anreizen begleitet werden müsste, um wirtschaftsliberalen Auffassungen zu ethischer Glaubwürdigkeit zu verhelfen, schlagen unerschütterliche Optimisten wie Steven Pinker aus und heben stattdessen die Erfolge hervor, die den Werten der Aufklärung geschuldet seien: Vernunft, Aufklärung, Humanismus und Fortschritt. Nie habe größerer Wohlstand geherrscht, hätten die Menschen länger gelebt, sei Demokratie höher geachtet worden und hätten weniger Kriege die Welt erschüttert. Den „Gegnern“ der Aufklärung unterstellt Pinker Naivität oder blinden Dogmatismus, während die Segnungen der „Ökomoderne“ oder des „Ökopragmatismus“ eine Art von „humanistischem Umweltschutz“ hervorbrächten, der allein von den Werten der Aufklärung getragen werde und dazu in der Lage sei, wirtschaftliche Dynamik und ökologischen Schutz miteinander zu versöhnen (vgl. Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress, New York: Viking Press 2018, 122). Pinkers Statistiken ziehen meist relative Zahlen absoluten vor, seine Argumente nehmen einseitig Partei und geben selten ein komplettes Bild wieder: ob es sich um Bildung oder Ungleichheit, Reichtum oder Umweltschutz handelt. So ist die Behauptung, dass Deutschland seine Atomkraftwerke durch Kohlekraftwerke ersetze ebenso wenig korrekt (ebd., 147) wie der Einwand, dass erneuerbare Energieträger zu kostspielig und Atomkraft die sicherste Form der Energiegewinnung sei (ebd., 146). Informationen zu den Energieträgern stellt das Statistische Bundesamt gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen (AGEB) zur Verfügung: „Bruttostromerzeugung in Deutschland 2015 bis 2017“, 2. Februar 2018, http://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Wirtschaftsbereiche/Energie/Erzeugung/Tabellen/Bruttostromerzeugung.html (3. Dezember 2018).

130Daher bezeichnet Zygmunt Bauman das Zeitalter, in dem wir leben, als „liquid modernity“ oder „flüchtige Moderne“, vgl. Liquid Modernity, Cambridge (UK): Polity Press, und Malden, Massachusetts: Blackwell 2000.

Vom Ende des Liberalismus

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­ llgemeinwohl dienen, nähert sich Aufklärung ihren Idealen an und entwickelt A sich zu mehr als nur einem Schlagwort für Weltverbesserer. Die neoliberalen Vordenkern verhassten Regulierungen und Gesetze könnten Abhilfe verschaffen. Denn ökonomischer Wohlstand und ökologische Vielfalt müssen nicht in Widerspruch zueinander stehen. Wenige würden bezweifeln, dass wir ohne Technik auskommen können, um beispielsweise den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren und womöglich der Atmosphäre wieder zu entziehen. Im Verbund von Technik und Ethik würde Wirtschaft ihrem Auftrag gerecht werden, ohne lediglich Einzelinteressen zu dienen. Langfristige ökonomische Gewinne, die zukünftigen Generationen durch die Erhaltung der Arten, den Schutz der Umwelt und die Wiedergewinnung von Rohstoffen zuteilwerden würden, kämen endlich zur Geltung, Wohlstand würde fair verteilt werden können. In seinem vielfach aktualisierten DICE-Modell (Dynamic Integrated Model of Climate and the Economy) bezieht William Nordhaus z. B. das natürliche Kapital des Klimas – also Ökosysteme, die aus einer Vielzahl an Faktoren heraus bestimmte Wetterbedingungen erzeugen – in die ökonomische Analyse ein. Unter der Prämisse, dass die Limitierung von Treibhausgasen die wirtschaftliche Leistung zwar kurzfristig reduziert, dafür aber langfristig große Kosten durch Umweltschäden, Migration und soziale Unruhen einsparen wird, schlägt Nordhaus ein Besteuerungsmodell für Treibhausgas-Emissionen vor.131 Solange sich Kapital in den Händen weniger konzentriert, während eine Mehrheit der Weltbevölkerung nicht nur von Gewinnen gänzlich abgeschnitten ist, sondern auch keinerlei Mitsprache bei Entscheidungsprozessen hat, die ihre Existenz unmittelbar betreffen, besteht wenig Hoffnung auf einen radikalen ökonomischen und ökologischen Umbau.132

131Nordhaus

kann gewiss kein Alarmismus vorgeworfen werden. Seine Analysen sind nüchtern, seine Rechenmodelle weitgehend anerkannt. Nordhaus’ Zurückhaltung lassen seine Mahnungen daher umso glaubhafter erscheinen. Beispielhaft ist etwa The Challenge of Global Warming: Economic Models and Environmental Policy, New Haven: Yale University Press 2007, 10–35. In The Climate Casino. Risk, Uncertainty, and Economics for a Warming World, New Haven: Yale University Press 2013, aktualisiert Nordhaus seine Daten und legt dar, dass die einst hochgesteckten Ziele einer Begrenzung des Temperaturanstiegs auf nicht mehr als zwei Grad Celsius im Vergleich mit dem Stand vor der Industrialisierung bis zum Jahr 2100 kaum zu erreichen sein werden, wenn nicht bald eine rigide Klimagesetzgebung greift. Ebenso argumentiert Nordhaus in „Projections and Uncertainties About Climate Change in an Era of Minimal Climate Policies“, in: Cowles Foundation Discussion Papers 2057 (2016), 1–43. „The results pertain primarily to a world without climate policies, which is reasonably accurate for virtually the entire globe today. The results show rapidly rising accumulation of CO2, temperature changes, and damages. Moreover, when the major parametric uncertainties are included, there is virtually no change that the rise in temperature will be less than the target 2 °C without climate change policies“ (20). 132Die nihilistische Ethik des Kapitalismus hat Alain Badiou unter dem Titel L’éthique. Essai sur la conscience du mal, Paris: Édition Hatier 1992, beschrieben. Zur imperialistischen, monopolistischen Substanz des Kapitalismus empfiehlt sich das mittlerweile zum Standardwerk avancierte Buch von Michael Hardt und Antonio Negri: Empire, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 2000. Hardt und Negri beschreiben eine Weltlage, in der global operierende Konzerne nationale Interessen hinter sich gelassen haben. Feinde des Staates sind zugleich Feinde der Konzerne – „Terroristen“, die eine Wirtschaftsordnung bedrohen, denen die Demokratie nur noch zur Bemäntelung von wirtschaftlichen Aktivitäten dient, der Wille des Volkes hingegen als entbehrlich gilt.

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4  Liberalismus für alle: Ökonomische Werte als Heilsversprechen

Die Vernichtung unseres Lebensraums durch den Liberalismus ist gewiss nicht durch Arbeitsplatzgarantien aufzuwiegen. Spätere Generationen werden für den Überfluss an Gütern, den wir heute genießen, mit einem Mangel an Lebensqualität zu bezahlen haben. Die Schäden an Umwelt und Gesundheit, die durch die industrielle Produktion und die Verbrennung fossiler Brennstoffe anfallen, haben Konzerne allzu lange auf die Allgemeinheit abgewälzt. Wasser, Luft, Wälder und Tiere gelten ihnen als frei verfügbare Rohstoffe im betriebswirtschaftlichen Kalkül. Ist unser Lebensraum erst zerstört, sind Wohlstand und Freiheit überflüssig. Bis dahin werden sich Wohlhabende von Schäden freikaufen können, Arme hingegen die Leidtragenden sein. Ein Ausweg aus dem ethischen Dilemma ist bislang nicht in Sicht. Zum Konsum gezwungen, haben wir täglich an der „biologische[n] Vernichtung“ teil, die uns der Liberalismus mit seiner Freiheits-Rhetorik schmackhaft gemacht hat.133 Denn die weltweite Wirtschaftsordnung ist fest im sozialen System verankert. Wollen wir uns nicht selbst schaden, sind wir gezwungen, permanent zwischen Produkten, aber auch zwischen jenen Agenten des Kapitalismus zu wählen, in denen wir Interessenvertreter des Volkes sehen wollen. Was aus ökonomischer Sicht als rational erscheinen mag – Steigerung, Fortschritt oder Konkurrenz –, ist aus langfristiger, ganzheitlicher Perspektive zutiefst unethisch.134 Die Ambivalenz des Wertbegriffs als individuelle Präferenz einerseits und als Ziel ökonomischen Wirtschaftens andererseits, zeigt die Kehrseite der ethisch-ökonomischen Verflechtung. Die Praxis des Liberalismus führt in gleichem Maß zur „Ausbeutung materieller Rohstoffe“, wie sie zur „Entleerung moralischer Selbstbestimmung“ beiträgt.135 Im Wertbegriff der Konsumgesellschaft kehren „Werte“ daher wieder an ihren semantischen Ursprungsort in der Ökonomie zurück, allerdings in pervertierter Form. Seine Ambivalenz entblößt den amoralischen Kern der Wertepolemik. Was als wünschenswert dargestellt wird, ist nichts weiter als ein Versprechen, das nicht einzulösen ist, eine Vergangenheit, die nie existierte, und eine Zukunft, die lediglich von Hoffnung getragen wird. Das Scheitern des Liberalismus zeigt die ideologische Essenz des Wertbegriffs und entzieht ihm das von Smith einst zugedachte ethische Fundament. Mehr als die Abschöpfung von Gewinnen, die Mehrung von Wohlstand oder die Hebung des Lebensstandards

133„The resulting biological annihilation obviously will […] have serious ecological, economic, and social consequences. Humanity will pay a very high price for the decimation of the only assemblage of life that we know of in the universe“, Gerardo Ceballos u. a.: „Biological Annihilation via the Ongoing Sixth Mass Extinction Signaled by Vertebrate Population Losses and Declines“, in: Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America (PNAS), 114.30 (July 2017), http://www.pnas.org/content/114/30/E6089 (3. Dezember 2018). 134„Reducing the world to a single commensurable value, which allows all ‚costs‘ and ‚benefits‘ to be added up, produces decisions that are non-ethical“, Michael Carolan: Cheaponomics. The High Cost of Low Prices, London und New York: Routledge 2014. 135Deneen: Why Liberalism Failed, 41.

Vom Ende des Liberalismus

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bezieht sich der liberale Wertbegriff auf sein Gegenteil: Schulden, die nicht mehr rückzuzahlen sind, und Schuld, die nicht mehr getilgt werden kann. Wenn zwischen individueller Wertschätzung und kommerzieller Wertschöpfung kein Unterschied mehr auszumachen ist, dann sind Werte lediglich das Echo einer Ideologie, die sich am eigenen Scheitern berauscht.

5

Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion

Ritus Religion benötigt Riten, um dem Verhältnis von Diesseits und Jenseits eine verbindliche Form zu geben. In Riten wird beglaubigt, was nicht gewusst werden kann. Sie besiegeln einen Pakt zwischen Göttern und Menschen und sind der Vertrag, der uns vorschreibt, wie wir uns höheren Mächten zu nähern, mit ihnen zu kommunizieren haben. Als „Mittel der Kommunikation mit Geistern und ihrer Beeinflussung“ helfen sie, dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben.1 Riten sind das Medium, durch das wir uns den Göttern mitteilen oder durch das ihre Anwesenheit bestätigt wird. Zu den kulturellen Praktiken, die auf ein religiöses Regelwerk zurückgehen, zählen auch diejenigen der Ökonomie, die seit Menschengedenken eng an religiöse Zwecke gebunden waren: der Tausch, das Opfer, die Gabe, der Handel, das Pfand, das Darlehen und der Zins stehen im Verbund mit religiösen Praktiken. Ökonomisches Handeln diente wiederum lange Zeit nicht nur zum Austausch von Gütern, sondern dazu, mit den Göttern in Kontakt zu treten. Die Zirkulation von Gütern stiftet zugleich Beziehungen zwischen Menschen, auch wenn sie auf einen höheren Grund verweist, der über den profanen Gebrauchswert oder den Statuswert eines Objekts hinausgeht. Der Wunsch, in einer Ware mehr zu sehen, als die Höhe der in sie investierten Produktionskosten oder den für ihren Erwerb erforderlichen Betrag an Geld, ist tief in uns verankert. Erbaten wir von den Göttern einst gute Ernten, Gesundheit, Nachwuchs oder ein langes Leben, indem wir ihnen Opfer darbrachten, empfangen wir heute gegen das Opfer des Geldes eine „Gabe“, in der die Erinnerung daran mitschwingt, die Götter zu unseren Gunsten beeinflussen zu können. Der Wert einer Ware, wusste schon Marx, geht deshalb über den Gebrauchs- und Tauschwert hinaus.

1Reinhold

Glei u. a.: Art. „Ritus“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1052–1060,

hier 1053. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_5

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5  Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion

In ihm sieht Marx, wie im letzten Kapitel erwähnt, eine „gesellschaftliche Hieroglyphe“.2 Ihr „Fetischcharakter“3 sichert unser Verhältnis zu „höheren“ Mächten, mit denen wir in Kontakt zu stehen glauben, und sie sichert uns unseren gesellschaftlichen Rang. Der Anfang religiösen Denkens dürfte auf die Erfahrung des Todes zurückgehen. Seine Unausweichlichkeit und Unumkehrbarkeit verlangen nach Erklärung. Anverwandte und Freunde, Lebewesen aller Art sterben zu sehen, weckt elementare Ängste. Alle Ängste gehen letztlich auf die Erfahrung des Todes zurück. Um sie zu bannen, bedienen sich Menschen seit jeher mehrerer Annahmen, die das an sich Unverständliche als plausibel erscheinen lassen. Eine dieser Annahmen besteht darin, die Welt für gespalten zu erachten. Wer im Diesseits stirbt, lebt im Jenseits weiter, wenn auch unsichtbar und nicht direkt zugänglich. Die Ahnen, die als Geister der jenseitigen, sakralen Sphäre zugehören, erhielten in vielen Kulturen daher Grabbeigaben, symbolische Begleiter, die unsere verstorbenen Angehörigen an das Hier-und-Jetzt erinnern sollen, in Wahrheit aber der Bezeugung unseres Glaubens dienen. Zur Beglaubigung schufen wir Repräsentationen des Todes und entwickelten animistische Vorstellungen von einer belebten Natur oder der Wiederkehr unserer Ahnen. Auf diese Weise ließ sich der Kontakt mit dem Jenseits sicherstellen. Diesen Kontakt einzugehen, bedeutet ein unwägbares Risiko für das eigene Leben, denn die Berührung mit dem Jenseits, so der Glaube, könne tödlich sein. Nur wenigen Personen ist daher der Umgang mit den Dingen vorbehalten, die den Zugang zum Jenseits ermöglichen – Personen, die für uns als Medien einstehen.4 Nur diese Auserwählten können uns glaubhaft versichern, dass es ein Weiterleben nach dem Tod, dass es Errettung und Erlösung gäbe. Handlungen in der diesseitigen Welt blieben daher stets auf die jenseitige, von Geistern und Göttern bevölkerte, bezogen. Das heißt, dass auch Dinge, wie nicht anders Personen und Handlungen, über ihre bloßen Erscheinungen hinausgehen und stets auch von repräsentativem, symbolischem Charakter sind. Der Übergang von der hiesigen in die dortige Sphäre – etwa im Opfer oder der Weihgabe – bekräftigt den Doppelcharakter der Dinge, von denen die Menschen umgeben sind. Prinzipiell kann alles geopfert werden. Die Überführung wird im Ritus feierlich begangen, denn er macht das Übersinnliche den Sinnen zugänglich. Obwohl die Welt der Götter und Ahnen unsichtbar ist, sind die Handlungen der am Ritus Beteiligten eine erfahrbare Realität. Je aufwendiger die Riten, desto unumstößlicher die religiösen Lehrsätze, auf denen sie beruhen. Im Ritus besitzen die Dinge, die in ihm verwendet werden, „Kraft“ oder „Macht“, die auf einen Vorfahren oder, wie später in den monotheistischen Religionen, auf eine Art „heiligen Geist“ schließen lassen, der

2Marx:

Das Kapital, in: MEW 23, 88. 85. 4Die moderne Wissenschaft vom Altern kommt den Geheimnissen des Todes allmählich auf die Spur und betrachtet ihn unter rein naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, etwa als Verdünnung von Zellwänden, Verlangsamung von Reproduktionszyklen oder Mangel an Enzymen und Botenstoffen. 3Ebd.,

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sich seiner Umgebung mitteilt und auf sie wirkt. Die Teilnahme an Riten verlangt, den Eintritt in die sakrale Sphäre nicht nur durch eine Änderung der inneren Einstellung zu besiegeln, sondern auch äußerlich hervorzuheben: Kleidung, Speisen, Sprache und soziales Verhalten sind allesamt von ihm betroffen. Göttlichkeit wird demzufolge als Konzentration spezieller und mitunter sogar als Summe aller „Kräfte“ gedacht, die zwar in der Nähe wirken, aber aus der Ferne – dem Diesseits nämlich – stammen. Götter und Ahnen bleiben auf Distanz, so sehr sie auch auf das Hier-und-Jetzt Einfluss nehmen. Aus diesem Grund dient Religion zur Erklärung des an sich Unerklärlichen. Sie hütet das Geheimnis des Todes, indem sie ihn in Praktiken und Ideen auflöst, ohne sein Mysterium preiszugeben. Die „Offenbarung“ der Religionen ist eine, die geglaubt werden muss, denn dem Verstehen ist sie nicht zugänglich. In den Göttern ist der Tod überwunden; der Tod wiederum deutet auf Göttliches, denn er eröffnet den Zugang zum stets ­Verschlossenen, zum Geheimnis, zum Absoluten. Die Erfahrung des Absoluten, die der Religion oft zugesprochen wird, gibt eine Ahnung von dem, was im Jenseits zu erwarten ist. Wer des Absoluten schon im Diesseits ansichtig wird, muss sich vor dem Jenseits nicht mehr fürchten. Entsprechend ist im Mythos, der die Religionen bis heute begleitet, häufig von der Überwindung des Todes durch einen Gott, von Auferstehung und Aufnahme in ein höheres Reich, einem Himmel oder einem Olymp zu lesen.5 Alle Mythen stellen zugleich dar und verschleiern. Die in ihnen verwendeten Worte und Begriffe stehen gewissermaßen für sich selbst, sind Symbole ohne Symbolisiertes. Sie erschließen sich, wie Religion überhaupt, nicht dem Verstand, sondern allein den Sinnen. Riten beruhen auf Mythen wie umgekehrt Mythen Riten benötigen. Sie bedingen sich, wie Geo Widengren hervorgehoben hat, gegenseitig und sind nicht voneinander zu trennen.6 Gabe und Opfer dienen dazu, die Schuld gegenüber den Göttern und Ahnen wenigstens teilweise – jedoch nie vollständig – zu begleichen. Marcel Mauss beschrieb das Opfer bereits 1899 gemeinsam mit Henri Hubert als einen religiösen Akt, „der durch die Heiligung eines zerstörten Objekts den Zustand der moralischen Person, die es vollzieht, oder bestimmter sie betreffender Objekte verändert“.7 Das Opfer verändert den Zustand des Opfernden, indem es die Götter gewogen macht, Schuld behebt, indem es etwas zurückerstattet, durch die Rückerstattung indes

5Wie sich der Himmel für den christlichen Gott öffnete, nachdem er sich willentlich den Händen seiner Gegner überlassen hatte, so der Olymp für Herkules, nachdem er sich auf dem Berg Oite selbst geopfert hat. Ähnlich erging es Eschmoun, einen phönizischen Heilgott, der nur durch Selbstverstümmelung dem Werben der Göttin Astarte entkam, oder Attis, dem phrygischen Sohn der Flussnymphe Nana, der an seiner Entmannung starb, sowie Erigone, der Tochter des Ikarios, die sich nach dem Tod ihres den Weinbau verbreitenden Vaters erhängt hatte. Ihnen allen war die Angst vor dem Tod nicht bekannt. 6Geo Widengren: Religionsphänomenologie, Berlin: de Gruyter 1969 [schwed. erstmals 1945], 209–212. 7Marcel Mauss: „Essay über die Natur und Funktion des Opfers“, in: Schriften zur Religionssoziologie, hg. und eingeleitet von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilluod, Berlin: Suhrkamp 2012, 91–216, hier 110 (kursiv im Original).

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5  Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion

Erwartungen bekräftigt, die das zukünftige Wohl des Opfernden betreffen. Objekte, die den Göttern geopfert werden, gelangen dabei vom profanen in den sakralen Bereich, werden zu Zeichen des Gottes, dem sie gelten und den sie meist symbolisieren (so stehen beispielsweise Vieh und Ernteerträge für Götter der Fruchtbarkeit, des Wohlstands und Reichtums).8 Unter Umständen nehmen sie deren Platz ein, wenn sich das Opfer während des Rituals selbst in einen Gott verwandelt. Die christliche Tradition kennt eine solche Verwandlung aus dem Abendmahl. Die Transsubstantiation, die Verwandlung des Brotes in den Leib Christi, symbolisiert zum einen die Beseelung der Opfergabe wie auch in umgekehrter Richtung die Verschiebung des Menschenopfers auf die Feldfrucht. Zur gleichen Zeit geht die Person, die ein Objekt opfert, in die geopferte Sache ein: „Sie kauft ihn los“, wie Mauss treffend befand.9 Statt des Opfernden nimmt der Gott die Sache zu sich, durch die Annahme des Opfers berührt er den, nach dem Glauben der am Ritus Beteiligten, profanen Bereich, ohne den sakralen gänzlich zu verlassen zu haben. Ist das Opfer eine Form des Verzichts, die wir dem Gott schulden, so geschieht dieser Verzicht nie ohne Eigennutz. Der Opfernde schützt sein Leben etwa vor Rache oder bösem Willen und erhofft sich die Neigung des Adressaten: „Im Grunde gibt es vielleicht kein Opfer, das nicht etwas Vertragliches beinhaltet. Die beiden anwesenden Parteien tauschen ihre Dienste aus, und jede kommt dabei auf ihre Kosten. Denn auch die Götter brauchen die Profanen. […] Damit das Sakrale fortbesteht, muß man ihm seinen Anteil zuerkennen, und dieser wird dem Anteil des Profanen entnommen.“10 Den vertraglich bindenden Tausch erachtet Mauss für alle Arten von menschlicher Gemeinschaft als prägend und erkennt in der verpflichtenden, im Ritus beglaubigten Vereinbarung den gemeinsamen Grund für soziale Handlungen. In der vielleicht bekanntesten seiner Studien, die unter dem Titel Die Gabe ein Vierteljahrhundert nach seiner wegweisenden Abhandlung über das Opfer 1923/1924 in L’Année Sociologique erschienen war, hat Mauss zunehmend den ökonomischen, das aber heißt den ethisch-sozialen Aspekt von Religionen und Riten hervorgehoben: „Eine der ersten Gruppen von Wesen, mit denen die Menschen Verträge schließen mußten und die der Definition nach dazu da waren, mit ihnen Verträge zu schließen, waren die Geister der Toten und die Götter. Diese sind in der Tat die wahren Eigentümer der Dinge und Güter der Welt.“11 Den Dichtern des 18. Jahrhunderts, die sich dem Geniegedanken verpflichtet sahen, stand dieser Zusammenhang klar vor Augen. Als Schöpfer konkurrierten sie mit den Göttern um Aufmerksamkeit, doch im Unterschied zu diesen meinten

8Widengren:

Religionsphänomenologie, 216–222, unterscheidet zwischen apotropäischen und ­eliminatorischen sowie Geburts- und Initiationsriten. 9Mauss: „Essay über die Natur und Funktion des Opfers“, 212 (kursiv im Original). 10Ebd., 214. 11Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Nachwort von E. E. Evans-Pritchard, Anhang von Henning Ritter, 9. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 2011, 43.

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sie, sich ihren Anteil vorab „verdienen“ zu können. Ihnen kam der „Lohn“ zu, der den „Verdienten“ gebührt, weil sie durch die Gabe des Gedichts die Menschen beschenkten, während die Götter lediglich Empfänger von Gaben seien. Waren Gaben dazu da, meist passive Götter umzustimmen oder für konkrete Absichten zu gewinnen, schüfen Dichter ihre phantastische Welt aus eigenem Antrieb. In der Prometheus-Hymne Goethes (1785, entstanden 1773) erscheint die Gabe daher als profane „Steuer“ an die Götter, über die sich der menschliche Geist erhebt. Der sakrale Aspekt des Opferns verschiebt sich hier auf den Menschen, wenn das Geben und nicht mehr die Entgegennahme des Opfers als entscheidendes Kriterium erscheint. Der ökonomische Ursprung der Opfergabe wird gleichzeitig profaniert, obwohl die Erinnerung an seine „höhere“ Aufgabe wach bleibt. In gleichem Maß wie sich Literatur für die Dichter des Genie-Zeitalters wieder in eine religiöse Angelegenheit verwandelt – denn die gehobene Sprache der Poesie war immer schon Bestandteil religiöser Praktiken –, sind traditionelle Formen der Religion „hoffnungsvolle[n] Toren“ vorbehalten, die, „Kinder[n] und Bettler[n]“ ähnlich, zur Leichtgläubigkeit neigen oder am Rande der Verzweiflung stehen: Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonn als euch Götter. Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät Und darbtet wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren.12

Damit kehrt die Poesie wieder zu ihren Anfängen zurück. Obwohl nicht mehr der Lobpreisung Gottes vorbehalten, der das ritualisierte „Gespräch“ in Liedform einst zugedacht war, galten die dem Ritus vorbehaltenen und von Priestern oder auch der gesamten Gemeinde gesprochenen Worte der Kommunikation mit höheren Mächten.13 Gedicht und Gebet haben einen gemeinsamen Ursprung. Gerade die älteren Formen des Gebets sind ihrer poetischen Natur nach „Hymnen und Klagelieder (des einzelnen und des Volkes), außerdem Danklieder“, Psalmen und andere lyrische Redeweisen, die sich von der Alltagssprache abheben.14 Der Ursprung des

12Johann

Wolfgang Goethe: „Prometheus“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände [Frankfurter Ausgabe], hg. von Dieter Borchmeyer u. a., Frankfurt a. M: Deutscher Klassiker Verlag 1985–2013, I. Abteilung, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte 1756–1799, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a. M: Deutscher Klassiker Verlag 1987, 203 f., hier 203. 13Nach Gregory D. Alles u. a.: Art. „Gebet“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 483–507, hier 483, ist das Gebet der Kommunikation vorbehalten, wobei der Mensch spricht und Antwort durch die „Divination“ eines „religiösen Objekts (z. B. eines Gottes) oder den Willen eines solchen Objekts oder den Zustand des Weltalls“ erhält. 14Ebd., 486.

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5  Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion

Gedichts ist aus der Hochsprache des gesungenen Gebets zu erklären, die im Ritus zur Anwendung kam und einen praktischen Zweck erfüllte. Denn nur durch eine von der Alltagssprache unterschiedene Ausdrucksweise konnten sich Menschen den Göttern nähern, ohne fürchten zu müssen, ihren Missmut oder gar Zorn zu erregen.15 Darum sind Gesang und Gedicht Bestandteile von Riten, wie sie heute lediglich noch in kirchlichen Ritualen oder aber in den Zeremonien des literarischen Marktes – z. B. in Dichterlesungen – vorkommen. Wie dem Ritus liegt dem Gebet also viel an der Form. Erst durch die Form erhält es seinen Wert, der darin besteht, durch die „Gabe“ des besonderen, herausragenden Wortes die Götter zu beschwichtigen und ein Opfer darzubringen, um sich Schutz und Nahrung, Erleichterung und Verbesserung zu erbeten.16 Religion kommt nicht ohne ökonomische Erwägungen, Ökonomie nie ohne religiöse Glaubenssätze aus. Beide sind Erscheinungsformen sozialen Handelns, das sich aus Grundsätzen und Regeln für den gemeinschaftlichen Umgang ableitet; beide bedürfen des Ritus, der auf ihre einst selbstverständliche Verbindung hinweist. In den moralischen Vorstellungen der Gegenwart finden daher sowohl Religion als auch Ökonomie ihren Niederschlag: „Ein großer Teil unserer Moral und unseres Lebens schlechthin steht noch immer in jener Atmosphäre der Verpflichtung und Freiheit zur Gabe. […] Die Dinge haben neben ihrem materiellen auch einen Gefühlswert. Unsere Moral ist nicht ausschließlich eine kommerzielle. […] Die nicht erwiderte Gabe erniedrigt auch heute noch denjenigen, der sie angenommen hat […]. Gleich der ‚Höflichkeit‘ muß auch eine Einladung erwidert werden. […] Auch heute noch haben die verkauften Sachen eine Seele, werden von ihrem ehemaligen Besitzer verfolgt und verfolgen ihn.“17 Für Mauss gewinnen die nun häufig verblassten religiösen Ursprünge des ökonomischen Denkens und der moralischen Verfeinerung durch die Methode des Analogieschlusses wieder an Aktualität. Alte und fremde Bräuche sind für ihn der Inbegriff eines sozialen Gefüges, das in abstrakter Weise im Zeitalter der Moderne wiederkehrt – in „imaginierte Gemeinschaften“,18 in denen eine gegenseitige Abhängigkeit von Produktion und Konsum besteht. In geografisch und historisch fernen Kulturen sah Mauss einen Spiegel der eigenen. Der Kulturvergleich diente ihm zur Interpretation der westlichen, europäischen Gegenwart. Opfer und Gaben betrachtet Mauss unter dem Gesichtspunkt des Sozialen. Denn der Bezug zu den Göttern, der durch sie geschaffen wird,

15Den Ursprung des Gedichts aus dem Geist der Religion erörtert Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München: Hanser 2012. 16Im säkularen Staat erinnert der rituelle Vortrag der einer Nation zur Identität dienenden Nationalhymne an das religiöse Gebet – auch hier bilden Melodie und Gesang von der Alltagssprache abgehobene Formen der Kommunikation. 17Mauss: Die Gabe, 157 f. 18Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revidierte Ausgabe, New York und London: Verso 2006 [1983].

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bestimmt das Verhältnis der am Ritus Beteiligten untereinander. Richten sich Gaben und Opfer an Götter und Ahnen, so vollziehen sich Riten immer zugleich mit Blick auf die Gemeinschaft. Wert und Form der Dinge, die dargebracht werden, wirken unmittelbar auf das soziale Beziehungsgeflecht. So verleihen die Opfernden „sich und den Dingen, die ihnen am Herzen liegen“, Kraft und „ihren Wünschen, ihren Schwüren, ihren Heiraten eine soziale Autorität. Sie umgeben die Felder, die sie bestellen, die Häuser, die sie gebaut haben, gleichsam mit einem schützenden Kreis an Heiligkeit“.19 Die geopferten Sachen stellen, „ein gestörtes Gleichgewicht“ wieder her: „Durch die Sühne kaufen sie sich los von dem sozialen Fluch, der Folge des Vergehens, und kehren in die Gemeinschaft zurück; durch das, was sie den Dingen entnehmen, deren Gebrauch die Gesellschaft sich vorbehalten hat, erwerben sie das Recht, sie zu genießen.“20 Den sogenannten Potlatch führt Mauss als Beispiel für die Vermengung von Religion und Ökonomie an. Das unter nordamerikanischen Völkern verbreitete Zeremoniell, bei dem Güter in einer Art Wettbewerb des Gebens ihren Besitzer wechseln, beruht auf einem Konzept der Ehre. Durch Gaben Ehre zu erwerben und bereits erhaltenes Ansehen zu bestätigen, ist das Ziel des Zeremoniells. Neben rituellen Unterschieden ist allen Formen des Potlatchs gleich, dass eine Pflicht des Nehmens und eine des Gebens besteht. Niemand kann Gaben ablehnen, wer sie aber annimmt, ist zur Erwiderung gezwungen. Verfehlungen führen zum Gesichtsverlust, der sich auf das spirituelle Wohl aller auswirkt.21 Dabei ist es einerlei, ob die austauschenden Parteien den Glauben an eine Gottheit teilen. Im Bewusstsein der totemistischen Natur der Objekte fiele die Verletzung des „Vertrags“ auf den Verfehlenden zurück, ohne von der jeweils anderen Partei ausdrücklich sanktioniert werden zu müssen. Man „weiß“ um die Macht der Götter, „kennt“ die Konsequenzen. So sichert die soziale Verbundenheit das religiöse Heil, während die ökonomische Unternehmung des Gebens eine Zirkulation der Güter in Gang setzt, von der dieses Heil abhängt. Wer gibt, dem wird gegeben, wenn nicht unmittelbar, so doch im Lauf der Zeit und auf anderen Wegen: „Der Umlauf von Gütern folgt dem von Menschen, Frauen und Kindern, von Festen, Riten, Zeremonien und Tänzen, ja sogar von Scherzen und Schmähungen. Im Grunde ist er ein und derselbe. Wenn man die Dinge gibt und zurückgibt, so eben deshalb, weil man sich ‚Ehrfurchtsbezeigungen‘ und ‚Höflichkeiten‘ erweist und sie erwidert. Aber außerdem gibt man beim Geben sich selbst, und zwar darum, weil man sich selbst – sich und seine Besitztümer – den anderen ‚schuldet‘.“22 Schulden, unterstreicht Mauss, sind zuallererst soziale Verbindlichkeiten, die Menschen gegenüber Göttern und Ahnen zu tilgen haben. Opfer, Gabe und Gut stehen für die persönlichen Beziehungen von Gebenden und Nehmenden, Sache und Geist. Erst zu

19Mauss:

Essay über die Natur und Funktion des Opfers, 215. 215 f. 21Entsprechend symbolisiert bei vielen nordamerikanischen Völkern die Maske zugleich das Individuum und die Gemeinschaft, die Seele des Einzelnen und die der Allgemeinheit. 22Mauss: Die Gabe, 118. 20Ebd.,

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einem späteren historischen Zeitpunkt erfolgte die Trennung von moralischem und ökonomischem Bereich, um die Zirkulation der Güter ohne Gefahr für das Heil der Personen und der Gemeinschaft zu ermöglichen. Der Begriff der Ökonomie geht also auf das Konzept der Schuld zurück, dem Urvertrag wirtschaftlichen Handelns: „Die ökonomische Entwicklung hat nicht vom Tausch zum Verkauf geführt und dieser nicht von der Barzahlung zum Kredit. Vielmehr haben sich einerseits der Tauschhandel – vereinfacht durch die Zusammenziehung ehemals auseinanderliegender Zeitabschnitte – und andererseits der Kauf und Verkauf (letzterer als Bar- und Kreditverkauf) sowie auch das Darlehen aus dem System der Gaben und Gegengaben entwickelt.“23 Die Wertvorstellungen der Religion, die wir gemeinhin mit dem Begriff der „Moral“ in Verbindung bringen, sind aufs Engste mit ökonomischen Handlungsweisen verknüpft. Die Ambivalenz von Werten geht auf den Kodex im Umgang mit den Göttern zurück – dem Ritus als Form der Verständigung und des Vertrags als sozialem Vorschriftenkatalog und ökonomischem Abkommen – zurück.

Glaube auf Pump Orientierte sich das Urteil Ludwig Feuerbachs in Das Wesen des Christentums (1841) am Idealismus Hegels, war Religionskritik im 19. Jahrhundert an der Religion bald nicht mehr von der Kritik an ihren materiellen Voraussetzungen zu trennen. Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum (1845) – eine Brandschrift

23Ebd.,

84. Marcel Mauss gab mit seinem Ansatz der strukturellen Anthropologie der gerade entstandenen Soziologie eine philosophische Grundlage, weil sie den Kulturvergleich förderte und allgemeine Aussagen aus detaillierten Beobachtungen ableitete. Der Philosophie eröffnete er wiederum eine anthropologische Perspektive. Verwandtschaft besteht zu Ernst Bloch, Ernst Cassirer oder Hans Jonas, Einflüsse lassen sich für den französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus von Claude Lévi-Strauss und Georges Bataille über Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean Baudrillard bis zu Jean-Joseph Goux nachweisen. Mauss wiederum konnte sich auf eine große Zahl an Schriften zum gemeinsamen Ursprung von Religion und Ökonomie stützen, die er bündelte und auf die Gegenwart bezog. Seit Mitte des 19. Jahrhundert hatten etwa sprachgeschichtliche Untersuchungen, wie diejenigen von Jakob und Wilhelm Grimm, Verbindungen auf etymologischer Ebene freigelegt, die an einem Zusammenhang von Religion und Ökonomie keinen Zweifel ließen. Studien in der Folge der Hegel-Rezeption – hier wäre Ludwig Feuerbach zu nennen – zogen zunehmend ökonomische Aspekte in Betracht, wenn sie sich der Religion widmeten, und religiöse, wenn sie die Ökonomie in den Mittelpunkt stellten. Der Verbindung von Ökonomie und Glauben widmeten sich schließlich die ersten Soziologien, indem sie der Religion und ihren Metamorphosen in modernen Gesellschaften große Beachtung schenkten: Georg Simmels Philosophie des Geldes, Max Webers Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus oder Émile Durkheims Die elementaren Formen des religiösen Lebens sind Beispiele für den Übergang von einer historischen zu einer strukturalen Herangehensweise, die ausleuchtet, was Richard T. Gray als „the economic unconscious“ bezeichnet hat, Gray: Money Matters, 7.

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des anarchistischen Nihilismus – wies schon im Titel in diese Richtung. Marx bezeichnete in seiner Einleitung zur „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ 1844 das „religiöse Elend“ als „Ausdruck des wirklichen Elendes“: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“24 Im 19. Jahrhundert fassten Philosophen Religion und Ökonomie zunehmend als miteinander konkurrierende Bereiche auf. „Geistige“ Werte bezogen seither ihr argumentatives Gewicht aus ihrem Gegensatz zu materiellen Gütern. Wer sich von nun an auf Werte berief, forderte zum Widerstand gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche auf. Was die Religion aufgrund der fundamentalen Kritik, die Philosophen an ihr übten, nicht mehr bereitstellen konnte, ging seinerseits auf den Wertbegriff über. Religiöse Vorstellungen lebten zu einem gewissen Grad in der Wertphilosophie fort, die frei von Glaubensdogmen aufzutreten vorgab. Die religiöse Überhöhung der Kultur in den Werken Windelbands und Rickerts wie nicht weniger die Rechtfertigung des Heiligen in der auf Erfüllung und Erlösung angelegten Ethik Schelers stellt die Idee der Werte als Alternative zum Materialismus dar. Ihres eigenen religiösen Ursprungs ungeachtet, beruht die Wertphilosophie indes nicht nur auf den Vorgaben der Ökonomie, sondern trat in mancher Hinsicht an die Stelle der Religion selbst. Wie die Philosophen des Wertbegriffs um die Jahrhundertwende behaupteten Ökonomen, mit einem objektiven Konzept von Werten zu arbeiten. Wirtschaftliche Vernunft würde das Geschäftsleben bestimmen. Eine daraus abgeleitete ökonomische Wertidee schließt ein Bekenntnis zur Irreligiosität und zur Ferne von jeder Ideologie ein. Im Preis und in der Zahl wahrt eine solche Idee die Aura des Neutralen und Unanfechtbaren. Dass sich hinter der Quantifizierung indes nicht minder ideologische Auffassungen verbergen, ist Teil einer Strategie der Verteidigung von Macht und Einfluss. Denn mit der Fragwürdigkeit von Religion sahen sich die Herrschenden im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend mit Fragen ihrer eigenen Legitimation konfrontiert. Zwar berief sich Wilhelm II. noch auf das Gottesgnadentum als Legitimationsbasis für seine Herrschaft, doch hing das Wohlergehen der Gesellschaft zunehmend von einem Markt ab, der Reichtum belohnte und Ungleichheit zementierte. Die ethischen Werte des Marktes wie „Sicherheit“ und „Wohlstand“ wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den sich organisierenden Arbeitern als ein Versprechen entlarvt, das dazu diente, Besitzenden Gewinne zu garantieren, die jedoch die Mehrheit der Bevölkerung in abhängige, unsichere, sozial und existenziell bedrohliche Lebensverhältnisse drängte. Marktideologen stellten den Ärmsten ein besseres Leben in Aussicht, auf das die meisten von ihnen vergeblich warteten. Die Polemik der Besitzenden beruhte darauf, dass sie an die Sehnsüchte und Wünsche derjenigen appellierten, die sie zur Erreichung eigner ökonomischer Ziele benötigten. Ihre Wertvorstellungen charakterisierten sie zugleich als allgemein und verbindlich. Wer nur

24Marx: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: MEW 1, 378–391, hier 378. Max Stirner war übrigens ebenso ein Kritiker Feuerbachs, wie Marx ein Kritiker von Stirner.

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hart genug arbeite und durch unternehmerischen Geist zu Risiken bereit sei, würde am Ende dafür entlohnt, ja reich beschenkt werden. Dass die Chancen zur Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum ungleich verteilt waren, wurde ausgeblendet. Die religiösen Seiten des Wertbegriffs mussten einer auf Logik und Rationalität gegründeten Ökonomie, wie sie Menger, Böhm-Bawerk, von Mises oder Walter Eucken repräsentierten, suspekt erscheinen, und zwar gerade dann, wenn sie den Anschein von wissenschaftlicher Objektivität bewahren wollte. Wie der von Gottlob Frege angeregte logische Empirismus des Wiener Kreises um Carnap, Schlick und Wittgenstein verwarf die Österreichische Schule der Nationalökonomie ebenso wie die Freiburger Schule um Eucken Religion als Metaphysik und schied sie aus dem wissenschaftlichen Denken aus. Hatte das ethnologische und soziologische Interesse an der Ökonomie die religiöse Seite wirtschaftlichen Handelns aufgezeigt, so verlor der ökonomische Wertbegriff durch seinen inflationären Gebrauch schlichtweg an Verbindlichkeit. Ökonomen ignorierten weitgehend, was Soziologen und Historiker herausgefunden hatten. Die Konkurrenz von Religion und Ökonomie, die überall dort zu beobachten ist, wo sich komplexe, über persönliche Bindungen hinausgehende gesellschaftliche Systeme bilden, erklärt sich indes gerade aus ihrer Verwandtschaft. Was als Einheit gedacht und in gemeinsamen Regeln – oder: Riten – zur Anwendung kam, scheint sich seit dem Siegeszug des Kapitalismus im 18. Jahrhundert auszuschließen. Den zweckrationalen Theorien des Marktes zufolge sind käufliche Dinge und Dienstleistungen von einem Anspruch auf Würde und Ansehen geschieden, wie er Menschen zugestanden wird. In Wahrheit leben jedoch in den Dingen die religiösen Vorstellungen fort, unter denen sich die persönlichen Verhältnisse der Menschen formten. Denn in der ökonomischen Praxis spiegelt sich der Umgang von Menschen miteinander wieder, zeigen sich ihre Verhältnisse und Werturteile. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel zeigen: Die Bedingungen etwa, nach denen ein Kredit vergeben und eine Rückzahlung erwartet wird, beruhen auf gegenseitigem Vertrauen und dem „Glauben“ an die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. Die Kreditvergabe verläuft nach bestimmten Ritualen, die einst den Besuch einer Bank und das Gespräch mit dem Geldgeber verlangten, heute hingegen auf informationstechnische Verfahren verschoben wird. Die Überprüfung der Kreditwürdigkeit, des Einkommens, der früheren Unternehmungen, des Konsumverhaltens, ja des Familienstandes oder einer möglichen kriminellen Vergangenheit sollen Indizien liefern, die auf die Wahrscheinlichkeit der Rückzahlung eines Kredits schließen lassen. Sie kommt einer, wenn auch stark verkürzten und heute in Algorithmen überführten Prüfungsphase gleich, wie sie selbst in unseren Tagen noch jeder angehende Mönch und Priester durchlaufen muss, um sich für ein geistliches Amt zu empfehlen. Derartige Rituale rufen die Wesensverwandtschaft von Religion und Ökonomie in Erinnerung. Die christliche Tradition des Abendlandes sieht auf eine Geschichte von Einsprüchen gegen die Anhäufung von Reichtümern zurück. Doch ist besonders die katholische Kirche – die Institution Gottes auf Erden mit ihrem für unfehlbar erklärten Statthalter, dem Papst – nicht frei vom Verdacht, jene Reichtümer angesammelt zu haben, gegen die sich

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ihre Lehre einst wandte. Der Widerstand gegen die Anhäufung materieller Güter prägte den inneren Gegensatz einer geistlichen Institution, die mit ihren eigenen Glaubensvorstellungen – der Absage an das Irdische und die Wahrheit von Gottes Wort – notwendig in Konflikt geraten musste.25 Bettelorden, Almosenwesen und Hospitäler sind ein Beispiel für diesen Widerspruch, denn für die Ärmsten zu sorgen, kostete Geld. Derartige Einrichtungen innerhalb der Kirche widerstrebten dem Prinzip wachsenden Reichtums, obwohl sie sich ihm zugleich verdankten, denn der wirtschaftliche Überschuss der kirchlichen Institution floss nicht nur in den Bau von Kathedralen, sondern kam dem Armenwesen unmittelbar zugute. In den Einrichtungen zur Unterstützung der Darbenden wurde die Erfahrung der Armut – ob gewollt oder ungewollt – geheiligt und als Weg ins ewige Leben gepriesen. Mit der Unterscheidung von Dingen und Personen wird die Trennung von Religion und Moral zur gesellschaftlichen Realität. Der „Vertrag“, den Menschen einst mit Göttern und Ahnen schlossen, zerfällt in einen ethisch-religiösen und einen ökonomischen Teil. Der eine regelt das Verhältnis von Personen untereinander sowie dasjenige von Personen zu göttlichen Instanzen, der andere das Verhältnis von Personen zu Dingen und Dienstleistungen. So bedeutete im ursprünglichen Sinne Erkenntlichkeit den anderen zu „erkennen“, genauer: seiner gesellschaftlichen Stellung nach anzuerkennen und deshalb Ehrerbietigkeit zu zeigen. Die „Kräfte“, die den Dingen innewohnten und auf den Menschen übergingen, sind seither nur noch in vermittelter Form anzutreffen, zunächst in den schriftlich festgesetzten Vereinbarungen zwischen Handelspartnern (zunächst auf Tonscherben und Steintafeln), dann in Form von Geld, das den Bezug zwischen Personen funktionalisierte. Die Vorbehalte geistlicher Repräsentanten gegen die Mechanismen des Marktes nährten sich fortan aus dem Anspruch an moralische Überlegenheit, während sie die eigenen ökonomischen Wurzeln religiösen Denkens oft verleugneten. Das „moralische Defizit“ der Ökonomie ermöglicht jedoch erst den effizienten Austausch von Waren, ohne dass sich die Marktakteure auf ihre religiös inspirierten Handlungen besinnen müssten. Denn Rationalität ist das Credo, nach dem das wirtschaftsliberale Denken dem Markt die Fähigkeit einräumt, für das Wohl der Menschen zu sorgen.26 Das „Spektrum gemeinsamer Grundannahmen“ sieht demnach vor, „dass alle Mitspieler an der Maximierung von Gewinn oder Nutzen interessiert sind; dass sich eine selbstregulative Beziehung zwischen unter-

25Die

Mehrung von Kirchenbesitz fiel in eine Zeit, als sich im Mittelalter ein neuer Totenkult gegenüber den heidnischen Bräuchen durchgesetzt hatte. Wurden bis ins 10. Jahrhundert Goldund Silbermünzen den Toten ins Grab mitgegeben, so erhöhte sich mit der christlichen Missionierung der Umlauf von Zahlungsmitteln und erlaubte die Entstehung einer auf Äquivalenten beruhenden Wirtschaft: „Das Geld begann also zu zirkulieren, weil es den Toten entrissen wurde“, Christina von Braun: Der Preis des Geldes, 113 (mit Hinweis auf Georges Duby: Guerriers et paysans, 1973). 26Vorbild für das rationale Schema der Ökonomie ist der Kritische Rationalismus Karl Poppers, der auf die Wirtschaftstheorien des 20. Jahrhunderts großen Einfluss ausübte.

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schiedlichen Größen, Kräften und Faktoren einstellt; dass sich die Mechanismen des Austauschs proportional zur Verminderung von willkürlichen Eingriffen und Interventionen optimieren; und dass sich der Markt darum als beispielhafter Schauplatz zur Klärung eines anderswo unübersichtlichen und opaken sozialen Verkehrs präsentiert.“27 Die Wirklichkeit hält dem (hier von Hörisch formulierten) Ideal nicht stand. Ökonomen, die wie Kahneman oder Robert J. Shiller dem Feld der Behavioral Economics angehören, haben gezeigt, dass wirtschaftliches Handeln in weiten Teilen von irrationalen Vorstellungen geleitet ist.28 Bereits Marx sprach von der „Magie des Geldes“ und dem „Rätsel des Geldfetischs“ und deutete den irrationalen Zug der Ökonomie an.29 Lag der Nachweis für eine an streitbaren Glaubenssätzen, unhaltbaren Lehrmeinungen und falschen Götzen mit seiner Kritik der politischen Ökonomie in groben Skizzen vor, bestätigten die Finanz- und Wirtschaftskrisen der Neuzeit das Bild von den zutiefst unvernünftigen Voraussetzungen des Marktes: „Prototyp des ökonomisch Handelnden ist vielmehr der irrational Glaubensbereite, der sein Handeln wie seinen Glauben rational zu überhöhen versteht. Die Sphäre der geldgesteuerten Marktwirtschaft ist irrationalitätstolerant, ja irrationalitätsaffin wie die der Religion. In ihr tummeln sich Leute mit überstarken Affekten (ich muss den Konkurrenten schlucken), mit verrückten Ideen (ich bin auserwählt, ein neues Produkt durchzusetzen), mit riesigem Ego (ich verdiene das Tausendfache dessen, was meine Mitmenschen verdienen), voll Risiko- und Opferbereitschaft (für meine Geschäftsidee gehe ich ans Limit, riskiere ich privates Glück), mit großer Sensibilität für die Kraft von Symbolen (meine Yacht muss drei Meter länger sein als die meines Geschäftspartners), mit einem entspannten Verhältnis zu einer sexistischen Ökonomie-Semantik (die Bilanz knickt ein, richtet sich aber wieder auf, wir brauchen eine Finanzspritze, das Unternehmen muss wieder potent werden), mit Kreativitätsphantasmen, geprägt vom Glauben an die erlösende Macht des Geldes und das gerechte Wirken einer unsichtbaren Hand.“30 Wie die Ökonomie ist Religion zugleich irrational wie rational. Irrational ist sie, weil sie ihren Anhängern zumutet, Lehrmeinungen, für bare Münze zu nehmen, was von Legenden und Anekdoten herrührt. Vernünftig ist sie hingegen, indem sie auch das Irrationale – die Fiktion vom ewigen Leben und der Allmacht Gottes, das vom Gefühl geleitete Denken und den mit dem Wissen in Konflikt stehenden Glauben – in ihre Systeme schlüssig einbindet, abbildet und entsprechend sanktioniert. Die Nähe der Religion zur Ökonomie liegt auf der Hand, und wie in

27Jochen

Hörisch: Man muss dran glauben. Die Theologie der Märkte, München: Fink 2013, 18. J. Shiller zeigt in Irrational Exuberance (Princeton: Princeton University Press 2000), dass Märkte den Gesetzen periodisch wiederkehrenden Wahnsinns, Übertreibungen und dem Spieltrieb seiner Teilnehmer unterworfen sind. Daniel Kahneman führt in Thinking, Fast and Slow eine Vielzahl an unbewussten Vorannahmen und Einstellungen an, die Entscheidungen von Marktteilnehmern als irrational ausweisen. 29Marx: Das Kapital, in: MEW 23, 107 f. 30Hörisch: Man muss dran glauben, 54. 28Robert

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der Religion so stehen sich in der ökonomischen Welt Glaubenssätze oft unversöhnlich gegenüber. Hier wie dort werden Hoffnungen und Sehnsüchte gehandelt. Man „spekuliert“ auf die Zukunft und meint, dem unergründlichen Wirken Gottes, das als blindes Fatum über den Menschen hereinbricht, einen Teil seiner Macht abgerungen zu haben.31 Die im Börsenhandel vorwaltende Abstraktion des Geldbegriffs gilt nicht als Beleg für eine geschichtliche Entwicklung von der einfachen, auf Tausch basierenden Wirtschaft zu einer komplexen, auf rationalen Grundlagen bauenden Form der Ökonomie. Im Gegenteil. Der moderne Handel mit Gütern und Wertpapieren hat irrationale Voraussetzungen, die sich kaum von denjenigen unterscheiden, die der Entwicklung ökonomischen Denkens förderlich waren. Abstraktion wäre demnach die weltliche Entsprechung eines religiösen Geistes, von dem bereits die frühen Institutionen des Handels getragen waren. Denn Religion selbst kann als Abstraktionsform von Abläufen gedacht werden, nach denen komplexe Vorstellungen zu einer Idee zusammengefasst und in einer „Erzählung“ vermittelt werden. So erachtete man das Götter- und Geisterreich als Ursprung des Überflusses, der, wie nicht anders in modernen Konsumgesellschaften, die Bedingung des Wirtschaftens bildet. Den Überfluss an Gütern in einen des Geldes zu verwandeln, ist ein Ziel ökonomischen Handelns; den von den Göttern gehüteten Überfluss an Gütern in einen der Menschen zu verwandeln, ist eines der Religion. Ökonomen treiben Handel, Priester missionieren – beide aber spekulieren. Denn um anderen Menschen geben und den Göttern opfern zu können, braucht es „Güter“, die über die Sicherung der eigenen Existenz hinausgehen – Waren auf der einen, Ideen auf der anderen Seite. Überfluss ist die Bedingung für die Entstehung des Marktes, Knappheit nur deren Kehrseite, die der Regulation der Preise dient. Zeichen des Überflusses ist das Geld, das zunächst nicht einfach nur die Funktion eines Äquivalents hatte, wohl aber die der Repräsentation.32 Unter Geld verstand man zunächst kostbare Dinge, gleich welcher Natur, die eine Verbindung zu

31Die

religiösen Elemente des Spekulierens rücken zugunsten seines populären und kommunikativen Aspekts in Urs Stähelis grundlegender Studie in den Hintergrund: „Die Finanzspekulation situiert sich in einem eigentümlichen Spannungsgeflecht von ökonomischer Abstraktion und populärer Spektakularität. Die noch junge ökonomische Kommunikationsweise konnte sich erst im 19. Jahrhundert als legitime ökonomische Kommunikationsform konstituieren. Nötig wurde dazu die Etablierung neuer ökonomischer Selbst- und Fremdbeschreibungen, die nicht mehr ausschließlich auf einer Produktions-, Tausch- und Arbeitssemantik beruhen. Die Besonderheit der Spekulation liegt in der Abstraktion von jenen ‚realen‘ Werten, die zuvor als Garanten der Ökonomizität wirtschaftlicher Operationen gegolten haben“, Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2007, 10 f. 32Ist der Überfluss die historische Voraussetzung der Entstehung von Geld, so ist Knappheit die Grundlage seines Wertes. Wie einst das Geld als Zeichen des Reichtums den Führern eines Volkes vorbehalten war, so gaben die Kaiser des Römischen, des Fränkischen und des Deutschen Reichs Geld an ihre Gefolgsleute aus. Der Staat übernahm schließlich das Geldmonopol und förderte auf diese Weise Knappheit, um den Überfluss zu regulieren und Preise zu bestimmen.

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den Göttern symbolisierten: Gegenstände des magischen, kultischen Gebrauchs, dann auch Zeichen von Ehre und Ansehen, die persönlich gebunden waren: „So wird z. B. das auf Fäden gezogene Muschelgeld in Melanesien noch nach den Körpermaßen des Gebers gemessen.“33 Mauss wies darauf hin, dass die Bindung an Personen über lange Zeit bestehen blieb, etwa wenn die ersten römischen Münzen von „gentes“ geprägt wurden, Familienclans, auf die das ausgegebene Geld anfangs beschränkt blieb, bis es schließlich auch außerhalb des familiären Rahmens zum gängigen Zahlungsmittel wurde. Auch in anderen Kulturen diente Geld ursprünglich vor allem religiösen Zwecken, etwa bei einigen nordamerikanischen Völkern, die Schilden ähnliche Kupferplatten schmiedeten. Diese Platten fanden als kultische Gegenstände ebenso Verehrung wie als Zeichen von Wohlstand und Prosperität.34 Persönlicher Bezug und kultischer Gebrauch fielen zusammen, sobald das Antlitz von Herrschern auf Münzen geprägt wurde. Voraussetzung dafür ist die Apotheose, die Vergöttlichung des Herrschers, denn die Prägung der Münze macht sie zum Eigentum eines „Gottes“, den darauf abgebildeten Herrscher zur höchsten, nicht nur politischen, sondern auch spirituellen Instanz. Das Fälschen von Geld ist daher ein Sakrileg und wurde schon im antiken Griechenland mit dem Tode bestraft. Seit Bernhard Laums grundlegender Studien wissen wir, dass die auf Münzen abgebildeten Symbole ursprünglich auf den Kult verwiesen: Opferwerkzeuge wie das Beil und dargebrachte Gaben wie etwa Tiere, unter denen das Rind wiederum eine herausragende Rolle spielte. Nachweislich seit der homerischen Zeit, aber auch in anderen Kulturen und Epochen, diente das Rind zur Wertbemessung und wurde daher sowohl im profanen Handel als auch im sakralen Kult geschätzt. Noch das lateinische „pecunia“ (= Geld) leitet sich von „pecus“ (= Rind) ab. Der „obolós“, die bekannteste griechische Münze, bedeutete „Opferspieß“.35 Das gemeinsame Opfermahl erachtete Laum folgerichtig als „Keim der öffentlichen Finanzwirtschaft“ und „primitivste Form des öffentlichen Haushaltes“.36 Die Prägestätten der ersten, in die Epoche um 700 v. Chr. fallenden antiken Münzen befanden sich entsprechend in Tempeln. Dort dienten Münzen als Ersatz für das geopferte Tier: „Die griechischen Münzen hatten keinen materiellen Wert. Mit ihnen traten an die Stelle von realen, wertvollen und vergänglichen Gütern, die dem Tempel vermacht wurden, imaginäre, wertlose Dinge, die jedoch als Tauschmittel im Verkehr zwischen Göttern und Menschen die gleiche Geltung hatten.“37

33Mauss:

Die Gabe, 57. andere Art des Geldes waren wohl die schön bemusterten Wolldecken, die sogenannten Chilkat-Decken, die noch heute als Schmuckstücke dienen und von denen einige sehr wertvoll sind“, ebd., 79. 35Bernhard Laum: Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, mit einem Nachwort von Christina von Braun, Berlin: Semele 2006 [erstmals 1924], 129–131. 36Ebd., 62. 37Braun: Der Preis des Geldes, 46. 34„Eine

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Die Hörner des Opfertieres werden heute noch durch Striche symbolisiert, die viele Währungssymbole zieren: $, €, ¥, ₤.38 Was sich in den Opferriten bewährt hatte, musste dem Handel vorteilhaft erscheinen. Geld stellte etwa seit 700 v.Chr. nicht nur die Beziehung zu übernatürlichen Kräften her, sondern schuf Vertrauen im Umgang der Menschen untereinander. Die Münze war sozusagen göttlich beglaubigt, der Glaube aber ist die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Währung: „Die ‚Emission‘ des Geldes und die ‚Mission‘ der Kirche sind nicht nur etymologisch miteinander verwandt. Weil Christen es gewohnt sind, mit der ‚Illusion‘ des Abendmahls zu leben, akzeptieren sie auch die ‚Geldillusion‘“.39 Diese Illusion des Geldes besteht im Glauben daran, dass Geld durch reale Werte gedeckt sei und seine Entsprechung etwa in einer gleichwertigen Menge an Edelmetall habe, die auf Verlangen ausgehändigt werden könne. In Wahrheit ist der Wert des Geldes allein durch eine Autorität verbürgt, die für sich das Recht zur Prägung von Münzen und zur Ausgabe von Scheinen in Anspruch nimmt: „Das alte, schon in vorsokratischer Zeit von Xenophanes von Kolophon und Anaxagoras von Klazemenoi verbreitete aufklärerische Argument, ohne die Glaubensbereitschaft der Gläubigen gäbe es keinen Gott, keine Götter und kein Göttliches, gilt durch Analogieschluss auch für das Geld. Ohne die Bereitschaft, es zu akzeptieren und es zu beglaubigen, hätte Geld keine Geltung. Gott- und Geldvertrauen, Gott- und Geldillusion, Gott- und Geldglaube sind strukturhomolog.“40 Wie die Menschen in einem Staat an den Wert ihres Geldes zu glauben gezwungen sind – und mit diesem Glauben auch Zweifel äußern – so bestimmen sich die Kurse einer Währung aus dem Glauben an die jeweilige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Staaten. Die Geldillusion erklärt sich aus der Geschichte des Geldes und verweist auf das Opfer, das es symbolisiert. Diente das Opfer der Begleichung einer Schuld, so hat das Geld auch heute noch Ähnlichkeit mit dem Pfand, das zur Rückgabe verpflichtet, oder dem Schuldschein, der auf Einlösung pocht. Als abstrakte Einheit zur Messung persönlicher Schuld wird Geld erst dann zum Zahlungsmittel und zum Wertmaßstab, wenn es von einer größeren Menge von Menschen, von „Gläubigern“ und „Schuldnern“ innerhalb einer Gemeinschaft, anerkannt wird. Diese Gemeinschaft gleicht einer religiösen Glaubensgemeinde: „Das Wort ‚Geld‘ leitet sich ab vom germanischen Wort ‚gelt‘, Götteropfer. Es hängt zusammen mit ‚gelten‘, das soviel wie zurückzahlen, zahlen, kosten, wert sein, vergelten, entschädigen, aber auch zerschneiden bedeutet. Also ist Geld ‚die der Gottheit zu entrichtende Abgabe‘“41. Erlöst der Gott, wie im Christentum, durch sein Opfer die Menschheit, symbolisiert er durch seine wortwörtliche Selbstlosigkeit die höchstmögliche Gabe.

38Ebd.,

50. 115. 40Hörisch: Man muss dran glauben, 17. 41Braun: Der Preis des Geldes, 40. Braun verdankt diesen Hinweis Laum: Heiliges Geld, 53. 39Ebd.,

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Das Symbol dieses Opfers wird zum letztgültigen „Beweis“ der Transzendenz. Um den Gott stets aufs Neue zu opfern, vollzieht sich im entsprechenden Ritus – hier der Transsubstantiation – die Verwandlung des Dargestellten ins Darstellende, des Zeichens in den Grund allen Bezeichnens, das heißt in den Gott selbst. Die „Beseelung“ des Mediums fällt in den Bereich der Magie. Schrieb Marx käuflichen Waren eine Kraft zu, die der von Fetischen gleicht, so ist das Geld in kapitalistischen Gesellschaften zum Träger magischer Kräfte geworden. Als Mittler verwandelt Geld alles und jeden, nichts widersteht seiner Macht zur Transzendenz. Im Geld sieht Jochen Hörisch daher, wie im vorigen Kapitel erwähnt, ein „ontosemiologisches Leitmedium“, das, wie das christliche Abendmahl, einen Moment der Verwandlung anzeigt.42 Im Abendmahl vollzieht sich die „Transsubstantiation des Wertlosen ins Wertvollste“: „Die gestempelte Hostie wird vom gestempelten Münzgeld beerbt; beide, die Hostie wie die Münze, ähneln schon in ihrem Design nicht ohne Grund einander; beide müssen von Autoritäten emittiert werden, beide haben zwei Seiten; angesichts beider stellt sich die faustische Frage, ob das Ding heilig sei oder profan. Denn auch Geld stellt funktional Korrelationen zwischen abstrakten Werten und konkreten Gütern, zwischen Sinn und Seiendem her.“43 Der moderne Geldverkehr nimmt die sakralen Formen auf, aus denen er hervorging, und führt sie in profaner Gestalt fort. „Geldverkehr ist nichts anderes als die Veralltäglichung der sonntäglichen Transsubstantiation“, er „inflationiert und profaniert damit selbstredend die Heilige Messe“ und „wandelt die Wandlung in permanentes Geschehen“.44 Die Funktion des Geldes steht daher im Einklang mit dem in vielen Religionen vorherrschenden Prinzip der Trinität: „Als Recheneinheit, [die] über alle Sprach- und Kulturbarrieren hinweg Menschen miteinander in Beziehung setzt, übernimmt Geld die Funktion des Heiligen Geistes; als Wertaufbewahrungsmittel übernimmt es die Funktion des Gottessohnes, an dessen Erdenwandel sich Menschen in der Hoffnung auf zukünftige Erlösung/Erlöse erinnern; und als Tauschmedium entfaltet Geld stets erneut, einer creatio-continua-Theologie entsprechend, seine vatergöttliche Konversionskraft.“45 Auf die Bedeutung des Geldes für die christliche Theologie hatte Marc Shell mehrfach hingewiesen. Die Verwandlung von Geld zu Waren und von Waren zu Geld, die Prägung von Münzen und die Beziehungen, die der Handel schuf, gehören seines Erachtens zu den vorherrschenden Analogien, die im Mittelalter zur Erklärung der Dreieinigkeit herangezogen wurden. Die Hostie wurde „ausdrücklich in Form einer Münze gehalten: Sie wurde zwischen Waffeleisen gepresst und trug Insignien der gleichen Art, wie sie auf Münzen zu finden sind“.46

42Hörisch:

Kopf oder Zahl, 26. 33. 44Hörisch: Man muss dran glauben, 36. 45Ebd., 63. 46Marc Shell: Art and Money, Chicago und London: University of Chicago Press 1995, 15. 43Ebd.,

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Als „insignium“ trugen Hostien oft die Buchstaben IHS, „in hoc signo“ = „durch dieses Zeichen (wirst du siegen)“. Sie verweisen auf Konstantin den Großen, der vor der Schlacht gegen seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke im Jahr 312 der Legende nach die Vision eines Kreuzes hatte und sich zum Christentum bekehrte. Dass die eucharistische Hostie, schreibt Shell, dem Konzept nach einer Münze entsprach, habe viele christliche Denker verstört, die der platonischen Tradition entsprechend Geld als ein Prinzip erachteten, das in Konkurrenz zu Gott stünde. Darin liege der Grund für den von vielen Theologen hervorgehobenen Kontrast zwischen beiden Symbolen. Während das eine mit Gott in Verbindung gebracht wurde, sah man im anderen ein Zeichen des Teufels. So blieb die Assoziation von Geld und Gott permanent im Gedächtnis, indem sie es nach außen projizierte und gleichzeitig das „teuflische“ Geld aus dem Tempel der Seele ausschloss.47 Konversion ist eine der grundlegenden Operationen des Glaubens: Wer konvertiert, bekennt sich zu einer neuen Gemeinschaft der Gläubigen. In der Ökonomie bezeichnet Konversion auf ähnliche Weise den Übergang von einer Währung in eine andere und bestätigt damit den konfessionellen Rahmen jener Gemeinschaft, in der eine Geldsorte Gültigkeit besitzt. Der mehrmals konvertierte Heinrich Heine hatte die Analogie von Religion und Ökonomie schon früh erkannt: „Wie den Gewerben ist auch den Religionen das Monopolsystem schädlich, durch freye Conkurenz bleiben sie kräftig, und sie werden erst dann zu ihrer ursprünglichen Herrlichkeit wieder erblühen, sobald die politische Gleichheit der Gottesdienste, so zu sagen die Gewerbefreyheit der Götter eingeführt wird.“48 Nur in einem anerkannten, begrenzten Rahmen funktionieren solche Konkurrenzverhältnisse, nämlich dann, wenn sich keine Monopole bilden. Wie sich Konzerne gegenseitig Konkurrenz machen, so Gemeinschaften, indem sie sich von anderen abgrenzen. Ihre Exklusivität setzt einen Pluralismus voraus, der auf prinzipielle Ähnlichkeit schließen lässt. Die Doppelbödigkeit von Exklusivität und Universalismus kennzeichnet sowohl religiöse Gemeinschaften, die sich für „auserwählt“ halten und dennoch davon aller Welt kundtun wollen, als auch wirtschaftliche „Gemeinden“, die sich in Verbänden

47„That

the Eucharist wafer is conceptually numismatic disturbed many Christian thinkers who, in a Platonic tradition […], feared money as an architectonic principle competing with God. So goaded, Christian thinkers were often driven to contrast the wafer with coin much as they contrasted God with the devil. Thus they projected their own conflation of God and coin outward from, or out of, Christianity; they expelled the devilish money changer, as it were, from the temple of the soul“, ebd. 48Heinrich Heine: Die Stadt Lukka, in: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse [Säkularausgabe], hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, 27 Bde., Berlin: Akademie-Verlag und Paris: Éditions du CNRS 1970–2009, Bd. 6, Reisebilder II. 1828–1831, hg. von Christa Stöcker, Berlin: Akademie Verlag und Paris: Éditions du CNRS 1986, 183–226, hier 171 f.

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5  Ewige Dividende: Die absoluten Werte der Religion

organisieren, Handelsabkommen abschließen oder einer „Währungsunion“ angehören, wie die Staaten der Eurozone.49 In der symbolischen Form des Geldes finden beide – religiöse wie ökonomische Gemeinden – zusammen. Als Äquivalent verwandelt sich Geld in nahezu alle Güter und Dienstleistungen, diese wiederum in Geld. Religiöser Glaube ist entsprechend konvertierbar und garantiert den Bezug auf Jenseitiges und des Jenseitigen auf das Hier-und-Jetzt. Exklusiv ist Geld, indem es sich dem Monopol des Staates, sein Wert daher einer künstlich erzeugten Knappheit verdankt. Knapp ist auch der Raum, der Gläubigen in einer Gemeinschaft zur Verfügung steht, nachdem sich ihr missionarischer Eifer erschöpft hat: „In bestimmten Räumen, zu bestimmten Zeiten werden die Gläubigen versammelt und durch immer gleiche Verrichtungen in einen gemilderten Massenzustand versetzt, der sie beeindruckt, ohne gefährlich zu werden, und an den sie sich gewöhnen. Das Gefühl ihrer Einheit wird ihnen dosiert verabreicht. Von der Richtigkeit dieser Dosierung hängt der Bestand der Kirche ab.“50 Mit der Möglichkeit, dieses Einheitsgefühl zu kommunizieren, entsteht eine „Gemeinschaft wahrhaft religiöser Gemüter“,51 selbst wenn sich religiöse Erfahrungen nicht durch Worte – den „Schatten unserer Anschauungen“52 – vermitteln lassen. Gerade im Sagen des schlechterdings Unsagbaren besteht der exklusive Modus Operandi des Glaubens, der sich durch die bloße Form der Kommunikation immer an eine bestimmte gesellschaftliche Klasse richtet, aus der sich seine Gemeinde rekrutiert: „Sozialgeschichtlich betrachtet, sind es also die Kreise des gebildeten Bürgertums, die zur Bereicherung und Intensivierung ihrer religiösen Anlage fähig sind.“53 Universell ist die für Religionen charakteristische Struktur der Kommunikation – ob zwischen Gott und Individuum, Priestern und Gemeinde oder aber zwischen den Gläubigen untereinander. Diese Kommunikationsstruktur lässt die mitgeteilten Anschauungen und Gefühle für beliebig und austauschbar erscheinen, solange sie der vorgegebenen Form gehorchen, in der sie vermittelt werden. Sie verleiht der Religion den Anschein der „Gleich-Gültigkeit“, die sie mit dem Geld als ultimativem Äquivalent teilt. Die durch Geld geprägte Wirklichkeit einer Gesellschaft, in der die Omnipräsenz des Mediums an die Stelle der Allgegenwart Gottes getreten ist, nimmt wie selbstverständlich Einfluss auf das Bewusstsein und die Handlungen ihrer Mitglieder: „Wie sich das religiöse Bewußtsein von Gott abhängig weiß, ohne daß dieser für das

49Für

einzelne Staaten, die sich einer Währung bedienen, gilt deshalb das Prinzip der Gleichzeitigkeit von Exklusivität und Universalismus, wenn auch nur in einem nationalen Rahmen. 50Canetti: Masse und Macht, 26. 51Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1799, 1806, 1821. Studienausgabe, hg. von Niklaus Peter u. a.: Zürich: TVZ 2012, 185. 52Ebd., 131. 53Falk Wagner: Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiösen Lebenswelt, Stuttgart: Klett-Cotta 1985, 106.

Glaube auf Pump

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Bewußtsein unmittelbar gegenständlich-sinnlich präsent ist, so beruhte auch die Struktur des geldbestimmten Bewußtseins auf einer nicht-sinnlichen und ungegenständlichen Gegenwart des Geldmediums.“54 Zeigt der Wettbewerb um die Seelen der Gläubigen ökonomische Züge, wirft die Ökonomie ein Netz religiöser Anspielungen aus, in dem sich Konsumenten verfangen. Die Attraktivität der Waren besteht im Versprechen auf ewiges Glück, auf Erlösung und auf die Wiederentdeckung eines verlorenen, nun im Produkt wiederzugewinnenden Paradieses. Dem Produkt trauen wir irrtümlich zu, uns eine dem Menschen verloren geglaubte Intensität des Erlebens wiederzugeben. Werbung verspricht genau dies: Erlebnis, Erfahrung und Ekstase. Zu den Produkten, die das Versprechen auf Intensität einlösen sollen, zählen auch Formen der Virtual oder Augmented Reality, für die Nutzer viel Geld zu zahlen bereit sind. Hier geht das Erlebnis über die wirkliche Welt hinaus, wird damit aber zu einem Mehrwert, der den Verlust an lebenswirklicher Erfahrung wettmachen soll. Erachtet die christliche Religion seit ihrer Neuauslegung in der Epoche der Romantik „Gefühl“ und „Erlebnis“ als Schlüssel des Authentischen, hat die Werbung Authentizität seit ihrer Verbreitung im 19. Jahrhundert, spätestens aber mit der Entstehung der Konsumgesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einen Effekt entdeckt, der die stets unbefriedigten Sehnsüchte nach einer unvermittelten, „reinen“ und „wahren“ Existenz bedient.55 Der Warenkauf und das Glaubensbekenntnis ließen sich leicht verwechseln, würden sie nicht als ideologisch inszenierter Gegensatz in den Leitgedanken des christlichen Glaubens auftreten. Zu einem gewichtigen Teil ist dieser Gegensatz auf Verteilungskämpfe zurückzuführen, denn im Wettbewerb um finanzielle Ressourcen sind sowohl Konsumenten von Waren als auch Konsumenten von Heilslehren attraktive Geldgeber. Werden sich, im Sinne der „Religious Economy“, „Individuen in ihren Entscheidungen nicht anders verhalten als Konsumenten bei anderen Objekten ihrer Wahl“, indem sie „costs und benefits vergleichen“ und „ihren Nutzen zu maximieren“ suchen, wenn

54Ebd.,

13 f. (kursiv im Original). Dass Geld dagegen je nach Situation gesellschaftlich unterschiedlich bewertet wird, wie Viviana A. Zelizer: The Social Meaning of Money, New York: Basic Books 1994, meint, ändert nichts an der grundsätzlichen Funktion des Geldes, wonach es sich mit dem Tod die Rolle des „großen Gleichmachers“ teilt. 55Als „Konsumgesellschaft“ lässt sich erstmals die USA der Zwischenkriegszeit bezeichnen: „In den 1930er Jahren lebten viele Familien in elektrisch beleuchteten, zentral beheizten und mit langlebigen Konsumgütern gut ausgerüsteten Einfamilienhäusern. In der Garage standen Automobile, mit denen sie Ausflüge unternahmen und die neuen Unterhaltungsstätten besuchten. Die Frauen kauften im Supermarkt industriell verarbeitete Lebensmittel.“ In Deutschland setzte der Wandel später ein: „Um 1960 erreichten die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in etwa das amerikanische Konsumniveau von 1930“, Wolfgang König: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart: Steiner 2008, 24 und 26. Zum Begriff des Authentischen vgl. Christoph Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970, Berlin und New York: de Gruyter 2010, 1–19.

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sie sich für eine Glaubenslehre entscheiden, so ist das Spendenaufkommen, vor allem in kleineren religiösen Gemeinschaften und Sekten, bemerkenswert hoch.56 Was ihre Gemeindemitglieder nicht dem Konsum zuführen, können die Kirchen für sich beanspruchen, oft unter Hinweis auf die moralische Hinfälligkeit, die mit der Anschaffung materieller Güter verbunden sei. Längst sind Glaubenskongregationen florierende Wirtschaftsunternehmen mit einer Vielzahl an Merchandising-Produkten, einer eigenen Infrastruktur und Medien geworden, die sich im hart umkämpften Markt um die Aufmerksamkeit der Gläubigen behaupten müssen. Gleichzeitig wird das Geld als Götze dargestellt, den die Menschen, wie Marx meinte, ungeachtet ihrer Verdammung anbeteten: „Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen – und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.“57 Gerade jene Kirchen, die sich im Wettbewerb um ihre Klientel behaupten, profitieren selbst von der Anbetung dieses Götzen und es scheint fast, als erniedrige das Geld nicht die „Götter des Menschen“, sondern sei seiner Form nach selbst ein Gott: allgegenwärtig, wandelbar und launisch, zuweilen gütig, dann aber wieder grausam, mehr eine Idee als eine Substanz. Die enge Beziehung von Geld und Glaube bestätigt sich im Moment der Krise. Sofern Glaube allein auf Überzeugungen, Geld aber auf Geltung beruht, ist das Gebäude, das beide errichten, immer auch „einsturzbedroht“.58 Die Erfahrung des sinkenden Geldwertes in Zeiten der Inflation beispielsweise erschüttert das

56Friedrich

Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2004, 23. Graf meint, dass entsprechende Studien über die genaue Höhe der Spenden, über Einkommen von Priestern und die Finanzierung von sozialen und karitativen Einrichtungen, die das Angebot einer Religionsgemeinschaft attraktiver machen, bislang fehlen würden. Bekannt sei nur, dass amerikanische Fernsehprediger „religiös-konservativer“ Ausrichtung in ihren „Sammelaktivitäten“ ausgesprochen erfolgreich seien (vgl. ebd., 25). Dagegen weist Kevin M. Kruse („One Nation under God“. How Corporate America Invented Christian America, New York: Basic Books 2015, z. B. 10) konkrete Zahlen für das Einkommen früher evangelikaler Prediger aus. 57Karl Marx: „Zur Judenfrage“ (1844), in: MEW 1, 347–377, hier 374 f. Marx’ kritische Haltung gegenüber der jüdischen Religion erklärt Volker Elis Pilgrim (Adieu Marx. Gewalt und Ausbeutung im Hause des Wortführers, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, 241) mit Marx’ spätem Widerstand gegen den zum Christentum übergetretenen Vater Hirschel Marx, der dem Sohn die Bürde der Entsühnung für seine Abkehr vom früheren Glaubensbekenntnis auferlegte: „Mit seinem Judenverriß in seinem Aufsatz ‚Zur Judenfrage‘ und mit seinen brieflichen Rundumschlägen gegen ‚praktische Juden‘ kritisierte Karl nachträglich unbewusst den Schritt seiner Eltern, der ihm ein Wahnsinnsprogramm einbrockte, unter dem er zerbrechen sollte und das ihn schon als Jüngling in eminente seelische Spannung zog. Karl ist 26, als er diesen Kurzschluß zwischen Jude und Geld, Jude und Kapital zündete.“ Pilgrim verkennt die auf alle Religionen anwendbare spirituelle Funktion des Geldes, die Marx zwar treffend, aber mit überflüssigem judenfeindlichen Akzent formuliert. 58Hörisch: Man muss dran glauben, 21.

Die Konsumreligion

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­ ertrauen in die Stabilität einer Währung und verändert die „Einstellung zum Gelde V und zu den durch die Geldvorstellung repräsentierten Werte“.59 Das Wissen um den illusionären Charakter des Geldes hat seine Entsprechung im Misstrauen gegenüber etablierten religiösen Vorstellungen, vor allem aber gegenüber den großen Kirchen.60 Der Zusammenbruch der Märkte geht daher mit religiöser Verunsicherung einher, wie das Beispiel der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und den vorherrschenden harten Lebensbedingungen zeigte. Die Phase des ökonomischen Verfalls brachte allerlei Arten von obskuren Sekten und okkultistischen Bewegung, schwarzer oder weißer Magie und allen Religionen abseits der geläufigen konfessionellen Tradition in Deutschland großen Zulauf. Die Menschen befanden die üblichen Rezepte des Glaubens für unwirksam, die Antworten der großen Religionen für ungenügend. Wo Geld und Religion nicht mehr für Werte einstanden – seien es materielle, ethische oder religiöse –, setzte man auf Wunder und suchte Hilfe im Jenseits: „Eine spiritistische Welle durchflutete die Welt nach dem großen Kriege. Viele hofften, mit den Seelen ihrer im Felde gefallenen Männer oder Geliebten, Brüder, Söhne oder Väter in Verbindung treten zu können. Sie gingen dahin, wo Beziehungen zum Geisterreich geschaffen werden sollten. Ob das im Salon einer wohlhabenden Frau, im Kohlenkeller oder bei einer Kartenlegerin im Hinterhause war – zu diesen Geisterbeschwörungen, zu diesen Zirkeln drängten sich in den Inflationsjahren viel mehr Menschen als jemals.“61

Die Konsumreligion Erfolge an der Börse werden meist von Geschichten flankiert, die den Erfolg eines Unternehmers rechtfertigen sollen – Firmengeschichten, Gerüchte über vergangene und zukünftige Unternehmungen, Legenden über Gründerväter und Konzernlenker. Desgleichen werden Pleiten, Fehlinvestitionen und Abstiege von Erzählungen begleitet, die sich von Hörensagen und Unerhörtem nähren. Es sind diese Geschichten, die dem Vertragsabschluss vorausgehen, das Geschäft ermöglichen oder aber den letzten Handschlag vereiteln. Nicht nur die im Modus der Fiktion vorgetragenen „Geschichten“ – denn Gerüchte sind Fiktionen, solange sie nicht durch Fakten einen anderen Aussagestatus erhalten –, sondern deren ritueller Rahmen lässt die Verbindung von Religion und Ökonomie auch heutzutage noch für plausibel erscheinen. Wie der Ritus eine Manifestation der Regeln in einem religiösen System darstellt, so sind die Abläufe an der Börse Regeln unterworfen,

59Günter

Schmölders: Psychologie des Geldes, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966, 147. der religiöse Glaube an Gott gerät ins Wanken, wenn unter der Bedingung einer theoretisch-wissenschaftlichen oder praktisch gelebten Religionskritik das Bewußtsein vorherrscht, daß die Geltung des geglaubten Gottes einseitig von den Akten des glaubenden Bewußtseins zehrt“, Wagner: Geld oder Gott? 40 f. 61Hans Ostwald: Sittengeschichte der Inflation. Ein Kulturdokument aus den Jahren des Marktsturzes, Berlin: Neufeld & Henius 1931, 224. 60„Auch

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die ohne Weiteres als Riten zu erkennen sind: Der allmorgendliche Glockenschlag, die Deutung der „Zeichen“, von denen Wohl und Wehe der „Gemeinde“ abhängt, der Ausgang des Börsentages, dem das zwanglose soziale Miteinander folgt. Zum Börsengang erscheinen die Firmeninhaber persönlich und signalisieren durch den Ausschank von Spirituosen den spirituellen Charakter der Handlung. Die Feier, die dem Börsenparkett enthoben ist, verweist auf den Rausch, und zwar den des maximalen Gewinns. Im Ritual bekennen sich die Mitglieder der religiösen Gemeinschaft zu ihrem Gott, im ritualisierten Börsengang die Marktteilnehmer zum Kapital, dem Fetisch der Moderne. In Aktionärsversammlungen legen Firmeneigner schließlich öffentlich „Bekenntnis“ ab. Sie rechtfertigen die Strategie des Unternehmens, dessen Erfolg an den Bilanzen des Geschäftsjahrs abzulesen ist. Fallen Bilanzen schlecht aus, so mündet das Bekenntnis im Bußgang, bei dem sich die Verantwortungsträger zu rechtfertigen und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen haben – Sühne als Schritt zur inneren Erneuerung des Unternehmers, denn jede Niederlage, jeder Fehltritt gilt in der Religion wie in der Geschäftswelt als Möglichkeit zur Besserung, um zukünftige Profite zu erwirtschaften. Der Faszination des gemeinschaftlichen Erlebens in der religiösen Gemeinde hier entspricht der Rausch des schnellen Geldes und der beschleunigten Transaktion dort, dem Gewinn an göttlichem Wohlwollen der Gewinn an materiellem Reichtum, der Überhöhung des Priesters die des Maklers. In ökonomischen Handlungen sind die Vorstellungsmuster wiederzuerkennen, die einst den Dienst an einer Gottheit rechtfertigten und nun einen neuen Kult begründen. Walter Benjamin bezeichnete den Kapitalismus daher als „Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie“.62 Kern dieses „Kultus“, der zu jeder Zeit, durch jede Transaktion zur Geltung kommt, sei die Verschuldung, ohne je zu entsühnen. Diese niemals aufzuhebende, fortschreitende Verschuldung beziehe selbst ihren Gott mit ein, so dass mit der „völlige[n] Verschuldung Gottes“ endlich ein „Weltzustand der Verzweiflung“ eintrete, in der „gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist“.63 Benjamin vertritt, dass sich der Kapitalismus in allen christlichen Glaubensformen parasitär verbreitet hat, ja, dass die Geschichte des Christentums zuletzt die Geschichte „seines Parasiten, des Kapitalismus“, darstellt.64 Versprechen die traditionellen Religionen dem Individuum Sinn durch symbolische Repräsentation, macht der Kapitalismus keinen Hehl aus der permanenten Verschiebung des Sinns vom Bedürfnis auf die Ware, von der Ware aufs Geld, vom Geld zurück aufs Bedürfnis. Allein im Kult oder im

62Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, 100–103, hier 100. 63Ebd., 101. 64Ebd., 102.

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Ritual erfüllt sich seine Bestimmung, denn im Moment des Tauschs besteht eine Scheinnähe zur göttlichen Instanz.65 Der Wechsel von Nähe und Ferne, der in den frühesten Formen des religiösen Ritus hervortrat, erneuert sich in jeder geschäftlichen Transaktion. Der Moment des Erwerbs stellt Nähe her und schafft zugleich Distanz, indem er die Vertragspartner aneinander bindet und durch das zu zahlende Äquivalent die persönliche Bindung in eine mittelbare überführt. Der Kauf von Gütern folgt festgelegten Ritualen, vor allem wenn er in die Zeit allgemein akzeptierten Konsums fällt: den Schlussverkauf, die Wochen vor Weihnachten, den Freitag nach dem Thanksgiving-Fest, dem umsatzstärksten Verkaufstag in den USA. Der Kauf ist fast immer emotional gesteuert, wenn auch durch die Höhe des verfügbaren Geldes limitiert. Mehr als nur eine Geste des Tauschs ist er eine Form des Vertrags, der, ähnlich der Gabe, Status anzeigt und soziale Hierarchien begründet. Beglaubigt wird der Vertrag durch den gegengezeichneten Vertragstext oder auch nur den Kassenbon, den Bankauszug und die elektronische Nachricht. Das religiöse Wesen des Kaufs tritt in anderen vertraglichen Vereinbarungen noch deutlich zutage. Traditionelle Verträge werden oft lange vorbereitet und in umständlichen Zeremonien beglaubigt. Ihre schwer verständliche, meist nur Spezialistinnen und Rechtsexperten zugängliche Sprache erinnert an die im religiösen Ritual verwendete, von der Alltagssprache unterschiedene feierliche Redeweise. Feierlich sind häufig auch die Umstände der Vertragsunterzeichnung, vor allem bei Abkommen zwischen Staaten oder bedeutenden Unternehmen. Beim Kauf einer Eintrittskarte verschiebt sich dagegen das zeremonielle Element ins Ereignis oder das Erlebnis selbst. Geistige und wirtschaftliche Interessen fallen wiederum beim Besuch kultureller Stätten in eins. Das Eintrittsgeld erlaubt, wie die Gabe im archaischen Ritus, den Zugang zu einem „heiligen Bezirk“, in dem bestimmte Verhaltensregeln gelten: andächtige Ruhe und vertieftes Betrachten im Museum, Aufmerksamkeit und aufrechte Sitzhaltung im Theater oder der Oper, interessierte Teilnahme bei einer Lesung, entsprechendes Sozialverhalten während der Pausen oder nach dem Ende der Aufführung, Tanz bei einem Popkonzert. Sind die rituellen Wurzeln der Ökonomie im Kulturbereich leicht zu identifizieren, geben sich die religiösen Bräuche, die das ökonomische Handeln bestimmen, oft nur indirekt und auf Umwegen zu erkennen. Konkurrenz fand das Gotteshaus seit Ende des 18. Jahrhunderts im bürgerlichen Nationaltheater, vor allem aber in den neu entstehenden Museen, die häufig aus ehemals privaten Sammlungen hervorgegangen sind. Zudem wurden parallel zur Einrichtung von Museen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten Kaufhäuser eröffnet. Mit dem Bedürfnis, die Symbole bürgerlicher Prosperität auszustellen und zum Kauf anzubieten, wuchs die Verehrung, die diesen Symbolen entgegengebracht 65Nicht

zufällig erinnert Benjamins Darstellung des Kapitalismus an sein Konzept der Aura, dass als scheinbare Nähe einer höheren Macht den Betrachter eines Kunstwerks in Bann zieht, vgl. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Gesammelte Schriften, Bd. I/2, 431–508. Aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren Benjamins 1921 verfasstes, doch erst postum veröffentlichtes Fragment die Beiträge in Dirk Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos 2003.

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wurde. Über die Jahrzehnte begann der Besuch des Kaufhauses dem einer Kultstätte zu ähneln. Seine Synonyme versprachen Erlösung, wie Philipp Blom festhält. Die frühen Kaufhäuser seien „Kathedralen“, „Tempel“, „Traumwelten“ oder „Konsumpaläste“ genannt worden. Ihren Überfluss an Gütern suchten die neuen „Kathedralen“ gemeinsam mit ihrer magisch zu nennenden Atmosphäre auf die Konsumenten zu übertragen, während sich jene den Erlebnisanforderungen der neuen Institutionen allzu gerne anpassten.66 Im Tempel des Konsums finden Ritual und Kauf, Sakrales und Profanes zueinander. Der Wert der Dinge wird als Zahl im Kaufhaus gemeinsam mit den Objekten gezeigt, die zum Verkauf stehen. Während aber der Preis die materiellen Seiten der Herstellung darstellt und das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage spiegelt, erschließt sich ihr geistiger Wert nur im Moment des Kaufs. Durch den Erwerb wird der Konsum selbst zum Wert, der in den Dingen lediglich zur Schau gestellt wird. Jeder Kauf bestätigt die religiöse Dimension der Ökonomie, die in säkularem Gewand wiederkehrt. Im Kauf verwandelt sich das Geld ins Objekt, der Wunsch in Wirklichkeit, ohne aber Erfüllung zu gewähren. Transzendenz ist das leitende Prinzip, dem sowohl Religion als auch Ökonomie unterworfen sind, der Tod ist ihr gemeinsamer Fluchtpunkt, weil Konsum die permanente Verschiebung des Wunsches auf immer neue Objekte bedeutet. Die Geste des Verschiebens zielt darauf ab, hinter der ununterbrochenen Zirkulation den absoluten Stillstand, hinter der Bewegung die Leere zu verbergen. Beruht Konsum auf einer „Ökonomie der Täuschung“,67 liegt der Grund für die Fiktion der Wunscherfüllung in ihrem Gegenteil – der Angst vor den letzten Dingen, die sich auf die Dinge des Konsums verschiebt und verteilt.68 Verlegt religiöses Denken die Ewigkeit in die Zukunft, verlegt das kapitalistische Wirtschaftssystem den sich schnell abnutzenden Augenblick des Glücks angesichts von Geld und Waren auf den nächsten Moment. Die konsumistische Ewigkeit liegt in den zukünftig zu begehrenden Dingen, die allenfalls den Fluss des Kapitals begründen, nicht aber dem Leben Sinn verleihen könnten: „Selbst diejenigen, die nicht mehr an eine persönliche Ewigkeit glauben, glauben noch an die Unendlichkeit der

66„Early

department stores have been called cathedrals, temples, dream worlds, and palaces of consumption. They extend the lavish display and magical atmosphere of the exposition to every­ day consumer goods and the simultaneous development of these two forms of spectacle involved imitation in both directions“, Russell W. Belk: Collecting in a Consumer Society, London und New York: Routledge 1995, 18. Émile Zola spielte in seinem 1884 erschienenen Roman Au bonheur des dames auf das Pariser Kaufhaus Bon Marché an. Bonheur wird meist mit „Paradies“ übersetzt, kann aber auch „Heil“ bedeuten, eine Variante der Erlösung. Zur Entstehung des Museums aus privaten Sammlungen und zur Konkurrenz von Museum, Theater und Kaufhaus vgl. auch Philipp Blom: To Have and to Hold. An Intimate History of Collectors and Collecting, Woodstock und New York: Overlook Press 2002. 67Zygmunt Bauman: Leben als Konsum, 2. Aufl., Hamburg: Hamburger Edition, 2010, 65. 68Freud sprach vom „Unbehagen in der Kultur“, das in der Triebunterdrückung seinen Ursprung hat. Zu den Trieben zählte Freud bekanntlich den Todestrieb, der Anziehung und Schrecken gleichermaßen verursacht, vgl. Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, Bd. IX, 191–270.

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Zeit wie an ein Gattungskapital, das überaus vielfältigen Interessen dient. Die Unendlichkeit des Kapitals geht über in eine Unendlichkeit der Zeit, in die Ewigkeit eines Produktionssystems, das die Reversibilität von Tausch/Gabe nicht mehr kennt, sondern nur noch die Irreversibilität quantitativen Wachstums.“69 „Realität“ bezeichnet Baudrillard daher als einen „Effekt“, der künstlich, das heißt durch Menschenhand hervorgebracht wird. Die Simulakren des Wirklichen, wie sie uns in den käuflichen Objekten begegnen, dienen dabei der Ablenkung: „Den Tod abschaffen, das ist unser sich in alle Richtungen verzweigendes Phantasma: Überleben und Ewigkeit in den Religionen, Wahrheit in der Wissenschaft, sowie Produktivität und Akkumulation in der Ökonomie.“70 Der Ritus des Konsums, der, neben vielen rahmenden Maßnahmen (z. B. der Schaffung einer Infrastruktur des Marktes), mit dem Zurschaustellung eines Gutes beginnt, sich im Begehren nach einem Objekt fortsetzt, in dessen Kauf übergeht und sich im Gebrauch abnutzt, endet erst im Wegwerfen, also in Verlust und Verfall. Der Müll, den Konsumgesellschaften produzieren, ist nicht etwa die Kehrseite des Wohlstands, sondern dessen Erfüllung. Je mehr Müll, desto größer der Überfluss. In ihm deutet sich das Leistungsvermögen der liberalen Marktordnung an. Müll ist daher ein Statussymbol, das den gesamtgesellschaftlichen, internationalen Rang einer Nation zeigt – das Äquivalent zum Bruttoinlandsprodukt. Produktivität endet nicht etwa im Abfall, sie geht aus ihm hervor. Das haben die historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt, die nicht nur vorfabrizierten, sondern aufgefundenen, missachteten, weggeworfenen und vergessenen Objekten Aufmerksamkeit schenkten. Marcel Duchamps Objektkunst wäre ohne die Voraussetzungen der Marktwirtschaft ebenso undenkbar gewesen wie die Collagen von Kurt Schwitters, der in seiner „Merzkunst“ – einer Wortneuschöpfung, die zur Gattungsbezeichnung diente – auf den kapitalistischen Hintergrund verweist, dem sie entstammt: dem „Commerz“: „Ich verließ meine Arbeitsstelle ohne jede Kündigung, und nun gings los. Jetzt begann das Gären erst richtig. Ich fühlte mich frei und mußte meinen Jubel hinausschreien in die Welt. Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich fand […]. Man kann auch mit Müllabfällen schreien, und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und -nagelte. Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den siegreichen Ausgang des Krieges.“71 Schwitters’ „Gebet“ war zum ästhetischen Ritual geworden, das aus dem Schutt des Ersten Weltkriegs und dem Müll der Konsumgesellschaft hervorgegangen war und die Freiheit künstlerischen Schaffens feierte. Dass der Krieg eine Funktion des Konsums ist, hatte Schwitters ebenfalls erkannt, denn ein „Sieg“ war die faktische Niederlage Deutschlands nur deshalb, weil durch die Zerstörung Raum für Neues entstanden war. „Müll“ bedeutete für ihn Befreiung ähnlich wie uns heute „Entsorgung“ von der Sorge

69Baudrillard:

Der symbolische Tausch und der Tod, 231. 232. 71Kurt Schwitters: Die literarischen Werk, hg. von Friedhelm Lach, Bd. 5, Manifeste und kritische Prosa, Köln: DuMont 1998, 335. 70Ebd.,

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losspricht, sich um die Folgen des Überflusses kümmern zu müssen, von dem wir umgeben sind.72 Sinnfragen befriedigt Konsum nur vorübergehend und verlegt die Antwort nach der Bedeutung des Todes auf immer neue Objekte, die das den Menschen leitende Verlangen nach Wahrheit, Liebe und Erlösung lediglich repräsentieren, ohne es zu stillen. „Begehren“, meint Belk, erachten wir gemeinhin und nicht ohne Ironie als „genussreichen Zustand von Unwohlsein oder Schmerz“, der sich allmählich durch den Erwerb des fantasierten Objekts mindert.73 Doch erfüllt das so sehr begehrte Objekt selten unsere Wünsche, weil es der gesteigerte emotionale Zustand selbst ist, der uns Lust bereitet. Der Kreislauf des Begehrens findet daher in einer neuen Objektwahl seine Fortsetzung.74 Den Versuch, Sinn zu stiften und dem Tod Bedeutung zu geben, teilt der Konsum mit wohl allen Religionen. Gewissheiten stellen Religionen in Symbolen dar, die Letztbegründungen je nach Konfession in Fülle bereitstellen. Die Ambivalenz religiöser Symbole, deren Deutung im Lauf der Zeit immer wieder geprüft und angepasst wird, entspricht der Ambivalenz des Geldes, dem Symbol des Konsums. Erfolg ist den verschiedenen, seit der Aufklärung vermehrt auftretenden und sich aufspaltenden religiösen Glaubensrichtungen in der westlichen Hemisphäre vor allem durch ihre symbolischen Repräsentationen gegeben: „Glaube läßt sich in analytisch distanzierten Außenperspektiven zunächst als ein symbolischer Kosmos bestimmen, der dem Frommen eine existentielle Gewißheit erschließt, die sein Leben in allen seinen Dimensionen neu wahrzunehmen erlaubt. Religiöser Glaube transzendiert jede endliche Perspektive auf Mensch und Welt, sofern er alles sub specie Dei zu sehen beginnt.“75 Das „religiöse Feld“, wie es Pierre Bourdieu beschreibt,76 zeichnet sich durch Symbolproduktion

726,3 Mrd. Tonnen

Plastikmüll produzieren vor allem westliche Nationen derzeit jährlich – mit steigender Tendenz seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein effizientes Recyclingsystem existiert nicht. Vom jährlich entstehenden Plastikmüll werden nur ca. 9 % recycelt. Geschätzte 80 % enden auf Müllhalden und in den Ozeanen, wo sie als Mikroplastik in die Nahrungskette gelangen und von dort wieder von uns aufgenommen werden. Die gesundheitlichen Folgen sind nicht abzusehen, vgl. Amy L. Brooks u. a. „The Chinese Import Ban and Its Impact on Global Plastic Waste Trade“, in: Science Advances 4 (2018), http://www.advances.sciencemag.org/content/4/6/eaat0131 (30. Oktober 2018). 73„Desire is ironically seen as an enjoyable state of discomfort or pain which eventually gives way to the pleasure of realizing the fantasized object of desire. But both because the object seldom lives up to the fantasy expectations that we have daydreamed and because it is the state of desire itself that provides the opportunity to enjoy heightened emotions, this cycle of desire is likely to be rapidly reinitiated by focusing on yet another object“, Belk: Collecting in a Consumer Society, 4. 74Ebd. 75Graf:

Die Wiederkehr der Götter, 31. hat dem religiösen Feld kein eigenständiges Buch gewidmet, wohl aber zahlreiche Aufsätze, z. B. „Genèse et structure de la champ religieux“, in: Revue française de sociologie 12.2 (1971) 295–334; sowie „La dissolution du religieux“, in: Choses dites, Paris: Édition de minuit 1987, 117–123. Bourdieu definiert Religion mithilfe von Weber, wie er an einschlägiger Stelle ausführt: „Une interprétation de la theorie de la religion selon Max Weber“, in: Archives européenne de sociologie 12.1 (1971), 3–21.

76Bourdieu

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und das Streben nach Sinngebungshoheit in metaphysischen Fragen aus. Bourdieu beschreibt dieses Feld als asymmetrisches und von anderen Bereichen wie etwa der Ökonomie, der Kunst und der Wissenschaft getrenntes System, in dem Glaubensgemeinschaften um das Seelenheil der Menschen konkurrieren. Dieser Konkurrenzkampf lässt sich trotz gesellschaftlicher Differenzen zugleich mit ökonomischen Begriffen beschreiben: „Durch religiöses Kapital kann beispielsweise Sozialkapital erworben und akkumuliert werden, weil die religiöse Vergemeinschaftung auch Netzwerke kommunitärer Solidarität erschließt. Religionskapital läßt sich zudem in kulturelles Kapital umtauschen, indem religiöse Institutionen und Organisationen Bildungseinrichtungen aufbauen, asketisch methodisierte Stile der Lebensführung prämieren und sozialen Aufstieg durch Kompetenzerwerb als Inbegriff eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels verkünden. Die symbolischen Sinnkapitalien der Religionen können schließlich ins psychische Kapital gestärkter Identität konvertiert werden. Der Mehrwert des Religionskapitals liegt hier darin, neues Emotionskapital gewinnen zu können.“77 Nicht von ungefähr fallen zahlreiche Versuche, Religion mit ökonomischen Begriffen zu beschreiben, in die 1960er Jahre, eine Zeit, die vom Kampf der Systeme – Kapitalismus hier, Kommunismus dort –, von der Entfaltung von Konsumstrukturen in der westlichen Welt, von hoher Fortschrittsgläubigkeit sowie von Rationalitäts- und Effizienzdogmen in der Ökonomie geprägt war. Gary S. Beckers Buch Human Capital aus dem Jahr 1964 nutzte ökonomische Theorien, um zu erklären, weshalb rationale Entscheidungen in einem irrationalen Bereich wie dem der Religion zum Tragen kommen.78 Seine Anwendung der Theorie der „Rational Choices“, wonach Individuen Entscheidungen nach Kosten-Nutzen-Erwägungen treffen, rechtfertigt Becker noch gut zwei Jahrzehnte später mit dem universalistischen Prinzip ökonomischen Handelns. Der ökonomische Ansatz ist Becker zufolge derart umfassend, dass er sich auf das gesamte menschliche Verhalten anwenden lässt, ob es nun um tatsächliche oder nur vorgestellte Marktwerte, um die Hoffnung auf Wohlstand, um wiederkehrende oder nur gelegentliche, große oder kleinere Entscheidungen, emotionale oder automatisierte Mittel geht, die auf sie einwirken.79 Noch vor Becker hatte Peter L. Berger ein „Market Model for the Analysis of Ecumenicity“ vorgestellt und dabei

77Graf:

Die Wiederkehr der Götter, 62 f. Als Theologe gesteht Graf zwar das hermeneutische Potenzial ökonomischer Begriffe zur Deutung von Religion ein, steht letztlich aber der „Rationalisierung“ religiöser Erfahrungswelten skeptisch gegenüber. Seine Studie mündet in einer Verteidigung der Theologie als einer wissenschaftlichen Disziplin, die gerade die Eigenarten der Religion erforscht, nicht deren „Schwund-“ und „Verwandlungsstufen“ in modernen Gesellschaften.

78Vgl.

Becker: Human Capital. economic approach“, meint Becker, „is a comprehensive one that is applicable to all human behavior, be it behavior involving money prices or imputed shadow prices, repeated or infrequent decisions, large or minor decisions, emotional or mechanical ends“, Gary S. Becker: „The Economic Approach to Human Behavior“, in: Rational Choice, hg. von John Elster, Oxford: Basil Blackwell 1986, 108–122, hier 112.

79„The

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Effizienzsteigerung und Dienstleistungsoptimierung als Gründe für den Erfolg neuer Religionsgemeinschaften in einem pluralistisch angelegten Markt der Religionen geltend gemacht. Konsumenten von Sinnangeboten träfen die Entscheidung, welchem Glaube sie zuneigten, nach Kostenvergleich, Angebotsprüfung und Alleinstellungsmerkmalen der „Markteilnehmer“, um sich mit dem „Produkt“ zu identifizieren.80 Bergers und Beckers Thesen fanden großen Widerhall und brachten zahlreiche Studien etwa zu den Marktmechanismen religiöser Sinnfindung, Konsumentenverhalten, Angebotsbreite und „Markenloyalität“ hervor. Ökonomische Erklärungsmodelle legen ein Verständnis von Religion zugrunde, das auf utilitaristischen Kriterien beruht. Religion hat demnach wenig mit einer höheren, sakralen Erfahrung als vielmehr mit individuellen Geschmacks- und Lebensstilpräferenzen zu tun. Als relativ neuer Begriff erscheint der Singular „die Religion“ im deutschen Sprachgebrauch erst um 1750 als Gegensatz zum Offenbarungsbegriff der allgemein in Deutschland verbreiteten Konfessionen. Die deistische Provokation der Aufklärungszeit zwang demnach die großen Kirchen gerade jene subjektive Erfahrungswelt durch Vernunft zu erklären, die der rationalen Beschreibung eigentlich nicht zugänglich war. Jede Definition von Religion erscheint seither als relativ, denn sie bezieht sich auf eine „subjektive existentielle Entscheidung zur Bejahung und Ergreifung eines transzendenten, übervernünftigen, alle bisherigen Ideenassoziationen zerbrechenden Paradoxes“.81 Dieses Paradox besteht in der Annahme von der Existenz eines Gottes, der sich lediglich subjektiv erfahren, nicht jedoch vernünftig beweisen lasse. Versuche, den Gottesbeweis mit rationalen Begriffen zu umschreiben, führten in der Folge zu Erklärungen von Religion als Erfahrung eines Unendlichen, Universalen oder Transzendenten, leisteten indes zugleich Vorschub zur fundamentalen Kritik an ihr: Verliert Religion ihren Absolutheitsanspruch und kann nicht auf Beweise bauen, wie kann sie dann gültige Erklärungsmodelle für Sinnfragen des Lebens geben? Prominent vorgetragen wurde diese Frage im 19. Jahrhundert z. B. von Feuerbach, Marx, Nietzsche und später von Freud. Während der individuelle Bezug auf eine höhere Macht zwar von einer inneren Logik und rationalen Impulsen geleitet sein mag, wird die Voraussetzung eines Gottes oder von Heiligkeit allein durch Rituale und Konventionen gestützt, ohne dass der Nachweis ihrer Schlüssigkeit erbracht werden könnte. So besteht zwar kein Zweifel an der wichtigen Funktion religiösen Handelns in einer sozialen Umwelt – etwa durch die Befolgung von Riten und moralischen Vorschriften – und den positiven Effekt auf die individuelle Lebenseinstellung oder die Bewältigung existenziell schwieriger Lebenssituationen wie Trauer und Krankheit. Die sinnstiftende Angebotspalette neuzeitlicher Religionen unterstreicht dagegen lediglich den Wert

80Peter

L. Berger: „A Market Model for the Analysis of Ecumenicity“, in: Social Research 30 (1963), 77–93. 81Ernst Feil: Art. „Religion. I. Zum Begriff“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, 263–267, hier 265.

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von „Erzählungen“, auf die sich Glaubensdogmen berufen.82 Dazu zählen auch religiöse Formen der Kommunikation. Fiktionen und Gemeinschaftserfahrungen treten an die Stelle von präziser Beschreibung, wissenschaftlichem Beweis und rationaler Erkenntnis, um religiöse Erfahrungen in die Theorie zu überführen: „Der abstrakte Begriff ‚Religion‘ steht für kulturell individuierte Sinnformen, die es mit Grenzerfahrungen des Menschen zu tun haben und gegen den Zugriff der identifizierenden Vernunft immun sind.“83 Daher „wissen“ Gläubige immer schon um die Offenbarung, die ihnen zuteilwurde, ohne sie erklären zu müssen oder auch nur erklären zu können.84 Nicht zufällig ist der Singular „die Religion“ bereits als Fiktion gekennzeichnet, die eine Vielzahl unterschiedlicher Sinnstiftungskonzepte in sich einschließt, von denen jede für sich Wahrheitsanspruch erhebt, ohne der „Wahrheit“ über Worte näherzukommen. Die Semantik der Religion muss selbst in modernen, aufgeklärten Gesellschaften notwendig den Charakter des Mystischen annehmen. Im Engeren bezeichnet „Mystik“ eine Geheimlehre (abgeleitet vom altgriechischen Substantiv „μυστήριον“, „mysterion“, lat. „mysterium“ = „Geheimnis“, dann auch „Geheimlehre“ oder „-kult“), derer sich ihre Anhänger durch die Kunst der Rhetorik nähern. Im Neuen Testament ist damit der geheime göttliche Heilsplan gemeint, der dem Kreislauf von Schöpfung, Tod und Wiederauferstehung zugrunde liegt. Ein Wissender oder Sehender (im griechischen Mysterienkult der „Mystagoge“, nach christlicher Auffassung der Priester) führt in das „Geheimnis“ ein. Das zugrunde liegende altgriechische Verb „μυέειν“, „myéein“ weist seiner Bedeutung nach auf diesen Zusammenhang hin: „einweihen“, „beginnen“ oder „initiiert werden“. Seiner ursprünglichen Bedeutung nach heißt „Mystik“ also soviel wie „‚auf die Mysterien bezogen‘, ‚mit den Geheimriten verbunden‘, dann generell ‚dunkel‘, ‚geheimnisvoll‘“.85 Dem platonischen Verständnis der christlichen Lehre

82„The narrative paradigm proposes that human beings are inherently storytellers who have a natural capacity to recognize the coherence and fidelity of stories they tell and experience. I suggest that we experience and comprehend life as a series of ongoing narratives, as conflicts, characters, beginnings, middles, and ends. The various modes of communication – all forms of symbolic action – then may be seen as stories, interpretations of things in sequences“, Walther Fisher: Human Communication as Narration, Columbia/South Carolina 1987, 24. Vgl. auch Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 3. Aufl., Frankfurt a. M: Fischer 2013, 9–25. 83Christoph Deutschmann: „Die Verheißung absoluten Reichtums: Kapitalismus als Religion“, in: Baecker: Kapitalismus als Religion, 145–174, hier 146. 84Die Reflexion über Religion verbirgt dabei nach Friedrich H. Tenbruck gerade jene Qualität, die der individuellen religiösen Erfahrung zu eigen ist, denn je mehr „über Religion gesprochen wird, desto mehr steht die Frage an, ob noch über Religion gesprochen wird und ob man darüber noch sprechen kann“, „Die Religion im Maelstrom der Reflexion“, in: Religion und Kultur. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, hg. von Jörg Bergmann, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, 11–67, hier 67. 85Vgl. Peter Heidrich und Hans-Ulrich Lessing: Art. „Mystik, mystisch“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 268–279, hier 268.

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zufolge sind Worte – umso mehr, wenn sie durch die Propheten auf Gott zurückgehen – Ausdruck dieses Heilsplans, von dem die Eingeweihten Kenntnis haben. Begriffe wie „Gott“, „Offenbarung“ oder „Opfer“ sind in diesem Sinne Chiffren, die an die Stelle des Bezeichneten treten: „Chiffren sind nicht einfach Symbole, geschweige denn Zeichen oder Allegorien oder Begriffe. Sie sollen nicht etwas anderes nur bezeichnen, nur ausdrücken. Sie sind nicht gemeint und werden nicht erlebt als bloße Hinweise auf etwas, was nicht oder nicht direkt zugänglich ist. Sie haben ihren Sinn überhaupt nicht in der Relation zu etwas anderem, sondern sind es selbst.“86 Je weniger sich die Semantik der Religion über Vernunft „dechiffrieren“ lässt, desto stärker tritt der rituelle Aspekt des Glaubens in den Vordergrund, über den sich ihre Chiffren bestätigen. Dieser rituelle Aspekt klingt im etymologischen Sinn des Wortes „Religion“ an (von lat. „religio“ = „gewissenhafte Berücksichtigung“, „Sorgfalt“, zu relegere = „bedenken“, „achtgeben“): „Für die Römer bedeutete religio vor allem rituelle Exaktheit: Religiös zu sein, ‚Religion zu haben‘ bedeutete nicht, richtig zu glauben, sondern Handlungen wie Opfer oder Orakel (sacra et auspicia) zum rechten Zeitpunkt und in der richtigen Reihenfolge durchzuführen: ‚religio, id est cultus deorum‘ [Cicero: De natura deorum, 3,5 bzw. 2,9]. Sprichwörtlich ist das ‚Augurenlächeln‘ der Spezialisten, die die ‚Tricks‘ beherrschen. Folglich war superstitio, das Gegenteil von religio, nicht, wie meist übersetzt, der ‚Aber-Glaube‘, sondern die ‚Aber-Handlung‘, die falsch, übertrieben oft, exzessiv oder unautorisiert ausgeführt wird. Die Bedeutung praktischer Gottesverehrung übernimmt das Christentum und bleibt auch im Mittelalter erhalten, wo noch der spezielle Sinn der mönchischen Lebensform hinzutritt: religiosi sind – im Katholizismus bis heute – die Ordensleute.“87 Wer auf die Bedeutung der Religion in der heutigen Zeit hinweist, betont häufig Unsicherheit und Orientierungslosigkeit als Nebeneffekte der Modernisierung. In der Unübersichtlichkeit des modernen Alltagslebens kommt Religionen im besseren Fall eine stabilisierende Funktion zu, im schlechteren führt sie zu Orthodoxie und Extremismus. Beide Szenarien würden jenen Theoretikern Recht geben, die von einer Rückkehr der Religion in der Moderne sprechen. Warnungen vor dem Absolutheitsanspruch der Religion verwerfen ihre Verfechter als Preis der Freiheit.88 Diese Freiheit als Folge der Säkularisierung zu erachten, weisen

86Niklas

Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1977, 33. Auffarth und Hubert Mohr: Art. „Religion“, in: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, hg. von Christoph Auffarth u. a., 4 Bde., Stuttgart und Weimar: Metzler 1999–2002, Bd. 3, Stuttgart und Weimar: Metzler 2000, 160–172., hier 161 f. 88Wir können annehmen, dass der Toleranzgedanke, den Karl Popper auf Ideologien und politische Systeme anwendet, auch auf die Religion zutrifft, so umstritten „Toleranz“ als Konzept heute auch erscheinen mag: „Unlimited tolerance must lead to the disappearance of tolerance. If we extend unlimited tolerance even to those who are intolerant, if we are not prepared to defend a tolerant society against the onslaught of the intolerant, then the tolerant will be destroyed, and tolerance with them“, The Open Society and Its Enemies, 581 (FN 4 in Kap. 7). 87Christoph

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etwa Friedrich Wilhelm Graf oder Charles Taylor, wie viele andere Säkularisierungskritiker, zurück.89 Anders als im englischen Sprachgebrauch unterscheiden Sprecher der deutschen Sprache zwischen dem Vorgang der Verstaatlichung kirchlichen Eigentums sowie der Übernahme von ehedem kirchlichen Aufgaben durch den Staat (= Säkularisation) und der Tendenz zur allgemeinen Abnahme kirchlicher Autorität und einer damit verbundenen Abkehr von Religionen und ihren Postulaten (= Säkularisierung). Modernisierungstendenzen – soziale Ausdifferenzierung, Rationalisierung von Alltags- und Lebensprozessen, Verwissenschaftlichung, Technisierung und Urbanisierung – wurden demzufolge in zunehmendem Maß von religiösem Pluralismus, einer Relativierung von Wahrheitspostulaten und einer Individualisierung von Glaubensfragen begleitet. Säkularisierung meint jedoch nicht etwa das Verschwinden von Religion. Vielmehr belegt die zunehmende Kritik an ihr, dass Religion relativiert und in ihren Bezügen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen – der Ökonomie, der Psychologie, der Politik, der Ästhetik – plausibilisiert und neu gedeutet wird.90 Säkularisierungskritiker argumentieren dagegen zumeist quantitativ und bemessen den Erfolg der Religion an dem Zulauf, den Kirchen und Glaubensgemeinschaften erhalten. Das größte Wachstum verzeichnen dabei ärmere und sich entwickelnde Länder. Den Widerspruch, dass die USA als wohl einziges westliches Land ebenfalls auf eine stete Zunahme an Gläubigen verweisen kann, erklären Religious Economists mit dem breiten Angebot an Konfessionen, aus dem Glaubenskonsumenten auswählen können – Seelenheil als Shoppingerlebnis, Religion als Produkt, das dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gehorcht.91 Der freie Markt religiöser Angebote durch konfessionelle „Firmen“ führe zu neuen Formen der Sakralisierung und fördere die Zunahme von Religiosität.92 Galt religiöse

89Charles

Taylor: A Secular Age, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 2007. Wie schon in Die Wiederkehr der Götter stellt Graf „Säkularisation“ auch andernorts einseitig als Prozess der Abnahme von Religion in modernen Gesellschaften dar, um das Konzept als solches zu diskreditieren, vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Art. „Säkularisation. 2. Religionskulturell“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, 778–782. 90Erst seit den 1960er Jahren werden die Begriffe „Säkularisation“ und „Säkularisierung“ im Anschluss an Bryan Wilson und Peter L. Berger in der Religionssoziologie – obschon kontrovers – diskutiert, vgl. Bryan Wilson: Religion in Secular Society. A Sociological Comment, London: Pelican 1966, sowie Peter L. Berger: The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion, Garden City, New York: Doubleday 1967. 91„A religions economy consists of all of the religious activity going on in any society: a ‚market‘ of current and potential adherents, a set of one or more organizations seeking to attract or maintain adherents, and the religious culture offered by the organization(s)“, fassen Rodney Stark and Roger Finke: Acts of Faith. Explaining the Human Side of Religion, Berkeley u. a.: University of California Press 2000, 193, zusammen. 92„Our model of religious economies holds that the demise of religious monopolies and the deregulation of religious economies will result in a general increase in individual religious commitment as more firms (and more motivated firms) gain free access to the market“, ebd., 200.

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Erfahrung, also das passive Ausgewählt-Sein, als Kriterium für Religiosität, ist es nun die aktive Auswahl nach Abwägung eines Preis-Leistungs-Verhältnisses, die Säkularisierungsgegnern als Beleg für die gesellschaftliche Stellung des Glaubens dient. Ökonomie kehrt nicht etwa in den Schoß der Kirche zurück, wie man meinen könnte, sondern die Kirche in denjenigen der Ökonomie. An der stichhaltigen Beobachtung von Steve Bruce ändert die Kritik an der Säkularisierung daher wenig: „Almost all modern societies have become more diverse over the twentieth century, and almost all have become patently less religious in the process.“93 Gerade die Beliebigkeit von Glaubensinhalten und ihre Ökonomisierung bestätigen den Prozess der Säkularisierung. Ist nicht der Glaube an sich, die individuelle Begegnung mit einer göttlichen Instanz oder die Erfahrung einer Transzendenz, ausschlaggebend, dann sind die Gründe für die Verkirchlichung der amerikanischen Gesellschaft nicht in der Überzeugungskraft der Religion zu sehen, sondern in derjenigen der Ökonomie. Religious Economists verweisen in diesem Zusammenhang etwa auf das soziale Rahmenprogramm, das Konfessionsgruppen ihren Mitgliedern anbieten: von sportlichen Aktivitäten bis Häkelgruppen, Bücherclubs, gemeinsamen Mahlzeiten, Reisen, Seminaren zu verschiedenen Themen, Kindertagesstätten und Hausaufgabenhilfen. Man trifft Gleichgesinnte, Freunde, ja Lebenspartner und wählt aus einer Vielfalt an Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten aus, die das Leben mit Sinn erfüllen und Freude bereiten. Auf die Attraktivität sozialer Erfahrungen für den religiösen Kontext hat bereits Elias Canetti hingewiesen. Selbst der intime Moment der Begegnung mit einer höheren Instanz während des Gottesdienstes werde gerade wegen seiner gemeinschaftlichen Qualität genossen: „Wer einer Predigt beiwohnte, war gewiß im guten Glauben, daß es ihm auf die Predigt ankam, und er wäre erstaunt und vielleicht auch empört gewesen, hätte ihm jemand auseinandergesetzt, daß die große Zahl der anwesenden Hörer ihm mehr Befriedigung gewähre als die Predigt selbst. Alle Zeremonien und Regeln, die zu solchen Institutionen gehören, haben es im Grunde auf ein Abfangen der Masse abgesehen: lieber eine sichere Kirche voll von Gläubigen als die unsichere ganze Welt.“94 Die Entwicklung in den USA ist ein Fingerzeig für die Ökonomisierung religiöser Gehalte, wie sie auch in Europa längst begonnen hat. Ein breites Angebot an konfessionellen und spirituellen Glaubensgemeinschaften bildet den Markt für Ideen, die sich von den traditionellen Kirchen wegbewegt und zu Anthroposophie, Theosophie, fernöstlichen Selbstfindungstechniken und allen Arten von Esoterik reicht. Auf diesem Markt finden sich Gleichgesinnte, die für neue Glaubenserfahrungen viel Geld auszugeben bereit sind.

93Steve

Bruce: „Secularization and the Economic Models of Religious Behaviour“, in: The Oxford Handbook of The Economics of Religion, hg. von Rachel M. McCleary, Oxford and New York: Oxford University Press 2011, 289–302, hier 291. 94Canetti: Masse und Macht, 20.

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Ökonomische Theologie Können „Sinnsuchende“ aus einer Angebotspalette an religiösen Gemeinschaften auswählen, so sind es vor allem geteilte Werthaltungen, die Menschen zu Konfessionsgruppen zusammenführt. Diejenigen Erwartungen, Einstellungen und Haltungen in anderen zu finden, die den eigenen entsprechen, garantiert den Erfolg der „Missionierung“. In der Tat handelt es sich dann nicht um eine Glaubensumkehr im religiösen, sondern um eine Konversion im ökonomischen Sinn – eine Kaufentscheidung, die auf Präferenzen beruht. Da Werte der Zustimmung bedürfen, um Gültigkeit für sich beanspruchen zu können, lassen sie sich nur über solche Annahmen und Haltungen bestätigen. Religionen reklamieren indes universelle Werte oder auch Wahrheiten in einem zunehmend pluralistischen Umfeld für sich. Solche universellen Werte stehen wie auch in anderen Wissensbereichen jedoch nicht für „Wahrheiten“, sondern lediglich für Einstellungen. Im religiösen Kontext bestätigt sich die doppelte Codierung des Wertbegriffs als ideelle und als ökonomische Größe. Meinen Individuen in Glaubensgemeinschaften ideelle Wertvorstellungen wiederzufinden, so „investieren“ sie in diese Gemeinschaft nicht nur ihre Persönlichkeit – ihr eigenes Human Capital –, sondern auch ihr Geld, etwa durch Mitgliedsbeiträge und Spenden, um einen Gewinn an sozialem Status und Sinnangeboten zu erzielen. In der Religionsgemeinschaft verbinden sich also materieller Wert und ideeller Mehrwert. Der Monopolanspruch, den das Erklärungsmodell der „Religious Economy“ zur Beschreibung religiöser Gemeinschaften in den USA für sich beansprucht, beruht auf den ökonomischen Werten der „Rationalität“, „Objektivität“ und „Messbarkeit“. Auch für die Beurteilung von Religion gilt also, dass Werte keineswegs neutral sind.95 Ökonomen widerstanden dagegen lange der Einsicht in ihren Mangel an Wertneutralität. Ihre Begriffe schienen sich gerade wegen ihrer vermeintlichen Objektivität zur Beschreibung von religiösen Strukturen zu eignen. Mit der Zeit bestätigte sich indes der Verdacht, dass neuere ökonomische Theorien ihrerseits auf religiöse Vorannahmen zurückgehen. Interessierten sich Weber, Troeltsch, Sombart und Simmel aus historischem Interesse für die religiöse Herkunft ökonomischen Handelns, so glaubten sich ihre Nachfolger lange Zeit erhaben über die theologische Affizierung „wissenschaftlicher“ Thesen. Wertfreiheit, meinten moderne Ökonomen, sei durch den Bezug auf Fakten, empirische Studien, quantifizierende Verfahren und wissenschaftliche Theoriebildung a priori gegeben. Die nach dem Zweiten Weltkrieg dominante ökonomische Schule des Neoliberalismus

95Vgl.

z. B. Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton: Princeton University Press 1979, 364: „Only if we assume that there is a value-free vocabulary which renders these sets as ‚factual‘ statements commensurable can the positivist distinction between facts and values, beliefs and attitudes, look plausible. But the philosophical fiction that such a vocabulary is on the tips of our tongues is, from an educational point of view, disastrous. It forces us to pretend that we can split ourselves up into knowers of true sentences on the one hand and choosers of lives or actions or works of art on the other.“

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leitete sich selbstverständlich nicht nur von europäischen Einflüssen ab, sondern war eine Variante des „Economic Progressivism“, wie sie von Paul A. Samuelson vertreten wurde. Unter dem späteren Nobelpreisträger avancierte die ökonomische Abteilung des Massachusetts Institute of Technology zu einer führenden Institution. Wenig überraschend, spricht eine ursprünglich dem Ingenieursgeist verpflichtete Einrichtung nun vom „Social Engineering“, also der geregelten, durch staatliche Eingriffe zu lenkenden ökonomischen Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft. Das Dogma Samuelsons war der Glaube an den beständigen ökonomischen Fortschritt, den er in seinem überaus erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Lehrbuch Economics. An Introductory Analysis (1948) vertrat. Ökonomie spiegelt für Samuelson ein Wertesystem des rational ausgerichteten Fortschritts, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der amerikanischen Gesellschaft vorherrschte. Wenn wir Ökonomen als Priester des säkularen Zeitalters betrachten, erscheint die theologische Variante der Ökonomie von besonderem Erfolg geprägt zu sein.96 Der messianische Fortschrittsglaube, der mit der vernünftigen Steuerung wirtschaftlicher Abläufe verbunden war, wurde von der Chicago School of Economics und besonders von deren prominentestem Vertreter Milton Friedman zwar geteilt, verschob den Akzent aber auf individuelles Unternehmertum und einen von staatlicher Reglementierung befreiten Markt.97 Als Protest-Bewegung gegen Marktbeschränkungen kam der Chicago School of Economics die Rolle protestantischer Reformer zu, die der geltenden Lehre entgegenstanden, auch wenn ihre eigene Leitidee – Fortschritt durch rationale ökonomische Selbststeuerung – von ähnlicher Natur war.98 Das Credo des American Progressivism wurde von den

96„Economics

both promoted and reflected a value system of rationally directed progress that was dominant in American society from the end of World War II into the 1960s, and is still very influential today. If economists have in the end been priests of a secular religion, the ‚theology‘ of economics was particularly well expressed in Economics“, kommentiert Robert H. Nelson: Economics as Religion. From Samuelson to Chicago and Beyond, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press 2001, 16. Nelson merkt an, dass von Samuelsons Buch, gemeinsam mit der seit 1995 erschienenen Neuauflage unter der Ägide von Co-Autor William Nordhaus insgesamt mehr als 3,5 Mio. Exemplare verkauft wurden.

97Dass

ein Markt nur dann wirklich „frei“ sein kann – und zwar im Sinne von für alle vorteilhaften Ergebnissen – hat Alvin E. Roth hervorgehoben, z. B. in Who Gets What and Why. Nur wenn klare Regeln einen reibungslosen Ablauf von Austauschprozessen erlauben und Mechanismen greifen, die Regelverstöße sanktionieren, könnten Marktteilnehmer auf ideale Ergebnisse hoffen: „Just what is it that allows a market to function freely? When we speak about a free market, we shouldn’t be thinking of a free-for-all, but rather a market with well-designed rules that make it work well. A market that can operate freely is like a wheel that can turn freely: it needs an axle and well-oiled bearings. How to provide that axle and keep those bearings well-oiled is what a market design is about“ (13). 98„If progressive religion has served as the gospel of this national church of America, the Chicago school of economics has protested that American Progressivism preaches a false religion, and that the church itself has been corrupted to serve special interests and other private purposes. Washington, D.C., is the new Rome where the original American virtues have been lost“, Nelson: Economics as Religion, 18.

Ökonomische Theologie

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sozialen Aufgaben, die der Cambridge School am MIT eignete, bald enthoben. Man vertraute wieder auf die „invisible hand“, die der Konzentration auf das individuelle Wohlergehen das Wort redete, denn letztlich würde, so das bis heute vorgebrachte Argument, der Erfolg Einzelner das Lebensniveau der Gemeinschaft anheben. Erschüttert wurde der Fortschrittsglaube des American Progressivism dennoch, und zwar nicht nur durch geopolitische Kriege, sondern vor allem durch krisenhafte Schwankungen auf den Märkten, wie sie in der sogenannten Ölkrise der 1970er Jahre sichtbar wurden. Bis über die 1960er Jahre hinaus hatten Ökonomen den Status von Hohepriestern, die den ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts mit wissenschaftlichem Eifer zu Leibe rückten. Sah man die verheerende Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialisten und Bolschewisten in der Tradition fanatischer religiöser Glaubenskriege – der religiöse Charakter von Bolschewismus und Nationalsozialismus sei laut Eric Hoffer anerkannt: Hammer und Sichel sowie Swastika stünden in derselben Klasse von Symbolen wie das Kreuz; das Zeremonienhafte von Militärparaden sei mit religiösen Prozessionen zu vergleichen; Religionen teilen mit Ideologien Glaubensartikel, Heilige, Märtyrer und gesegnete Grabstätten99 –, so können wir uns Ökonomen als säkulare Heilsbringer jenseits religiöser Bindungen vorstellen. Die Annahme der ideologischen Unantastbarkeit der Ökonomie war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eng mit der Hoffnung auf irdische Erlösung verknüpft, wie sie noch vor dem Ersten Weltkrieg von Bertrand Russell formuliert worden war: „If rational men cooperated and used their scientific knowledge to the full, they could now secure the economic welfare of all“.100 Die Entdeckungen der modernen Wissenschaft, so hofften viele, würde erstmals in der Geschichte der Menschheit die effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen erlauben und so zu individuellem Reichtum, aber auch zur gleichen Verteilung von Gütern unter allen Menschen führen. Die Mittel der modernen Ökonomie könnten endlich die Probleme von Armut und Entbehrung lösen, eine offene, auf Kooperation und Glückseligkeit beruhende Gesellschaft hervorbringen.101 Ein goldenes Zeitalter, ewiger Friede und innere Ruhe sind Utopien, wie sie Weltreligionen in ihren Lehren zu verwirklichen versprechen. Nun kamen sie vonseiten der Ökonomie. Robert H. Nelson bezeichnet die religiöse Grundierung ökonomischer Theorien als „Economic Theology“, als deren Vater wir Adam Smith zu erachten hätten. Die von der römisch-katholischen Kirche inspirierten Vorstellungsmuster von

99„The religious character of the Bolshevik and Nazi revolutions is generally recognized. The hammer and sickle and the swastika are in a class with the cross. The ceremonial of their parades is the ceremonial of a religious procession. They have articles of faith, saints, martyrs, and holy sepulchres“, Eric Hoffer: The True Believer, New York: Harper Perennial 1989 [erstmals 1951], 18. 100Bertrand

Russell: „Personal Statement“, in: Living Philosophies: A Series of Intimate Credos, New York: Simon & Schuster 1931, 9–19, hier 17. 101Ebd.

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Smith gehen wiederum auf John Locke zurück.102 Während die protestantisch-­ reformerische Seite der ökonomischen Theologie bei Jean-Jacques Rousseau ansetzt, um später auf Charles Darwin, Herbert Spencer, Karl Marx und Sigmund Freud überzugehen. Für Freud kam die Entdeckung der unbewussten Fesseln des Ichs einer Befreiung von orthodoxen Vorstellungen der Psyche gleich. Sein psychologisches Modell der Triebökonomie beruhte auf den Prinzipien der Kosten-Nutzen-Analyse, Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung. Nelson zufolge waren Heilsvorstellungen ausnahmslos allen visionären ökonomischen Denkern eigen. Ökonomen müssen wir daher einer religiösen Gilde zurechnen, deren Repräsentanten den Status von Priestern haben. Als Priester der ökonomischen Theologie, so Nelson, sitzen Ökonomen an den Hebeln der Macht. Zwar hätten sie weder persönlichen Reichtum, Ländereien, Reiche oder militärische Unterstützung, um ihre Interessen durchzusetzen. Ihr Einfluss sei stattdessen der einer moralischen Autorität – eine Macht, die dem Wohlfahrtsstaat zu Legitimität verhelfe. Regierungen, die Gesetze mit den Argumenten des ökonomischen Fortschritts und der gesellschaftlichen Vernunft verabschiedeten, erhielten den Segen von Ökonomen, während all jene, die sich dem Fortschritt entgegenstellten als illegitim an den Rand gedrängt würden.103 Bewegen sich die Schulen der modernen Ökonomie seit Smith im Spannungsfeld von Selbstinteresse und gesellschaftlichem Nutzen, vermengen sich in den Vereinigten Staaten eigene wirtschaftswissenschaftliche und religiöse Anschauungen mit solchen, die aus Europa importiert wurden. Mochten etwa Durkheim und Weber anfangs nur spärlich zur Kenntnis genommen worden sein, kamen Marx und später vor allem Keynes auf der einen Seite, den Österreichern von Mises und von Hayek sowie Oskar Lange als erklärten Gegnern des Kommunismus und Befürwortern eines wenig regulierten Marktes auf der anderen Seite große Bedeutung zu. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Verwandlung theologischer in ökonomische Dogmen ins Auge fassten. Keynes beispielsweise stimmte in seinem Essay „Economic Possibilities for our Grandchildren“ (1930) dahin gehend mit Marx überein, dass der Kapitalismus mit seiner Profitgier, seinem Konkurrenzprinzip und seiner Förderung von Egoismus als „verabscheuungswürdiges“ System erachtet werden müsse.104 Keynes glaubte, durch 102Robert

H. Nelson: Reaching for Heaven. The Theological Meaning of Economics, Savage, Maryland: Rowman & Littlefield 1991, 95–106. 103„As the priest of this economic theology, economists today properly sit at the centers of power. They have no personal wealth, lands, empire, or military supporters to give them influence. Their influence is rather a moral authority – the power to dispense legitimacy in the contemporary welfare state. Government acts that advance the economic progress and the rationality of society receive the blessings of economists; those that impede progress are deemed illegitimate“, Nelson: Economy as Religion, 8. 104„In his 1930 essay […], Keynes agreed with Marx (and Jesus) that capitalism – necessarily grounded in the desire for money and the competitive workings of self-interest in the market – is a ‚disgusting‘ system, characterized by motives unworthy of human beings“, Nelson: Economics as Religion, 30. Nelson bezieht sich auf John Maynard Keynes’ Aufsatz „Economic Possibilities for our Grandchildren“, der in einer neueren Ausgabe vorliegt, in: Essays in Persuasion, mit einer neuen Einführung von Donald Moggridge, Houndmills (UK) und New York: Palgrave MacMillan 2010, 321–332.

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den Markt dem Übel der Knappheit an Gütern ein Ende bereiten und eine neue Ära der Menschheit einleiten zu können. Er berief sich dabei auf die christliche Tradition und entwarf ein ökonomisches Modell, das den Kapitalismus von seinen inhumanen Auswüchsen befreien und einem höheren Ziel zuführen sollte. Obwohl auf fiskalische und monetäre Aspekte konzentriert, teilte Keynes daher im Großen und Ganzen die von Franklin D. Roosevelt eingeleiteten Reformen, die den Schrecken der Inflation in Europa im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zähmen und die Folgen der Großen Depression überwinden sollten. Keynes’ und Roosevelts Vorschläge waren von symbiotischer Natur und verfolgten ähnliche Ziele: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Schaffung von sozialer Sicherheit, die Abschaffung von Ungleichheit und die Sicherung dauerhaften ökonomischen Wachstums.105 Die Reformen, die Roosevelt als „New Deal“ der amerikanischen Öffentlichkeit in seinen Wahlkampfreden bis 1930 vorstellte und nach seiner Amtsübernahme in den folgenden Jahren schrittweise umsetzte, rechtfertigten sich zum Teil aus der „Social-Gospel“-Bewegung des späten 19. Jahrhundert. Wie leicht ökonomische Schwankungen zu großen Härten führen konnten, hatte die Bevölkerung nach dem „Black Friday“ 1929 erfahren müssen. Die Ideen der Bewegung trafen daher innerhalb des American Progressivism auf große Zustimmung. Wirtschaftlicher Fortschritt zum Wohle aller lautete das Motto, das die Anhänger der SocialGospel-Bewegung aus der Bibel ableiteten und so die Ökonomie kurzerhand zu einem Werkzeug Gottes erklärten. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätten die Gründer der Social-Gospel-Bewegung damit begonnen, christliche Glaubensvorstellungen mit staatlichen Strukturen zu verbinden, das individuelle Bedürfnis nach Glück, Harmonie und Wohlergehen also auf die Gemeinschaft zu verschieben. Nachdem sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorübergehend an Einfluss gewonnen hatten, schlug ihre Stunde mit den ökonomischen Krisen der späten 1920er Jahre.106 Roosevelt pries den „New Deal“ als ebenso notwendige wie christliche Antwort auf einen entfesselten Kapitalismus und wurde von Katholiken wie Protestanten in den Vereinigten Staaten für seine ethischen und humanen Zielsetzungen gelobt. Der „New Deal“ verwirklichte jedoch lediglich die sozialen Ideen und Prinzipien, die der christlichen Religion immer schon in der einen oder anderen Form

105Vgl. John Kenneth Galbraight: „Roosevelt, Keynes, and the Complementary Revolution“, in: Challenge 26.6 (1984), 4–8. Keynes dachte nicht nur in der Tradition von Marx, sondern der Bibel, an die auch, wie Galbraith meint, seine schwer verständlichen stilistischen Manierismen erinnern würden (ebd., 6). 106„In introducing the New Deal, Roosevelt and his allies revived the old language of the so-called Social Gospel to justify the creation of the modern welfare state. The original proponents of the Social Gospel, back in the nineteenth century, had significantly reframed Christianity as a faith concerned less with personal salvation and more with the public good. They rallied popular support for Progressive Era reforms in the early twentieth century before fading from public view in the conservative 1920s. But the economic crash and the widespread suffering of the Great Depression brought them back into vogue“, Kruse: „One Nation under God“, 5.

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eigen war, indem nun das in der Bibel verankerte Versprechen auf „tägliches Brot“, auf Unterkunft und Sicherheit zum Ziel der Wirtschaftspolitik erklärt wurde.107 In vielen seiner Reden gebrauchte Roosevelt Anspielungen auf die Bibel und bediente sich aus dem Repertoire spiritueller Rhetorik. In seiner „Acceptance Speech“ auf der Democratic National Convention in Chicago am 2. Juli 1932 verurteilte Roosevelt die „Verbeugung vor dem Mammon“ und fordert eine Abkehr von materiellen Werten: „To return to higher standards we must abandon the false prophets and seek new leaders of our own choosing.“108 Die Menschen in den Vereinigten Staaten würden sich dagegen nach Arbeit und Sicherheit sehnen, die mehr als nur Worte und Fakten, sondern „spirituelle Werte“ darstellten – „the true goal toward which our efforts of reconstruction should lead“.109 Die Besinnung auf spirituelle Werte ist für Roosevelt nicht von dem rapiden Verfall materieller Werte zu trennen. Die Forderung zur Reform ökonomischer Strukturen durch stärkere staatliche Eingriffe bedeutet für ihn zugleich geistige und moralische Führerschaft. Schnelles Handeln im Sinne ethischer Erneuerung sei geboten. Beides versprach Roosevelt bei seiner „First Inaugural Address“ am 4. März 1933. Der New Deal mit seiner Konzentration auf „relief“, der Minderung unmittelbarer Not, „recovery“, der Wiederbelebung der Wirtschaft, und „reform“, der Regulierung des Finanzsektors, fußte immer auch auf einer Verurteilung rein materieller Werte. Die Einsicht darin, dass materieller Reichtums kein Maßstab für Erfolg sein könne, meinte Roosevelt, sei unweigerlich damit verbunden, den falschen Glauben aufzugeben, öffentliche Ämter seien lediglich dazu da, persönlichen Stolz und Profit zur Schau zu stellen. Es müsse endlich damit Schluss sein, Banken und Konzernen ihre eigensüchtigen und kühl berechnenden Handlungsweisen zu verzeihen. So verwundert es kaum, dass das Vertrauen in der Öffentlichkeit schwinde, denn Vertrauen wird von Ehrlichkeit und Pflichtbewusstsein, von unverbrüchlichem gegenseitigen Schutz und von Selbstlosigkeit genährt.110 Wirtschaftsführer drängte der New Deal in die Defensive. Um ihr Image aufzubessern, suchte die National Association of Manufacturers (NAM), die einflussreichste Organisation amerikanischer Industrieller, die Hilfe von Public-­ Relations-Profis, richtete ein Pressebüro ein, verschickte Werbung und Briefe an

107Vgl.

ebd., 5 f. D. Roosevelt: „Acceptance Speech“, in: The Roosevelt Reader. Selected Speeches, Messages, Press Conferences, and Letters of Franklin D. Roosevelt, hg. von Basil Rauch, New York und Toronto: Rinehart 1957, 69–74, hier 73. 109Ebd., 72. 110„Recognition of the falsity of material wealth as the standard of success goes hand in hand with the abandonment of the false belief that public office and high political position are to be valued only by the standards of pride of place and personal profit; and there must be an end to a conduct in banking and in business which too often has given to a sacred trust the likeness of callous and selfish wrongdoing. Small wonder that confidence languishes, for it thrives only on honesty, on honor, on the sacredness of obligation, on faithful protection, on unselfish performance; without them it cannot live“, Franklin D. Roosevelt“, in: „First Inaugural Address“, in: ebd., 90–95, hier 91 f. 108Franklin

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alle Haushalte, schaltete Radio- und Kinowerbespots und verbreitete Pressemitteilungen an Tageszeitungen. Roosevelts Politik sollte diskreditiert werden. Das Budget der NAM für Werbemaßnahmen stieg während der ersten Amtszeit des ambitionierten Präsidenten um mehr als das Zwanzigfache von 36.000 US$ im Jahr 1934 auf 793.034 US$ drei Jahre später, ohne aber von großer Wirkung zu sein.111 Erst die Idee, sich auf Dogmen liberalen Wirtschaftens zu besinnen – Misstrauen in die Macht des Staates, die Forderung nach Beschränkung von Steuern und ein Ende von Eingriffen in den „freien“ Handel – und diese mit christlichem Gedankengut zu verbinden, führte zu einer folgenreichen Ideologie, die heute tief im amerikanischen Wirtschaftssystem verankert ist und dem Neoliberalismus den Boden bereitete. Als Fallbeispiel dient Kevin M. Kruse der damalige Präsidenten der NAM, Henning W. Prentis. 1940 strebte Prentis danach, das Potenzial der Religion für ökonomische Belange auszuschöpfen. Für seine Ziele wandte er sich aus guten Gründen an James W. Fifield Jr. Dieser hatte aus der hoch verschuldeten First Congressional Church in Los Angeles eine finanziell hervorragend ausgestattete Kongregation kirchlicher Einrichtungen gemacht, die ihren Mitgliedern viele Serviceleistungen bot. Freilich zählten diese Mitglieder in der überwiegenden Mehrheit zur wohlhabenden Oberschicht. Fifield hörte auf die „Nöte“ seiner Kirchenbesucher und versicherte sie ihres Seelenfriedens, indem er – ganz im Sinne des Protestantismus – Wohlstand als ein Zeichen von Gottes Gnaden darstellte. Uneigennützig war Fifield dabei sicher nicht. Nach Restrukturierung der First Congressional Church zahlte ihm die Gemeinde 16.000 US$ jährlich, ein Einkommen, das inflationsbereinigt heute etwa einer Viertelmillion Dollar entsprechen würde.112 Das Pfarramt erlaubte ein Leben in Luxus. Zum Haushalt zählt ein Butler, ein Chauffeur, ein Koch und ein ganzes Team von Haushälterinnen. Die Fenster waren mit Tiffany-Glas ausgestattet und die Wände zierten seidene Tapeten, um das großzügige Anwesen den zahlreichen Gästen in einem vorzüglichen Zustand präsentieren zu können.113 Bereits 1935 hatte Fifield „Spiritual Mobilization“ gegründet, eine Organisation, die der Auffassung war, dass die Freiheit und Würde des Individuums ein unveräußerliches und von Gott gegebenes Recht darstellt. Ausdruck fände dieses Recht in den Freiheiten zur politischen Meinungsbildung, zur Ausübung von Handel und zum Besitz von Eigentum. Der Kirche obliege die Pflicht zur Verteidigung dieses Rechts.114

111Kruse: 112Ebd.,

„One Nation under God“, 4. 10.

113Ebd. 114James Hudnut-Beumler meint, dass die protestantischen Kirchen in den USA im Bewusstsein der Vermittlungsfähigkeit des Geldes überhaupt erst zu ihrer institutionellen Größe gefunden haben: „At the heart of American religion lies a deep irony. Most religious accounts of why people should support their churches posit a relationship between human beings and a being beyond the human community. The only way to give money to God is to give it to a mediating human institution like a church, or perhaps to engage in direct charity on behalf of God, to provide a dollar or a meal to a beggar because that’s what God might do if God were here and worked with

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Prentis wusste um das politische Talent Fifields. Gemeinsam entwickelten ihre Anhänger eine Strategie zur Bekämpfung des New Deal. Fifield wandte sich mit einem Aufruf an 70.000 Prediger im Lande, um sie für seine Ziele zu gewinnen. Der „New Deal“, heißt es darin, unterminiere den Geist des Christentums und verlange nach einer Antwort; Amerika bewege sich auf eine Diktatur hin, weil es sich der gängigen Praxis von „Checks und Balances“ – den durch Gewaltenteilung festgeschriebenen Kontrollmechanismen staatlicher Institutionen – entziehe und alle Macht allein der Exekutive an die Hand gebe; wer hingegen mit Jesus an die Unantastbarkeit individueller Rechte glaube, der solle sich dafür einsetzen, die Führung des Landes wieder Individuen anzuvertrauen; was vielleicht für „unpatriotisch“ oder „interessengeleitet“ erscheinen möge, sei ganz im Sinne Jesu.115 Mit einer Heerschar an Gleichgesinnten wappnete sich Fifield für einen „Kreuzug“ gegen den moralischen Verfall, den Roosevelt seinerseits gerade in der Anbetung des Mammons und der Ausrichtung auf materielle Güter sah. Die demokratische Administration, hieß es nun, verehre „falsche Idole“ und, in Umkehrung christlicher Wertvorstellungen, wie sie von Roosevelt gepriesen wurden, erklärte Fifield, dass der Wohlfahrtsstaat kein Instrument der christlichen Lehre, sondern deren Perversion darstelle. Unter Zurückweisung der Social-Gospel-Ideale appellierte Fifield an eine geistige Haltung, die sich bald unter dem Namen des „Christian Libertarianism“ organisierte. Dieser wirtschaftsliberalen, von Theologie gestützten Bewegung zufolge, die später im Evangelikalismus Billy Grahams während der 1950er Jahren zur Blüte gelangte, solle sich jedes politische und ökonomische System einem individualistischen, kapitalistischen Ethos unterordnen.116 Während Roosevelt auf den ethischen und religiösen Werteverfall mit ökonomischen Maßnahmen reagierte, besann sich die konservative Rechte ihrer ökonomischen Wurzeln, um ihnen einen religiösen Anschein zu geben – eine Allianz von Evangelikalismus, Konservatismus und Liberalismus, die trotz ihrer inneren Widersprüche in den USA bis heute Bestand hat. War der freie Markt die Ursache Elends, das während der Großen Depression über die Menschen hereingebrochen war, so genügten Investitionen in die Propaganda-Maschinerie, um den Eindruck zu erwecken, der „New Deal“ sei eine Versündigung an den Prinzipien des Handels, die für jenes Elend verantwortlich war – eine missbräuchliche und einseitige Deutung der biblischen „Erzählungen“, die der Verteidigung ökonomischer Dogmen diente. Die Entwicklung in den

the material at hand. Thus religious people pay for God in the sense of paying to be in relation with God through religious institutions they support, and they sometimes pay for God as one might pay for lunch for a friend who is a bit short of money“, In Pursuit of the Almighty’s Dollar. A History of Money and American Protestantism, Chapel Hill: The University of North Carolina Press 2007, 7. 115„America’s movement toward dictatorship has already eliminated checks and balances in its concentration of powers in our chief executives. […] If, with Jesus, we believe in the sacredness of individual personalities, then our leadership responsibility is very plain. […] We may be called unpatriotic and accused of ‚selling out‘, but so was Jesus “, James W. Fifield Jr.: „Christian Ministers and America’s Future“ [Oktober 1938], zit. nach Kruse, One Nation Under God, 13. 116Vgl. Kruse, „One Nation under God“, 7.

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USA gibt einen Eindruck von der Ökonomisierung religiöser Gehalte, die auch in Europa begonnen hat.

Zivilreligion und ihre Spielarten Das Bündnis von Ökonomie und Religion, das die vorherrschenden wirtschaftlichen Schulen in den Vereinigten Staaten vor allem seit den 1930er Jahren auszeichnete, verstand sich nicht zuletzt als Antwort auf Ideologien, die in Europa im frühen 20. Jahrhundert zutage traten. In der Tat war die „ökonomische Theologie“ eine Variante des Liberalismus. Während Ökonomen in den USA die Fundamente des Kapitalismus nie ernsthaft anzweifelten, ging es um eine Akzentuierung von Wirtschaftsinteressen auf der einen und die Schaffung einer für alle Menschen akzeptablen Lebensweise unter christlichen Vorzeichen auf der anderen Seite. Ein „gerechter“ Markt war das Ziel der Debatten, wenn auch die Definition von Gerechtigkeit von der jeweiligen ökonomischen Schule abhing. Mit Schrecken beobachteten Ökonomen und Wirtschaftsführer die Entwicklungen in Russland, die mit der bolschewistischen Revolution von 1917 eingesetzt hatten: die Einführung der Planwirtschaft, Enteignungen, Verstaatlichungen und die vollkommene Entmachtung früherer Eliten. Auch der Faschismus italienischer Prägung, vor allem aber der deutsche Nationalsozialismus bedienten sich staatlicher Lenkungsinstrumente zur Steuerung ökonomischer Abläufe, die zum Teil sozialistischen Vorbildern aus dem Osten abgeschaut waren, nun aber vorwiegend der Umstellung auf eine Kriegswirtschaft zugeführt wurden. Alle staatskapitalistischen Wirtschaftsformen – ob im Namen des Sozialismus oder des Nationalsozialismus – betonten den Aspekt der „Gerechtigkeit“, während sie freie Märkte in mehr oder weniger starker Weise der Kontrolle unterstellen. Die Auswirkungen ungezügelter oder falsch akzentuierter Märkte wurde wiederum in der Hyperinflation deutlich, die in Deutschland während des Ersten Weltkriegs einsetzte und bis 1923 andauerte. Die politische Radikalisierung der deutschen Bevölkerung war unter anderem auf die Inflation zurückzuführen, die vor allem kleinere und mittlere Einkommensschichten traf und die Weimarer Republik politisch diskreditierte. All das bereitete amerikanischen Konzernen Sorge. Die wirtschaftspolitische Diskussion in den Vereinigten Staaten konnte auf Ökonomen bauen, die, wie bereits erwähnt, aus Europa emigriert waren, viele von ihnen aus Österreich. Von Mises hatte bereits 1922 massive Bedenken gegen den Sozialismus angemeldet.117 Auch von Hayek war, wie von Mises, ein entschiedener Gegner des Sozialismus. Nur Schumpeter brachte den marxistischen Theorien größere Sympathien entgegen.

117Vgl.

Ludwig von Mises: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, Jena: G. Fischer 1922; [engl. unter dem Titel: Socialism. An Economic and Sociological Analysis, London: Cape 1936].

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Die sich in den USA entfaltende „ökonomische Theologie“ des Liberalismus fand ihrerseits in den europäischen Ideologien des 20. Jahrhunderts eine Entsprechung. Walter Benjamin stellte fest, dass Kapitalismus und Kommunismus in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander stehen: „Wie der Kapitalismus dem Transzendenten eine Absage erteilt, ohne aufzuhören, sich formal auf Gott zu beziehen und ihn so zu seinem Kronzeugen macht, proklamiert auf vergleichbare Weise der Kommunismus offen seinen Bruch mit Gott, saugt dabei aber das transzendente Prinzip in maximaler Verdichtung auf. Dem revolutionären Transzendenten ohne Gott steht der kapitalistische Gott ohne Transzendentes gegenüber, und eben in der Spiegelbildlichkeit dieser Opposition, die ja eine Form von Identität ist, begründet die [Oktober-]Revolution ihren Anspruch, den Kapitalismus ein für allemal zu überwinden.“118 Die Feindschaft aller nicht-kapitalistischen Ideologien gegenüber traditionellen Konfessionen erklärt sich geradewegs aus der Konkurrenz, die ihnen vonseiten der tief verwurzelten und akzeptierten Glaubensgemeinschaften des freien Marktes erwuchs. Denn wie Religionen vertrauen Ideologien auf ein Arsenal an Werten, dem die Mitglieder einer bestimmten „Ideenlehre“ zustimmen. Der Wahrheitsanspruch, den sowohl Religionen als auch Ideologien erheben, wird daher ständig von einem Relativismus bedroht, und zwar durch die Konkurrenz von Glaubenssätzen, die sich zu festen Dogmen verhärten und einerseits Wahlmöglichkeiten bieten, andererseits jedoch gegenseitig ausschließen. Rituale und feierliche Gesten sind für die jeweiligen Ideologien nicht anders als für Religionen von größter Bedeutung. Bilden diese Rituale nicht schon über einen langen Zeitraum einen ideologischen Rahmen – wie etwa im Kapitalismus, der den traditionellen Religionen nach den Befunden etwa von Durkheim, Weber und Troeltsch nahesteht –, so erscheint ihre Einführung als zwanghaft und zeigt eine Neigung fürs Extreme. Den Anfang solcher zivilreligiösen Rituale, die der Unterstützung einer Ideologie dienten, machte der im Mai 1794 unter Maximilien de Robespierre eingeführte Culte de l’Être suprême. Der „Kult des höchsten Wesens“ hatte dem Bedürfnis der Menschen nach religiöser Zugehörigkeit Rechnung tragen wollen und pries den Staat als Identifikationsangebot, ohne aber auf Resonanz zu treffen. Die Idee kehrte in anderer Form zurück. Wenn auch weniger abstrakt, lassen die Führerkulte Stalins, Mussolinis und Hitlers keinen Zweifel an der Ausrichtung auf ein „höchstes Wesen“ aufkommen. Mit Monumentalbauten, wie sie bereits in den Entwürfen des Architekten Étienne-Louis Boulée zum Vorschein kamen, suchten die „Führer“ der jüngeren Ideologien, religiöse Kult- und Andachtsstätten zu imitieren. Rituelle Handlungen – von den Aufnahmeritualen in die Hitlerjugend oder in die Nationalsozialistische Partei, der Auszeichnung verdienter Mitglieder und einer Vielzahl an Kulten, die sich an erfundenen oder tatsächlichen Mythen orientierten – wurden etabliert, um diejenigen des Kapitalismus zu übertrumpfen. Verstanden sich Ideologien als Fundamente ideeller Wertegemeinschaften, so blieb ihr Bezug auf materielle Werte indes stets sichtbar. Denn

118Mikhail Ryklin: „Der Topos der Utopie. Kommunismus als Religion“, in: Baecker: Kapitalismus als Religion, 61–75, hier 72 f.

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diese Ideologien dienten in gewisser Weise als Rechtfertigungen für Vermögensumschichtungen, die beispielsweise mit sozialen Ressentiments, Rassenhass und nationalem Chauvinismus begründet wurden. Bezog sich der Nationalsozialismus auf „deutsche“ Werte, war damit immer auch die Minderwertigkeit „nicht-arischer Rassen“ gemeint. „Rassische Minderwertigkeit“ führte zu materieller Entwertung, physischer Demütigung, Gefangenschaft und Tod. Steigende „Profite“ aus den skrupellosen und grausamen Raubzügen durch Europa beschleunigten wiederum die mörderischen Aktivitäten der Nationalsozialisten. Die „Endlösung“ war nicht nur der Plan zur völligen Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen in Europa, sondern barg die Aussicht auf die Aneignung der um Hab, Gut und Leben gebrachten Menschen. Der auf verbrecherische Weise eingetriebene Gewinn erhielt durch den ideologischen Überbau Absolution, denn die Nationalsozialisten übertrugen das biblische Telos von der Wiederkehr Jesu und des auserwählten Volkes, das einst in ein himmlisches Jerusalem geführt werde, auf ihr Weltbild, damit aber auf das deutsche Volk – das Volk der Arier im rassereinen Paradies. Die Willkür und die Brutalität, mit der Ideologien ihre Werte durchsetzten und verteidigten, nährte den Wunsch nach der Bezähmung sowohl ihrer ideellen wie materiellen Auswüchse. Der Begriff der Werte bezog sich dabei sowohl auf ökonomische als auch auf geistige Prozesse, denn das Verhältnis von Religion und Ideologie auf der einen und Ökonomie auf der anderen Seite war durchlässig. Im Deutschland der Nachkriegszeit hatte der Erfolg der Christlich Demokratischen Union – einer Partei, die ihr Glaubensbekenntnis bereits im Namen zur Schau stellt – wenig mit der theologischen Fundierung von Politik, viel aber mit dem Versprechen von ökonomischer und politischer Sicherheit zu tun. Der Wunsch nach Stabilität im Großen und privatem Glück im Kleinen stand für die kriegserschütterte und traumatisierte Bevölkerung im Vordergrund. Man hoffte auf Gerechtigkeit für alle und glaubte zwischen den Angeboten einer am Sozialismus sowjetischer Prägung, wie sie die vor der Gründung der Bundesrepublik besetzte Ostzone repräsentierte, und einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, wie es die westlichen Alliierten favorisierten, wählen zu müssen. Die Einführung einer stabilen Währung im Westen ebnete den Weg für die Gründung der Bundesrepublik und stieß die Tür zu einem demokratischen, kapitalistisch geprägten System weit auf. Im Grunde war die Wahl zwischen den Systemen bereits entschieden, bevor es zum Plebiszit kam, denn die Alliierten ließen Geld sprechen. Das „European Recovery Program“, das 1948 vom US-Kongress verabschiedet und unter dem Namen seines Initiators, des US-amerikanischen Außenminister George C. Marshall, bekannt wurde, trug zum Erfolg des Kapitalismus als vorherrschendem Wirtschaftssystem bei. Die von der CDU propagierte Westanbindung gewann in der Bevölkerung nicht allein aufgrund des 13,12 Mrd. US$ schweren Wiederaufbaubudgets des „Marshall-Plans“ an Zustimmung, sondern auch wegen der Betonung einer im Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ angelegten gerechten Verteilung von Gütern und einem Maß an staatlicher Lenkung, das zwar die Freiheit des Marktes hervorhob, aber auch individuelle Sicherheit in einem Netzwerk sozialer Wohlfahrtsmechanismen zu gewähren versprach.

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Die Christlich Demokratische Union Deutschlands stand für ein Wirtschaftsprogramm ein, das sich trotz seiner Ähnlichkeiten mit dem „New Deal“ getrost als genuin deutsche Form einer „theologischen Ökonomie“ bezeichnen durfte. Dass sich die nun favorisierte kapitalistische Wirtschaftsordnung durchsetzte, war zu nicht geringen Teilen dem Durchsetzungswillen Ludwig Erhards zu verdanken. Erhard, der akademische Schwächen durch politisches Talent wettzumachen verstand, hatte das Konzept der sozialen Marktwirtschaft von befreundeten Ökonomen übernommen, die schon vor dem Krieg nach einem Kompromiss zwischen kommunistischer Plan- und kapitalistischer Laissez-faire-Wirtschaft gesucht hatten. Das Streben nach einer Alternative wurde angesichts der Schrecken, die von den ideologischen Auswüchsen des 20. Jahrhunderts ausgingen, zum dringenden Gebot. Erhard kannte den einflussreichen liberalen Ökonomen Alfred Weber aus München und war mit den Thesen der Freiburger Schule um Walter Eucken, Leonhard Miksch und Franz Böhm vertraut. Vor allem Röpke stand ihm nahe. Den Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ entlehnte er wiederum den Schriften seines Freundes Alfred Müller-Armack. 1948 hatte Müller-Armack eine religionssoziologische Studie vorgelegt, die nach der geschichtlichen Einheit des 20. Jahrhunderts fragt. Der Nationalsozialismus sei aus einer über Jahrhunderte zu beobachtenden „Auflösung des gemeinsamen Glaubensrahmens und der Wertüberzeugungen“ zu erklären, hieß es darin.119 Die nationalsozialistische Ideologie greife schließlich die nihilistischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf, verbinde sie mit einem radikalen Biologismus und einem von allen geistigen Werten gelösten Materialismus: „Je entschiedener man sich vom Herkommen abwendet, um so schmerzlicher wird das Gefühl der Leere und um so verzweifelter der Versuch, eine neue Glaubensstütze zu gewinnen.“120 Der Nationalsozialismus sei daher als „Glaubensbewegung“ in den geschichtlichen Horizont getreten121 und habe sich als „Pseudoreligion“ im Widerspruch zum „Christentum und seinen Kirchen“ etabliert.122 Nur wenig später erhielt der Zusammenhang von Christentum, Liberalismus und Totalitarismus auch in der Geschichts- und Politikwissenschaft zunehmend Aufmerksamkeit, vor allem seit Eric Voegelins „Der Liberalismus und seine Geschichte“ aus dem Jahr 1960. Mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte Voegelin mit einem zeitkritischen Standardwerk unter dem Titel „Die politischen Religionen“ (1939) den Boden für seine Totalitarismustheorie bereitet. Maßgebend ist dabei ein in den säkularen Bereich übertragener Gnosisbegriff. „Gnosis“ (von „γνῶσις“, „gnōsis“) bedeutet im Altgriechischen „Wissen“ oder „Erkenntnis“ und meint im

119Alfred

Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit, Münster: Regensburg 1948, 129. 120Ebd., 130. 121Ebd., 133. 122Ebd., 143. Die religiösen Züge der nationalsozialistischen Ideologie, vor allem aber der Rituale, die von der Partei geschaffen wurden, mögen zwar im Einzelnen unter Historikerinnen heute kontrovers diskutiert werden. Hier kommt es jedoch auf die Sichtweise an, die von einem Zeitgenossen selbst vertreten wurde.

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religiösen Kontext ein tieferes Wissen vom Sein Gottes und der Beschaffenheit der Dinge. Der Gnostiker entzieht sich der Welt, wie er zugleich ihren Untergang erwartet. Als Ebenbild Gottes ist dem Gnostiker Erlösung sicher. Nach Voegelins Theorie ist die Moderne von der Wiederkehr gnostischen Gedankenguts geprägt. Überzeugt von der Notwendigkeit des Untergangs einer in sich schlechten Welt, erwarte der moderne Mensch nicht nur die nahende Erlösung, sondern trägt aktiv zu ihrem Erfolg bei. Von Gott mit dem Wissen um die Methoden und politischen Korrektive zur Besserung beseelt, finde der Mensch in den Ideologien der Moderne sein Heil und trete schließlich aus der Rolle des Propheten heraus, um sich selbst zu verherrlichen, zum Führer oder zum „Gründer“ zu werden.123 Noch ohne Wissen um die Diskussion zur politischen Religion, erklärt Müller-Armack unterschiedliche „Wirtschaftsstile“, ganz in der Tradition Webers, Simmels, Sombarts und Voegelins, aus ihrer jeweiligen religiösen Einbettung ins gesellschaftliche Leben.124 Der Mangel an einem religiösen Fundament erscheint ihm als Fehlentwicklung, die einem materialistischen Wertbegriff geschuldet sei und notwendig in Menschenverachtung und Verbrechen münde. Seine Arbeiten zur Ökonomie und zur Religionssoziologie verbindet Müller-Armack daher von Anfang an mit der Forderung nach einem verbindlichen, Einheit und Orientierung gebenden spirituellen Überbau. Die „freie Ordnung“ kapitalistischen Wirtschaftens sei auf das verbindende Fundament sozialer Sicherungen zu stellen, wie sie in allen Religionen angemahnt, im Christentum aber zum vorherrschenden Prinzip erhoben würde. „Es gilt“, meint Müller-Armack in seinem frühere Studien zusammenführenden Werk Religion und Wirtschaft (1959), „nach den Erfahrungen, die wir mit der Auflösung einer sich zunehmend säkularisierenden Welt gemacht haben, […] eine auf sozialen Schutz und Freiheit gegründete Gesellschaft zu bilden“.125 Einerseits lassen sich in seiner Wirtschaftsauffassung die Regulierungstendenzen von Keynes und Roosevelt wiedererkennen, denen die Zügelung des Kapitalismus als christliche Pflicht erschien. Andererseits entstammt Müller-Armack einer liberalen Schule der Ökonomie, die der freien Zirkulation der Waren und des grenzenlosen Handels

123Vgl. Eric Voegelin: Die politischen Religionen, Stockholm: Bermann-Fischer 1939. In „Der Liberalismus und seine Geschichte“, 26, verweist Voegelin auf die Verbindung des Liberalismus zur Französischen Revolution und den Versuchen, eine Zivilreligion einzurichten. Robespierre bezeichnet Voegelin als Deisten, der mit seiner Idee eines „Kult des höchsten Wesen“ gegenüber Auguste Comte als rückschrittlich erschien. Comte bevorzugte einen „Kult der Vernunft“ und hatte eine „Religion der Humanität“ („religion de l’humanité) gestiftet. Vor allem Peter Berghoff steuert wichtige Einsichten zum Begriff der politischen Religion bei, Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, Berlin: Akademie Verlag 1997. 124Alfred Müller-Armack: Genealogie der Wirtschaftsstile. Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Kohlhammer 1941. 125Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart: Kohlhammer 1959.

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zusprach, wie sie von den USA und der Chicago School of Economics etwa durch von Hayek wieder nach Europa rückimportiert worden war.126 Den Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ hatte Müller-Armack in einer Reihe von Schriften seit etwa 1940 entwickelt. Ohne die Möglichkeit zur Veröffentlichung gegen Ende des Krieges, verbreitete er seine Ideen zuerst in Privatdrucken: „Der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft war der Versuch, eine Synthese zwischen freiheitlich-unternehmerisch-marktwirtschaftlicher Organisation auf der einen Seite und den sozialen Notwendigkeiten der industriellen Massengesellschaft von heute zu finden.“127 Nichts weniger bezweckte Müller-Armack, als „der Wettbewerbswirtschaft eine neue Legitimation zu geben, indem man den Akzent auf ihre allen Schichten zugutekommende Produktivitätsüberlegenheit und auf die Möglichkeit legte, sozialen Fortschritt besser und wirksamer als in einem versagenden Dirigismus zu erreichen“.128 Damit war die Grundlage für die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt. „Werte“ sollten rechnerisch zu ermitteln und sozial verbindlich sein, nämlich in Form von ökonomischen Indikatoren: Wachstum, Konsum, Exportdaten usw. Im Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre setzte nach Auffassung von Erhard, Müller-Armack und deren Gefolgsleuten die deutsche Gesellschaft den Ungerechtigkeiten der nationalsozialistischen Herrschaft eine gerechte, auf „ehrlicher“ Arbeit gegründete Gemeinschaft entgegen. Mehr als nur eine Wirtschaftsordnung, war die „soziale Marktwirtschaft“ die säkulare Form des katholischen Sozialgedankens und ein Versuch, gesellschaftliche Ausgrenzung durch Einschluss und Offenheit zu überwinden. Dass diese Gemeinschaft Züge der früheren weitertrug – etwa den Mythos von der „inneren“ Stärke eines Volkes, das in der Not durch Arbeit zueinander findet – ist nicht zu verkennen. Viele der neuen Mandatsträger ­rekrutierten sich aus den Reihen der früheren nationalsozialistischen Elite. Außerdem erhielt die Marktwirtschaft in Deutschland durch den Marshall-Plan einen Investitionsschub, ohne den sie sich nicht hätte etablieren können, denn eine wirtschaftlich starke Bundesrepublik war das beste Argument im Kampf gegen den Sozialismus. Wenn Müller-Armack meinte, Katholizismus und Ökonomie miteinander verbinden zu können, so beruhte die Religion, auf die er sich besann, nachdem er dem Nationalsozialismus abgeschworen hatte, auf der ökonomischen Theologie des Kapitalismus. Erhard, der noch unter den Nationalsozialisten in den wenigen von ihm publizierten Aufsätzen den staatlichen Einfluss akzentuierte und zumindest in Teilen einem Wirtschaftsdirigismus zugesprochen hatte,129 plädierte nach 1945 in

126Hayek

wurde nach seiner Zeit in Chicago Professor in Freiburg und Vorstandsmitglied des Walter-­Eucken-Instituts. 127Alfred Müller-Armack: Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke, Tübingen: Wunderlich und Stuttgart: Poeschel 1971, 51. 128Ebd., 50. 129Die Nationalsozialisten hatten 1936 einen Lohn- und Preisstopp verfügt und damit eine Reihe staatlich gelenkter Eingriffe eingeleitet, die der Kriegswirtschaft dienen sollten.

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Anlehnung an Müller-Armack für eine Öffnung der Märkte und die Freigabe von Preisen, während staatliche Instrumente der Steuerung und Gesetzesmaßnahmen für einen fairen Markt sorgen sollten. Seine Vorstellungen hatte Erhard zu Beginn seiner überregionalen politischen Karriere umrissen, und zwar kurz nach seiner Berufung auf den Posten des „Bizonendirektors der Verwaltung für Wirtschaft“ in Frankfurt a. M. In seiner Antrittsrede am 21. April 1947 erklärte er, dass nur eine Währungsreform im Bunde mit dem „Marshall-Plan“ und der gleichzeitigen Öffnung der Märkte den wirtschaftlichen Aufschwung sichern würde: „In einer Situation, in der es an den einfachsten Dingen fehlte, vom Schnürsenkel bis zur Seife, von der Zahnbürste bis zum Wohnraum, und der tägliche Kalorienbedarf nur mit Mühe, wenn überhaupt, gedeckt werden konnte, redete Erhard also vom Paradies.“130 Der Markt garantiere Freiheit, lautete die einfache Formel Erhards während ein freier Markt nicht nur die Not überwinden, sondern für Gerechtigkeit und Wohlstand sorgen würde. „Aus rauher Gegenwart“ meinte Erhard, „eröffnet sich ein versöhnlicher Ausblick in eine für unser Volk wieder glücklichere Zukunft“.131 Erhard schwang sich mit seiner Rede zum Hohepriester der Marktwirtschaft auf und gilt angesichts der raschen wirtschaftlichen Erholung in den 1950er Jahren vielen heute als Visionär, dem allein religiöse Attribute zur Beschreibung gerecht werden: „Die Lage schien ausweglos, aber Erlösung nicht länger unmöglich: War der Prophet nicht am Ende gleichzeitig der Messias?“132 Kapitalistische und planwirtschaftliche Systeme der Ökonomie berufen sich gleichermaßen auf ideelle Werte, wenn es um materielle geht. Umgekehrt verstehen beide Modelle materielle Werte als symbolische Repräsentationen ethischer Werte. Jene sind dem ökonomischen System nicht übergeordnet, sie werden durch die materiellen Werte, die sich durch sie erwirtschaften lassen, lediglich in bare Münze überführt. Religiös ist an diesem „Geist“ des Wirtschaftens, dass sich die für Religionen traditionelle Fixierung auf ein höchstes Wesen und auf eine höhere Wahrheit auf die Wahrheit der Warenwelt und die abstrakte Form des Zahlungsmittels beschränkt, ob sie nun im Dienst privaten Wohlstands oder der Gemeinschaft stehen. Die Mitglieder des jeweiligen ökonomischen Systems agieren dabei wie Mitglieder religiöser Gemeinden, die sich Regeln unterwerfen, Hierarchien akzeptieren, Rituale befolgen und den Verkehr mit ihrem „Gott“ im täglichen Austausch von Geld und Waren praktizieren. Wie eine überirdische Macht verleiht

130Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck 1999, 147. 131Ludwig Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf u. a.: Econ 1992, 61. 132Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 148. Erhards Politik war zu ihrer Zeit durchaus umstritten und wurde von Preissteigerungen, Generalstreiks und erbitterten politischen Fehden begleitet. Auch ist nicht klar, inwieweit die Aufhebung der Preisbindung und die Währungsreform tatsächlich die Initialzündung für die Wirtschaft gaben und ob nicht vielmehr die massiven Investitionen in Infrastruktur und Firmengründen für den Aufschwung verantwortlich waren.

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Geld Kraft und Gesundheit, erlöst von Armut und Not oder gewährt individuelles Glück.133 Schon im Diesseits, lautet ein Versprechen des Kapitalismus, kann sich das Tor zum Himmelreich für diejenigen öffnen, die sich, nach den Worten von Marx, dem Fetisch des Geldes unterwerfen. Der finanzielle Erfolg bekräftigt demnach die Gottähnlichkeit des Menschen, der durch Geld das Potenzial zur „Schöpfung“, das heißt zur permanenten Umwandlung von akkumuliertem Kapital in Waren besitzt. Bereits im Diesseits, lautet nicht minder das Versprechen des Kommunismus, lasse sich ein Paradies auf Erden schaffen, denn die wirtschaftlichen Güter sollen allen gleichermaßen zugutekommen. So ist es kein Zufall, wenn sich hierzulande religiös gesinnte Menschen häufig auf die im Christentum verankerten „Werte des Westens“ berufen134 und zugleich das Prinzip des gesteigerten Konsums als Mittel gegen religiösen Fanatismus ins Felde führen,135 denn Kapitalismus und Christentum sind auf komplementäre Weise miteinander verknüpft. Ökonomien des Glaubens spiegeln sich in den Märkten der Gegenwart: den Börsen und Umschlagplätzen von Gütern, Geldern und Wertpapieren, die den Charakter von Fetischen haben. Doch auch unser Alltag wird von ökonomischen Glaubensvorstellungen beherrscht. Kulte des Sammelns, der Verehrung von Stars, der Überformung des eigenen Körpers oder des Berufs stehen für den Wunsch nach einer Überschreitung des Selbst und nach Erfahrungen, die uns Steigerung und Befriedigung versprechen. Religion lebt fort, hat sich aber den Bedingungen des liberalen, kapitalistischen Marktes angepasst. Im Konsum und in ökonomischen Praktiken hat sich nicht nur der „Geist“ des Kapitalismus, sondern – mehr als nur in Schwundstufen und Überresten – derjenige religiöser Weltanschauungen erhalten. Säkularisationsprozesse sind daher keineswegs nur „Erzählung[en] von Verfall und Niedergang“ und somit „negative Teleologie“,136 sondern führen geradewegs zum Verständnis der Gegenwart, in der die Macht der Religion

133Anders beschreibt dagegen Norbert Bolz: Das Wissen der Religionen, 12, Religion als „anti-ökonomisch, denn Heil und Verdammnis sind nicht knapp. Im Glauben gibt es weder Knappheit noch Konkurrenz; daran ändert übrigens auch der Prädestinationsglaube nichts. Dass, wie ja Jesus selbst sagt, nur wenige auserwählt sind, bedeutet nämlich nicht Knappheit des Heils, sondern nur den Ausschluss einer Verkündigung für Jedermann.“ 134Ebd., 13. Atheismus erachtet Bolz als einen der „pathologische[n] Züge“ westlicher Selbstkritik (ebd.), religiösen „Fanatismus“ und atheistischen „Zynismus“ als gleichermaßen schädlich für das christliche Gemeinwesen. 135Als komplementäres Gegenstück zum Wissen der Religionen muss Bolz: Das Konsumistische Manifest, gelesen werden: „Der Konsumismus ist das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen“ (16). Mit „Weltgesellschaft“ bezieht sich Bolz auf die westliche Staatengemeinschaft, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, deren kapitalistisches Grundschema mit seiner gesteigerten Entleerung von Lebenssinn den Widerstand religiöser Fanatiker hervorrufe. 136Graf: Die Wiederkehr der Götter, 11. Ähnlich argumentiert Charles Taylor, der in A Secular Age die Evidenz Gottes und die Notwendigkeit des Glaubens gerade in Zeiten der Verwissenschaftlichung verteidigt und Säkularisation als Fehlschluss deutet.

Zivilreligion und ihre Spielarten

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ungebrochen ist, wenn auch unter ökonomischen Vorzeichen.137 Säkularisation wird von Kulturanthropologen und Philosophen daher zunehmend im Sinne jener Umgestaltungskräfte begriffen, die der Moderne eignen. Über die Stichworte „Rationalisierung“, „Ausdifferenzierung“ und „Verwissenschaftlichung“ hinaus, hat sich ein Verständnis von Moderne etabliert, das „vormoderne Formen und Institutionen der Magie, des Mythos und Kultus, der Religion und der Festlichkeit“ in sich aufnimmt, „ohne dass die darin gebundenen Energien und Bedürfnisse zugleich aufgehoben wären – sie werden vielmehr freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaft“.138 Das Unbehagen in der Kultur,139 das Freud noch als Zwang zur Triebunterdrückung im Zeitalter der Effizienz- und Profitsteigerung, der Selbstvermarktung und der existenziellen Unsicherheit, der Sinnentleerung und Orientierungslosigkeit beschrieben hat, erklärt sich für Böhme aus instabilen, distanzierenden und utilitaristischen Verhältnissen, in denen wir zu Arbeit, Umwelt und Menschen stehen. In einer als Moderne beschriebenen Epoche, die sich durch Beschleunigungstendenzen, erhöhte Mobilität, gesteigerte Leistungsanforderungen, permanente Kommunikation und kulturelle Indifferenz auszeichnet, finden Menschen kaum Identifikationsmöglichkeiten. Während sich Freud in seiner Studie auf die daraus resultierenden und zu heilenden Neurosen beschränkt, stellt Böhme ein Kaleidoskop an Ritualen dar, dass die Moderne als Fortführung von Glaubensformen zeigt, die vergessen schienen: „Lebensweltliche Praktiken werden aus kulturellen Traditionen geschöpft, die der Vormoderne entstammen und willkürlich in die Lebensökonomie eingebaut werden, unter modernen Vorzeichen.“140 Um unser Verhältnis zu den Göttern wieder herzustellen, beziehen wir aus den Angeboten der Konsumkultur Güter, die uns als Fetische dienen – Repräsentanten für die Anwesenheit höherer Mächte, die wir in ihnen verehren. Religion erscheint geradezu als Notwendigkeit, um der metaphysischen Indifferenz der Moderne zu begegnen, ohne aber zugleich traditionelle Glaubensformen einfach wiederbeleben zu können: „Gerade die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft hat überhaupt erst die Unvermeidlichkeit der Religion evident gemacht.“141 Das schließt die archaischen Ursprünge der Religion in der Ökonomie des Opferkults und der rituellen Gabe ein, die bis heute an den hochkomplexen Finanztransaktionen der großen Börsen eine Rolle spielen. Dass der Begriff der Religion dabei an Schärfe verliert, liegt

137Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion, München: Piper 1976, 7: „Religion ist überall. Sie ist in die internationalen Konventionen eingegangen und in die Staatsverfassungen, in das geltende Recht, in die Bildungsziele und das Erziehungswesen. Auf Religion beruft man sich beim Streit um Strafgesetze, um die Konstitution von Ehe und Familie, um die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft im ganzen, um das politische Programm.“ 138Böhme: Fetischismus und Kultur, 22. 139Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, Bd. IX, 191–270. 140Böhme: Fetischismus und Kultur, 22. 141Bolz: Das Wissen der Religion, 9.

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nicht am Mangel fachkundiger Definitionen, sondern an den ökonomischen Transformationsprozessen, die dem Relativismus der Konfessionen vorarbeiten und dabei zugleich religiöse Phänomene aus theologischen Kontexten befreien und auf andere gesellschaftliche Bereiche verteilen: „Denn zwar bewirkt die Säkularisierung kein Erlöschen der Religion, sondern ihre Vervielfältigung – aber doch eben um den Preis ihrer Unverbindlichkeit.“142

142Ebd., 17. Graf: Die Wiederkehr der Götter, 274, behält zwar Theologen vor, religiöse Begriffe zu bestimmen, preist aber jene Unbestimmtheit religiöser Semantik, die es auszumerzen gilt: „Gerade in der Unbestimmtheit der religiösen Sprache liegt ihre spezifische Leistungskraft, alles zweckrational fixierte Wissen und real existierende sozial-kulturelle Welten zu überschreiten. Religiöse Sprache erschließt in ihren konstitutiven Grundunterscheidungen von Diesseits und Jenseits Potentiale der Entgrenzung des Gegebenen“ – man möchte hinzufügen: ähnlich wie in anderen fiktionalen Bereichen, z. B. jenem der Literatur.

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Im Labor der Seele: Mehrwert und Minderwertigkeit

Die Vermessung der Psyche Hugo Münsterberg hätte sich wohl kaum träumen lassen, dass die von ihm angeregten Persönlichkeitstests zu einem milliardenschweren Geschäft werden würden. Um mehr über ihre verborgenen Talente und charakterlichen Besonderheiten herauszufinden, sind Menschen heute dazu bereit, viel Geld für derartige Tests zu zahlen. Weitaus größere Summen stellen nicht wenige der weltweit größten Betriebe in der Hoffnung bereit, durch Persönlichkeitstests die qualifiziertesten Bewerber identifizieren zu können. Hatte Münsterberg lediglich an eine nutzbringende Allianz von Psychologie und Ökonomie gedacht, erkannten findige Unternehmer das wirtschaftliche Potenzial psychologischer Evaluierungsverfahren. Profitgier werden wir Münsterberg daher nicht unterstellen dürfen. Stattdessen wiesen seine Interessen eine erstaunliche, über den Bereich des Akademischen hinausreichende Bandbreite auf. Kaum jemand in seiner Zunft war um die Jahrhundertwende so vielseitig und umtriebig. Die Angewandte Psychologie sieht in ihm ihren Gründer und die Kriminalistik erhielt durch seine Schriften entscheidende Impulse zu ihrer Modernisierung.1 Die Arbeits- und Organisationspsychologie, die nebenbei auch die Werbe- und Verkaufspsychologie in ihrem Kielwasser mit sich führte, bildete den Kern seiner Forschungen um 1910. Eignungstests und Assessment-Center verdanken sich ihm ebenso wie quantitative Auswertungsverfahren von Fragebögen zur Hebung der Arbeitsleistung oder die Professionalisierung von Personalabteilungen zur besseren Einschätzung des „Wertes“ von Mitarbeitern für ein Unternehmen. Durch Messmethoden sollten, seinem Verständnis einer praxisorientierten Psychologie zufolge, objektive Arbeit und

1In der Aufsatzsammlung On the Witness Stand. Essays on Psychology and Crime, New York: McClure 1908, stellte Münsterberg entgegen der herrschenden Orthodoxie das Erinnerungsvermögen von Zeugen infrage und zeigte die Ursachen falscher Bekenntnisse.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_6

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subjektive Neigung in ein Verhältnis zueinander gebracht, Arbeitsabläufe effizient und reibungslos gestaltet, Waren durch kluge Verkaufspsychologie dem Käufer schmackhaft gemacht werden. Münsterberg führte die von seinem Lehrer Wilhelm Wundt erlernten und weiterentwickelten Experimente zur präzisen Erfassung von Wahrnehmungs- und Reaktionszeiten, Erregungszuständen des Gehirns und Diagnosen von psychischen Abweichungen der praktischen Anwendung zu. Diente schon die klinische Psychologie nach allgemeiner Auffassung der gesellschaftlichen Gesundung, um sich auf einem Markt konkurrierender Individuen durchzusetzen, so verhalf die durch sie gesteigerte Produktivität dem noch jungen Feld der Psychologie zu allgemeiner Anerkennung. Dachte Wundt an die Skalierung psychologischer Abläufe, um in Zahlen objektive Fakten auszudrücken,2 ging Münsterberg in seinen Testverfahren bereits einen Schritt weiter. Die Psychophysik nach dem Modell Wundts verfeinerte Münsterberg zur Psychometrie, der Vermessung der Psyche. Münsterberg bediente sich einer Wissenschaftsmethode, die auf den Liberalismus des 18. Jahrhunderts zurückging. Denn die Psychophysik verdankte sich der Thermodynamik, diese aber, wie wir sehen werden, der von Smith propagierten Idee der freien Zirkulation der Waren. Die Optimierung von Arbeitsabläufen war der Absicht nach einer Verbesserung der persönlichen Normierung und der Hebung von Leistung geschuldet, die von staatlicher Seite erwünscht und von Unternehmen kategorisch verlangt wurde. Der Widerstand in den Belegschaften gegen die Vermessung ihrer Leistungsfähigkeit war daher gering. Wer es gewohnt war, Arbeit nach Stückzahlen, Gewichten oder Längeneinheit berechnet zu sehen, den wird ein neuartiges Vermessungsverfahren kaum überrascht haben. In der Tat hatte Münsterberg lediglich jene Instrumente zur Messung von Eignung und Arbeitseinstellung zur Verfügung gestellt, die jeder Mitarbeiterin längst durch den harten Alltag des Arbeitslebens bekannt waren. Persönlichkeitstests bestätigten lediglich die Grundsätze des Ökonomismus – eines auf Profitabilität ausgerichteten Denkens, das notwendig aus dem Konkurrenzprinzip hervorging. Bessere Werte versprachen höheren Lohn, größeres Prestige und sozialen Aufstieg – „Werte“, die sich nach dem Dafürhalten Münsterbergs durch Testverfahren miteinander vergleichen ließen. Begann das moderne, mit der Neuzeit einsetzende ökonomische Denken mit der Einführung der doppelten Buchführung, durch die Schulden und Gewinne gegeneinander aufgerechnet wurden, so stellte die Messung individueller Arbeitsleistung einen Schritt zur Festlegung des sozialen Status dar. Denn von der Arbeitsleistung sind im Kapitalismus menschliche Beziehungen unmittelbar betroffen. Durch Tests legen wir Hierarchien und damit Machtverhältnisse fest. Sie sind ein Instrument der sozialen Unterscheidung. Hierarchien im Betrieb

2„The new science of the individual was in keeping with earlier attempts to theorize about and measure individuality, for example phrenology, but its contribution was more diverse“, Jeroen Jansz: „Psychology and Society: An Overview“, in: A Social History of Psychology, hg. von Jeoen Jansz und Peter van Drunen, Malden, Massachusetts, u. a.: Blackwell 2004, 12–44, hier 34.

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s­ piegeln jene im Leben wieder. Soziale Unterscheidungen sind uns ebenso wichtig wie das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – ob im Beruf oder im Alltag. Privatleute schwärmen daher von Tests nicht weniger als Personalberater. Für viele Unternehmen sind Persönlichkeits- und Eignungstests zur Selbstverständlichkeit geworden, obwohl deren Aussagekraft, nach wissenschaftlichen Kriterien betrachtet, für gering gilt. Unter den am häufigsten genannten Persönlichkeitstests rangieren der von Isabel Myers und Katherine Cook Briggs 1926 entwickelte und auf Carl Gustav Jungs Persönlichkeitstypologie basierende „Myers-Briggs Type Indicator“ (MBTI)3 sowie der „Big-Five-Personality-Traits“-Test, der auch unter dem Titel „Five-Factor Model“ oder FFM bekannt ist, ganz oben. Weil Tests von genetischen Voraussetzungen ebenso wie von Umwelteinflüssen und kulturellem Kontext, von Klassenzugehörigkeit und Sozialisation abhängen, Testergebnisse von Probanden leicht erlernt und daher manipuliert werden können, zudem aktuelle Stimmungslagen während des Tests eine Rolle spielen, kann von Objektivität als Bewertungsmaßstab keine Rede sein. Ein gewichtiger Einwand gegen die Anwendung von Persönlichkeitstests besteht überdies darin, dass sie ein I­ n­ strument der Kontrolle sind und diejenigen, die sie – etwa aufgrund betrieblicher Bestimmungen – absolvieren müssen, sich deren Anforderungen anpassen. Nicht selten zerstören solche Tests Karrieren, greifen ins Privatleben ein und können für das psychische Wohlbefinden von negativem Einfluss sein. Zahlen bestimmen im modernen Zeitalter über das Schicksal von Menschen, als seien sie an die Stelle einer höheren Macht getreten. Wir glauben uns über den Vergleich von Testergebnissen und der Messung unserer Leistungen – von der Herzfrequenz über die täglich zu Fuß zurückgelegte Distanz – anderen nahe. Zahlenwerte sind das Mittel, um Menschen in Gruppen einzuteilen, Identität zu stiften und Zugehörigkeit zu schaffen. Wir vertrauen Zahlen, weil sie den Schein von Neutralität wahren. Die Weitergabe von Daten ist die Bedingung, unter der wir uns einer „Community“ anschließen können. Doch finden wir Gemeinsamkeiten oder komplementäre Charakterzüge gerade dort, wo wir sie sehen wollen, nicht, wo sie faktisch gegeben sind. Schon der Hinweis auf die Art des Tests genügt, um anderen anzuzeigen, wodurch wir uns auszeichnen und welchen

3Die Testmaterialien sind nur über die Myers-Briggs Company erhältlich und werden lediglich an zertifzierte Personen vergeben. Um ein solches Zertifikat zu erhalten, müssen Interessenten an einem einwöchigen Programm teilnehmen, das mit 2095 US$ zu veranschlagen ist. Merve Emre: The Personality Brokers. The Strange History of Myers-Briggs and the Birth of Personality Testing, New York: Doubleday 2018, wirft einen Blick auf die Geschichte des Tests und nennt ihn eine „dystopische Fiktion“ – „the Fantasy of the rational organization of labor“ (264). Ihre Kritik bezieht sowohl das Testverfahren als auch die Auswertungsmethoden und die Willkürlichkeit der „Kategorien“ ein: „Beyond all the pseudoscientific talk of ‚indicators‘ and ‚instruments‘ was a simple but subtle truth: the questionnaire reflected whatever version of yourself you wanted it to reflect, whether consciously or unconsciously. You could quickly become attuned to the pattern of the questions, their basic idiom of sociability, creativity, rationality, impulsivity. If you wanted to see yourself as odd and original or factual and direct, it required only a little bit of imagination to nudge the answers in the right direction“ (263 f.).

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Neigungen wir zusprechen. Das Internet leistet hier Vorschub. Selbstmitteilung durch Datenweitergabe ist geradezu der Standard für die gesellschaftliche Wertigkeit der Person geworden. Ob die Anzahl der Follower auf Twitter, die Bewertung eines Produkts oder einer Dienstleistung nach einem numerischen Code, „Bestof“-Ranglisten von Filmen, Büchern und Restaurants oder die Kreditwürdigkeit von Darlehensnehmern – Zahlen bestimmen über unseren sozialen Status. Manchen ist das Teilen („Sharing“) von Daten zur Religion geworden. Die Quantified-Self-Bewegung formt in vielen großen Städten weltweit „Communities“, in denen sich ihre Mitglieder wie in spirituellen Gemeinden neue Möglichkeiten der Selbstprüfung und Selbstoptimierung vorschlagen. Fitness-Tracker und andere Wearables – tragbare Geräte, die permanent Bilder, Bewegungen und Körperzustände aufzeichnen und in verwertbare Daten transformieren, um sie in Zahlen­ reihen aufzulösen und zu speichern – sollen helfen, das Gelöbnis zur Selbstoptimierung einzulösen. Der Persönlichkeitstest wird zur internalisierten Prüfung, die sicherstellt, dass wir uns anpassen. Gerade im digitalen Zeitalter ist der Selbsttest zur Sozialtechnik geworden. „Selbsterkenntnis durch Zahlen“ lautet das Motto der Quantified-Self-Bewegung, auch wenn Individualität fortan eine Sache numerischer Abweichungen ist. Wo Zahlen regieren, bestimmt Statistik darüber, wer wir sind.4 Zu den Methoden der Quantified-Self-Bewegung zählt das Lifelogging, die möglichst umfassende Dokumentation des Alltags durch automatisierte Fotografie. Erste Experimente führte Steve Mann 1994 am Massachusetts Institute of Technology mit einer tragbaren automatisierten Kamera durch. Seither wurden automatische Kameras und leichte Rechner nicht nur zu wertvollen Werkzeugen für Lifelogger, sondern schufen einen gewaltigen Markt für tragbare technische Geräte, deren Aufgabe darin besteht, uns zu beobachten. Nichts wird jemals vergessen, Erinnerung ist für Lifelogger zur Essenz des Lebens geworden. Als Gordon Bell 1999 damit begonnen hatte, sein Leben lückenlos in seinem MyLifeBits-Projekt zu dokumentieren, nahm seine Kamera alle zwanzig Sekunden ein Bild auf, also etwa 3000 Fotos täglich.5 Bell fertigte zudem Scans von allen handschriftlichen Notizen, E-Mails und Dokumenten an, die in seiner 47-jährigen Karriere als Computer-Ingenieur und Internet-Bürokrat anfielen, ergänzte seine Informationen um GPS-Koordinaten und wurde, nach eigener Darstellung, zum „librarian, archivist, cartographer, and curator“ seines Lebens. „I can offload my memory“, glaubt Bell, der sein „Experiment“ als „evolutionär“ und daher als notwendigen Schritt in der menschlichen Entwicklung bezeichnet: „I feel much freer

4Im

Wortlaut: „Self Knowledge Through Numbers“, http://quantifiedself.com/ (3. Dezember 2018). Überlegungen zum Lifelogging und zu einigen der folgenden Abschnitte im Zusammenhang mit der Kulturtechnik des Sammelns sind vom Autor in einem Aufsatz vorweggenommen, vgl. Christoph Zeller: „From Object to Information: The End of Collecting in the Digital Age“, in: Arcadia 50.2 (2015), 389–409. Vgl. hierzu auch Simanowski: Data Love, 28–33. 5Evgeny Morozov: To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism, New York: PublicAffairs 2013, 268.

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about remembering something now. I’ve got this machine, this slave, that does it.“6 Technologische Erinnerung ist indes mit derjenigen unseres Gedächtnisses nicht zu vergleichen. Während unser Gedächtnis Erinnerung fortwährend erneuert und unserer Gegenwart anpasst, sind Lifelogger wie Gordon Bell damit beschäftigt, sich zu dokumentieren und das Abbild eines Lebens herzstellen, das nicht gelebt, sondern nur quantifiziert wird – eine Verdopplung in codierter Form.7 Erst mit der elektronischen Vernetzung und der Schaffung gewaltiger Datenspeicher kommen Münsterbergs Absichten zur Vermessung menschlicher Tätigkeiten zur vollen Entfaltung. Der „immer strategischere Umgang mit Zahlen“8 steigt mit der Digitalisierung exponentiell an: „Algorithmen errechnen die Vertrauenswürdigkeit und die Intelligenz von Personen“, die „Schaffung von Megarepositorien vervielfacht nicht nur die Speichermenge, sie potenziert auch die Möglichkeiten, Daten miteinander zu verknüpfen. Der Übergang von der papiergebundenen Aufzeichnung und Archivierung zur digitalen Speicherung erlaubt nun eine quasi unbegrenzte Weitergabe und hebt die Ortsgebundenheit von Informationen auf“.9 Mehr Daten ebnen „den Weg zu einer datengetriebenen Prüf-, Kontroll- und Bewertungsgesellschaft, die nur noch das glaubt, was in Zahlen vorliegt. Soziale Selbsterkenntnis und Regulierung beziehen sich inzwischen so intensiv auf Daten, dass das Erkennen dessen, was ist, ohne sie kaum mehr möglich scheint“.10 Wenn Stephen Jay Gould auch zu Recht feststellt, dass keine Zahl den „generellen menschlichen Wert“ zum Ausdruck bringen könne,11 zeigt die soziopolitische Realität, dass Messdaten bestehende Tendenzen zur Fremdenfeindlichkeit und strukturellen Diskriminierung ganzer Gesellschaftsschichten zementieren und sogar rechtfertigen, denn in Zahlen kommen Werturteile gegenüber „Anderen“ zum Ausdruck. Biologischer Determinismus wird zur „sozialen Waffe“, sobald er die Lizenz zur Unterdrückung erteilt und niedrigen sozioökonomischen Status als Konsequenz einer vermeintlich wissenschaftlich erwiesenen biologischen Verfassung darstellt.12 Dass Ausgrenzung ein Instrument der biopolitischen Herrschaft

6Gordon

Bell and Jim Gemmell: Your Life, Uploaded: The Digital Way to Better Memory, Health and Productivity, New York: Plume 2010, 5. 7Der Erinnerungswahn gleicht demjenigen der Touristen, bei denen der Wunsch nach Bildern das Bedürfnis nach Erfahrung übersteigt: „Die Waffe der Touristen ist die Kamera. So betreten sie jede Kirche, jeden Tempel, jedes Museum und jede Aussichtsplattform im Nationalpark. Verschanzt hinter der Kamera eilen sie blicklos weiter, sobald das Nötigste getan ist. Im Dienste künftiger Erinnerung verspielen sie schonungslos die Gegenwart und opfern die Würde des Sehens dem Willen zur Archivierung“, Roberto Simanowski: Facebook-Gesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2016, 40. 8Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp 2017, 33. 9Ebd., 41. 10Ebd., 46. 11Stephen Jay Gould: The Mismeasure of Man, revidierte und erweiterte Ausgabe, New York und London: Norton 1996, 22. 12Ebd., 27.

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ist, hat Michel Foucault deutlich gemacht. Der Zugriff auf die menschliche Psyche war dabei von Anfang an auf die Erfordernisse des Liberalismus zugeschnitten. Psychisch Kranke wurden im Verlauf des 17. Jahrhunderts unter gleichen Bedingungen interniert wie Straftäter, Bettler oder Behinderte. Noch ehe Smith der freien Marktwirtschaft ein theoretisches Fundament verliehen hatte, waren Überwachen, Strafen und Heilen bereits Instrumente gesellschaftlicher „Hygiene“, die konkurrenzfähige „starke“ von „schwachen“, kranken und amoralischen Individuen absonderte. Wer der neuen Norm des arbeitsamen, erwerbstätigen und gewinnorientierten Bürgers entsprach, musste Repressionen nicht fürchten. Der Staat wiederum konnte sich auf die Konditionierung jener Untertanen verlassen, die ihren Teil zum wirtschaftlichen Wachstum beitrugen. Diejenigen, die sich den Bedingungen der Staatsräson hingegen wiedersetzten, waren Umerziehungsmaßnahmen ausgesetzt, die den ökonomischen Nutzen, die Bereitschaft zur Selbstbeobachtung und das Arbeitsethos steigern sollten. Was als „Wahnsinn“ erachtet wurde, fiel daher nicht länger einer außermenschlichen, dämonischen oder göttlichen Kraft, ja nicht einmal der medizinischen Begutachtung zu. Vielmehr gingen der Diagnose ökonomische Erwägungen voraus: „Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Wahnsinnigen in die Verfolgung des Müßigganges mit einbezogen werden. Von Anfang an haben sie ihren Platz neben den Armen, guten wie schlechten, und freiwilligen oder unfreiwilligen Arbeitslosen. Wie diese unterliegen sie den Regeln der Zwangsarbeit; mehr als einmal kommt es vor, daß sie ihre besondere Gestalt gerade in diesem einförmigen Zwang annahmen. In den Werkstätten, in die man sie bringt, heben sie sich durch ihre Unfähigkeit, zu arbeiten oder dem Rhythmus des kollektiven Lebens zu folgen, ab.“13 Entgehen schon psychisch Kranke nicht der „ethische[n] Verurteilung des Müßigganges“,14 dann Gesunde umso weniger. Durch Persönlichkeitstests Eignung, Leistungsbereitschaft und Lernwilligkeit festzustellen, ist daher die logische Folge einer ökonomischen Erwartungshaltung, der die experimentelle Psychologie Wundts und vor allem Münsterbergs – ob gewollt oder ungewollt – zuarbeitete. Münsterbergs Grundzüge zur Psychotechnik (1914) sollten der Auswertung von Daten eine, wie er meinte, solide wissenschaftliche Basis geben, die auf Kriterien wie Validität, Objektivität und Vorhersagbarkeit beruht. „Technik“ ist der für die Moderne prägende Begriff menschlicher Erfindungsgabe im Dienste wirtschaftlicher Interessen. Den ökonomischen Impuls an die Formen von Selbstoptimierung zu binden, unternahm Münsterberg zwei Jahre zuvor in seinem Standardwerk Psychologie und Wirtschaftsleben, das schon 1913 in erheblich veränderter Form auf Englisch erschien. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Münsterberg die Psyche in seinen Experimenten durch technische Apparate zu vermessen gelernt. Nun knüpfte er seine Kenntnisse eng an Fragen der wirtschaftlichen Produktivität. Das gelang, indem Psychologie und Ökonomie auf zwei

13Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 10. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1993 [frz. 1961], 91. 14Ebd., 92.

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Aktivitäten reduziert wurden: Verdinglichung und Bedürfnisbefriedigung. Können wir „das innere Erlebnis gleichsam wie ein wahrgenommenes Objekt behandeln“,15 steht der Homo oeconomicus sowohl im Dienst der Befriedigung nicht nur physischer als auch psychischer Bedürfnisse: „Das ganze Getriebe der wirtschaftlichen Welt wird in Bewegung gesetzt durch die Aufgabe, seelisches Verlangen zu stillen.“16 Mentale Objekte seien durch ihren dinglichen Status den Gütern der Ökonomie vergleichbar. Ging Münsterberg auf die Ökonomie zu, so schlug der von ihm bewunderte Frederick Winslow Taylor den umgekehrten Weg ein. In ihrem auf Konkurrenz, Leistung und Selektion ausgerichteten Denken unterscheiden sich beide nur wenig voneinander. Münsterberg ging es um die Steigerung des persönlichen Leistungsvermögens, Taylor setzte sich die Steigerung der industriellen Produktion zum Ziel. Seine Principles of Scientific Management waren nur ein Jahr vor Münsterbergs Psychologie und das Wirtschaftsleben im Jahr 1911 erschienen und wir dürfen die Änderung des Titels zu Psychology and Industrial Efficiency (1912) in der englischen Fassung als Tribut an den rasch an Einfluss gewinnenden Taylorismus interpretieren. Gerade im Management spielt das Element der Kontrolle eine ausgeprägte Rolle. „Controlling“ ist der wirtschaftswissenschaftliche Begriff jenes Bereichs der Unternehmensführung, dem Planungs-, Steuerungs- und Kontrollaufgaben zufallen. Arbeitskraft ist ein Bestandteil dieses Managementsegments und beruht auf Informationen, die zur Entscheidungsfindung bei der Bestimmung von Unternehmenszielen genutzt werden. Nutzen Unternehmen Zahlen als Informationsgrundlage, so stellt die Ökonometrie – die auf der Nutzung statistischer und mathematischer Modelle beruht – der Volkswirtschaft eine Basis zur Beurteilung ökonomischer Entwicklungen zur Verfügung. Die von Joseph Schumpeter und Ragnar Frisch entwickelte Methode lehnte sich ihrerseits an Verfahren der Psychophysik und vor allem der Psychometrie an. Ist es das Ziel von Managementmethoden, ökonomische Abläufe nicht nur zu steuern, sondern vorherzusagen, so kommen sie diesem Ziel durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Predictive Analytics deutlich näher. Die schiere Menge an Daten und die Geschwindigkeit, mit der diese Daten verarbeitet werden, sind Faktoren, die nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Unterschied zwischen

15Hugo

Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimentalpsychologie, Leipzig: Barth 1912, 145. 16Ebd., 144. Auch in der Psychoanalyse begegnet der Begriff des „Objekts“, etwa in der von Freud hervorgehobenen „Objektbesetzung“, der Verknüpfung seelischer Energie mit Ideen. Die Triebökonomie des Seelenlebens leitet sich vom Ökonomismus ab, der Vorherrschaft ökonomischen Denkens und wissenschaftlicher Modelle. Vor allem in seiner Einführung des Narzißmus (1914) hatte Freud den Begriff der Objektbesetzung verwendet. Eine Form des Größenwahns entzöge der Narzissmus der Außenwelt libidinöse Energie, um sie dem Ich als dem Objekt seiner Begierde wieder zuzuführen – ein Zustand im Kindesalter, der von symptomatisch narzisstischen Charak­ teren nicht wieder aufgelöst wird, vgl. Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus, in: Studienausgabe, Bd.  II, 37–68, hier 42–45. Auch in Das Unbewusste (1915) unterscheidet Freud nicht zwischen materiellen und imaginären oder ideellen Objekten, ebd., Bd. III, 119–173.

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analogen und elektronischen Datenauswertungen darstellen. Was sich heute durch Datenanalyse erschließen lässt, wäre noch vor einem halben Jahrhundert undenkbar gewesen. Durch die Sammlung zunehmend größerer Datenmengen wird jedes Individuum durch Maschinen „beurteilt“. Die neue Form der Psychoanalyse verbirgt den Analytiker hinter scheinbar objektiven numerischen Informationen, die durch Sammlung und Testverfahren zur Optimierung der Wirtschaftsleistung erhoben werden. In Wahrheit sind schon die Erhebungsverfahren, nach denen Daten gesammelt werden, Ausdruck von Werthaltungen. Wie die Ökonomie Kaufabsichten vorwegzunehmen sucht, um uns Waren schmackhaft zu machen, bevor wir uns unseres Verlangens bewusst sind, so wünschte Münsterberg, durch Psychotechnik einst Gedanken lesen und Ideen vorherzusagen zu können. Es überrascht kaum, dass neben vielen anderen Innovationen auch die Entwicklung des Lügendetektors von ihm ausging. Die Apparatur sollte die wahrheitsgetreue Aussage der Testperson garantieren. Durch Messung von Blutdruck, Puls, Atmung und elektrischer Leitfähigkeit der Haut wird jedes Wort auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit überprüft. Zwar lassen sich mit dem Lügendetektor Gedanken nicht unmittelbar lesen, durch gezielte Fragen wenn nicht ihre Wahrheit, so doch ihre Wahrscheinlichkeit mit großer Sicherheit feststellen. Predictive Analytics kann auf derartige Verfahren heute verzichten, denn die Informationen, die sie verwertet, stehen im Übermaß zur Verfügung. Die Kontrolle dieser Daten liegt in den Händen von staatlichen Institutionen und privatwirtwirtschaftlichen Unternehmen, nicht aber der Individuen, die sie bereitstellen. Entsprechend wird Chinas Social Scoring System, das bald jeden Bürger dazu nötigen wird, sich einer umfassenden Beurteilung durch Nachbarn, Vorgesetzte und „Freunde“ auszusetzen, Einfluss auf Kreditwürdigkeit, Stellenangebote, Wohnungsauswahl und Kaufoptionen haben. Das westliche Modell der Kontrolle unterscheidet sich lediglich durch den Schein von Freiwilligkeit, denn niemand wird – zumindest vordergründig – dazu gezwungen, Daten zur Verfügung zu stellen. Wer sich aber einem System verweigert, das unablässig gewaltige Mengen an Informationen über Einzelpersonen sammelt und zu Profilen ­zusammenstellt, bleibt letztlich außen vor. Die Möglichkeit, soziale Netzwerke zu knüpfen, Werbung in eigener Sache machen oder schlichtweg effektiv zu kommunizieren, sind dann nicht mehr gegeben. Wirtschaftliche Nachteile wären die Folge. Eine „Wahl“ ist schon deshalb nicht möglich, weil der technische Fortschritt zur Teilhabe zwingt. Nur wenige werden es sich leisten können, auf das Internet und auf Mobiltelefonie zu verzichten, ohne ökonomische oder soziale Verluste zu erleiden. Zugänge zu Ämtern oder Ärzten, Bibliotheken oder Informationsportalen sind nur durch die Verwendung eines Computers möglich. Nutzungsvereinbarungen, die wir durch einen Klick zu bestätigen haben, wenn wir Apps und Internet-­Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, sind daher eine Form der legalen Enteignung. Daten – bis hin zu den Inhalten etwa von E-Mails im Fall von Google – gehören mit dem Einverständnis der Enteigneten fortan jenen Firmen, die das technische Know-how, die Möglichkeiten zur Kommunikation oder zur Selbstdarstellung bereitstellen. Mithilfe von Nutzerprofilen, wie sie etwa Facebook auf breiter Basis anlegt, lassen sich Rückschlüsse

Die Vermessung der Psyche

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auf Vorlieben und ­Sehnsüchte, Kaufverhalten und Arbeitsethos, Eigenheiten und Einstellungen, politische Neigungen und religiösen Glauben ableiten. Daten, die sich auf diese Weise ansammeln, erlauben staatlichen Organen, wie der National Security Agency – dem größten amerikanischen Geheimdienst – oder dem britischen Government Communications Headquarter (GCHQ), das Privatleben von Millionen von Menschen auszuspionieren, wie wir seit den Enthüllungen Edward Snowdens über deren umfassende Data-Mining-Programme wissen. Ähnliche Programme erlauben aber auch privaten Firmen „Psychographic Profiles“ anzulegen, um durch den gezielten Einsatz von Wahlbotschaften – sogenanntem „Micro Targeting“ – auf das Abstimmungsverhalten von Bürgern einzuwirken. So hat bereits das Wahlkampfteam um Barack Obama 2011 und 2012 Facebook-Profile ausgewertet, um individualisierte Botschaften zu verschicken.17 Erst der Skandal um die in Großbritannien ansässige Firma Cambridge Analytica zeigte das kriminelle Potenzial großer Daten-Konzerne und die Ohnmacht von Nutzern, wenn persönliche Daten ohne deren Wissen und Einverständnis zur Erstellung psychografischer Profile missbraucht werden. „Offenheit, Pflichtbewusstsein, Extraversion, Neurotizismus, Lebenszufriedenheit, Intelligenzquotient, […] Mitteilsamkeit, Aufrichtigkeit, Selbstkontrolle“ und „sinnliche Reizbarkeit“ lassen sich dabei ohne Weiteres mit Daten zu Beruf, Ausbildungsgrad, Geschlecht und Alter sowie politischen oder religiösen Anschauungen kombinieren, wie ein Brief von Alexandr Kogan, einem Psychologen an der Cambridge University, an Christopher Wylie zeigt, einem früheren Cambridge-Analytica-Mitarbeiter.18 Das von Kogan und seinem einstigen Kollegen und später für Facebook tätigen Daten-Spezialisten Joseph Chancellor verwendete Modell sagt die Resultate des „Big-Five“Persönlichkeits-Tests für jede potenzielle Wählerin aufgrund von Facebook-Daten voraus und schließt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Wahlverhalten.19 Der 17Ed

Pilkington und Amanda Michel: „Obama, Facebook and the Power of Friendship“, in: the 2012 Data Election“, in: The Guardian, 17. Februar 2012, http://www.theguardian.com/ world/2012/feb/17/obama-digital-data-machine-facebook-election (3. Dezember 2018). 18Matthew Rosenberg u. a.: „How Trump Consultants Exploited the Data of Millions“, in: The New York Times, 17 März 2018, http://www.nytimes.com/2018/03/17/us/politics/cambridge-analytica-trump-campaign.html (3. Dezember 2018). Es erstaunt wenig, dass auch Palantir, eine vom deutschen Unternehmer Peter Thiel in den USA gegründete Firma, Cambridge Analytica bei der Auswertung von Daten beistand. Palantirs Geschäftsmodell fußt auf der Bereitstellung individueller, über Daten gewonnener Profile. Die Zusammenarbeit Palantirs mit dem amerikanischen CIA ist kein Geheimnis. Inwieweit die Manipulation von Wählerinnen und Wählern gehen kann, hat Carole Cadwalladr am Beispiel des Brexit gezeigt: „The Great British Brexit Robbery: How Our Democracy was Hijacked“, in: The Guardian, 7. Mai 2017, http://www.theguardian.com/technology/2017/may/07/the-great-british-brexit-robbery-hijacked-democracy (3. Dezember 2018). 19„With this model, Cambridge Analytica could say that it was identifying people with low openness to experience and high neuroticism. But the same model, with the exact same predictions for every user, could just as accurately claim to be identifying less educated older Republican men“, Matthew Hindman: „How Cambridge Analytica’s Facebook Targeting Model Really Worked – According to the Person Who Built it“, in: The Conversation, 30. März 2018, http://www.theconversation.com (3. Dezember 2018). Hindman erinnert zudem daran, dass die Möglichkeiten zur Vorhersage von Verhaltensweisen bereits 2008 von Michal Kosinski u. a. erörtert wurden: „Private

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Detailreichtum solcher psychografischen Profile ist erschreckend. Hugo Münsterberg würde es hingegen kaum überrascht haben, dass Daten zu kommerziellen und politischen Zwecken genutzt werden. Sein Konzept der Psychometrie zielte darauf ab, „durch exakte psychologische Methoden zu ermitteln, wie [eine] gesuchte Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse am leichtesten, am schnellsten, am besten, am sichersten, am nachhaltigsten erreicht werden könne“.20 Gemeint sind in Wirklichkeit die „wirtschaftlichen Bedürfnisse“ großer Unternehmen, nicht der analysierten Nutzer, die sich unter den Bedingungen der Effizienz und Profitabilität als Probanden in einem gewaltigen psychologischen Experiment wiederfinden.

Thermodynamik als Ordnungsprinzip Das neue Feld der Angewandten Psychologie war Wertphilosophie auf praktischer Grundlage. Glaubte man einst, sozialer Zusammenhalt, wie er im Bereich des „Sittlichen“ gegeben war, werde durch ethische Werte garantiert, meinte man nun, psychische Werte messen und moralisches Verhalten aus der Summe wissenschaftlich zu überprüfender Handlungsmuster erschließen zu können – eine Übertragung von Ideen auf Zahlen. Nach der Vorstellung Münsterbergs basierten Werte letztlich auf freien Willensentscheidungen, die auf rationale, experimentell nachweisbare, aber auch beeinflussbare Gefühle, Motivationen und Handlungen zurückgingen. Gerade in einer heterogenen Gesellschaft wie der US-amerikanischen fanden Münsterbergs Forschungen große Aufmerksamkeit. Hier war der soziale Zusammenhalt aufgrund verschiedener, durch unterschiedliche Kulturen geprägte Werthaltungen keineswegs selbstverständlich. Wie in keinem anderen westlichen Land mussten künstlich erzeugte Gemeinsamkeiten für Zugehörigkeit sorgen. Patriotismus und Feindbilder, die sich in zahlreichen kleineren und größeren Kriegen auf dem Kontinent – gegen einheimische Volksgruppen, im amerikanischen Unabhängigkeitskampf, im Konflikt mit der britischen Krone 1812, in der kriegerischen Auseinandersetzung mit Mexiko 1846–1848 und schließlich untereinander im amerikanischen Bürgerkrieg – aber auch außerhalb des Landes – z. B. gegen Spanien 1898 und auf den Philippinen 1899–1902 – entluden, gingen dem Aufstieg Amerikas zu einer Weltmacht voraus. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten diente wiederum als Projektionsfläche für die ökonomischen Hoffnungen und Wünsche seiner Einwanderer. Diese Wünsche trugen nicht wenig zum nationalen Selbstverständnis bei. Wo sich Werte erst formierten und an den sozioökonomischen Aufstieg gebunden waren, fand Münsterberg ein ideales Betätigungsfeld. Nach seinem Studium bei Wilhelm Wundt folgte er 1892 einer

Traits and Attributes are Predictable from Digital Records of Human Behavior“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), 9. April 2013, Bd. 110, Nr. 15, 5802–5805, https://doi.org/10.1073/pnas.1218772110 (3. Dezember 2018). 20Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben, 144.

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Einladung von William James, dem damals bekanntesten amerikanischen Psychologen, an die Harvard-University in Boston. Das zunächst befristete Engagement führte zwei Jahre später zur Berufung auf eine Professur. Münsterberg stieg bald zu einem allseits respektierten Psychologen auf. Unter anderem leitete er seit 1898 die American Psychological Association und wurde 1902 in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Mit vielen Größen des öffentlichen Lebens stand Münsterberg in unmittelbarem Kontakt, darunter mit dem 26. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Theodore „Teddy“ Roosevelt. Die Psychologie war inzwischen durch Wilhelm Wundt, ihrem einflussreichsten Advokaten, zu einer Leitdisziplin aufgestiegen. Experimentalpsychologische Labore wurden an zahlreichen Universitäten in der westlichen Hemisphäre eröffnet. Die Anstellung von Wundts Schüler bedeutete einen Gewinn an Prestige und machte Harvard zu einem Zentrum psychologischer Forschung in den USA. Wie später Münsterberg hatte schon Wundt die Psychologie als Naturwissenschaft betrachtet und beobachtete die verstehende, auf Johann Friedrich Herbart zurückgehende und später von Wilhelm Dilthey popularisierte Entwicklung jenes Zweigs psychologischen Erkenntnisgewinns mit Befremden. Auch wenn zwischen klinischer und verstehender Psychologie stets Brücken bestanden, hatte Wundt etwa für die Psychoanalyse Freuds und für die vielfältigen auf ihn folgenden Formen der Gesprächstherapie wenig übrig. Die Vorstellung eines Unbewussten war ihm fremd. Die Spaltung der Psychologie in eine klinische (psychiatrische und neurologische) und eine auf das Wort vertrauende Ausrichtung im 19. Jahrhundert konnte ihn nur verwundern. Überschneidungen gab es indes im Begriff der Werte, dem beide Wissenschaftskonzepte in nicht geringen Teilen Anstöße verdankten. Um die Jahrhundertwende versuchte sich eine auffällig hohe Zahl an Psychologen an wertphilosophischen Schriften. Neben von Ehrenfels,21 Meinong,22 Dilthey23 und Wundt, der in zahlreichen Schriften einen philosophischen Wertbegriff seinen durch Experimente gewonnenen quantitativen Werten gegenüberstellte,24 sind etwa auch August Döring25 und Robert Eisler26 als Beispiele für

21Vgl.

Christian von Ehrenfels: „Werttheorie und Ethik“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Psychologie 17 (1893), 76–110, 200–266, 321–363, 413–475 sowie 18 (1894) 77–97. Vor allem ist seine einschlägige Studie zu nennen: System der Werttheorie, Bd. 1, Allgemeine Werttheorie. System des Erkennens, Bd. 2, Grundzüge einer Ethik, Leipzig: Reisland 1897 und 1898. 22Alexius Meinong: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werth-Theorie, Graz: Leuschner und Lubensky 1894. 23Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, Leipzig: Duncker & Humblot 1883. 24Z. B. Wilhelm Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung, Bd. 1, Erkenntnislehre, Stuttgart: Enke 1880, und Bd. 2, Methodenlehre, Stuttgart: Enke 1883, sowie schließlich Bd. 3 der 4., umgearbeiteten und postum erschienen Aufl., Logik der Geisteswissenschaften, Stuttgart: Enke 1921. 25August Döring: Philosophische Güterlehre. Untersuchungen zur Möglichkeit der Glückseligkeit und über die wahre Triebfeder des sittlichen Handelns, Berlin: Gaertners Verlagsbuchhandlung 1888. 26Robert Eisler: Studien zur Werttheorie, Leipzig: Duncker & Humblot 1902.

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Gelehrte zu nennen, die den naturwissenschaftlichen Paradigmen und geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldern einen gemeinsamen wertphilosophischen Rahmen geben. Das als unzusammenhängend und beziehungslos, ungeordnet und zuweilen chaotisch empfundene Erleben erhalte demnach erst durch a priori gegebene Werte einen Sinn. Seit alters her war „Sinn“ die Domäne der Religion und so können wir verstehen, weshalb Werte auch unter den Bedingungen des naturwissenschaftlichen Fortschritts, der ökonomischen Volatilität und des sozialen Wandels mit religiösen Vorstellungen in Konkurrenz traten. Die akademische Diskussion um Werte, wie sie sich in vielen Fächern jener Zeit beobachten lässt, wartete indes mit Versprechen auf, die sich nicht einlösen ließen: dass Werte eine für verloren gehaltene gesellschaftliche Einheit wiederherstellen würden, dass die Möglichkeit zur Erlösung für jeden Einzelnen Wirklichkeit werde und dass der atomisierten Seele Heilung in Aussicht stehe. Auch Münsterberg vertrat die Ansicht, dass Gesellschaften auf den stabilisierenden Habitus von Werten nicht verzichten könnten. Werte waren für ihn in erster Linie Ordnungsprinzipien, wie aus seiner Philosophie der Werte aus dem Jahr 1908 hervorgeht. „Kultur“ versteht Münsterberg hier, seiner patriotischen politischen Gesinnung entsprechend, als Ausdruck sittlicher Stärke, die etwa an der Wirtschaftsleistung eines Landes gemessen werden könne. In der ökonomischen Schaffenskraft – dem Bruttoinlandsprodukt – drücke sich zugleich eine Metaphysik der Überlegenheit aus, die in der Nachfolge des deutschen Idealismus und des hegelschen Weltgeistes steht. Ohne die Bindung an ein metaphysisches Ich erscheint die Welt für Münsterberg als „wertlose[r] Zufallstraum“:27 „Der Sinn unseres Lebens ist zerrissen, die Welt, auf die sich unser Wirken erstreckt, muß zerfallen, wenn unser Wollen sich nicht mehr an einem Zielgefüge orientieren kann, das von allem Wünschen der Einzelmenschen, und mögen sie nach Milliarden zählen, im letzten Grunde unabhängig ist.“28 Münsterbergs Ausführungen sind deshalb bemerkenswert, weil sein Lehrer Wundt Psychologie immer als Gegenpol zur Metaphysik verstanden wissen wollte. Genauer besehen überwog unter Wundt ein physikalischer Positivismus, der der Psychologie den Geist austreiben sollte und der daher auch die Idee des Unbewussten strikt zurückwies. Freilich zeigt sich in Wundts Annäherungsweise an seinen Forschungsgegenstand eine gewisse Ironie, da gerade die von ihm durchgeführten Experimente die „stillen“ Mechanismen bloßlegen sollten, die auf das Wirken einer unsichtbaren „Kraft“ – nämlich der Funktionsweise menschlicher Psychologie – schließen lassen würden.29 Münsterberg vertrat 27Hugo

Münsterberg: Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung, Leipzig: Barth 1908, 38. 28Ebd., 35. Als Ziel seiner Lehrtätigkeit nennt er in seinem Tagebuch im März 1900 die „Harmonisierung eines positivistischen Studiums des menschlichen Lebens mit einem ethischen Idealismus“ nach dem Vorbild Kants und Fichtes, zit. nach Matthew Hale: Human Science and Social Order. Hugo Münsterberg and the Origins of applied Psychology, Philadelphia: Temple University Press 1980, 70f. 29Edward Reed: From Soul to Mind. The Emergence of Psychology from Erasmus Darwin to William James, New Haven: Yale University Press 1997, 98 f.

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ähnliche Anschauungen, ließ indes die Möglichkeit zur metaphysischen Erfahrung offen, indem er die äußere Realität als inexistent für das Subjekt erklärte, dem alle Eindrücke lediglich zur Folie für das innere Erleben dienten. Das ließ Raum für Spekulationen. Im Grunde, so Lorraine J. Daston, habe Münsterberg einen Keil in die Cartesianische Metaphysik getrieben: Was grundlegend für wissenschaftliche Erklärungen sei, war für ihn lediglich zweitrangig, wenn es darum ging, ein glaubhaftes Muster für die Erklärung der psychologischen Realität zu liefern.30 Kritiker warfen ihm deshalb zuweilen vor, das Feld der Wissenschaft verlassen zu haben und reine Spekulation zu betreiben. Umso handfester waren seine Ansichten darüber, worin sich Werte manifestierten. Schon in Der Ursprung der Sittlichkeit (1889) sprach Münsterberg staatlicher Autorität, sozialer Hierarchie, persönlicher Führungsstärke, der Dominanz des Mannes und der Unterordnung der Frau den Status von Werten zu. Tradition, Ordnung und Effizienz sind die Prinzipien, denen sich sein Konservatismus verdankte. Den sozialen Wandel und die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft, die Spannungen, die eine aggressive Kolonialpolitik an den Randzonen der kapitalistischen Oikumene – der, nach christlicher Vorstellung, bewohnten Welt – erzeugten und in seine Kerngebiete importierte, beobachtete Münsterberg wie viele seiner Zeitgenossen mit Wohlwollen, denn in der Unterwerfung fremder Kulturen zeigte sich für ihn die Überlegenheit der eigenen. Da naturwissenschaftliche Experimente erst durch ihren kulturellen Kontext an Bedeutung gewinnen, waren seine wissenschaftlichen Forschungen den wertphilosophischen Erörterungen untergeordnet. Den ökonomischen Hintergrund, der in Münsterbergs Wertvorstellungen stets mitschwang, blendete seine Wertphilosophie zwar aus, doch trat er in seiner Angewandten Psychologie umso stärker hervor. Wie einfach wäre es doch, wenn sich die Zahlenwerte aus Münsterbergs Experimenten tatsächlich umstandslos in ethische Werte übersetzen ließen? Was uns heute als naiv erscheint, war im 19. Jahrhundert unter Anatomen und Psychologen, Physikern und Biologen eine weitverbreitete Ansicht. Dabei mochten Psychologen des 19. Jahrhunderts nicht daran gedacht haben, sich in den Dienst der Ökonomie zu stellen, wenn sie Fragen der Philosophie behandelten. Längst aber hatten sowohl die Philosophie als auch die Naturwissenschaft ökonomische Prinzipien in sich aufgenommen. Der Messbarkeit von Werten und ihre Anwendung auf die menschliche Psyche lagen zunächst Annahmen aus der Physik zugrunde, die der Dynamik des Teilchenflusses und der Bedeutung des

30„In

effect, Münsterberg had driven a wedge between explanatory and metaphysical units: what was primary for the purposes of rendering a scientific explanation was only secondary for the purposes of a faithful account of the psychological reality to be explained. Hence, Münsterberg repeatedly berated his critics for misunderstanding his claims […]. However, Münsterberg’s critics were probably correct in their suspicions that once the active, self-determining will had been banished from the domain of science, no amount of ontological glorification would redeem it.“, Lorraine J. Daston: „Theory of the Will versus the Science of the Mind“, in: The Problematic Science. Psychology in Nineteenth-Century Thought, hg. von William R. Woodward und Mitchell G. Ash, New York: Praeger 1982, 88–115, hier 99.

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­ lektromagnetismus zur Anschauung verhalfen. Denn Werte ließen sich hier E in Graphen und Tabellen darstellen. Erst die Neurowissenschaften des 20. Jahrhunderts zeigten wieder ein ähnlich großes Interesse an biochemischen und physikalischen Prozessen. Hirnströme, die sich messen lassen, elektromagnetische Impulse, die bei der Übertragung zwischen Neuronen wahrgenommen werden, Areale, die durch Magnetresonanztomografie (MRT) sichtbar werden und verraten, welche Bereiche des Gehirns zu welcher Zeit und in welchen Zusammenhängen aktiv sind: Sie alle unterstreichen den physischen Charakter psychischer Vorgänge und bestätigten Wilhelm Wundts Lehrmeinung, dass Psyche und Physis eine Einheit bilden, oder, in der Sprache der Zeit: dass der „Geist“ von „Kräften“ dominiert werde, die es zu erschließen gelte. Daher ging es Wundt darum, dem individuellen psychischen Geschehen einen allgemeinen, naturgesetzlichen Rahmen zu verleihen. In der Psyche wie in der Physik, meinte Wundt in seiner 1880 und 1883 zunächst in zwei Bänden erschienenen Logik (der dritte Band erschien postum 1921), „bedeutet die Energie die gesamte ­W i r k u n g s f ä h i g k e i t eines bestimmt abgegrenzten Vorgangs oder einer zusammenhängenden Kette von Vorgängen […].“31 Unterliegen die „physischen Energien“ der quantitativen „physis­chen Größenmessung“, bezögen sich die „psychischen Energien“ auf „q u a l i t a t i v verschiedene“ und daher „allgemeine We r t g r a d e “.32 Im Verhältnis physikalischer „Größenwerte“ und psychischer „Wertgrößen“ drückt sich vielleicht am deutlichsten der psychophysische Zusammenhang aus, den Wundt im „P r i n z i p d e s Wa c h s t u m s d e r p s y c h i s c h e n E n e r g i e “ als Ergänzung zum Energieerhaltungssatz festhielt:33 Blieben „in der Natur“ die „physischen Energien konstant“, wachse gleichzeitig der „innere Wertgehalt dieser konstanten Energien innerhalb einer jeden kontinuierlichen Entwicklung“.34 Werte – seien sie nun physischer, mathematischer oder aber psychischer, also notwendig auch ethischer Natur – sind für Wundt demnach messbar, und wir dürfen vermuten, dass es für ihn lediglich eine Frage der Zeit war, wann wissenschaftliche Experimente seine Theorie bestätigen würden. Die gegenseitige Abhängigkeit von physischen und psychischen Elementen in einem System, das dem Energieerhaltungssatz in der Natur entspricht, ist wohl einer der wichtigsten Beiträge Wundts zu einer Theorie der Werte, die ansonsten von Philosophen dominiert wurde. Wundt konnte sich dabei auf seinen Lehrer Hermann von Helmholtz berufen, der mit „seinem Energiesatz universelle Wirkungsgesetze gefunden“ zu haben glaubte, „die für anorganische und organische Vorgänge gelten. Er plädierte für eine physikalische, physiologische und psychologische Befassung mit Phänomenen des Sehens und des Hörens und versuchte zu erklären, auf welche Weise eine Empfindung in eine Wahrnehmung

31Wilhelm Wundt: 32Ebd. 33Ebd., 34Ebd.,

274. 275.

Logik, Bd. 3., 273.

Thermodynamik als Ordnungsprinzip

221

transformiert wird“.35 Wundt wird Helmholtz in seinen Zielsetzungen folgen, betont indes die Bedeutung der Methode, die induktiv sein müsse und auf Experimenten zu beruhen habe, „um Gesetzesaussagen über das psychische Geschehen zu gewinnen“.36 Der erste Satz der Thermodynamik stellt Energie als Konstante dar und beschreibt Energiezustände als Ergebnis von Umwandlungsprozessen. Wahrnehmungen, wie sie Psychologen beschreiben und experimentell erschließen, entsprechen dann der Umwandlung von Energiezuständen durch ihre Einspeisung in den psychologischen „Haushalt“. Gemäß dem Energieerhaltungssatz können derartige Prozesse nicht rückgängig gemacht werden. Einmal Wahrgenommenes und Erlebtes bleibt innerhalb des Systems erhalten. Die Anwendung physikalischer Gesetze lagen dem einst zum Anatomen ausgebildeten und mit physikalischen Forschungen gut vertrauten Wundt stets nahe. Ein Vorbild konnte Wundt in Julius Robert Mayer sehen, einem Arzt, der den ersten Energieerhaltungssatz 1841 noch vor den Physikern James Prescott Joule und Ludwig August Colding formuliert hatte,37 bevor der Physiologe und Physiker von Helmholtz dann die bis heute gültige Fassung 1847 vorlegte. Wundt begann, wie Helmholtz, seine Karriere ebenfalls als Physiologe,38 bevor ihn seine Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung 1862 als Begründer der experimentellen Psychologie auswiesen. Nach der Eröffnung seiner Labore für experimentelle Psychologie 1879 in Leipzig, die dem Fach wissenschaftliche Anerkennung brachten, war es sein erklärtes Ziel, die Psychologie aus ihrer metaphysischen Tradition zu lösen und zu einer „grundlegende[n] Disziplin“ für alle Geisteswissenschaften auszubauen.39 Selbst die Erkenntnistheorie und die Ethik – traditionell der Philosophie verpflichtet – begriff Wundt nun als Interessensphäre der Psychologie. In Leipzig hatte Wundt regelmäßigen Umgang mit Gelehrten, Intellektuellen und Künstlern, unter ihnen etwa Rudolf Hermann Lotze, dem Urheber der Wertphilosophie. Lotze hatte, wie in Kap. 3 erwähnt, Werte erstmals in seiner Metaphysik 1841 beschrieben. Wundt wurde in gewissem Maße zu seinem Gegenpol. In dem ebenfalls in Leipzig beheimateten Gustav Theodor Fechner fand sich ein Vorbild und Mitstreiter. Über drei Jahrzehnte hinweg waren die beiden Psychophysiker Kollegen. Wie Wundt hatte Fechner die Bedeutung experimenteller Nachweise für psychologische Vorgänge hervorgehoben und so etwa den Bereich der Experimentellen Ästhetik begründet, der sich in mancher Hinsicht mit Wundts

35Georg

Eckardt: Kernprobleme in der Geschichte der Psychologie, Wiesbaden: VS Verlag für Naturwissenschaften 2010, 71. 36Ebd., 73. 37Vgl. Julius Robert Mayer: „Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur“, in: Annalen der Chemie und Pharmacie 42 (1842), 233–240. 38Für seine Untersuchungen über das Verhalten der Nerven in entzündeten und degenerierten Organen wurde Wundt 1856 promoviert. 39Wundt: Logik, Bd. III, 299.

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Forschungsinteressen überschnitt.40 Wie andere Naturwissenschaftler ging Wundt von Hypothesen aus. Seine durch Experimente gewonnenen Werte, sollten die „Einheit der Apperzeption“ und die „aus ihr entspringende Einheit des Bewußtseins“41 belegen, die wir später in Münsterbergs philosophischen Wertvorstellungen wiederfinden. Einheit und Ordnung waren die Schemata, mit denen Wundt an seine Forschungen heranging, und Münsterberg würde es ihm gleichtun. Wundt sah im Begriff des Wertes den grundlegenden Ausdruck des psychischen Geschehens – eine Art Wundermittel der Psyche, um die streng voneinander getrennten Wahrnehmungen, die gleichzeitig auf uns einströmen, miteinander zu verbinden. Es lag ihm fern, Werte als einen durch Erziehung und gesellschaftliche Einflüsse erworbenen Filter zu erachten. Stattdessen suchte Wundt ihren Nachweis unmittelbar in den Probanden seiner Experimente. Durch die Verbindung von experimentell zu ermittelnden Zahlenwerten und ideellen Wertvorstellungen schienen philosophische Werte nun selbst in den Bereich des Messbaren zu rücken: Zahlen sollten die Einheit philosophischer Werte bestätigen, wo doch gerade philosophische Werte die Voraussetzung von Wundts Experimenten bildeten. Während der Wertbegriff der Thermodynamik von mathematisch-naturwissenschaftlicher Beschaffenheit ist und sich optisch darstellen lässt, gelingt die Übersetzung der abstrakten Wertgrößen indes nur durch Sprache, die der philosophischen Spekulation offensteht. Denn bei der Beschreibung energetischer Zustände verwendet Wundt Metaphern und andere rhetorische Stilfiguren, um sein Publikum für die „kalten“ Ideen der Psychophysik zu erwärmen. So sprechen wir von Energieentwertung, im gegenteiligen Fall aber von einem höherwertigen Energieniveau, obwohl die thermodynamische Umwandlung weder den Verlust noch den Gewinn von Energie verzeichnet. Durch Metaphern trifft Wundt – nicht anders als wir es heute praktizieren – bereits Wertentscheidungen (hoch oder niedrig, bedeutend oder unbedeutend, wirkungsvoll oder unwirksam), auch wenn die Gesetze der Thermodynamik lediglich Veränderungen von Aggregatzuständen beschreiben. War der Wertbegriff über Jahrhunderte hinweg der Ökonomie vorbehalten,42 wurde er im Verlauf des 19. Jahrhunderts also nicht nur auf ethische Einstellungen und philosophische Probleme, sondern auch auf Naturbeobachtungen ­übertragen.

40Viele

von Wundts Experimenten zur Wahrnehmungspsychologie und neuropsychologischen Anatomie zählen heute zum Allgemeinwissen, so etwa der Nachweis optischer Täuschungen, denen wir häufig ausgesetzt sind – man denke an die sogenannte „Wundt-Täuschung“ –, zu Reaktionszeiten und zur Wahrnehmung von Zeit im Allgemeinen. Da ihm die Psychologie als führende Disziplin galt, erstreckten sich seine Forschungen über mehrere Bereiche – neben der Physik und Anatomie wären vor allem die Neurologie, Tiefenpsychologie, die Sprachwissenschaft, die Kultur- und Völkerpsychologie, die Philosophie, die Wissenschaftstheorie und die Mathematik zu nennen – eine Vielfalt, die in seinen Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung (Leipzig: Winter 1862) erstmals ersichtlich wurde und immer wieder in Lehrbüchern wie den Grundzügen der physiologischen Psychologie (Leipzig: Engelmann 1874) einen prägnanten, im jeweiligen Kontext vermittelten Ausdruck fand. 41Wundt: Logik, Bd. III, 266. 42Siehe oben, Kap. 2.

Thermodynamik als Ordnungsprinzip

223

Verweist schon die Unterteilung in Gewinne und Verluste, Nützlichem und Unnützem auf die Sprache der Ökonomie, so gründen sich sowohl der erste als auch der zweite Satz der Thermodynamik, wonach Entropie für die größtmögliche Verteilung von Energie in einem geschlossenen System steht, auf ökonomischen Erwägungen. Denn der Energieerhaltungssatz lehnt sich an das Modell des Tauschs an. Wie in der Natur gehen in ökonomischen Transaktionen Werte nicht verloren, sondern bleiben in jeweils verändertem Zustand erhalten: Arbeit verwandelt sich in Waren, Waren in Geld, Geld in Kapital, Kapital wieder in Arbeit. Der Mehrwert im Verlauf ökonomischer Transaktionen drückt sich im Gewinn aus, einem „höherwertigen“ Energiezustand. Entropie wiederum deutet auf ein Grundproblem der Ökonomie hin – die gleichmäßige und gerechte Verteilung der Güter. Gewinne erzielt, wer es versteht, Kapital aus anderen Bereichen des Systems „Wirtschaft“ abzuziehen und bei sich zu konzentrieren. Darum ist die permanente Steigerung von Wohlstand eine Illusion, denn sie beruht auf der Ausbeutung natürlicher Rohstoffe und bezeichnet lediglich einen uns meist unsichtbaren Prozess der Umwandlung, nicht aber der wundersamen Mehrung von Reichtum aus dem Erfindungsgeist des Unternehmers. Schon Smith hatte das Problem der gleichmäßigen Verteilung von Gütern zum Anlass genommen, nach den ethischen Grundlagen der Ökonomie zu fragen. Befasst sich seine Theory of Moral Sentiments aus dem Jahr 1759 mit dem Einfluss der sozialen Umwelt auf das moralische Urteilsvermögen, so weitet An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations nahezu zwei Jahrzehnte später die moralischen Kriterien auf das Staatswesen und seine wirtschaftlichen Voraussetzungen aus. Leiten sich individuelle Moralvorstellungen hier aus dem gesellschaftlichen Ganzen ab, so verhält es sich mit den ökonomischen Wertentscheidungen gerade umgekehrt: Das Interesse des Einzelnen trage zum Wohl der Gemeinschaft bei. Güter verteilten sich dann am besten, wenn jeder nach seinem Vorteil strebe. Ebenso verhält es sich mit der Wahl des Arbeitsplatzes, einem anderen Problem der Verteilung: Individuen seien ständig darauf bedacht, die für sie vorteilhaften Anstellungen zu finden. Auch hier gäbe der individuelle, nicht der gesellschaftliche Nutzen den Ausschlag, komme aber gerade deshalb dem Allgemeinwohl zugute, weil sich Arbeit auf Arbeitssuchende nach Marktproportionen gleichmäßig verteilten.43 Ökonomen wissen freilich, dass der unerschütterliche Glaube an die Selbstheilungstendenzen des Marktes keineswegs die besten Resultate zeitigt, denn „Individuen“ fehlt schlichtweg die Einsicht, was ihnen zukünftige Marktsituation abverlangen könnten. Das Ideal von der gleichmäßigen Verteilung geht hingegen auf das Modell der Thermodynamik zurück und verbindet sich schon bei Smith – wohlweislich lange bevor ihm entsprechende

43„Every

individual is continually exerting himself to find out the most advantageous employment for whatever capital he can command. It is his own advantage, indeed, and not that of the society, which he has in view. But the study of his own advantage naturally, or rather necessarily leads him to prefer that employment which is most advantageous to the society“, Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 1, 454.

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Theorien zur Verfügung standen – mit dem der Psyche. Wie energetisch geladene Teilchen in einem System sollen Arbeitsangebot und -nachfrage nach dem Prinzip der größtmöglichen Verteilung zueinander finden. Entropie wird hier zum gesellschaftlichen Unbewussten, das nach einer geheimen inneren Logik die passenden Lösungen findet. Genau dieser Logik widmete sich Wundt in seiner allgemeinen Darstellung des psychischen Apparates. Während sich natürliche Systeme nach dem Prinzip der größtmöglichen Verteilung selbst regulieren, erscheint Kultur als hochenergetische und darum von niedriger Entropie geprägte Ordnung, aus der psychische Prozesse seiner Vorstellung nach hervorgehen. Die gesellschaftliche Struktur sei nun eine kulturelle Leistung, die ein natürliches System in ihrem Sinne zu nutzen weiß. Gesellschaftliche Normen dienten der Mehrung des nationalen Prestiges, wie Wundt in seinen späten, vom Glauben an die Überlegenheit der deutschen Kultur geprägten politischen Schriften darzulegen hoffte – und das bezog wiederum die Ökonomie ein. Dass sich Wundt für die Belange deutscher Arbeiter einsetzte – einer neuen, progressiven sozialen Gruppe –, änderte nichts an seinen grundlegenden, aus, wie er meinte, wissenschaftlicher Erkenntnis abgeleiteten Ordnungsprinzipien. Wundt betrachtete die allmähliche Umstrukturierung von der Agrar- zu einer Industrienation mit den Augen des Psychophysikers und wusste, dass sich zu seiner Zeit Verschiebungen von Machtverhältnissen ankündigten, dass sich das gesellschaftliche Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits von aristokratischen auf bürgerliche, von agrarischen auf proletarische Stände verschoben hatte. Der Staat bildet seiner Auffassung nach das Ordnungssystem, das die gesellschaftliche Energie nicht nur in sich trägt, sondern lenkt und für das große Ganze der Nation vereinnahmt. Durch „Ordnung“ sollten die „freien Radikale“ revolutionärer Kräfte in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Erst der Nationalstaat könne dem Liberalismus einen Rahmen geben. Wundts Weltbild griff auf ökonomische Prinzipien zurück, um Abläufe der Natur zu identifizieren und auf gesellschaftliche Strukturen zu übertragen. Wundt „entdeckt“ indes nicht etwa Naturgesetze, die sich in der Ökonomie einer Nation bestätigen, sondern betrachtet Natur durch den Filter der Ökonomie. Seine Naturgesetze gehen auf jene ökonomischen Verhältnisse zurück, die seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis zugrunde liegen.44 Seine Experimente dienen also der Legitimation kapitalistischen Wirtschaftens nach sozialhistorischem Muster. Ökonomische Prinzipien geben der naturgesetzlichen Beschreibung die Begriffe an die Hand, nach

44Die

Schaffens- und Publikationsgeschichte Gustav Schmollers, des führenden deutschen Nationalökonomen, deckt sich weitgehend mit derjenigen Wundts. Es kann nicht erstaunen, dass Wundt Kenntnisse der Ökonomie auf die Psychologie, Schmoller hingegen psychologisches Wissen auf die Ökonomie anwandte, beide aber physikalische Ordnungsprinzipien berücksichtigten, um gesellschaftliche Veränderungen zu erklären. Die besondere Art der gegenseitigen wissenschaftlichen Befruchtung, bei der den Disziplinen Ökonomie, Psychologie und Physik eine tragende Rolle zukam, spiegelt sich auch in politischen Intentionen wider, die Wundt und Schmoller auszeichneten – vom Einsatz für die Arbeiterklasse bis zu einem ausgeprägten Patriotismus, der für beide zur Konstante in Zeiten spürbarer sozialer Veränderungen wurde.

Energie

225

denen sich seine naturwissenschaftlichen Hypothesen ausrichten. Der Einfluss von Wundt auf ganz unterschiedliche akademische Bereiche sollte dabei nicht unterschätzt werden, zeigt er doch die Anschlussfähigkeit seiner in mehreren Disziplinen verankerten Denkweise. Zu seinen Studenten zählten der Anthropologe Émile Durkheim, die Philosophen Edmund Husserl und George Herbert Mead, der Soziologe Ferdinand Tönnies und der Linguist Edward Sapir – Gelehrte, die später ihrerseits ökonomische Modelle in ihren jeweiligen Fachgebieten anwenden werden. Münsterberg kannte Wundts physikalische Annahmen sehr genau und wusste von deren ökonomischer Herkunft. Seine Testverfahren führten psychische Energien der wirtschaftlichen Nutzung zu und wirkten auf diese Weise der Entropie ökonomischer Leistungsfähigkeit entgegen. Denn nur wer sich seiner Talente und Fähigkeiten bewusst sei, könne einen effizienten Beitrag zur Hebung der allgemeinen Wirtschaftsleistung beisteuern. Die durch Tests identifizierte „Energie“ ging auf gewinnbringende Weise in den Arbeitsprozess ein. Gut geeignete Angestellte machen sich, der Logik von Einstellungstests entsprechend, für das Unternehmen bezahlt. Persönlichkeiten nach ihren Fähigkeiten und Vorstellungen zu vermessen, war daher das erklärte Ziel Münsterbergs. Hatte das Prinzip der Ökonomie bereits Wundts Methode zur Erschließung von Naturgesetzen bestimmt, so ökonomisierte und monetarisierte Münsterberg die Produktion des durch Fragebögen ermittelten Wissens. Heute zählen Persönlichkeitstest und Kundenbefragungen nach dem Modell der von Firmen geschätzten und von Kunden verabscheuten Customer Satisfaction Surveys zum Standard, sind Eignungstests in Schulen Norm, geben Einstellungstests das Leistungspotenzial angehender Mitarbeiterinnen wieder. Fragebögen und Tests ist nicht zu entkommen. Sie sind das Aushängeschild einer neuen, ökonomisch geprägten Wertphilosophie.

Energie Wie übertrug sich nun ökonomisches Denken auf naturwissenschaftliche, psychologische und kulturelle Phänomene? Die Psychophysik Fechners und Wundts beruhte unmittelbar auf den Gesetzen der Thermodynamik. Thermodynamik beschreibt die Umwandlung von Energie. Die Zustände, in denen Energie messbar ist, sind ihrer Theorie zufolge nur von vorübergehender Dauer. Doch verändert Energie zugleich auch die Umgebung, auf die sie einwirkt. Sie ist formbildend und daher von kultureller Bedeutung. Obschon die Geschichte des modernen Verständnisses von Energie mit dem Schweizer Mathematiker Johann Bernoulli begann, der im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts von einem Gleichgewicht virtueller Kräfte ausgegangen war,45 erhielt das Wort bereits in der Antike seine bis in die Gegenwart reichende Prägung. So unterschied Aristoteles in seiner Metaphysik das Mögliche vom Wirklichen und verstand unter dem Begriff „ἐνέργεια“,

45Vgl.

Max Jammer: Art. „Energie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 494–499, hier 494.

226

6  Im Labor der Seele: Mehrwert und Minderwertigkeit

„energeia“ (= „Akt“, „Operation“) den Übergang vom potenziell Machbaren in eine anschauliche Form. Soviel ist gewiss, dass Aristoteles die Errungenschaften der Kultur als Träger von Energie galten.46 An der Spitze der Kultur stünden die dem Menschen vor allen anderen Lebewesen vorbehaltenen Produkte des Geistes: Architektur, Kunst und Literatur. Inspiration wäre demnach als latente Form von Energie zu verstehen, die im „Werk“ manifeste Gestalt annimmt. Kultur ist dann Ausdruck der „Energieleistung“ einer Gemeinschaft. Für die Gemeinschaft steht metaphorisch das „Haus“ (altgr. „οἶκος“, „oíkos“), aus dem in der Verbindung mit der Nomos-Vorstellung der Antike (von altgr. „νόμος“, „nomos“ = „Gesetz“ oder „Regel“) der Begriff der Ökonomie hervorging. Aufgrund ihrer politischen und sozialen Funktionen schlug Aristoteles die Ökonomie deshalb der Philosophie, das Konzept des „Hauses“ aber im eigentlichen Sinne der Physik als einer kulturellen Erscheinung zu, die Energie in sich trägt.47 Erhält Kultur durch Tätigkeit Form, erscheint Energie als Voraussetzung für das Gemeinschaftswesen, die „Oikumene“. In ihrer verwirklichten, anschaulichen Form geht Energie durch Arbeit in die Ausgestaltungen des kulturellen Lebens ein. Wir können Menschen daher, wie Wilhelm Ostwald, als „Katalysatoren“ betrachten, denn durch sie ändern Objekte ihren energetischen Zustand. Der Nobelpreisträger für Chemie sah im Verfahren der Katalyse einen Prozess, der die natürliche Verwandlung von Energie beschrieb. Da sich durch Katalyse chemische Abläufe beschleunigen, komme es darauf an, durch Katalysatoren Verwandlungen energetischer Aggregatzustände in bestimmte Bahnen zu lenken. Für die Kulturphilosophie waren Ostwalds Entdeckungen von größter Bedeutung, weil mithilfe der Katalyse auch Eingriffe des Menschen in soziale Abläufe bezeichnet werden konnten.48 Kultur wäre demnach nichts anderes als ein durch biochemische Lebensformen erzeugter energiereicher, konzentrierter Zustand, der sich der Entropie widersetzt. Wenn sich aber durch Katalyse der Ablauf

46„Verwirklichung

ist das Bestehen einer Sache“, heißt es hier mit Verweis auf die Wirkung von Energie, ohne aber ihr Wesen zu erklären, Aristoteles: Metaphysik, in der Übersetzung von Friedrich Bassenge, Berlin: Akademie-Verlag 1990, Buch Omega, Kap. 6, 22. Hinweise auf die Etymologie und die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Begriffs sucht man bei Richard Rhodes: Energy. A Human History, New York u. a.: Simon & Schuster 2018, vergeblich. Seine Darstellung versteht sich als Geschichte des Rohstoffs, dessen Gewinnung den ökonomischen Fortschritt der Menschheit ebenso prägte wie im Besonderen deren Machtstrukturen. 47Die gegenseitige Befruchtung von ökonomischer und naturwissenschaftlicher Wissensproduktion sieht Philip Mirowski bereits bei René Descartes und Nicholas Malebranche am Werk, wenn deren noch unbewiesene und auf philosophischen Spekulationen beruhende Erhaltungssätze von einer „Ökonomie der Natur“ ausgehen, Philip Mirowski: More Heat than Light. Economics as Social Physics: Physics as Nature’s Economics, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1989, 17. Diese Auffassung der Ökonomie kehrt dann in Leibniz’ Vorstellung vom Grundprinzip der Einfachheit wieder, wonach die bestehende Welt die beste aller möglichen sei: „Simplicity demands that some quantity remain fixed, if motion itself is portrayed as continuously varying […]“, ebd., 19. 48Menschen, die Ideen und Themen mit großer Popularität verbreiten, nennen wir ihrer Funktion nach Katalysatoren, gelegentlich auch Multiplikatoren.

Energie

227

und die Geschwindigkeit der Umwandlungsprozesse steuern lässt, dann ist von Bedeutung, welche Art von Katalysatoren an diesen Prozessen beteiligt sind. Seinen Neigungen entsprechend ging es Ostwald nicht nur um naturwissenschaftliche, sondern um die philosophische Erklärung kultureller und psychologischer Phänomene. Ab 1887 lehrte er an der Universität Leipzig und wusste um die lange Tradition der Psychophysik. Fechner war zwar kurz nach Ostwalds Ankunft gestorben, Wundt hingegen wurde ein langjähriger Kollege. 1892 stellte Ostwald seine Überlegungen zur Energetik erstmals der Öffentlichkeit vor und ließ dabei seine philosophischen Ambitionen erkennen.49 Physikalische Energie verwandelt sich, seinen 20 Jahre später weiterentwickelten und präzisierten Vorstellungen zufolge, in kulturelle, geistige Energie, wenn sie einem „energetischen Imperativ“ genügt. Dieser Imperativ verbiete nicht nur, Energie zu verschwenden, sondern „diktiert uns als dringendste Forderung des Tages die Anwendung des Energiebegriffes auf die g e g e n w ä r t i g e n Probleme der Menschheit“.50 Das Prinzip der Entropie als Impuls zur Entstehung von Kultur heranzuziehen, ist für Ostwald also nicht nur von ontologischer Bedeutung, sondern von moralischem Gewicht. Seinem Befinden nach war auch die menschliche Psyche als Summe katalytischer Prozesse zu verstehen. Reize gingen demnach auf das Wirken einer Substanz zurück, die sich von der Außenwelt auf das Innere übertragen würden – eine Erkenntnistheorie von spekulativem Charakter, die beachtlichen Raum in seinen Publikationen einnimmt: „Was wir h ö r e n , rührt von der Arbeit her, welche die Schwingungen der Luft an dem Trommelfell und in den inneren Theilen unseres Ohrs leisten. Was wir s e h e n , ist nichts als die strahlende Energie, ­welche auf der Netzhaut unseres Auges chemische Arbeiten bewirkt, die als Licht empfunden werden. Wenn wir einen festen Körper t a s t e n , so empfinden wir die mechanische Arbeit, die bei der Zusammendrückung unserer Fingerspitzen und gegebenenfalls auch der des getasteten Körpers verbraucht wird. R i e c h e n und S c h m e c k e n beruhen auf chemischen Arbeitsleistungen, die in den Organen

49Wilhelm

Ostwald: „Studien zur Energetik (Aus den Berichten der math.-phys. Klasse der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften vom 8. Juni 1891)“, in: Zeitschrift für physikalische Physik 9, 563–578. 50Wilhelm Ostwald: Der energetische Imperativ, Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1912, 128 f. „Energie“ nannte Ostwald übrigens sein Haus in Großbothen bei Leipzig – Symbol für den universalen Zusammenhang anorganischer und organischer Materie. Seiner aus heutiger Sicht esoterischen Auffassung vom Energiestrom stand die im Atomismus vertretene, von Joseph Boltzmann experimentell erwiesene und dann von Einstein in einen größeren theoretischen Zusammenhang gestellte Sichtweise entgegen, die sich unter Wissenschaftlern im 20. Jahrhundert durchsetzen würde: dass Atome eine feste elektrische Ladung haben, dass sie sich in einem Periodensystem darstellen lassen und dass sich Atome ihrerseits in Elementarteilchen aufspalten können: „The twentieth century did not accept Ostwald’s legacy and dropped energetics out of focus. It does not even belong to the history of science […]. In sum, Ostwald was too speculative and eccentric for historians of science and too scientific for cultural historians“, Bernadette Bensaude-Vincent: „Revisiting the Controversy on Energetics“, in: Wilhelm Ostwald at the Crossroads Between Chemistry, Philosophy and Media Culture, hg. von Britta Görs u. a., Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005, 13–28, hier 14 f.

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der Nase und des Mundes stattfinden. Ueberall sind es Energieen oder Arbeiten, deren Bethätigung uns davon Kunde giebt, wie die Aussenwelt geordnet ist, und welche Eigenschaften sie hat, und die Gesammtheit der Natur erscheint uns unter diesem Gesichtspunkte als eine Austheilung räumlich und zeitlich veränderlicher Energieen in Raum und Zeit, von der wir in dem Maasse Kennntnis erhalten, als diese Energieen auf unseren Körper, insbesondere auf die für den Empfang bestimmter Energieen ausgebildeten Sinnesorgane übergehen.“51 Wenige Jahre später leistet Ostwald seinen Beitrag zur Wertphilosophie. ­„We r t e n , W ä h l e n und Wo l l e n “ seien zwar in Lebenserscheinungen eingebettet, heißt es in der 1913 erschienen Philosophie der Werte, jedoch bereits im Anorganischen begründet. Denn Werte seien an den Umwandlungsprozess energetischer Zustände gebunden, bei dem in dynamischen Systemen durch Reibung Wärme entstehe. Dieser unumkehrbare und im zweiten Gesetz der Thermodynamik beschriebene Vorgang, der als „Dissipation“ bekannt ist, müsse als Grundlage für den Wertbegriff erachtet werden.52 Weder dürften Werte auf „unkontrollierte Gefühlsbefunde“ noch sonstige unbestimmte Regungen der Psyche, weder auf einen unspezifischen Lebensbegriff noch andere metaphysische Weltmodelle zurückgeführt werden.53 Eine „allgemeine Begründung der Wertlehre“ sei damit ebenso wenig zu erweisen, wie sich das Dissipationsgesetz durch Unumkehrbarkeit als allgemeingültig beschreiben lasse.54 Dagegen sei die Zuordnung spezifischer Werte bereits in den geringsten anorganischen Substanzen angelegt und würde sich beim Übergang ins Organische lediglich entfalten. Man möchte Ostwald für einen Apokalyptiker halten, der, wie Nietzsche, auf die überaus geringe Lebensspanne des Menschen in einem unendlich viel größeren universalen Weltgeschehen hinweist, doch liegt es ihm daran, seine Befunde zur Katalyse als Bestandteil energetischer Umwandlungsprozesse auf das Leben verstanden zu wissen. Ostwald glaubte beispielsweise daran, dass „zwischen den Atmosphären der Himmelskörper“ ein „Medium“ existieren müsse, „welches fähig ist, Licht und Wärme fortzupflanzen“, damit aber Energie letztlich wieder in einen anderen Zustand überführe.55 Was in einem dynamischen System verloren gehe, möge in einem anderen System zu neuer Blüte gelangen. Der Begriff des Mediums ist dabei entscheidend, denn in ihm erweist sich einerseits die Verwandtschaft zur Katalyse, andererseits zur „Maschine“, die Ostwald in umfassendem Sinne selbst auf Objekte wie Bücher, aber auch auf das menschliche Gehirn überträgt. Maschinen wie das Gehirn würden Energie lediglich transformieren. Sie würden daher selbst „Ideen, Institutionen,

51Wilhelm

Ostwald: Vorlesungen über Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig, Leipzig: Veit 1902, 159 f. 52Wilhelm Ostwald: Die Philosophie der Werte, Stuttgart: Kröner 1913, 7. 53Ebd. 54Ebd., 8 f. 55Ebd., 80. Heute würden wir vielleicht von „Dark Matter“ sprechen.

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Staatseinrichtungen, Rechtsgewohnheiten [und] Ethik“ zu ihrer Form verhelfen.56 Ist das Gehirn für Ostwald eine Maschine, so wird klar, weshalb ihm die Übertragung von anorganischer zu organischer und von der Katalyse auf die Machine leichtfiel. Ostwald unterscheidet in der Folge zwischen zwei Kategorien von Werten. Den „unmittelbaren energetischen Werte[n]“, die „bei der Umwandlung“ von „weniger wertvollen Formen in die anderen erforderlich sind“ und sich in der Skala ihres „Kaufs- und Verkaufspreises“ messen lassen,57 stehen die durch „Maschinen“ erzeugten „mittelbaren“ Werte gegenüber. Maschinen transformieren „Rohenergie“ in „Zweckenergie“,58 deren höchste wir als „psychische Energien“ erfahren würden. Den Schluss seiner wertphilosophischen Erörterung bildet eine physikalische Begründung des antiken Konzepts vom „guten Leben“. Ein „glückliches, d. h. erfolgreiches willensgemäßes und harmonisches Leben“ zu führen, sei allein durch die angemessene Zuteilung „entsprechende[r] psychische[r] Energie“ möglich:59 Diese Zuteilung „erweist sich also als letzter höchster Punkt in der Stufenleiter der energetischen Werte“.60 Schon zuvor hat Ostwald praktische Schlüsse aus seinem lebensphilosophischen Konzept gezogen. Kultur solle durch Erziehung, geistige und körperliche Hygiene, Auswahl und Wertung in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Ostwalds chemische und Münsterbergs psychologische Experimente trafen sich in ihren philosophischen und pädagogischen Ansichten. War für Ostwald das Verfahren der Katalyse bestimmend, dominierten Testverfahren Münsterbergs Sicht auf psychische Energien. Münsterbergs Evaluierungstechniken können wir als Formen der Katalyse verstehen, die Entscheidungsprozesse lenken und beschleunigen. Die Geistesverwandtschaft führte zu einer Vertiefung der Kontakte. Im September 1904 fand in St. Louis der International Congress of Arts and Science im Rahmen der Weltausstellung und im Anschluss an die dritten Olympischen Spiele nach modernem Format statt. Das Programm weist ihn unter „Officer of the Congress“ als einen der beiden Vizepräsidenten aus.61 Auf Einladung Münsterbergs gab Ostwald eine von nur zwei Grundsatzreden zum Thema Wissenschaftsmethodologie.62 Seine Klassifizierung der Wissenschaften bezog das Fachgebiet der Philosophie zwar nicht namentlich ein, doch nur, weil für ihn jede naturwissenschaftliche Tätigkeit auf einem philosophischen 56Ebd., 57Ebd.,

342. 343.

58Ebd. 59Ebd.,

344.

60Ebd. 61Vgl.

Howard J. Rogers (Hg.): International Congress of Arts and Science, London und New York: University Alliance, 15 Bde., o. J. [1907–1908], Inhaltsverzeichnis. 62Wilhelm Ostwald: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, nach der Ausgabe von 1926/1927 überarbeitet und kommentiert von Karl Hansel, Stuttgart und Leipzig: Hirzel 2003, 340 f. Eine Zusammenfassung des wissenschaftlichen Teils der Konferenz gibt William Harper Davis: „The International Congress of Arts and Science“, in: Popular Science Monthly, Bd. 66, November 1904, 5–32. Ostwald wird darin mehrmals genannt und auch in Großaufnahme gezeigt.

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­ undament beruht. Bereits im Herbst des folgenden Jahres besuchte Ostwald F erneut die USA, diesmal aufgrund einer Gastdozentur an der Harvard University und von Vorträgen am Massachusetts Institute of Technology sowie an der Columbia University in New York. Wir dürfen annehmen, dass auch diese Reise nicht ohne Mitwirken Münsterbergs zustande kam und sich beide in Boston begegnet sind.63 Der Begriff der Energie spielte bei Ostwalds Versuch, Geist und Materie miteinander zu verbinden, eine ähnlich zentrale Rolle wie schon bei Helmholtz, Wundt und Münsterberg. Da Energie zwar andere Zustände annimmt, jedoch nicht verlorengeht, müsse sie gesteuert und effizient verwertet werden. Wie sich Naturwissenschaftler mit Reibungsverlusten befassten, die der Umwandlung von Energie geschuldet war, so interessierten sich Psychologen wie Münsterberg für Störungen des psychischen Apparates, die auf Reibung, Stauung oder Fehlleitung im inneren Energiehaushalt zurückgingen. In welchem Ausmaß Energie lediglich absorbiert und ungenutzt verloren geht oder aber durch die Entscheidung des Willens zur Änderung eines Bewusstseinszustandes beitragen mochte, war eine Frage, der sich die Persönlichkeitspsychologie zuwandte. In ihr spielten experimentelle Erhebungen, die Schlüsse auf das Allgemeine zuließen, eine ebenso große Rolle wie individuelle Besonderheiten, die naturgesetzliche Regeln bestätigen. Münsterberg fand den idealen Ansprechpartner in Fragen des freien Willens, als er 1889 während eines Kongresses zur Physiologischen Psychologie in Paris William James kennenlernte, der später in Harvard sein Kollege werden sollte. Wie seine deutschen Vorbilder hatte James zunächst Medizin studiert und aufgrund mehrerer krankheitsbedingter Aufenthalte in Deutschland unter anderem Gelegenheit, 1867 in Berlin Vorlesungen zur Physiologie und Psychologie zu besuchen. Auch James begann, wie Wundt, eine wissenschaftliche Laufbahn im Bereich der Physiologie, um später zum eleganten Vermittler zwischen Psychologie und Philosophie zu werden. Als Vertreter des Pragmatismus, den er gemeinsam mit Charles Sanders Peirce begründete, war James ein ausgezeichneter Kenner insbesondere der englischen (Hume, Locke, Mill) und deutschen Philosophie (vor allem Kants). In seinen zum Klassiker avancierten Principles of Psychology (1890) widmet sich ein Abschnitt den philosophischen Theorien des „reinen“ Ichs. James zielte – wie Münsterberg auch hier an Wundt angelehnt – auf eine Verbindung von Physiologie und Psychologie, die der Philosophie eine Grundlage verschaffen sollte. Einem mechanischen Verständnis von Psychologie sollte nun aber ein bewegliches, pragmatisches Modell zur Seite stehen, das neben den von Wundt und Münsterberg hervorgehobenen Gemeinsamkeiten die Unterschiede des psychischen Apparates verschiedener Individuen aufzuzeigen hätte. Die Annahme eines transzendentalen Ichs bildet dabei

63Das

Wissenschaftsmagazin Science hatte Ostwald vor seinem Besuch an Harvard als einen Wissenschaftler von „höchstem Rang“ angekündigt, der sich nicht nur als Reformer, Organisator und Lehrer einen Namen gemacht habe, sondern vor allem durch seine vielfältigen Forschungsgebiete und seine große Zahl an Publikationen herausrage, o. A.: „Professor Wilhelm Ostwald at Harvard University“, in: Science, New Series, Bd. XXI, Nr. 537 (1905), 598.

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den überindividuellen Kristallisationspunkt all dessen, was durch Wahrnehmung, Gefühl, Wille und Handlung als Selbstbewusstsein zu bezeichnen sei. Im „sozialen Selbst“ sieht James die Einbettung in einen gesellschaftlichen Kontext für gegeben an, während das Ich zugleich einer Vielzahl sozialer Rollenanforderungen Tribut zollt und seine Identität entsprechend auffächert. Genau genommen habe ein Mensch genauso viele soziale Rollen, wie es Individuen gibt, die ihn in diesen Rollen anerkennen und eine entsprechende Vorstellung davon in sich tragen würden.64 Sei das im Alltag agierende Ich zu Rollenspielen gezwungen, stelle, laut James, das „spirituelle Selbst“ einen weithin unveränderlichen, reflexiven Anteil dar, dem das eigene Denken zum Gegenstand wird. Es entscheide darüber, wie wir die Dinge wahrnehmen, indem es gewissermaßen seine Zustimmung erteile, was uns berühre und angehe. Dieses „spirituelle Selbst“ sei die Heimstätte unserer Interessen, die Quelle für alle Anstrengungen und alle Aufmerksamkeit, besonders aber der Ort, der unseren Willen lenke.65 Auf eine für das 19. Jahrhundert typische „Ökonomie der Moral“ vertrauend,66 die physikalische, ökonomische und ethische Elemente miteinander verband, stellte James schließlich die Effizienz der eigenen Wissensproduktion infrage. Seine Kollegen konfrontierte er in seiner „Presidential Address“ während des Kongresses der American Philosophical Association 1906 mit Vorschlägen zur Selbstprüfung und Verbesserung, die dem „energetischen Imperativ“ Ostwalds entsprachen, denn sie zielten auf die Erneuerung und Gewinnung von Energie.67 So solle die Philosophie, nach James’ Auffassung, wieder als Schule dienen, die den Menschen den Weg aus ihrem inneren Gefängnis weise. Die meisten von uns führten ein Leben, das von Gewohnheiten geprägt sei, von einer Wolke umgeben, die uns die notwendige Klarheit in unseren Urteilen, die Sicherheit in unserer Urteilskraft und die Entschlossenheit bei unseren Entscheidungen verbaue. Verglichen

64„Properly

speaking, a man has as many social selves as there are individuals who recognize him and carry an image of him in their mind“, William James: The Principles of Psychology, hg. von Frederick H. Burkhardt u. a., 3 Bde., Cambridge, Massachusetts, und London 1981, Bd. I, 281. 65Ebd., Bd. I, 283. „It presides over the perception of sensations, and by giving or withholding its assent it influences the movements they tend to arouse. It is the home of interest […], the source of effort and attention, and the place from which appear to emanate the fiats of the will“, ebd., Bd. I, 285. 66„The ‚scientific temper‘ was thought to regulate the cognitive behavior of scientific inquirers, and was considered necessary to the production of scientific knowledge and to differentiate it from other types of knowledge. Thus moral economies of science were often tightly linked to scientists’ epistemological commitments and research practices“, Francesca Bordogna: William James at the Boundaries. Philosophy, Science, and the Geography of Knowledge, Chicago und London: University of Chicago Press 2008, 92. Bordogna bezieht sich hier vor allem auf Lorraine J. Daston: „The Moral Economy of Science“, in: Osiris 10 (1995), 3–24. 67Freilich hörten die Parallelen beim Monismus auf, den Ostwald in Anlehnung an Haeckel vertrat. Später stand Ostwald, wie viele andere Anhänger des Monismus, sozialdarwinistischen und eugenischen Anschauungen nahe, während James seinerseits daran dachte, durch sozialpsychologische Maßnahmen zur Gesundung der Gesellschaft beizutragen.

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damit, was wir sein könnten, seien wir allenfalls als halbwach zu bezeichnen. Unser inneres Feuer sei gedämpft, unsere Pläne unterliegen der Kontrolle. Wir würden lediglich von einem geringen Teil unserer geistigen und physischen Fähigkeiten Gebrauch machen.68 Der Wille diene zwar als Mittel, den Menschen zu befreien, müsse aber erzogen werden, um Energien freizusetzen und unsere Ideen entsprechend zu „verwerten“.69 Zur Erziehung des Willens greift James auf traditionelle Formen der Askese zurück und verweist auf Ignatius von Loyola, Hatha, Raja und Karma Yoga,70 Atemübungen, Fasten und Beten.71 Selbst Stimulantien empfahl James seinen erstaunten Zuhörern, Alkohol und Drogen72 etwa, daneben suggestive Therapieformen wie die Hypnose73 – und generell ein starkes spirituelles Fundament.74 Die Konversion zu „gesunden“ und „optimistischen“ Glaubensformen wie der „Christian Science“, dem „Metaphysical Healing“ und der Lehre des „New Thought“ – einer Glaubensrichtung, die Gott, nach Phineas Quimby, eine Art unendlicher, sich auf alle Menschen und Erscheinungen verteilende Intelligenz zuschreibt – würde schließlich den Willen befreien.75 Wir dürfen hier die metaphorische, ins Christliche neigende Beschreibung dessen sehen, was in den Naturwissenschaften als „Energie“ bezeichnet wird – ein Versuch, der spirituellen Katalyse zur Beschleunigung lebenserhaltender biochemischer Abläufe das Wort zu reden. Der Wille ist demzufolge der Katalysator des Ichs. Werden Energieströme blockiert, sind Krankheiten die Folge: zwanghaftes Verhalten, Neurosen und Depressionen. Wie Wundt und Ostwald beruft sich James also auf ein naturwissenschaftliches Modell zur Erklärung psychischer Phänomene. Die Freisetzung von Energien

68„Most

of us feel as if we lived habitually with a sort of cloud weighing on us, below our highest notch of clearness in discernment, sureness in reasoning, or firmness in deciding. Compared with what we ought to be, we are only half-awake. Our fires are damped, our drafts are checked. We are making use of only a small part of our possible mental and physical resources“, William James: „Presidential Address“, in: Essays on Religion and Morality, hg. von Frederick H. Burkhardt u. a., Cambridge, Massachusetts, und London: Harvard University Press 1982, 129–146, hier 131. 69„Ideas set free beliefs and the beliefs set free our wills […]“, ebd., 141. 70Ebd., 136. 71Ebd., 137 f. Die in seiner Rede angeführten Quellen – der britische Colonel Baird Smith und der polnische Philosoph Wincenty Lutosławski – kamen aus Europa und kannten die ostasiatische Philosophie aus unmittelbarer Anschauung. Smith war lange in Indien stationiert gewesen und hatte die Belagerung Delhis 1857 erlebt. Lutosławski hatte verschiedene Yoga-Techniken erlernt. Bekannt wurde er zwar durch seine Studien zu Platons Ideenlehre, die spiritualistische Tendenz seiner Schriften spiegelte indessen eine Neigung zur Erkundung des Selbst, die in Europa vor dem Ersten Weltkrieg weitverbreitet war. 72Ebd., 136. 73Ebd., 139. 74Ebd., 140. 75Ebd., 143. Instruktiv sind hier die Hinweise von Bordogna, William James at the Boundaries, 265–268.

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durch Ideen initiiert Handlungen und trägt den inneren physiologischen Apparat nach außen. Psychische Zustände sind James zufolge am Grad ihrer Intensität und Tragweite zu messen. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie liege wiederum in der Verbindung von „mental work and moral work“.76 Sein Vortrag vor der American Philosophical Association mündet daher in einem Vorschlag zur Vermessung menschlicher Kräfte und ihrer Grenzen: „The limits of power must be limits that have been realized in actual persons, and the various ways of unlocking the reserves of power must have been exemplified in individual lives.“77 James’ psycho-ökonomische Wissensproduktion beeinflusst notwendig seinen Wertbegriff. Einen Wert erhalte jede Erfahrung aus dem Erfolg einer Handlung in Relation zu den Erwartungen, die diesen Handlungen vorausgingen. Die Summe der Erfahrungswerte ergebe wiederum den Wert, den sich das Selbst zuschreibt. Unser Selbstgefühl hänge vollständig davon ab, was wir von uns selbst glaubten. Es sei vom Verhältnis unserer gegenwärtigen Situation zu unseren inneren Möglichkeiten abhängig; unsere Ambitionen machen den Nenner, das Erreichte aber den Zähler aus.78 Befreit sich das Ich von den Limitierungen der Alltagserfahrungen und setzt es seine gebundenen Energien frei, steigert es seinen Selbstwert – ein Prinzip, das Vorstellungen über das Unternehmertum und der Wirkungsweise des Kapitalmarkts entspricht. Dient die Disziplinierung des Ichs der Freisetzung kreativer Energien, so hilft die Vermessung der menschlichen Kreativität, Kräfte sinnvoll einzusetzen. Das thermodynamische Modell von James folgt nicht mehr nur dem Gesetz der gleichmäßigen Verteilung von Energie, sondern ist auf das ökonomische Ziel ihrer Gewinnung zugeschnitten. Der individuellen Seite gibt James – anders als Münsterberg – größeres Gewicht, den „freien Radikalen“ also, die durch ihre Andersartigkeit große Wirkung erzielen. Sein ökonomisches Naturgesetz entstammt letztlich der Tradition des Liberalismus. Daher werden auch heute noch in wirtschaftswissenschaftlichen Studien der „freie“ Wille und die unabhängige, risikofreudige Entscheidungskraft des Unternehmers als herausragende Merkmale erachtet.

76James: Essays on Religion and Morality, 144. „In physics the conception of ‚energy‘ is perfectly defined. It is correlated with the conception of ‚work.‘ But mental work and moral work, although we cannot live without talking about them, are terms as yet hardly analyzed, and doubtless mean several heterogeneous elementary things. Our muscular work is a voluminous physical quantity, but our ideas and volitions are minute forces of release, and by ‚work‘ here we mean the substitution of higher kinds for lower kinds of detent. Higher and lower here are qualitative terms, not translatable immediately into quantities, unless indeed they should prove to mean newer or older forms of cerebral organization, and unless newer should then prove to mean cortically more superficial, older, cortically more deep“, ebd. 77Ebd., 145. 78„So our self-feeling in this world depends entirely on what we back ourselves to be and do. It is determined by the ratio of our actualities to our supposed potentialities; a fraction of which our pretensions are the denominator and the numerator our success“, James: Principles of Psychology, Bd. I, 296.

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Triebökonomie Von den zahlreichen Versuchen, Naturwissenschaft und Ökonomie, Religion und Philosophie miteinander zu verbinden, war die im Entstehen begriffene Psychologie unmittelbar betroffen. Die jeweiligen, aus der Physiologie und Philosophie stammenden Wissensmodelle mit den ihnen eigenen Dogmen dienten unterschiedlichen Zielen und brachten entsprechend abweichende Resultate hervor. Das thermodynamische Prinzip, das James seinen Principles of Psychology zugrunde legte, um menschliche „Ideen“ freizusetzen, den freien Willen seiner Bestimmung zuzuführen und auf diese Weise Energie zu gewinnen, wurde von Freud in gänzlich anderer Weise gedeutet. Seinen späteren Schriften zufolge stünden den positiven, das Leben bestätigenden Sexualtrieben die negativen, dem Leben gegenüber feindlichen Aggressions- und Destruktionstriebe gegenüber. In Jenseits des Lustprinzips (1920) führt Freud Triebe generell auf einen „Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes“ zurück, der „dem belebten Organischen“ innewohnt.79 Das erste thermodynamische Gesetz, wonach sich Energie permanent umwandelt, versöhnt Freud hier mit dem zweiten Gesetz, das Entropie als treibende Kraft zur Rückkehr in einen „früheren Zustand“ ausmacht. Während die Sexualtriebe im Menschen dem Leben dienen – das Lustprinzip dränge zur Erfüllung von Wünschen, die das Kind einst als verwirklicht erfuhr –, repräsentiert der Todestrieb das „Ziel alles Lebens“, nämlich die Rückführung des Organischen ins Anorganische. Hier lehnt sich die Psychoanalyse – ob gewollt oder ungewollt – an die psychophysischen Ursprünge der Psychologie an. Der Tod bezeichne, Freud zufolge, demnach nicht nur den Übergang vom Organischen zum Anorganischen, sondern von einem Zustand hoher zu einem mit niedriger, durch Reibungswärme „verlorener“ Energie bzw. von einem Zustand niedriger zu einem mit hoher Entropie. Im Ich macht sich der Ausgleich von Energie stets bemerkbar wie Freud in seiner Studie über Die Verdrängung 1915 deutlich machte. Verdrängung erfordert einen Kraftaufwand, „mit dessen Unterlassung ihr Erfolg in Frage gestellt wäre, so daß ein neuerlicher Verdrängungsakt notwendig würde. Wir dürfen uns vorstellen, daß das Verdrängte einen kontinuierlichen Druck in der Richtung zum Bewußtsein hin ausübt, dem durch unausgesetzten Gegendruck das Gleichgewicht gehalten werden muß. Die Erhaltung einer Verdrängung setzt also eine beständige Kraftausgabe voraus, und ihre Aufhebung bedeutet ökonomisch eine Ersparung.“80 Wie James argumentiert Freud also nicht nur nach physikalischem, sondern auch nach ökonomischem Muster. Grundbegriffe der Psychoanalyse – Verdichtung, Verschiebung, Verdrängung, Übertragung und Sublimierung – bezeichnen Mechanismen der Verwandlung, die Triebe und Affekte einem ökonomisch-rationalen Schema unterordnen. Freuds triebökonomisches Modell ­ geht – ganz im Sinne des Liberalismus – von der Annahme zweckrationaler, wenn

79Sigmund 80Sigmund

Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe, Bd. III, 213–272, hier. 246. Freud: Die Verdrängung, in: Studienausgabe , Bd. III, 112.

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auch unbewusst aktivierter Handlungen mit dem Ziel des größtmöglichen Lustgewinns aus. Die Befriedigung der Triebe nach dem Lustprinzip entspricht der Umwandlung von Energie. Besetzungsenergien bestimmen nach Freud die Objektwahl, von der sich das Ich die Befriedigung seiner Triebregungen verspricht. In der Wahl des Sexualobjekts erkennt Freud das Wirken des Ödipuskomplexes, der im Lauf der Lebensentwicklung in den Hintergrund rückt. Sind zunächst die Eltern das Ziel frühkindlicher sexueller Fantasien, so verschiebt sich allmählich das Begehren auf andere Personen. Triebregungen verschwinden, den thermodynamischen Gesetzen endsprechend, nicht einfach. Werden sie nicht ausgelebt, verwandeln sie sich entweder in kulturelle Aktivitäten (Sublimierung) oder rufen durch Verdrängung Krankheitssymptome hervor, so etwa dann, wenn sich das Ich durch seine eigenen Fantasien bedroht sieht. Solche Symptome beschrieb Freud als Neurosen, Psychosen oder Gewaltausbrüche, die sich nicht nur auf Einzelne, sondern auch auf Gruppen von Menschen, ja ganze Gesellschaften erstrecken könnten. Sie würden in milder Form erträglich bleiben, in stärkerer Ausprägung zur Bedrohung für das Ich und die Gemeinschaft werden. Triebregungen, schreibt Freud, könnten entweder „sehr wenig mit psychischer Energie besetzt, oder in wechselndem Grade besetzt und damit zur Aktivität befähigt“ sein.81 Verwandlung, Stauung, Entladung und größtmögliche Verteilung von Energie sind das ökonomische Inventar der psychoanalytischen Theorie, an deren Ende die „Heilung“ des Individuums steht – Gesundung durch Effizienzsteigerung im psychologischen Haushalt. Wie für James spielen Erfahrungen auch in Freuds Denken eine zentrale Rolle. Anders als bei James sind sie jedoch nicht notwendig Quelle von „Ideen“, die der Wille durch Erziehung, Askese und Stimulanzien freisetzen kann. Der esoterische Spiritualismus von James war Freud fremd. Sein atheistischer Impuls, der ihm gebot, Religion als gesellschaftliche Repräsentation des Über-Ichs zu deuten, stand der Wertschätzung von James’ Schriften indes nicht im Wege. Als Freud 1909 einer Einladung G. Stanley Halls, des Präsidenten der Clark University in Worcester (Massachusetts), folgte, um die Ehrendoktorwürde eines Doctor of Law (!) anzunehmen, begegneten sich James und Freud. Die Clark University war zu jener Zeit eine ambitionierte Einrichtung, die mit der Johns-Hopkins-Universität und Harvard vor allem auf dem Feld der Psychologie um eine Art Vormachtstellung konkurrierte. Wie James einige Jahre zuvor den Experimentalpsychologen Münsterberg dazu bewegte, in die USA zu kommen, so verstand es Hall, die Aufmerksamkeit auf das noch junge Feld der Psychoanalyse zu lenken. James, seinerseits mit den Schriften Freuds seit 1894 vertraut, reiste aus dem nicht weit entfernten Boston anlässlich einer der fünf improvisierten Vorlesungen an, die sich Freud zu halten verpflichtet hatte. Während eines Spaziergangs zollte man sich gegenseitigen Respekt und tauschte Komplimente aus. In Briefen meldete James dagegen Bedenken an, die nicht nur Freuds „programmatische, obsessive

81Ebd.

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Feindseligkeit gegenüber der Religion“ betrafen, sondern er verurteilte auch – wie aus einem Schreiben an den schweizerischen Psychologen Théodore Flournoy nach der Begegnung mit Freud in Worcester hervorgeht – dessen „fixe Ideen“ und bekannte, dass er mit der Traumtheorie und der psychoanalytischen Methode nichts anfangen könne.82 War für James der Wille für die Konstitution der Psyche ausschlaggebend, so war es für Freud all das, was den Willen unmerklich beeinflusste. Die psychologische Forschung bezeichnete er daher neben der Kopernikanischen Wende und der Evolutionstheorie Darwins als eine der drei großen Kränkungen der Menschheit. Sie weise nach, dass das Ich „nicht einmal Herr im eigenen Hause“ sei, „sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht“.83 Lehnte James die Vorstellung eines Unbewussten schlechthin ab, so bildete sie für Freud die Matrix, aus der das Ich überhaupt erst hervorgehe. Zwischen Realitäts- und Lustprinzip abwägend, ließen die im ÜberIch verinnerlichten „Gesetze“ der Eltern sowie die Triebregungen des Es keinen Zweifel an ihrer Geltung. Das Über-Ich mache dem Ich Vorgaben für ein Idealbild, an dem es sich fortan orientiere. Das Es wiederum beeinflusst die Ich-Bildung, indem es sexuelle Wünsche nicht nur auf die Eltern richte, sondern auch dem Ich gegenüber anmelde. Diesen primären Narzissmus zu überwinden, sehe das Ich als Aufgabe an, während es zugleich der Befriedigung seiner narzisstischen Absichten zuneige: „Die Entwicklung des Ichs besteht in seiner Entfernung vom primären Narzißmus und erzeugt ein intensives Streben, diesen wiederzugewinnen. Diese Entfernung geschieht vermittels der Libidoverschiebung auf ein von außen aufgenötigtes Ichideal, die Befriedigung durch die Erfüllung dieses Ideals.“84 Im Wesentlichen basiert die Persönlichkeitspsychologie Freuds also auf einer Triebökonomie, die Nutzen und Kosten gegeneinander aufwiegt: „Das Lieben an sich, als Sehnen, Entbehren, setzt das Selbstgefühl herab, das Geliebtwerden, Gegenliebe finden, Besitzen des geliebten Objekts hebt es wieder.“85 Gelangten einst ökonomische Vorstellungen in die Ethik, so erklärten die verstehende Psychologie und ihre psychoanalytische Spielart den Wert des Individuums als internalisierten Prozess einer Eltern-Kind-Beziehung. Wie aber gelangen Individuen nach Freuds Auffassung zu Werturteilen? Den Schlüssel bilden „Objekte“, die den psychischen „Haushalt“ zum Urteil nötigen. Die Übertragung von Gefühlen auf Personen, die Freud als „Objekte“ sexueller Lust bezeichnet, ähnelt einer ökonomischen Transaktion. Auf Objekte richten sich, wie schon Meinong annahm, Wünsche, die sich in Wertvorstellungen verwandeln. Daher ist es konsequent, auch Personen unter dem Begriff der Werte in den Blick

82Vgl.

Peter Gay: Freud. A Life for Our Time, New York und London: Norton 1998, 211 f. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916–1917], in: Studienausgabe, Bd. I, 34–445, hier 284. 84Freud: Zur Einführung des Narzißmus, in: Studienausgabe, Bd. III, 66. 85Ebd., 66. 83Sigmund

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zu nehmen. Weil in der Treibökonomie der Psyche Wünsche bereits als Teil ihrer Befriedigung gelten, auch wenn sie sich nicht erfüllen lassen, betrachten wir notgedrungen alle „Objekte“ in unserer Umgebung durch das Perspektiv der Werte. Wir beurteilen sie nach unseren Bedürfnissen. Dingliche Objekte fallen nach psychoanalytischer Auffassung mit ideellen zusammen, denn Wahrnehmungen sind, ganz der psychophysischen Tradition Wundts gemäß, Übertragungen von Reizen, die in unserem Inneren zu Vorstellungen werden. Wünsche sind nun, dem Denken der Psychoanalyse zufolge, letztlich sexueller Natur, auch wenn sich in ihnen das Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit und emotionaler Sicherheit ausdrückt. Dabei orientiert sich nicht nur die Befriedigung der jeweiligen Wünsche, sondern bereits die Erlaubnis zum Wünschen selbst an den Geboten des Über-Ichs. Es ist kein Zufall, dass sich Freuds Modell der Triebökonomie mit der Grenznutzentheorie Mengers und Friedrich von Wiesers nahezu deckte. Im Anschluss an Menger gab von Wieser dem Begriff des Grenznutzens seine heute noch gültige Bestimmung. Der Wert eines Gutes sei demnach nicht nur nach dem Nutzen für das Individuum zu bemessen, sondern durch die den Nutzen begrenzende Menge, es sei also von der Nachfrage abhängig: Welche Menge hat den größten Nutzen, ab welcher Menge nimmt dieser Nutzen ab? Eine Theorie des Wertes, so Wieser in seiner Schrift Der Natürliche Werth aus dem Jahr 1889, habe mit der Idee des ökonomischen Nutzens in Einklang zu stehen, Wert sei gewissermaßen „d i e R e c h e n f o r m d e s N u t z e n s “.86 Individuelle Wertzuschreibungen müssten daher in Maßeinheiten übertragen werden, um sie in den „Dienst“ der Wirtschaft zu stellen, während umgekehrt Werte auf diese Weise zum „C o n t r o l m i t t e l der Wirtschaft“ würden.87 Wir können ohne Weiteres erkennen, inwieweit die Grenznutzentheorie einem Modell psychischer Bedürfnisbefriedigung Vorschub leistet: Auch das intensivste Verlangen neigt sich gegen Null, sobald es Befriedigung findet, das heißt, wenn sich ein begehrtes „Objekt“ anbietet und gewissermaßen die Nachfrage mit dem Angebot übereinstimmt. Freuds Theorie reichte aber über das Individuum hinaus, während sich von Wieser auf die ökonomische, errechenbare Seite des Wertbegriffs konzentrierte. Freud bettet nämlich die Triebökonomie des Ichs in die soziale Umgebung ein, von der sie abhängig ist: Eltern, „Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus“, zu dem selbst die abstrakte „öffentliche Meinung“ zu zählen sei. Die daraus abgeleiteten ethischen Werte gehen aus einem zwischen Libido und Gewissen, Es und Über-Ich angesiedelten Begehren hervor und schließen Objekte aller Art in sich ein. Der primäre Narzissmus, den Freud als Ursprung des individuellen Selbstverständnisses erkannte, wirke sich daher auf Person und Ding, Gefühl und Wille, Wunsch und Wirklichkeit gleichermaßen aus: „Das Selbstgefühl erscheint uns zunächst als Ausdruck der Ichgröße, deren Zusammengesetztheit nicht wieder in Betracht kommt. Alles, was man besetzt

86Wieser: 87Ebd.,

Der natürliche Werth, 33. 36.

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oder erreicht hat, jeder durch die Erfahrung bestätigte Rest des primitiven Allmachtsgefühls hilft das Selbstgefühl steigern.“88 Was für von Wieser der abstrakte Markt ist, auf dem die Teilnehmer durch Angebot und Nachfrage den Wert eines „Objekts“ ermitteln, ist für Freud das soziale Umfeld, innerhalb dessen das Individuum seinen Selbstwert durch Objektlibido bestimmt – das Maß an individuellem Begehren für ein internalisiertes psychologisches Objekt. Obwohl Freud die Idee der Verwandlung von Energie im psychischen Apparat durchaus vertraut war – „Wo Es war, soll Ich werden“89 –, lag ihm die von James vertretene Vorstellung der Gewinnung von Energie in der menschlichen Psyche fern. Da das Leben dem Gesetz der Entropie unterworfen ist, ergibt sich für ihn die Frage, inwieweit sich der Verlust an Energie im Laufe des Lebens in tolerierbaren Grenzen hält. Sein Persönlichkeitsmodell gestattet, einen hohen Energieverlust, also die durch Reibung bzw. Wärme „verlorene“, geringere Energie, Störungen des Ichgefühls zuzuschreiben. Beruht ein starkes Ichgefühl auf den Überresten eines primären Narzissmus, so ist das Selbstgefühl gerade dann beeinträchtigt, wenn das Über-Ich durch Verbote starke Schuldgefühle hervorruft. „Die bekannten Minderwertigkeitsgefühle des Neurotikers“, schreibt Freud in Das Ich und das Es (1923), „dürften nicht weit davon liegen“.90 Auf den Neurotiker konzentrieren sich die wenigen, unter dem Begriff der „Minderwertigkeit“ zu fassenden Störungen im Befinden des Ich. So zählt der Wiederholungszwang zu den Symptomen, in denen sich die Neurose artikuliert, Energie gewissermaßen verschwendet wird. Verteilt sich, nach den Prinzipien der Physik, Energie durch Entropie im Raum, drückt sich für den Psychoanalytiker Freudscher Provenienz in der Wiederholung das Unvermögen des Neurotikers aus, seiner narzisstischen Störung beizukommen – auch hier wird Energie gewissermaßen ungebunden an seine Umgebung abgeführt. Der Begriff des Wertes, hatte Freud schon 1914 in seiner Einführung des Narzißmus vertreten, bestimme sich nicht allein aus dem Verhältnis von Selbstgefühl und Kränkung, sondern unmittelbar aus den „Objekten“, die das Ich zur Bestimmung seiner Identität heranzieht. Die „besonders innige Abhängigkeit der narzißtischen Libido“, die Freud dem Selbstgefühl zuschreibt, lässt alle Objekte in der Umgebung des Ichs – ob Personen oder Dinge – als Repräsentationen des „Werts“ erscheinen, den sich das Ich zurechnet: „Das Selbstgefühl erscheint uns zunächst als Ausdruck der Ichgröße […]. Alles, was man besitzt oder erreicht hat, jeder durch die Erfahrung bestätigte Rest des primitiven Allmachtgefühls hilft das Selbstgefühl steigern.“91 Umgekehrt wird jeder Verlust eines Objekts, jede unerwiderte Liebe, jede berufliche Zurücksetzung als Beeinträchtigung des Selbstgefühls, letztlich als Entzug von Liebe und Unfähigkeit zur Selbstliebe empfunden: „Die Wahrnehmung der Impotenz, des eigenen

88Freud:

Zur Einführung des Narzißmus, in: Studienausgabe, Bd. III, 62 und 64. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933], in: Studienausgabe, Bd. I, 448–608, hier 516. 90Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: Studienausgabe, Bd. III, 273–330, hier 317. 91Freud: Zur Einführung des Narzißmus, Bd. III, 64. 89Sigmund

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­ nvermögens zu Lieben, infolge seelischer oder körperlicher Störungen, wirkt U im hohen Grade herabsetzend auf das Selbstgefühl ein. Hier ist nach meinem Ermessen eine der Quellen für die so bereitwillig kundgegebenen Minderwertigkeitsgefühle der Übertragungsneurotiker zu suchen. Die Hauptquelle dieser Gefühle ist aber die Ichverarmung, welche sich aus den außerordentlich großen, dem Ich entzogenen Libidobesetzungen ergibt, also die Schädigung des Ichs durch die der Kontrolle nicht mehr unterworfenen Sexualstrebungen.“92 Gegen Ende seiner Untersuchung erwähnt Freud Alfred Adlers Studie über die Minderwertigkeit von Organen (1907)“93 Adler hatte darin schon sieben Jahre vor Freuds Abhandlung über den Narzissmus die Ansicht vertreten, Beeinträchtigungen von Organen spornten zu größerer Leistungsfähigkeit an; Kompensation und Überkompensation seien Reaktionen auf erfahrene Zurücksetzungen.

Mehr Sein als Schein Adler, der Medizin studiert und eine Karriere als Augenarzt begonnen hatte, zählte seit 1902 zu den aktiven Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Von der für den Kreis um Freud selbstverständlichen Erklärung menschlicher Handlungen aus sexuellen Trieben hatte sich Adler allerdings distanziert. Stattdessen betonte er, weitaus stärker noch als Freud, die Abhängigkeit der individuellen Psyche vom sozialen Umfeld. Sein Entwurf des Menschen als eines „zōon politikon“ (Platon), eines an der Gemeinschaft orientierten Wesens, war mit Freuds Auffassung der Persönlichkeit als bloß äußerem Erscheinungsbild einer von den Instanzen des Über-Ich und Es beherrschtem Marionette nicht in Übereinstimmung zu bringen. 1911 kam es zum Bruch mit Freud. Kurz darauf erschien Adlers Theorie Über den nervösen Charakter (1912), worin der pathologische Aspekt der menschlichen Psyche mit ihren allgemeingültigen Funktionsweisen in Einklang stand. Körperliche und seelische Verfassungen des Individuums erachtete Adler als untrennbar verwoben – eine heute selbstverständliche Annahme der modernen Psychosomatik. Von lebenspraktischen Erfahrungen und Beobachtungen aus seiner therapeutischen Arbeit gewann Adler die Einsicht, dass Kultur weniger das Resultat unterdrückter Triebe, sondern eines gesteigerten Leistungsvermögens sei, der allen Menschen gleichermaßen zugestanden werden müsse. Angelehnt an Nietzsches Idee vom „Wille zur Macht“ sprach er in seinem populären Werk Menschenkenntnis (1927) vom „Streben nach Macht“94 und vom „Wille“ als einer 92Ebd.,

Bd. III, 65. Weitaus unbestimmter hatte Freud dagegen den Wertbegriff in seiner Einleitung zu Das Unbehagen in der Kultur (Bd. IX, 197) verwandt: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.“ Was aber sind die „wahren Werte des Lebens“? 94Alfred Adler: „Menschenkenntnis“, in: Studienausgabe, hg. von Karl Heinz Witte, Bd. 5, hg. von Jürg Rüedi, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 72. 93Ebd.

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„Regung, aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit zu einem Gefühl der Zulänglichkeit zu gelangen. […] Jedes Wollen rechnet mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit, der Minderwertigkeit und löst den Zwang aus, die Neigung, einen Zustand der Sättigung, der Zufriedenheit, der Vollwertigkeit anzustreben.“95 Jeder Mensch entwickelt daher von früh an Ziele, um Mängel auszugleichen, und folgt seiner individuellen Bestimmung. Adler nannte seinen Ansatz entsprechend „Individualpsychologie“, wobei Minderwertigkeit für ihn ein allgemeines psychisches Prinzip darstellt. Erst im Verhältnis zur Gemeinschaft erschließt sich ihm die „innere Bewegungslinie eines Menschen“, die in der Diktion der Psychophysik des 19. Jahrhunderts als „Form“, „Rhythmus“, „Energie“ und „Sinn“ in seinen Schriften wiederkehrt.96 Wie Freud schöpft Adler aus dem Vokabular der Ökonomie. Ist Minderwertigkeit die Grundbedingung der kindlichen Seele – man müsse annehmen, „dass am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht“ –, strebe sie fortan nach Geltung.97 Das Geltungsstreben der Seele diktiere das Ziel, Überlegenheit zu erlangen und die eigene Persönlichkeit in ihrem Wert zu heben. Wert ist für Adler deshalb eine relative Größe, die aus der Wahrnehmung des Individuums hervorgeht und nur den Schein von Sicherheit und Unveränderlichkeit vermittelt: „Im Sinne einer Fiktion, in einer Art von wirklicher Schöpferkraft hängen wir uns an einen feststehenden Punkt, den es in der Wirklichkeit nicht gibt.“98 Allein die individuell vorgeprägte Wahrnehmung des Individuums vermittelt einen „Schein von feststehenden, sicheren Werten“, die aus anderer Perspektive als unbedeutend erscheinen mögen.99 Wie an der Börse, wo Werte stets neu verhandelt werden, ändern sich auch ethische Wertvorstellungen in ihrem Verhältnis zueinander, während ihre „Kurse“ stets auf einen Nenner bezogen bleiben. Die Analogien zum Wirtschaftsleben sind offensichtlich. Adlers spricht von der „Rechnung“, die das Individuum zur „Orientierung im Chaos des Lebens“ ansetzt,100 von einem „Plus“, das sich das Ich von der Kompensation seiner Mängel verspricht, und von der „Denkökonomie“ des Menschen.101 Bereits der Begriff der Geltung verweist auf den Wert als Äquivalent. Das Wort „Geld“ ist, wie oben erwähnt, eine etymologische Ableitung von Geltung. Es erinnert an die nominale Größe, auf die sich Handelspartner einigen. Der Geldwert wird demnach als Konvention erachtet, als etwas, das gelten soll und von allen Vertragsseiten anerkannt wird. „Kompensation“, die in Adlers Individualpsychologie als

95Ebd.,

Bd. 5, 45. Bd. 5, 80. 97Ebd., Bd. 5, 72. 98Ebd., Bd. 5, 74 99Ebd. 100Ebd. 101Ebd., Bd. 5, 34. 96Ebd.,

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unmittelbare Reaktion auf die Bedingung der Minderwertigkeit verstanden wird, ist wiederum der Rechtssprache entlehnt und bezeichnet eine vertraglich vereinbarte Entschädigung, die dem Kläger für erlittenen Schaden zugestanden wird. Die juristische Bedeutung des Begriffs ist von seiner ökonomischen nicht zu trennen und meint hier den Gegenwert von Waren, die ein Gericht zu ermitteln hat, wenn sich die Vertragsparteien nicht einigen können. Der Ökonomie war das Wort bald ohne die Annahme eines Streitfalls geläufig, und zwar im Sinne von vertraglich festgesetzten Leistungen, die durch Gegenleistungen – meist in Form von Geld – „auszugleichen“ sind (von ital. „compensare“ = „auswiegen, abwägen“). Vom Wohlbefinden des Individuums, wusste Adler, hängt ein gesundes Gemeinwesen ab. In zahlreichen Vorträgen warb er daher für seinen Ansatz und überzeugte die Stadtverwaltung in Wien von der Notwendigkeit, für präventive Maßnahmen zu sorgen. Etwa dreißig Erziehungsberatungsanstalten wurden auf Adlers Initiative hin eingerichtet, um Eltern zu unterstützen und Kindern zur Seite zu stehen.102 Unter anderem lehrte Adler am Pädagogium der Stadt, deren austromarxistischer Administration er nahestand. Seine Sympathien für den Marxismus brachte der spätere Arzt schon während der Studienzeit zum Ausdruck, als er sich einer entsprechenden Organisation anschloss. Noch in späteren Werken begründete Adler den ethischen Wert des Gemeinnutzes mit dem ökonomischen Mehrwert, der aus einem gesunden „Humankapital“ hervorgehe, und verband Heilung mit Gewinn und Gesundheit mit der gerechten Verteilung von Gütern. Der Linderung ökonomischer Ungleichheit und psychischer Not maß er gleiches Gewicht bei. Sein Begriff der Minderwertigkeit ist daher nicht vom historischen Materialismus zu trennen, den der Marxismus im Anschluss an Hegels Philosophie entwickelte. Die „Logik des menschlichen Zusammenlebens“ beruht Adler zufolge auf materiellen Tatsachen und mündet in der Forderung nach permanenter Verbesserung: „Die Geschichte, vor allem unsere Einsicht in das Einzelleben, unsere Individualpsychologie, lehrt uns […], dass das menschliche Seelenleben gern mit Irrtümern auf die Impulse der ökonomischen Grundlagen antwortet, denen es sich nur langsam entwindet.“103 Diese Irrtümer gelte es zu vermeiden. Mit Adlers Schriften vergewissert sich die Psychologie ihrer ökonomischen Ursprünge. Das Selbstwertgefühl des Menschen ist von seinen wirtschaftlichen Umständen nicht zu trennen und so ist auch seelische Minderwertigkeit nur in direktem Bezug auf eine ökonomische Basis der Gemeinschaft zu sehen. Das psychische Wohlbefinden Einzelner ist von gesellschaftlichem Nutzen wie umgekehrt

102Einer der berühmtesten Mitarbeiter an Adlers Projekt war Karl Popper, der in linken Kreisen verkehrte und seit 1918 Mitglied in der Kommunistischen Partei war. Über Adlers soziales Engagement gibt Edward Hoffman Auskunft: The Drive for the Self. Alfred Adler and the Founding of Individual Psychology, Reading u. a.: Addison-Wesley 1994, besonders 124–138, während Josef Rattner: Alfred Adler. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, wenig zur Verflechtung von wissenschaftlicher und praktischer Arbeit bei Adler beisteuert. 103Adler: Menschenkenntnis, Bd. 5, 42.

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Minderwertigkeitsgefühle Belastungen für die Allgemeinheit mit sich bringen. Beruhen Werte auf Unterscheidungen, dann entstehen persönliche Gefühle von Minderwertigkeit erst durch den Vergleich mit anderen Personen. Werte sind, wie in allen anderen Wissensgebieten so auch hier, Relationen und begründen Hierarchien. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl sehen sich in dieser Hierarchie weit unten, andere, die sich durch Überkompensation an die Spitze arbeiten, entwickeln sich häufig zu „Alphatieren“ – Persönlichkeiten mit ausgeprägtem Führungsanspruch – und sind daher oft Größen des wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Lebens. Führen Minderwertigkeitsgefühle im besten Falle zu Kompensation und Überkompensation, etwa einem gesteigerten Leistungsanspruch, der oft bemerkenswerte Resultate zeitigt, stehen am anderen Ende der Skala Überforderungen, auf die die Betroffenen mit Aggression, Drogenkonsum, sozial auffälligem Verhalten, Depression oder Suizid reagieren. Die Behandlung von Patienten, die entsprechende Symptome zeigen, sind langwierig. Die Kosten trägt die Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die ökonomischen Erfolg als Lebensziel ausgibt, haftet deshalb psychischen Erkrankungen auch heute noch ein soziales Stigma an. Wer sich und anderen psychische Leiden eingesteht, muss mit geringerer sozialer Wertschätzung rechnen. Denn wo ökonomisches Denken die sozialen Beziehungen regelt, erscheinen Menschen als Belastung, die nicht zum materiellen Wohl der Gemeinschaft beitragen können. Ungleichheit ist indes die Voraussetzung kapitalistischen Wirtschaftens. Das Versprechen des Liberalismus ist die „Freiheit“, sich eine Zukunft zu wählen, die für die meisten Menschen nie Wirklichkeit werden wird. Das strukturelle Ungleichgewicht beginnt bei der unterschiedlichen ökonomischen Bewertung von Männern und Frauen, die in vorgeblich fortschrittlichen und auf Gleichstellung bedachten westlichen Gesellschaften üblich ist. Stellt die Beseitigung von Ungleichheit unter den Geschlechtern und sozialen Klassen einen Eingriff in die Autonomie des kapitalistischen Marktes dar, müssen wir fragen, ob nicht der Markt selbst die Ursache für systematische Unterdrückung, psychische Leiden, Depressionen und Suizide ist.104 Die kapitalistische Marktordnung zwingt zur permanenten Bewertung, die von der Leistung auf die Person übertragen wird. In die Bewertungskriterien gehen indes jene Wertvorstellungen ein, die gewünschte oder zu erwartende Resultate vorwegnehmen. Zwischen Wertideen und Vorurteilen besteht dann kein Unterschied mehr. Solange aber an der vermeintlichen Objektivität von Testverfahren – seien es nun schulische Leistungstests, Persönlichkeitstests oder Einstellungstests – festgehalten wird, zeigt sich deren mangelnde Aussagekraft an der statistisch nachweisbaren Diskrepanz zwischen Mann und Frau, Arm und Reich, kultureller Z ­ ugehörigkeit

104Die Opioid-Krise in den USA ist von verschiedenen Seiten auf Arbeitslosigkeit, Armut und die Aussichtslosigkeit auf ökonomischen und sozialen Aufstieg zurückgeführt worden. In welcher Weise Armut stigmatisiert, aber auch inwieweit sich familiäre Krisen, Gewalt und Drogenmissbrauch einer sozialen Schicht über Generationen weitervererben, hat J. D. Vance in Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis (New York: Harper 2016) am Beispiel weißer, armer Amerikaner aus der ländlichen Region der Appalachian Mountains in Kentucky gezeigt.

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und mangelnder Integration. Minderwertigkeitsgefühle sind dann, im Sinne Adlers, keine isolierten Krankheitssymptome und nicht auf Individuen beschränkt, sondern Anzeichen einer gesellschaftlichen Unzulänglichkeit, die wir zu großen Teilen auf die Anforderungen kapitalistischen Wirtschaftens zurückführen können. Denn wer die Kontrolle über Testkriterien hat und sich Fragen vor ihrer Gültigkeit verschließt, der behält die Oberhand in einem ökonomischen Spiel, in dem die Rollen von vornherein ungleich verteilt sind. Zu den frühen Kritikern neoliberaler Unterdrückungsmechanismen zählte Erich Fromm, einer der prominentesten unter den marxistisch orientierten Psychoanalytikern neben Adler, Wilhelm Reich und Otto Fenichel. Seit 1930 Leiter der Sozialpsychologischen Abteilung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, musste Fromm nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten Deutschland verlassen und emigrierte zunächst nach Genf, 1934 dann in die USA, wo er bald an der Columbia University in New York lehrte. 1939 distanzierte sich Fromm nach Differenzen mit den meist ebenfalls in die Vereinigten Staaten emigrierten anderen Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung und dessen Programmatik. Dogmatismus ließ sich ihm nicht nachsagen und von seinen marxistischen Anfängen war in seinen späten Werken wenig zu spüren. Ursprünglich bei Alfred Weber in Heidelberg im Fach Soziologe promoviert, schloss Fromm eine Ausbildung zum Laienanalytiker bei Hanns Sachs ab. Seine Schriften befassten sich von Beginn an mit den sozialen Auswirkungen von Religion, Ökonomie und Gewalt. Wie vor ihm Simmel, Weber und Benjamin, zeigt Fromm die aus religiösen Ursprüngen hervorgegangenen und im Markt institutionalisierten Praktiken, die als säkulare Riten und Kulthandlungen zu erkennen sind. Als Kritiker des Kapitalismus konzentriert sich Fromm auf die schädlichen Folgen einer religiösen Haltung, die den Einzelnen wenig achtet, Ungleichheit schafft und die psychische Gesundheit der Gesellschaft gefährdet. In To Have or To Be? (dt. Haben oder Sein, 1976) unterscheidet Fromm zwischen zwei grundlegenden Existenzweisen des Menschen, einem auf Besitz und einem auf Wissen und Selbsterkenntnis beruhenden Leben. In gewisser Weise gipfeln darin seine Studien zur radikal-humanistischen Psychoanalyse, die mit Büchern wie The Sane Society (1955) und The Revolution of Hope (1968) begonnen hatten. Im Kern geht es um den Nachweis, dass die „Verheißung unbegrenzten Fortschritts“ auf falschen psychologischen Prämissen beruht.105 Zum einen würde Glück fälschlich als „ein Maximum an Lust“ und sonach als „Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse“ verstanden.106 Zum anderen propagiere die Gesellschaft des Spätkapitalismus „Egoismus, Selbstsucht, Habgier“ als Weg zu „Harmonie und Frieden“.107 Die „Fortschrittsreligion“108

105Erich

Fromm: „Haben oder Sein“, in: Gesamtausgabe, hg. von Rainer Funk, 10 Bde., Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1980–1981, Bd. 2, 273. 106Ebd., Bd. 2, 274. 107Ebd. 108Ebd., Bd. 2, 273.

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des Liberalismus trage hingegen nichts zum „Wohl-Sein“109 des Menschen bei. Sie pervertiere die Sehnsucht nach Unabhängigkeit von materiellen Gütern, indem Individuen zu „Rädern in der bürokratischen Maschine“ degradiert würden, erlaube dem Staatsapparat über Massenmedien „unsere Gedanken, Gefühle und unser[n] Geschmack“ zu manipulieren,110 verschärfe die Kluft zwischen reichen und armen Nationen und führe in die ökologische Katastrophe. Obwohl ein radikaler Hedonismus im westlichen Denken tief verwurzelt sei, habe erst das 18. Jahrhundert einen für die gesamte Menschheit bedrohlichen Wandel erfahren, als „das wirtschaftliche Verhalten […] von der Ethik und den menschlichen Werten abgetrennt“ wurde.111 Ökonomie sei nun nicht mehr, wie durch das gesamte Mittelalter hindurch, an ethischen Maßstäben gemessen und der Moraltheologie zugeschlagen worden, sondern wurde fortan als eigenständiges von Moralvorstellungen abgetrenntes System betrachtet. Die selbstsüchtigen Eigenschaften des Menschen traten seither als Teil der „menschlichen Natur“ hervor – ein folgenreicher Trugschluss nach Auffassung Fromms. Am Begriff des „Profits“ könnten wir die Veränderung ablesen. Von Spinoza noch als „Gewinn für die Seele“ gedeutet,112 diente der Begriff des Profits seit dem 18. Jahrhundert ausschließlich als Maß für ein ökonomisches Plus nach Abzug aller Kosten. Was Fromm als Widerspruch darstellt, verschmolz indes mit der Theorie des Liberalismus im 18. Jahrhundert zu einem Amalgam, das unser Denken und Handeln bis ins Detail zu vereinnahmen begann. Dass ethische von ökonomischen Werten nicht zu trennen sind, ist die Konsequenz aus einem auf wirtschaftliche Bedürfnisse ausgerichteten Dogmatismus, der unsere ethischen Entscheidungen leitet. Fromm zeigt die Widersprüche auf, denen wir alltäglich begegnen, und weiß um die Unvereinbarkeit des aristotelischen Ideals vom guten Leben mit dem ökonomischen Gesetz der Mehrung materieller Güter. Seine Kritik beruht auf einer Tradition der Trennung von Geist und Geld, die selbst in früheren Jahrhunderten oft nur eingeklagt, selten aber verwirklicht wurde. Heute hingegen, so Fromm mit Blick auf die Ausbeutung unserer Ressourcen, träten die Folgen der Überbevölkerung mit ihrer Zunahme sozialer Spannungen und das katastrophale Ausmaß der ökonomischen Vorherrschaft ans Licht. Seine sozialhistorisch angelegte Pathologie beschränkt sich indes nicht auf Untergangsszenarien, sondern zielt auf Erneuerung. Der Tradition der Aufklärung verpflichtet, steht die Unterscheidung von „Haben“ und „Sein“ am Beginn einer gesellschaftlichen Utopie. Bedeute der Modus des Habens Akkumulation bis zur völligen Erschöpfung aller Ressourcen, bezeichne das Sein „eine Existenzweise, in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt“ stattdessen aber seine

109Ebd.,

Bd. 2, 274.

110Ebd. 111Ebd., 112Ebd.,

Bd. 2, 277. Bd. 2, 275.

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­„Fähigkeiten produktiv nutzt und eins mit der Welt ist“.113 Die Wahrnehmung des Hier-und-Jetzt, wie sie etwa in fernöstlichen Religionen gepredigt und in praktischen Übungen erlernt wird, verbindet sich bei Fromm mit dem Wissen der Stoa im Sinne einer auf Selbstverbesserung ausgehenden Erkenntnisform und knüpft unmittelbar an die Lebensphilosophie etwa Georg Simmels an. Leben konzipierte Simmel, wie oben erwähnt, als Erlebnisform und Steigerung des Empfindungshorizonts. Nicht die Dinge, sondern das Befinden, nicht das Begehren, sondern das Loslassen, nicht die Befriedigung, sondern die Bedürfnislosigkeit steigern demnach den Selbstwert des Menschen, der sich in einer kapitalistischen Umwelt allzu leicht als minderwertig erfährt. Denn im System der Ökonomie zählt allein der Bezug auf materielle Dinge: „Ich bin, was ich habe und was ich konsumiere.“114 Wer nichts hat, ist gesellschaftlich ohne Bedeutung, denn von Einfluss sind nur ökonomisch erfolgreiche Individuen, die sich im Konkurrenzkampf durchgesetzt haben: „Die Habenorientierung schließt andere aus und verlangt mir keine weiteren Anstrengungen ab, um meinen Besitz zu behalten bzw. produktiven Gebrauch davon zu machen.“115 Der auf Gewinnmaximierung angelegten Gesellschaft der Einzelnen steht, nach Fromms hoffnungsvoller Auffassung, die Gemeinschaft der Verantwortungsbewussten gegenüber: „Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft.“116 Dabei ist sich Fromm darüber im Klaren, dass die Dinge, wie James meinte, unser Selbst bestimmen und nicht umgekehrt. Unseren Wert beziehen wir zu nicht geringen Teilen aus den Objekten, mit denen wir uns umgeben, und jenen, die wir, Freud zufolge, internalisieren. In der kapitalistischen Gesellschaft ersetzt nun das Verlangen nach Dingen die Bedeutung, die wir uns durch ebenjene Dinge zuschreiben. Mit dem Wertverlust der Dinge durch Sättigung, Zirkulation, Nachfrage und andere Marktfaktoren wandelt sich schließlich ihre Bedeutung – und mit ihnen unsere eigene. Minderwertigkeitsgefühle sind die Folge, die wir durch die Abhängigkeit von Gütern – vor allem von jenen, die wir nicht besitzen – erfahren. Nur durch die Abkehr von ihnen würden wir wieder an Eigenwert gewinnen. „Sein“ heißt für Fromm Aktivität, nicht Besitz: den Einsatz für andere, die Fähigkeit zu teilen, die Arbeit an gemeinsamen Zielen. Die „wahrhaft humane Gesellschaft“ selbstbewusster, produktiver Individuen ist die Utopie, die ihm vorschwebt.117 Es überrascht daher nicht, dass Fromm, der den Kapitalismus einst als moderne Religion bezeichnet hatte, seiner Utopie nun selbst ein religiöses Fundament anempfiehlt. „Erlösung“ lässt sich demnach nur erreichen, wenn die neue Gesellschaft keiner Ideologie folgt, sondern einer Religion gehorcht, die auf einem „von einer Gruppe geteilte[n] System des Denkens und Handelns“ fuße, „das dem 113Ebd.,

Bd. 2, 287. Bd. 2, 292. 115Ebd., Bd. 2, 325. 116Ebd., Bd. 2, 333. 117Ebd., Bd. 2, 365. 114Ebd.,

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6  Im Labor der Seele: Mehrwert und Minderwertigkeit

einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet“.118 Religion hat in diesem Sinne die Funktion, Identität zu stiften. Identität kommt indes nicht ohne Wertauffassungen aus, die sich über die „kommunikative Vernunft“ (Habermas) der Gesellschaft vermittelt. Diese offene, auf dem Konsens von Werten beruhende Religion – ein auf Rousseau zurückgehendes Modell der „Zivilreligion“119 – steht damit der „Religion des Industriezeitalters“ gegenüber, in der „die Menschen zu Dienern der Wirtschaft und der Maschinen“ reduziert,120 Arbeit, Eigentum, Profit und Macht hingegen zu Heiligtümern erhoben werden. Fromms Vorschläge dienen heutigen Kritikern des Neoliberalismus als Vorlage: Die zur „Fiktion gewordene ‚freie Marktwirtschaft‘“ sei zu dezentralisieren, das „Ziel unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums“ aufzugeben, Arbeit den psychologischen Bedürfnissen des Menschen zur persönlichen Entfaltung anzupassen, wissenschaftlicher Fortschritt im Sinne der praktischen Anwendung zum Nutzen der Menschheit zu fördern und die „Existenzgrundlage des einzelnen“ zu sichern.121 Heute würden wir von Nachhaltigkeit, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Gemeinnützigkeit und allgemeinem Grundeinkommen sprechen. Die ideale Gesellschaft Fromms gibt nicht etwa einen als schädlich identifizierten Kapitalismus auf. Sie passt ihn schlichtweg den Werten der neuen Sozialform an. Die Trennung von Haben und Sein sei in der „freien Marktwirtschaft“ erst dann überwunden, wenn sich die Mitglieder der humanen Gesellschaft der Selbsterkenntnis widmen und ihren Selbstwert unabhängig von den Dingen erfahren könnten, die ihnen das auf Konsum angelegte Wachstumsmodell bislang vorgeschrieben hat. Der Wertbegriff, den Fromm zugrunde legt, unterstreicht allerdings die enge Verbindung von Ökonomie und Religion, wirtschaftlichem und ethischem Handeln, gerade indem sie auf deren Unvereinbarkeit hinweist. Denn obwohl Fromm auf das Postulat freier Märkte besteht, verzichtet er durchaus nicht auf Forderungen, die für wirtschaftsliberale Denker inakzeptabel wären: hohe soziale Absicherung, ökonomische Regulationsmechanismen, die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung von wirtschaftlichen Interessen, die Eliminierung permanenten Wachstums, die Beschränkung des Konsums auf ein „vernünftiges“ Maß, die politische Partizipation aller Menschen, das Verbot von Lobbyismus und Werbung, die maximale Dezentralisierung von Wirtschaft und Politik, die Beseitigung wirtschaftlicher Ungleichheit, die Gleichstellung der Geschlechter, die Einrichtung eines „Oberste[n] Kulturrats“,122 die Bereitstellung objektiver, von ökonomischen Interessen unabhängiger Informationen sowie die militärische Abrüstung.

118Ebd. 119Mehr

dazu in Kap. 7. „Haben oder Sein“, in: Gesamtausgabe, Bd. 2, 373. 121Ebd., Bd. 2, 393 f. 122Ebd., Bd. 2, 407. 120Fromm:

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Utopien in der Weise Fromms suchen in der heutigen Psychologie ihresgleichen. Sie sind rar geworden, weil ein Blick auf die Geschichte lehrt, dass noch jeder optimistische Gesellschaftsentwurf im Furor seiner guten Absichten untergegangen ist. Allzu oft schwang das Pendel in den Bereich diktatorischer Gewalt und Unterdrückung, um an einen umfassenden, weltumspannenden Lösungsansatz für die Probleme der Menschheit glauben zu können. Utopien der neueren Zeit nehmen daher bevorzugt eine doppelte Rolle ein: Sie ermahnen zur Umkehr, indem sie ein dystopisches Bild der herannahenden Zukunft zeigen, doch nur, um eine an Bedingungen geknüpfte Alternative aufzuzeigen. So hält Hans Jonas den ideologischen Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts den ethisch fundierten Begriff der Verantwortung entgegen. Seine „Heuristik der Furcht“ prognostiziert, nicht anders als Fromm, den Untergang der Menschheit, um einem ökonomischen Interessen dienenden Werterelativismus Grenzen zu ziehen.123 Im Verbund von Wissenschaft und Wirtschaft richte sich die Steigerung von Wissen und Handel schließlich gegen uns selbst: „Erst wurde durch dieses Wissen die Natur in Hinsicht auf Wert ‚neutralisiert‘, dann auch der Mensch. Nun zittern wir in der Nacktheit eines Nihilismus, in der größte Macht sich mit größter Leere paart, größtes Können mit geringstem Wissen davon, wozu.“124 Was Ethikern leer erscheint, verheißt Wirtschaftslenkern nicht selten volle Kassen. Unser Unbehagen angesichts der Leere, die wir empfinden, wenn wir von materiellen Dingen umgeben sind und zugleich Zeugen der Zerstörung unserer Umwelt und des Elends in armen und krisengeplagten Ländern werden, rührt dagegen von einem Gefühl der Schuld her.125 Schuld dürften viele von uns empfinden, die den Kontrast von Recht und Unrecht, den Zusammenhang von Wohlstand und Armut, den Gegensatz von Wertüberzeugung und Wertwirklichkeit in unserer Gesellschaft vor Augen haben. Daher rufen wir nicht nur nach Werten, wenn etwa, wie noch zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, die Not sichtbar und der Schock über die Grausamkeiten auf den Schlachtfeldern greifbar ist, sondern wenn wir im materiellen Überfluss leben. Gerade die materiellen Güter sind es, die uns unsere Verantwortung ins Bewusstsein rücken. Der Appell, sich „westlicher“ Werte zu entsinnen, ist das Eingeständnis unserer Schuld, an die sich ein Minderwertigkeitsgefühl knüpft. Fromm dürfte Jonas darin zugestimmt haben. Welche realistischen Erwartungen dürfen wir an Fromms Utopie richten? Wo Pragmatismus die Hoffnung auf eine Umkehr zum Besseren dämpft, steht für Psychologen allenfalls noch das Verhältnis von individuellem Selbstwert und gesellschaftlichem Umfeld zur Diskussion und findet in einschlägigen Fachkreisen entsprechend Beachtung.126 Selbstkonzepte werden heute vorsichtig als

123Jonas:

Das Prinzip Verantwortung, 7 f. 57. 125Unbehagen rühre nach Freud von einem Schuldgefühl, das Triebunterdrückung und Aggression gegen die eigene Person wende, vgl. Das Unbehagen in der Kultur (siehe oben, Kap. 5). 126Eine Ausnahme bildet Steven Pinker, der, wie mehrfach angedeutet, unerschütterlich auf die Ideale der Aufklärung baut. Pinker ist, wie Fromm, Psychologe. 124Ebd.,

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6  Im Labor der Seele: Mehrwert und Minderwertigkeit

ein aus Einschätzungen von Stärken und Schwächen hervorgehendes Verständnis der eigenen Person beschrieben.127 Neuere Forschungen zum Selbstwertgefühl bestätigen dabei zugleich den Einfluss wirtschaftlicher Faktoren auf das Sozialverhalten. Wie in der Ökonomie tragen Konkurrenz und Wettbewerb, Erfolg und Misserfolg, Gewinn und Verlust wesentlich zur Bewertung des Selbst bei – meist durch den Vergleich mit anderen, wie schon Adler wusste.128 Der im kapitalistischen Wirtschaftssystem gepflegte Individualismus befördert offenbar Narzissmus und Asozialität. Ist nicht Kooperation, sondern Konkurrenz das Prinzip des Kapitalismus, dann führt bereits die Unterdrückung „positiver Illusionen“, die mit dem Selbstkonzept verbunden sind, zu Minderwertigkeitsgefühlen. Selbstkonzept und Selbstwert sind dabei als dynamische Prozesse zu erachten, die von Zeitpunkt, Geschlecht, Milieu, Kontext und nicht zuletzt vom ökonomischen Umfeld abhängen. Das Bild vom Ich ändert sich dabei kontinuierlich und es ist fraglich, inwieweit wir überhaupt von einem unveränderlichen Kern der Persönlichkeit, einem, wie James meinte, „spirituellen Selbst“, ausgehen können. Individualität hängt nach heutigem Wissen hauptsächlich von der Fähigkeit zur Bewertung ab. In der Bewertung von Situationen, Objekten und Menschen vergleichen sich Subjekte letztlich miteinander. Werte sind daher nur im sozialen Rahmen denkbar – und zwar als soziales Konstrukt.129 Minderwertigkeitsgefühle sind kein Zeichen individuellen Leidens, sondern, nach Adler und Fromm, Symptome der ökonomischen Wirklichkeit. Existenzielle Sorgen zwingen dazu, sich den Anforderungen des Marktes zu unterwerfen. Die Sicherung des Einkommens hängt davon ab, wie wir uns auf diesem Markt „verkaufen“. Der Zwang zum Selbstmarketing ist ein Kennzeichen der modernen, liberalen Wirtschaftsordnung, die den Typus des Homo oeconomicus von seiner

127„‚Gut versus schlecht‘ stellt eine zentrale Bewertungsdimension dar, entlang derer von frühester Kindheit an selbstbezogene Wissenselemente angeordnet werden, sodass eine nachhaltige Tendenz zu entstehen scheint, selbstbezogenes Wissen hinsichtlich seiner Valenz zu organisieren“, Sigrun-Heide Filipp und Anne-Kathrin Mayer: „Selbstkonzept-Entwicklung“, in: Soziale, emotionale und Persönlichkeitsentwicklung, hg. von Jens B. Asendorpf, Göttingen u. a.: Hogrefe 2005, 259–334, hier 261. 128So kommt etwa Astrid Schütz zu dem wenig überraschenden Schluss, dass ein hohes Selbstwertgefühl auf „positiven Illusionen“ beruht: „Personen mit hohem Selbstwertgefühl tendieren dazu, Erfolge persönlich zu nehmen, nicht aber Misserfolge, ihre Verantwortung für soziale Konflikte zu unter- und ihre Attraktivität auf andere zu überschätzen“, Psychologie des Selbstwertgefühls. Von Selbstakzeptanz bis Arroganz, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 2000, 205. 129Psychologen wissen um die Abhängigkeit des Selbstwerts vom Status innerhalb einer Gruppe. Selten hingegen erscheint das Konzept des Status als ökonomisch definierte Hierarchie. In ihren statistischen Methoden zum Selbstwert neigen Psychologen hingegen – wie Soziologen – zur Erfragung von Wertbegriffen, die ihren eigenen Fragebögen und Testverfahren zugrunde liegen, und sie bestätigen Werte, die eigentlich Gegenstand der Erkenntnis sein sollten. Ihrer eigenen Werte ungeachtet, fallen neuere psychologische Konzepte zum Teil hinter Ansätze wie diejenigen Adlers und Fromms zurück, denn letzteren war der Zusammenhang zwischen Selbstwert und ökonomischem Umfeld stets bewusst.

Mehr Sein als Schein

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einstigen Randstellung ins Zentrum gesellschaftlicher Wertvorstellungen gerückt hat. Im Wettbewerb um höhere Anteile werten sich die jeweiligen Wirtschaftssubjekte gegeneinander und werden von Arbeitgebern an ihren Fähigkeiten und Arbeitsleistungen gemessen. Der Mensch wird sich selbst zum Objekt, dem er wertend gegenübersteht. Als Gegenstand seiner ökonomischen Wertauffassung ist er zugleich deren Medium. Denn das Bewertete ist mit dem Wertenden identisch; es repräsentiert einen Wert, den es selbst erst hervorzubringen gezwungen ist. Minderwertigkeitsgefühle sind dann ein Nebenprodukt dieser Bewertungen – die negativen Pole von Wertbestimmungen. Daher sind Bemessungen des Ichs durch Testverfahren, wie sie die Angewandte Psychologie erfunden hat, eine moderne Begleiterscheinung ökonomischen Denkens. Bei der Vermittlung von Gütern und Gutem, ökonomischem Erfolg und ethischer Vernunft, von Ding und Denken, werden wir zwangläufig zu Verkäufern unserer selbst, zu vermeintlich freien Individuen, die auf Propaganda als kommunikativer Verkaufsstrategie und Katalysator für die Verherrlichung des Ichs bauen. „Die erstrebten psychologischen Einwirkungen des Verkäufers sind ja“, wie Münsterberg schon 1912 feststellt, „nicht unähnlich denen der gedruckten Propagandamittel. Auch hier gilt es, die Aufmerksamkeit des Kunden auf bestimmte Punkte zu richten, lebhaften günstigen Eindruck zu erwecken, die Vorzüge der Ware hervorheben und in volles Licht zu setzen und schließlich die Willensentscheidung zu beeinflussen, sei es durch überzeugende Argumente, sei es durch Überredung und Suggestion.“130

130Münsterberg:

Psychologie und das Wirtschaftsleben, 170. Bereits Adam Smith hatte darauf hingewiesen, dass jeder Mensch durch Austausch lebe und zum Händler in eigener Sache werde („Every man thus lives by exchanging, or becomes in some measure a merchant, and the society itself grows to be what is properly a commercial society“), Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 1, 37.

7

„Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

Was Propaganda bewirkt Niemand soll sagen, Meinungs- und Pressefreiheit wären keine wichtigen Werte – manchmal sogar wichtiger als Menschenleben. Am 6. April 1994 begann der Völkermord in Ruanda. Zwischen 800.000 und 1.000.000 Tutsi starben durch die Hände der Hutu-Mehrheit im Lande. Zur Eskalation trug der Radiosender Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) in erheblichem Maß bei. Finanziert von einer extremistischen, aber wohlhabenden und einflussreichen Gruppe aufseiten der Hutu-Bevölkerung, erreichte der Radiosender seit 1992 vor allem weniger Gebildete, Arbeitslose und in Milizen radikalisierte Parteigänger. Die Sprache der Moderatoren war bisweilen obszön, die Botschaft simpel: Tutsi seien schuld am wirtschaftlichen Elend und den politischen Unruhen, ihre Vernichtung sei daher gerechtfertigt. Bevor das Morden begann, riefen Radio-Sprecher dazu auf, ihr Land in einem „Endkampf“ zu verteidigen, alle Tutsi „auszurotten“ und für immer vom Angesicht der Erde verschwinden zu lassen. Die moralische Schwelle zum Mord sank, je mehr den Tutsi alles Menschenähnliche genommen wurde. Von Ungeziefer war die Rede – „Kakerlaken“, von denen das Land zu säubern sei. Die internationale Gemeinschaft versagte, der Völkermord wurde als „ethnischer Konflikt“ verharmlost. Ein militärischer Eingriff blieb aus. Der damalige US-Botschafter David Rawson vermied es, von Genozid zu sprechen und sah in den systematischen und von verschiedenen Propagandainstrumenten vorbereiteten Verbrechen einen Ausbruch von spontanem Hass und plötzlicher Gewalt.1 In Burundi aufgewachsen und der lokalen Sprache mächtig, dürften ihm die menschenverachtenden und extremistischen Botschaften des Radiosenders RTML und anderen, ähnlich gesinnten Medien kaum entgangen sein. Das Studio von RTML lag 1So Rawson in einem Interview mit News Network International, zit. nach Rakiya Omaar and African Rights [Organization]: Rwanda. Death, Despair and Defiance, 2., überarbeitete Auflage, London: African Rights 1995, 1131 f.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_7

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7  „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

nicht weit vom Gebäude der US-Botschaft. Nach dessen Zerstörung fuhren mobile Sendestationen mit Lautsprechern vor dem Botschaftsgebäude vorbei. Dennoch wurden die täglichen Berichte über die Medienlage in Ruanda mit ihren zunehmend hasserfüllten Nachrichten von Rawson unterschätzt oder ignoriert. Botschaftsangehörige konzentrierten sich stattdessen auf die Anprangerung von Pressezensur und die Unterdrückung von Journalisten.2 Angesprochen auf die verbalen Entgleisungen und den radikalen Ton des Senders, antwortete Rawson, die zunächst euphemistischen und verklausulierten Mordaufrufe der Radiomoderatoren stünden der Interpretation offen: „We believe in the freedom of speech.“3 Wo endet das im 19. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbriefte und von Demokratien gemeinhin konstitutionell begründete Recht auf freie Meinungsäußerung, wo beginnen Volksverhetzung, Hassreden und Menschenverachtung? Der 5. Artikel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gesteht jedem Bürger das Recht zu, Meinungen „in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“,4 ohne jegliche Zensur. Gleichzeitig ist das Recht nur garantiert, wenn dadurch keine Persönlichkeitsrechte verletzt oder Volksgruppen diskriminiert werden. Der Volksverhetzung macht sich nach deutscher Rechtsprechung (§ 130, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs [StGB]) schuldig, wer „gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ zum „Hass aufstachelt“ und zu „Gewalt- und Willkürmaßnahmen“ auffordert, wer zudem Einzelne, die diesen Bevölkerungsgruppen angehören, „beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet“.5 In den USA hingegen ist der erste Zusatz zur Verfassung – das „First Amendment“ zur „Bill of Rights“ aus dem Jahr 1787 – weitaus großzügiger gefasst. Wenn Verleumdung und Rufmord nicht eindeutig und objektiv und gegen ein bestimmtes Individuum gerichtet sind, wenn Äußerungen nicht pornographischen oder obszönen Inhalts sind, wird sich schwerlich ein Richter finden, der den in Deutschland geltenden M ­ aßstäben

2„Despite the overwhelming amount of evidence providing the existence of the dangerous hate propaganda, the U.S. mission focused its attention on the condemning press censorship and irresponsible journalism“, Jared Cohen: A Hundred Days of Silence. America and Rwanda Genocide, Lanham u. a.: Rowman & Littlefield 2007, 36. 3Zit. nach der Webseite Rwandan Stories [o. A. und o. J.], http://www.rwandanstories.org/genocide/hate_radio.html (3. Dezember, 2018). Studien belegen, dass mehr als 10 % der Gewalttaten auf die rassistische Propaganda von RTML zurückzuführen sind, vgl. den knappen Überblick von Julia Sanders: Rwandan Genocide. The Unspeakable Evils of Ethnic Cleansing and Genocide in Rwanda, Middletown, Delaware: 2018 (ohne Verlags- und Seitenangabe). Unter den vielen mittlerweile erschienenen Büchern empfiehlt sich Philip Gourevitch: We Wish to Inform You That Tomorrow We Will Be Killed With Our Families, New York: Picador und Farrar, Straus & Giroux 1998. Zur Rolle der Medien vgl. Alan Thompson und Kofi Annan (Hg.): The Media and the Rwanda Genocide, London und Ann Arbor, Michigan: Pluto Press sowie Kampala: Fountain Publishers, Ottawa u. a.: International Development Research Centre 2007. 4Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, http://www.gesetze-im-internet.de/gg/index.html (3. Dezember 2018). 5Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Strafgesetzbuch, http://www.gesetzeim-internet.de/stgb/__130.html (3. Dezember 2018).

Was Propaganda bewirkt

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zustimmen würde. Gegen Bevölkerungsgruppen und selbst ihre Mitglieder Beleidigungen auszusprechen, zählt zum Recht auf freie Meinungsäußerung, „Hate Speech“ ist gewissermaßen durch die Verfassung geschützt, wenn auch nicht gesellschaftlich akzeptiert. Gerichtsurteile in den USA streichen freie Rede als Wert heraus, den es zu schützen gelte, selbst wenn sie Hassbotschaften enthalten: „However, the suppression of speech, even where the speech’s content appears to have little value and great costs, amounts to governmental thought control.“6 Dass Privatpersonen und private Unternehmen Gedanken nicht anders als staatliche Stellen „kontrollieren“, dass es eher um Kontrolle im Allgemeinen als um diejenigen geht, die sie ausüben, kommt in der US-Gesetzgebung nicht zur Sprache. Entsprechend hat sich der amerikanische Supreme Court am 21. Januar 2010 dafür ausgesprochen, Unternehmen keine Grenzen bei der Parteienfinanzierung zu setzen. Private Körperschaften sollten wie Einzelpersonen behandelt werden, es stünden ihnen die gleichen Rechte auf freie Meinungsäußerung zu, wie jedem anderen auch. Gegner der Gesetzgebung innerhalb des neunköpfigen Richtergremiums argumentierten hingegen, dass das Urteil die Grundfesten der Demokratie erschüttern würde.7 Zwar sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich, doch wenn es um freie Meinungsäußerung geht, gibt die Finanzkraft den Ausschlag. Der Eindruck liegt nahe, dass sich Meinung erkaufen lässt. Jene, die ohne Mittel sind, bleiben in der größten Demokratie der Welt stumm. Ein Beispiel für das erkaufte Recht zur „freien“ Meinungsäußerung ist der Einfluss der Brüder Charles und David Koch, Besitzer des zweitgrößten privaten Unternehmens der USA. Koch Industries investiert vor allem auf dem Gebiet der petrochemischen Industrie. Die Koch-Brüder bezeichnen sich als „Liberterians“, folgen also einer Doktrin maximaler politscher Freiheit, also auch der Meinungsfreiheit, nehmen aber das Recht zur Einflussnahme auf die Meinungen anderer durch finanzielle Mittel ausgesprochen ernst. Ihre ultrakonservativen, anti-wissenschaftlichen – die Kochs zählen zu den bekanntesten Leugnern der weltweiten Klimaerwärmung – und

6Amos N. Guiora beschreibt in Tolerating Intolerance. The Price of Protecting Extremism, Oxford und New York: Oxford University Press 2014 (hier 149), inwieweit „Hate Speech“ von der Verfassung geschützt ist. Das Zitat ist der Entscheidung des District Court for the Eastern District of Wisconsin aus dem Jahr 1991 entnommen, der eine Entscheidung über die Einführung eines sogenannten „School Codes“ zur Regelung von Kommunikationsstrukturen an der University of Wisconsin, einer staatlichen Universität, zu treffen hatte. Vgl. auch das Kapitel „The Language of Hate Speech, Hate Talk, and the First Amendment“, in: Victoria Munro: Hate Crime in the Media, Santa Barbara u. a.: Praeger 2014, 211–236, woraus der folgende Kommentar stammt (223): „Those who have always had the power to determine language, labels, and inclusion continue to fail to see that the ‚freedom speech‘ frame privileges the status quo and ignores those who are always asked to bear the burden of hateful speech or harassment. Those who are never recipients of hate speech can righteously say that our First Amendment rights trump all else.“ 7Präsident Obama nannte das Urteil seinerzeit „a major victory for big oil, Wall Street banks, health insurance companies and the other powerful interests that marshal their power every day in Washington to drown out the voices of everyday Americans“, vgl. Adam Liptak: „Justices, 5–4, Reject Corporate Spending Limit“, in: The New York Times, 21. Januar 2010, http://nytimes. com/2010/01/22/us/politics/22scotus.html (3. Dezember 2018).

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7  „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

rassistischen Ansichten – die Unterstellung, Barack Obama sei kein Amerikaner, sondern ein afrikanischer „Usurpator“, fand ihre glühende Unterstützung – verbreiteten sie durch ein politisches Netzwerk, das seit den 1970er Jahren zu außerordentlicher Größe mit nicht zu unterschätzendem Einfluss herangewachsen ist. Die Koch-Brüder beschäftigen allein in ihrem politischen Netzwerk 1600 Personen in 35 amerikanischen Staaten und verweisen mit Stolz darauf, nicht weniger als 80 % der amerikanischen Bevölkerung mit ihren Botschaften über Personen und Medien zu erreichen.8 Allein für das Jahr 2016 standen 750 Million Dollar für politische Lobbyarbeit zur Verfügung, mit dem die Kochs die Wahlkämpfe um 19 Senatorensitze, 42 Abgeordnetensitze im House of Representatives und vier Gouverneurswahlen beeinflussten, zahlreiche Wahlkämpfe auf kommunaler Ebene nicht hinzugerechnet. Der jetzige Außenminister Mike Pompeo stand ebenso auf der Gehaltsliste der Koch-Brüder wie Vizepräsident Mike Pence, der nicht weniger als 300.000 US$ für einen seiner Wahlkämpfe erhielt. Das Geld für das Budget des politischen Netzwerks stammt nicht nur von den Kochs, sondern von Spenden, die lediglich 400 Personen in den USA beigesteuert haben.9 In einem von Geld dominierten Wahlsystem sind stets diejenigen politischen Kandidatinnen im Vorteil, denen eine höhere Summe zur Verfügung steht. Wenn wir das amerikanische System als unlauter erachten, so sei daran erinnert, dass die Flick-Affäre – Spenden in Höhe von 26 Mio. Mark, die unter dem damaligen Flick-KG-Vorsitzenden Eberhard von Brauchitsch an alle Politiker im Bundestag zur „Pflege der Bonner Landschaft“10 verteilt wurden – und die später aufgedeckte Spendenaffäre der CDU unter Helmut Kohl zeigen, dass Korruption auch in der rechtsstaatlichen Demokratie Deutschlands keine Seltenheit ist.11 Sofern G ­ elder, wie in der CDU-Spendenaffäre, nicht direkt an private Vorteilsnehmer flossen, gingen die Beträge unmittelbar in Wahlkämpfe und Meinungsumfragen ein und verschafften der CDU einen Vorsprung vor der Konkurrenz. Meinungs- und Pressefreiheit sind in Deutschland heute vor allem durch die rasant an Zustimmung

8Jane

Mayer: Dark Money. The Hidden History of the Billionaires Behind the Rise of the Radical Right, New York: Anchor Books, 2017, XVII. Mayers Buch gibt Auskunft über den unvorstellbaren Einfluss, den Einzelpersonen in den USA ausüben können. 9Ebd., XIII–XVII. 10Auszüge aus dem Protokoll des Bonner Untersuchungsausschusses finden sich in Die Zeit Online: „Was von Brauchitsch sagte“ [o. A.], 18. Januar 1985, https://www.zeit.de/1985/04/waseberhard-von-brauchitsch-sagte/komplettansicht (3. Dezember 2018). Das Geld der Flick-Familie stammt ursprünglich aus Waffengeschäften mit den Nationalsozialisten und reicht den Enkelkindern des einstigen Firmenpatriarchen zu einem Leben in Luxus. Die Nachrichtenagentur Bloomberg errechnete, dass die Geschwister Flick die jüngsten Milliardäre der Welt sind, vgl. David de Jong: „The World’s Youngest Billionaires Are Shadowed by a WWII Weapons Fortune“, Bloomberg, 3. Mai 2018, http://www.bloomberg.com/news/articles/2018–05-03/world-s-youngest-billionaires-are-shadowed-by-ghosts-of-german-past (3. Dezember 2018). 11Seit 1982 unterhielt die CDU schwarze Kassen in der Schweiz, die zum Teil aus Bargeld-Spenden, zum Teil aus der illegalen Abführung von Mitteln der Bundestagsfraktion in die Schweiz bestand und auf diese Weise nicht versteuert werden mussten. Geldgeber waren Industrielle, die dafür im Gegenzug Leistungen erwarteten.

Was Propaganda bewirkt

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gewinnenden rechtsextremistischen Gruppen bedroht, die Journalisten attackieren und an ihrer Berufsausübung hindern. Während Deutschland an 15. Stelle im World Press Freedom Index 2018 steht, sind die USA auf den 45. Rang zurückgefallen. Sind zum einen die durch finanzkräftige Geldgeber erkauften propagandistischen Mittel ein strukturelles, demokratiefeindliches ein Problem, wird zum anderen unliebsamen Journalisten mitunter systematisch der Zugang zu Informationen versperrt. Auch Medien pauschal als lügnerisch zu denunzieren zählt zu den Mitteln, die Glaubhaftigkeit journalistischen Arbeitens zu unterminieren. Die tief sitzende Skepsis gegenüber dem Staat einerseits und die Stützung privater Rechte andererseits sind Merkmale des Liberalismus. Eigen ist ihm aber auch das Fehlen ethischer Standards, denn ihm geht es hauptsächlich um die „Freiheit“, Handel zu treiben. Das erklärt, weshalb Rawson in Ruanda die Rolle der Medien unterschätzte, denn Propagandawerkzeuge wie Radio RTML waren in privatem Besitz. Hinter dem Aufruf zum Mord an den Tutsi standen handfeste materielle Interessen. Wenn es einen Wert gibt, der durch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zumindest ebenso hoch geschätzt wird wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, dann ist es das Recht auf die Mehrung des Wohlstands – „The Pursuit of Happiness“ wie es in der amerikanischen Verfassung heißt. Das Betreiben einer Radiostation stellte aus Sicht Rawsons lediglich eine private Investition einiger Geldgeber dar und wurde als eine geschäftliche Einrichtung, nicht als Mittel zur Verbreitung von Angst und Hass betrachtet. Auch wenn die Ursachen für den Völkermord in Ruanda komplexer Natur sind, wurde seine mediale Propagierung durch den vermeintlich freien Markt gedeckt und förderte Unfreiheit und Unterdrückung. Der auf Milton Friedman zurückgehende Neoliberalismus mit seinen durch den „Washington Consensus“ gutgeheißenen Maßnahmen greift sowohl in Demokratien als auch in Diktaturen: Kürzung der Staatsausgaben, Deregulierung der Finanzmärkte, Abbau von Handelsbeschränkungen, Privatisierung von Staatseigentum, „Verschlankung“ der Bürokratie, Streichung von Subventionen, Steuersenkung von Spitzensteuersätzen bei gleichzeitiger Erhöhung indirekter Steuern, die den Großteil der ärmeren Bevölkerung treffen, Einschränkung von Arbeitsrechten und generell die Transformation des Wohlfahrtstaats zu einer Institution, in der die Menschen größere Verantwortung für sich selbst übernehmen sollen. Die Resultate sind zum Teil verheerend. Eigentum verlagert sich von unten nach oben, politische und ökonomische Eliten verteilen die Macht unter sich, Staaten sind von Banken, insbesondere den Darlehen der Weltbank und den Vorgaben des Internationalen Währungsfonds abhängig, die soziale Ungleichheit wächst, Menschen werden ihrer politischen Mitbestimmung beraubt.12 Es überrascht nicht, dass die ersten Staaten, die bereit waren, neoliberale Ideen politisch umzusetzen, diktatorisch regiert wurden: 1973 durch Augusto Pinochet in Chile, anschließend von den Militär-Regimen in Brasilien, Uruguay und Argentinien. Das Recht auf freie Meinungsäußerung spielt für illiberale, autoritäre und diktatorische bekanntlich eine untergeordnete Rolle. 12Siehe

oben, Kap. 4.

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7  „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

Wirkungslos sind die durch Meinungs- und Pressefreiheit geschützten Medien indes keineswegs, schon gar nicht in westlichen Demokratien. Schon immer fanden diejenigen „Meinungen“ größtes Gehör, die am weitesten verbreitet, am lautesten vertreten und am schrillsten skandiert wurden. Besitzer von Medienunternehmen wissen, dass ihnen Skandale und markige Überschriften höhere Umsätze bringen. Geschützt vom Recht der Presse auf unzensierte Veröffentlichung und die freie Ausübung journalistischer Tätigkeiten, dienen Medien in Demokratien nicht nur der Kontrolle staatlicher Organe und der Verbreitung von Informationen, sondern bedienen auch den Wunsch nach Unterhaltung und Ablenkung in einer Welt, die durch monotone Arbeitsvorgänge, Anpassungsdruck und Effizienzsteigerung an Sinn und Bedeutung verloren zu haben scheint. Doch was den allgemeinen Sinnverlust durch die von Medien entworfene Realität zu lindern vorgibt – die Flucht in Fiktionen –, verstärkt lediglich die Gewissheit, in einer monetarisierten, von fremden Interessen geleiteten Gesellschaft zu leben, in der wir nun vor allem auch unsere Aufmerksamkeit zu Markte tragen. Unser Stammhirn reagiert unweigerlich auf Signale, die auf Gefahr verweisen, und auf sexuelle Stimuli. Unsere biologische Verfassung beruht auf einem ReizReaktions-Schema, das trotz aller evolutionären Fortentwicklungen zu abstraktem Denken und der Fähigkeit zu strategischer Planung weiterhin die Oberhand behält. Werbeschaffende wissen ebenso um unsere biologischen Schwächen wie seriöse Medienanbieter. Darum erscheinen Produktanzeigen und Politiknachrichten auf der gleichen Seite einer Zeitung, sind News aus Kultur, Wirtschaft oder Sport auf Internetseiten von Werbebannern umgeben. Die ethischen Werte der freien Meinungsäußerung und der freien journalistischen Berufsausübung bringen monetäre Vorteile vor allem für die Besitzer von Medien. Es verwundert daher nicht, dass die gesetzlich garantierte Meinungs- und Pressefreiheit an erster Stelle die Meinungen von Unternehmern und jenen schützen, die für sie arbeiten. Wer Geld hat, kann Meinungen „machen“, wer keines hat, ist ihnen ausgesetzt. Die Machtkonzentration in den Händen weniger Medien-Konzerne – nur zehn Mega-Konzerne dominieren beispielsweise den englischsprachigen Medienmarkt und sorgen für die Verbreitung des „American Way of Life“ in alle Welt13 – wird durch ein neoliberales Gerüst gestützt, dass es Konzernen erlaubt, eigene Interessen durchzusetzen. Obwohl Demokratien Meinungsvielfalt als Voraussetzung für die politische Willensbildung erachten, untergräbt der liberale Markt die Prinzipien der Demokratie.14 Die Vielfalt an Perspektiven wird durch den Filter kapitalistischen Wirtschaftens gebündelt. Wo aber Aufmerksamkeit zur Währung wird,

13Christine C. Sanders: The Information Revolution and World Politics, Lanham u. a.: Rowman & Littlefield 2008, 207. 14Auf die Gefahren für den sozialen Frieden und die zivile Gesellschaft hat der ehemalige schwedische Ministerpräsident und heutige Vorsitzende der Global Commission on Internet Governance, Carl Bildt, in einem Bericht hingewiesen und einen neuen Gesellschaftsvertrag gefordert, vgl. Global Commission on Internet Governance: One Internet, http://www.ourinternet.org/ report, 21. Juni 2016 (3. Dezember 2016).

Was Propaganda bewirkt

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gedeihen extremistische Ansichten leichter. Denn Medien geht es in erster Linie um Profite. Ohne Einnahmen könnten sie nicht bestehen und ihren ethischen Auftrag der Meinungsbildung nicht erfüllen. Eine Ideologie, die sich als ideologiefrei zu tarnen weiß, hat ihr propagandistisches Ziel erreicht: „Wenn sich der Neoliberalismus, oft mit Erfolg, als reine Abwesenheit darstellt, als Freiheit von bürokratischen Regulierungen oder als Zurückweisung menschlicher Eingriffe in das Wirken der vermeintlich natürlichen Kräfte des Marktes, ist das das beste Indiz dafür, wie gründlich moderne Gesellschaften seine Prinzipien bereits verinnerlicht haben.“15 Unter Politikwissenschaftlern herrscht deshalb weitgehend Einigkeit darüber, dass politische Kommunikation keineswegs dem demokratischen Selbstverständnis von Wählerinnen dient. Der Grund dafür liegt in der Machtfülle der Medien.16 Propaganda leitet sich aus dem Lateinischen „propagare“ ab und bedeutet „ausbreiten“, „erweitern“ oder „fortpflanzen“. Während der Gegenreformation schuf die katholische Kirche die päpstliche Behörde Congregatio de Propaganda Fide, ein Büro für die „Ausbreitung des Glaubens“. Seine moderne Bedeutung erhielt der Begriff während der französischen Revolution. Hier bezog sich „Propaganda“ auf die Richtungsunterschiede zwischen den streitenden Parteien, bevor staatliche Institutionen wie der Club de la Propagande ihn in sich aufnahmen – ein Vorbild für nachfolgende staatliche Stellen zur Verbreitung politischer Weltanschauungen. Wir dürfen an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter den Nationalsozialisten denken oder auch das Propagandaministerium der Kommunistischen Partei Chinas, das nach eigener Auffassung – und dem chinesischen Wort für Propaganda entsprechend – lediglich Nachrichten „sendet“ oder „verbreitet“.17 In Demokratien ist von Propaganda allein in Bezug auf totalitäre Regime die Rede, da dort Weltanschauungen nicht zur Diskussion stehen, sofern sie den staatlich verordneten zuwiderlaufen. Doch auch in Demokratien kommt Propaganda zur Anwendung, und zwar nicht selten mithilfe der gleichen Mittel der Massenbeeinflussung, die sich auch in Diktaturen großer Beliebtheit erfreuen: Werbung (für Produkte ebenso wie für Politiker und Wirtschaftslenker), Public Relations, Imageberatung und gelegentlich auch subtile Verfahren der Beeinflussung wie das unter Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein unter der Obama-Administration zu großer Popularität gelangte „Nudging“ – also „Anstöße zu geben“ oder „Anreize zu schaffen“, um Menschen dazu zu bewegen, das „Richtige“, das heißt das von der Regierung Vorgesehene zu tun.18

15Harald

Staun: „Neoliberalismus: Das Gespenst der totalen Durchökonomisierung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Oktober 2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/neoliberalismus-das-gespenst-der-totalen-durchoekonomisierung-13874.301.html (3. Dezember 2018). 16Karen Sanders: Communicating Politics in the Twenty-First Century, Houndsmill u. a.: Palgrave Macmillan 2009, 33. 17Ebd., 28. 18Vgl. Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein: Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, New Haven: Yale University Press 2008.

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Die in Demokratien gängigen Strategien der Beeinflussung erfüllen in der Tat die Definitionen von Propaganda als eines „gezielten Versuch[s] von Personen oder Institutionen, einen bestimmten Adressatenkreis durch Informationslenkung für eigennützige Zwecke zu gewinnen und diese Zwecke zugleich zu verschleiern“.19 Die totalitären Regimen angelasteten Techniken der Propaganda, die eine „einseitige und durch kein Kontrollorgan überprüfbare Verwertung von Daten und deren Wahrheitsgehalt“ forcieren, ohne einer „direkten Analyse zugänglich“ zu sein und daher eine scheinbar „willkürliche Verknüpfung von Absicht und Wirkung“ hervorbringen,20 sind auch in Demokratien im Einsatz. Hier erachten wenige Megakonzerne unter dem Primat des „freien“ Handels Informationen als Konsumgut, während sich staatliche Institutionen wie die amerikanische National Security Agency (NSA), die britischen Government Communications Headquarters (GCHQ) oder der Bundesnachrichtendienst (BND) Zugang zu diesen Informationen beschaffen können und mit Privatunternehmen zusammenarbeiten, wie die Affäre um Edward Snowden gezeigt hat. Dass Demokratien den Eindruck von Freiheit fördern, wo es um handfeste ökonomische Interessen geht, ist Teil der propagandistischen Funktion des Liberalismus. Der Glaube daran, auf einem von finanzkräftigen Individuen und ideologischen Gruppen dominierten Medienmarkt eine Wahl zu haben, verstellt den Blick vor der Tatsache, dass in einer liberalen Wirtschaftsordnung Konsum für den Verlust an politischer Freiheit entschädigen soll. Die Besitzer von Radio RTLM in Ruanda wussten, dass ihr Profit bei einer ethnischen „Säuberung“ ungleich größer ausfallen würde als derjenige des Mobs, der von ihren menschenverachtenden Botschaften manipuliert wurde. Während sie die politische und ökonomische Macht im Land unter sich aufteilten, berauschten sich die Täter am Blutbad und gaben sich mit dem zumeist wenig wertvollen Hab und Gut ihrer Opfer zufrieden. Politikerinnen zeichnen sich durch Meinungen aus. Für ihre Ansichten und Wertvorstellungen werden sie durch Zustimmung entlohnt, provokante Thesen verschaffen ihnen Aufmerksamkeit. Darum lassen sich Wähler selten von Fakten überzeugen, auch wenn Politiker der Lüge überführt wurden. Gefolgschaft zählt mitunter mehr, als die Bereitschaft, sich von Tatschen leiten zu lassen. Darum geht es Politikerinnen nicht um Wahrheit, sondern um Glaubhaftigkeit. Nur wer an seine eigene Wahrheit glaubt, wird als authentisch und ehrlich wahrgenommen. Edward Bernays, ein Neffe Sigmund Freuds und „Vater der Public Relations“, beschrieb die Aufgabe von Politikern dahingehend, dass sie die öffentliche Meinung durch Propaganda zu manipulieren verstünden. Öffentliche Meinung entstehe dadurch, dass Führungspersönlichkeiten sie mit Vorurteilen, Symbolen, Klischees und Leerformeln füttern würden.21 Bernays sprach der Propaganda eine der wichtigsten Aufgaben in Demokratien zu. Die Manipulation von Gewohnheiten und Meinungen der Massen sei ein wichtiges Element in demokratischen Gesellschaften.

19Alexander Kirchner: Art. „Propaganda“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gerhard Ueding, Bd. 7, Tübingen: Niemeyer 2005, 266–290, hier 267. 20Ebd. 21Vgl. Edward Bernays: Propaganda, New York: Horace Liveright 1928, 92.

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Diejenigen, die manipulieren, errichteten ein unsichtbares Regime, das die „wahre regierende Macht“ im Lande sei. Wir würden von Menschen regiert, geformt und beeinflusst, von denen wir nie zuvor gehört hätten. Distanz zu den Herrschenden sei logische Voraussetzung eines demokratisch organisierten Systems, denn nur so könne eine große Anzahl an Menschen miteinander kooperieren und als Gesellschaft überhaupt funktionieren.22 Wegen seiner Nähe zur Psychoanalyse wusste Bernays um die unbewussten Mechanismen, die uns beeinflussen. In seinem letzten Buch – Engineering Consent (1947) – ging es ihm durchaus um noble Ziele. Politiker und Regierungen sollten durch vertiefte Kenntnisse der Massenpsychologie und der Gesetze der Manipulation in die Lage versetzt werden, die öffentliche Meinung zu einen und auf ihre Seite zu bringen. Zwischen totalitärer Propaganda und den in Demokratien vorherrschenden Formen der Manipulation unterschied er nur graduell und schlug – im Gegensatz zur heute vorherrschenden Medienkritik – vor, die Zusammenarbeit zwischen Politik und Ökonomie zu verstärken, um gegenseitig voneinander zu lernen.23 Bernays war 1917 Mitglied des von Woodrow Wilson einberufenen und von George Creel geführten „Committee on Public Information“, das die Öffentlichkeit der USA mit Erfolg von einem Eintritt in den Ersten Weltkrieg überzeugte. Ein anderes Mitglied war Walter Lippmann, dessen Buch Public Opinion (1922) zu den Klassikern der politischen Kommunikation zählt. Lippmann war das Colloque Walter Lippmann gewidmet, das vom 26. bis 30. August 1938 in Paris stattfand und, wie in Kap. 4 erwähnt, die Geburtsstunde des Neoliberalismus darstellt. Dass sich die Öffentlichkeit beeinflussen ließ, war für Lippmann, anders als für Bernays, Grund zum Pessimismus. Die Demokratie galt ihm lediglich als Spiel- und Experimentierfeld. Mit den neuesten Kenntnissen der Massenpsychologie und der politischen Theorie sei es nicht länger möglich, am „Dogma der Demokratie“ festzuhalten, denn das für die politische Willensbildung nötige Wissen sei nicht spontan gegeben oder dem menschlichen Herzen entsprungen.24 Vielmehr laufe die öffentliche Meinung dem Gemeinwohl häufig geradewegs zuwider. Nur eine kleine Gruppe von Experten verstünde sich darauf, das Wohl aller in angemessener Weise zu vertreten. Dieser Expertenschicht stünden Informationen zur Verfügung, die – wenn auch nur im Idealfall – über deren Eigeninteresse hinausgingen. Zur Rechenschaft zu ziehen seien Meinungsführer letztlich allein über die von ihnen geschaffenen

22„The

conscious and intelligent manipulation of the organized habits and opinions of the masses is an important element in democratic society. Those who manipulate this unseen mechanism of society constitute an invisible government which is the true ruling power of our country. We are governed, our minds are molded, our tastes formed, our ideas suggested largely by men we have never heard of. This is a logical result of the way in which our democratic society is organized. Vast numbers of human beings must cooperate in this manner if they are to live together as a smoothly functioning society“, ebd., 9. 23In Anlehnung an Bernays entwickelten Edward S. Hermann und Noam Chomsky ihr „Propaganda Model“ (PM) der Medien und strichen deren Funktion bereits im Titel ihres Buches heraus: Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media, New York: Pantheon 1988. 24Walter Lippmann: Public Opinion, New York: Harcourt, Brace and Company 1922, 249.

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Tatsachen.25 Lippmann erachtet daher jede Form der Kommunikation als propagandistisch, denn sie beruhe auf Stereotypen, die manipulierbar seien. Unsere Abhängigkeit von vorfabrizierten Meinungen rückt jedoch kaum in unser Bewusstsein.26 Werte wie „Freiheit“, „Wahrheit“ oder „Meinungsvielfalt“, die unser Verständnis von Demokratie begründen, sind in einem Umfeld von Propaganda und Manipulation durch Medien stets gefährdet. Da Werte zu ihrer Verbreitung und Aufrechterhaltung zugleich auf Medien angewiesen sind – seien es Sprache und Bilder im Allgemeinen, analoge Träger wie Bücher, Plakate und Zeitschriften oder technische Geräte wie Radio, Fernsehen und schließlich das Internet –, stehen Wertvorstellungen der Manipulation offen. So verstanden sich die Nationalsozialisten als „Wertegemeinschaft“27 und nutzten zur Beeinflussung und Schaffung von Meinungen alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Technik. Den Volksempfänger erkannte Joseph Goebbels schon am 25. März 1933, kurz nach der Machtergreifung, als geeignetes Werkzeug zur Zusammenschweißung der Menschen, schließlich zu ihrer Radikalisierung: „Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt […]. Der Rundfunk muß der Regierung die fehlenden 48 % zusammentrommeln, und haben wir sie dann, muß der Rundfunk die 100 % halten, muß sie verteidigen, muß sie so innerlich durchtränken mit den geistigen Inhalten unserer Zeit, daß niemand mehr ausbrechen kann. Damit ist der Rundfunk wirklicher Diener am Volk, ein Mittel zum Zweck, und zwar zu einem sehr hohen und idealen Zweck, ein Mittel zur Vereinheitlichung des deutschen Volkes.“28 Wo immer sich Menschen aufhielten, sollte die Stimme des Führers zu hören sein, der in seinen Reden an Ängste appellierte, um Fanatismus in seinem Publikum zu entfachen. Die Faszination des Mediums lag in seiner vermittelten Unmittelbarkeit. Hitler und das Radio waren ein und dasselbe für diejenigen, die vor dem Volksempfänger saßen. Auf ähnliche Weise waren sich in Ruanda die Täter mit den Radiomoderatoren einig, die ihnen aus dem Radiogerät zusprachen.29

25Ebd.,

310. Rolle Lippmanns für den Aufmerksamkeitsmarkt hebt Tim Wu hervor: The Attention Merchants. The Epic Scramble to Get Inside Our Heads, New York: Knopf 2016. 47 f. 27Wolfgang Bialas: Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen und Bristol, Connecticut: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 26. 28Zit. nach Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, 144. 29Zur propagandistischen Rolle des Volksbegriffs in der Produktion von Massengütern vgl. Wolfgang König: Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. „Volksprodukte“ im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn u. a.: Schöningh 2004, besonders das Kapitel „Der Volksempfänger und seine Brüder. Propagandainstrument und Unterhaltungsmedium“, 25–99. Hans Hickethier stellt die Symbiose zwischen dem „Führer“ und dem Volksempfänger in den Vordergrund: „Hitler und das Radio. Der Rundfunk in der NS-Zeit“, in: Die Kultur der 30er und 40er Jahre, hg. von Werner Faulstich, München: Fink 2009, 191– 208. Hans Sarkowicz gibt einen anschaulichen Überblick zur Funktion des Radios für die Partei: „‚Nur nicht langweilig werden …‘ Das Radio im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda“, in: Medien im Nationalsozialismus, hg. von Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel, Paderborn und München: Schöningh und Fink 2010, 205–234, hier 212 f. 26Die

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Dass sich Medien in Demokratien nur graduell von Propagandainstrumenten in totalitären Staaten unterscheiden, lädt zu Verschwörungstheorien ein. „Fake News“ ist das Schlagwort einer denunziatorischen Politik, die ihre Gegner zu diskreditieren sucht, auch wenn diese „News“ auf Fakten gründen. Schlussfolgerungen aus Tatsachen lassen ihre Widersacher nicht als faktenbasierte Nachrichten gelten, sondern stellen sie als Lüge und Fälschung dar. Ferner unterminieren eigene, „alternative Fakten“ die Glaubwürdigkeit des Gegners. Auf Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit kommt es dabei nicht an, denn sind Nachrichten erst als „Fake News“ gekennzeichnet, ist das Ziel erreicht: eine genügend große Menge an Menschen wird der Denunziation Glauben schenken.30 In der Tat neigen wir dazu, solche Nachrichten für „wahr“ zu halten, die in unser Weltbild passen. Psychologen sprechen von „Confirmation Biases“ – bestätigenden Vorannahmen –, Medienwissenschaftlerinnen von einer „Filterblase“. Wie Kahneman und Tversky gezeigt haben, ist der weitaus größte Teil unseres kognitiven Apparates von Vorannahmen geleitet. Wir glauben, die Kontrolle zu haben, und spielen doch nur eine Nebenrolle in den kognitiven Prozessen unseres Gehirns. Unsere Entscheidungen beruhen zum überwiegenden Teil auf unbewussten Vorgängen, Vorurteilen und oft grundfalschen Annahmen. Unser Stammhirn reagiert vordringlich auf Gefahren und Ängste, durch die wir alle Informationen filtern. Daher richten wir unsere Aufmerksamkeit zuerst auf Übertreibungen, Sensationelles und auf Verschwörungstheorien, so absurd sie auch sein mögen. Unsere Unkenntnis in nahezu allen Lebensbereichen, die außerhalb unseres beruflichen Fachgebiets liegen, füllen wir durch Spekulationen auf. Dennoch halten wir uns für Experten in Fachbereichen, deren geringste Problemstellungen uns scheitern lassen würden. Unser Gehirn ist mit Informationen angereichert, die aus „Lebenserfahrungen, Theorien, Fakten, Eingebungen, Strategien, Algorithmen, Heuristik, Metaphern und Ahnungen“ bestehen.31 Misstrauen hatte einst einen wichtigen evolutionsbiologischen Grund, denn es schützte uns vor Gefahren. Dieses Misstrauen haben wir nie verloren. Als Verschwörungstheoretiker nach eigener Façon schaffen wir unser Weltbild32 und schenken daher, selbst

30„Fake

news can be described as articles written in the style of a newspaper that is false and written with the intent to deceive or mislead, but the form it takes may exhibit a large degree of variability. A variety of forms compose the fake news genre, such as clickbait, (low quality journalism intended to attract advertising revenue), news stories using digitally altered images or fabricated facts, stories which erroneously describing a photo or video, mispairing a photo with written content, reporting factually on only one side of a story, counterfeit news sources or twitter accounts, articles that cite questionable sources, satire/irony, and conspiracy theories, among other examples“, James Fairbanks u. a.: „Credibility Assessment in the News: Do we need to read?“: MIS2 2018, https://snap.stanford.edu/mis2/files/MIS2_paper_17.pdf (3. Dezember 2018). 31„When we’re uniformed – and we’re all ignorant about a lot of things – our brain indiscriminately uses whatever is at hand to plaster over the intellectual blind spot“, Rob Brotherton: Suspicious Minds. Why We Believe Conspiracy Theories, New York und London: Bloomsbury Sigma 2015, 133 f. Brotherton bezieht sich hier auf Forschungen von David Dunning. 32Ebd., 17.

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wenn wir anderer Meinung sind, auch jenen Aufmerksamkeit, die uns einreden, Tutsi, Juden oder Muslime seien eine Gefahr, der Holocaust habe nie existiert, der Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center wurde vom CIA begangen und Flüchtlinge seien allesamt Terroristen. Mithilfe von Medien finden abseitige Ideen weite Verbreitung, die uns zunächst irrational, verquer, versponnen oder exzentrisch vorkommen. Gerade weil sie Misstrauen erregen, lagern sie sich im Unbewussten ab, sodass irgendwann der Eindruck entsteht, sie könnten vielleicht wahr sein. Welche Ängste auch aufgerufen werden – sie lassen sich in Demokratien, wie nicht anders als in Diktaturen, instrumentalisieren und gegen bestimmte Volksgruppen richten. Sie untergraben die Glaubhaftigkeit von Fakten, Institutionen und wissenschaftlicher Forschung. Wer über Aufmerksamkeit Menschen an sich bindet und Mehrheiten schafft, hat aber, wie Bernays meinte, politische Macht.33

Wie man Wahlen gewinnt Durch Medien entsteht die Illusion von Einheit, denn Medien vermitteln zwischen Sender und Empfänger und verbinden diejenigen, die sie rezipieren, zu einer wenn auch nur flüchtigen Einheit. Beim Zuhören, Zuschauen, Aufrufen und Abspielen entsteht durch die Verbindung mit anderen eine Öffentlichkeit.34 Diese Öffentlichkeit existiert nur durch Medien und Medien existieren nur, um Öffentlichkeit zu schaffen. Öffentlichkeit denken wir uns als Gegensatz zur Privatsphäre. Diese ist allen zugänglich, jene, nach traditioneller Anschauung, ein abgeschottetes Refugium, ein Raum, der nur wenigen offensteht. Medien verbinden Individuen in Privaträumen oder sie bringen Individuen in öffentlichen Räumen zusammen – auf Konzerten, Sportveranstaltungen und Festen oder aber in virtuellen Räumen wie dem Internet dem akustischen Raum einer Telefonverbindung. Das Internet ist seit 1996 zum Verbindungsglied zwischen den Menschen geworden. Heute haben nahezu alle Menschen in westlichen Zivilisationen Zugang zu ihm. Um im öffentlichen Raum des Internets wahrgenommen zu werden, schließen sich Menschen zu „Communities“ zusammen, „Gemeinden“, die Glaubensansichten teilen. Communities zu bilden, haben private Unternehmen früh als Einnahmequelle erkannt. Den ethischen Wert der Gemeinschaft, die sich im virtuellen Raum bildet, überführen Privatunternehmen in materielle Werte, indem sie die Daten von

33Dabei

spielen „Human Agents“ – „Aktanten“ nach dem Vokabular der Systemtheorie – der dem Medium eigentümlichen ontologischen Struktur in die Hände, denn durch sie drängt der Inhalt in den Vordergrund, während seine Rahmung und Funktionsweise weitgehend verborgen bleiben, wie Boris Groys in Unter Verdacht ausführt. 34Michael Warner: Publics and Counterpublics, New York: Zone Books 2002, 67, definiert Öffentlichkeit in Anlehnung an Habermas als „public space of discourse organized by nothing than discourse itself. It is autotelic; it exists only as the end for which books are published, shows broadcast, Web sites posted, speeches delivered, opinions produced. It exists by virtue of being addressed.“

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Nutzern verkaufen oder Gebühren für bestimmte Inhalte verlangen. Öffentlichkeit wächst im Zeitalter des Internets nicht mehr nur zu einer Einheit zusammen, sondern sie besteht aus vielen Einheiten, die sich ihrerseits beeinflussen und steuern lassen. Unterschiedliche Communities können dabei etwa politische Ansichten teilen und wieder zu größeren Interessengruppen zusammenfinden. Nachrichten werden im Internet immer seltener von der Webseite eines traditionellen Nachrichtendienstes abgerufen – einer namhaften Zeitschrift oder eines Fernsehsenders, wo Fakten überprüft und in ein lesbares und sichtbares narratives Format gegossen werden. Vielmehr verbreiten sie sich im Internet durch Empfehlungen, Likes, Dislikes und Reviews. 62 % aller US-Amerikaner lesen Nachrichten, die sie auf sozialen Netzwerken empfangen.35 Wenn Individuen durch Wertungen ihre Zustimmung oder Ablehnung anzeigen, dann formen sich Filterblasen – Räume, in denen nur das wahrgenommen wird, was sich mit den Ansichten der eigenen Community verträgt. Das Internet ist durchaus kein „freier“ Raum, in dem jeder seine Meinung sagen darf. Vielmehr bilden sich Lager, in denen sich die Opfer ihres eigenen Unwissens zusammenfinden, andere Lager anfeinden und in „Foren“ (vom lateinischen Wort für einen „öffentlichen Platz“ abgeleitet) ihren Ansichten freien Lauf lassen. Gefördert wird dieses Unwissen durch Algorithmen, die von Web-Portalen als neutrale Informationsverteiler angepriesen werden, obwohl uns nur Nachrichten zugehen, die wir aufgrund unseres Leseverhaltens und der Programmierung von Auswahlkriterien ohnehin von Interesse finden. Hinter dieser Filterung steht das Kalkül des Marktes. Auf der jeweiligen Webseite sollen sich Menschen „angesprochen“ fühlen, und zwar durch das „Sensationelle, Eingängige und Unterhaltsame“.36 Als das Internet in seinen Kinderschuhen steckte, glaubten seine Enthusiasten ein Mittel für eine neue Form der unmittelbaren Demokratie an der Hand zu haben. Jeder Mensch würde eine Stimme haben, zu Wort kommen dürfen, im direkten Austausch mit anderen politisch wirken können. Damals konnte die Forschergruppe um Tim Berners-Lee, die mit HTML ein allen zugängliches Format für die digitale Erstellung von Webseiten schuf, noch nicht ahnen, dass Information die Währung der Zukunft und das Internet ein Geschäft mit der Aufmerksamkeit seiner Nutzer werden würde. Einerseits stehen uns durch das Internet Informationen zur Verfügung. Andererseits halten private Unternehmen Informationen über uns unter Verschluss. Nichts ist im Internet kostenfrei zu haben. Bezahlt wird mit Daten. Nutzungsbedingungen legen fest, dass nicht nur Metadaten – also Informationen darüber, wer zu welcher Zeit von welchem Computer an welchen Empfänger eine E-Mail verschickt hat – Privatunternehmen wie Facebook und Twitter gehören, sondern sogar die Inhalte von Botschaften, wie etwa bei Google Mail. Jeder vordergründig unentgeltliche Besuch einer Webseite geschieht in einem

35Jeffrey

Gottfried und Elisa Shearer: „News Use Across Media Platforms 2016“, in: Pew Research Center, 26, Mai 2016, http://www.journalism.org/2016/05/26/news-use-across-socialmedia-platforms-2016/ (3. Dezember 2018). 36Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2018, 14.

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Raum, der schon darum hybrid genannt werden muss, weil er zugleich einer großen Menge von Menschen Zugang gewährt, während er von privaten Interessen dominiert wird. Nun könnten wir einwenden, dass auch Bücher, Kinobesuche und öffentlicher Rundfunk Geld kosten. Doch nirgendwo sonst werden alle unsere Einkäufe, Besuche und Sehgewohnheiten mit derartiger Akribie verzeichnet, verwertet und die gesammelten Informationen weiterverkauft. Nach dem Kauf eines Buchs in einem traditionellen Buchladen finden wir uns in einem privaten Bereich zur Lektüre wieder (sofern wir nicht mit einer Kreditkarte gezahlt und dadurch unseren Erwerb preisgegeben haben). Im Internet bringt dagegen bereits der Gebrauch eines Browsers und der Besuch einer Verkaufsplattform denjenigen, die sie zur Verfügung stellen, geldwerte Vorteile, auch wenn wir dort nichts erstanden haben. Nutzen wir elektronische Lesegeräte wie Amazons Kindle, zahlen wir lediglich eine Leih- oder Lizenzgebühr für das „Buch“, das nach gewisser Zeit wieder von unserem Gerät verschwindet. Unsere Lesegewohnheiten, die Dauer der Lektüre, Unterbrechungen, Lesegeschwindigkeit, Verweildauer pro Seite und Begriffssuche werden gespeichert. Wir müssen uns nicht wundern, dass Lesegeräte selbst speichern, wo wir lesen, weshalb wir lesen und damit letztlich wie wir denken – eine Praxis, die bei Google und Facebook längst üblich ist, denn Daten-Konzernen geht es nicht nur darum, wer wir sind, sondern darum, wie wir uns verhalten. Nur durch Rückschlüsse auf unser Verhalten lassen sich unsere Kaufabsichten vorhersagen. Beim Lesen sind wir ein offenes Buch für den Internet-Reader: das Gerät, das uns „liest“, während wir lesen. In der Tat wissen Internet-Anbieter ziemlich genau, was wir denken.37 Vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt, doch immer dann, wenn wir uns durchs World Wide Web bewegen. Durch das Internet der Dinge lassen sich Daten unmittelbar mit unserer Umwelt verknüpfen und durch den Einsatz künstlicher Intelligenz schließlich unsere Handlungen mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen. Unsere berufliche Tätigkeit geht aus unserem Konsumverhalten und unseren Internetaktivitäten ebenso hervor wie unser Bildungsstand, unsere politischen und religiösen Einstellungen, unsere sexuellen Vorlieben, romantischen Erfahrungen oder Freundschafts- und Verwandtschaftsverhältnisse. „Psychographic P ­rofiles“ stellen, ähnlich wie in den von Münsterberg entwickelten, im vorigen Kapitel beschriebenen Persönlichkeitstests, den direkten Draht zum Konsumenten her. Aus dem Dunstkreis unserer Daten formt sich ein Bild, dessen Detailreichtum von erschreckender Fülle ist. Die Genauigkeit unserer Persönlichkeitsprofile erlaubt Rückschlüsse auf unsere Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Nirgendwo sonst verschmelzen Politik und Ökonomie auf eine Weise, die das Telos des Liberalismus in seinem dystopischen Ausmaß derart schonungslos vor Augen führt. Durch „ungleiche Beobachtung“38 – Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung einerseits,

37Cambridge Analytica behauptet, für jeden US-Bürger 5000 „Data Points“ zusammengetragen zu haben, Issy Lapowski: „What Did Cambridge Analytica Really Do for Trump’s Campaign“, in: Wired, 26. November 2017, http://www.wired.com/story/what-did-cambridge-analytica-reallydo-for-trumps-campaign/ (3. Dezember 2018). 38Simanowski: Facebook-Gesellschaft, 34 f.

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mangelnden Zugriff auf die dem Meta-Beobachter zur Verfügung stehen Daten andererseits – können wir zurecht vom Internet als einer Quelle „zur Herstellung von Regierungs- und Kontrollwissen“ sprechen.39 Es wäre naiv anzunehmen, das „Regime kybernetischer Regelkreise zur Ersetzung offener, vieldeutiger und unentscheidbarer Kommunikationen durch ‚mathematische Kommunikation‘“40 auf unsere ethischen Werte keinen Einfluss nähmen. Jedem Sozialverhalten liegen Wertentscheidungen zugrunde. Werden indes Verhaltensweisen durch ein programmiertes Belohnungssystem überhaupt erst angestoßen, ändern sich auch unsere Einstellungen und unser Weltbild. Denn Algorithmen sind keineswegs neutral, sie geben den Willen ihrer Programmierer wieder. In Algorithmen gehen Interessen, Vorurteile und Annahmen ein, die sich gezielt auf diejenigen übertragen, die sie in Form von Apps und Computer-Software auf ihren digitalen Geräten anwenden. Ihrer Struktur nach sind Apps nichts anderes als „gewohnheitsformende Produkte“ („habit-forming products“), die uns abhängig machen, indem sie uns unmittelbare Belohnung versprechen.41 In Abhängigkeitsverhältnisse gedrängt, verhalten sich Menschen wie in einer Skinner-Box, jener von Burrhus Frederic Skinner entwickelten Laborsituation, die den Nachweis erbracht hat, wie leicht Labortieren neues Verhalten durch audio-visuelle Anreize anerzogen werden kann.42 Nichts ist politischer als Kommunikation, die sich für unpolitisch ausgibt, vor allem wenn das von privatwirtschaftlichen Interessen dominierte „kybernetische Regime“ Wahlverhalten zu steuern imstande ist. Wer das Geschäftsmodell von Facebook kennt, den wird es nicht überraschen, dass Daten gegen Profite an App-Entwickler, Analysten, Werbefirmen und andere Daten-Riesen wie Netflix und Spotify weiterverkauft werden, ohne dass die Nutzer des sozialen Netzwerks davon wissen. Der Skandal um Cambridge Analytica hat deutlich gemacht, inwieweit einfache Apps, die über Facebook zugänglich sind, für politische Zwecke missbraucht werden können.43 Hinter Cambridge

39Ramón

Reichert: „Einführung“, in: Big Data: Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht, Ökonomie, hg. von Ramón Reichert, Bielefeld: Transcript 2014, 9–31, hier 10. 40Simanowski: Facebook-Gesellschaft, 36. 41So der Untertitel von Nir Eydal: Hooked. How to Build Habit-Forming Products, New York: Portfolio and Penguin 2014. Eydals Buch ist ein Leitfaden für Start-Ups, das unverhohlen die Techniken der Abhängigkeitserzeugung predigt und Skinner als Rechtfertigung heranzieht. Wie sehr Gewohnheiten unser Kaufverhalten und unsere Arbeitsabläufe dominieren, zeigt Charles Duhig: The Power of Habit. Why We Do What We Do in Life and Business, New York: Random House 2012. 42Eydal: Hooked, 99. 43Dass Facebook selbst Manipulationen vorgenommen hat, erklärt eventuell die Offenheit, mit der das Unternehmen anderen Firmen gegenüber auftrat, die um ähnliche Möglichkeiten zur Datenanwendung ersuchten. Schon 2014 hat Facebook, ohne sich vorher das Einverständnis seiner Nutzer eingeholt zu haben, ein Experiment durchgeführt, wonach die Beeinflussung durch vermehrt positive oder negative Nachrichten nachgewiesen wurde. „Emotional Contagion“ – die durch emotionale Ansteckung herbeigeführte Änderung der Stimmungslage – lässt Rückschlüsse darauf zu, inwieweit sich etwa auch das Wahlverhalten gezielt beeinflussen lässt, vgl. Adam D. Kramer u. a.: „Experimental Evidence of Massive-Scale Emotional Contagion Through Social Networks“, in: Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America 11.24 (Juni 2014), 8788–8790, http://www.pnas.org/content/111/24/8788.full (3. Dezember 2018).

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Analytica stehen rechtskonservative, nationalistisch gesinnte Kreise, zu denen etwa der Hedgefonds-Manager Robert Mercer zählt. Mercer ist Mitbegründer von Renaissance Technologies, einem der erfolgreichsten, auf Algorithmen basierenden Investmentunternehmen der Welt, und weiß als brillanter Computerfachmann um die Wirkung von „Micro Targeting“, der auf eine Zielperson zugeschnittenen Wahlwerbung. Seine Abneigung gegen den „Civil Rights Act“ von 1964, das Gesetz, das die amerikanische Segregationspolitik beendete, ist bekannt.44 Wer Ansichten vertritt, die darauf abzielen, ganze Volksgruppen wieder der Segregation zuzuführen und rassistisches Gedankengut salonfähig zu machen, muss sich nicht nur demokratiefeindliches, sondern ungesetzliches Verhalten vorwerfen lassen. Nun ist die Beeinflussung von Wählermeinungen im Sinne der eigenen Partei seit jeher das Ziel von Propaganda – ob von politisch rechter oder linker Seite. Das Internet und vor allem die sozialen Medien schufen indes erst die effiziente Infrastruktur zur Unterdrückung Andersdenkender, und zwar nicht nur in totalitären Regimen, sondern vor allem auch in Demokratien. Denn über das Internet lassen sich ebenso gezielt wie unbemerkt diejenigen Wählerschichten ansprechen, die für konkrete Einflussnahmen – ob von linker oder rechter Seite – empfänglich sind, ohne es zu merken. Facebooks Algorithmen schlagen vor, was von Interesse, welche Verbindungen von Bedeutung, welche Ereignisse von Wichtigkeit sein könnten – und letztlich wer zu wählen sein soll. Längst hat Facebook eingestanden, dass derartige Formen der Propaganda von ausländischen Geheimdiensten, namentlich von Russland, nicht erst während des Wahlkampfs in den USA 2016 eingesetzt wurden. Die von Russlands Militärgeheimdienst GRU und der ihr unterstehenden Sondereinheit, der berüchtigten Internet Research Agency (IRA), durch Bots und Fake Accounts auf Facebook und Twitter der Öffentlichkeit injizierten Falschmeldungen hat James Clapper, der ehemalige Director of National Intelligence, dem höchsten amerikanischen Geheimdienstposten, stellvertretend für alle amerikanischen Nachrichtendienste vor dem Kongress am 8. Mai 2017 bezeugt. Auf diese Weise erreichten Falschmeldungen nicht weniger als 126 Mio. Menschen.45 Amerikanische Forscher bestätigten mittlerweile, dass es darum ging, die in sozialen Medien aktiven Nutzer mit Reizthemen für Kontroversen zu gewinnen und Minderheiten vom Wählen abzubringen. Auf gleiche Weise wurde Twitter zur medialen Angriffsfläche

44Jane

Mayer: „The Reclusive Hedge-Fund Tycoon Behind the Trump Presidency“, in: The New Yorker, 27. März 2017, http://www.newyorker.com/magazine/2017/03/27/the-reclusive-hedgefund-tycoon-behind-the-trump-presidency (2. Mai 2018): „Mercer, for his part, has argued that the Civil Rights Act, in 1964, was a major mistake. According to the onetime Renaissance employee, Mercer has asserted repeatedly that African-Americans were better off economically before the civil-rights movement.“ 45Vgl. Scott Shane und Vindu Goel: „Fake Russian Facebook Accounts Bought $100,000 in Ads“, in: The New York Times, 6. September 2017, http://www.nytimes.com/2017/09/06/technology/facebook-russian-political-ads.html (3. Dezember 2018).

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für Hacks und Propaganda.46 Während es Cambridge Analytica um gezielte Einflussnahme mit konkreten Botschaften ging, ist der russische Geheimdienst um eine Vertiefung von Gräben in der Bevölkerung bemüht. Streit und Uneinigkeit innerhalb eines sozialen Gefüges lähmt politische Institutionen. Das verschafft anderen Ländern einen geopolitischen Vorteil.47 Die Entscheidung für den Brexit hat nicht nur anhaltende Streitigkeiten der politischen Parteien und Zwietracht unter der Bevölkerung Großbritanniens zur Folge, sondern bedeutet für die Europäische Union die Schwächung eines wichtigen wirtschaftlichen und strategischen Partners. In den USA waren es vor allem polarisierende Nachrichten zur Gesellschaftspolitik, die zur Verrohung des Tons und zur Spaltung ganzer Bevölkerungsgruppen beigetragen haben. Themen wie Immigration, Polizeigewalt, Abtreibung, politischer Machtmissbrauch, Minderheitenrechte oder die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften standen im Vordergrund. Dabei wurden Stereotype auf allen Seiten bedient und Vorurteile gefördert. Es entstanden „Hyper-Partisan Echo-Chambers“, extrem voreingenommene Resonanzräume, in denen sich manipulierte Ansichten verstärkten. Während des US-Wahlkampfes 2016 wurde so ein Klima der Kompromisslosigkeit und des Misstrauens erzeugt und damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, einem Kandidaten zuzusprechen, der durch Provokationen und extreme Ansichten auffällt. Auch die niederländischen Parlamentswahlen vom März 2017, der französische Präsidentschaftswahlkampf vom Mai des gleichen Jahres und verschiedene Wahlen in Osteuropa wurden auf ähnliche Weise beeinflusst. Ob die von Mark Zuckerberg angekündigte Zusammenarbeit mit fünf Nachrichtenagenturen, Broadcasting-Unternehmen und Fakten-Prüfungs-Spezialisten (ABC News, Associated Press, FactCheck.org, PolitiFact und Snopes), um mit einer Mischung aus menschlicher und künstlicher Intelligenz der Flut von Falschmeldungen Herr zu werden,

46„Algorithms

can determine those groups’ hot-botton issues and identify ‚followers‘ among them, pinpointing those most susceptible to suggestion. Propaganda can then manually craft messages to influence them, deploying covert provocateurs, humans or automated computer programs known as bots, in hopes of altering their behavior“, Massimo Calabresi: „Inside Russia’s Social Media War on America“, in: Time, 18. Mai 2017, http://www.time.com/4783932/inside-russia-social-media-war-america/ (3. Dezember 2018). Auch in Großbritannien identifizierten Forscher der University of Edinburgh mehrere Tausend von Russland aus initiierte Twitter-Accounts, die für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union warben, vgl. Rowena Mason: „Facebook and Twitter to Give Details of Russian-backed Brexit Posts“, in: The Guardian, 28. November 2017, http://www.theguardian.com/technology/2017/nov/28/facebook-tohand-over-details-of-russian-backed-brexit-posts (3. Dezember 2018). Der Artikel erschien vor den Enthüllungen zu Cambridge Analytica. 47„The societal consequences of fake news – greater political polarization, increased partisanship, and eroded trust in mainstream media and government – are significant“, Anjana Susarla: „How Artificial Intelligence Can Detect – and Create – Fake News“, in: The Conversation, 3. Mai 2018, http://www.theconversation.com/how-artificial-intelligence-can-detect-and-create-fake-news-95404 (3. Dezember 2018). Noch deutlicher wird Timothy Summers: „Facebook Is Killing Democracy With Its Personality Profiling Data“, in: The Conversation, März 2018, http://www.theconversation. com/facebook-is-killing-democracy-with-its-personality-profiling-data-93611 (3. Dezember 2018).

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7  „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

Erfolg haben wird, darf bezweifelt werden.48 Da nicht nur schriftliche, sondern auch visuelle Medien – ob Bild- oder Videoformate – ihrer Form und Komplexität nach durch die Verbesserung künstlicher Intelligenz immer weniger von „wahren“ Nachrichten zu unterscheiden sind, hat ein Rüstungswettlauf der Algorithmen begonnen, dessen Ende und Auswirkungen nicht abzusehen ist. Einmal als Waffe im Kampf um die Meinungshoheit und zur Manipulation der Öffentlichkeit im Einsatz, müssen wir in Zukunft mit einer rapide wachsenden Zahl von Fake News rechnen.49 Die Produzenten von Fake News können auf einen Effekt hoffen, den ­Marshall McLuhan schon 1962, lange vor der Erfindung des Internets, vorausgesehen und als „Tribalism“, als Stammes- oder Lager-Denken, bezeichnet hat. Je höher der Identifikationsgrad mit einem bestimmten Lager, desto größer die Bindungskraft und daher auch die Wahrscheinlichkeit, Meinungen abzulehnen, die nicht den eigenen entsprechen. Das uns innewohnende Freund-Feind-Schema des Tribalismus wird von elektronischen Netzwerken verstärkt. Im „Global Village“, das nach der Vision McLuhans in den 1960er Jahren mithilfe elektronischer Medien einst geschaffen werden würde, treffen sich heute Wertegemeinschaften von ­bisweilen obskurer Natur.50 Im Zeitalter digitaler Medien würde zwar die

48„Here’s

how it works: through a proprietary process that mixes algorithmic and human intervention, Facebook identifies candidate stories; these stories are then served to the five news and fact-checking partners through a partners-only dashboard that ranks stories according to popularity. Partners independently choose stories from the dashboard, do their usual fact-checking work, and append their fact-checks to the stories’ entries in the dashboards. Facebook uses these fact-checks to adjust whether and how it shows potentially false stories to its users“, Mike Ananny: „Partnership Press: Facebook and News Outlets Team to Fight Misinformation“, in: Tow Center for Digital Journalism, 5. April 2018, http://www.towcenter.org/research/the-partnershippress/ (3. Dezember 2018). 49„The biggest challenge, however, of using AI to detect fake news is that it puts technology in an arms race with itself. Machine learning systems are already proving spookily capable at creating what are being called ‚deepfakes‘ – photos and videos that realistically replace one person’s face with another, to make it appear that, for example, a celebrity was photographed in a revealing pose or a public figure is saying things he’d never actually say. Even smartphone apps are capable of this sort of substitution – which makes this technology available to just about anyone, even without Hollywood-level video editing skills. Researchers are already preparing to use AI to identify these AI-created fakes. For example, techniques for video magnification can detect changes in human pulse that would establish whether a person in a video is real or computer-generated. But both fakers and fake-detectors will get better. Some fakes could become so sophisticated that they become very hard to rebut or dismiss – unlike earlier generations of fakes, which used simple language and made easily refuted claims“, Susarla: „How Artificial Intelligence Can Detect – and Create – Fake News“. Kasey Panetta gibt einen Ausblick bis ins Jahr 2022, wonach die Anzahl verbreiteter Fake News diejenige von überprüfbaren, faktisch richtigen Nachrichten übertreffen dürfte, „From Bots and AI to Counterfeit Reality and Fake News, These Predictions Require IT Leaders to Pace their Adoption“, in: Gartner Top Strategic Predictions, 3. Oktober 2017, http://www.gartner.com/smarterwithgartner/ gartner-top-strategic-predictions-for-2018-and-beyond/ (3. Dezember 2018). 50Marshall McLuhan verwendet die Begriffe „Global Village“ und „Tribalism“ erstmals und wiederholt in The Gutenberg-Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto: University of Toronto Press, 1962, dann auch in Understanding Media. The Extensions of Men, Cambridge, Massachusetts, und London: MIT Press 1994 [erstmals 1964].

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­ ereinzelung des Menschen durch das Wort überwunden sein, Lektüre aber V weiterhin als individueller, privater und asozialer Prozess gelten. Neue Formen des kollektiven Bewusstseins, die durch den technischen Fortschritt entstünden, warnte McLuhan, verhälfen indes Sozialformen zur Blüte, die an die „Tribal Base“ der Vorfahren erinnerten. Hier herrschten die Gesetze der Unmittelbarkeit, des Alarmismus und der Sensationsgier: „So, unless aware of this dynamic, we shall at once move into a phase of panic terrors, exactly befitting a small world of tribal drums, total interdependence, and superimposed co-existence. […] Terror is the normal state of any oral society, for in it everything affects everything all the time.“51 So erklärt es sich, dass viele politische Themen, die von russischer Seite im amerikanischen Wahlkampf befeuert wurden, der anderen Seite Unterdrückung und Gewalt vorwerfen, ob es dabei um die rechtmäßige Anprangerung rassistisch motivierter Verbrechen geht, die einem großen Teil der amerikanischen Sicherheitskräfte von der Black-Lives-Matter-Bewegung vorgehalten werden, oder um die gefühlte Zurücksetzung weißer Privilegien, die der sogenannten Alt-Right-Bewegung zu Auftrieb verhalf. Eines wussten die russischen Agenten frühzeitig: Es sind keineswegs lediglich die „Verlierer der Globalisierung“, die sich einem rechten, oft fremdenfeindlichen Politikverständnis verpflichtet sehen, sondern die weiße Mittelschicht, die für Polarisierungs- und Manipulationsversuche besonders anfällig ist. Seit Jahrzehnten hat diese Wählerschicht keine Lohnzuwächse gesehen und verbindet den materiellen Verlust allmählich mit einem Verlust an sozialem Status und traditionell beanspruchten Privilegien.52 Das Bewusstsein dafür, in einer allmählich schwindenden geschichtlichen Phase weißer Dominanz zu leben und um die eigene Vorherrschaft in kulturellen, sozialen und ökonomischen Fragen – um den Verlust von Werten – fürchten zu müssen, befeuerte das Wahlverhalten vieler Amerikaner. In der Tat ist die Wahl von autoritären Demagogen lediglich ein Symptom für ein weltweites Phänomen, das von sozialen Medien aufgegriffen wird: die prekäre, also unbeständige und von existenziellem Druck begleitete ökonomische Lage und die daraus resultierende Identitätskrise westlicher Mittelschichten. Die politischen Konsequenzen sind fatal. Ein Sechstel der Bevölkerung aller Altersgruppen Nordamerikas und Europas hält eine Militärregierung heute für eine gute Sache. Getrieben wird diese Ansicht dabei nicht nur von der zunehmend in unsicheren Verhältnissen lebenden

51McLuhan:

The Gutenberg-Galaxy, 32. McLuhan hielt durch den Entzug der reflexiven Ebene, die im gesprochenen Wort gegeben ist, eine Zunahme an ursprünglichen und daher roheren Formen des gesellschaftlichen Miteinanders für unvermeidlich. 52Diana C. Mutz: „Status Threat, Not Economic Hardship, Explains the 2016 Presidential Vote“, in: Proceedings of the American Academy of Science, 23. April 2018, http://www.pnas.org/content/early/2018/04/18/1718155.115 (3. Dezember 2018). Schon vorher hatte das Umfrageinstitut PRRI ähnliche Befunde veröffentlicht, vgl. Daniel Cox u. a.: „Beyond Economics: Fears of Cultural Displacement Pushed the White Working Class to Trump“, in: Public Religion Research Institute/The Atlantic, 5. September 2017, https://www.prri.org/research/white-working-class-attitudes-economy-trade-immigration-election-donald-trump/ (3. Dezember 2018).

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Mittelschicht, sondern von den Reichsten der Reichen, Unternehmern wie Robert Mercer, die um ihren Wohlstand fürchten, während die Ärmsten eher zu den Befürwortern der Demokratie zählen: „To put it more bluntly: when inequality is high, the rich fear the mob.“53 Dass sich soziale Medien dazu gebrauchen lassen, Unruhe zu stiften und Gegensätze anzuheizen, wäre nach der Logik des Liberalismus nicht weiter verwerflich, solange die Profite für die involvierten Unternehmen von nennenswerter Größe sind. Das von Propaganda und gewinnorientierten Algorithmen dominierte Geschäft mit virtuellen Freundschaften straft die neoliberale Behauptung Lügen, auf dem „freien“ Meinungsmarkt habe jeder Mensch die Möglichkeit, sich ein umfassendes Bild von der politischen Lage zu machen. Die Gefahr, dass die Übertragung einer ohnehin leicht zu manipulierenden, allein Marktgesetzen gehorchenden Medienplattform die Menschenrechtslage in einem Krisengebiet verschlechtern kann, zeigt das Beispiel Facebook. In Sri Lanka sieht sich der Mediengigant Vorwürfen seitens der Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt, Hassbotschaften nicht gesperrt zu haben, die zu Gewalt gegen die muslimische Minderheit führten.54 Amith Weerasinghe ist dort über Facebook zu einer gewisser Berühmtheit gelangt und kann in dem Inselstaat auf eine große Anhängerschaft zählen, seit er seine Videobotschaften verbreitet. Kurz bevor ein Mob die Kleinstadt Digana terrorisiert, sieht man ihn in einem der Videos durch Straßen gehen und darüber klagen, dass es hier zu viele Läden im Besitz von Muslimen gäbe und die Zeit für die singhalesische Mehrheit im Land gekommen sei, die Stadt wieder an sich zu reißen. Ein Muster ist auszumachen, das auch für die Alt-Right-Bewegung in den USA und andere rechtsextremistische oder fremdenfeindliche Gruppen gilt, die durch Facebook einen enormen Zulauf erfahren haben. Facebook hilft, Ängste zu verstärken und allmählich die Hemmschwelle für Hassreden und daraus hervorgehende Untaten zu senken. Gleichzeitig belohnt es seine Nutzer für Nachrichten, die höhere Aufmerksamkeit erhalten und öfter geteilt oder „geliked“ werden. Es sind Facebooks Algorithmen, die dazu einladen, durch provakante Botschaften, unorthodoxe und sogar extremistische Meinungen von sich Reden zu machen. Unscheinbare, meist im Unbewussten wirksame Anreize genügen: Farben und Klänge, die das Aufrufen von Posts auf Facebook begleiten, setzen Dopamin frei und animieren bereits Schulkinder wie in einem sportlichen Wettkampf dazu, in der Hierarchie nach oben rücken zu wollen. Facebooks Algorithmen verraten die ökonomische Herkunft des Wettbewerbsgedankens, der sich Meinungen und Ansichten bedient, von dort aber in Taten übergeht und Menschen das Leben kostet. Erst seit der Internet-Gigant immer

53Luce:

The Retreat of Western Liberalism, 122 f. Vorwürfe betreffen auch die Menschenrechtslage in Myanmar, wo Facebook die Verbreitung von Hassbotschaften gegen die muslimische Volksgruppe der Rohingya ermöglicht hat, vgl. Max Fisher und Amanda Taub: „How Everyday Media Users Become Real-World Extremists“, in: The New York Times, 25. April 2018, http://www.nytimes.com/2018/04/25/world/asia/ facebook-extremism.html (3. Dezember 2018). 54Ähnliche

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öfter Morde an Menschen live übertragen hat – sei es durch religiöse Extremisten, Psychopathen oder „versehentlich“ –, und sich dagegen Proteste zu häufen begannen, dann auch die Zahl derer stieg, die sich gegen die ungewollte Weitergabe von Daten wehrten, und schließlich die Gewinnaussichten des Unternehmens fielen, versprach Facebook die Social-Media-Plattform auf Druck von Gesetzgebern Kontrollmechanismen einzurichten, die ethischen Maßstäben entsprechen. Das im digitalen Zeitalter zunehmend Daten-Konzernen zufallende Herrschaftswissen zu beschränken, ist die Aufgabe von Gesetzgebern. Ohne ein vielfältiges und ausgewogenes Angebot an Medien bestünde die Idee der freien Meinungsäußerung allein in ihrer pervertierten Form, denn der Wert der „Freiheit“ wäre der Logik des Neoliberalismus gemäß höher einzuschätzen als der von Menschenleben.55

Weshalb neue Medien polarisieren Weitaus mehr als der Philosoph und Soziologe George Herbert Mead in den 1920er und 30er Jahren annahm, formt sich Identität in einem sozialen Umfeld.56 Wir identifizieren uns mit unserer Umgebung, mit den Menschen, die uns Vorbild sind, mit der Gruppe, in der wir aufwachsen und die wir kennen. Von staatlichen Institutionen abhängig, die den Rahmen für soziale Interaktionen schaffen, ist Identität nicht zuletzt ein Resultat hegemonialer Regulierung und Sanktionierung. Die institutionelle Struktur gibt Individuen einen Handlungsraum. Staatliche Macht zeigt sich etwa im Strafvollzug, im Gerichtssaal, im Schulwesen oder bei Grenzkontrollen. Wenn Identität ein Konstrukt ist, das unser Selbstverständnis und unsere Annahmen darüber bestimmen, wer wir sind, dann kommt der Rückbau staatlicher Strukturen der Dekonstruktion von Identität gleich. Libertäre in den USA, viele Republikaner, aber auch Separatisten und Revolutionäre in allen Ländern berufen sich auf ein „höheres Recht“ zur Selbstbestimmung. Sie eint die Ablehnung des Staates, um sich eine eigene Identität geben zu können. In ihrer milderen Form streben anti-staatliche Bewegungen hingegen lediglich Reformen an. Der Staat solle sich ändern, Mitbestimmung und Anerkennung ist das Ziel. Ihren Namen erhielt „Identitätspolitik“ im 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Civil-Rights-Bewegung in den USA, obwohl ihre Wurzeln bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Ihre Vertreter suchen mit begründetem Anspruch nach

55Die

ungewollte Weitergabe von Daten an Dritte untersagt z. B. die am 18. Mai 2018 in Kraft getretene Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), wenn keine ausdrückliche Erlaubnis seitens der Nutzer vorliegt. Doch steht Facebook mit einer neuen Gesichtserkennungssoftware nun ein anderes technologisches Mittel zur Verletzung der Privatsphäre zur Verfügung. Dass sich Firmen wie Twitter, Facebook und andere Technologieriesen wegen anhaltender Proteste zur „Zensur“ ihrer Inhalte entschlossen haben, wirft wiederum in den Vereinigten Staaten Fragen nach dem Recht auf freie Meinungsäußerung auf. 56Vgl. George Herbert Mead: Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, hg. und mit einer Einleitung von Charles W. Morris, Chicago: The University of Chicago Press 1934 [postum].

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Alternativen zu staatlich oktroyierten Sozialmustern und Normen, möchten fixe Wertvorstellungen aufbrechen und langfristige Veränderungen bewirken, um allen Menschen in einer Gesellschaft zu gleichem Recht und sozialem Status zu verhelfen. So strebten Afroamerikaner, Frauen, Homosexuelle, amerikanische Ureinwohner und andere Bevölkerungsgruppen danach, hegemoniale Muster, Stereotype und Unterdrückungsmechanismen zu überwinden.57 Identitätspolitik muss mit dem Widerspruch leben, Identität als Konstrukt aufzulösen, während sie denjenigen ein Angebot zur Identifikation unterbreitet, die ohne Einfluss sind. Sie beruht einerseits auf der Annahme, dass alle Menschen gleich sind, obschon sie darauf besteht, dass jede gesellschaftliche Gruppe etwas Besonderes darstellt. Ihre Befürworter fordern Einheit und Gleichheit, indem sie auf Unfreiheit und Rechtlosigkeit aufmerksam machen, und tendieren zu Separatismus und Fundamentalismus, indem sie andere ausschließen, als Unterdrücker brandmarken und deren kulturelle Kennzeichen ablehnen. Seit rechtsextreme Gruppen wie die amerikanische Alt-Right- oder die deutsche Identitäre Bewegung für sich beanspruchen, kultureller und politischer Unterdrückung im eigenen Land ausgesetzt zu sein – etwa durch die „Affirmative Action“-Gesetzgebung in den USA oder die Immigrationspolitik in Deutschland –, tobt ein Streit zwischen jenen, die Identitätspolitik dafür verantwortlich machen, am Aufstieg der Rechten Schuld zu sein,58 und jenen, die auf die ursprüngliche Motivation von Identitätspolitik verweisen, also auf eine Geschichte der Veränderung und zunehmender Akzeptanz verschiedener Bevölkerungsgruppen füreinander verweisen. Durch Identitätspolitik wurde für bestimmte Gruppen viel erreicht

57„If

all identity is produced in the context of community, many have sought to look at the ways society seeks to regulate and manage its production. […] The modern state has been involved in the regulation and monitoring of identities through a number of institutions, from prisons to the courts and from the education system to border controls. Further, these features of identity are related to the rise of identity politics over the course of the twentieth century. In opposition to the way many of the dominant features of modern societies have sought to police and control identities, many have used claims to identity as a means of organizing themselves politically. The most prominent amongst these movements has been feminism, which has historically sought to deconstruct overtly masculine assumptions about human identities, while promoting new forms of inclusion and respect for women. On the other hand, other social movements have more explicitly sought to claim an absolutist identity as a means of engaging in politics. The politics of identity includes a number of social movements and networks, some of which provoke critical questions, while others defensively reaffirm communal questions“, Nick Stevenson: Art. „Identity“, in: The Cambridge Dictionary of Sociology, Cambridge: Cambridge University Press 2006, 277 f., hier 278. 58Mark Lilla hat sich z. B. kritisch geäußert: „The End of Identity Liberalism“, in: The New York Times, 18. November 2018, http://www.nytimes.com/2016/11/20/opinion/sunday/the-end-of-identity-liberalism.html (3. Dezember 2018). Kritik wird indes schon seit längerem und von prominenter Seite geübt, wie etwa von dem britischen Historiker Eric Hobsbawm: „Identity Politics and the Left“, Vortrag am Institute for Education, London, 2. Mai 1996, http://www.banmarchive.org. uk/articles/1996%20annual%20lecture.htm (3. Dezember 2018).

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und dennoch zugleich neue Gefahren für den Rechtsstaat geschaffen.59 Zweifellos beruft sich die sogenannte Neue Rechte gerade auf jene identitätspolitischen Prinzipien, die sie einst verhöhnte. Unter dem Deckmantel politischer Korrektheit fordert sie für sich das Recht, der eigenen, das heißt weißen, vorgeblich unterdrückten kulturellen Identität wieder zu Ansehen zu verhelfen. Sie schürt Ängste, indem sie die Bedrohung durch alles Fremde für real ausgibt, Ausländer, Flüchtende und Migranten denunziert, länderübergreifende Institutionen wie die Europäische Union ablehnt, auf Begriffe wie „Leitkultur“, „Patriotismus“ und „Tradition“ setzt, während sie Geschichtsrevisionismus betreibt und die Gesellschaft spaltet.60 „Politische Korrektheit“ und „Identitätspolitik“ sind seit den 1990er Jahren zu Schimpfwörtern rechter Politiker und Meinungsmacher geworden, die aufgrund der von ihnen gestützten „Ansichten“ die „wahren“ Sachverhalte verschweigen würden.61 Bewegungen wie Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) und auch die im Bundestag vertretene Partei Alternative für Deutschland griffen derartige populistische, rassistische und fremdenfeindliche Thesen auf. Dabei verknüpfen sich Rassismus und Islamfeindlichkeit mit dem Begriff der Werte: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland. In der Ausbreitung des Islam und Präsenz von über 5 Mio. Muslimen, deren Zahl ständig wächst, sieht die AfD eine große Gefahr für unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Werteordnung.“62 In einigen rechtsradikalen Gruppen, wie etwa der Identitären Bewegung, verdichten sich nun Wertansprüche, die vordergründig „moralisch“ grundiert sind, in Wahrheit aber ökonomische Territorien abstecken. Das kulturell Eigene ist immer auch das Eigentum, auf das ein Rechtsanspruch erhoben wird. So „verteidigt“ die Identitäre Bewegung einen Ethnopluralismus, also von anderen „Ethnien“ abgegrenzte kulturelle Identitäten, die durchaus nebeneinander, nicht aber miteinander existieren könnten. Deshalb sehen völkische und rechtsradikale

59Unter

den bekanntesten Befürwortern wären etwa Judith Butler, David M. Halperin oder Gayatri Chakravorty Spivak zu nennen. Kritik an der Identitätspolitik-Kritik kommt in Deutschland beispielsweise von Emma Dowling u. a.: „Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der ‚Identitätspolitik‘“, in: Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft (PROKLA), Heft 188.3, Jg. 47 (2017), 411–420. 60Sie kann sich dabei auf prominente Fürsprecher wie das einstige Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, Thilo Sarrazin, berufen, der vertritt, dass die „qualitativen demografischen Verschiebungen“ und „das ständig sinkende Bildungsniveau“ die deutsche Bevölkerung zu einer Minderheit schrumpfen und verdummen lassen werde, vgl. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, 17. Aufl., München: Deutsche Verlagsanstalt 2010, 8. 61„The myth of political correctness is a powerful conspiracy theory created by conservatives and the media who have manipulated resentment against leftist radicals into a backlash against the fictional monster of political correctness“, John Wilson: The Myth of Political Correctness. The Conservative Attack on Higher Education, Durham: Duke University Press 1995. 62Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland. Wahlprogram der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am 24. September 2017, 34, http://www.afd. de/wahlprogramm/ (3. Dezember 2018).

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Bewegungen keinen Widerspruch darin, miteinander zu kooperieren, solange nationale Eigenheiten im Vordergrund stehen – eine ideologische Komponente, die dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus nicht fremd war. Die Identitäre Bewegung beruft sich dabei auf das von dem Rechtsextremisten Henning Eichberg ausgegebene Konzept der „Nationalen Identität“ (nach einer in entsprechenden Kreisen kursierenden Schrift aus dem Jahr 1978) als Gegenentwurf zu „allen Prophezeiungen über den Weg zur ‚Einen Welt‘“. Dass „Völker in Unruhe“ für ihre Selbstbestimmung kämpften, sei ein Problem „der menschlichen Identität im 20. Jahrhundert. Identität ist stets kollektive Identität, Gemeinsames und Wiedererkanntes. Identität konstituiert sich zugleich aufgrund von Unterscheidung, von Einsicht in das andere, das Fremde und seine Eigentümlichkeit.“63 Die „Eigentümlichkeit“ des Fremden zu akzeptieren, heißt immer auch, den eigenen Besitzstand zu sichern. Mead erklärte seinerzeit Kommunikation zur Voraussetzung von Identität. Nur durch Kommunikation finden wir zu anderen, durch den Austausch mit anderen zu uns selbst.64 Politische Bewegungen organisieren sich über Medien, um ihre Reichweite auszudehnen, Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen und dadurch mehr Einfluss ausüben zu können. Für linke – #BlackLivesMatter oder #MeToo, die 2013 bzw. 2017 auf Twitter an Popularität gewannen – wie für rechte Bewegungen sind die sozialen Medien unverzichtbar. Rechtsradikale Bewegungen wie die Identitäre Bewegung entstanden häufig zunächst als Facebook-Gruppen.65 Hier lassen sich nicht nur soziale Belange und Menschrechtsfragen diskutieren, sondern – dem Medium gemäß – Ängste verstärken und Hassbotschaften verbreiten: „In dem Maße, in dem die Bedeutung der Social Media wächst, ergeben sich neue Möglichkeiten – nicht nur, aber auch – für Akteure der extremen Rechten, effektive Kommunikationsstrategien anzuwenden.“66 Häufig dienen soziale Medien der Identitären Bewegung beispielsweise zur Vorbereitung von öffentlichen Aktionen, z. B. kurzen Tanzauftritten von maskierten Mitgliedern, das Nachspielen von Hinrichtungen nach dem Muster des Islamischen Staats, die Störung akademischer Veranstaltungen, die Besetzung von Bühnen oder symbolträchtiger

63Zit.

nach Gudrun Hentges u. a.: „Die Identitäre Bewegung in Deutschland (IBD) – Bewegung oder virtuelles Phänomen?“, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Supplement zu Heft 3 (2014), 1–26, hier 2, http://www.2005.hs-fulda.de/fileadmin/Fachbereich_SK/Professoren/Hentges/fjsb-plus_2014-3_hentges_koekgiran_nottbohm.pdf (3. Dezember 2018). 64„The process of communication simply puts the intelligence of the individual at his own disposal. But the individual that has this ability is a social individual. He does not develop it by himself and then enter into society on the basis of this capacity. He becomes such a self and gets such control by being a social individual and it is only in society that he can attain this sort of a self which will make it possible for him to turn back on himself and indicate to himself the different things he can do“, Mead: Mind, Self and Society, 243. 65Vgl. Hentges u. a.: „Die Identitäre Bewegung in Deutschland“, 4. 66Ebd., 9.

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Bauwerke. Die Bewegung adaptiert dabei bis zu einem gewissen Grad Strategien der linken Außerparlamentarischen Opposition aus den 1960er Jahren. Ihre Aktionen verlaufen nicht selten gewaltsam und verstehen sich als Vorstufe zu einem größeren Kampf. Die Popularisierung rechtsextremer Ansichten führt wiederum zu höherer Gewaltbereitschaft insgesamt. So ist die Zahl der Gewaltverbrechen im rechtsextremen Spektrum im Jahr 2016 um 14,3 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, wobei rund 1000 Angriffe Asylbewerberheimen galten.67 In den Vereinigten Staaten stieg die Zahl der „Hate Crimes“, rassistisch motivierter Gewaltverbrechen, innerhalb von zwei Jahren zwischen 2014 und 2016 um 12 %.68 Identitätspolitik folgt hier dem Grundsatz des Ausschlusses anderer. Dass soziale Medien zum „Erfolg“ ihrer Bewegungen beitragen und Hassbotschaften in wirkliche Handlungen, Worte in Taten, freie Meinungen in Verbrechen übertragen, können wir auf die Aufmerksamkeits-Architektur des Internets zurückführen. Dipayan Ghosh und Ben Scott heben hervor, dass die auf Internet-Plattformen gebräuchlichen, nach den Prinzipien der Werbung strukturierten Algorithmen, Aufmerksamkeit belohnen und Skandalträchtiges mit einem Bonus versehen. Die koordinierte Verbreitung von Falschinformationen unterscheide sich wenig von Werbekampagnen. Führende Internet-Plattformen seien mit bester Technik ausgerüstet, um Werbern zu helfen, Einfluss und Reichweite auszudehnen. Internetanbieter seien strukturell darauf ausgerichtet der Werbewirtschaft zu Diensten zu sein.69 Wenn sich „ökonomische Anreize“ und „politische Ziele“ nicht voneinander unterscheiden, dann übernehmen private Medienunternehmen die Rolle des Staates bei der Regelung und Sanktionierung des Lebens. Hat sich Facebook – wie

67Im gleichen Zeitraum ist die Zahl linksextremistischer Gewaltdelikte um 24,2 % gesunken. Verbrechen von Ausländern sind zwar insgesamt auf 3372 Delikte gestiegen, davon gehen die Hälfte auf Auseinandersetzungen zwischen der kurdischen PKK und der in Deutschland lebenden türkischen Bevölkerung zurück, vgl. den Bericht „Licht und Schatten bei der Kriminalitätsentwicklung im Jahr 2016“ des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, 24. April 2017, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2017/04/vorstellung-pks-pmk. html (3. Dezember 2018). 68Der Bericht des Federal Bureau of Investigation (FBI) weicht dabei stark von der hohen Dunkelziffer ab, die Menschenrechtsorganisationen registrieren. Die Differenz lässt sich dadurch erklären, dass African Americans und Latinos/Latinas den Behörden begründetes Mistrauen entgegenbringen. Das Southern Poverty Law Center (SPLC) schätzt, dass 2015 und 2016 bis zu 250.000 rassistische Gewalttaten verübt worden sein könnten, die meisten davon mit islamfeindlichem Hintergrund, Richard Cohen: „Hate Crimes Rise for the Second Straight Year“, in: SPLC, 13. November 2017, http://www.splcenter.org/news/2017/11/13/hate-crimes-rise-second-straightyear-anti-muslim-violence-soars-amid-president-trumps (3. Dezember 2018). 69„Disinformation campaigns are functionally little different from any other advertising campaign, and the leading internet platforms are equipped with world class technology to help advertisers reach and influence audiences. That is the business. As such, the economic incentives of the platforms and the political objectives of disinformation operators are aligned“, Dipayan Ghosh und Ben Scott: „Digital Deceit. The Technologies Behind Precision Propaganda On the Internet“, in: New America, 23. Januar 2018, 1–38, hier 30, http://www.newamerica.org/public-interesttechnology/policy-papers/digitaldeceit/ (3. Dezember 2018).

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andere Medienunternehmen – durch die Erprobung und Anwendung biometrischer Daten hervorgetan, die durch künstliche Intelligenz erfasst und überprüft werden, so genügt bereits der Hinweis auf die propagandistische Ausrichtung ihrer Algorithmen, um die Lenkung, den Einfluss und die Kontrolle von Mediennutzern schlüssig zu belegen. Politische Radikalisierung ist also nicht nur auf Inhalte zurückzuführen, sondern bereits in der Struktur des Mediums angelegt. „Bio-Politik“ nannte Foucault die Übereinkunft von Staat und Individuen, als Gegenleistung für Sicherheit und Schutz Kontrollfunktionen zu übernehmen. Dies bedeutete, in die Privatsphäre der zu schützenden Individuen einzugreifen: Bildung, Gesundheit, Steuern oder – zu einem gewissen Grad – Nachwuchsplanung fallen seither in die Domäne des Staates. Der Staat garantiert im Gegenzug Schutz nach außen und Sicherheit im Innern. Militär und Polizei zählen zu seinen Hoheitsgebieten. Zudem wird Individuen in Demokratien das Recht zur ökonomischen Entfaltung, des Besitzes von Eigentum, der Berufswahl, der Wahl des Wohnorts und der freie Ausübung des Berufs zugestanden. Der Staat räumt sich also seit der Neuzeit Rechte ein, die Individuen ihrerseits – sei es durch Gewohnheit oder repressive Maßnahmen – verinnerlicht haben, denn sie sind zur Gewohnheit geworden. Eines der Extreme bildet der Polizeistaat, der zur permanenten Unterdrückung neigt, ein anderes der neoliberale Ökonomismus, der ohne Kontrolle zu Monopolbildung und Ungleichheit führt. Während seit dem bürgerlichen Zeitalter die Politik dafür verantwortlich ist, die ökonomischen Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung der Mitglieder innerhalb eines Staates zu schaffen, übernehmen im Neoliberalismus private Einrichtungen zunehmend die Rolle staatlicher Institutionen. Unternehmen handeln als Statthalter staatlicher Interessen, während umgekehrt der Staat dafür Sorge trägt, dass private Unternehmen und Konzerne relativ frei ihren Interessen nachkommen können. Wie die Geschichte des Neoliberalismus zeigt, formiert sich gerade durch den Verkauf staatlicher Einrichtungen an private Unternehmen, Deregulierungsmaßnahmen, die Lockerung des Arbeitsmarktes und den Wegfall von Finanzmarktkontrollen ein politisch-ökonomischer Komplex, der Macht und Geld unter sich aufteilt. Neoliberalismus verlangt geradezu nach einem starken Staat, den seine Vertreter abzuschaffen behaupten. Zwar soll der „verschlankte“ neoliberale Staat auf einen große bürokratischen Apparat verzichten, nicht aber auf eine starke Polizei- und Militärpräsenz, die einem autokratischen Regime zur Legitimation dienen und Privilegien der Oberschichten zu verteidigen helfen. Das politische System des Neoliberalismus sieht im Staat einen im Sinne der Wirtschaft handelnden Agenten, der den Menschen die oft schmerzhaften Austeritätsprogramme und niedrigere Löhne erklären kann. Statt des Staates sind private Institutionen im Zeitalter des Neoliberalismus die eigentlichen Akteure bio-politischer Intervention, denn durch ihre Entscheidungen wird nach „nützlichen“ und „unnützen“, „wertvollen“ und „wertlosen“ Mitgliedern der Gesellschaft unterschieden. Die Politik fördert damit die im Projekt des Liberalismus angelegte Kapitalisierung des Menschen. Denn die Mitglieder einer Gesellschaft erfreuen sich nicht nur der Freiheit zur ökonomischen Entfaltung, sondern sie stehen seit dem Aufstieg des Bürgertums und seiner liberalen Wirtschaftsordnung in permanentem Wettbewerb miteinander. Um in diesem Wettbewerb Chancen wahrzunehmen, müssen sie mit

Weshalb neue Medien polarisieren

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Fähigkeiten und Kenntnissen aufwarten, die ihnen Vorteile verschaffen. Im Zeitalter sozialer Medien erlangen Individuen nicht mehr durch Bildung Vorteile, wie in den vorangegangenen 250 Jahren, sondern durch Aufmerksamkeit. Denn jede Verknüpfung, jeder neue „Freund“ auf Facebook, jedes Bild und jedes Video, das auf der eigenen Facebook-Seite erscheint, ist ein Signal des Wettbewerbs mit anderen. Wer sich auf die neuen Formen der Selbst- und Fremdkontrolle einlässt, steht in Konkurrenz zu Aufmerksamkeitsangeboten, die es zu übertrumpfen gilt. Selbstund Fremdkontrolle formen, wenn wir Foucault folgen, ein dynamisches Geflecht von „Machtbeziehungen“.70 Macht und Kontrolle durch Selbstbeobachtung von Individuen haben sich im Internet-Zeitalter verschärft. Übte der Souverän seit der Antike Macht aus, indem er über Leben und Tod gleichermaßen bestimmte, leitete sich in späteren Jahrhunderten Macht vom „Recht zur Gegenwehr“71 ab: „Das sogenannte Recht ‚über Leben und Tod‘ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen.“72 Der Tod werde damit zur „banalen Kehrseite des Rechts, das der Gesellschaftskörper auf die Sicherung, Erhaltung oder Entwicklung seines Lebens geltend macht“.73 Er sei das „Komplement zur positiven ‚Lebensmacht‘ […], die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im Einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“.74 Effizienzsteigerung und demographische Entwicklung sind aber nicht nur Faktoren der ökonomischen Wertsteigerung und der Planungssicherheit, sondern, wie wir gesehen haben, Fragen der Identität, die in rechtspopulistischen Kreisen Anlass für Hassreden und gewalttätige Aktionen geben. Wenn der Staat nicht vor andringenden „Horden“ schützt, lautet das gängige Argumentationsschema, müsse

70Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Der Wille zum Wissen, 20. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 2014 [frz. 1976], 95. 71Ebd., 131. 72Ebd., 132 (kursiv im Original). 73Ebd. 74Ebd., 132 f. Foucault wusste aufgrund seiner auf ökonomische Konzepte und der Entwicklung der Naturwissenschaften fußenden materialistischen Wertbegründung des Lebens wenig mit dem von Hannah Arendt vertretenen Konzept des Werts anzufangen, wonach Leben aus der christlichen Tradition abzuleiten sei. Nach Arendt schloss das vom Christentum favorisierte kontemplative Leben eine Begründung moderner Arbeitsformen aus. Der Wert, der heute noch dem Leben beigemessen werde, sei daher ein christlicher Überrest, der im Widerspruch zur Moderne stehe: „The reason why life asserted itself as the ultimate point of reference in the modern society is that the modern reversal operated within the fabric of a Christian society whose fundamental belief in the sacredness of life has survived, and has even remained completely unshaken by, secularization and the general decline of the Christian faith. In other words, the modern reversal followed and left unchallenged the most important reversal that was politically even more far-reaching and, historically at any rate, more enduring than any specific dogmatic content or belief. For the Christian ‚glad tidings‘ of the immortality of individual human life had reversed the ancient relationship between man and world and promoted the most mortal thing, human life, to the position of immortality, which up to then the cosmos had held“, Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago: The University of Chicago Press 1958, 313 f.

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man sich selbst zur Wehr setzten, um die „Reinheit“ der eigenen Kultur und Rasse zu garantieren. Was einst dem Staat zukam, hat sich auf Konzerne verschoben, die Kapital aus den Fliehkräften des Tribalismus schlagen. Fanatische Botschaften werden im Internet zu Statussymbolen, die sich an ihren Resultaten bemessen: dem „Recht, sterben zu machen und leben zu lassen“. Tribalismus ist nicht neu. In anderer Form sorgte eine radikale, auf Gruppenidentität angelegte Politik für die ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Die Idee von der Überlegenheit der eigenen „Rasse“ im Überlebenskampf mit anderen entspricht sozialdarwinistischen Vorstellungen, wie sie von Francis Galton popularisiert wurden. Galton glaubte, dass der Mensch nur durch Züchtung seine biologisch bedingten, von der christlichen Religion fälschlich auf die Erbsünde zurückgeführten Schwächen überwinden könne. Dringlichkeit bestand für Galton deshalb, weil seiner Ansicht nach die Schwächsten in der Gesellschaft allzu sehr durch soziale Hilfen und staatliche Unterstützung gefördert würden – ein Grundsatz des ökonomischen Liberalismus, der auch heute noch in vielen Debatten nachklingt, sei es in der Diskussion um ein Grundgehalt für alle Mitglieder der Gesellschaft, die Höhe von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung oder eine Immigrationspolitik, die angeblich „Sozialschmarotzer“ ins Land führe. Desgleichen beschwor Galton eine „Flut“ von – wie er meinte – notorisch Armen, Dummen und Verbrechern, die sich der Weltgeschäfte bemächtigen würden, wenn nicht strikte Züchtungsgesetze erlassen würden.75 Die Biologie bestätigte, was ihr die Ökonomie vorgab. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse entsprachen keinen „Gesetzen“ die man entdeckte, sondern einer Ideologie, die das Denken prägte. Im Gewand der Notwendigkeit räumte der Liberalismus in seiner sozialdarwinistischen Ausprägung den talentiertesten und leistungsfähigsten Mitgliedern der Gesellschaft einen Vorrang vor denjenigen ein, die bislang durch ihr Geburtsrecht begünstigt waren. Nach der bei Sozialdarwinisten genährten Idee einer Meritokratie galten jene als schwach und wenig überlebensfähig, die nicht durch Kenntnisse und Befähigung zum gesellschaftlichen Fortschritt beitrügen. Sei Reichtum, wie Weber gezeigt hat, nach protestantischen Vorstellungen ein Ausweis der Gunst Gottes, so war er dem sozialdarwinistischen Verständnis nach ein Zeichen der Stärke. Umgekehrt war Armut für Protestanten ein Nachweis der Missgunst Gottes, für Sozialdarwinisten hingegen schlichtweg ein Beleg für Unfähigkeit: „Industrielle wie der Ölmagnat John D. Rockefeller und der amerikanische ‚Stahlkönig‘ Andrew Carnegie benutzen Darwins Theorie vom ‚Kampf ums Dasein‘, um das Laisser-faire-Prinzip des Manchesterliberalismus, nach dem nur das freie Spiel der Kräfte das Gesamtwohl

75„The

time may hereafter arrive, in far distant years, when the population of the earth shall be kept as strictly within the bounds of numbers and suitability of race, as the sheep on a well-ordered moor or the plants in an orchard-house; in the meantime, let us do what we can to encourage the multiplication of the races best fitted to invent and conform to a high and generous civilisation, and not, out of a mistaken instinct of giving support to the weak, prevent the incoming of strong and hearty individuals“, Francis Galton: Hereditary Genius. An Inquiry into its Laws and Genius, London: McMillan 1869, 357.

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fördere, biologisch zu überhöhen. Sie konnten so die wachsenden sozialen Probleme in industrialisierten Gesellschaften als ‚naturgegeben‘ rechtfertigen.“76 In den rassistischen und populistischen Ansichten von Medienprofis wie Mercer erhält der Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts ein zeitgemäßes Gewand. Im Internet aber findet die neue Avantgarde des Rassismus zusammen. Hier treffen sich die „Tribes“ des digitalen Zeitalters, um andere auszuschließen und mobil zu machen gegen „Feinde“: Andersdenkende, Muslime, Schwarze, Migranten und generell Menschen, die – in welcher Weise auch immer – nicht in herkömmliche Muster westlichen Denkens passen mögen.77

Welche „Werterevolution“ Nationalsozialisten meinten Ohne die Allianz von Politik und Biologie im 19. Jahrhundert würde es den neoliberalen Homo oeconomicus nicht geben. Im sozialen Kontext war „Leben“ identisch mit dem Ziel der Optimierung, um dem Individuum Vorteile der Selbstvermarktung zu verschaffen. Dass der Mensch durch seine Arbeitskraft an Wert gewinnen konnte, war den Lesern von Adam Smith ebenso bewusst wie Naturforschern und Evolutionsbiologen: Überleben ist derjenigen Spezies garantiert, die unter geringstem Aufwand von Energie zur größtmöglichen Entfaltung gelangt, die sich am raschesten an veränderte Umweltbedingungen anpasst und die sich im Wettbewerb mit anderen Arten durchsetzt. Erst der Liberalismus hat die Anwendung ökonomischer Gesetze und Wertvorstellungen auf die Natur ermöglicht.78 So baute Darwin beispielsweise auf John Ramsey McCullochs weitverbreitetes und in mehrere Sprachen übersetztes Werk Principles of Political Economy (1826). Wenn jedes Individuum, meinte McCulloch ganz im Sinne von Smith, mit der Suche nach dem eigenen ökonomischen Vorteil befasst sei, dann profitiere letztlich die Gesellschaft: „It is a consequence of this principle, that if no particular branches of industry were encouraged more than others, those would be preferred which naturally afforded the greatest facilities for acquiring fortunes, and, consequently, for increasing the capital of the country.“79

76Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M und New York: Campus 1997, 20. 77Beispiele für verschiedene Praktiken des „Othering“ im Internet und anderen Medien – der Hervorhebung von Unterschiedsmerkmalen, die zur Markierung und zum Ausschluss Andersdenkender führen – geben Lisa Nakamura und Peter A. Chow-White (Hg.): Race After the Internet, New York: Routledge 2012. 78So folgert Stephen Jay Gould „that the theory of natural selection is, in essence, Adam Smith’s economics transferred to nature“, The Structure of Evolutionary Theory, Cambridge, Massachusetts, und London: The Belknap Press of Harvard University Press 2002, 122. 79John Ramsey McCulloch: The Principles of Political Economy. With a Sketch of the Rise and Progress of the Science, 2., korrigierte und erweiterte Aufl., London: Tait 1830, 149. Vgl. hierzu auch Silvain S. Schweber: „Darwin and the Political Economists: Divergence of Character“, in: Journal of Historical Biology 13 (1980), 195–289, hier 268.

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Mit der Evolutionslehre stellten sich notwendig Fragen von politischer Brisanz. Welche staatlichen Mittel stehen zur Steuerung der Rassenhygiene zur Verfügung, die aus der Sicht Francis Galtons dem Untergang der weißen Rasse entgegenwirken würden? Galton schlug vor, die „‚Untauglichen‘ […] weitgehend von der Fortpflanzung“ auszuschließen.80 Sein Augenmerk galt der Eugenik, die sich gegen „den Fatalismus in der Darwinschen Theorie der natürlichen Selektion“ richtete und vorsah, dass „der Mensch seine Intelligenz dazu benutzte, die äußeren ‚Einflüsse‘ so zu ändern, daß sich nur die Begabtesten fortpflanzten“.81 Mit der Lenkung des freien Marktes durch staatliche Institutionen und der Organisation des Kapitalismus nach rationalen Mustern gewann auch die Idee gewisser, maßvoller Eingriffe in den Evolutionsprozess an Zustimmung. Eugenik übertrug die Vorstellungen des freien Marktes, auf dem sich der risikofreudige, „starke“ Unternehmer durchsetzte, auf das Leben selbst. Dem Staat kam es zu, den Rahmen für diesen Markt zu bestimmen. Zugleich hielt mit dem Taylorismus – der von Frederick Winslow Taylor entwickelten Methode der wissenschaftlichen Optimierung industrieller Fertigung durch zeitliche Taktung, Aufteilung von Arbeitsabläufen sowie eine daran geknüpfte leistungsorientierte Entlohnung – ein Prinzip in die Ökonomie Einzug, auf das sich wiederum die Eugenik berufen konnte: „Die ‚Rationalisierung des Geschlechtslebens‘ versprach für die Menschheit – jedenfalls in der Perspektive der Eugeniker in Westeuropa und den Vereinigten Staaten – ähnliche Effizienzsteigerungen wie die Rationalisierung des Produktionsprozesses für die Wirtschaft.“82 Das Spektrum derer, die Rassenhygiene als wichtiges gesellschaftliches Phänomen erachteten, reichte von sozialistisch gesinnten Lebensreformern über wohlhabende Industrielle bis zu Mitgliedern der Aristokratie – jeweils mit unterschiedlichen Zielen und Absichten. Alfred Ploetz, der Begründer der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und stramme Befürworter der Eugenik, ist beispielsweise dem Umfeld der um 1900 anzusiedelnden Lebensreformbewegung zuzurechnen.83 Ploetz zählte dabei zu einer gesellschaftspolitisch engagierten Gruppe, die um die „Abnahme der Rassenqualität“ durch den „Schutz der Schwachen“ fürchtete: „In seiner utopischen Vision sollten nur die Paare mit dem besten Keimplasma Kinder erzeugen und somit

80Kühl:

Die Internationale der Rassisten, 19.

81Ebd. 82Ebd.,

21. ging der Lebensreform in all ihren Einzelbestrebungen um einen Wandel der Existenzweisen im Bereich der Lebensführung, der Ernährung, des Wohnens und der Gesundheitspflege. ‚Rückkehr zur Natur‘ und ‚natürliche Lebensweise‘ – diese Schlagworte galten als Orientierungsmarken aller Reformbemühungen“, Wolfgang R. Krabbe: „Die Lebensreform“, in: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hg. von Kai Buchholz, 2 Bde., Darmstadt: Haeusser-Media 2001, Bd. I, 25–29, hier 25. Die einzelnen Bewegungen zeigten dabei große Unterschiede in der Weltanschauung: „Die einen verstanden sich als christliche, aber antikonfessionelle Gemeinschaften, die anderen als völkische, Rassereinheit und Zuchtauswahl pflegende Genossenschaften, dritte versuchten es mit sozialistischen oder anarchistischen Lebensweisen und vierte wollten gesundheits- und diätetikorientierte Lebensformen ausprobieren“ (ebd., 25).

83„Es

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die genetische Zukunft der Rasse bestimmen. ‚Minderwertige Elemente‘ sollten nicht mehr durch einen blutigen Kampf ‚ausgetilgt‘ werden, sondern von vornherein an ihrer Entstehung gehindert werden: Je stärker man die Produktion ‚minderwertiger Varianten‘ verhindern könne, desto weniger benötige man den ‚Kampf ums Dasein‘.“84 Stärker als Ploetz setzte der Arzt Wilhelm Schallmayer auf die Eugenik als einer „Sozialtechnologie zur Stärkung der nationalen Effizienz in einem ‚internationalen Daseinskampf‘“.85 Schallmayer stand wie Ploetz dem Sozialismus nahe, forderte Chancengleichheit für alle Menschen und machte sich für die Demokratie stark. Bekannt wurde vor allem seine Schrift Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker (1903): „Wir fanden, daß vom Standpunkt der auf Selektion aufgebauten Descendenztheorie das letzte Ziel jeder staatlichen Politik auf die Dauer kein anderes sein kann als das, die Völker zum Bestehen des Daseinskampfes zu kräftigen; daß jede damit nicht übereinstimmende Richtung der Politik vor dem Richterstuhl der natürlichen Auslese stets Verurteilung findet, und daß diese Richterin, wenn sie auch scheinbar eine Zeit lang Nachsicht übt, ihre Urteile unbedingt tödlich vollstrecken läßt, sobald sie einen Vollstrecker, nämlich einen stärkeren Mitbewerber in der Konkurrenz ums Dasein, gefunden hat.“86 Die Eugenik gab der völkischen Biologie des nationalsozialistischen Regimes entscheidende Anstöße, wie George L. Mosse zeigte. Es sei eine der Grundlagen des Rassismus jener Zeit gewesen, Thesen aus der Anthropologie und der Eugenik in einer Gesellschaftstheorie zu verdichten. Die darwinistische Abstammungslehre gewann dabei an Bedeutung, so dass die Idee des „Survival of the Fittest“ zu den Dogmen des Rassismus werden konnte. Deutsche haben, nach Mosse, diesen einseitig gedeuteten darwinistischen Rassismus „Rassen- und Sozialbiologie“ genannt und größten Wert auf „korrekte“ Abstammungsfaktoren gelegt.87 Ploetz und Schallmayer schufen für den anti-sozialistischen und anti-semitischen Furor der Nationalsozialisten die Grundlagen. Die „Hygiene der gesammten menschlichen Gattung“, meinte Ploetz schon 1895, falle zusammen „mit derjenigen der arischen Rasse, die abgesehen von einigen kleineren, wie der jüdischen, die höchstwahrscheinlich ohnehin ihrer Mehrheit nach arisch ist, die

84Vgl. Kühl: Die Internationale der Rassisten, 22. Vgl. hierzu Alfred Ploetz: Grundlinien einer Rassenhygiene, Teil I, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, Berlin: S. Fischer 1895. 85Kühl: Die Internationale der Rassisten, 22. 86Wilhelm Schallmayer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie, Jena: G. Fischer 1903, 379. Für vorbildlich erachteten Schallmayer und Ploetz die Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene in den USA, wo 1906 das weltweit erste Sterilisationsgesetz erlassen wurde und die American Breeders Association im gleichen Jahr eine Sektion für Eugenik gegründet hatte. 87„This, in fact, was the mainstream of racism: the fusion of anthropology, eugenics, and social thought. These traditional concepts were now linked to Darwinism, and so led to a racist preoccupation with heredity and eugenics as vital for the survival of the fittest. Germans called such Darwinian racism ‚racial and social biology‘ because of the emphasis that had to be placed upon the proper hereditary factors“, Mosse: Toward the Final Solution, 77.

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­ ulturrasse par excellence darstellt, die zu fördern gleichbedeutend mit der Förderung C der allgemeinen Menschheit ist.“88 Der „Glaube“ an die eigene Überlegenheit ist religiös überhöht und in der Tat fehlte der rassenhygienischen Bewegung ein metaphysischer Überbau, wie ihn etwa Ernst Haeckels Monismus lieferte.89 Hier entfaltete sich eine Wertphilosophie, die nahtlos Sozialdarwinismus, Rassismus und Ökonomie miteinander verband. Das allumfassende Welterklärungsmodell des Monismus führte den Nationalsozialisten vor Augen, dass ihr pseudo-wissenschaftlich begründeter Rassismus an Gefühle, Stereotype und den bloßen Glauben appellieren musste, um sich bei einer breiten Bevölkerungsschicht durchzusetzen. Was nicht zu wissen war, sollte wenigstens geahnt werden: „Haeckel verkörperte den schließlich mit ersatzreligiösem Pathos vorgetragenen naturwissenschaftlichen Anspruch auf totale Welterklärung, die jeden anderen Sinnentwurf verwarf.“90 Zweifellos beförderte Haeckel Ideen, die von Einfluss auf die nationalsozialistische Rassenlehre waren,91 den Nationalsozialisten blieben jedoch sein bürgerlich-elitärer Gestus sowie die freidenkerische, pazifistische Ausrichtung seiner Ansichten suspekt. Stattdessen verstand sich der Nationalsozialismus als politische Religion und sah sich in unmittelbarer Konkurrenz zu den etablierten Kirchen. Wie jede „Kirchengemeinde“ gehorchte der Nationalsozialismus den Gesetzen der Masse, die danach sucht, sich zu vergrößern (deshalb sah sich Hitler an der Spitze einer „Bewegung“), andere ausgrenzt (Rassenlehre), Energie eruptiv entlädt (Pogrome), einer Bedrohung von außen meint begegnen zu müssen („jüdisch-bolschewistisches Finanzkapital“), ihr Wachstum ab einer gewissen Dichte zu verlangsamen

88Ploetz: 89„Alle

Grundlinien einer Rassen-Hygiene, 5.

Objekte der Welt, die unserer Erkenntnis zugänglich sind, alle individuellen Formen des Daseins, sind nur besondere vergängliche Formen der Substanz, A c c i d e n z i e n oder M o d e n . Diese M o d i sind körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir sie unter dem Attribut der Ausdehnung (der ‚Raumerfüllung‘) betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir sie unter dem Attribut des D e n k e n s (der ‚Energie‘) betrachten“, Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn: Strauß 1899, 250. Verdichtete Materie, so Haeckel, bilde Objekte und Körper. Die dem Gesetz der Entropie folgende verteilte Materie sei hingegen durch den „Aether“ miteinander verbunden. Im Äther komme Energie zur Wirkung; hier werde sie übertragen und umgewandelt: „Die Gesamtsumme der Kraft oder Energie im Weltall bleibt beständig, gleichviel, welche Veränderungen uns erscheinen; sie ist ewig und unendlich, wie die Materie, an die sie untrennbar gebunden ist“ (ebd., 266). 90Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, 2., ergänzte Aufl., München: Oldenbourg 2002, 307. 91Daniel Gasman gibt die Schuld an den Euthanasieprogrammen der Nationalsozialisten und am Holocaust fast ausschließlich Haeckel und dem Deutschen Monistenbund: The Scientific Origins of National Socialism. Social Darwinism and the German Monist League, London: Macdonald und New York: American Elsevier 1971, 100. Anders sieht dagegen Mario A. Di Gregorio: From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 261, kaum einen direkten Einfluss Haeckels auf die Euthanasieprogramme, wohl aber auf die Errichtung einer allumfassenden, alle Lebensbereiche einschießenden Ideologie.

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und zu begrenzen sucht, um eine „Elite“ heranzubilden (Aufnahmesperre in die NSDAP ab 1933).92 Hitler „war von der Größe der Organisation der Reichskirche und vom blinden Fanatismus des Glaubens fasziniert, der die Religion fast unbesiegbar gemacht habe. So liege die Größe des Christentums in der fanatischen Verkündigung der eigenen Lehren. Diese Religion habe deswegen gesiegt, weil sie die fremden Altäre zerstörte und mit unbeugsamer Intoleranz ihren Glauben auf brutale Weise durchsetzte“.93 In der politischen Religion des Nationalsozialismus kehren religiöse als säkulare, spirituelle als ideologische Vorstellungen wieder. Die in der Gestalt Jesu angelegte Opferbereitschaft, die Idee des auserwählten Volkes, das Telos des neuen Jerusalems, das im „Endsieg“ des Reichs und eines künftigen Friedens aufkeimte, die Dogmen vom Heil, das Hitler in seiner Grußformel habitualisierte, und von der Wiederauferstehung, die in der Dolchstoßlegende Ausdruck fand und sich im Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht erfüllen würde, die Rituale, die – von den Initiationsriten der Hitlerjugend bis zur Inszenierung der Parteitage – der Stärkung der Gemeinschaft dienten, waren Mittel einer „völkischen“ Politik, die den „Wert“ der „arischen Rasse“ unterstrich: „Der Nationalsozialismus, diese irdische rassistische Erlösungsbewegung, [hat] das Erbe von knapp 2000 Jahren Theorie und Praxis des christlichen und hier zunächst vor allem katholischen Antisemitismus angetreten, beides radikalisiert und in einem nie zuvor denkbaren und auch praktizierbaren Ausmaß exekutiert.“94 Hitler sprach als Prophet zum deutschen Volk, die Machtergreifung erachtete er als „Werk der göttlichen Vorsehung“ und „berief sich auf Gottes Beistand“ um „Deutschland wieder frei und glücklich“ zu machen. Seine Anhänger könnten daher „mit ­tiefer Gläubigkeit in die Zukunft gehen […]. Ihr Werk sei von der göttlichen Allmacht

92Vgl.

Canetti: Masse und Macht, 13–86. Grabner-Haider und Peter Strasser: Hitlers mythische Religion. Theologische Denklinien und NS-Ideologie, Wien u. a.: Böhlau 2007, 147 f. Claus-Ekkehard Bärsch zeigt zahlreiche Parallelen in Hitlers Unternehmungen, Reden und Programmen auf, die religiöse Züge trugen, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, 2., vollständig überarbeitete Aufl., München: Fink 2002. Aufgrund ihrer Fülle an Beispielen eignet sich Bärschs Studie zugleich als Quellensammlung. Vgl. auch Friedrich Heer, der schon früh die religiösen Seiten des Nationalsozialismus untersuchte: Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München: Bechtle 1968, 567: „Der Glaube des Adolf Hitler entspricht in breitesten Schichtungen und Strukturen dem Glauben breitester Schichten des deutschen Volkes. Daraus resultiert nicht zuletzt die massive Basis seines Erfolges. Beide, Hitler und die Mentalität dieses Volkes, wurzeln lückenlos in einer Kontinuität, die sich vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute entfaltet.“ In der von Michael Ley und Julius H. Schoeps herausgegebenen Aufsatzsammlung Der Nationalsozialismus als politische Religion (Bodenheim bei Mainz: Philo 1997) wird der Zusammenhang von Politik und Religion meist im Rahmen der Totalitarismus-Debatte diskutiert. Auf Eric Voegelin wurde bereits in Kap. 5 hingewiesen. 94Joachim Riedl: „Der lange Schatten des Kreuzes. Von Golgatha zur Svastika“, in: Ley/Schoeps (Hg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, 53–73, hier 53 f. 93Anton

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gelenkt und gesegnet […]“.95 In seiner Rede vom 10. Februar 1933 spricht der „Führer“ das Vaterunser für die neue Gemeinschaft der Gläubigen, die bereit sei, die Zögernden und Zweifelnden in ihre Mitte aufzunehmen: „Denn ich kann mich nicht lösen von dem Glauben an mein Volk, kann mich nicht lossagen von der Überzeugung, daß diese Nation wieder einst auferstehen wird, kann mich nicht entfernen von der Liebe zu diesem meinem Volk und hege felsenfest die Überzeugung, daß eben doch einmal die Stunde kommt, in der die Millionen, die uns heute hassen, hinter uns stehen und mit uns dann begrüßen werden das gemeinsam geschaffene, mühsam erkämpfte, bitter erworbene neue deutsche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit. Amen!“96 Für die politische Religion des Nationalsozialismus suchten seine Apologeten nach geeigneten Narrativen. Eine „neue Mythologie“ – wie sie schon die Romantiker um Friedrich Schlegel gesucht hatten – sollte das Volk einen.97 Geschichten werden durch Medien transportiert, die im totalitären Regime des Nationalsozialismus monopolistisch kontrolliert wurden. Mithilfe von Medien erhält Bio-Politik eine sichtbare, lesbare Form, die sich in den Gedanken der Menschen, die sie rezipieren, niederschlägt. Produzent solcher „Geschichten“ war z. B. Alfred Rosenberg, „Hitlers Chefideologe“.98 Im Völkischen Beobachter, dem von der NSDAP 1920 erworbenen und gegen Ende des Krieges auflagenstärksten Zentralblatt der NS-Ideologie – für 1944 steht eine Auflage von 1,7 Mio. Exemplaren zu Buche –, verbreitete Rosenberg seine antisemitischen und menschenverachtenden Thesen vom Übel der jüdischen Rasse, von der Verschwörung des Judentums und des Bolschewismus gegen das deutsche Volk und von der Notwendigkeit einer völkischen Erneuerung. Zahlreiche religiöse Anspielungen, die auf die lange Tradition der Diskreditierung der Juden in Europa zurückgehen und nun rassistisch begründet werden, sind in Zeitschriftenartikeln Rosenbergs vorweggenommen, die in seinem Hauptwerk Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) wiederbegegnen, einer, wie es im Untertitel bezeichnend heißt, „Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit“. Rassenideologie erscheint darin als Überwindung des jüdisch kompromittierten Christentums, das seinerseits durch einen neuen „Mythus“ ersetzt werden müsse. Dieser „Mythus des Blutes“ verbinde „Seele,

95Grabner-Haider/Strasser:

Hitlers mythische Religion, 153. Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, Bd. I, Triumph, 1. Halbband, 1932–1934, München: Süddeutscher Verlag 1965, 207. 97Vgl. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler u. a., bislang 31 Bde., Paderborn u. a.: Schöningh, 1958–2018, Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken 1 (1796–1801), hg. und eingeleitet von Hans Eichner, Paderborn u. a.: Schöningh 1967, 284–351, hier 312. Die narrative Struktur des Mythos ist bereits seine Botschaft und benötigt keinen konkreten Inhalt, vgl. Ernst Müller: Art. „Mythos/mythisch/Mythologie“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 4, Stuttgart und Weimar 2010, 309–346. Zum Begriff des Mythos vgl. oben, Kap. 5 und unten Kap. 9. 98Vgl. Alfred Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München: Blessing 2005. 96Max

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Rasse und Ich, Volk und Persönlichkeit, Blut und Ehre“.99 Rosenberg deutet den Ersten Weltkrieg als Umbruch und rechtfertigt die Niederlage als notwendigen Opfergang zur Wiederauferstehung eines rassisch „reinen“ Volkes. Krieg sieht der Autor als Emblem des Wertezerfalls seiner Zeit, doch auch als Bedingung für einen Neubeginn: „Die Toten des Krieges sind die Opfer der Katastrophe einer wertelos gewordenen Epoche, zugleich aber [...] die Märtyrer eines neuen Tages, eines neuen Glaubens. Das Blut, welches starb, beginnt lebendig zu werden. In seinem mystischen Zeichen geht ein neuer Zellenbau der deutschen Volksseele vor sich. Gegenwart und Vergangenheit erscheinen plötzlich in einem neuen Licht und für die Zukunft ergibt sich eine neue Sendung.“100 In der Religion sieht Rosenberg ein Bindeglied, das zwischen Faktischem (Blut) und Metaphysischem (Seele) vermittelt: „D e r S e h n s u c h t d e r n o r d i s c h e n R a s s e n s e e l e i m Z e i c h e n d e s Vo l k s m y t h u s i h r e F o r m a l s D e u t s c h e K i r c h e z u g e b e n , d a s i s t m i t d i e g r ö ß t e A u f g a b e u n s e r e s J a h r h u n d e r t s .“101 Der „Deutschen Nationalkirche“ gehe es „u m d i e S c h a f f u n g e i n e s h o h e n We r t g e f ü h l s “, das sozialdarwinistischen Prinzipien entsprech­ end als „Auslese“ und „Kampf“ den Menschen vermittelt werde.102 Im Ton seiner Zeit proklamiert Rosenberg Werte, die durch Zustimmung an Gültigkeit gewinnen sollen: apodiktische Klauseln und dunkle Anspielungen, deren Hintergründe sich seinen Lesern nicht erschließen, sondern als Ahnung lediglich fühlbar bleiben. In der Tat zahlte sich für Rosenberg die Propagierung neuer „Werte“ in barer Münze aus. Durch die Gunst des „Führers“ brachte er es zum Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete. Dort hatte er nicht nur maßgeblichen Anteil an der „Germanisierung“ der eroberten Länder, sondern vor allem an der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Die massenhafte Tötung von Juden und die Konfiszierung jüdischen Eigentums waren Faktoren von beträchtlichem ökonomischem Ausmaß – und Rosenberg profitierte reichlich von der Überführung ideologischer in materielle Werte. Erst wenn Anpassung erwartet, alternative Moralvorstellungen unterdrückt und Belohnungsanreize im Wettbewerb der Individuen innerhalb eines medial erzeugten Wertekosmos gesetzt werden, können sich totalitäre Ideologien durchsetzen. Der Aufwertung der deutschen „Herrenrasse“ steht die Herabsetzung aller anderen Menschen komplementär gegenüber. Die Aufteilung nach Rassen ist das leitende Kriterium, nach dem sich die Hierarchisierung der Werte vollzieht. Die „Entwertung“ des Menschen mündet in seiner Entmenschlichung. Moralvorstellungen verlieren ihre Gültigkeit erst dann, wenn Entmenschlichung Teil der Rechtsprechung ist. Ohne Rechte und Sicherheiten erlischt auch der Anspruch

99Alfred

Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhundert. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 115.–118. Aufl., München: Hoheneichen 1937, 699. 100Ebd., 1 (Hervorhebung vom Verfasser, C.Z.). 101Ebd., 614 f. 102Ebd., 611.

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auf das Leben.103 Greifbar wurden die „Werte“ des Nationalsozialismus erst, als sich materielle Vorteile ergaben, sich also die pseudo-wissenschaftliche, mythisch gewandete Ideologie im ökonomischen Wettbewerb durchgesetzt hatte. Gerade der Liberalismus, gegen den Rosenberg Vorbehalte hegte, diente dabei als Vorbild: „Die nationalsozialistische Verherrlichung des Leistungsethos entsprach den Erfordernissen einer schon in Friedenszeiten gestarteten Kriegswirtschaft ebenso wie den unentwegt propagierten sozialdarwinistischen Ideen. Sie diente dem Zweck, die Arbeiterschaft qua Entsolidarisierung politisch ruhigzuhalten und aus Deutschland trotzdem ein Arbeitshaus zu machen.“104 Förderten die Nationalsozialisten das Leistungsprinzip außerhalb des Arbeitsplatzes etwa durch sportliche Wettbewerbe, Auszeichnungen und Ehrungen, fand im Arbeitsalltag eine ausgeklügelte Fächerung der Anreize statt, die von großer Wirkung war. So führte die Staffelung von Lohngruppen zu einer exakteren Leistungsmessung und Akkordzulagen dienten der Leistungssteigerung, obwohl die Gesamtlohnsumme niedrig blieb. Gerade sozialen Aufsteigern bot sich so die Chance, unter den Nazis Karriere zu machen, denn Juden wurden Ämter und Positionen genommen, die sich die Gewinner der Rassengesetze aneigneten. Die Förderung des Wettbewerbs innerhalb einer „Rasse“ und die Vernichtung anderer „Rassen“ bildeten komplementäre Seiten der gleichen bio-politischen Anstrengungen. Hitler folgte in Mein Kampf (1925/26) einem vulgären, sozialdarwinistischen Schema. Die „völkische Weltanschauung“ glaube „keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höheren oder minderen Wert und fühlt sich durch diese Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen, das dieses Universum beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern, die Unterordnung des Schlechteren und Schwächeren zu verlangen. Sie huldigt damit aber auch prinzipiell dem aristokratischen Grundgedanken der Natur und glaubt an die Geltung dieses Gesetzes bis herab zum letzten Einzelwesen. Sie sieht nicht nur den verschiedenen Wert der Rassen, sondern auch den verschiedenen Wert der Einzelmenschen.“105

103Die

„moralische“ Ordnung des Nationalsozialismus gründete auf absolut gesetzten, daher existenziell verstandenen rassistischen „Werten“ im Rahmen ethischer Prinzipien: einer „eugenischen Ethik“, die als „Rassengewissen“ diente, einer „selektiven Rassenethik“ um „Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft“ zu begünstigen, einer „natürlichen Lebensethik“, die von der „Steigerung des Lebens in Übereinstimmung mit Natur- und Lebensgesetzen“ sprach, einer „soldatischen Ethik“, die für „Kampf“ und „Opferbereitschaft“ warb, einer „deutschen Ethik“, die sich als „Moral der Tat“ verstand, und einer „biologischen Ethik“, die der Vergeistigung durch das Christentum eine von Instinkten geleitete, körperliche Perspektive auf den Menschen entgegensetzte: „Der ‚neue Mensch‘ des Nationalsozialismus sollte als politischer Soldat und Rassenkrieger im weltanschaulichen Entscheidungskampf bedingungslos der ‚moralischen Urteilskraft des Blutes‘ vertrauen“, Bialas: Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, 11. 104Ebd., 108. 105Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition, hg. von Christian Hartmann u. a. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, 2 Bde., München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016, Bd. 2, 981 (Hervorhebungen vom Verfasser, C.Z.).

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Die Profiteure des Leistungsprinzips waren nicht nur aufstrebende Karrieristen, sondern vor allem Großindustrielle und Investoren, die auf eine Produktivitätssteigerung in den Betrieben setzen konnten, ohne Lohnsteigerungen hinnehmen zu müssen. Durch die Rassenpolitik wurden gleichzeitig unliebsame Konkurrenten und Gläubiger beiseitegeschafft. Das Leistungsprinzip gab einen Hinweis auf die marktwirtschaftliche Ausrichtung der nationalsozialistischen Führung. Keineswegs überwog das „sozialistische“ Element in der Wirtschaft während der zwölfjährigen Herrschaft der NSDAP. Trotz staatlicher Investitionen und eines „Vierjahresplans“, den Hitler 1936 auf dem Nürnberger „Parteitag der Ehre“ ausrief, hatte die wirtschaftliche Elite freie Hand. Innerhalb von vier Jahren solle „die Wirtschaft ‚kriegsfähig‘ und die Wehrmacht ‚einsatzfähig‘ sein. Was sich aufgrund dieser Prämisse in den folgenden Jahren herausbildete, war eine staatliche Kommandowirtschaft mit privater Mitbestimmung. Das Privateigentum wurde nicht angetastet, und auch die unternehmerische Verfügungsgewalt in autarkie- und kriegswichtigen Bereichen nur bedingt, denn in den staatlichen Lenkungsbüros saßen die Manager der Industrie“106 – wenn auch unter der Führung des oft als „Wirtschaftsdiktator“ bezeichneten Hermann Göring. Diente Hitlers Staatsverständnis zufolge die Wirtschaft der Politik, waren seine Kriegspläne wiederum von der Montan-, Chemie und verarbeitenden Industrie abhängig.107 Die Zusammenarbeit des nationalsozialistischen Regimes mit der industriellen Führungsriege funktionierte überwiegend reibungslos, so lange Gewinne zu verzeichnen waren. Doch selbst angesichts der drohenden Kriegsniederlage nach der Einkesselung der 6. Armee in Stalingrad im November 1942 kann von einem Rückzug der Privatwirtschaft nicht die Rede sein.108 Zu hoch war der Einsatz, um die einmal getätigten Investitionen abzuschreiben, zu groß die Profite, die bei einem Sieg, sei er auch noch so unwahrscheinlich, winken würden. Denn Hitlers Nationalsozialismus hatte sich schon früh auf die rassenideologisch, nicht weniger aber auch ökonomisch begründete „Eroberung von Lebensraum“ im Osten festgelegt, einem gewaltigen Gebiet mit reichen Ressourcen. Hitler erklärte die Expansion einer kommenden Großmacht Deutschland in Mein Kampf mit pseudo-­historischen (Niederlage im Ersten Weltkrieg) und rassistischen Verschwörungstheorien (jüdischer Bolschewismus), wonach das „Herrenvolk“ der Deutschen nur ­lebensfähig sein könne, wenn

106Norbert

Frei: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, 6., erweiterte und aktualisierte Neuaufl., München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2001, 102. 107Der I.G. Farben kam dabei eine besondere Rolle zu, die dadurch hervorgehoben wurde, dass die wichtige staatliche Position des „Generalbevollmächtigten Chemie“ mit Carl Krauch besetzt wurde, einem Vorstandsmitglied und späteren Aufsichtsratsvorsitzenden des zum Monopolisten aufgestiegenen Konzerns. 108Adam Tooze (The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London und New York: Allen Lane 2006) gibt Zweifeln an der ökonomischen Stärke der deutschen Wirtschaft unter Hitler durch eine Fülle an Materialien Nahrung: „Germany under Hitler was still only a partially modernized society, in which upwards of 15 million people depended for their living either on traditional handicrafts or on peasant agriculture“ (XXIII).

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es sich die Völker im Osten unterwerfe. Die nationalsozialistische Ideologie verlangte die Erniedrigung anderer Menschen, um das eigene Volk emporzuheben. Rassistische „Werte“ standen dabei in unmittelbarem Einklang mit ökonomischen Gewinnen. Land und Profite durch Enteignung und Ausbeutung waren unmittelbarer Ausdruck der „Überlegenheit“ der arischen Herrenrasse. Die „Werterevolution“ (Bialas) der Nationalsozialisten war demnach eine Revolution, die auf ökonomische Werte baute, so sehr sie vorgab, über einen blanken Materialismus erhaben zu sein. Der Gewinn an Raum und Ressourcen kommt dafür ebenso in Betracht wie die geraubten Kunst- und Kulturgüter aus den besetzten Gebieten, die eingezogenen Vermögen der Entrechteten, die durch Zwangsarbeit ökonomisch ausgeschlachteten Opfer, die Aushungerung der einheimischen slawischen Bevölkerung Osteuropas, und selbst das Ausbrechen von Zahngold109 und andere Formen der „Verwertung“ von Leibern ermordeter Menschen in den Konzentrationslagern.110 Wie der Vernichtungskrieg in Polen und der Sowjetunion, so bliebe der Holocaust unverstanden, mahnt Götz Aly, „sofern er nicht als der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte analysiert“ werde.111 Der Osten lieferte dem „Dritten Reich“ Zwangsarbeiter, die den Mangel an Arbeitskräften ausglichen, dazu Güter und Nahrungsmittel. Obwohl sich Schätzungen über die Kriegseinnahmen aus allen besetzten und von den Nationalsozialisten abhängigen Ländern zwischen 1939 und 1945 auf Dokumente von Beamten der Reichsbank und des Reichsfinanzministeriums stützen können, fallen Zahlen über die Höhe der Gewinne aus der Enteignung, Ausbeutung und Ermordung europäischer Juden je nach Standpunkt und Berechnungsmethode

109George

Carpozi, Jr.: Nazi Gold. The Real Story of How the World Plundered Jewish Treasures, Far Hills, New York: New Horizon Press 1999, 105 f.: „Aside from monetary gold confiscated from central banks of countries occupied by Germany, valuables of a different magnitude, including currency, wedding bands, watches, and religious items were stolen from victims of Nazi persecution. […] A well-orchestrated system of collecting, classifying and selling gold looted exclusively from victims of Nazi death camps was implemented in 1942 and overseen by SS Captain Bruno Melmer. Valuables, clothes and women’s hair were confiscated by Nazi soldiers or were collected by Jewish prisoners who were forced to service the gas chambers and crematoriums. The valuables were then transported to the Reichsbank by Melmer and deposited in an account in his name and divided on the basis of value.“ Noch bei Kriegsende waren die Vorräte gewaltig: 8500 Goldbarren, Schmuck und Zahngold, wurden von amerikanischen Soldaten allein in einer Salzmine in Merkers nahe Berlin gefunden. 110„Destroying the Jewish population was the first step towards rooting out the Bolshevik state. What was to follow was a gigantic campaign of land clearance and colonization, which also involved ‚clearance‘ of the vast majority of the Slav population and the settlement of millions of hectares of eastern Lebensraum with German colonists. Complementing this long-term program of demographic engineering was a short-term strategy of exploitation, motivated by the ‚practical‘ need to secure the food balance of the German Grossraum. The attainment of this entirely ‚pragmatic‘ objective required nothing less than the murder, by organized famine, of the entire urban population of the western Soviet Union“, Tooze: The Wages of Destruction, 463 (kursiv im Original). 111Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M: Fischer 2005, 318.

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recht unterschiedlich aus.112 Aly meint, „einschließlich der im deutschen Reich noch nach dem 1. September 1939 erzielten Arisierungserlöse werden es zwischen 15 und 20 Mrd. Reichsmark gewesen sein, die aus Besitztümern der europäischen Juden stammten und in Form von Geld in die deutsche Kriegskasse gelenkt ­wurden“.113 Ist der Liberalismus im Kern auf Wettbewerb und Steigerung angelegt, so müssen wir eine expansive Politik, die sich gewaltsam Raum und Güter beschafft, als logische Konsequenz erachten. Selbst wenn wir annehmen, dass liberale ökonomische Ideen ursprünglich keineswegs gewaltsame Handlungen, Unterdrückung und unlautere Vorteilsnahme begründen sollten, so zeigt bereits der Blick auf die historischen Umstände, wie nah sie einem irrationalen Konkurrenzverhalten standen. Adam Smith machte sich gewiss keine Illusionen über die Notwendigkeit zur Regulierung des Wettbewerbs, jedoch nur, weil ihm aus eigener Anschauung allzu sehr bewusst war, dass schon die zivilisatorischen „Errungenschaften“ seines Zeitalters auf Ausbeutung und Unmenschlichkeit beruhten. Als Smith seine Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations niederschrieb, gingen die Erfahrung der britischen Kolonialpolitik in sein Werk ein. Sein Buch kann als nachträgliche Rechtfertigung Handel treibender Kapitalisten gelesen werden, zu denen auch Sklavenhändler und Plantagenbesitzer zählten.114 Entstand die britische Hegemonie über einen langen Zeitraum, war der deutsche Expansionsgedanke ein Produkt sozialdarwinistischer, chauvinistischer und rassistischer Vorstellungen, die sich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu einer verhängnisvollen Ideologie verdichteten. Der Hinweis auf das Minderwertigkeitsgefühl einer Nation nach dem

112Vorschläge

zum methodischen Verfahren macht Hellen B. Junz: Where Did all the Money Go? Pre-Nazi Era Wealth of European Jewry, Bern: Staempfli Publishers 2002. 113Aly: Hitlers Volksstaat, 317. 114Den Zusammenhang von Kapitalismus und Menschenverachtung hat erstmals Eric Williams gezeigt: Capitalism and Slavery, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1944. Für das 19. Jahrhundert stehen konkrete Zahlen zur Verfügung, die von Historikern in detaillierten Einzelstudien herausgearbeitet wurden. „In 1850 prime-age slaves sold for average prices (393 pesos) which were lower than in 1800 (428 pesos), suggesting that slave labor supplies kept pace with demands over the long term, belying the never-ending complaints by planters about labor shortage“, Laird W. Bergad u. a.: The Cuban Slave Market 1790–1880, Cambridge und New York: Cambridge University Press 1995, 47. Ähnlich präzise Angaben liegen für den brasilianischen Sklavenmarkt vor, vgl. Laird W. Bergad: Slavery and the Demographic and Economic History of Minas Gerais, Brazil, 1720–1888, Cambridge und New York: Cambridge University Press 1999, 160–214. Sklaven galten in verschiedenen Kulturen wiederum als Äquivalent: „In both pagan and Muslim Africa, slaves were often used as money. Among the Mende of West Africa, slaves were exchanged for bags of salt and cattle: ‚A single slave was worth from three to six cows and a man, woman or child, were all considered as one head of money. This was equivalent, later in the century, in 1890, to 3 lb of sterling.‘ Slaves were similarly used in Yorubaland and parts of Central Africa. Among Muslim traders slaves were commonly ‚a store of value, albeit one which medical hazards made extremely risky‘, as well as units of value and a common form of payment, especially of debts and fines“, Orlando Patterson: Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge, Massachusetts, und London: Harvard University Press 1982, 168. Weitere Daten zum Sklavenmarkt sind in Kap. 9 angeführt.

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verlorenen Krieg und die Überkompensation im Rasseideal der Nazis reicht indes nicht aus, um den Wunsch nach einer „Werterevolution“ vollständig zu erklären. Die Ursprünge reichen weiter zurück. Der Liberalismus des 18. Jahrhunderts schuf die Voraussetzungen einer Entwicklung, die dem Menschen eine lediglich beiläufige Rolle im Wertverständnis ökonomischer und bio-politischer Erwägungen zuwies. Pervertierte Hitler die Idee von Werten, wie sie dem allgemeinen Verständnis geläufig waren, so schuf er ein über die Idee der Rasse definiertes Sinnangebot, das Menschen gerade deshalb ansprach, weil sich die Frage nach dem Lebenssinn in einem ökonomisch liberalen, von Wettbewerb geprägten und subjektiv als beschwerlich und ungerecht erfahrenen Arbeitsalltag schon lange vor dem Ersten Weltkrieg neu gestellt hatte. „Freiheit“, die der Liberalismus predigt, verwandelt sich schließlich in ihr Gegenteil, Individualismus in Konformismus. Die aristotelische Frage nach dem „guten Leben“ erscheint unter dem Diktat des Liberalismus als eine nach der „richtigen Ideologie“. Sofern diese Ideologie Gewinne in Aussicht stellt, schlägt sich der Liberalismus auf die Seite von Werten, die materiell einträchtig, moralisch hingegen verwerflich sind. Dass „freie“ Unternehmer Kollaborateure des Nationalsozialismus waren, ergibt sich aus den Anfängen des Liberalismus. Demnach war nicht etwa Befreiung seine Maxime, sondern Herrschaft, die das Handel treibende Bürgertum im Zeitalter des Kolonialismus eingeübt hatte.

Warum Demokratie käuflich ist Moderne wurde von Niklas Luhmann als Zunahme von Ent- und Ausdifferenzierung beschrieben.115 Rassismus und Antisemitismus können dann als Reaktionen auf die Erfahrungen der Moderne erachtet werden, an die sie unweigerlich gebunden bleiben.116 Sie sind ein Produkt jener Ausdifferenzierung, gegen die

115Vgl.

Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, 743–788 (Kap. 4/VIII „Funktional differenzierte Gesellschaft“). Als Epochenbegriff wird „Moderne“ – verstanden als Prinzip demokratischer Meinungsvielfalt im öffentlichen Diskurs – erst seit den 1950er Jahren gebraucht, obwohl im Sprachgebrauch in unterschiedlicher Perspektive seit Ende des 18. Jahrhunderts gängig. In der Querelle des Anciens et des Modernes galt das Adjektiv „modern“ zunächst schlicht als Gegensatz zu „antik“. Den antiken Vorvätern gegenüber meldete die Moderne ihren Eigenanspruch an. Aus diesem Anspruch auf Unabhängigkeit von der Geschichte erwuchs die Vorstellung, dass jeder Mensch als freies Subjekt zu erachten und der Staat als Institution zu gelten habe, die diese Freiheit garantiere. Verfassungen demokratischer Prägung werden seitdem für gewöhnlich als Urkunden gesehen, die von der Vormundschaft der Kirche zeugen und als Resultat aufklärerischer Selbstkritik gelten. Diese Selbstkritik beruht auf einem Prozess, der unter dem Begriff der Moderne neben dem Konzept der Säkularisierung unterschiedliche Tendenzen in sich einschloss, aber meist mit Rationalisierung, Technisierung, Ent- und Ausdifferenzierung, Steigerung der Produktivkräfte, Kapitalbildung und Kommerzialisierung, Nationalstaatlichkeit oder Urbanisierung in Verbindung gebracht wird. 116„Der Antisemitismus avancierte zum Symbol für die Auflehnung gegen die Moderne“, Konrad Kwiet: „Rassenpolitik und Völkermord“, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hg. von Wolfgang Benz u. a.: Stuttgart: Klett-Cotta 1997, 50–65, hier 51.

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sie sich auflehnt, auch wenn sie noch im Gestus des Widerstands dem Gedanken des Liberalismus verpflichtet sind: Arbeitsteilung, Konkurrenz und Tausch. Mit der steigenden Komplexität moderner Gesellschaften kompensieren Werte für den „‚Realitätsverlust‘, der im Übergang zum Modus der Bedeutung zweiter Ordnung eintritt. Sie formulieren stattdessen Präferenzen und beurteilen von dort aus die Realität. Gerade weil es nur Präferenzen sind, können sie zu Festpunkten fixiert werden, wenn in der Kommunikation durchgesetzt werden kann, daß dem nicht widersprochen wird“.117 Unter der Idee der „Freiheit“, die den Kern des Liberalismus bildet, war zunächst nur die Freiheit zu ökonomischem Handeln gemeint, nicht aber zur politischen Selbstbestimmung. Die Freiheit zur beruflichen Selbstbestimmung brachte die Bürde, sich in einer komplexen, nur durch mittelbare soziale Verhältnisse organisierten Gesellschaft zurechtzufinden: Arbeit gegen Lohn, Geld für Waren, menschliche Bindungen als geschäftliche Transaktionen. Im liberalen Wettbewerb waren diejenigen im Vorteil, die sich an – materiellen wie ethischen – Werten orientieren und ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und Talente einzusetzen wussten. Der Mensch wurde zum „Kapital“, das es auf dem Markt zu investieren galt. Auf diesem Markt ist jeder Mensch wiederum mit der Frage nach seinem Wert konfrontiert, und zwar umso mehr, als die für das Leben notwendige Entlohnung nur auf Teilbereiche beschränkt bleibt – bestimmte Fähigkeiten und Talente des Individuums, die der Markt benötigt. Ideologien waren im 20. Jahrhundert deshalb so erfolgreich, weil sie jene Teilbereiche des Lebens in einem ganzheitlichen Modell abzubilden vermochten. Im Bund mit dem Liberalismus beantwortete etwa der Nationalsozialismus die Frage nach dem „Wert“ oder „Unwert“ des Menschen für jedes von ihm erfasste Individuum nach den Kriterien von Rasse und Leistung – Komplexitätsreduktion im Herrschaftswissen um den Preis des Lebens selbst. Liberalismus befreit ökonomisches Handeln zumindest seiner Theorie nach von staatlicher Restriktion. Er ist an kein politisches System gebunden, auch wenn westlichem Verständnis zufolge eine demokratische Verfassung die ihm gemäße politische Legitimationsform darstellt. Man möchte meinen, dass in Demokratien Werte offen diskutiert und durch Übereinstimmung der Individuen zu verbindlichen Normen und Handlungsrichtlinien führen. Gleichzeitig stellen sich Werte in demokratischen Gesellschaften aber als Problem dar. Denn selbst universale Werte sind das Resultat von Glaubensannahmen.118 Werte bleiben besonders dann eine Frage des Glaubens, wenn sie, wie oben erwähnt, für den „Realitätsverlust“ in einer zunehmend komplexen Welt entschädigen. Deshalb spielen Medien in der Moderne eine so wichtige Rolle: durch sie können Werte vermittelt, eine komplexe Welt auf wenige Begriff konzentriert und Realität als „Präferenz“ (Luhmann) ausgegeben werden. Auf dem liberalen Markt der „Meinungen“ geht es lediglich um 117Luhmann:

Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, 799. die Kritik an Werten wie auch der Wunsch nach ihrer Bewahrung gehen auf das Prinzip der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung zurück. Philosophen des 18. Jahrhunderts befreiten sich von christlichen Dogmen, indem sie, wie Immanuel Kant, die Grundlagen der Erkenntnis einer Prüfung unterzogen. Glaubensfragen wurden für Kant zur Privatsache, ohne dass sich die christliche Tradition je ganz verabschiedet hätte: „Ich mußte also das Wi s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen“, Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“, in: Werkausgabe, Bd. II, 33. 118Sowohl

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Zustimmung, nicht um Tatsachen, um Gültigkeit, nicht um Wahrheit. Habermas bringt dagegen sein Konzept der „kommunikative[n] Vernunft“ in Stellung, das „in der Bindungskraft intersubjektiver Verständigung und reziproker Anerkennung zur Geltung“ komme und „das Universum einer gemeinsamen Lebensform“ darstelle.119 Meinungsmonopole und -hegemonien könnten auf diese Weise vermieden werden. Die „Bundesgenossenschaft“,120 wie sie einst die christliche Religion in ihrer alttestamentarischen Erzählung den Menschen nahelegte, sei vom Staat übernommen worden. Habermas greift nicht zufällig auf religiöses Vokabular zurück, denn in seiner Theorie spiegelt sich die konfessionelle Tradition des Westens. Im Unterschied zur Religion, die auf Einheit pocht und einen Anspruch auf die alleinige Geltung ihrer Dogmen erhebt, ist es nach Auffassung von Habermas die Aufgabe des modernen Staates, eine Vielfalt von Ansichten miteinander in Beziehung zu setzen. „Pluralismus“ von Wertvorstellungen ist daher das Mantra westlicher Demokratien, „Modernisierung“ ihr kulturimperialistischer Generalnenner.121 Die Welt solle die Werte des Westens als gemeinhin gültig akzeptieren, während innerhalb westlicher Gesellschaften ein Wertepluralismus unter der Maßgabe der „Toleranz“ hochgehalten wird. Konsens wäre nun die Voraussetzung pluralistischer Gesellschaftsformen, denn „Toleranz“ baut auf die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, die nur als Mehrheitsvotum in politisches Handeln umschlägt. Sofern das Konzept der „kommunikative[n] Vernunft“, wie es Habermas vorschlägt, auf der Annahme der Gleichberechtigung von Sprechern, Adressaten und Inhalten beruht, die zu allen Zeiten und auf ausgewogene Weise zueinander finden, zeigt sich sein utopischer Charakter. Denn das Idealbild des „freien“, „toleranten“ Meinungsaustauschs verschleiert, dass Kommunikationskanäle in erster Linie von materiellen und nicht von ethischen Werten abhängen. Nirgendwo in modernen westlichen Gesellschaften tritt die Doppeldeutigkeit des Wertbegriffs so deutlich hervor wie im Bereich der Massenmedien. Hier werden Werte nicht nur gefordert, diskutiert, bestritten und widerrufen, sondern auch gekauft, gehandelt und manipuliert. Die Teilnahme am politischen Prozess – eines der Grundprinzipien der Demokratie – steht auf dem Spiel, wenn Meinungen selbst Güter sind, deren Wert sich an ihrer Resonanz im öffentlichen Raum bemisst.

119Jürgen

Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, 5. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1996, 377. 120Ebd., 378. 121Bezeichnet Habermas zufolge „Moderne“ zunächst einen Entzauberungs- und Rationalisierungsprozess, aus dem in Europa „die zerfallenden religiösen Weltbilder eine profane Kultur aus sich entließen“, so hätten nachfolgende Theoretiker den Epochenbegriff einer Abstraktion unterworfen, der eine generelle Befreiung von religiösen Leitbildern, von Rationalisierung und Verwissenschaftlichung als evolutionäre, geschichtliche Notwendigkeit darstellten. Diese Abstraktion „löst die Moderne von ihren neuzeitlich-europäischen Ursprüngen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt“, ebd., 9 f.

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Die Wandlung von demokratischen zu post-demokratischen Gesellschaften hat sich nach Meinung von Soziologen und Politikwissenschaftlern bereits vollzogen und ist eng an die Funktion von Medien geknüpft. Die überwiegende Mehrheit der Bürger, meint der Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch, spiele eine passive, untätige, sogar apathische Rolle und reagiere lediglich auf Signale, die ihr gegeben würde. Hinter dem Wahlspektakel, das Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess vorspiegle, verberge sich ein unter Regierungsmitgliedern und Eliten ausgehandelter Konsens, der überwiegend geschäftlichen Interesse zum Vorteil gereiche.122 Daran kann auch die Tatsache wenig ändern, dass sich z. B. Bürgerbewegungen über soziale Medien demokratisch zu organisieren verstehen. Extremisten nutzen – in weitaus größerer Zahl – die gleichen medialen Mittel, obwohl ihre Botschaften darauf abzielen, genau jene Mittel auf ein gleichgeschaltetes, vereinheitlichtes System auszurichten und damit in gewisser Hinsicht abzuschaffen. Nicht wenige identifizieren, wie Crouch, das neoliberale Modell des Kapitalismus als die Ursache für die Kommodifizierung aller Lebensbereiche.123 Beschleunigt wurde der Prozess der Kommodifizierung – der Verwandlung aller Dinge und menschlichen Tätigkeiten in „verwertbare“ Güter – durch das Internet, wo sich seit 1996 die Möglichkeiten der Meinungsbildung in zunehmendem Maße im Austausch gegen private Daten zu vollziehen begann und damit die Möglichkeit der Mitbestimmung und basisdemokratischer Konsensfindung unterminierte. Nur über die Teilhabe an den Gewinnen, die durch die Abschöpfung privater Daten bislang allein großen Konzernen vorbehalten sind, könnten die Mitglieder westlicher Gesellschaften wieder an der politischen Willensbildung beteiligt werden, vertritt beispielsweise der Internet-Pionier und „Erfinder“ der virtuellen Realität Jaron Lanier. Das dominante Prinzip der New Economy besteht darin, Informationen als Ressource zu erachten. Der Wert dieses Rohstoffs wird aber durch die von ihm profitierenden Technologiekonzerne verborgen. Menschen werden gewissermaßen materiellen Grundlagen beraubt, während diejenigen, die sich im Besitz von überlegener Computertechnik befänden, ein unbeschreiblicher Wert zukomme.124

122„The mass of citizens plays a passive, quiescent, even apathetic part, responding only to the signals given to them. Behind this spectacle of the electoral game, politics is really shaped in private by interaction between elected governments and elites that overwhelmingly represent business interests“, Crouch: Post-Democracy, 4. 123„But capitalism expands its scope not just by developing new goods and production methods, but also by energetically pulling more and more areas of life within its reach“, ebd., 80. 124„The dominant principle of the new economy, the information economy, has lately been to conceal the value of information, of all things […] Ordinary people will be unvalued by the new economy, while those closest to the top computers will become hypervaluable“, Jaron Lanier: Who Owns The Future? New York u. a.: Simon & Schuster 2013, 15. Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt, der freilich jede Neuerung begleitet, äußern beispielsweise auch Nicholas Carr: The Glass Cage: Automation and Us, New York und London: W.W. Norton 2014; Morozov: To Save Everything Click Here; sowie mit stärkerem Fokus auf dem politischen Meinungsbildungsprozess Cathy O’Neil: Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, New York: Crown 2016, und Cass R. Sunstein: #Republic. Divided Democracy in the Age of Social Media, Princeton und Oxford: Princeton University Press 2017, um nur wenige Beispiele zu nennen.

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Im Netzwerk global agierender Konzerne und mit ihnen kooperierender Regierungen sind Appelle an die „Wertegemeinschaft“, die sich auf die in jeweiligen Kulturen geschaffenen Normen und Gesetze als letztes Fundament der Identität berufen, ein Anachronismus. Verlangte die demokratische Gesellschaft verbindliche moralische Regeln als Grundlage ihres Bestehens, bringt das Internet neue Formen der Vergemeinschaftung in die nun post-demokratische Kommunikationsstruktur ein. Im vermeintlich freien Spiel des neoliberalen Tauschs sind Meinungen höchst wertvolle und daher begehrenswerte Güter. Der Markt hingegen sei grundsätzlich amoralisch, meint Crouch. Jegliche Verhaltensform sei akzeptabel, sofern sie finanzierbar sei. Andere Teilnahmekriterien am globalen Wettbewerb würden zwar als universell erscheinen. Unabhängig von Nationalität, Ethnizität, Geschlecht, Alter, körperlichem Zustand oder sonstigen Unterscheidungsmerkmalen zähle indes lediglich der monetäre Gewinn. Wenn der Markt schließlich nur von einem einzigen Kriterium dominiert würde, münde das verbleibende moralische Prinzip in der Einwilligung, anderen Marktakteuren nicht zu schaden, solange ihre Teilnahme Gewinne verspräche.125 Vom Idealismus moralischer Werte sind Märkte also weit entfernt. Monopole sichern den kaufkräftigsten Teilnehmern die größten Anteile am Meinungsmarkt. Der Glaube an eine breite Palette politischer Meinungen, aus denen Individuen frei wählen können, zählt zu den Mythen der neoliberalen Ideologie. Unter den Bedingungen dieser Ideologie erscheinen ethische Werte als Massenmanipulation und stehen im Widerspruch zu demokratischen Auffassungen von Gleichheit, Fairness und Volksvertretung. Was also soll eine pluralistische, offene Gesellschaft unter dem Banner der Demokratie einen, wenn ethische Werte ökonomisch kompromittiert und ökonomische Werte häufig in Widerspruch zu ethischen Werten stehen? Westliche Demokratien berufen sich häufig auf ein christliches Wertefundament, auch wenn die Trennung von Kirche und Staat zu den Merkmalen „aufgeklärter“ Nationen zählt. Problematisch ist der Verweis auf die christliche Tradition deshalb, weil seine gesetzliche Verankerung unter Umständen im Widerspruch zu den konstitutionell verbürgten Rechten der freien Meinungsäußerung und Religionsausübung stehen könnten.126 Religionsfreiheit beruht auf der Vielfalt von Wertvorstellungen, 125„Any goals or forms of behavior are acceptable to it, provided they can be financed. The only child pornographer who is unacceptable to the market is one who has no money. On the other hand, the collectivity of the market is potentially universal. It practices no exclusion on grounds of nationality, ethnicity, gender, age, disability or anything else other than ability to pay. And if the market is more or less perfect, it requires all its participants to abide by common rules that prevent any one actor from harming others“, Crouch: The Strange Non-Death of Neoliberalism, 147 f. 126Anders als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt der 2007 verabschiedete Vertrag von Lissabon – ein Vorgriff auf eine europaweit geltende Verfassung –, unter der Präambel (1 a) mit einem Hinweis auf gemeinsame Werte: „Drawing inspiration from the cultural, religious and humanist inheritance of Europe, from which have developed the universal values of the inviolable and inalienable rights of the human person, freedom, democracy, equality and the rule of law“, Europäische Union: Vertrag von Lissabon, 13. Dezember 2007, http://www.eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv%3AOJ.C_.2007.306.01.0001.01.ENG&toc=OJ% 3AC%3A2007%3A306%3ATOC#g-001 (3. Dezember 2018). Der Vertrag von Lissabon ist eine Kompromissformel, die erst unterzeichnet wurde, nachdem der 2004 vorgestellte Vertrag über eine Verfassung für Europa nicht einstimmig angenommen worden war und eine Europäische Verfassung seither aussteht.

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die in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft gegeben sind. Christliche Ideale können nur ein Teil davon sein. Daher durchdringt Religion seit Beginn der Moderne zwar alle Lebensbereiche, jedoch um den Preis ihrer Beliebigkeit.127 Sosehr sich Menschen nach dem Verlust des religiösen Wahrheitsmonopols nach verbindlichen Werten sehnen, um sich ihrer Identität zu versichern, so wenig kann der Rechtsstaat Andersdenkende zwingen, sich zu seinen „christlichen“ Fundamenten zu bekennen, ohne das ihm eigene Prinzip der Freiheit preiszugeben. Die Offenheit des demokratischen Staates für eine Vielzahl an Ansichten, Meinungen, Ideen und den ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen glaubte man einst im Entwurf einer „Zivilreligion“ aufzufangen. Aufgabe der Zivilreligion war es, die Integration der Bürger in die Metagemeinschaft des Staates zu gewährleisten. Den Begriff der „religion civile“ hatte erstmals Jean-Jacques Rousseau in seinem Vorschlag zu einem Contrat Social als Grundlage des demokratischen, modernen Staates unterbreitet. Schon früh waren sich die Theoretiker der Aufklärung darüber im Klaren, dass die Aufhebung religiöser Dogmen durch ein staatliches Angebot der Zugehörigkeit und Integration ersetzt werden müsse, um Gesellschaft zu formieren und zu stabilisieren. Bürger sollten Rechte und Pflichten gleichermaßen zugeteilt werden, die ihnen die „Vertragsbedingungen“ der neuen Gesellschaft ins Bewusstsein rufen, die Identität des Einzelnen stärken und den Zusammenhalt der Gemeinschaft fördern würden: „Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis“, meint Rousseau, „dessen Artikel festzulegen dem Souverän zustehet, nicht eigentlich als religiöse Dogmen, sondern als Sinn für die Gemeinschaft, ohne den man unmöglich guter Bürger oder treuer Untertan sein kann“.128 Vor drastischen Maßnahmen zur Einhaltung dieses „Bürgerkatechismus“ schreckte der Sozialphilosoph dabei nicht zurück: „Ohne jemand zwingen zu können, daran zu glauben, kann er jeden, der nicht daran glaubt, aus dem Staate verbannen; er kann ihn verbannen, nicht deshalb, weil er gottlos ist, sondern weil er sich nicht in die Gesellschaft

127Graf: Die Wiederkehr der Götter, 11 f.: „Unter Religionswissenschaftlern ist es seit zwanzig Jahren Mode, programmatisch auf allgemeine Begriffe der Religion zu verzichten. In der Tat ist ‚Religion‘ nur ein okzidentales Konstrukt des 17. und 18. Jahrhunderts, das in den postmodernen Orientalismus-Debatten zu Recht dekonstruiert wurde.“ Graf bemängelt indes die „hermeneutische Naivität“, die mit einer Absage an den Religionsbegriff zusammenfällt. Ernst Feil: Art. „Religion. I. Zum Begriff“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, 263–267, hier 263 f., verweist auf die Schwierigkeiten, die durch die Vielzahl an Perspektiven auf den Begriff entstehen: „Schon von hierher ergeben sich entsprechende Probleme einer anthropologischen wie philosophischen Bestimmung der Religion. Sie kann schwerlich anders als positionsbedingt erfolgen. Denn sie impliziert die Frage, ob es überhaupt eine/die Religion gibt und ob es folglich überhaupt möglich ist, zu einem Wesen der Religion kommen zu können, d. h. eine Antwort auf die Frage zu finden: ‚Was ist Religion?‘“. 128Jean-Jacques

Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Buch 4, 8. Kap., „Von der bürgerlichen Religion“, in: Sozialphilosophische und Politische Schriften, hg. von Eckhart Koch u. a., Nachwort von Iring Fetscher, München: Winkler 1981, 380–390, hier 389.

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7  „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

e­ infügen will, weil er unfähig ist, aufrichtig die Gesetze, die Gerechtigkeit zu lieben und im Notfall sein Leben seiner Pflicht zu opfern.“129 Heute wird im Konzept der „Zivilreligion“ meist neutral die Verbindung säkularer Elemente mit der einer Religionen eigenen Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung gesehen. Religion gilt dann nicht als wertende, sondern als funktionale Instanz.130 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive bleiben indes die Bedenken gegenüber der semantischen Unschärfe und den religiösen Implikationen des Begriffs bestehen. Denn Zivilreligion beruft sich auf „Grundwerte“, ohne dass diese Werte rechtlich bindend sind. So wendet etwa Luhmann ein, dass „in aller sozialen Kommunikation […] mit der Unterstellung eines ‚Wertkonsens‘ operiert wird“, der nichts weniger als eine „laufend in Anspruch genommene Prämisse“ sei. Man könne auf diese Prämisse sprachlich reflektieren und sie problematisieren – zur formalen Struktur tauge sie jedoch nicht.131 Allein die Festlegung auf spezifische – und das bedeutete im Umkehrschluss: universale – Werte verleiht der Zivilreligion eine Gültigkeit, die sie in Konkurrenz zu traditionellen Religionen setzt.132 Entsprechend geben westliche Verfassungen und Menschenrechtserklärungen dem Begriff der Werte einen religiösen Akzent, indem sie etwa die Würde des Menschen für unantastbar erachten, auf die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hinweisen (also den Bezug auf die Bibel durch denjenigen auf die Verfassung ersetzen), oder sich, der katholischen Kirche abgeschaut, zu einer „Trinität“ von Freiheit, Gleichheit und Solidarität bekennen. Dass sich Werte nicht als institutionell festgeschriebene Prinzipien individueller Freiheit zur Grundlage einer für alle Menschen gleichermaßen gültigen Rechtsprechung eignen, hat Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem viel beachteten Einwand zu Bedenken gegeben. Böckenförde vertritt, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat“ von „Voraussetzungen“ lebe, die er nicht garantieren könne, und dass Demokratien stattdessen auf die Selbstregulierung ihrer Bürger und die „moralische Substanz des einzelnen“ vertrauen müssten.133 Auch in späteren Studien wiederholt Böckenförde diesen Einwand: „Die Wertbegründung des Rechts gründet das Recht auf ein schwankendes Element, den zeitigen Wertkonsens, der gerade in einer pluralistischen Gesellschaft häufigen Veränderungen unterliegt und in sich keine Richtigkeitsgewähr bietet.“134 129Ebd. 130Vgl.

Robert N. Bellah: „Civil Religion in America“, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 96 (1967), 1–21. 131Niklas Luhmann: „Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas“, in: Archivio de Filosofia 46, Nr. 2–3 (1978), 51–71, hier 68. 132Dazu ausgiebig Axel Montenbruck: Demokratischer Präambel-Humanismus. Westliche Zivilreligion und universelle Triade „Natur, Seele und Vernunft“: Schriftenreihe Zivilreligion. Eine Rechtsphilosophie als Kulturphilosophie. Zivilregion I. Eine Grundlegung, 4. erneut erheblich erweiterte Aufl., Berlin: Open Access der Freien Universität Berlin 2013, http://www.refubium. fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/18.416/Zivilreligion_I__4._Aufl..pdf?sequence=1&isAllowed=y (3. Dezember 2018). 133Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, 112 f. 134Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts“, in: Recht, Staat, Freiheit, 67–91, hier 90.

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Gibt die Demokratie keine Garantie für einen rechtlich bindenden „Wertkonsens“, kann sie ihre „Voraussetzungen“ – ihre auf Pluralismus beruhende Diskursfähigkeit – nur schützen, indem sie von ihrer staatlichen Gewalt Gebrauch macht. Carl Schmitt hat daher Partei für einen „starken“ Staat ergriffen, der Werte nicht auf Konsensbildung zurückführt, sondern durch Dekrete und Gesetze verordnet. Schmitts Kritik am parlamentarischen demokratischen System orientiert sich am Ausnahmezustand. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, lautet die eingangs seiner Politischen Theologie (1922) formulierte These, die den „Grenzfall“ als „Normalfall“ der modernen Demokratie ausgibt: „Denn eine generelle Norm, wie sie der normal geltende Rechtssatz darstellt, kann eine absolute Ausnahme niemals erfassen und daher auch die Entscheidung, daß ein echter Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos begründen.“135 Dass Schmitt der Demokratie eine später von Habermas als Ideal unterstellte Möglichkeit zur „kommunikative[n] Vernunft“ gänzlich abgesprochen hätte, um mit seiner „Lehre von der Souveränität“ den Nationalsozialismus zu rechtfertigten, nimmt Giorgio Agamben zum Anlass, auf die Gefahren hinzuweisen, die der Demokratie auch heute noch aus dem Ausnahmezustand erwachsen: „Der Niedergang der modernen Demokratie und ihre zunehmende Konvergenz mit den totalitären Staaten in den postdemokratischen Spektakel-Gesellschaften […] finden ihre Wurzel vielleicht in dieser Aporie, die den Beginn der Demokratie markiert und sie zu einer geheimen Komplizenschaft mit ihrem erbittertsten Feind zwingt. Unsere Politik kennt heute keinen anderen Wert (und folglich keinen anderen Unwert) als das Leben, und solange die Widersprüche, die sich daraus ergeben nicht gelöst sind, werden Nazismus und Faschismus, welche die Entscheidung über das nackte Leben zum höchsten politischen Kriterium erhoben haben, bedrohlich aktuell bleiben.“136 Der skeptischen Perspektive Agambens lässt sich die Sorge um einen Grundwert der Demokratie ebenso wenig absprechen wie der optimistischen Annahme von Habermas. Beide appellieren – ob direkt oder indirekt – an die Möglichkeit zur Konsensbildung. Ist nach dem von Böckenförde benannten Paradoxon diese Voraussetzung nicht gegeben, können Werte zur Bedrohung demokratischer Gesellschaften werden, etwa durch populistische Parolen oder die Kontrolle der Medien durch finanzstarke Konzerne. Deutlich wird die Widersprüchlichkeit einer allein auf westlichen Werten fußenden Argumentation, wenn die Doppeldeutigkeit des Wertbegriffs in Betracht kommt. Selbst politische Konzept wie „Pluralismus“ und „Demokratie“, die auf Wertvorstellungen basieren mögen, sind lediglich Proklamationen, die keine intrinsische Geltung für sich beanspruchen können. In globalen kapitalistischen Ökonomien übernimmt die Wirtschaftsleistung die Rolle, die einst Nationalstaaten im Zeitalter des Imperialismus zugedacht war, nun allerdings ohne nationalstaatliche Grenzen. Die Idee der Überlegenheit westlicher Zivilisationen hat sich auf die Ökonomie mit ihren quasi-religiösen Dogmen verschoben. Die Rolle von Kolonialmächten im Zeitalter des Imperialismus haben die w ­ enigen

135Schmitt:

Politische Theologie, 13. Homo sacer, 20.

136Agamben:

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7  „Unwertes Leben“: Herrschaftswissen im Medienzeitalter

„Global Players“ im 21. Jahrhundert übernommen.137 Für universell erachtete Werte wie „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Solidarität“, die sich Staaten einst in ihre Verfassungen schrieben, sind an mächtige Konzerne übergegangen, deren Interesse an der Durchsetzung ausgesuchter ethischer Prinzipien lediglich der Steigerung von Gewinnen dienen. Ethische Standards sind im Geschäftsleben oft nur der Furcht vor Imageschäden und den damit verbundenen Einbußen an Profit zu verdanken. Zur Machterhaltung nutzt der neoliberale Staat verschiedene Mechanismen. Um eine eigentlich demokratische Regierungsform in ein weniger demokratisches, der Steuerung und Fremdherrschaft unterworfenes Machtgebilde umzuwandeln, bedienen sich Anhänger des Neoliberalismus den aus der Ökonomie erworbenen Techniken der Betriebsführung, sobald sie Zugang zu staatlichen Institutionen haben. War die Ökonomie finanzstarken Bürgern einst ein Mittel, um die absolutistische Herrschaft von Aristokraten zu unterlaufen, findet das liberale Regierungsverständnis, wonach der Staat nach wirtschaftlich rationalen Gesichtspunkten seinen Bürgern Rechenschaft schuldig ist, im Neoliberalismus seine Vollendung. Denn zentrale Entscheidungen werden, nach der Politikwissenschaftlerin Wendy Brown, nun an niedrigere Instanzen abgeschoben („Devolution“),138 die nicht zum Krisenmanagement taugen, bis sie auf unterster Ebene den einzelnen Menschen erreichen, dem die Verantwortung für sein Wohlergehen selbst überlassen ist („Responsibilization“).139 Die Anwendung des ökonomischen Prinzips auf die Politik wirkt in zweierlei Richtung. Die Hegemonie des Homo oeconomicus und der neoliberalen Ökonomisierung des Politischen, so Brown, transformiere sowohl Staat als auch Bürger, indem sie deren Identität und Verhaltensweisen „konvertiere“ – von Personen politischer Souveränität zu Personen unter der Obhut und Kontrolle kommerzieller Interessen. Diese „Konvertierung“ bringt zwei bedeutende Verschiebungen mit sich. Zum einen verändert sie die Einstellung des Subjekts zu sich selbst und zu seiner Freiheit. Statt eines Wesens mit Macht und Interessen, wird das Individuum seiner Gänze nach zum „Kapital“, in das investiert wird. Denn ökonomische Muster setzen voraus, dass sich jeder Mensch aufgrund festgelegter Kriterien und Eingaben „verbessert“. Zum anderen verändert sich das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. „No longer are citizens most importantly constituent elements of sovereignty, members of publics, or even bearers of rights. Rather, as human capital, they may contribute to or be a drag on economic growth; they may be invested in or divested from depending on their potential for GDP enhancement.“140 Neoliberalismus höhlt deshalb Demokratien aus und transformiert ethische in ökonomische Werte, Bürger in Kapital, Menschen in Güter, mit denen sich handeln lässt. Im Neoliberalismus wird Bio-Politik zum Instrument des absoluten Marktes.

137Dies ist die Hypothese von Michael Hardt und Antonio Negri: Empire, 13. Aufl., Cambridge, Massachusetts, und London: Harvard University Press 2003. 138Brown: Undoing the Demos, 131. 139Ebd., 134. 140Ebd., 109 f.

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Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung

Nichts als Zeichen Roland Barthes ging davon aus, dass sich mit der ästhetischen Moderne literarische Zeichen einer „Ökonomie der klassischen Ausdrucksform“ widersetzten.1 Sie bildeten nicht einfach nur ab, was ihnen durch ungewollte gesellschaftliche Verhältnisse aufgezwungen würde, sondern machten sich stattdessen selbst zum Thema. Zwar sei das literarische Zeichen für die wirtschaftliche Wertschöpfung verloren, für das literarischen Werk jedoch von unschätzbarem Wert. Eine derartige Deutung ist vom Wunsch nach einer Revolution getragen, die den schon im 19. Jahrhundert etablierten Gegensatz von Kapital und Kultur fortspinnt. Barthes' Überlegungen waren vom Geist des Widerstands gegen frühere Eliten, gegen koloniale Herrschaft, verkrustete Bildungsstrukturen und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen getragen, der in den 1950er und 1960er Jahren das intellektuelle Klima beherrschte. In Wahrheit sind das Spiel mit der Vieldeutigkeit der Zeichen und das selbstreflexive Aufbrechen ästhetischer Formen, das von der Literatur und nicht der Philologie ausging, keinesfalls lediglich Gesten des Aufbegehrens gegen die Ökonomisierung der Welt, sondern Funktionen der liberalen Marktordnung, die auf „kreativer Zerstörung“ (Schumpeter) und der freien Zirkulation der Waren beruht. Die Gesetze der Beschleunigung, der Innovation und der Effizienz werden in den Literaturen der Avantgarden deutlich, und zwar auch dann, wenn sie von parodistischer Absicht getragen ist. Wir kennen diese Gesetze aus der v­ erknappten

1Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1982 [frz. 1953], 53. Gerade die „Sprache der Mathematik“ mache diesen Zusammenhang deutlich. Sie wird von Barthes zu den „klassischen Ausdrucksform[en]“ gezählt: „Es ist bekannt, daß in der mathematischen Schreibweise nicht nur jede Quantität mit einem Zeichen versehen ist, sondern daß auch die Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, durch ein Operationszeichen, etwa der Gleichheit oder Differenz, angezeigt werden; man kann sagen, daß die gesamte Bewegung des mathematischen Kontinuums aus einem expliziten Lesen dieser Bindungen stammt“ (53 f.).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_8

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8  Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung

Sprache des Expressionismus, den dadaistischen Wortspielen, der Lautpoesie von Hugo Ball und Kurt Schwitters, aber auch der dichten Prosa Franz Kafkas. Literaturwissenschaft dient unter anderem dazu, diese Sprache des ästhetischen Ökonomismus und ihre parodistischen Variationen zu erklären. Die emphatische Rhetorik des Umbruchs erschließt sich erst im Blick auf die Theoriegeschichte. Barthes blickte auf eine Ära des Formalismus in den Sprach- und Literaturwissenschaften zurück. Dem Formalismus ging es darum, die Literarizität von Sprache zu bestimmen, also zwischen allgemeinen und literarischen Äußerungen zu unterscheiden. In der „Form“ sahen die Formalisten Anhaltspunkte für derartige Unterscheidungsmerkmale und wiesen, wie einer ihrer Gründer, Viktor Šklovskij, auf den Verfremdungseffekt der literarischen Sprache hin, der die ästhetische Sprache entschieden von der alltäglichen Sprache abgrenzt. Erst durch die Distanzierung von der Erfahrung, die im Medium der literarischen Sprache gegeben ist, stellen wir den Kontakt zu den Dingen her, auch wenn diese Dinge nur von zeichenhaftem Charakter sind: „Mit dem Prozeß der Algebraisierung, der Verautomatisierung einer Sache wird die größte Ökonomie der Wahrnehmungskräfte erreicht; die Dinge bieten sich entweder nur mit einem ihrer Merkmale dar, zum Beispiel als Nummer, oder sie werden gleichsam nach einer Formel ausgeführt, ohne überhaupt im Bewußtsein zu erscheinen. […] So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. […] Und gerade um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit der Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.“2 „Empfinden“ war der philosophischen Zunft als analytischer Begriff nicht fremd. Seine Anwendung hingegen war neu. Hermeneutik war seit Schleiermacher auf Geschichtlichkeit und Verstehen, später, mit Dilthey, auf „Einfühlung“ und die Kenntnis der Lebensumstände der Autorinnen bei der Erschließung literarischer Werke ausgerichtet. Formalisten wie Šklovskij, Boris Eichbaum und Jurij Tynjanov konnten dagegen für sich beanspruchen, die erste wirklich wissenschaftliche Methode entwickelt zu haben, um Literatur unter den Gesichtspunkten der sprachlichen Konventionen und rhetorischen Mittel zu analysieren. Selbst komplexen Sprechweisen und Genres wie der Ironie, der Parodie und den verschiedenen Arten bildlicher Darstellung wie der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche, dem Symbol oder der Allegorie verspricht ihre Methode beizukommen. Es ging

2Viktor

Šklovskij: „Kunst als Verfahren“, in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. von Jurij Striedter München: Fink 1971, 3–35, hier 13–15 [Seitenzahlen dieses Bandes nur in ungeraden Zahlen, da das russische Original der ersten Fassung später weggelassen wurde].

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ihnen um nichts weniger als den „ästhetischen Wert“ der Literatur. Der Prager Linguistenkreis um Roman Jakobson und Jan Mukařovský entwickelte die neuartige Werttheorie – denn darum handelte es sich – der sprachlichen Ästhetik in den 1920er Jahren weiter und gab der Wertphilosophie, obzwar ungewollt, eine neue Richtung. Mukařovský unterschied beispielsweise zwischen ästhetischer Funktion als „Störung des Normzustands“3, den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und dem „ästhetischen Wert“ von Literatur. Bestimmen lässt sich ästhetischer Wert immer erst mit historischem Abstand „durch eine Gegenüberstellung von Urteilen aus vielen Perioden“.4 Mukařovský bekräftigt jene Schlussfolgerung, zu der wir bereits im ersten Kapitel dieses Buches gelangt sind, nämlich dass Werte Relationen bezeichnen, die in hierarchischer Weise gegliedert sind. Dass der Ästhetik dabei höchster Wert zukommt, zählt zu den Widersprüchen formalistischer Theoriebildung, die sich Objektivität und Distanz zu ihrem Gegenstand zugutehält: „Die Vorherrschaft des ästhetischen Werts über die übrigen Werte, die in der Kunst zum Ausdruck kommt, ist also etwas anderes als eine bloß äußerliche Vorherrschaft. Die Einwirkung des ästhetischen Werts besteht nicht darin, daß er die übrigen Werte absorbierte oder verdrängte, sondern darin, daß er zwar jeden einzelnen von der unmittelbaren Beziehung mit dem entsprechenden existentiellen Wert losreißt, daß er aber dafür den gesamten im Kunstwerk als einer dynamischen Einheit enthaltenen Komplex von Werten mit dem Gesamtsystem jener Werte in Beziehung setzt, die die treibenden Kräfte der Lebenspraxis des das Kunstwerk aufnehmenden Kollektivs bilden.“5 Mukařovský vertraute bei seiner Analyse auf Erkenntnisse der Linguistik, einem zu seiner Zeit neuen akademischen Feld, das sprachgeschichtliche Paradigmen hinter sich ließ, um einer strukturalistischen Auffassung von Sprache den Vorzug zu geben. Unter „Strukturalismus“ sind jene Ansätze in der Wissenschaft zu verstehen, die von Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Dinge oder Denkweisen ausgehen und wiederkehrende Muster hervorheben. Die neue Sprachwissenschaft stellte, nach dem Dafürhalten Ferdinand de Saussures, eine vergleichende, „synchrone“, einer historischen, „diachronen“ Ebene gegenüber, um ein allen Sprechern einer Sprache gemeinsames System („langue“) und eine aktuelle Realisierung der Sprache im Moment des Sprechens oder Schreibens („parole“) miteinander zu verbinden. Mukařovský kannte die Schriften Saussures und wusste um deren Bedeutung für die Philologie.6 Von größter Wichtigkeit war ihm Saussures Konzept des Zeichens: „Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der

3Jan Mukařovský: „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ [tsch. 1936], Kapitel aus der Ästhetik, 2. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1974, 18. 4Ebd., 84. 5Ebd., 103 f. 6Jan Mukařovský: On Poetic Language. The Word and Verbal Art: Selected Essays, übersetzt und hg. von John Burbank und Peter Steiner, Lisse: Peter de Ridder Press 1976, 18.

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8  Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung

psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen.“7 Saussures Cours de linguistique générale erschien 1916, drei Jahre nach seinem Tod im Jahr 1913 und inmitten des Ersten Weltkriegs. Herausgegeben wurde das Buch, wie oben schon erwähnt, von seinen Schülern Charles Bally und Albert Sechehaye, die aus Mitschriften von Saussures zwischen 1907 und 1911 an der Universität Genf gehaltenen Vorlesungen zur allgemeinen Sprachwissenschaft ein Manuskript erstellt hatten.8 Wie jede Theorie so beruhte auch diejenige Saussures auf ­Vorwissen und Einflüssen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Saussure hatte ab 1876 vier Jahre lang in Leipzig studiert – unterbrochen von einem längeren Aufenthalt in Berlin – und war dort neben renommierten Sprachwissenschaftlern wie Georg Curtius auch einflussreichen Größen anderer Fachgebiete begegnet, neben dem Physiologen Carl Ludwig z. B. dem Psychologen Wilhelm Wundt, der seit 1874 in Leipzig eine Professur bekleidete. Anspielungen auf die anatomische Beschaffenheit des Sprechapparates und den Übergang von gedachter in gesprochene Sprache finden sich im Cours de linguistique générale zuhauf. Von größerer Wichtigkeit für unsere Erörterung sprachlicher Wertvorstellungen sind indes die zeitgenössischen ökonomischen Debatten, die Saussure aufmerksam zur Kenntnis nahm. So verfolgte er den sogenannten älteren Methodenstreit der Nationalökonomie während der 1880er und 1890er Jahre, bei dem es um die Frage nach dem Vorrang induktiver, historischer oder aber deduktiver, auf theoretischen Konzepten beruhenden ­Verfahren ging, mit großer Aufmerksamkeit und war auch mit dem entsprechenden Schrifttum gut vertraut.9 Saussure dürfte sich vor allem für die von Menger entwickelte Grenznutzentheorie interessiert haben, die wir als Erweiterung und Modifizierung von Marx’ Auffassung des Wertes einer Ware verstehen können. Der Wert einer Ware ergibt sich nach Marx zunächst aus der für ihre Produktion investierten Arbeit, die sich abstrakt in der Arbeitszeit messen lässt. „Wert“ wird allerdings erst durch den Austausch der Waren und den Einsatz eines Äquivalents geschaffen, das als Kapital von deren Zirkulation zehrt und einen Mehrwert abwirft. Menger vertat dagegen die Auffassung, dass sich der Wert einer Ware allein aus dem Nutzen für ein Individuum ergebe (dem „Gebrauchswert“ nach marxistischer Auffassung) und sich aus der letzten, bedarfsdeckenden Einheit errechnen lasse, die einem Individuum zur Verfügung steht.10 Die genauen wirtschaftswissenschaftlichen Quellen, die Saussures zugrunde lagen, lassen sich nicht mehr erschließen, doch ist es wahrscheinlich, dass Vilfredo 7Saussure:

Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 77. und Sechehaye hatten die Vorlesungen wiederum nicht selbst besucht und mussten auf Mitschriften von Studierenden zurückgreifen. Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Cours de linguistique générale ist von Ungereimtheiten daher nicht frei. 9Den Zwist verkörperten Schmoller mit seiner Historischen Schule der Ökonomie in Deutschland auf der einen und Carl Menger mit seiner Theorie und Empirie verbindenden österreichischen Schule auf der anderen Seite, vgl. Tullio de Mauros Anmerkung zu Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Édition critique préparée, hg. von Tullio de Mauro, Paris: Payot 1974, 451 (FN 165). 10Vgl. oben, Kap. 4. 8Bally

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Paretos 1906 erschienene und 1909 ins Französische übertragene Schrift Manuale di economia politica eine Rolle gespielt haben dürfte. Pareto wiederum war ein Schüler von Léon Walras, der zwischen 1870 und 1892 in Lausanne – nahe Genf also, wo Saussure seit 1891 lehrte – Vorlesungen zur Ökonomie gehalten und sich als Vordenker der von Menger später vehement vertretenen Grenznutzentheorie hervorgetan hatte. Über Pareto war Saussure also nicht nur mit der marginalistischen Wirtschaftstheorie und den neuen analytischen, auf mathematischen Prozessen beruhenden ökonomischen Analyseverfahren vertraut, sondern auch mit den von Pareto widerlegten Ansichten von Marx zur Arbeitswerttheorie.11 Zeichen, stellt Saussure fest, sind immer „mehrdeutig“ und „beliebig“ (oder: arbiträr), wenn auch an die Konventionen einer Sprachgemeinschaft ­gebunden.12 Der Ökonomie kommt für dieses Verständnis von Sprache eine prominente Rolle zu. In der Sprachwissenschaft spiele „wie bei der Nationalökonomie der Begriff des Wertes ein Rolle […]; in beiden Wissenschaften handelt es sich um ein System von Gleichwertigkeiten zwischen Dingen verschiedener O r d n u n g : in der einen eine Arbeit und ein Lohn, in der andern um Bezeichnetes und Bezeichnendes“.13 Sprache bezeichnet Saussure schließlich als ein „System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird. Sofern ein Wert einerseits in den Dingen und ihrem natürlichen gegenseitigen Verhältnis wurzelt (wie das bei der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist – z. B. ein Stück Land steht in einem Wertverhältnis zu seinem Ertrag), kann man bis zu einem gewissen Grad diesen Wert in der Zeit verfolgen, während man sich doch zugleich erinnern muß, daß er jeden Augenblick abhängt von einem System gleichzeitiger Werte“.14 Wie für viele Wertphilosophen ist für Saussure das Postulat des Geltens verbindlich. In einem System gleichgewichteter Werte, die zueinander in Beziehung stehen, zwinge die Sprache das Denken, „das seiner Natur nach chaotisch ist […], durch Gliederung sich zu präzisieren“.15 Sprache setzt also keine Bedeutungen, vielmehr schafft sie Bedeutungen, indem sie Werteinheiten voneinander trennt und die segmentierten Einheiten dann in Beziehung zueinander stellt. Sprachliche Werte ergeben sich aus Relationen, die sich wie Waren in der Wirtschaft verhalten.16 Sie bilden sich „durch U n ä h n l i c h e s , das a u s g e w e c h s e l t werden kann gegen

11Vgl.

Gernalzick: Kredit und Kultur, 103. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 78 f. 13Ebd., 94. 14Ebd., 95. 15Ebd., 134. 16Linguisten interessieren sich in der Valenztheorie dafür, auf welche Weise sprachliche Segmente zueinander in Beziehung treten. Um keine ungrammatischen Fügungen zu erzeugen, verlangen Lexeme – z. B. Verben, Adjektive, Substantive oder Präpositionen – nach syntaktischen Umgebungen, die anderen Lexemen bestimmte Modi und Stellungen im Satz aufzwingen. So können bestimmte Verben nur mit genau festgelegten Präpositionen verbunden werden, die ihrerseits entweder einen Dativ oder einen Akkusativ, manche hingegen einen Genitiv verlangen. 12Saussure:

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8  Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung

dasjenige, dessen Wert zu bestimmen ist“ und „durch ä h n l i c h e Dinge, die man ­v e r g l e i c h e n kann mit demjenigen, dessen Wert in Rede steht“.17 Saussure macht die Bedeutung des Wertes nicht zufällig am Beispiel einer Münze Fest: „So muß man zur Feststellung des Wertes von einem Fünfmarkstück wissen: 1. Daß man es auswechseln kann gegen eine bestimmte Menge einer andern Sache, z. B. Brot; 2. Daß man es vergleichen kann mit einem ähnlichen Wert des gleichen Systems, z. B. einem Einmarkstück, oder mit einer Münze eines andern Systems, z. B. einem Franc. Ebenso kann ein Wort ausgewechselt werden gegen etwas Unähnliches: eine Vorstellung; außerdem kann es verglichen werden mit einer Sache gleicher Natur: einem andern Wort. Sein Wert ist also nicht bestimmt, wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt werden kann gegen diese oder jene Vorstellung, d.h. daß es diese oder jene Bedeutung hat; man muß es auch noch vergleichen mit ähnlichen Werten, mit andern Wörtern, die man daneben setzen kann; sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist. Da es Teil eines Systems ist, hat es nicht nur eine Bedeutung, sondern zugleich und hauptsächlich einen Wert, und das ist etwas ganz anderes.“18 Bedeutungen sind folglich nicht an Worte gebunden. Sie ergeben sich aus dem, was sie im Wortschatz und in der Anwendung nicht sind. Ihr negativer Charakter entspricht dem Prinzip des Tauschs: nichts ist sicher, alles kann gegen alles ausgetauscht werden, sofern es für wert empfunden wird. Innerhalb eines Sprachsystems können Wörter sinnvoll erscheinen. „Wert“ erhalten sie darüber hinaus aber erst durch gesellschaftliche Konventionen. Obwohl Saussures Strukturbegriff – anderen Abstraktionen wie etwa „Form“, „System“ oder „Konstellation“ ähnlich – für sich beansprucht, von diesen Konventionen frei zu sein, hat vor allem Jacques Derrida darauf hingewiesen, dass schon der duale Zeichenbegriff nicht ohne metaphysische Vorannahmen auskommt: „Man kann die Bequemlichkeit und die ‚wissenschaftliche Wahrheit‘ des stoischen und später des mittelalterlichen Gegensatzes zwischen signans und signatum nicht weiter beanspruchen, ohne daß man auch all seine metaphysisch-theologischen Wurzeln mit übernimmt.“19 Derrida spricht folglich von einem „transzendentalen Signifikat“, das stets beim Gebrauch von Zeichen vorausgesetzt werde, einem Signifikat, das der dem Zeichen eigenen Eigenschaft zur fortlaufenden Bedeutungsverschiebung gewissermaßen Einhalt gebietet.20 Saussures Theorie des Zeichens ist gerade deshalb zeitgemäß, weil sie der kapitalistischen Wirtschaftsordnung einen adäquatem Ausdruck gibt, nicht aber, weil sie, wie Barthes meinte, zeigt, wie sich ihr durch die Sprache der Literatur Widerstand entgegensetzen lasse. In der Bewegung der Signifikanten spiegelt

17Saussure:

Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 137. 137 f. Die korrekte Bezeichnung für das abstrakte Wertverhältnis im ökonomischen Warenverkehr wäre freilich der Preis: „Das Wort verhält sich zur Bedeutung wie die Münze zum Preis, oder, der Preis vermittelt zwischen Ding und Münze, wie die Bedeutung zwischen Ding und Wort“, Gernalzick: Kredit und Kultur, 110. 19Derrida: Grammatologie, 27. 20Ebd., 38. 18Ebd.,

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sich die Zirkulation der Waren, ohne dass deren metaphysische Voraussetzungen, ihr tief im religiösen Denken verwurzelter Ursprungsglaube zu Bewusstsein käme.21 Stattdessen kommt in den Signifikanten eine Vorstellungswelt zur Geltung, die ökonomische ebenso wie religiöse Konventionen abbildet. Schon Marx hatte auf den fiktiven Charakter des Kapitals hingewiesen: „Kapital ist Geld, Kapital ist Ware. In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, aus der Mehrwert zusetzt, ist seine eigene Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldene Eier.“22 Im Dualismus von Saussures Zeichenbegriff sieht Baudrillard entsprechend eine Rückkehr zu religiösem Denken, dessen stille Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung mit ungelösten existenziellen Fragen zusammenfällt, je mehr wir uns durch Konsum auf das nächstgelegene Gut richten: „Unsere ganze Kultur ist nichts anderes als eine immense Anstrengung, Leben und Tod voneinander zu trennen und die Ambivalenz des Todes zum Vorteile der Reproduktion des Lebens als Wert und der Zeit als allgemeinem Äquivalent zu bannen. Den Tod abschaffen, das ist unser sich in alle Richtungen verzweigendes Phantasma: Überleben und Ewigkeit in den Religionen, Wahrheit in der Wissenschaft, sowie Produktivität und Akkumulation in der Ökonomie.“23 Im Zeichen ist beides enthalten: der „Traum vom Ende der Akkumulation und von einer möglichen Reversibilität des Todes“,24 denn das Zeichen ersetzt lediglich, was es nicht erklären, häuft lediglich an, was es nicht durchdringen kann. Gerade in der Verselbstständigung des – jedoch nicht darüber hinaus – treffen sich die Theorien von Barthes, Derrida und Baudrillard mit den Auffassungen Ernst Cassirers. Für ihn ist das Zeichen „keine bloß zufällige Hülle des Gedankens“, ­„sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der ­Mitteilung eines fertig gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument,

21Jean

Baudrillard spricht von der „Hyperrealität flottierender Werte der sich Kapital, Sprache und Religion zu gleichen Teilen wiederfinden“, Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz 2005 [frz. 1976], 10. 22Marx: Das Kapital, in: MEW, Bd. 23, 169. Ähnlich verhält sich, nach Auffassung Baudrillards, die Sprache, indem sie sich lediglich noch auf sich selbst bezieht: „Das Zeitalter der Simulation wird aber eröffnet durch die Austauschbarkeit von ehemals sich widersprechenden oder dialektisch einander entgegengesetzten Begriffen. Über die gleiche Genesis der Simulakren: die Austauschbarkeit des Schönen und Häßlichen in der Mode, der Linken und der Rechten in der Politik, des Wahren und Falschen in allen Botschaften der Medien, des Nützlichen und Unnützen auf der Ebene der Gegenstände, der Natur und der Kultur auf allen Ebenen der Signifikation“, Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, 20 f. 23Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, 232. 24Ebd., 233.

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kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt“.25 Beruht der Dualismus des Zeichens auf dem religiösen Schema von Diesseits und Jenseits, wiederholt sich dieser Dualismus auf der kulturellen Ebene. Das ökonomische Prinzip des Tauschs findet zwischen „dem profanen Raum und dem valorisierten kulturellen Gedächtnis statt, das aus der Summe der kulturellen Werte, die in Museen, Bibliotheken und anderen Archiven aufbewahrt werden, […] sowie aus den Gepflogenheiten, Ritualen und Traditionen im Umgang mit diesem Archiv“ hervorgehen.26 Um das Primat der Ökonomie wissend, besinnen sich Künstler und Schriftstellerinnen schließlich auf ihre Stärke in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaftsordnung – das selbstreflexive Spiel mit Konventionen, Bedeutungen und Hierarchien. Nichts ist ihnen heilig, alles kann zu Kunst werden, damit aber „neu“ und anders sein. Beruhte Kunst einst vor allem auf handwerklichem Können (vgl. etwa den Begriff der Poesie von gr. „οίησις“, „poiesis“ = „Erschaffung“, und „poieín“ = „verfertigen“, „machen“), so verschob sich das Interesse mit dem Beginn der Neuzeit auf die Schaffung von Objekten und Texten, die von der Konvention abweichen, sie infrage stellen, unterminieren. Die Kunst der Gegenwart bezeichnet Adorno daher das „Nicht-Identische“,27 das gleichwohl den Prinzipien der Ökonomie verpflichtet bleibt. Denn die Schaffung von Neuem entspricht dem, was nach Schumpeter auf der „schöpferischen Zerstörung“ des Alten beruht. Die Form der permanenten Erneuerung ist nicht nur ein Merkmal des Kapitalismus, sondern eben auch der Kunst.28 Adorno weiß, dass das Neue „keine subjektive Kategorie, sondern von der Sache erzwungen“ ist, obwohl gerade „die Kraft des Alten“ das Neue darauf drängt, sich zu verwirklichen:29 „Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen, kaum es selbst, daran krankt alles Neue. Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig.“30 Wird das Neue zum Normalfall, dann tritt der Warencharakter der Kunst verstärkt zum Vorschein. Denn „Neues“ zu besitzen, lenkt jede Entscheidung zum Kauf, so unbewusst sie auch sein mag. Die Hoffnung, dass sich dies Neue einmal etabliert haben, die Nachfrage zusammen mit dem Preis steigen wird, hat keinen geringen Einfluss auf Kaufentscheidungen von Kunstsammlern. Nicht nur die bildende Kunst wird vom Prinzip des „Neuen“ geleitet, sondern auch die Literatur. Können Bücher – anders als Werke der bildenden Kunst – aufgrund ihrer Herstellungspraxis keinen Anspruch auf „Einzigartigkeit“ erheben, werden sich Sammler von literarischen Erstausgaben dennoch ihres Besitzes rühmen,

25Cassirer:

Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 16. Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, 3. Aufl., Frankfurt a. M: Fischer 2004, 119. 27Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [postum 1970], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 14. 28Schumpeter: Capitalism, Socialism, and Democracy, 83. Siehe oben, Kap. 4. 29Adorno: Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 40. 30Ebd., 55. 26Boris

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weil der Umstand des ersten Erscheinens eines später für „einflussreich“, „bedeutsam“ oder „selten“ eingestuften Werks die Bedingungen des „Neuen“ erfüllt. Weit weniger als Barthes glauben mochte, können Kunst und Literatur daher von einem ideellen Gewinn zehren, der sie über die Ökonomie erheben würde. Im Gegenteil. Sie hängen von ihr ab, spiegeln sich in ihr und sind eine ihrer Funktionen. Jeder Versuch, sich der unmittelbaren Konsumierbarkeit zu entziehen, ist eine Reaktion auf Marktmechanismen, gerade auch dann, wenn sie im Protest gegen sie oder im Spiel mit ihnen besteht. Wir mögen einwenden, dass sich ästhetischer Wert wie der „Genuss“ von Komplexität, Vielfalt und Geschichtlichkeit – allesamt Elemente ästhetischer Erfahrung –, nicht in Geld wird aufwiegen lassen. Ästhetischer Wert, wäre zu bedenken, konkretisiert sich jedoch in einem Kanon, der gewissermaßen den Marktwert eines Werkes abbildet. Dieser über längere Zeit und den individuellen Geschmack hinaus entstandene Kanon stellt, unserer Definition von Werten gemäß, eine „Hierarchie“ dar, die aus der Beziehung von Werken zueinander hervorgeht und auf Zustimmung angewiesen ist. In der strukturellen Analogie von ökonomischem und ästhetischem Wert bestätigt sich daher die Abhängigkeit der Ästhetik vom Markt nicht weniger als diejenige des Marktes von den Kunstgriffen medialer Repräsentation. Denn das begehrenswerteste Gut ist nicht nur das knappe oder notwendige, sondern oft das formvollendete, neue und andere, das, was in uns Leidenschaften und Emotionen weckt, was uns über uns selbst hinaus zu transzendieren verspricht. Darum misstraute Adorno dem „Neuen“, wohl wissend, dass auch das „Nicht-Identische“ auf eine „Identisches“ angewiesen ist, das es spiegelverkehrt abbildet. Ist die Kanonisierung von Werken eine Marktfunktion, so sind es die ­Bedingungen, unter denen Kunst und Literatur entstehen, umso mehr. Das Aufkommen des Liberalismus verlangte Dichtern ein neues Selbstverständnis ab. Schriftsteller sahen sich als eigenständige Unternehmer auf dem Markt der Ideen. Ihre Produkte waren Schöpfungen, die sie in den Stand gottgleicher Genies erhoben. Der Anstrich religiöser Erhabenheit sollte von der Profanität ökonomischer Bedingungen ablenken. Bis weit ins 19. und selbst ins 20. Jahrhundert hinein blieb der Geniegedanke ohne Widerspruch. Erst die Künstler der Avantgarden werden ihn ad absurdum führen und dennoch zugleich weiterspinnen. In ihren Memoiren und Autobiografien wiederholt sich der Mythos vom gottgleichen künstlerischen Schöpfer – im Übrigen in absichtsvoller Verdrängung der Rolle von Frauen wie Emmy Hennings und Hannah Höch, die erst in den letzten Jahren als führende Köpfe der Avantgarden wiederentdeckt wurden.31 Mit der Komposition vorfabrizierter Texte, der Reduktion auf die Grundelemente der Sprache und der Erfindung eigener, antikonventioneller Formen des künstlerischen Ausdrucks, zeigten die Künstlerinnen

31Vgl.

z. B. Naomie Sawelson-Gorse: Women in Dada. Essays on Sex, Gender, and Identity, Cambridge, Massachusetts: MIT University Press 1998; Ruth Hemus: Dada’s Women, New Haven: Yale University Press 2009; Ina Boesch: Die Dada. Wie Frauen Dada prägten, Zürich: Scheidegger und Spiess 2015; Nicola Behrmann: Geburt der Avantgarde. Emmy Hennings, Göttingen: Wallstein 2018.

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und Künstler der Avantgarden die veränderliche, instabile Natur von Werten, die ganz dem inflationären Schema einer auf der „okkulten“ Arithmetik des Kapitals basierenden Wirtschaft beruhten. Der Verlust von Wahrheitspostulaten in der Sprache durch die Wissenschaften sowie die Einsicht in den Tauschcharakter und die dem Kapital ähnliche „Reproduktionsfähigkeit“ der Signifikanten, wussten die Dadaisten zu ihren Gunsten zu nutzen. Ihre Manifeste und Lautgedichte, Textcollagen und bildnerischen Kompositionen, ihre aufsehenerregenden Auftritte und ebenso wütenden wie witzigen Abgesänge auf die bürgerliche Kultur wiesen darauf hin, dass der Nullpunkt der Literatur (Barthes) in der Tat eine Wertsetzung von radikaler Art war. Gerade durch das Verfahren der Reduktion wurde die Verlogenheit kultureller Wertvorstellungen sichtbar, durch diese Veranschaulichung indes neue, ästhetische Werte hervorgebracht. Derartige Werte lassen sich Kunstliebhaberinnen und -händler, Auktionshäuser, Museen und Archive viel Geld Kosten. Kein Markt ist ­risikobehafteter und gewinnträchtiger, keiner von Kursstürzen so sehr bedroht, wie der Kunst- und Literaturmarkt, wo immense Gewinne locken, und große Verluste drohen.

Nullwert Ist die liberale, von staatlicher Bevormundung befreite Wirtschaft Religion und Ideologie der Moderne, dann verweigert sich ihr die Literatur nach Auffassung Barthes’ gerade dadurch, dass sie den Wert ihrer Zeichen auf „Null“ taxiert.32 In der Literatur könne kein Zeichen einen höheren Wert für sich beanspruchen als ein anderes, denn alles ist Erfindung, jedes Wort von Wichtigkeit. Gleichwertigkeit bedeute Befreiung, aber eben auch die Verweigerung von Sinn. Nur innerhalb des literarischen Textes erhielten Zeichen eine Bedeutung und wiesen zugleich über sich hinaus auf die literarische Tradition, aus der sie hervorgegangen seien.33 Darin bestehe der ethische Impuls, von dem die revolutionäre Sprache der Moderne geleitet werde: „Weil es kein Denken ohne Sprache gibt, ist die Form die erste und letzte Instanz literarischer Verantwortlichkeit, und weil die Gesellschaft nicht versöhnt ist, instituiert die notwendige und notwendigerweise gelenkte Sprache für den Schriftsteller eine conditio der Zerrissenheit.“34 Freilich kommt auch Barthes nicht ohne philosophische Vorannahmen aus. Die Postulate des „Bruchs“ mit der Vergangenheit und der „Einmaligkeit“35 des Werks, die von

32Friedrich

Schlegel spricht in einem seiner Aphorismen von der „Nullität“ der Kritik, sofern sie sich nicht dem Mittelpunkt des Kunstwerks als „Organismus aller Künste und Wissenschaften“ widmet, vgl. Friedrich Schlegel: „Abschluss des Lessing-Aufsatzes“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, 395–419, hier 411. 33Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, 60: „Niemand zwingt ihnen eine Hierarchie auf, niemand reduziert sie auf das Bedeuten eines geistigen Verhaltens oder eine Absicht […]“. 34Ebd., 96. 35Ebd., 100.

Nullwert

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Hegel und Marx als Voraussetzungen der für das bürgerliche Subjekt charakteristischen Entfremdungserfahrung beschrieben wurden, gelten auch in der Theorie des französischen Poststrukturalismus. Der vermeintliche Triumph der Literatur beruht indes auf genau jenen ökonomischen Prinzipien, denen Barthes die Literatur entzogen sehen möchte. Die Auffassung vom „Nullpunkt“ verweist auf die Befreiung von den ökonomischen Zwängen aufgrund der Fiktionalität von Literatur und verbirgt, dass sich schon der Prozess ästhetischer Signifikation einer Ideologie der „Freiheit“ verdankt, der sich in der Form verfestigt und unsere Einbildungskraft berührt. Noch die Zertrümmerung der Form ist daher von Bedeutung, der „Nullpunkt“ der Literatur keineswegs „wertlos“, weder symbolisch noch materiell. Zweifel an der Fähigkeit, „Wahrheiten“ durch Sprache zu vermitteln, die sich von der Empirie unterschieden, äußerten bereits manche Philosophen der Antike. Mit dem Beginn des Liberalismus und seiner kapitalistischen Ideologie gewannen diese Zweifel an Gewicht. Je mehr sich der Austausch von Waren, Ideen und Geld beschleunigte, desto größer wurde notwendig das Misstrauen gegenüber den sprachlichen Zeichen, die lediglich Bewegungen abbildeten, wie man ahnte, nicht aber Gewissheiten. Die Erfahrung wirtschaftlicher Krisen und schwankender Einkommen, existenzieller Nöte und sozialer Unsicherheit, schlug sich nicht nur in der Themenwahl der Literatur seit Mitte des 18. Jahrhunderts nieder, sondern zeigte sich auch in der Auflösung fester Formen. Gedichte verzichteten auf Strophe und Reim, Theaterstücke auf die Einheit von Ort, Zeit und Handlung, Epen verschwanden ebenso wie andere, weniger beachtete Genres, etwa die zur Bukolik zählende Gedichtform der Idylle. Der Roman wurde hingegen zur prominentesten Gattung des Zeitalters. Sein Vorteil, wusste Jean Paul, lag in der „Weite seiner Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können“.36 Alle Formen in sich aufzunehmen, wurde zum Inbegriff der führenden Gattung, alles bedeuten zu können, ist indes auch das Charakteristikum des Geldes, dem Leitmedium seiner Zeit. Literatur und Kunst berufen sich auf das Neue als gestaltender Maxime wie im gleichem Atemzug die Ökonomie auf Innovationen baute. Das Ziel lag immer schon in der Ferne und blieb unerreichbar. „Andere Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden“, bemerkte Friedrich Schlegel mit Blick auf den Roman, „die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann“.37 Auch der ökonomische „Fortschritt“ kannte kein Ziel, nur Bewegung. Die „Wahrheit“ der Dichtung ist zudem eine andere als die der Religion, der Wissenschaft oder der Jurisprudenz. Denn Dichter wissen, dass Bedeutungen nicht an Signifkate gebunden sind, während Priester lediglich an sie glauben und Wissenschaftler darauf

36Jean

Paul: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, in: Sämtliche Werke, hg. von Norbert Miller, Abteilung I, Erzählende und theoretische Werke, Bd. 5, 4., durchgesehene Aufl., München: Hanser 1980, 248. 37Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, 165–272, hier 183 [Nr. 116].

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zielen, sie nach dem Gesetz der Hypothesenbildung verwerfen zu können, um neue zu schaffen. Vielmehr gehen Bedeutungen aus sprachlichen Konventionen hervor. Veränderungen der Form werden daher als Veränderungen von Bedeutung wahrgenommen. In anderen Kontexten erhalten Worte andere Vorzeichen, sind Zeichen nicht mehr, was sie zu sein scheinen. Mehr als je zuvor richtet sich das Interesse der Literatur seit dem Aufkommen wirtschaftsliberaler Überzeugungen auf die Bedingungen ihrer Entstehung, auf ihre eigene Gestalt, auf ihre Machart. Ihren Geltungscharakter erhalten Werte, wenn sie geäußert werden. Sie kommen in Sprechakten zum Ausdruck, auch solchen der Literatur. Als Appelle verlangen sie nach Zustimmung. Kritik an der Sprache bedeutet immer auch Kritik an Werten. Beide gehen auf gesellschaftliche Konventionen zurück und sind nicht voneinander zu trennen. Mit der Kritik an der Sprache seit dem beginnenden 19. Jahrhundert entstand auch die Idee einer autonomen, vom gesellschaftlichen Tagesgeschäft und den Belangen des Alltags unbeeinflussten, nur sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegenden Kunst. Doch führte der Versuch, sich für autonom zu erklären, notwendig ins Herz der Gesellschaft zurück. Das belegen die Versuche der historischen Avantgarden, durch die Aufhebung von etablierten Konventionen Wertvorstellungen zu unterlaufen. Die Autonomie der Kunst war stets abhängig von gesellschaftlichen Themen und deshalb durch und durch politisch. Die „Krise der Sprache“, von der dann zur Jahrhundertwende die Rede war, können wir als eine des Kontexts erachten. Worte verloren nicht ihre Bedeutung, sondern fanden sich in neuen gesellschaftlichen Situationen wieder, in denen sie vorgebracht wurden.38 Durch die Änderung der Konvention verloren Worte an Gewicht, was andere an Bedeutung gewannen. Ihre Annäherungen an den Grenzwert der Sprache – den „Nullpunkt“ des ästhetischen Kalküls, das nahezu alles erlaubt – ist die Reaktion auf einen gesellschaftlich vorgeschriebenen ästhetischen Kanon, der als beengend und veraltet wahrgenommen wurde. Damit aber waren die Versuche avantgardistischer Künstlerinnen, die von ihnen verachteten bürgerlichen Wertvorstellungen hinter sich zu lassen, selbst ein Ausdruck von Werten. Diese Werte erhielten in der „Null“ einen symbolischen Charakter. Der in München lebende russische Maler Wassily Kandinsky machte als einer der ersten Künstler den „Nullpunkt“ zur Grundlage eines ästhetischen Mehrwerts. In seiner Schrift über Das Geistige in der Kunst (1911) entwickelte der studierte Nationalökonom eine Farblehre, die den jeweiligen Enden des Spektrums einen „Nullwert“ zuwies, indem er das Nichts als den jeweiligen Referenzpunkt ausgab. Die Farbe Weiß sei als „Symbol einer Welt“ zu erachten, „wo alle Farben, als materielle Eigenschaften und Substanzen, verschwunden sind“.39 Entrückt von irdischen Belangen sei lediglich ein „großes Schweigen“ zu vernehmen, „welches für uns absolut ist. Es klingt innerlich wie ein Nichtklang“,

38Eine

solche Kontextverschiebung wird später mit der sogenannten Trümmerliteratur folgen, die auch als „Literatur der Stunde Null“ bezeichnet wurde, um einen Neuanfang ab dem 8. Mai 1945 anzudeuten, dem Tag der Kapitulation des „Dritten Reichs“. 39Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 10. Aufl., mit einer Einführung von Max Bill, Bern: Benteli, o. J. [1980], 96.

Nullwert

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handle sich um „ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voll Möglichkeiten“, es sei ein „Nichts, welches vor dem Anfang, vor der Geburt ist“.40 Komplementär dazu verhalte sich die Farbe Schwarz wie ein „Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem Erlöschen der Sonne, wie ein ewiges Schweigen ohne Zukunft und Hoffnung […]“.41 Schwarz repräsentiere „das Schweigen des Körpers nach dem Tode, dem Abschluß des Lebens“.42 Ähnlich suchte auch Kasimir Malewitsch nach einer „reinen“, von gesellschaftlichen Vorstellungen unbeeinflussten Kunst. Malewitsch stand der Künstlergruppe des Blauen Reiter um Kandinsky nahe, als er 1912/13 seine Idee des Suprematismus ins Leben rief, einer Kunstrichtung, die der „reinen Empfindung in der bildenden Kunst“ höchsten Wert beimaß, wie ihr Name andeutete.43 Sein berühmtes Schwarzes Quadrat (1915) war, nach eigenen Worten, „die erste Ausdrucksform der gegenstandslosen Empfindung: das Quadrat = die Empfindung, das weiße Feld  =  das ‚Nichts‘ außerhalb dieser Empfindung“.44 Unter dem Eindruck des Krieges und noch vor Beginn der russischen Revolution erschien die erste Ausgabe der von ihm herausgegeben Zeitschrift Supremus. Ihr ursprünglicher Titel sollte Nul – also „Null“ oder auch „Nichts“ – lauten: „Als Malewitsch sein Schwarzes Quadrat geschaffen hatte, glaubte er zweifellos, daß er damit alle traditionellen Werte negiert habe und daß hinter diesen jene ursprüngliche Schwärze zum Vorschein gekommen sei, welche die Wahrheit der Welt ist. Doch ebendieses Schwarze Quadrat läßt sich auch als Einfügen eines bestimmten profanen Dings – eines Quadrats – in den Kontext der wertvollen kulturellen Aufbewahrung beschreiben. Die Kunst der Avantgarde setzte die Zerstörung dem Schöpfertum gleich und nahm an, daß sich nach dem Verzicht auf alle Konventionen, nach der Verletzung aller Normen und der Zerstörung der Tradition jene Wirklichkeit von allein zeigen werde, die von diesen Konventionen, Normen und Dingen verdeckt sei.“45 Schriftstellerinnen befanden sich zu jener Zeit in einer ähnlichen Situation. Die Ablehnung alter bedeutete zwangsläufig die Etablierung neuer Werte, die an ihre Stelle traten. Das Ende einer Ära lag in der Luft, die Kultur der europäischen Eliten befand sich im Abschwung und das moralische Bewusstsein der Menschen schien am Schwinden. Zunehmend glaubten Philosophen, Schriftsteller und Künstlerinnen die Welt, die Nation oder die Gesellschaft am Scheideweg; die ­Fundamente des Denkens und Glaubens seien porös. Nietzsche hatte schon 1888 in seiner Streitschrift Der Fall Wagner die Merkmale der „Décadence“ seiner Zeit ausgemacht und unmittelbar an die Sprache gekoppelt: „Das Wort wird ­souverain 40Ebd. 41Ebd.,

98.

42Ebd. 43Kasimir

Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, Bauhausbücher 11, München: Langen 1927, 65. 44Ebd., 74. 45Groys: Über das Neue, 125 (Hervorhebung vom Verfasser, C.Z.).

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und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr.“46 Die Fragmentierung aller Lebensbereiche war eine Begleiterscheinung des Liberalismus, der noch die geringsten Bereiche des Daseins nach Kosten und Nutzen gegeneinander aufwog. In der bildenden Kunst zeigte sich die Auflösung des „Ganzen“ in der Segmentierung farbiger, geometrischer und thematischer Einheiten. In der Literatur zählten Collage und Montage zunehmend zu vertrauten Mitteln des Ausdrucks (z. B. im Spätwerk Wilhelm Raabes), das Fragment und der Aphorismus wurden, wie schon einmal, und zwar während der Frühromantik bei den Brüdern Friedrich und Wilhelm Schlegel oder bei Novalis, salonfähig, die Introspektion ersetzte zunehmend die Handlung (wie in Fontanes Der Stechlin, 1897/98 und später in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, dessen Entstehung auf das Jahr 1921 zurückgeht) oder gewann ein Maß an Ironie, das wenig mit den für humoristisch geltenden Romanen des bürgerlichen Realismus gemein hatte und gelegentlich den „Untergang“ des Alten bereits im Titel andeutete, wie in Thomas Manns Die Buddenbrooks: Verfall einer Familie (1901). Den Expressionisten sprang in der Tat, wie Nietzsche meinte, das Wort „aus dem Satz hinaus“ und wurde „souverain“ wie in den Wortneuschöpfungen August Stramms. Schließlich sprengte die Anordnung der Worte den optischen Rahmen der Seite. Arno Holz mit seiner im Phantasus (1898) praktizierten „Mittelachsenlyrik“ wäre hier zu nennen, vor allem aber Stéphane Mallarmé mit Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (entstanden 1897, veröffentlicht postum 1914) und Guillaume Apollinaire mit seinen Calligrammes (1918). Fast gleichzeitig hatte Filippo Tommaso Marinetti in seinem Technischen Manifest der futuristischen Literatur (1912) der programmatischen Aufforderung zur Befreiung der Worte, den „parole in libertà“,47 ein Manifest zugedacht, während in Deutschland ähnliche Forderungen Herwarth Walden mit seiner „Wortkunst“ im Umfeld der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm erhob. Die Einsicht in die sprachliche Organisation von Werten stand im Gegensatz zum Geltungsanspruch, den sie mit ihrer Nennung erhoben. Während Philo­ sophen noch darüber stritten, ob Werte unveränderlich und von höherer, göttlicher Natur seien, hatten Schriftstellerinnen längst gezeigt, dass Wertvorstellungen an Konventionen, nicht aber an die Ewigkeit gebunden sind. Da Sprache im Verlauf des 19. Jahrhunderts selbst zum Gegenstand von Kritik geworden war, musste diese Kritik auch Werte einschließen. In seinen Vorlesungen aus den Jahren 1804 in Leipzig und ab 1810 in Berlin hatte Friedrich Schleiermacher den Zusammenhang von „Verstehen“ und „Auslegen“ hervorgehoben. Schleiermacher vertrat die Ansicht, dass Denken und Sprache als Einheit zu betrachten und „Verstehen“ nur durch ein methodisch begründetes Verfahren möglich sei, um dem Regelfall des Missverstehens zu ­begegnen. In den erst 1838 aufgrund von Vorlesungsmitschriften

46Nietzsche:

Der Fall Wagner, KSA 6, 27. Tommaso Marinetti: „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“, in: Asholt/ Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 24–27, hier 27.

47Filippo

Nullwert

313

und Aufzeichnungen durch Friedrich Lücke systematisierten und herausgegebenen Gedanken zur Hermeneutik und Kritik erschien das Subjekt des Sprechens lediglich als „ein Ort, in welchem sich Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet“,48 als Medium, durch das Sprache als „ein Unendliches“ zum Ausdruck kommt. „Nicht alles Reden“, führt Schleiermacher als 11. Maxime seiner Vorlesungen an, „ist gleich sehr Gegenstand der Auslegekunst. Einige Reden haben für dieselbe einen Nullwert, andere einen absoluten; das meiste liegt zwischen diesen beiden Punkten“.49 „Wert“ verwendet Schleiermacher, gewiss unscharf, als mathematische Größe, aus der sich die Relevanz für die Kommunikation zwischen Menschen ergebe: „Einen Nullwert hat, was weder Interesse hat als Tat noch Bedeutung für die Sprache. Es wird geredet, weil die Sprache sich nur in der Kontinuität der Wiederholung erhält. Was aber nur schon vorhanden Gewesenes wiederholt, ist an sich nichts. Wettergespräche. Allein dies Null ist nicht das absolute Nichts, sondern nur ein Minimum. Denn es entwickelt sich an demselben das Bedeutende.“50 Nichts ist bedeutungslos, müssten Hermeneutiker ihrem Gründer erwidern, denn selbst die vermeintlich unbedeutendste Unterhaltung erfüllt einen Zweck, und sei es nur die Herstellung oder Vertiefung eines Kontakts, den Wunsch nach Zuwendung oder die Bekundung von Interesse. Daher haben auch „Wettergespräche“ einen Wert. Steht indes die Beziehung von Ausdruck und Bedeutung generell infrage, muss Sprache als Instrument der Erkenntnisfindung für zweifelhaft erscheinen. Dem Theologen Schleiermacher mochte sich Gottes Werk über Sprache offenbart haben. Für weniger religiöse Menschen war mit dem Glauben an die „Wahrheit“ Gottes auch die „Wahrheit“ der Sprache selbst zum Gegenstand der Skepsis geworden. „Wahrheit“, heißt es in Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), sei nichts anderes als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt, wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusion, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnvoll kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“51 Der Vergleich von Metaphern mit Münzen, die mit ihrer Prägung auch ihren Wert verloren haben, liegt nahe. Wie beim Geld beruht der Gebrauch sprachlicher

48Friedrich

Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1977, 78. 4982 (kursiv im Original). 50Ebd., 82 f. Claude Shannon wird später in seiner mit Warren Weaver entwickelten Mathematical Theory of Communication (Urbana: University of Illinois Press 1949) die redundanten, weil vorhersagbaren und überflüssigen Redeanteile als „noise“ bezeichnen. 51Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA I, 873–890, hier 880 f.

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Ausdrücke auf der Gültigkeit ihrer Zeichen – ob nun als Zahl, Abbild oder Buchstabe. Die Gültigkeit der Zeichen gründet auf Übereinkunft. Doch genau jene „festen Conventionen“ nimmt Nietzsche nun kritisch in Augenschein.52 Stellen Werte einen Bezug zwischen Objekten, Menschen und Ideen her, so sind Sprachbilder umso mehr darauf verpflichtet, Relationen zwischen Worten zu schaffen, ohne dass wir darum auf die Essenz der Welt um uns herum schließen könnten: „Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“53 Zu den frühen Lesern Nietzsches zählte Hugo von Hofmannsthal.54 Für den Spross einer Wiener Bankiersfamilie, die im Börsensturz von 1873 ihr g­ esamtes Vermögen verloren hatte, war die Erfahrung des Wertverlusts prägend. Der Zwang zum Broterwerb und das Wissen um den plötzlichen Entzug der ökonomischen Lebensgrundlage, wie ihn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nur allzu gut kannte, ging in Hofmannsthals Vorstellungen von Kunst und Literatur ein. Nichts schien mehr sicher zu sein, auch nicht die Begriffe, die wir verwenden, um uns ein Bild von der Welt zu machen. Hatte Nietzsche behauptet, nur „als ästhe­tisches ­Phänomen“ sei das „Dasein der Welt g e r e c h t f e r t i g t “,55 so wollte Hofmannsthal seinen Beitrag zu ihrer Ästhetisierung liefern. Nietzsche schuf für Hofmannsthal, wie es in späteren Erinnerungen hieß „die Temperatur, in der sich meine Gedanken crystallisieren“,56 und dennoch suchte der gelehrige Schüler den Mentor zu übertreffen: „Es führt von der Poesie kein directer Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.“57 Hofmannsthal unterschied strikt zwischen bedeutungsloser Alltagssprache und der gehobenen, schöpferischen Sprache des Dichters, durch die er zu retten glaubte, was nach

52Ebd.,

877. 879. In anderen Werken zieht Nietzsche weitergehende Schlussfolgerungen. „Das, was wir jetzt die Welt nennen“, heißt es in Menschliches, Allzumenschliches, „ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, – als Schatz: denn der We r t h unseres Menschenthums ruht darauf“, KSA 2, 37. 54„Erlebnis [Nietzsche]“, notierte Hofmannsthal in einer Ausgabe der Zur Genealogie der Moral, die sich in seinem Besitz befand, „[…] der eigene Beruf als Philologe und die Kritik davon./Besitz: ein reiner Begriff vom schaffenden Künstler und seinem geheimen Verhältnis zum Leben“, Michael Hamburger: „Hofmannsthals Bibliothek. Ein Bericht“, in: Euphorion 55 (1961), 15–76, hier 36. 55Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [1872], KSA 1, 9–156, hier 14 und 17. 56Hugo von Hofmannsthal: „Aufzeichnungen“, in: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift hg. von Rudolf Hirsch u. a., Bd. XXXVIII, hg. von Rudolf Hirsch u. a., Frankfurt a. M: Fischer 2013, 121. 57Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben, in: Sämtliche Werke, Bd. XXII, 183–188, hier 185. 53Ebd.,

Nullwert

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eigenen Erwägungen nicht mehr zu retten war. Denn auch wenn die Sprache der Dichtung eine eigene Realität darstellt, so hatte Nietzsche bereits den illusorischen Charakter dieser Realität erwiesen. Aus dieser Spannung ging Hofmannsthals Werk hervor. Wir könnten Hofmannsthals Poetik als L’art pour l’art bezeichnen, würden nicht zugleich Zweifel an der Sprache und am Dichten die Autonomie der Literatur infrage stellen. Darin bestand vielleicht der größte Unterschied zu Stefan George, mit dem Hofmannsthal seit 1891 bekannt war, dass der Jüngere nicht von seinen Zweifeln, der Ältere nicht vom Glauben an die Absolutheit der dichterischen Sprache lassen konnte.58 Beide standen für ein Primat der Form, die Realität des Ausdrucks und die Reinheit des Stils, die aus den poetologischen Dogmen des George-Kreises und zum Teil aus dem Umfeld der Wiener Literaten-Salons erwuchs. Hofmannsthals Skepsis kommt im häufig zitierten Monolog des Lord Chandos zum Ausdruck, der unter dem Titel Ein Brief am 18. und 19. Oktober 1902 in der Berliner Zeitschrift Der Tag erschienen war. Sein Fall, schreibt der fiktive „Philipp Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans“59, sei dieser: „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ‚Geist‘, ‚Seele‘ oder ‚Körper‘ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“60 War Sprache nicht zur Kopplung an die faktische Realität fähig und bildete eine eigene Wirklichkeit, dann mussten andere Ursachen für das vorherrschende Gefühl des Verlusts und der Veränderung vorliegen, das in vielen Publikationen der Zeit zum Ausdruck kam. In seinem 1947/48 geschriebenen, doch erst postum 1955

58Stefan

Breuer verdeutlicht den religiös-konservativen Absolutismus Georges, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. 59Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: Sämtliche Werke, Bd. XXXI, 45–55, hier: 45. 60Ebd., 48 f. Vgl. hierzu ausführlich Timo Günther: Hofmannsthal. Ein Brief, München: Fink 2004.

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v­ eröffentlichten Porträt Hofmannsthal und seine Zeit spricht Hermann Broch von einem „Wert-Vakuum“.61 Broch, der Hofmannsthal persönlich kennengelernt hatte und wie viele andere einst zu seinen Bewunderern, später aber, aus politischen und weltanschaulichen Gründen, zu seinen Kritikern zählte, verstand unter Werten eine Trias von gesellschaftlichen, ethischen und ökonomischen Leitideen, die in gegenseitigem Bezug zueinander das Selbstverständnis des Individuums zu einer je gegebenen Zeit bestimmten. Als Ausdruck dieses Selbstverständnisses kommt Kunst eine besondere Aufgabe zu: „Wo ein politisches, ein soziales, ein ökonomisches Vakuum sich eingestellt hat, da ist die zugehörige politische oder soziale oder ökonomische Revolution nicht ferne, und je kompletter das Vakuum ist, desto mehr werden die Partialrevolutionen, unter gleichzeitiger Verschärfung ihrer Tendenzen, ineinander streben, um zu einer einzigen allumfassenden zu werden. Das nämliche gilt von den künstlerischen Revolutionen, und gerade das große Kunstwerk, das ihr Träger ist, läßt an seiner Position und ganz besonders an dem von ihm ausgelösten ‚konterrevolutionären‘ Widerstand den Gesamtmechanismus deutlich erkennen.“62 Werde das Kunstwerk zum „Spiegel des Vakuums“ erwecke es indes „sofort den konterrevolutionären Widerstand, muß ihn erwecken, weil ein Spiegel, der das Vakuum zeigt, eine unheimliche Sache ist und der Mensch zwar im Vakuum leben kann, nicht jedoch seinen Anblick erträgt“.63 Hofmannsthal rühre zwar, nach Auffassung Brochs, an dieses „Bedeutungsvakuum“, sei indes in den Sog seines „konterrevolutionären“ Mechanismus geraten. Noch im Frühwerk verwendet er die Metapher des Spiegels in seiner in der Wiener Neuen Freien Presse am 24. Dezember 1899 erschienenen Reitergeschichte, um die Unmöglichkeit des Erkennens darzustellen und zugleich den Tod als Nichts und „Nullpunkt“ zu zeigen. Die verstörende Erfahrung des Wachtmeisters Anton Lerch, der in einem kleinen Dorf nahe Lodi, südlich von Mailand, von seinem Streifkommando getrennt bei sommerlicher Hitze durch ein Dorf reitet, ist ein Experiment mit der Möglichkeit, dem eigenen Ich zu begegnen – nicht durch Selbsterforschung, sondern durch Verdopplung einer Realität, die in den Abgrund der eigenen Existenz führt. Der Wachtmeister bemerkte „jenseits der Steinbrücke […] einen Reiter des eigenen Regiments auf sich zukommen, und zwar einen Wachtmeister, und

61Hermann

Broch: Hofmannsthal und seine Zeit, in: Kommentierte Werkausgabe, hg. von Paul Michael Lützeler, 14 Bde., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1974–1983, Bd. 9/1, Schriften zur Literatur 1. Kritiken, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1975, 111–284, hier 135 (im Folgenden „KW“ mit Bandund Seitenangabe). Patrizia C. McBride attestiert Robert Musil, die „ethische Leere“ seiner Epoche weder zu beklagen noch zu analysieren, wie etwa Thomas Mann oder Hermann Broch, sondern sich auf Kant zu besinnen, um in einer Gefühl und Verstand vermittelnden Ästhetik das verlorene ethische Fundament als Chance zur philosophischen Erkenntnis anzuerkennen: „What emerges is an ethos that is paradoxically founded on the insight into the impossibility of articulating a permanent ethical foundation for the modern world“, The Void of Ethics. Robert Musil and the Experience of Modernity, Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2006, 20. 62Broch: 63Ebd.,

Hofmannsthal und seine Zeit, 139 f. 140.

Nullwert

317

zwar auf einem Braunen mit weißgestiefelten Vorderbeinen. Da er nun wohl wußte, daß sich in der ganzen Schwadron kein solches Pferd befand, ausgenommen dasjenige, auf welchem er selbst in diesem Augenblicke saß, er das Gesicht des anderen Reiters aber immer noch nicht erkennen konnte, so trieb er ungeduldig sein Pferd sogar mit den Sporen zu einem sehr lebhaften Trab an, worauf auch der andere sein Tempo ganz im gleichen Maße verbesserte, so daß nun nur mehr ein Steinwurf sie trennte, und nun, indem die beiden Pferde, jedes von seiner Seite her, im gleichen Augenblick, jedes mit dem gleichen, weißgestiefelten Vorfuß die Brücke betraten, der Wachtmeister mit stierem Blick in der Erscheinung sich selber erkennend, wie sinnlos sein Pferd zurückriß und die rechte Hand mit ausgespreizten Fingern gegen das Wesen vorstreckte, worauf die Gestalt, gleichfalls parierend und die Rechte erhebend, plötzlich nicht da war“, schrillte der Ruf zur Attacke.64 Die komplexe, sowohl von hypotaktischen als auch parataktischen Verschränkungen getragene Struktur des Satzes verweist auf die sprachliche Anlage des Erlebnisses, die im literarischen Text der dichterischen Imagination einen Spiegel vorhält. Real ist allein die Literatur, die Hofmannsthal über ein erzählendes Ich vermittelt. Die Begegnung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, nähert den Menschen dem Abgrund des Todes – dem Moment, in dem wir uns selbst ins Angesicht schauen. Anton Lerch fällt letztlich der Willkür seines kommandierenden Vorgesetzten zum Opfer, der, eine Pistole haltend, „mit einer nachlässigen, beinahe gezierten Bewegung den Arm“ hob, bis drei zählte und ihm in die Stirn schoss.65 „Wert“ misst sich der Dichter im „Wert-Vakuum“ seiner Zeit (Broch) durch das Erzählen selbst bei, denn so wenig die Sprache zur Erkenntnis einer äußeren Realität taugt, so sehr erschafft sie eine Wirklichkeit, indem sie die Regeln ihrer Anwendung im Erzählten mitbedenkt. Den Erkenntniskonflikt des Künstlers stellt Broch demjenigen des Bürgers an die Seite und zieht Parallelen zwischen Literatur und Ökonomie: „Wenn der Bürger mit rational wohlbegründeter und unangreifbarer Unbedingtheit an seinen Geschäftsprinzipien festhält und gegen alles blind ist, was etwa gegen sie verstoßen könnte, und wenn der Künstler mit der nämlichen Unbedingtheit sich an seine Kunstprinzipien klammert, so agieren sie beide auf logisch und soziologisch gleiche Weise, und in beiden Fällen steigert die Unbedingtheit die Sozialgleichgültigkeit bis zu echter Grausamkeit; in beiden Fällen ist es die Grausamkeit der bürgerglichen Gesellschaft, eine Grausamkeit, die freilich noch übertroffen werden sollte als die diktatoriale Gesellschaft die letzten Fesseln bürgerlicher Humanität abstreifte.“66 Der Weg in die „diktatoriale Gesellschaft“ hatte sich um die Jahrhundertwende, als Hofmannsthal seine Reitergeschichte schrieb, noch nicht abzeichnen können, doch Broch sah in dieser Zeit rückblickend bereits die Wurzeln für den nationalsozialistischen Barbarismus. Der Vorwurf wog schwer, kann aber angesichts der für den Kreis der „konservativen Revolution“ wichtigen Essays Hofmannsthals nicht ignoriert­

64Hofmannsthal:

Reitergeschichte, Sämtliche Werke XXVIII, 37–48, hier 45. 48. 66Broch: Hofmannsthal und seine Zeit, KW 9/1, 124. 65Ebd.,

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werden. Denn in seinen späteren Jahren füllten reaktionäre politische Inhalte das einst betrauerte und höchst produktive sprachliche Bedeutungsvakuum seiner Zeit. Hofmannsthal hatte sich vom Sprachtheoretiker zum Verteidiger der Sprache im Dienst der nationalen Sache gewandelt. Stand früher der illusorische Charakter der Sprache im Vordergrund, so hob Hofmannsthal nun ihre autoritativen, „diktatorialen“ Eigenschaften hervor. Seine historisch argumentierenden und die Monarchie verteidigenden Essays wurden nach dem Ersten Weltkrieg zu rückwärtsgewandten Utopien, zu „Retrotopien“ (Bauman),67 die den Mythos des Kaiserreichs als eines katholisch-paneuropäischen Vorbilds für die westliche Zivilisation skizzierten: „Die Sprache ist ein großes Totenreich, unauslotbar tief; darum empfangen wir aus ihr das höchste Leben. Es ist unser zeitloses Schicksal in ihr, und die Übergewalt der Volksgemeinschaft über alles Einzelne.“68 Der frühere Sprachskeptiker Hofmannsthal forscht nun im sprachlichen Ausdruck nach der „Seele eines Volkes“: „Hier aber, in der Sprache, spricht uns ein Wirkliches an, durchdringt uns bis ins Mark: die Urkraft, daran wir teilhaben.“69 Gerade deshalb gewann Sprache für ihn nun an Wert, weil sie auf etwas Höheres verweist – „Geist“, „Seele“, „Volk“ und „Nation“. Das Spätwerk kehrt zur Wertphilosophie zurück, indem über Sprache höhere Werte gesetzt und für ewig erklärt werden. Hofmannsthals späte Essays erscheinen als letzter Versuch, die durch Konventionsverschiebungen verursachte Bedeutungsleere mit Ideen zu füllen, die er einst selbst als Illusionen beschrieben hat.70 Bis heute wird Hofmannsthals erkenntnistheoretisches Dilemma unter der Bezeichnung „Sprachkrise“ geführt, die das gesamte Zeitalter geprägt haben soll.71 Doch weder war die Auseinandersetzung mit der Sprache als Erkenntnisinstrument ein neues Phänomen, noch handelte es sich um eine Krise der Sprache. Seit jeher beschäftigen sich Philosophen und Schriftstellerinnen mit dem Verhältnis von der ontologischen und der rhetorischen Substanz sprachlicher Äußerungen. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit von Sprache und ihre Konventionalität setzte um die Jahrhundertwende kaum erahnte kreative Energien frei. In einer Zeit, die Konventionen schwinden, ökonomische Strukturen schwanken und

67Vgl.

oben, Kap. 1. von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache“ [1927], in: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Reden und Aufsätze III, hg. von Herbert Steiner, Bd. 10, Frankfurt a. M: Fischer 1980, 128–133, hier 132. 69Ebd. 70Einen medientheoretischen Ansatz, der in mancher Hinsicht von der Einordnung Hofmannsthals als eines von Sprachkrisen erschütterten Schriftstellers ausgeht, gibt Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 71Z. B. bei Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, München: C.H. Beck 2004, 177–226 (Kapitel „Sprachkrise und Überwindungsversuche“). Ein anderes Beispiel für die literargeschichtliche Einordnung einer „Sprachkrise“ als Phänomen, das einen „kategorialen Bruch zwischen Sprache, Bewusstsein und Wirklichkeit“ bedeute und nicht etwa Folge einer sozio-ökonomischen, auf Konventionsverschiebungen beruhenden Entwicklung ist, bietet Martina King: „Sprachkrise“, in: Handbuch Literatur und Philosophie, hg. von Hans Feger, Stuttgart und Weimar: Metzler 2012, 159–177, hier 159 (mit ausführlicher Bibliographie). 68Hugo

Logik und Mystik

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politische Herrschaftsformen fallen sah, entstanden Werke, die mit Traditionen spielten, mit ästhetischen Erwartungen brachen und Neues schufen.72 Wohl selten erlebte eine Ära einen derartigen Schub an sprachlichen Neuerungen. Überall im deutschsprachigen Raum traten Schriftstellerinnen mit experimentellen Formen des Schreibens hervor, die bis dahin unbekannt waren und von Zeitgenossen mit Begeisterung, aber auch Abscheu, mit größtem Interesse oder lautstarken Protesten aufgenommen wurden. Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Futurismus und Dadaismus sind nur die bekanntesten unter den Ismen, die sich wiederum in Schulen und Stilrichtungen aufspalten sollten. Die vermeintliche Sprach-Krise war in Wirklichkeit eine Sprach-Revolution, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hineinreichen. Das nimmt nichts von der Bitterkeit, mit der Schriftstellerinnen und Künstler die Ausweglosigkeit angesichts des Mangels an absoluten Erkenntnissen empfunden haben mochten, die sie sich von der Sprache erhofft hatten. Dass Sprache ein um sich selbst kreisendes „bewegliches Heer an Metaphern“ (Nietzsche) ist, wusste etwa der in Prag geborene und in Berlin lebende Schriftsteller und Essayist Fritz Mauthner allzu gut. Wie Hofmannsthal mit den Schriften Nietzsches vertraut, begegnete er sprachlichen Konventionen, Vorannahmen und Wertvorstellungen – nicht ohne Ironie – mit rhetorischem Bilderreichtum: „Das Herz hat die Sprache gefressen wie eine Krebskrankheit, aber statt der Erkenntnis hat sie dem Menschen nichts geschenkt als Worte zu den Dingen, Etiketten zu leeren Flaschen, schallende Backpfeifen als Antwort auf die ewige Klage, wie andere Lehrer andere Kinder durch Schlagen zum Schweigen bringen. Erkenntnis haben die Gespenster aus dem Paradies der Menschheit versprochen, als sie die Sprache lehrten. Die Sprache hat die Menschheit aus dem Paradies vertrieben.“73

Logik und Mystik Zu Hofmannsthals intellektuellen Umfeld in den Salons und Cafés der Stadt Wien zählten auch Mitglieder der heterogenen und lose verbundenen Gruppe des Wiener Kreises. Bereits vor 1914 fanden sich der Philosoph Otto Neurath, die Mathematiker Hans Hahn und Richard von Mises (der Bruder des Ökonomen Ludwig von Mises) sowie der Physiker Philipp Frank zu einer Rationalität und Logik befördernden Diskussionsrunde zusammen, die mit der Berufung der Philosophen Moritz Schlick (1922) und Rudolf Carnap (1926) an die Universität Wien an Umrissen gewann und durch die Mathematiker Kurt Gödel und

72Vgl.

zum historischen Kontext der Sprachkrise Rudolf Helmstetter: „Entwendet. Hofmannsthals ‚Chandos‘-Brief, die Rezeptionsgeschichte und die Sprachkrise“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77.3 (2003), 446–480. 73Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, Zur Sprache und zur Psychologie, Frankfurt a. M u. a.: Ullstein 1982, 87.

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Karl Menger (der Sohn des Ökonomen Carl Menger), aber auch durch Ludwig Wittgenstein und Karl Popper prominente Unterstützung erfuhr.74 In sozialen und politischen Fragen oft unterschiedlicher Ansicht, verband den Wiener Kreis die Ablehnung spekulativen, metaphysischen Denkens. Seine Vertreter teilten eine auf wissenschaftliche Empirie und logische Denkmuster gegründete Weltauanschauung und wollten keine Zweifel daran lassen, dass Erkenntnisse nur aus axiomatischen Ableitungen gewonnen werden könnten. Die Beschreibung der Wirklichkeit in Begriffen unterliege der kritischen Anwendung von Sprache, wie man sie in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosopicus (1921) beispielhaft ausgeführt sah. Darin erklärt Wittgenstein vorab: „Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken […]. Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“75 Rudolf Carnap las aus Wittgensteins Vorgaben die Forderung, das Mittel der Sprache gegen den „Unsinn“ der Metaphysik in Stellung zu bringen. Scheinprobleme in der Philosophie (1928) nennt Carnap jene Versuche, die sich auf metaphysische Annahmen stützen, und gibt zu verstehen, dass sich „Erkenntnistheorie“ auf die „Aufstellung einer Methode zur Rechtfertigung der Erkenntnisse“ zu beschränken habe.76 Das Gewicht, das der Methode zukommt, verdrängt den Inhalt, der dem subjektiven Empfinden geschuldet ist. Die Struktur der Sprache ist in Carnaps wohl bekanntestem Werk Der logische Aufbau der Welt (1928) das Maß ihrer Ausdrucksfähigkeit, ihre „formalen Eigenschaften“ bilden eine „R e l a t i o n s t h e o r i e “.77 Die Einleitung zu diesem Buch gibt Auskunft über die Programmatik des Wiener Kreises. Bislang sei „das praktische Umgehen mit philosophischen Problemen“ rein „triebmäßig bestimmt“ gewesen, seien bloß „anschauungsmäßige, intuitive Mittel“ zur Anwendung gekommen. Die „Begründung“ habe nun jedoch „vor dem Forum des Verstandes zu geschehen; da dürfen wir uns nicht auf eine erlebte Intuition oder auf Bedürfnisse des Gemütes berufen. Auch wir haben ‚Bedürfnisse des Gemütes‘ in der Philosophie; aber die gehen auf Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden, Verantwortlichkeit der Thesen, Leistung durch Zusammenarbeit, in die das Individuum

74Vgl.

Christian Damböck: „Nachwort“, in: Der Wiener Kreis. Ausgewählte Texte, hg. von Christian Damböck, Stuttgart: Reclam 2013, 227–244, hier 227 f.

75Wittgenstein:

Tractatus logico-philosophicus, 9 (kursiv im Original). Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, in: Der logische Aufbau der Welt. Scheinprobleme in der Philosophie [beide Titel gesondert 1928], 2. Aufl., Hamburg: Meiner 1961, 295. 77Rudolf Carnap: „Der logische Aufbau der Welt“, in: ebd., 13. 76Rudolf

Logik und Mystik

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sich einordnet“.78 In einer Broschüre über die Wissenschaftliche Weltauffassung (1929) meint Carnap entsprechend, „das die Menschen in der Sprache Verbindende sind die Strukturformeln; in ihnen stellt sich der Inhalt der gemeinsamen Erkenntnis der Menschen dar. Die subjektiv erlebten Qualitäten – die Röte, die Lust – sind als solche eben nur Erlebnisse, nicht Erkenntnisse; in die physikalische Optik geht nur das ein, was auch den Blinden grundsätzlich verständlich ist“.79 Neben Wittgenstein und zunehmend auch Charles Sanders Peirce berief sich Carnap auf seinen Lehrer Gottlob Frege. Dessen auf den Grundlagen der Mathematik entwickelte, für die Arithmetik ebenso wie für die Sprachwissenschaft folgenreiche Logik wurde zum Maß einer vernunftgeleiteten Form des Ausdrucks. „Wahrheit“ definiert Frege im Sinne der Prädikatenlogik, nach der ein Satz dann als „wahr“ zu gelten habe, wenn seine Teile der sprachlichen Logik genügen und die Aussage des Satzes mit der Vorstellung, die ihr vorausgeht, übereinstimmt: „Die Form des Behauptungssatzes ist also eigentlich das, womit wir die Wahrheit aussagen, und wir bedürfen dazu des Wortes ‚wahr‘ nicht. Ja, wir können sagen: selbst da, wo wir die Ausdrucksweise ‚es ist wahr, daß …‘ anwenden, ist eigentlich die Form des Behauptungssatzes das Wesentliche.“80 Frege machte seine Zweifel am zu seiner Zeit herrschenden Wahrheitsbegriff wiederholt deutlich. In seinen Schriften suchte er nach Ausdrucksformen, die von Emotionen, historischen Gegebenheiten und religiösen Anschauungen frei sind. Nicht nur logisch-mathematische, sondern auch empirische und psychologische Forschungen gaben hierfür entscheidende Hinweise. Von Gewicht für die Anhänger des Wiener Kreises war etwa der Physiker, Philosoph und Physiologe Ernst Mach, dessen Empiriokritizismus – die Annahme, dass alles, was die Erfahrung überschreite und der Theoriebildung unzugänglich bleibe, für den Erkenntnisgewinn bedeutungslos sei – den Grundstein für einen neuen, auf logischen Prinzipien beruhenden Skeptizismus legte. Seine im Jahr 1886 erschienene Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen wurde zur Standardlektüre. Auf eine „Denkökonomie“ bauend, wonach das Prinzip höchster Sparsamkeit der Begriffe unter Vermeidung von Spekulation zum größtmöglichen Gewinn an Erkenntnis führe, vertrat Mach die Ansicht, dass zwischen Ich und Welt nicht zu unterscheiden und die Vorstellung eines seiner subjektiven Grenzen gewissen Individuums nicht länger haltbar sei. Mach sprach vom „unrettbaren Ich“ – ein Gedanke, der im Widerspruch zur Vorstellung vom

78Ebd.,

XIX–XX. Ernst Mach (Hg.): „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Der Wiener Kreis. Ausgewählte Texte, hg. von Christian Damböck, Stuttgart: Reclam 2013, 7–32, hier 20. 80Gottlob Frege: Logik [1897 verfasst], in: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlaß, mit Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie und Register hg. von Gottfried Gabriel, Hamburg: Meiner 1971, 35–73, hier 39 f. 79Verein

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freien Willens stand und einer Überhöhung des Subjekts ein Ende bereitete.81 Die in Machs Analyse der Empfindungen vertretenen Auffassungen galten vielen als Leitideen einer Epoche: „Die Ansicht, welche sich allmählich Bahn bricht, daß die Wissenschaft sich auf die übersichtliche Darstellung des Tatsächlichen zu beschränken habe, führt folgerichtig zur Ausscheidung aller müßigen, durch Erfahrung nicht kontrollierbaren Annahmen, vor allem der metaphysischen (im Kantschen Sinne). Hält man diesen Gesichtspunkt in dem weitesten, das Physische und Psychische umfassenden Gebiete fest, so ergibt sich als erster und nächster Schritt die Auffassung der ‚Empfindungen‘ als gemeinsame ‚Elemente‘ aller möglichen physischen und psychischen Erlebnisse, die lediglich in der verschiedenen Art der Verbindung dieser Elemente voneinander bestehen. Eine Reihe von störenden Scheinproblemen fällt hiermit weg.“82 Nicht überall jedoch fand die Abkehr vom Wahrheitsanspruch der Sprache und die Hinwendung zu einem allein auf Logik basierenden Denken Zustimmung. Hermann Broch etwa wollte sich aus ethischen Gründen nicht mit dem von Carnap postulierten „logischen Aufbau der Welt“ zufriedengeben: „Die Philosophie hat ihrem Zeitalter der Universalität, dem Zeitalter der großen Kompendien selbst ein Ende gesetzt, sie mußte ihre brennendsten Fragen aus ihrem logischen Raum entfernen oder, wie Wittgenstein sagt, ins Mystische verweisen.“83 Broch, der bei Schlick und Hahn an der Wiener Universität studiert hatte, beschrieb in Die Schlafwandler (1930–1932) die „Zerfällung der Welt in Einzelgebiete“, an der die Theorie des logischen Empirismus ihren Anteil habe. Die „Sprache der Dinge“, argumentiert Broch, sei eine sinnentleerte Sprache, „eine stumme Sprache“,84 die den „Durchbruch des Irrationalen“ befördert:85 „Was wir erleben ist der Zusammenbruch der großen rationalen Wertsysteme. Und wahrscheinlich ist die Katastrophe des Menschlichen, die wir erlebten, nichts anderes als dieser ­Zusammenbruch. Eine Katastrophe der Stummheit.“86 An der Schwelle zwischen

81Hermann

Bahr beschreibt stellvertretend für andere den Eindruck, den Machs Analyse der Empfindungen hinterlassen hatte: „Hier habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen drei Jahre her quält: ‚Das Ich ist unrettbar‘. Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. […] Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten“, „Das unrettbare Ich“, in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 99, 10. April 1903, 1–4, hier 4. Vgl. die Auswirkungen Machs, die etwa Horst Thomé für viele Autoren im deutschen Sprachraum darlegt: Autonomes Ich und „inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen: Niemeyer 1993.

82Ernst

Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 4., vermehrte Aufl., Jena: G. Fischer 1903, V. 83Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag [1932], KW 9/1, 63–94, hier 85. 84Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie, KW 1, Frankfurt a. M. 1978, 537. 85Ebd., 689. 86Ebd., 731.

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­ ealität und Traum komme dem Dichterischen die Pflicht zu, sich der „AbsoR lutheit der Erkenntnis“ zu widmen.87 Gegen die „stumme Sprache der Logik“ schrieb Broch seither an und sah im dichterischen Werk den Versuch, Sprache wieder mit Sinn zu füllen. Der platonische Logos stand ihm vor Augen, als er die sprachlichen Experimente der neuen Dichter, wie diejenigen von James Joyce und letztlich auch seine eigenen, rechtfertigte. Ausgestattet mit einer „neue[n] Erkenntnisaufgabe“ dringe das Ich in die „Sphäre des Platonischen und damit des Philosophischen schlechthin“ vor.88 Die Sprache von Joyce eröffne, Broch zufolge, den Zugang zu einer sonst verschlossenen Ebene des Denkens, einer Sprache, die den Bann Wittgensteins breche und die Grenzen des Denkens erweitere. Von der Vielfalt neuer Ausdrucksmöglichkeiten erwartete Broch nichts weniger als die Erweiterung von Wissen und Erkenntnis und er sah in Joyces experimenteller Schreibweise eine durchaus für positiv erachtete Rückkehr zur Metaphysik. Hugo Ball dürfte ihm hierin zugestimmt haben. Wie Broch zählte Ball zu jener Gruppe von Künstlerinnen und Schriftstellern, die sich der rein logischen, rationalen Erschließung der Welt widersetzten und – ganz anders als Frege und der Wiener Kreis – einen „Sinn“ gerade dort fanden, wo der Verstand zur Deutung einer wie auch immer gearteten Wahrheit nicht ausreicht. Ball teilte mit seinem zeitweiligen Züricher Weggefährten Tristan Tzara die Ansicht, dass „die Kunst im Incest“ lebe, sobald sie sich „mit der Logik“ vermähle; sie „würde ihren eigenen Schwanz, immer ihren Körper verschlucken und in sich hineinschlingen, sich in sich selbst verkrampfend“.89 Daher stehen Bewegungen wie der Wiener Kreis oder auch die Phänomenologie der Freiburger Schule nicht nur zu den künstlerischen Avantgarden in komplementärem Verhältnis, sondern auch zu konservativen Strömungen, die auf die Wiederherstellung eines Zustands drängten, den es gleichwohl nie gegeben hat. Auf je eigene Weise reagierten Ball und Broch auf die „Vermählung“ von Kunst und Logik. Der Schritt vom Avantgardismus zum katholischen Mystizismus lag für Ball ebenso nahe wie für Broch vom Katholizismus zur „zersplitterten“, multiperspektivischen Weltsicht bei Joyce. Wie erklärt sich der Zusammenhang zwischen dem „Unsinn“ der Avantgarden und einem religiös begründetem Konservatismus, wie er sowohl Broch als auch Ball eigen ist? Gerade bei der Untersuchung des „logischen Aufbau[s] der Welt“ (Carnap) hat sich immer auch ein Rest an Unerklärlichem erhalten, der den Übergang zum Mystizismus erleichtert. Wie sehr sich Carnap und Schlick auch um eine von metaphysischen Wertannahmen „gereinigte“ Erkenntnistheorie bemühen mochten, kam die Sprache der Logik nicht ohne metaphysische Annahmen aus. Als Systematisierung des aufklärerischen Vernunftpostulats übernahm sie zugleich die Leitideen des Liberalismus, der sich auf Effizienz, Steigerung und Rationalität berief. Die „invisible hand“, die nach Smith den Markt regelt, bestimmt

87Ebd.,

James Joyce und die Gegenwart, KW 9/1, 85. 90. 89Tristan Tzara: Manifest Dada 1918, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 149–155, hier 154. 88Ebd.,

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auch die Regeln der Logik. Wie im Kapitalismus fordert Carnap die „Leistung der Zusammenarbeit“.90 Die Prinzipien der Arbeitsteilung, der „Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methode, Verantwortlichkeit der Thesen“ bilden genau jene Voraussetzungen, mit denen eine kapitalistische Marktwirtschaft für sich wirbt, obwohl sie von Irrationalität und Glaubenshaltungen regiert wird. Wenn aber die Ökonomie nicht frei von metaphysischen Vorstellungen ist, so sind es auch jene Methoden nicht, die – ob gewollt oder ungewollt – von ihr abhängen. Carnap beruft sich daher wenig überraschend auf eine „geistige Haltung“ und „innere Verwandtschaft“ in den „Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen“.91 Wer aber eine „Gesinnung“ zur Grundlage der Philosophie macht, gesteht ein, dass Logik womöglich über sich hinausweist, dass Sprache mehr als nur Vernunft, dass sie in der Tat ein „intuitive[s] Mittel“ ist, um „Wahrheit“ zu erkennen.92 Ball glaubte sich dieser Entwicklung entgegensetzen zu können. Vom Kritiker an den Wahrheitspostulaten der Sprache zum Fürsprecher einer im Wort gegebenen höheren Botschaft gewandelt, kam Ball zu der Einsicht, dass sich die Kritik an sprachlichen Ordnungsvorstellungen und das Bekenntnis zu ihnen gegenseitig bedingen.93 Wie Broch von ethischen Erwägungen geleitet, gelangte Ball zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Unter Besinnung auf die orthodoxe Mystik, insbesondere die Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita aus dem frühen 7. Jahrhundert, fand Ball zu einem Ideal der Selbstaufgabe und des Opfers, das an die Stelle des Ichs das Wort setzte. Nach seiner Konversion stand Ball für eine katholische Orthodoxie byzantinischer Prägung und erklärte – ohne den geringsten Zweifel –, der Dadaismus sei aus der Religion entstanden: „Als mir das Wort ‚Dada‘ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius. D. A. – D. A. (über diese mystische Geburt schrieb H…k [Huelsenbeck]; auch ich selbst in früheren Notizen. Damals trieb ich Buchstaben und Wort-Alchemie).“94 Allein im Wort sei die Bedingung für die unio mystica – die Verbindung mit Gott – gegeben, die materielle Welt überwunden und eine rein geistige 90Carnap:

Der logische Aufbau der Welt, XX.

91Ebd. 92Ebd. 93Schon

einmal, nämlich zur Zeit der Frühromantik, war eine ähnliche Verbindung von Kritik und Bekenntnis – etwa bei Novalis und Friedrich Schlegel – zu beobachten gewesen. Verbindungen von den Frühromantikern zu Ball zieht Oliver Ruf: Ästhetik der Provokation. Kritik und Literatur nach Hugo Ball, Bielefeld: Transcript 2012. Zu Balls Sinneswandel vgl. insbesondere 273–298. 94Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, hg. von Bernhard Echte, Zürich: Limmat 1992, 296 (18. Juni 1921). Ball hatte sich dem Gnostizismus verschrieben, einer Glaubenslehre, die den Dualismus von Geist und Materie voraussetzt und die Leugnung des Körperlichen anstrebt: „Der Gnostiker flieht die Welt, die für ihn von Grund auf und für alle Zeit verdorben ist. Aussichtslos erscheinen ihm alle Versuche, sie zum Besseren zu verändern; das herrschende Chaos, die ungerechte Güterverteilung und die offensichtliche Schlechtigkeit der Kreatur vor Augen, zieht er sich vollständig zurück“, Erika Süllwold: Das gezeichnete und ausgezeichnete Subjekt. Kritik der Moderne bei Emmy Hennings und Hugo Ball, Stuttgart und Weimar: Metzler 1999, 151. Aus dem Kritiker Ball wurde in späteren Jahren daher der Ankläger, erläutert Süllwold. Hugo Balls Religiosität ist gut erforscht und muss hier nicht im Einzelnen erörtert werden, vgl. etwa die Beiträge in Bernd Wacker (Hg.): Dionysius DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, Paderborn u. a. 1994.

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Form des Seins erreicht.95 In Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926) gelangte Ball zu der Erkenntnis, dass Sprache als höchster Wert und nicht nur als Medium zu erachten sei: „Die Sprache nämlich, der Logos, gehört zwar, soweit sie nur Bild ist, der Psyche an; mit ihrem sinngebenden, aszetischen, erwirkenden Teile aber, mit ihrem formalen Charakter, mit Verteilung, Ordo, Persönlichkeit gehört sie zum Geiste. Sie ist ein Grenzprodukt auf dem Wege von der psychischen zur pneumatischen Norm und muß der Bildsphäre notwendig zu einem Teile überhoben sein, während sie mit ihrem niedrigeren Teile ihr angehört.“96 Die „Bildsphäre“ transzendiert das Symbol, das sich der Bildstruktur lediglich bedient, um in ihr eine abstrakte Idee zu fassen. Ball versteht daher in Anlehnung an den Lebensphilosophen und Psychologen Ludwig Klages unter „Logos“ eine Funktion, die bereits im Sprachlaut angelegt ist. „Logos“ bedeutet für Ball Wort und Ding, Zeichen und Wirklichkeit, Idee und Konkretes zugleich. Notwendig schließt er auf die Tradition der katholischen Kirche, die auf eine „Vereinigung mit dem Logos im heiligsten Sakramente der Eucharistie“ gerichtet sei.97 Sein Verständnis von Sprache als symbolischer Form ist dabei zudem in psychoanalytische Erwägungen gebettet. „Fragt man die Künstler, woran sie leiden“, meint Ball, „so kann man immer wieder dasselbe hören. Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit“.98 Wie bei allen Menschen führe die Diskrepanz zwischen Welt und Wort zur Nervenkrankheit und sei Ursache für die „Neurose einer ganzen Epoche“.99 Dem Mangel an Ausdrucksfähigkeit wisse der Künstler hingegen durch seine Werke zu begegnen und stehe dem „Therapeuten“ in nichts nach.100 Balls intensive Auseinandersetzung mit dem Katholizismus schafft einerseits Distanz zu den scheinbar dem Sinnlosen zuneigenden Aktionen und Sprachspielen der Züricher Dadaisten und gibt dem „Unsinn“ einen metaphysischen Anstrich.

95Eine

Seelenverwandte sah Ball in seiner Frau Emmy Hennings, die bereits 1912 zum Katholizismus konvertiert und auch nach ihrer Rolle als Mitbegründerin der Dada-Bewegung streng gläubig geblieben war. Richard Huelsenbeck berichtet später von einem Besuch in ihrer bescheidenen Züricher Wohnung: „Ich entsinne mich der Einrichtung nicht mehr genau, was mir aber gleich auffiel beim Eintreten war ein Altar, der mit Heiligenfiguren, religiösen Bildchen und Blumen bedeckt war. Während das übrige Zimmer einen dumpfen, dunklen Eindruck machte, herrschte hier Licht, Reinlichkeit und peinliche Ordnung. Als ich einen erstaunten Blick auf den Altar warf, sagte Ball: ‚Emmy hat das gebaut. Sie liebt es hier zu beten …‘“, Richard Huelsenbeck: Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente, aus dem Nachlass hg. von Ulrich Karthaus und Horst Krüger, Heidelberg: Lambert Schneider 1984, 122. 96Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit, in: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. von Hans Burkhard Schlichting, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1984, 102–149, hier 145. 97Ebd., 149. 98Ebd., 108. 99Ebd., 112. 100Ebd., 114.

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Sein Aufsatz erschien in der katholischen Zeitschrift Hochland, in der unter anderem Max Scheler, Romano Guardini, Gertrud von Le Fort oder Max Bergengruen veröffentlichten. Die ästhetische Arbeit am Logos verglich Ball mit der „Methodik der strengen Vereinfachung“, wie sie die katholische Tradition verinnerlicht habe. Dies erinnert an die vielfältigen Vereinfachungstendenzen der Avantgarden, die sich auf Ton und Rhythmus in der Musik, Wort und Buchstabe in der Dichtung, sowie Farbe und Linie in der Malerei konzentrierten. Durch Reduktion erhielten „die einzelnen Satzteile, ja die einzelnen Vokabeln und Laute […] ihre Autonomie zurück“,101 hatte Ball am 1. Juli 1915 in seinem Tagebuch notiert, das unter dem Titel Die Flucht aus der Zeit im Jahr 1927 erschienen war, also unter dem Eindruck eines nicht nur neugewonnenen, sondern vertieften religiösen Selbstverständnisses und daher entsprechend bearbeitet worden war. Verrät schon der Titel Distanz, so knüpfen viele der darin enthaltenen Überlegungen aus den frühen Jahren des Dadaismus nahtlos an Balls späteren Mystizismus an: „Das Wort und das Bild sind eins. Maler und Dichter gehören zusammen. Christus ist Bild und Wort. Das Wort und das Bild sind gekreuzigt.“102 Vieles spricht dafür, dass Balls dadaistische Sprachvolten Versuche waren, zu dieser ursprünglichen Sprache zurückzufinden. „Das Bild der Bilder, das Urbild suchen“, heißt es am 7. Mai 1917 im Tagebuch.103 Gemeint war das durch Sprache vermittelte Urbild, in dem, mystischem Denken entsprechend, Wort und Ding in eins fallen. Um die Sprache wiederzugewinnen, wollte Ball sie von den Schlacken der Zeit gereinigt sehen: „Wie kann man dem Wort seine Macht wiedergeben? Indem man sich immer tiefer mit dem Worte identifiziert. Zu jenem innersten Kern der Person und Nation durchdringen, wo die bewegenden Gedanken herkommen.“104 Diesem Ziel diente das Lautgedicht, dessen Erfindung oft Ball zugeschrieben wird, auch wenn er weder der erste noch der originellste Lautpoet war.105 Lautgedichte stehen außerhalb sprachlicher Normen, doch folgen sie phonetischen und syntaktischen Regeln. Ihr Sinn besteht darin, die Willkürlichkeit gesellschaftlicher Konventionen hervorzuheben, den gedankenlosen Umgang mit der Sprache zu kritisieren und die ästhetische Freiheit in der Dichtung zu feiern. Mit Unsinn haben sie nichts zu tun. Sein „Programm“ schickte Ball dem Vortrag seiner ersten Lautgedichten Gadji Beri Bimba, Zug der Elefanten (auch Karawane) und Labadas Gesang an die Wolken voraus und knüpft dabei nahtlos an die zeitgenössische Kritik an der Sprache an: „Man verzichte mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis,

101Ball:

Die Flucht aus der Zeit, 39 (1. Juli 1915). 99 (13. Juni 1916). 103Ebd., 160 (7. Mai 1917). 104Ebd., 137 (3. Dezember 1916). 105Zu denken wäre an Johann Heinrich Voß’ „Klingsonate“ (1808), später vor allem an Christian Morgenstern, Paul Scheerbart und – wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt – an Kurt Schwitters. 102Ebd.,

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und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe. Man wolle den poetischen Effekt nicht länger durch Maßnahmen erzielen, die schließlich nichts weiter seien als reflektierte Eingebungen oder Arrangements verstohlen angebotener Geist-, nein Bildreichigkeiten.“106 Sein Auftritt als „magischer Bischof“107 unterstrich Balls religiöse Ambitionen: „Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.“108 Mühevoll gelang es Ball, den reizvoll-exotischen und unabsichtlich komischen Inhalt seiner Gedichte mit der von ihm erhofften Feierlichkeit und Würde vorzutragen: „Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt.“109 Emmy Hennings kommentierte später, dass Ball „auf der Suche nach magischen Urklängen“ war, aus der „Verse ohne Worte“ hervorgegangen seien.110 Seine Lautpoesie ist also, zumindest in der Rückschau und im Kontrast zur Logik des Wiener Kreises, nicht allein der vielen avantgardistischen Künstlern eigenen Tendenz zum Primitivismus geschuldet, sondern einem religiös beglaubigten Versuch, zur Essenz des Zeichens, zu seinen lautbildhaften Anfängen und seinem „transzendentalen Signifikat“ (Derrida) zurückzukehren. Mit seinen Lautgedichten erforschte Ball, genau wie andere Künstler der Avantgarde, die sich auf die einfachsten Mittel der Darstellung besannen, zugleich die Ursprünge der Kunst. Diese „Ursprünge“ gingen aus Idealvorstellungen hervor: „Die Avantgarde ist also nicht deshalb reduktionistisch, weil sie die Kunsttradition schockartig beenden will, um in der Seele des Betrachters ein Gefühl des Erhabenen hervorzurufen, sondern weil der Künstler der Avantgarde davon ausgeht, dass alle regionalen und zeitbedingten Kunsttraditionen in der Zukunft ohnehin untergehen

106Ebd., 106 (23. Juni 1916). Offenbar gingen unbewusste Annahmen über das Ursprüngliche in die Lautgedichte Balls ein, die wir heute – mit Edward Saïd als „orientalistisch“ (vgl. Orientalism, New York: Pantheon Books 1978) und im neueren theoretischen Kontext als postkolonial bezeichnen müssen, da sie das „Exotische“ und Fremde idealisieren und durch ein europäisches, zivilisationsfeindliches Prisma betrachten. 107Ebd. 108Ebd., 105 (23. Juni 1916). 109Ebd., 106 (23. Juni 1916). Auch wenn Balls spätere spirituelle Erfahrungen die Schilderung im Tagebuch religiös einfärben, ändern seine Bearbeitungen nichts am durchaus möglichen Übergang vom melodischen Vortrag des Lautgedichts zur liturgischen Tradition des Kirchengesangs. 110Zit. nach Hugo Ball: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von der Hugo-Ball-Gesellschaft Pirmasens, bislang 7 Bde., Göttingen: Wallstein 2003–2018, Bd. 1, Gedichte, hg. von Eckhard Faul, Göttingen: Wallstein 2007, 218.

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müssen. Eigentlich will die Avantgarde das wenige retten, was noch zu retten ist. Sie sucht nicht den Untergang der Tradition, sondern umgekehrt eine Rettung vor diesem unvermeidlichen Untergang – wenn auch mit leichtem Gepäck.“111 Die Sprache von ihrem zivilisatorischen Ballast zu befreien, hieße daher, sie zu erneuern, weil sie wieder ihre ursprüngliche Bedeutung erhielte. Für Ball galt sie zudem für „befreit“, sofern sie wieder die Form des Logos annähme – die durch den „Leib“ des Wortes hervorgebrachte Bildform des Gedankens. In der Tradition christlicher Mystik ist Sprache Offenbarung und von höchstem, weil allein durch Gott gerechtfertigten Wert. Ein durch Gottes Fügung der Sprache beigemessener Wert erlöse den Menschen von den Zwängen des Marktes und den Anforderungen der Moderne. Sie ist daher – schon beim Avantgardisten und nicht erst dem religiösen Denker Ball – ein Heilmittel gegen die „Zeitkrankheit“, den Verlust an Bedeutung und Wahrheit. Davon, dass Sprache von höherem Wert sei als etwa Geld, das Zeichen des Marktes, das die Menschen ihrer Individualität beraubt, indem es alle Tätigkeiten unter den Gesichtspunkten der Arbeit, der Effizienz und der Profitabilität beurteilt, war Ball überzeugt. Schon Mitte des Ersten Weltkriegs war die wirtschaftliche Not der Menschen in Deutschland kaum mehr zu verbergen. Der Staat forderte Menschen zur Abgabe von Rohstoffen für Kriegszwecke auf, während sich gleichzeitig die Menge an Konsumgütern verringerte. Die Kosten des Krieges wurden durch Kriegsanleihen gedeckt – Wetten auf den siegreichen Ausgang der Kriegshandlungen, die dem Verlierer Reparationszahlungen aufzwingen würden. Die wachsende Inflation wurde nur notdürftig hinter steigenden Löhnen verborgen und deutete auf die bald einsetzende Hyperinflation hin.112 So zeichnete sich bereits im Verlauf des Krieges die Wertlosigkeit einer Währung ab, die als Versprechen für einen Wert galt, den sie längst nicht mehr besaß. Zeichen und Bezeichnetes fielen auseinander, die Konventionen des Marktes lösten sich auf. Die Irrationalität einer ökonomischen Logik trat in den Vordergrund, die auf Zerstörung setzt, um Gewinne zu erzwingen. Wenn Zahlzeichen einer Währung nicht mit ihrem Tauschwert übereinstimmen, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit und repräsentiert jenen Unsinn einer auf liberalen Marktprinzipien beruhenden Gesellschaftsordnung, den die Dadaisten in ihren Provokationen und Performances keineswegs erzeugten, sondern lediglich entlarvten. Das ist der Sinn dadaistischer Lautpoesie, die sich, wie andere Sprachen der Avantgarden, den irrationalen Verwerfungen des Liberalismus überhaupt erst verdankte.

Dada-Kunst nach Kaufmannsart Die Manifeste Dadas kündigen eine kommende Ästhetik nicht nur an; sie lösen sie durch eben jene Manifeste auch ein. Die Zukunft der Kunst, wie sie hier beschrieben wird, ist in ihrem Inhalt, der formalen Gestaltung, dem Spiel mit Worten

111Groys: 112Vgl.

Unter Verdacht, 196 f. Feldman: The Great Disorder, sowie Holtfrerich: Die deutsche Inflation (siehe Kap. 4).

Dada-Kunst nach Kaufmannsart

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und dem Bruch mit Konventionen bereits verwirklicht. Sie sind das werdende und das gewordene Wort, Reflexionen über ästhetische Prinzipien und deren Darstellung. In den „befreiten Worten“ (Marinetti), kehren die Manifeste zum Ideal einer Ursprache zurück, die von Tanz und Trommelmusik begleitet wurde. Der Begriff „Dada“ ist das Beispiel für ein solches Wort, das der „Kunstrichtung“, wie es im Eröffnungs-Manifest im Cabaret Voltaire hieß, zugleich einen Namen gibt und Thema des Manifests ist: „Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. […] Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andere erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen. Wenn eine Schwingung sieben Ellen lang ist, will ich füglich Worte dazu, die sieben Ellen lang sind. […] Da kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Laute einfach fallen.“113 Mit seinen Lautgedichten hat Ball die Ankündigung seines Eröffnungs-Manifests umgesetzt. Seine Gedichte sind „fallengelassene Laute“, die durch den Vortrag auf der Bühne Realität werden. Im vielleicht bekanntesten, unter anderem von Ball, Franz Jung, George Grosz, Marcel Janco, Richard Huelsenbeck, Raoul Hausmann und Hans Arp unterzeichneten Dadaistischen Manifest, das auf der Dada-Soirée am 12. April 1918 in Berlin zum Vortrag kam, liegt der Akzent auf dem schaffenden, allumfassenden Charakter der neuen Ästhetik, der im Namen der Bewegung angelegt ist: „Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhytmen [sic!], das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.“114 Durch Ursprünglichkeit der Sprache wieder Wert und Bedeutung zu geben, war den Dadaisten wie allen anderen avantgardistischen Bewegungen ein Anliegen. Hinter dem Wunsch nach Erneuerung stand das Bedürfnis nach Geltung. Je größer die Aufmerksamkeit, desto erfolgreicher war die Bewegung als Ganzes. Die Öffentlichkeit wurde zum Markt der Ideen, die sich durchsetzten, je höher

113Hugo

Ball: Eröffnungs-Manifest. 1. Dada-Abend Zürich, 14. Juli 1916, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 121. Die Künstlerkneipe „Voltaire“, später „Cabaret Voltaire“ öffnete bereits am 5. Februar 1916: „Ein zunächst noch buntes, keineswegs schon spezifisch dadaistisches Programm bestimmte die ersten Abende“, doch entfalteten seine Mitglieder eine mitreißende, von Bewegung, Lauten, Gesang und Maskenspiel begleitete Vortragskunst, die zu einer besonderen Atmosphäre beitrug. Aus dieser Atmosphäre des „Niederreißens“ entstand schon bald die Idee einer eigenen Bewegung, die sich ihren Namen erst gab, als sie bereits aktiv war, Hermann Korte: Die Dadaisten, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, 37. Das Programm zum ersten Dada-Abend am 14. Juli ist abgebildet bei Leah Dickerman: „Zurich“, in: Dada. Zurich, Berlin, Hannover, Cologne, New York, Paris, hg. von Leah Dickerman, Washington: National Gallery of Art und D.A.P.: Washington, D. C. 2006, 17–44, hier 34. 114Tristan Tzara u. a.: Dadaistisches Manifest, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 146.

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die Zustimmung zu ihnen war. Die Aufspaltung avantgardistischer Bewegungen in eine Vielzahl konkurrierender Ismen entsprach dem kapitalistischen Marktprinzip, das auch die Sprache in sich einschloss. Anders als Ball geglaubt hatte, ging der Avantgardismus aus der freien Marktwirtschaft hervor und stand keineswegs im Gegensatz zu ihm. Je unterschiedlicher die Auffassungen avantgardistischer Bewegungen, desto größer die Konkurrenz. Den „Nutzen“ hatten die „Verbraucher“, die aus einer Vielfalt ästhetischer Genussmöglichkeiten wählen konnten. Entsprechend agierten avantgardistische Bewegungen wie Marktteilnehmer. Zugleich betonten die Ismen ihren Gegensatz zum kapitalistischen Markt. Geht es der Realökonomie um Profitmaximierung zugunsten weniger, setzte die avantgardistische Ideenökonomie von Anfang an auf hohe Verteilung, um ihren Urhebern Aufmerksamkeit zu verschaffen. Künstler betonten die Andersartigkeit ihrer Werte, mit denen sie die Gesetze des Marktes parodierten und persiflierten. Gerade in der Ähnlichkeit wurde der Unterschied sichtbar, der die Kunst stets in einen Widerspruch zu den Forderungen eines Marktes setzte, von dem sie abhing. Grundlage dieser Ähnlichkeit war die Zuschreibung von Bedeutungen, die symbolisch abgerufen wurden: Hier das Werk des Künstlers, dort die Summe des Geldes. Beide – Künstler wie Unternehmer – kommunizieren also durch Medien, die sich nicht allein auf einen technischen Gehalt reduzieren lassen.115 Anders als der Unternehmer agiert die Künstlerin jedoch als „Medium des Mediums“, das sich auf der Ebene etwa der Malerei in Beziehung zu „den Bildern aller Künstler aus allen Zeiten gleichermaßen“ setzt.116 Als „Vermittler“ (von altgr. „μέσov“, „méson“ = „das Mittlere“) bewiesen die Dadaisten große Meisterschaft im Spiel mit der Metaebene der Medien, weil sie sich der Zeichen anderer kultureller Bereiche bedienten und sie gegeneinander ausspielten. Der Ökonomie widmeten sie größte Aufmerksamkeit, denn sie war gleichzeitig Gegenstand, Voraussetzung und Angriffsziel ihrer Kunst. Das Spiel mit ihren Gesetzen war der Nährboden, auf dem ihre Werke an Wert gewannen. Das Konkurrenzverhältnis von Kultur und Ökonomie bestätigte wiederum die Ähnlichkeit, die zwischen beiden besteht. Wenn Ball den Künstler zum „obersten Kriterium einer neuen Wertskala“ erhebt,117 untermauert seine Kritik am Ausverkauf der Kunst gerade jene „Wertskala“, die sich nach ökonomischem Maßstab nur quantitativ bemessen lässt: „Der Kunsthandel“, klagte Ball in seinem Tagebuch, „ist ein Börsengeschäft um seiner selbst willen geworden, ein Handel mit bedrucktem Papier und bemalter Leinwand; Werte, für die Empfänger kaum mehr in Betracht

115„Der Begriff Medium ist also im Grunde eine Bezeichnung für die Ebene, auf der unterschiedliche Kunstwerke wie auch allgemein Zeichen und Dinge als vergleichbar und archivierbar angesehen werden“, Boris Groys: „Im Namen des Mediums: Kunst und Politik der Avantgarde“, in: Topologie der Kunst, München und Wien: Hanser 2003, 221–231, hier 225. 116Ebd., 228. 117Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit, 103.

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kommen. So führen die Künstler und Literaten, soweit sie Menschen und nicht nur Versorger sind, einen Existenzkampf ebenfalls um ihrer selbst willen.“118 Die Künstlerin unterscheidet sich also nicht von anderen Marktteilnehmern, sie verdeutlicht hingegen die Regeln, wonach Menschen miteinander in Verkehr stehen, und zwar durch das Medium des Geldes. Bereits den frühen Soziologen waren die gemeinsamen Wurzeln von Ökonomie, Religion und Kunst bekannt, auf die sowohl Ball als auch Tzara anspielten. Waren der Tausch und die Gabe, nach Marcel Mauss, religiösen Ursprungs, so musste auch die im Kult eingebettete Kunst mit der Idee des Tauschs, des Opfers und der Gabe in Verbindung stehen. Der Kunst kam es seit jeher zu, Ideen darzustellen, die den Ausweis für die schöpferischen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen erbrachten. Nach antikem Verständnis setzten ihn diese Eigenschaften in ein Verhältnis zu höheren, göttlichen Wesen. Der sakrale Raum war von Objekten und Darstellungen gekennzeichnet und von Gesang erfüllt, die allesamt aus der menschlichen Einbildungskraft hervorgegangen waren und diesen Raum von der profanen Welt unterschieden. Hier herrschen bis heute strenge Regeln, die der „Reinheit“ der Gaben, der Gedanken und der Taten dienten. Im Ritus wurden diese Regeln für die Gemeinde verständlich, die Wiederholung bürgte für deren Bedeutung, die den Gemeindemitgliedern aufgrund der in lateinischer Sprache gehaltenen katholischen Liturgie verborgen bleiben musste. Gerade deshalb sind religiöse Dogmen bedeutungsvoll. Weil an sie geglaubt wurde, nicht aber, weil sie sich dem Verstand unmittelbar erschließen. Ähnlichen rituellen Prinzipien folgen moderne Märkte. Das Ritual ist hier wichtiger als die „Gabe“ – das zum Verkauf stehende Gut. Nachdem die Garantie des göttlichen Heils entfallen ist, bleibt den Marktteilnehmern der modernen Konsumgesellschaft allein das Ritual, ohne dass die Erinnerung an seine einstige Bedeutung Bestand hätte. Die Rituale des Marktes bestätigen den Wert der Waren: die Vergabe von Markennamen und Herkunftsbezeichnungen, die Begrenzung und Öffnung von Märkten, die Erzeugung von Knappheit, die Bestimmung von Zahlungsarten, die Entscheidung über Zinserhöhungen- oder Senkungen, die Auswahl der Konsumenten oder die Ästhetik der Werbung beeinflussen unser Kaufverhalten.119 Kunst und Literatur der Moderne wussten ihren Marktwert dadurch zu steigern, dass sie sich den Schein des Besonderen, Einzigartigen, Genialen und Neuen gaben. Auf der Suche nach geeigneten Darstellungsgegenständen verschoben sie ihr Interesse vom Sakralen auf das Profane. Das Bedeutungslose und Vernachlässigte wurde zum Material. Allein die Form des Dargestellten und die Komposition der Fundstücke – seien es Urinale, Zeitungsausschnitte oder Abfall – entschieden darüber, ob ein Werk als gelungen zu erachten sei, nicht länger aber die Angemessenheit des Themas im Verhältnis zu den eingesetzten bildnerischen oder rhetorischen Mitteln (die lateinische Rhetorik spricht vom „aptum

118Ball: 119Zu

Die Flucht aus der Zeit, 143. den religiösen Aspekten des Marktes vgl. oben, Kap. 5.

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decorum“, der Verhältnismäßigkeit von eingesetzter Stimme, Gestik und stilistischer Methode).120 In der Profanierung des Heiligen erhält sich indes der religiöse Ursprung der Kunst: „Die moderne Kunst scheint zur Offenbarung des tiefsten Geheimnisses des Geldes geworden zu sein: Man kann den wahren Preis der Dinge durch ihre äußere Betrachtung niemals erkennen – das Geld ist ein Geheimnis, das sich verbirgt. Der moderne Künstler ist ein Geldheiliger oder, anders gesagt, ein mystischer Börsenspekulant, denn er meint, den verborgenen Wert der Dinge dadurch demonstrieren zu können, daß er sie in speziell dafür geschaffene Räume transportiert, in denen sich die Epiphanie der göttlichen Allmacht oder, was das gleiche ist, des großen Geldes ereignet.“121 Erklärten die Avantgarden, nach Groys, die traditionelle Kunst für wertlos, fanden ihre eigenen, profanen Werke Eingang in den sakralen Raum des Museums, dem neuen Tempel des Geldes. Das Museum ist deshalb ein „heiliger“ Raum zu Ehren des Kapitalismus, weil er die Chance des Einzelnen auf dem Marktplatz beispielhaft demonstriert. Nie zuvor in der Geschichte standen so viele Künstler in Lohn und Brot, erhielt der schöpferische Geist Subventionen in vergleichbarer Höhe und wurden solch große Summen für einzelne Erzeugnisse der Kunst und Literatur gezahlt wie heute. Die Vielfalt der in den Museen repräsentierten Kunst entspricht der Breite des Marktes, der freilich von strengen Hütern – Kuratorinnen, Auktionatoren, Kritikern und Professorinnen – bewacht wird, um dem Gebot der Knappheit Genüge zu tun. Den Dadaisten waren diese Parallelen von Kunst und Ökonomie, Markt und Religion, Ästhetik und Kult bewusst. Das unterschätzte, unbeachtete, nie gehörte Wort, das sich in neuen Lautfolgen aus dem Sprachschatz formen ließ, war ihnen von höchstem Wert. Daher erachteten sich Emmy Hennings und Hugo Ball sowohl als Hüter eines religiösen Geheimnisses wie auch als Repräsentanten eines Marktes, den sie zugleich verspotteten. Das Dadaistische Manifest von 1918 meint folgerichtig, Dadaist sein „kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler zu sein“.122 Die Unterschiede zwischen dem zum Priester überhöhten Künstler einerseits und dem Kaufmann andererseits, dem Schriftsteller hier und dem öffentlich auftretenden, gleichfalls mit Ideen „handelnden“ und um Aufmerksamkeit werbenden Politiker dort, verschwanden. Ihren Inhalten nach mochten sie sich unterscheiden, doch ihre Strategien ähnelten sich zusehends. Die während des Ersten Weltkriegs einsetzende Inflation hatte die Avantgarden in ihrer Annahme von der Willkürlichkeit der Konventionen bestärkt. Wie das Geld 120Arthur

C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1981, bezieht sich auf Hegels These vom Ende der Kunstperiode, die mit der romantischen Epoche angebrochen sei. Danto berücksichtigt nicht die anthropologische, soziologische, religiöse oder ökonomische Einbettung der Kunst. Erst dann aber käme seine These von der Geschichtlichkeit der modernen Kunst zu ihrem vollen Recht. 121Boris Groys: „Die Sprache des Geldes“, in: Topologie der Kunst, 255–268, 261 (Hervorhebung vom Verfasser, C.Z.). 122Tristan Tzara u. a.: Dadaistisches Manifest, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 147.

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nicht mehr repräsentierte, was es darstellte, so galt den Dadaisten die Sprache nur mehr als Material, aus dem sich Neues, Unbekanntes und Unerhörtes gestalten ließ. Wenn die Politik nicht nur für die Stabilität des gesellschaftlichen Rahmens sorgte, innerhalb dessen wirtschaftliches Handeln gedieh, dann sollte die Kunst, nach den Vorstellungen der Dadaisten und anderer, in ihren Intentionen und Ausrichtungen höchst unterschiedlicher avantgardistischer Bewegungen, das Vakuum füllen und der Politik den Weg weisen. Nachdem sich die Züricher Dadaisten-Gruppe 1918 aufgelöst hatte, nahmen die nach Berlin abgewanderten Raoul Hausmann, Hannah Höch, George Grosz und Richard Huelsenbeck sowie die sich ihnen zugesellenden Wieland und Helmut Herzfeld (unter dem Pseudonym John Heartfield), Walter Mehring und Johannes Baader eine verstärkt gesellschaftskritische Haltung ein. Die Kluft zwischen Politik, Ökonomie, Religion und Kunst überwanden die Berliner Dadaisten ohne Mühe. Angereichert mit anarchistischen und kommunistischen Ideen, entlarvte ihre auf Provokation und Irritation angelegte Ästhetik die Fesseln und Irrtümer einer Gesellschaft, die ihre Kultur umso mehr beschwor, wie sie den Untergang des Abendlandes (Spengler) fürchtete. Die Dadaisten nahmen den so oft proklamierten Verlust der Werte ernst, da sie den Versuch unternahmen, neue, nämlich künstlerische Werte an ihre Stelle zu setzen, auch wenn diese Werte denen der Ökonomie verpflichtet blieben. Ihre „Umwerthung aller Werte“ (Nietzsche) verstand das von vielen befürchtete Ende der Kultur123 als Anfang, die Leere als Form und den Verlust als Befreiung. Das Weiß zwischen den Buchstaben erhielt Vorrang vor dem Schwarz des Gedruckten, der Rahmen Vorrang vor dem Inhalt, die Aktion vor der Kontemplation. Während die Politik im Verlauf des Ersten Weltkriegs an Glaubwürdigkeit verloren hatte, prägten Unruhen und Revolutionen die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Krieges bis 1923. Als sich die Dadaisten in Berlin mit der Gründung des „Club Dada“ im Januar 1918 neu gruppierten waren die Auswirkungen der Inflation bereits deutlich zu spüren. Der Wechselkurs der Reichsmark war gegenüber dem Dollar zwischen Januar 1914 und Ende des Jahres 1918 um das Doppelte gestiegen, gemessen am Großhandelspreis um das Zweieinhalbfache, gegen Ende der Hyperinflation 1923 um ein Millionenfaches.124 Lag der Wechselkurs 1914 für einen US-Dollar bei 4,20 Reichsmark, so Ende 1918 bei 8,28 Reichsmark und im November 1923 bei 4,2 Mio. Reichsmark.125 Neben der Politik und der Religion traf die Kritik der Dadaisten daher vor allem die liberale ökonomische Wirtschaftsordnung. Viele Dada-Künstler bekannten sich in ihren Werken zur Vergemeinschaftung, zum Antikapitalismus und zum Kommunismus. Die ­inhaltliche

123Thomas

Mann z. B. sah in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1915–1918) das Ende der Kultur nahen, sollte Deutschland den Krieg verlieren und sich die französische Zivilisation durchsetzen. 124Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914–1923, 15 (Tabelle). Mehr zu diesem Thema in Kap. 2 und 4. 125Feldman: The Great Disorder, 5 (Tabelle).

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Kritik am alles verschlingenden, allein auf den Fetisch des Geldes zugerichteten Markt kommt etwa in Richard Huelsenbecks Roman Doctor Billig am Ende (1921) zum Ausdruck. In diesem Epochengemälde im raschen Takt der Dadaisten erwehrt sich die Hauptfigur Billig dem Spießertum seiner Zeit, jedoch nur, um der Gewinnsucht und Amoralität der Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs Tribut zu zollen. Die schicksalhafte Begegnung mit der Kokotte Margot auf einer Pferderennbahn ist der Beginn einer Talfahrt. Durch die erotische Anziehungskraft seiner Gefährtin in seiner Urteilskraft getrübt, verstrickt sich Billig in ein von Margot geleitetes „Unternehmen“, das Kriegsgewinnler und Kleinverbrecher zusammenführt, wird zum abhängigen Geliebten, schließlich zum Direktor eines Importgeschäftes für rumänisches Getreide. Seine hochspekulativen Transaktionen führen Billig in den Ruin, die Geldgeber ziehen sich zurück, Margot lässt ihn fallen. Moral und Gesetz, lernt der Protagonist, haben in der Welt keinen Platz, die Sucht nach schnellem Geld korrumpiert, moralische Werte werden zugunsten ökonomischer Werte geopfert. In einem Zeitalter der Extreme, der ideologischen Kämpfe, der Aufstände, Märsche und politischen Morde, der Untergangsszenarien und Erlösungsfantasien, der politischen Hysterie, der Verelendung und des Solipsismus griff Huelsenbecks Roman nicht nur die im 19. Jahrhundert verbreitete Gegnerschaft von Kultur und Geld auf, sondern steht für den – zumindest zeitweiligen – Erfolg der Dadaisten, denen es gelang, die Zensurbehörden wiederholt hinters Licht zu führen und ihren Einfluss geltend zu machen. Das eigentliche Übel erkannten die Dadaisten in der Verbindung von Kapitalismus und Militarismus. Der Krieg erschien ihnen als Resultat der Profitgier, als logische Konsequenz eines ungezügelten, auf Vetternwirtschaft und Monopolisierung beruhenden Zerrbilds des Liberalismus, der ein sozialdarwinistisches Prinzip des Wettbewerbs für sich vereinnahmt hatte. Trotz der Kritik am „Großkapital“ – dem kleinen Kreis der Markt und Politik beherrschenden Industriellen – dürfen wir uns keine Illusionen über die Dada-Ökonomie machen. Dada war profitabel, weil sich die Bewegung auf die Gesetze des Kunstmarkts verlassen konnte. Die Anti-Kunst Dadas kleidete sich als Reaktion auf den Markt, während die Kritik an ihm weniger dem Markt selbst als der Kunst galt, die ihn doch nur abbildete. Dass Geld und Kunst aufs Engste miteinander verknüpft sind, war den Dadaisten, wie nicht weniger deren Publikum bewusst. Wer ihren anti-künstlerischen Auftritten beiwohnen wollte, zahlte – zumindest in späteren Jahren – einen stattlichen Preis. Die berühmt-berüchtigten Dada-Soireen waren einer gut betuchten Zuhörerschaft vorbehalten. Der Eintrittspreis zu der in der Galerie Otto Burchard vom 1. Juli bis 25. August veranstalteten „Internationalen Dada-Messe“ dürfte so manchen Kunstenthusiasten abgeschreckt haben. Auch „die aufwendigen Dada-Publikationen waren teuer […] und die Planung von Dada-Tourneen in andere Städte übernahmen kommerzielle Konzertagenturen.“126 In Zeiten wirtschaftlicher Not machten die Dadaisten vielleicht deshalb Geld zu einem stets wiederkehrenden

126Korte:

Die Dadaisten, 65.

Dada-Kunst nach Kaufmannsart

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Thema: Was den Menschen nicht aus dem Sinn geht, verkauft sich gut. Ideelle Werte sahen sie dabei nicht im Widerspruch zu ökonomischen Werten. Obwohl sich viele der Berliner Dadaisten zu sozialistischen Ideen bekannten und der Kommunistischen Partei nahestanden, strebten sie nach jenem ökonomischen Gewinn, den sie in ihren Werken verlachten. Der von den Brüdern Heartfield und Herzfeld 1916 inmitten des Krieges und allen Widerständen zum Trotz gegründete Malik-Verlag ließ keinen Zweifel an der pazifistischen, gesellschaftskritischen Ausrichtung seiner Gründer. Finanziert von Harry Graf Kessler und einer Reihe von Dada-Mitstreitern, suchten sie den Konflikt mit den Zensurbehörden, so auch, als im Frühjahr 1919 die erste Ausgabe der Zeitschrift Die Pleite erschien. Finanziell wie ethisch hatte der Weimarer Staat nach Auffassung der Dadaisten schon in seinen Anfängen abgewirtschaftet, weil viele der vor dem Krieg bestehenden Strukturen beibehalten wurden. Neben Die Pleite enthielt auch Der Dada – erhältlich nur in vier Nummern zwischen 1919 und 1920 – zahlreiche Parodien des kapitalistischen Wirtschaftens. Zugleich verdankte sich die kritische Pose jenem Liberalismus, den sie bekämpfte. Die Dadaisten entlarvten den Opportunismus der Industriellen und die Verschwörungstheorien der Militärs nicht nur thematisch wie in den Zeichnungen George Grosz’ oder den Fotomontagen John Heartfields. Die Titelblätter und das gesamte Layout von Der Dada geben Zeugnis vom Spiel mit ästhetischen Konventionen. Die Kombination vorfabrizierter Versatzstücke lehnt sich zugleich an die Verfahren in der Werbeindustrie an, die ihrerseits auf eine sowohl bildnerische als auch schriftstellerische Tradition zurückblicken kann, die etwa mit den Fragmenten und Romanen der Frühromantiker oder Jean Pauls begann und das Prinzip der Kombination des scheinbar Unvereinbaren erprobt hatte. Bild und Text werden in Der Dada manchmal in analoger, oft aber in oppositioneller Weise miteinander verbunden, um visuelle und textuelle Kommunikation zu verdichten und einen höheren Wirkungsgrad zu erzielen. Gelegentlich reichen dafür lithografische und typografische Effekte aus, wie sie schon zuvor auf Plakaten und Flugblättern der Dadaisten zu erkennen waren. Die Schrift tritt an die Stelle des Bildes, weil die Anordnung der Buchstaben, Worte und Sätze, die Schriftgröße und farbliche Gestaltung die optischen Reize verstärken. Zeichen verteilen sich frei über die Fläche des Papiers und stellten in ihren unerwarteten und fremdartigen Kombinationen etwas Neues dar. Die Collageverfahren der Dadaisten waren stilbildend und wurden letztlich selbst zur Konvention und zum marktgängigen Produkt, das der Kapitalismus in sich aufnahm, wie er es mit allen seinen „Gegnern“ zu tun pflegt. Heute werden dadaistische Kunstwerke zu gewaltigen Summen gehandelt (wie etwa die Collagen von Kurt Schwitters, der arm gestorben ist) und Museen zu Ehren ihrer Mitglieder gebaut (wie das 2007 eröffnete Arp-Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen). Andere, in performativen öffentlichen Auftritten erprobte künstlerische Formen nutzten die Dadaisten, um in einer zunehmend auf Aufmerksamkeit, Sensationen und Spektakel ausgerichteten Gesellschaft zu bestehen. Zu ihren rhetorischen Mitteln zählten die Parodie, die Persiflage und das Pastiche, also die durch

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Übertreibung verlachende „Gegenrede“ (vgl. altgr. „παρῳδία“, „parōdía“), die „imitierende Überzeichnung von kollektiven oder individuellen Wirklichkeitsvorstellungen und Deutungsmustern“127 (von fr. „siffler“ = „auspfeifen“) sowie eine Stilnachahmung, die vorwiegend auf der Ebene von Syntax, Semantik und Metaphorik angelegt ist (von it. „pasticcio“ = „Pastete“). Der Reklame – einer in hohem Maße mit der Entstehung des Liberalismus verbundenen Kommunikationsform – gilt der Spott, wenn in der ersten Ausgabe von Der Dada ein Werbetext in Gestalt eines komplexen, mit Enjambements und rhythmischer Sprache versehenen Gedichts zu finden ist: Machen Sie dadareklame! Inserieren Sie im d a d a ! d a d a verbreitet Ihre Geschäfte wie eine Infektion über den ganzen Erdball. Die Konfektion des Dadaismus ist die Perfektion im Quadrat hoch drei! Kannten Sie vor einem Jahre noch: d a d a ? Achten Sie auf Ihre Kinder und Sie werden sehen, dass die Reklame d a d a die Universalreklame, die Reklame überhaupt ist. Reklameaufträge für Nr. 3 des d a d a müssen s o f o r t aufgegeben werden. Die ganze Seite kostet 400 Mark; halbe Seite 600; die Viertelseite 800; die Achtelseite 1000. Näheres nach Vereinbarung. Die Redaktion des d a d a 128

Den Konventionen der freien Marktwirtschaft, die ihre Produkte zum Kauf anpreist, stand der spielerische Umgang mit den religiösen Werten der Gesellschaft gegenüber. Ins Ästhetische gewendet, ist „der liebe Gott nur eine dadaistische Fiktion“, der sich die Menschen, wenn sie möchten, auf dem Markt der Ideen anschließen oder der sie den Rücken kehren können. Religion verliert ihre Verbindlichkeit, wird zum „Gut“, das sich, wie alle sprachlichen Zeichen, beliebig austauschen lässt. Dada konnte sich daher zum „Schöpfer aller Dinge“ erklären, zum „Gott“, zur „Weltrevolution“ und zum „Weltgericht in Einem gleichzeitig“ erklären: „Und das Spiel, das gespielt wird im Himmel zwischen den Sternen ist das Spiel dada, und alle lebenden und toten Wesen sind seine Spieler.“129 Dieses zwischen Leben und Tod angesiedelte „Spiel“ führt alle Wertvorstellungen zusammen. Das Manifest ist zugleich sein Regelwerk wie sein Spielbrett. Es entlarvt den metaphysischen Aspekt des Geldes und stellt Religion als ein Kunstprodukt dar. Die Ironie des dadaistischen Spiels muss daher vorwiegend der Form gelten,

127Waltraud Wende: Art. „Persiflage“, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hg. von Dieter Burdorf u. a., 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart und Weimar: Metzler 2007, 578. 128Johannes Baader u. a.: Der Dada 1 (Juni 1919), o. S. [7], bereitgestellt vom International Dada Archive der University of Iowa, Iowa City, http://dada.lib.uiowa.edu/items/show/61 (3. Dezember 2018). 129Ebd., o. S. [3].

Kritik als literarische Wertung

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deren abgenutzter, untauglicher Charakter zur Schau gestellt wird. Die Dadaisten durchschauten die Form als moralischen Gradmesser der Gesellschaft. In ihrer ­Besinnung auf die Sprache erkannten sie den eigentlichen Wert der Kunst – einer Kunst, die zugleich profan und sakral ist, sobald sie auf Wahrheitspostulate verzichtet. Ihre „Wahrheit“ bestand darin, keine Wahrheiten mehr sagen zu können. Zeichen sind der Avantgarde „Behältnisse“, „Dazwischenliegendes“ – „Medien“, die gerade dadurch bedeutungsvoll werden, weil sie ihre Funktion in den Vordergrund rücken, nicht aber ihren Inhalt. Erst in der Veranschaulichung ihrer Funktion entblößt die Sprache Dadas die Lügen von Politikern, Industriellen und Militärs, die auf den Krieg drängten, ihn durch Anleihen finanzierten und vergeblich auf zukünftige Gewinne hofften. Die dadaistische Philosophie der Sprache ermahnte die blindlings Gläubigen zur Vorsicht. Sie misstraute den Heilsversprechungen der Religion und sie erinnerte an den Wertverlust des Geldes, über den sie sich erhob, indem sie ihn verhöhnte. So konnten die Dadaisten Werte für sich beanspruchten, die an die Bereiche der Ökonomie und der Religion grenzten, ohne ganz von ihnen absorbiert zu werden – Werte der Ästhetik, die den „Nullwert“ der Zeichen zu ihrem Vorteil zu nutzen wussten: Legen Sie Ihr Geld in dada an! dada ist die einzige Sparkasse, die in die Ewigkeit Zins zahlt. Der Chinese hat sein tao und der Inder sein brama. dada ist mehr als tao und brama. dada verdoppelt Ihre Einnahmen. dada ist der geheime Schleichhandel und schützt gegen Geldentwertung und Unterernährung. dada ist die Kriegsanleihe des ewigen Lebens; dada ist der Trost im Sterben. dada muß jeder Bürger in seinem Testament haben.130

Kritik als literarische Wertung Die Dadaisten hatten die letzten Zweifel am Unsinn gesellschaftlicher Wertsetzungen beseitigt, indem sie dem Wahnsinn des Krieges, dem Geschäftssinn seiner Profiteure und dem Zynismus derjenigen einen Spiegel vorhielten, die Kultur im Namen des „Geistes“, der „Nation“ und der „Geschichte“ verteidigten. Ihre Provokationen standen im Zeichen der Kritik, vor allem der „Institution Kunst“ als einem „kunstproduzierende[n] und distribuierende[n] Apparat“.131 Die „Institution Kunst“ war Teil jener gesellschaftlichen Einrichtungen, die in den Abgrund geführt hatten. Mit der Kritik an der Kunst zielten die Dadaisten auf diejenigen Bereiche, denen sich alle anderen gesellschaftlichen Institutionen unterzuordnen hatten, nicht weniger aber auch auf Wertvorstellungen, aus denen sie hervorgegangen waren. Politik erachteten sie als ausführendes Organ der Ökonomie, Religion als korrumpierte Form metaphysischer Weltanschauungen, deren „wahren“ Kern

130Zentralamt des Dadaismus: Legen Sie Ihr Geld in dada an!, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 176. 131Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, 9. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1993, 29.

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es wiederzufinden gelte. Die Nähe von Kunstkritik, Glaubensdogmen und ökonomischen Ritualen geht daher bei den Dadaisten ineinander über. Die Aufforderung, in „dada“ zu investieren, war von der Verlachung abendländischer Jenseitsvorstellungen nicht zu trennen: „Wenn Sie gestorben sind, ist dada ihre einzige Nahrung; […] Der dada schwebte über den Wassern ehe der liebe Gott die Welt schöpfte, und als er sprach: es werde Licht! Da ward es nicht Licht, sondern dada.“132 Dem „Zentralamt der Dadaisten“ stand der selbst ernannte „Oberdada“ Johannes Baader vor, der „in der gleichen Stunde, in der man in Versailles den Friedensvertrag unterzeichnete“ der Öffentlichkeit im Kaisersaal des Berliner Hotels Rheingold sein Buch des Weltgerichts übergab und „am 16. Juli im Plenum der Nationalversammlung zu Weimar die Präsidentschaft des Weltalls“ ausrief: „Der Präsident/des Erdballs/sitzt im Sattel/des weissen/Pferdes/DADA.“133 Baader hatte sich 1914 in einer Reihe von Briefen in Buchform als legitimer Nachfolger und Reinkarnation Christi dargestellt134 und verstand es, seine Rolle öffentlichkeitswirksam auszufüllen. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er nicht zuletzt durch seinen Auftritt in der Weimarer Nationalversammlung, wo er im Frühjahr 1919 Flugblätter unter dem Titel Die grüne Leiche von der Brüstung des Zuschauerbereichs abwarf, und durch sein spektakuläres Erscheinen im Berliner Dom am 17. November 1918, als er den Pastor und Hofprediger Ernst Dryander bei der Predigt unterbrach: „Einen Augenblick! Ich frage Sie, was ist Ihnen Jesus Christus? Er ist Ihnen Wurst.“135 Bei Baader verschwamm „die Grenze zwischen megalomanischer Erlöser-Pose und umtriebigem Unfug“; er wurde zur „Karikatur auf die aktuelle politische Praxis von links bis rechts“.136 Mit der spirituellen Selbsterhöhung verband Baader eine Ablehnung aller Ismen, durch die der selbst ernannte „Präsident des Erdballs“ indes zum „Groß-Kapitalisten“ aufstieg, der alle Werte für sich beanspruchte. Das Ergebnis, so Baader, sei der Zusammenbruch des Kapitalismus: „Eine ganz neue Weltordnung erhob sich, und wahrhaftig, das Jahr 1 wurde das erste Jahr des Weltfriedens.“137 Die Geste der Kritik hatte sich mit den Avantgarden ins Absolute gesteigert. Eine ähnliche Steigerung vollzieht sich auch in der Philosophie, allen voran in der Kritischen Theorie mit ihrer Ausrichtung auf ökonomische und politische Ideologien. „In der Person des Theoretikers“, schreibt Horkheimer, sei Kritik „aggressiv

132Zentralamt des Dadaismus: Legen Sie Ihr Geld in dada an!, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, 176. 133Johannes Baader: Trinken Sie die Milch der Milchstraße. Texte und Taten des Oberdada, hg. von Karl Riha, Hamburg: Edition Nautilus und Zürich: Edition Moderne 1990, 31. 134Johannes Baader: Vierzehn Briefe Christi. Ein Geburtstagsgeschenk für seine Abteilung Ernst Haeckel vom Besitzer des Kabarets zur blauen Milchstrasse, Berlin-Zehlendorf: Baader 1914. 135Raoul Hausmann: Am Anfang war Dada, hg. von Karl Riha und Günter Kämpf, mit einem Nachwort von Karl Riha, Steinbach, Gießen: Anabas 1972, 56. 136Korte: Die Dadaisten, 72 f. 137Baader: Trinken Sie die Milch der Milchstraße, 31.

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nicht nur gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden, sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen“.138 Zwangsläufig muss sich Kritik demnach gegen sich selbst richten, um ihre Glaubhaftigkeit zu festigen. Sie ist nicht mehr nur „Beobachtung von Beobachtungen, Beschreibung von Beschreibungen von einem ebenfalls beobachtbaren Standpunkt aus“,139 sondern Metakritik: „Beobachtung zweiter Ordnung, ein Beobachten von Beobachtern über die Dinge gelegt.“140 Sie läuft damit Gefahr, zum Wert an sich zu werden. Durch die permanente Überprüfung ihrer eigenen Aussagen verselbstständigt sich die Methode. Mehr als mit „Themen“ ist sie mit sich selbst befasst und droht dadurch, sich zum Dogmatismus zu verfestigen. In der um sich selbst kreisenden Kritik sind die Umrisse einer Theorie zu erkennen, die ab einem gewissen Zeitpunkt den Grad größter Sättigung erreicht hat. Die Anforderung einer solchen Sättigung erfüllt der Dekonstruktivismus.141 Derrida verstand „Dekonstruktion“ als Kritik am Kritikbegriff selbst.142 Wir dürfen im Dekonstruktivismus eine ins Religiöse gesteigerte Überhöhung einer solchen Kritik sehen, die zu erhellen vorgibt, was sie zugleich verschleiert und noch in der Analyse ihrer eigenen Voraussetzungen lediglich zu Tautologien fähig ist. Derridas „Einsicht“, dass sich „die Vernunft, die Kritik, die Wissenschaft, die Fernwissenschaftstechnik, die Philosophie, das Denken im allgemeinen sich derselben Ressource bedienen wie die Religion im allgemeinen“,143 ist ebenso nichtssagend wie

138Horkheimer: 139Niklas

„Traditionelle und kritische Theorie“ [1937], in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, 190. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien: Picus

1996, 17. 140Ebd., 19. 141Den Nachweis der Nähe von Kritischer Theorie und Dekonstruktivismus erbrachte Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1991. 142„La déconstruction n’est pas une opération critique, le critique est son objet […]. La deconstruction est deconstruction de la dogmatique critique“, Jacques Derrida: „Ja, ou le faux-bond“ [2e partie], in: Digraphe 11 (1977), 83–121, hier 103. 143Jacques Derrida und Gianni Vattimo: Die Religion, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2001, 95. Bei allem Verständnis für die „Unlesbarkeit“ von Literatur behält daher der Dekonstruktivismus die blinden Flecken bei, die er aufzudecken verspricht, vgl. etwa die von großer Überzeugungskraft getragenen Analysen Paul de Mans, der trotz unterschiedlicher Gegenstände dennoch stets zu ähnlichen Ergebnis gelangt: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, New York: Oxford University Press 1971. Christoph Menke hat diesen Umstand beschrieben: „Jede ihrer Positionen wird […] selbst Moment in einer Situation der Unentscheidbarkeit, einem endlosen Hin und Her zwischen zwei irreduziblen, sich ausschließenden Möglichkeiten. Die Wahrheit der Literatur liegt im Eingestehen ihres Nicht-Wissens – ein Eingestehen aber, das selbst nicht wieder ein Wissen ist. Die Literatur verfügt so wenig über die Gewißheit eines Wissens, daß sie nicht einmal ihrer Ungewißheit gewiß sein kann“, „‚Unglückliches Bewußtsein‘. Literatur und Literaturkritik bei Paul de Man“, in: Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, 2. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1994, 265–299, hier 290 f.

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aufschlussreich. Eine Praxis des Verschweigens und des Andeutens gleicht einer mechanisch ausgeführten Methode, deren Zweck allein Eingeweihten offensteht. Obwohl die Geschichte der Textkritik im Grunde mit der Geschichte der Literatur begann, wurde erst im antiken Rom zwischen „Kenner“ (lat. „grammaticus“) und „Richter der Literatur“ (lat. „criticus“) unterschieden.144 Im Mittelalter verstand sich „Kritik“ zunehmend als Bibelkritik, und zwar im Sinne eines Auslegungsverfahrens zur Ergründung von Gottes Willen. Erst die Philologie des 18. Jahrhunderts verwendete die textkritische Methode zur Bestimmung von Autorschaft, Authentizität und Rhetorik biblischer „Geschichten“, später auch von anderen, nämlich weltlichen Texten. In Deutschland gilt Christian Gottlob Heyne als Begründer der modernen Philologie. Heyne wurde 1763 als Altertumswissenschaftler an die Universität Göttingen berufen und traf dort auf den geistesverwandten Johann David Michaelis: „Während Heyne die geschichtlichen Voraussetzungen der homerischen Epen erschloß, erkundete Michaelis durch das Studium der altorientalischen Sprachen und Kulturen die Nachbarschaft, aus der das Alte Testament hervorgegangen war. Heyne und Michaelis brachten eine Schule von kritischen Philologen, Historikern und Theologen hervor, die sakrale wie profane Texte geschichtlich zu verstehen suchten.“145 Das akademische Fach der Philologie teilte mit der auf Öffentlichkeit ausgerichteten Literaturkritik die Suche nach Kriterien, die Texte nach allgemeingültigen Maßstäben zu beurteilen erlaubten. Beide bedienen sich Methoden der literarischen Wertung, wobei sich die Philologie Intersubjektivität und Wissenschaftlichkeit zugutehält, die Literaturkritik hingegen auf eine breite Öffentlichkeit und Diskursivität abzielt. Sowohl Philologie als auch Literaturkritik schauen einerseits auf formale oder strukturelle Besonderheiten literarischer Texte – ihre Literarizität –, andererseits auf inhaltliche Plausibilität in politischen, historischen, moralischen oder religiösen Fragen, um den Maßstab des ästhetisch „Wertvollen“ zu ermitteln. Während sich philologische Kritik auf die mittelalterliche Tradition berufen kann, weil sie einst an das altehrwürdige Studium der Sprachen gebunden war, erfüllt der Literaturkritiker die Aufgabe der Vermittlung und produziert jene „Beobachtung[en] zweiter Ordnung“ (Luhmann), die in neuen Gattungen und Textsorten Gestalt finden: Rezensionen, Essays, Referate, Features – Gattungen, die selbst wiederum Gegenstand der Kritik sind. Erst als sich die Literatur allmählich einen breiteren Markt erschlossen hatte, wurden die modernen Philologien zum akademischen Fach und die Literaturkritik zum öffentlichen Beruf. An der Entstehung dieses Marktes hatte die Literaturkritik wiederum maßgeblichen Anteil. Ohne Literatur gäbe es keine K ­ ritiker, ohne Kritiker keinen Markt, der es erlaubte, geistige Erzeugnisse einem Publikum überhaupt erst schmackhaft zu machen. Auswahl und Urteil sind

144Zur Begriffsgeschichte vgl. den Überblick von Martin Fontius, Art. „Kritisch/Kritik“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, 450–489. Der „Kenner“ und der „Richter“ von Literatur wurden im Griechenland der vorrömischen Zeit noch synonym gebraucht. 145Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1990, 198.

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die ­realen B ­ egleiterscheinungen der Kritik, der liberale Markt ist seine Voraussetzung. Wertungen gehen in sie ein und sind selbst wieder von wert, indem sie den Kauf von Büchern befördern oder verhindern. In Deutschland etwa stieg die Buchproduktion im 18. Jahrhundert innerhalb weniger Jahrzehnte rapide an; die Größe des Lesepublikums wuchs in gleicher Weise. Lag die Zahl der Lesenden in der Bevölkerung zu Beginn des 18. Jahrhundert bei etwa 80.000 bis 85.000 Personen, erhöhte sich diese Zahl innerhalb von 100 Jahren auf deutlich mehr als 300.000.146 Mit der schrittweisen Einführung der etwa in Preußen durch Friedrich den Großen erhobenen und im „Generallandschulreglement“ vom 12. August 1763 gesetzlich festgeschriebenen Schulpflicht stieg die Alphabetisierungsquote bis in das frühe 19. Jahrhundert beträchtlich an. Erschienen 1740 nur 755 neue Titel, die in Messkatalogen angezeigt wurden, waren es 1770 1144 und im Jahr 1800 bereits 2569. Der Bereich der schönen Künste brachte es dabei auf eine bemerkenswerte Zahl (1800: 551 Werke, rund 21,5 %). Gleichzeitig ging „der Anteil der Erbauungsliteratur […] von 19 Prozent (1740) über 10,8 Prozent (1770) auf 5,8 Prozent (1800) zurück“.147 Damit änderte sich die Rolle des Schriftstellers. War noch im Zeitalter des Barock der ständische Dichter eine gängige Erscheinung, „so kam nun sowohl die gravitätische Regelpoetik wie die Gelegenheitsdichtung aus der Mode; Fürstenhöfe, Adel und Patriziat legten kaum mehr Wert auf Standesverherrlichung mittels Poesie. Der ständische Dichter konnte also nicht mehr auf Gönner und noch nicht auf eine angemessene Honorierung durch den Buchhandel hoffen“.148 Die Sorge um die eigene Existenz saß den Dichtern im Nacken und wurde seither zum Topos in den ihre Entstehungsbedingungen vermehrt reflektierenden Erzeugnissen der Literatur. Genau aus diesem Grund setzten Dichter auf Selbsterhöhung, z. B. durch den Gedanken des Genies, das über die materiellen Belange des täglichen Daseins erhaben sei. Sollte die Strategie anfangs noch Erfolge aufweisen – Klopstocks Messias (Gesänge I–V, 1755) überzeugte den dänischen König davon, dem vielleicht bekanntesten Schriftsteller der Aufklärung eine bedeutende ­„Pension von zuerst 400, später 800 Reichstalern jährlich“ zu stiften149 –,

146Wolfgang von Ungern-Sternberg: „Schriftsteller und literarischer Markt“, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3, Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, hg. von Rolf Grimminger, 2. Aufl., München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, 133–185, hier 136. Steven Pinker führt die aus anderen Quellen herangezogenen Zahlen zur Alphabetisierungsrate heran, um die Erfolge der Aufklärung auf eine weltpolitische Dimension zu projizieren. Sein ernstzunehmender Hinweis auf die Bedeutung von Erziehung – Menschen, die lesen könnten seien „weniger rassistisch, sexistisch, fremdenfeindlich, homophob und autoritär gesinnt“ – vernachlässigt indes, dass auch aufklärerische Ideale ein Land wie Deutschland nicht vor einer Diktatur haben schützen können. Seine Annahmen mögen im Allgemeinen stimmen, müssen aber im besonderen Fall einer Überprüfung unterzogen werden, um ihre Tragfähigkeit zu erweisen, vgl. Pinker: Enlightenment Now, 235. 147Ungern-Sternberg: „Schriftsteller und literarischer Markt“, 135. 148Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, 3. Aufl., München: C.H. Beck 2011, 155. 149Ebd., 158.

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so blieb das Mäzenatentum dennoch eine Ausnahme. Die marktwirtschaftliche Konkurrenzsituation wurde hingegen zur Regel, unter der die steigende Zahl an Schriftstellern und nun vermehrt auch Schriftstellerinnen zu leiden begann. „Mit der Nachfrage nahm auch das Angebot zu – die Zahl der Autoren wuchs ständig. Schon 1761 seufzte Rochus Friedrich Graf zu Lynar pikiert: ‚Wir leben überhaupt in einer Zeit, da […] fast alle Menschen von der Autor-Sucht angestecket sind. Vom Throne bis zur Schäfer-Hütte, wer nur die Feder halten kann, der schreibt Bücher‘.“150 Nach den mit Vorsicht zu deutenden Zahlen in Johann Georg Meusels Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller hat sich die Zahl der schreibenden Zunft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und in im folgenden Jahrzehnt etwa vervierfacht, wobei der Anteil der hauptberuflichen Autoren etwa bei einem Viertel gelegen haben dürfte. 1766 wies Meusel lediglich „3.000 Autoren nach. Aus ihnen wurden 1776 mehr denn 4.300, 1788 fast 6.200, 1795 etwa 8.000, und im Jahre 1806 war ihre Zahl auf rund 11.000 angestiegen“.151 Selbst Goethe, immerhin „der besthonorierte Autor seiner Zeit“, dem der Verleger Cotta allein etwa fünf Millionen Mark zukommen ließ, behielt ein zwiespältiges Verhältnis zum Buchhandel bei „und fürchtete sich […] sein Leben lang vor Geldmangel. Schillers Schwägerin spottete 1831: ‚Er hat den Schlüssel des Holzstalles unter seinem Kopfkissen und läßt das Brot ­abwiegen.‘“152 Zum neu entstehenden Literatursystem zählten neben Lesepublikum und Autoren nicht nur ganze Berufssparten und Institutionen: Bibliotheken und Archive, Verlage und Druckereien, Buchbindereien und Papierhandel, Zeitschriften und Ausstellungen, sondern auch der Stand des Kritikers, der sich dem neu geschaffenen Berufsfeld des Journalisten zurechnete. Seit 1848 war das Feuilleton zum festen Bestandteil von Tageszeitungen und sicherte dem Kultur-Journalisten Status und Einkommen. Die Professionalisierung der Kritik schuf indes zugleich die Voraussetzungen für die im 20. Jahrhundert allfällige „Kulturindustrie“, deren ideologischen Charakter Horkheimer und Adorno beschrieben haben, auch wenn „Kritik“ von Anfang an eine Funktion dieser Ideologie war. Denn „Kritik“ ist immer auch Marketing für jene Sache, die sie zum Gegenstand hat, und damit Inszenierung von Aufmerksamkeit, Interesse und Spektakel. Bei steigender Aufmerksamkeit wachsen die wirtschaftlichen Gewinne. Kritik an der Kritik befördert wiederum die Selbstregulierung des Marktes, zum einen, weil ihr eine Ventilfunktion zukommt, aber auch, weil sie Schwachstellen aufgezeigt und so wiederum zur Verbesserung des ökonomischen Wirkungsgrads beiträgt. Von Anfang an stand Kritik also in einem dialektischen Verhältnis zum Markt. Den frühen Kritikern im 18. Jahrhundert (Johann Christoph Gottsched, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, schließlich Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai) ging es noch um die Ausbildung des Geschmacks und darum, 150Ebd.,

159 f.

151Ebd.,

160. 184.

152Ebd.,

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intersubjektive Kriterien für ein wachsendes Publikum zu schaffen. Auf einem gefestigten Aufmerksamkeitsmarkt konnten sich dann Goethe, Johann Gottfried Herder und Johann Heinrich Merck Alleinstellungsmerkmalen widmen, die in die Genieästhetik eingebettet waren, um individuelle Besonderheiten von Schriftstellerinnen hervorzuheben. Als die Literaturkritik mit den Romantikern um Ludwig Tieck, Novalis, die Brüder Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm zur eigenständigen Profession wurde, zeichnete sich zugleich ihre Verschmelzung mit der Literatur ab. Die natürliche Distanz zum Gegenstand, den sie – wie das Wort „Kritik“ besagt – zu pflegen behauptete, ging verloren, feuilletonistische Kritik konnte ebenso als literaturspezifische Gattung verstanden werden wie jede andere Form der Literatur. Hatte Friedrich Schlegel in seinen Essays, etwa zur Poesie des Altertums, Standards für die Qualität kritischen Nachsinnens über Kunst und Literatur gesetzt, forderte er in seinem berühmten 116. Athenäums-Fragment die Verbindung von „Poesie und Prosa, Genialität und Kritik“ und sieht die zukünftige Dichtung „zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen oder idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben“.153 Damit nahm Schlegel die Abkehr vom ebenso vielsagenden wie nichtssagenden Begriff der Kritik vorweg, der im 20. Jahrhundert kaum mehr dazu in der Lage war, etwa neue performative, gattungsüberschreitende Kunstformen mit herkömmlichen analytischen Begriffen zu beschreiben. Die Liaison zwischen Literatur und Kritik beruhte auf Werten. Ist die Sprache, nach Nietzsches Dafürhalten, Träger von Werten, die dem kulturellen Gedächtnis und der Öffentlichkeit nicht bewusst sind, so wird Kritik immer nur von Wertannahmen ausgehen können, die in der Literatur bereits angelegt sind. Kritikerinnen werden je nach Präferenz etwa auf die Komplexität der Komposition, die Neigung zur Provokation, die Authentizität der beschriebenen Erfahrung (so künstlich sie auch sein mag), einen aufs bloße Wohlgefallen ausgerichteten Hedonismus, auf Symmetrie oder Innovationskraft achten. Ihre ideologischen Voraussetzungen werden sich Literaturkritiker und Philologinnen dabei nur so weit vor Augen führen können, wie sie sich über ihre eigenen Vorannahmen Rechenschaft zu leisten imstande sind. Deshalb müssen systematische Versuche, die Wertung der Literatur zu beschreiben, als fragwürdig erscheinen, wenn sie sich auf vorgeblich objektive Theorien berufen, die selbst nicht ohne Wertannahmen auskommen. Als Wissenschaft vom Werten kann etwa die Axiologie ihrem Gegenstand kaum Genüge tun. Als Teil der analytischen Philosophie verdankt sie sich der Analyse sprachlicher Instrumentarien, die der Betrachtung eines Untersuchungsobjekts vorausgehen, und ordnet den sogenannten axiologischen Werten, also vorherrschenden Wertvorstellungen wie etwa „Familie“, „Emanzipation“ oder „Freiheit“, attributive Werte zu – Urteile, die den axiologischen Wert in einer binären Gegenüberstellung abbilden: gut/schlecht, schön/hässlich, fremd/bekannt. Axiologie erweckt

153Schlegel:

[Nr. 116].

Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd.  2, 182

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daher den Eindruck, als sei sie von Wertvorstellungen frei, weil sie sich der Analyse sprachlicher Wertformen verschrieben hat, den Erkenntnisbedingungen also, die zum Verstehen von sprachlichen Äußerungen führen. Ihr geht es hingegen nicht um die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Auffassungen oder die durch historische Verschiebung hervorgerufenen Verständnismöglichkeiten. Sie kann zudem die Erkenntnisbedingungen von Texten selbst nicht anders als durch Sprache zum Ausdruck bringen. Dass der „Terminus ‚axiologischer Wert‘ […] keine Konnotationen mit sich“ führe, „die ihn in der einen oder andern Richtung festlegen“, ist daher eine idealistische Annahme, die dazu dient, Kritik an der Methode von vornherein auszuschließen.154 So liegt der Axiologie etwa der Wert der „Wertfreiheit“ zugrunde, die dem sprachlichen Ausdruck vorausgeht. Die formale Sprache der analytischen Philosophie greift wiederum auf die Prinzipien der Ökonomie zurück, indem sie Effizienz, Vernunft und Objektivität zum Maßstab nimmt – die Bedingungen eines idealen Marktes, der von gleichberechtigten Teilnehmern, fairer Verteilung der Güter und der Selbstbeobachtung als Form der ökonomischen Askese ausgeht. Die Axiologie ist nichts weniger als ein Resultat der vom ökonomischen Liberalismus getragenen Wertphilosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ihre logische Methode imitiert die quantitativen Abstraktionsmechanismen des Marktes. Mit dem Liberalismus entstand in der Tat ein neuer Markt für Ideen, die verkauft werden wollten. Geistiges Eigentum galt seit Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals als schützenswertes Gut, auf das Individuen ihre Existenz gründeten. Die Infrastruktur hierfür schufen Politik und Jurisprudenz im Dienst der Ökonomie. Zwar ließ sich vom Schreiben allein oft nicht leben, doch brachten die neuen Möglichkeiten, Erdachtes und Formuliertes gegen Geld einzutauschen, eine Vielfalt an Berufen hervor, die an die Schaffung von Texten gebunden waren. Die Zahl der Autorinnen und derjenigen, die in der Produktion von Texten die Grundlage ihres Einkommens sahen, stieg stetig. Zu keiner Zeit gab es mehr Schriftstellerinnen und Journalisten als heute, nie zuvor wurden mehr Bücher veröffentlicht. Der Abhängigkeit von den Marktbedingungen waren sich schon die Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts bewusst und gestalteten ihren Widerstand in dem bald zur Formel erstarrten Gegensatz von Geist und Geld, Kapital und Kultur, Bildung und Ökonomie. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)155 – später vor allem der zweite Teil seiner postum 1832 veröffentlichten Tragödie Faust –, und die vielen Texte der Romantik, darunter Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert

154Renate

von Heydebrand und Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, Paderborn u. a.: Schöningh 1996, 41. Eine Übersicht zur Wertung von Literatur gibt Renate von Heydebrand: Art. „Wertung, literarische“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 4, hg. von Klaus Kanzog und Achim Masser, 2. Aufl., Berlin und New York: de Gruyter 1984, 828–871. 155Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. Franziska Schößler: Goethes „Lehr“- und „Wanderjahre“. Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen: Francke 2002.

Kritik als literarische Wertung

345

(1797), Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (postum 1802),156 Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814), E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) und Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) thematisieren alle auf die eine oder andere Weise den Gegensatz von Handel treibendem Bürgertum und kreativem, unangepasstem Künstler, erzählen von der Gefahr, die eigene Seele zu verkaufen, zum Schatten seiner selbst oder zum entfremdeten Subjekt zu werden.157 Wer die Dichtung als „Erwerbszweig“ ansehe, heißt es stellvertretend in Clemens Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817), solle sich schämen, denn „einer der von der Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren“.158 Die Reihe der Bücher, in denen Geld eine Rolle spielt und im Widerspruch zum kreativen Außenseiter oder zum Allgemeinwohl steht, lässt sich ohne Mühe fortsetzen, etwa mit den sozialkritischen Texten der Jungdeutschen (Ludwig Börne, Karl Gutzkow und Heinrich Heine, aber auch Georg Büchner), mit Anette von Droste-Hülshoffs Erzählung Die Judenbuche (1842), Jeremias Gotthelfs Roman Geld und Geist (1843/44), Adalbert Stifters Der arme Wohltäter (1848, 1853 unter dem Titel Kalkstein in der Sammlung Bunte Steine erschienen), Gustav Freytags Soll und Haben (1855), Gottfried Kellers Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856–1875), Gerhard Hauptmanns Die Weber(1892) oder Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896).159 Obwohl Literatur in einem Gegensatz zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung gesehen wurde, ist sie auf den Markt angewiesen. Ohne ihn entbehrte Literatur ihrer Grundlage: „Die symbolische Revolution, mit der sich die Künstler von der bürgerlichen Nachfrage lösen, indem sie keinen anderen Herrn und Meister anerkennen wollen als ihre Kunst, bringt den Markt zum Verschwinden. Denn sie können im Kampf um die Kontrolle über den Sinn und die Funktion künstlerischer Tätigkeiten über den ‚Bourgeois‘ nicht triumphieren, ohne ihn zugleich als potentiellen Kunden abzuschaffen.“160 Ist Kritik eine Funktion des Marktes, die zur Selbstkorrektur und Steuerung dient, so übernimmt sie zugleich die spirituellen Anteile, die der profane Markt mit religiösen Glaubensvorstellungen teilt. Dass der Literatur ein ästhetischer Mehrwert zukommt, der sie über das herkömmliche Denken und Sprechen hinaushebt, weil sie vorgeprägte Weltanschauungen und Wertvorstellungen verändert, kennzeichnet sie als

156Vgl. hierzu Reinhard Saller: Schöne Ökonomie. Die poetische Reflexion der Ökonomie in frühromantischer Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 157Zum symbolischen Kapitalismus der Literatur um die „Sattelzeit“ vgl. Gray: Money Matters. 158Clemens Brentano: „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“, in: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe [Frankfurter Brentano-Ausgabe], bislang 28 Bde., hg. von Jürgen Behrens u. a., Stuttgart: Kohlhammer 1975–2018, Bd. 19, Erzählungen, hg. von Gerhard Kluge, Stuttgart: Kohlhammer 1987, 399–439, hier 410. 159Hinweise finden sich bei Stefan Niehaus: „Soll und Haben. Literarisches und ökonomisches Feld im 19. Jahrhundert“, in: Literatur und Ökonomie, hg. von Sieglinde Klettenhammer, Innsbruck u. a.: Studienverlag 2010, 90–109, vor allem aber bei Bauer: Ökonomische Menschen. 160Bourdieu: Die Regeln der Kunst, 134.

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8  Geschmackssache: Widersprüche ästhetischer Wertung

t­ranszendentale Kommunikationsform. Die Signifikanten ihrer avanciertesten Werke verweisen nicht auf Dinge der realen Welt und sind dennoch von ihr berührt, sie verwenden Sprache, die uns aus dem täglichen Gebrauch bekannt ist und sie dennoch verfremden, sie negieren Sinn, während sie ihn im Kontext des Werks erst erzeugen, sie weisen Konventionen zurück, doch lediglich, um neue zu prägen: „Der Umgang mit Kunst und Literatur befriedigt ein Sinnbedürfnis im Zustand der Freiheit von Sinnansprüchen. Wir können eine Überwältigung erfahren, ohne eine Autorität anerkennen zu müssen. Fiktiver Sinn verschafft dem Aufgeklärten einen Mythos, dem Atheisten eine Religion, dem Skeptiker eine Metaphysik, für die sie nicht einstehen müssen. Im Kunstwerk stellt sich ein Absolutum dar, das sich durch andere Absoluta relativieren läßt.“161 Das unterscheidet den Genuss von Kunst und Literatur von anderen Erfahrungen, denen wir zwar eine ästhetische Wirkung zugestehen, jedoch keine transzen­ dentale, keine Erweiterung unseres Ichs, keine dauerhafte Veränderung, die wir an unserem Denken und Verhalten wahrnehmen können. Denn die Erfahrung von Kunst und die Lektüre von Literatur stellt, nach Šklovskijs Auffassung, „das Empfinden des Lebens“ wieder her. Erst durch die ästhetische „Verfremdung“ der Dinge, steigern wir unsere „Wahrnehmung“, sind mit uns selbst und dem „wahren“ Leben verbunden.162 Der sich für schlüssig und vernünftig, objektiv und säkular gebende Kapitalismus greift bis heute auf metaphysische Annahmen zurück.163 Seine Wertvorstellungen reichen bis in die Strukturen der logischen Sprache hinein, die nur ein Abbild seiner Glaubensdogmen ist. Darum lassen sich seine Rechtfertigungsversuche als „Oikodizee“ verstehen,164 als Versuche, sein verdinglichendes, quantifizierendes Maß als beabsichtigt, ja notwendig darzustellen. Kunst und Literatur dienen hier nicht nur kompensatorischen Zwecken, indem sie ein Sinnvakuum füllen. Die Gestalt des Textes oder die Komposition des Bildes „entschädigen“ für die Bodenlosigkeit, die wir durch die Zirkulation der Waren alltäglich erfahren, für die Entpersönlichung des Menschen, die Verdinglichung unserer Existenz. Sie sind „Kompensation“, Ausgleichszahlungen also, für Erlittenes und Erfahrenes. Verweisen Zeichen letztlich auf sich selbst, so führen sie immer auch auf unsere Imaginationskraft zurück, unsere innere Welt, in der wir uns bewegen und aufgehoben fühlen. Im Moment der ästhetischen Erfahrung sind wir dem Zwang enthoben, uns des Geldes als einer Werteinheit zu erinnern, die mit den Zeichen der Kunst konkurriert. Auch wenn die quantitative von der qualitativen Wertung der Literatur nicht zu trennen ist, sind die Zeichen, deren sich die literarische Sprache verdankt, „Werteinheiten“, durch die sich nicht zuletzt Ökonomie und Religion, Philosophie und Ästhetik miteinander verbinden lassen. Wir aber geben den Zeichen der Kunst und Literatur jene Bedeutung, die ihnen unserer Ansicht nach auf dem Marktplatz der Ideen zukommt.

161Schlaffer:

Poesie und Wissen, 141. „Kunst als Verfahren“, 15 (siehe oben, Anfang des Kapitels). 163Norbert Bolz spricht davon, dass der Liberalismus wieder zur „Metaphysik des Westens“ werden könne, sofern er sich „in Richtung größerer Komplexitätsempfindlichkeit“ neu erfinde, „Agenda Freiheit“, in: Merkur 736/737, September/Oktober 2010, 884–892, hier 892. 164Vogl: Das Gespenst des Kapitalismus, 29. 162Šklovskij:

9

Abrechnung folgt

Was ein Menschenleben wert ist Mit der Sezession der Konföderierten Staaten, die sich nach Abraham Lincolns Wahl im Februar 1860 schrittweise für unabhängig erklärte und sich im April 1861 eine eigene provisorische Verfassung gegeben hatten, drohte die wichtigste Ein­ kommensquelle des Südens an Wert zu verlieren: der versklavte Mensch. Am 22. August 1863 berichtete die New York Times über aktuelle Marktpreise für Sklaven. Im Durchschnitt waren 2500 Dollar in der Währung des Südens zu entrichten, die kurz vor Ausbruch des Krieges eingeführt worden war, ohne gedeckt zu sein und allein auf dem Versprechen beruhte, den Bürgerkrieg zu gewinnen.1 Gegen Ende des Krieges am 9. Mai 1865 entsprach ein Südstaaten-Dollar lediglich noch sechs Cents in der Währung des Nordens.2 Im Schnitt aller US-Staaten lag der Marktwert der rund vier Millionen, überwiegend aus Afrika stammenden Sklaven in den 1860er Jahren bei etwa 800 US$, bemessen nach der bald allgemein gültigen Nordstaaten-Währung.3 Der Wert, den diese Sklaven nach Abzug für Anschaffung und

1O.A.:

„Market Price of Slaves“, in: The New York Times, 22. August 1863, http://www.timesmachine.nytimes.com/timesmachine/1863/08/22/80291417.html?action=click&contentCollection=Archives&module=LedeAsset®ion=ArchiveBody&pgtype=article&pageNumber=4 (3. Dezember 2018). 2Henry Charles Carey: The Slave Trade, Domestic and Foreign. Why It Exists and How It May Be Extinguished, Faksimlie der Ausgabe von 1853, New York: Augustus M. Kelley 1967. Carey stellte erstmals verlässliche Zahlen aus Zeitungsanzeigen und -berichten zusammen, wobei zu bedenken gilt, dass auch hier der Preis meist in Südstaaten-Dollar angesetzt werden muss, wie etwa in einem Bericht aus South Carolina, aus dem Carey zitiert: „Two or three families averaged from $1000 to $1100 for each individual […]“ (115). Abraham Lincoln hatte am 1. Januar 1863 die Eman­ cipation Proclamation unterzeichnet, derzufolge Sklaven zu befreien waren. In der Folge gab nicht nur die Währung in den Konföderierten Staaten nach, sondern auch der Preis für Sklaven. 3Samuel H. Williamson und Louis Cain: „Measuring Slavery in 2016 Dollars“, in: Measuring Worth (2018), http://www.measuringworth.com/slavery.php (3. Dezember 2018). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6_9

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9  Abrechnung folgt

Lebenshaltungskosten erwirtschaftet haben, lässt den Kaufpreis lächerlich gering erscheinen. Unter Berücksichtigung der Inflationsraten und der durch Ausbeutung erzielten Gewinnmargen müssen wir von etwa 2,6 Mio. US$ pro Person ausgehen.4 Würden wir den damaligen auf den heutigen Wert übertragen, errechnet sich die ungeheure Summe von 13 Billionen US$, die Sklaven zur Gesamtwirtschaft der Vereinigten Staaten beigetragen haben.5 Die Auswirkungen vergangenen Unrechts sind immer noch deutlich zu spüren, denn Kapital vererbt sich ebenso wie Armut und Ausbeutung. Die Geschichte der Wall Street, dem Zentrum des New Yorker Finanzbezirks, von wo aus heute die New Yorker Börse die wirtschaftlichen Geschicke der Welt lenkt, begann mit einem unrühmlichen Kapitel von Unterdrückung und Rassismus. Im Jahr 1711 wurde die einstige Palisadenwand, die den Einwohnern Neu-Amsterdams Schutz vor der indigenen Bevölkerung gab – daher der Straßenname –, zum Handelsplatz für Sklaven, die dort über mehrere Jahrzehnte verkauft wurden. Die Stadt profitierte vom Menschenhandel, denn für jeden Sklaven fielen Steuern an. Der Sklavenmarkt war also in gewisser Weise der Geburtsort des Finanzkapitalismus.6 Wer zu den Nachfahren der Ausgebeuteten zählte, sieht sich auch heute noch häufig am unteren Ende der Einkommensskala. Während der Reichtum weißer Amerikaner um ein Vielfaches gestiegen ist, sind die Wertzuwächse der Vermögen von African Americans überschaubar geblieben. Allein seit Mitte der 1980er Jahre bis zum Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 ist der Besitz weißer Amerikaner im Durchschnitt von 90.851 auf 300.000 US$ gestiegen, während sich Schwarze im gleichen Zeitraum mit weniger als 50.000 US$ zu begnügen hatten und sich bei nur 28.500 US$ nach der Krise wiederfanden. Vom Zusammenbruch der Märkte waren gerade die Ärmsten am stärksten betroffen, weil ihnen in vielen Fällen unseriöse Kredite, sogenannte Subprime Loans, zur Anschaffung ohnehin meist recht bescheidener Immobilien angeboten worden waren – ein Beispiel für diskriminierende Praktiken, die mit der Geschichte der Sklaverei keineswegs endeten und bis heute anhalten.7 Die Gewinne der früheren Sklavenhalter flossen überwiegend in den Erwerb von Grund und Boden, in Immobilien und Aktien. Schon ein Jahr nach Lincolns Tod machten seine Gegner im Parlament die

4Ebd. 5Ebd. 6Zur

Geschichte der Wall Street vgl. das von der Columbia University gemeinsam mit dem Bankhaus J.P. Morgan Chase ins Leben gerufene Projekt Mapping the African American Past (MAAP), das auch über die frühen und in der einschlägigen Literatur meist unterschlagenen Kapitel der Geschichte des weltgrößten Finanzumschlagplatzes Auskunft gibt: http://www.maap. columbia.edu/place/22.html (3. Dezember 2018). 7Vgl. hierzu z. B. Melvin L. Oliver und Thomas M. Shapiro: Black Wealth/White Wealth. A New Perspective on Racial Inequality, 10. Aufl., New York und London: Routledge 2006, 217–219. Die Autoren haben auf die Vergabe toxischer Subprime Loans lange vor der Finanzkrise hingewiesen, die auf der Bündelung und dem Verkauf dieser Kredite sowie überzogenen Spekulationen an der Wall Street zurückzuführen ist.

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e­ ingeleiteten Bodenreformen wieder rückgängig. Schwarze sahen sich bis weit in die 1960er Jahre vom Immobilienmarkt ausgeschlossen. Diskriminierung war auf dem Arbeitsmarkt ebenso zu spüren wie in der Steuergesetzgebung. Eine Akkumulation von Kapital war unter diesen Bedingungen nicht möglich und wird es auf absehbare Zeit nicht sein.8 Die seit den 1950er Jahren bestehende Diskussion um Reparationszahlungen ist ebenso gerechtfertigt wie problematisch, denn es stellt sich nicht nur die Frage, wer in welcher Form und Höhe entschädigt werden soll, sondern auch in grundsätzlicher Weise danach, was ein Menschenleben wert ist.9 In Deutschland kennen wir ähnliche Diskussionen über den Wert eines Menschenlebens. Am 29. Juni 1956 hatte der Bundestag rückwirkend zum 1. Oktober 1953 das „Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ verabschiedet. Der vielversprechende Titel des Gesetzes war Teil einer Wiedergutmachungskampagne. Dem Wille zu Aussöhnung auf finanzieller und rechtlicher Ebene waren indes von vornherein Grenzen gesetzt. Zahlungen beschränkten sich auf Personen, die während der Verbrechen auf dem Gebiet der Bundesrepublik und in West-Berlin gelebt und „aus politischer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen Schäden erlitten hatten“.10 Ausgeschlossen waren zunächst alle im Ausland lebenden Menschen, zudem Sinti und Roma, Homosexuelle und „Asoziale“ (Obdachlose). Die Antragsfrist endete bereits am 1. Oktober 1957, daher war die Anzahl der Anträge gering. Erst in den darauffolgenden Jahren schloss die westdeutsche Regierung mit vielen Ländern Einzelabkommen ab, die sich auf moderate 981 Millionen Mark beliefen.11 Eine Ausnahme bildete der Staat Israel, der gemeinsam mit der Jewish Claims Conference in New York Entschädigungsansprüche für das durch die Judenverfolgung erlittene Leid, für Sklavenarbeit und den Raub von jüdischem Eigentum gestellt hatte. Im Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland auf die Zahlung von 3,5 Mrd. Mark, ein Betrag, der sich im Schnitt auf 583 Mark pro Person beziffern ließe, wenn wir ihn auf die rund sechs Millionen ermordeten Juden umrechnen ­würden.

8„African Americans cannot earn themselves out of the racial wealth gap. The huge racial wealth gap is a historical legacy that the past continually visits on current generations. But it is more than an obdurate past. The racial wealth gap also results from significant and continuing government policies and discrimination that result in residential and school segregation“, Thomas M. Shapiro und Jessica L. Kenty Drane: „The Racial Wealth Gap“, in: African Americans in the U.S. Economy, hg. von Cecilia A. Conrad u. a., Lanham u. a.: Rowman & Littlefield 2005, 175–181, hier 179. 9Sklaverei ist leider auch heute noch üblich, z. B. in modernen Formen des Menschenhandels: Sexsklavinnen, Kindersoldaten, Prostituierte, Haushaltskräfte, Billiglohnarbeiter – in den meisten Fällen sind Frauen betroffen. 10Bundesministerium der Finanzen: „Entschädigung von NS-Unrecht. Regelungen zur Wiedergutmachung“, November 2012, 5, http://www.ghwk.de/fileadmin/user_upload/pdf-wannsee/ downloads/entschaedigung_ns-unrecht.pdf (3. Dezember 2018). 11Ebd., 36.

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9  Abrechnung folgt

Berücksichtigen wir die Hinterbliebenen und Überlebenden, dann verringert sich der Betrag deutlich. Angesichts des von den Nationalsozialisten ins Ausland verbrachten Geldes und des meist in der Schweiz in Banktresoren und auf Konten lagernden Besitzes der Ermordeten, aber auch der vielen geraubten Kunstschätze, die sich in privater Hand, in den Eingangshallen und Vorstandsetagen von Konzernen sowie in zahlreichen Museen befinden, liegt der Schluss nah, dass Staat, Unternehmen und Institutionen bis in die Gegenwart hinein von den Verbrechen der Vergangenheit profitieren. Daran ändert auch die im Jahr 2011 auf 69 Mrd. EUR angewachsene Summe nichts, die Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt an Opfer und die sie vertretenden Einrichtungen an Reparationen und Entschädigungen gezahlt hat.12 Auf bisweilen unerträgliche und schmerzhafte Weise hängen ethische und ökonomische Werte miteinander zusammen, wenn menschlichem Leben ein monetärer Schätzwert zugeordnet wird. Ethische Erwägungen erscheinen dann als fragwürdig, ökonomische als irrational. Wir kennen viele Fälle von Reparationsansprüchen neben denjenigen der Nachfahren von Sklaven oder den Opfern des Nationalsozialismus, z. B. diejenigen der einheimischen Völker Nordamerikas, von einstigen Kolonialstaaten, aber auch von Opfern von durch Menschen verursachte Umweltkatastrophen wie derjenigen von Bhopal in Indien am 3. Dezember 1984. Damals waren Chemikalien zur Herstellung des Pestizids Sevin in Form einer Gaswolke in die Außenwelt gelangt und kosteten bis zu 25.000 Menschen das Leben. Weitere 500.000 Menschen wurden verletzt. Viele der Überlebenden leiden bis heute unter den Folgen der erlittenen Verätzungen, ohne dass sie vom Mehrheitseigner Union Carbide Corporations – heute ein Teil von Dow Chemistry – angemessen entschädigt worden wären. Neben derartigen Katastrophen bilden auch Kriege einen Einschnitt im Leben vieler Menschen, der sich nur schwer in Geld aufrechnen lässt. Ist der Krieg eine Krisensituation, in der ganze Nationen unter den Folgen zu leiden haben, sind es letztlich Individuen, die die Kosten tragen. Neben handfesten materiellen Interessen stehen dabei oft rassistische Beweggründe im Vordergrund. Menschenleben sind, nach Didier Fassin, die Opfer einer „neuen moralischen Ökonomie“,13 die den Begriff der „Humanität“ zwar zur Handlungsmaxime erklärt, jedoch inhumane Resultate hervorbringt. Unter dem Vorwand des Eingriffs in politische Konflikte aus „humanitären Gründen“ sei heute der Verlust an Menschenleben weitaus höher als die Zahl der Geretteten. So hatten etwa ein Jahr nach dem Beginn des Zweiten Irakkriegs im Oktober 2004 die Befreier rund 1000 Opfer zu beklagen, die Befreiten hingegen etwa 100.000. Zwei Jahre später waren es unter den alliierten Truppen 2925, unter der irakischen Bevölkerung aber bereits 655.000, wovon zwei Drittel allein auf gewaltsame und nicht selten aus dem Ruder geratene Operationen der Alliierten zurückzuführen waren. Das Leben eines einzigen Soldaten könne, so Fassin, also gegen

12Ebd.,

29. Fassin: Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley: University of California Press, 2011, 7.

13Didier

Was ein Menschenleben wert ist

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mehr als 200 Einwohner aufgewogen werden.14 An die Hinterbliebenen eines umgekommenen Soldaten im Zweiten Irakkrieg zahlte der amerikanische Staat 400.000 US$, jedoch nur 2500 US$ an die Hinterbliebenen von zivilen Opfern in der irakischen Bevölkerung, also einen um das 160-fache niedrigeren Betrag.15 Von nicht geringem Einfluss für die geopolitische Ausgangslage zu Beginn des neuen Jahrtausends war der unter dem Namen „Enduring Freedom“ durch alliierte Nato-Einheiten gegen die einheimischen Taliban und al-Qaida geführte Krieg in Afghanistan (2001–2014). Auslöser für den Krieg waren die Terroranschläge von al-Qaida auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Arlington, Virginia. Bei den Anschlägen kamen insgesamt 2996 Menschen ums Leben, über 6000 wurden verletzt. Schon wenige Tage nach den Anschlägen beschloss der amerikanische Kongress die Einrichtung des „Victim Compensation Funds“, der an die noch lebenden Opfer sowie die vom Tod ihrer Angehörigen betroffenen Menschen eine Summe von insgesamt über sieben Milliarden Dollar auszahlen würde. Die Berechnung der Summe, die Prüfung von Ansprüchen und den rechtmäßigen Ablauf der Auszahlung vertraute der damalige Generalstaatsanwalt John Ashcroft einem langjährigen Veteranen in Reparations- und Kompensationsfällen, Kenneth R. Feinberg, an. Feinberg suchte nach einer Formel, die den Unterschied zwischen reichen und weniger reichen Familien beheben würde – eine Formel, die dem Menschenleben an sich und nicht allein dem ökonomischen Einkommensäquivalent des Verstorbenen oder Verwundeten gerecht würde. Er ging dabei von einem Grundbetrag von 250.000 US$ pro Person aus. Er habe diese Summe aufgrund der üblichen Kompensationshöhe an Polizisten und Feuerwehrleute errechnet, aber auch Versicherungszahlungen an Soldaten berücksichtigt, die im Einsatz umgekommen seien.16 Nicht allen wollte sein Vorgehen gefallen und Feinberg musste schließlich eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen, die das Humankapital der Betroffenen und Geschädigten entsprechend berücksichtigte.

14Ebd.,

235. 235. Rassistische Unterschiede erkennen wir z. B. an der Praxis, Menschen an unseren Grenzen zurückzuweisen – ob sie nun Asylsuchende oder Migranten aus ökonomischen Gründen sind. Berechtigte ethische Einwände bestehen dann, wenn wir danach fragen, ob unser eigenes „europäisches“ oder „deutsches Leben“ mehr wert ist als das eines Menschen aus einem anderen Land. Um Menschen anderer nationaler Zugehörigkeit von uns fern zu halten, investieren wir in Zäune und Mauern, Asylzentren und korrupte Regime, die Migranten aufzunehmen versprechen. Rechneten wir die Kosten, die der Staat in die Undurchlässigkeit seiner Grenzen investiert, auf die Menge an Einreisewilligen um, kämen wir sicher auf einen bedeutenden Betrag, den wir dafür zahlen, damit schutz-, hilfe- und glückssuchende Nicht-Europäer fernbleiben. Eine solche Rechnung wurde meines Wissens bislang nicht erstellt. 16Kenneth R. Feinberg: What Is Life Worth? The Unprecedented Effort to Compensate the Victims of 9/11, New York: Public Affairs 2005, 76: „I’d picked the $250,000 number because of precedents in long-established federal law governing death benefit payments to police officers and firefighters, as well as subsidized life insurance payments made to survivors of the military personnel killed in action. Despite the conflicting claims from various family groups, I decided to stick to the one-size-fits-all approach to noneconomic loss in the final regulations.“ 15Ebd.,

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9  Abrechnung folgt

Je größer die Verdienstausfälle, desto höher waren die Auszahlungen, sodass die errechnete Mindestsumme schließlich nur denjenigen Angehörigen erstattet wurde, die einen Menschen ohne Papiere und Nachweis des Berufsstands zu betrauern hatten, während die Auszahlungen ansonsten je nach beruflicher Qualifikation in ihrer Höhe beträchtlich schwankten. Angehörigen von Managerinnen gestand Feinberg je nach vorher bezogenem Gehalt eine höhere Summe zu als einem ungelernten Arbeiter. So erhielten die Hinterbliebenen von acht Opfern mit einem jährlichen Einkommen von mehr als vier Millionen Dollar jeweils eine Entschädigung von 6.379.288 US$, während den Angehörigen der größten Gruppe der Verstorbenen – insgesamt 1591 Personen – eine Summe von jeweils etwas mehr als 1,5 Mio. US$ zugesprochen wurde.17 Am Ende stellt Feinberg sein rechnerisches Modell infrage und würde es als Fallbeispiel für ähnliche Situationen verstanden wissen ­wollen. Unweigerlich sei zu fragen, ob nicht alle Opfer des Terrorismus finanziell auf ­gleiche Weise entschädigt werden müssten, ebenso diejenigen, die bei Flutkatastrophen und Erdbeben oder bei Unfällen mit Fahrerflucht stürben. Und sei nicht, fragt Feinstein, derjenige „ein wahrer Held, der sein Leben gibt, um andere zu retten“? Sei Kompensation von staatlicher Seite auch nicht in einem solchen Fall ­gerechtfertigt?18 Dass Kosten-Nutzen-Analysen des Lebens zu gefühlskalten Berechnungen unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten führen, scheint Ökonomen nicht sonde­rlich zu stören. Schließlich hätten, hört man gelegentlich, derartige Berechnungen erst dazu geführt, dass der Staat Steuergelder der Verbesserung von Hygienezuständen zur Verfügung gestellt habe, weil die Arbeitsausfälle etwa durch die an der C ­ holera Verstorbenen Unternehmen und Staat gleichermaßen Verluste gebracht hätten. Letzten Endes sind es ökonomische Argumente, die als ethische ausgegeben werden, wenn es um die „wertmäßige Quantifizierung der Belegschaft“ geht:19 „Verschärfter Wettbewerbsdruck und der Zwang zur absoluten Effizienzorientierung stellen die Überlebenschancen vieler Unternehmen infrage – und bedrohen in der logischen Konsequenz auch die berufliche Existenz der einzelnen Mitarbeiter.“20 Doch selbst unter gewöhnlichen Umständen birgt das Rechenmodell des Lebens, wie schon der Statistiker Ernst Engel Ende des 19. Jahrhunderts wusste, Widersprüche in sich, die sich kaum durch Zahlen auflösen lassen. Wohl könnten wir auf den Menschen „Kostenwerth“ und „Ertragswerth“ veranschlagen,21 wenn wir

17Ebd.,

194 (Appendix). 178: „Why not provide all victims of terrorism, as well as those who die in floods, earthquakes, or hit-and-run accidents, similar compensation? They too are innocent victims of the unforeseen. And what about the true hero who dies in an effort to save others? Isn’t public compensation justified in such a case?“ 19Christian Scholz u. a.: Human Capital Management. Raus aus der Unverbindlichkeit!, 3., aktualisierte Aufl., Köln: Luchterhand 2011, 18. 20Ebd., 20. 21Ernst Engel: Der Werth des Menschen, 1. Teil, Der Kostenwhert des Menschen, Berlin: Simion 1883, 6. 18Ebd.,

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den statistischen, in einer Geldsumme gefassten Wert eines Menschen berechnen würden, doch sei es unmöglich, den „ethischen Werth“ in diese Rechnung einzubeziehen: „Allein es wäre nicht blos eine grenzenlose Vermessenheit, sondern Wahnsinn, Berechnungen darüber anstellen zu wollen, was wohl der Verstand eines Newton oder Leibnitz, die Fantasie eines Raphael, Mozart oder Schiller, der Charakter eines Benjamin Franklin oder Freiherr von Stein werth sei, von lebenden Größen ganz zu schweigen. Keine Vermessenheit aber ist es, zu behaupten, daß diese Geistesheroen ganz ebenso, wie andere mehr oder minder berühmte Menschen, ihren Eltern gleichfalls einen bestimmten Erziehungs- und Bildungsaufwand verursacht haben, der diesen zuweilen wohl auch etwas prosaisch vorgekommen sein dürfte. Der Kostenwerth jener Heroen ist demnach etwas sehr Reales.“22 Dass „Geistesheroen“ ein höherer, nicht zu beziffernder „Ertragswerth“ zukomme, sagt viel über die Wertzuschreibungen des 19. Jahrhunderts aus, einer Zeit also, in der das Leben von Kulturschaffenden höher geachtet worden zu sein scheint als dasjenige anderer Menschen. Seines ethischen Konflikts ungeachtet, geht Engel in seinen Analysen von „Durchschnittswerten“ aus. Für die preußische Bevölkerung, die Engel zu seiner Zeit auf 16,7 Mio. Menschen schätzte,23 käme ein volkswirtschaftlicher, nach kompliziertem Verfahren anhand von Steueraufkommen, Eigentumsverhältnissen und Arbeitsleistung bemessener Wert von „über 136 Milliarden Mark“.24 Der Wert jeder einzelnen in Preußen lebenden Person um 1880 läge demnach bei etwa 8144 Mark. Für Lebensversicherer ist der Tod eine sichere Anlage. Private Lebensversicherungen sind ein Phänomen des Liberalismus und fallen mit seiner Entstehung zusammen. Die ersten Versicherungsverträge wurden in England unterzeichnet, wo 1762 die in London ansässige Society for Equitable Assurances on Lives and Survivorships Policen nach modernem Muster anbot.25 Begleitet wurde die Gründung solcher Versicherungsgesellschaften von Wettanbietern, bei denen Wetten auf das Sterbedatum eines Menschen abgeschlossen werden konnten. Was damals bald verboten wurde, ist heute an der Börse gang und gäbe. Einsätze etwa auf die Höhe von Auszahlungen, die eine Versicherung zu leisten hat, gehören ebenso zum Geschäft wie Wetten auf das Sterbejahr von Policen-Inhabern. Broker können entweder in die Unter- oder die Überschreitung eines bestimmten Betrags oder Jahres investieren und entsprechende Gewinne für sich verbuchen. Gab es einerseits

22Ebd.,

78. ebd., 16 (Tabelle). 24Ebd., 20. 25In Deutschland gründete Ernst-Wilhelm Arnoldi 1827 die erste deutsche Lebensversicherung, die Gothaer Lebensversicherungsbank. Zur Geschichte der Lebensversicherung vgl. Heinrich Braunc: Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversicherungstechnik, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1963 [erstmals 1925]. Der Forschungsstand zu diesem Thema ist dürftig und auch zu anderen Versicherungsarten gibt es bislang nur eine geringe Zahl an historischen Studien. 23Vgl.

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Widerstände gegen die Idee des finanziell abgesicherten Lebensverlusts vonseiten der Kirchen – denn das Leben gehöre einer höheren Instanz und lasse sich nicht in Geldwerten ausdrücken –, waren es häufig gerade religiöse Gemeinschaften, die ein Versicherungsmodell hervorbrachten, um im Sterbefall für arme Angehörige die Last der Bestattungskosten zu mindern. Im Grunde versichern wir nicht unser Leben, sondern das unserer Hinterbliebenen, für die gesorgt sein soll. Wissen wir unsere Familie „in Sicherheit“, lässt sich leichter sterben und einstweilen in Ruhe weiterleben. Um in den Genuss dieses „Vorruhestandes“ zu gelangen, zahlen wir unser Leben in monatlichen Raten ab, die – zumindest aus finanzwirtschaftlicher Sicht – langfristige Geldanlagen sind, vor allem für Versicherungsgesellschaften, die das eingezahlte Geld investieren und entsprechende Profite erzielen können. Den Angehörigen bleibt dagegen nur ein Bruchteil der erwirtschafteten Summe. Viele Menschen begegnen Schadensgutachtern daher mit Misstrauen. Ob Franz Kafka dieses Misstrauen verdient gehabt hätte? Kafka war zwischen 1908 und 1922 in der halbstaatlichen Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag mit der Prüfung von Versicherungsfällen betraut. Zu seinen Aufgaben zählte, Betriebe in Gefahrenklassen zu unterteilen, den Produktionsablauf nach den für Arbeiter möglichen Unfallursachen zu beurteilen und den Wert der Versicherungsbeiträge aufgrund von Zahlungen zu bemessen, die etwa aus Verletzungen von Gliedmaßen oder durch Todesfälle entstehen konnten. Von der Tendenz des Kapitalismus, auch noch kleinste Einzelheiten des Daseins in Geldwerten zu bemessen und als Ware zu erachten, ist der menschliche Körper nicht ausgenommen. Der Wert des Lebens errechnet sich, anders als bei Lebensversicherungen, die vom Ableben des Körperganzen ausgehen, mitunter schlichtweg aus der Summe der Körperteile, die zu Schaden kommen können. Wenn Versicherungen den Anspruch der Versicherungsnehmer nicht anerkennen, entscheiden Gerichte über die zu zahlende Höhe des Schadenersatzes. Aus solchen und anderen Entschädigungszahlungen, die in den letzten Jahren an Leidtragende und Familien etwa in Deutschland und Österreich ausgezahlt worden sind, haben Wissenschaftler eine genaue Summe errechnet, die den heutigen westeuropäischen Standard umreißt: „Der Wert des Lebens beträgt demnach im Durchschnitt etwa 1,7 Mio. Euro.“26 Frauen sind dabei deutlich weniger wert, denn in die Berechnung gehen zukünftig zu erwartende, wegen des Schadens indes geminderte Einkommensverhältnisse ein. Ökonominnen sprechen vom Wert eines statistischen Lebens (WSL), wenn sie nach der Kosten-Nutzen-Analyse verfahren. Der WSL zieht Arbeitslöhne, Altersabsicherung, Versicherungs- und Unfallkosten in Betracht und ist vor allem für Unternehmen und Regierungen von Interesse, die sich auf diese Weise über die Gesamtkosten eines Anstellungsverhältnisses ein Bild machen wollen. Für

26Andrea

Leitner u. a.: „Menschliche Körper und der Wert des menschlichen Lebens. Eine monetäre Bewertung mittels der Schmerzensgeldentscheidungen“, in: Von Körpermärkten, hg. von Andreas Exenberger und Josef Nussbaumer, Innsbruck: Innsbruck University Press 2008, 79–97, hier 81.

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Individuen sind sie dagegen weniger von Belang, weil etwa Lebenshaltungs- und vor allem Ausbildungskosten keine Berücksichtigung finden. Die berechneten Beträge bestätigen die vorherrschenden diskriminierenden Praktiken, denn der Wert von Männern ist dem WSL-Modell zufolge, deutlich höher anzusetzen als der von Frauen, von Weißen höher als von Schwarzen. So müsse der Wert eines männlichen Angestellten, nach Hannes Spengler, in Deutschland auf 1,72 Mio. EUR taxiert werden, der von weiblichen Angestellten auf 1,43 Mio. EUR, von männlichen Arbeitern auf 1,22 Mio. EUR.27 Die von Spengler als unzureichend kritisierten amerikanischen Vergleichsstudien legten dagegen einen durchschnittlichen Wert von etwa sieben Millionen Dollar für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugrunde, mit nahezu doppelt so hohen Zahlen für Weiße gegenüber African Americans. Freilich stehen sowohl die Methode, nach der sich statistische Werte errechnen, als auch die Größen, die berücksichtigt werden, in Zweifel. Allein der Versuch, Menschenleben gegeneinander aufzuwiegen und in monetäre Zahlenwerte umzulegen, ist aus ethischer Sicht bedenklich, denn von der oft beschworenen Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz bleibt nach der Kosten-Nutzen-Analyse wenig übrig. Zudem wurde nicht nur von Cass R. Sunstein vorgebracht, dass WSL-Studien rassistische Vorurteile zementierten, wenn sie nach klassen-, rassen- und geschlechtsspezifischen Kriterien verfahren, statt sich individuellen Merkmalen zu widmen.28 Wir müssen das Leben aber nicht von seinem Ende her denken, um den Wert des Lebens zu bestimmen, sondern könnten auch von seinem Anfang ausgehen. Schon vor mehr als zehn Jahren zahlten Paare, die sich ihren Kinderwunsch durch künstliche Befruchtung erfüllen wollten, bis zu 50.000 US$ für Eizellen, die bestimmte Ansprüche erfüllten: hoher Intelligenzquotient der Spenderin, eine bestimmte Mindestkörpergröße, athletischer Bau, keine vererbbaren Krankheiten.29 Ähnliches gilt für Spermien. In-vitro-Fertilisation erlaubt heute in Kombination mit günstigen genetischen Testverfahren die Auswahl von gezielten phänotypischen Merkmalen. Durch die revolutionäre „Crispr“-Technik – das präzise „Edieren“ von Chromosomen unter dem Namen Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats – können Änderungen mittlerweile sogar am lebenden Embryo vorgenommen werden. Das Verfahren ist bereits erfolgreich zur Behandlung von Krankheiten bei Menschen eingesetzt worden und wird in Zukunft eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von Schäden am Erbgut

27Hannes

Spengler: „Kompensatorische Lohndifferenziale und der Wert eines statistischen Lebens in Deutschland“, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 3 (2004), 269–305, hier 303, http://www.doku.iab.de/zaf/2004/2004_3_zaf_spengler.pdf (3. Dezember 2018). 28Vgl. Cass R. Sunstein: „Valuing Life: A Plea for Disaggregation“, in: Duke Journal of Law 54 (2004), 385–445. 29Michael J. Sandel: The Case Against Perfection, Cambridge, Massachusetts, und London: The Belknap Press of Harvard University Press 2007, 2 f. Sandel hebt hervor, dass für geklonte Hunde bereits 100.000 US$ gezahlt wurden, ebd., 5.

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vor der Geburt, aber auch bei der Veränderungen des Genoms im reifen Organismus spielen.30 Durch das Edieren der Gene mithilfe der Crispr-Technik haben wir einen vielversprechenden Ansatz zur Hand, Krankheiten zu heilen, arbeiten aber auch der Auswahl und Verbesserung von Menschen vor, die keiner Heilung bedürfen.31 Der Versuchung, von der somatischen auf die Ebene der Keimbahn und von der therapeutischen auf die präventive Veränderung des Genoms zu wechseln, wird nicht lange zu widerstehen sein. Was unter „präventiv“ zu verstehen ist, wird dabei erst noch definiert werden müssen, denn das medizinisch Sinnvolle ist nicht unbedingt auch das moralisch Angemessene: Können sich Eltern bei der In-vitro-Fertilisation durch die Manipulation von Genen bald mit hohem ­Wahrscheinlichkeitsgrad aussuchen, wie ihr Kind aussehen, wie klug, groß oder stark es einmal werden könnte? Ist diese Möglichkeit bald auch bei „natürlichen“ Kindern durch Eingriffe ins genetische Erbmaterial gegeben? Zwischen künstlicher und natürlicher Befruchtung wird dann kaum mehr zu unterscheiden sein, denn das Prinzip des Zufalls wird der Vergangenheit angehören. „Designer-Babies“ werden wohl – trotz aller noch zu überwindenden Schwierigkeiten aufgrund des komplexen, noch unverstandenen Zusammenspiels der Gene – zur Regel werden, die natürliche Fortpflanzung zur Ausnahme, sofern sich Gesetzgeber dazu entschließen, allen Menschen Zugang zu den neuesten medizinischen Errungenschaften zu geben. Sorgten sich werdende Eltern nicht immer schon um das Wohlbefinden ihrer Sprösslinge und um einen gesunden Start ins Leben? Wäre es daher nicht unethisch, Eltern die Anwendung neuartiger Behandlungs- und Verbesserungsmethoden zu verwehren? Wer würde nicht die Möglichkeit begrüßen, eines Tages vielleicht sogar die größten gesundheitlichen Übel der Menschheit durch Eingriffe ins Erbgut auszurotten, um so die Lebenserwartung und -freude vielfach zu erhöhen? Der Vorteil der neuen Lebenstechnologien steht außer Zweifel. Es kommt aber darauf an, wer sich ihrer bedient und wem sie zum Vorteil gereichen. Das Problem der gezielten Auswahl weniger stellt Ethiker vor Probleme. So lassen sich durch „Bio-Enhancement“ – die „Verbesserung“ unseres Erbguts – bereits heute Muskeltonus, Körpergröße, Gedächtnisleistung, Immunstärke und viele andere

30Michael

Le Page: „Gene Editing Saves Girl Dying From Leukaemia in World First“, in: New Scientist, 5. November 2015, http://www.newscientist.com/article/dn28454-gene-editing-saveslife-of-girl-dying-from-leukaemia-in-world-first/ (3. Dezember 2018). 31Die Sequenzierung des Erbmaterials hat sich in den vergangenen Jahren so sehr verbilligt, dass Firmen wie 23andMe und Ancestry Gentests für Privatpersonen für 100 bis 200 US$ anbieten, je nach Umfang und Art der erwünschten Informationen. Die Erzeugung von Organen aus Stammzellen – lange Zeit mit einem ethischen Bannstrahl versehen – steht heute nicht mehr unter dem Verdacht, gesellschaftliche Werte zugunsten ökonomischer Gewinne und wissenschaftlicher Hybris zu untergraben, sondern wird als medizinisches Werkzeug akzeptiert. Transplantate aus körpereigenen Zellen und selbst von Tierorganen werden bald mithilfe von gentherapeutischen Eingriffen derart an das menschliche Immunsystem angepasst werden können, dass lange Wartelisten für Spenderherzen, -nieren oder -rückenmark in naher Zukunft der Vergangenheit angehören werden. Die Gesetze sind zurzeit in verschiedenen Ländern unterschiedlich restriktiv, doch steht zu erwarten, dass ethische Tabus gebrochen werden, sobald andernorts die Veränderung genetischen Materials zur Verbesserung des Menschen gestattet sein wird.

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Körperfunktionen in einem Maße verändern, das unseren Kindern und Kindeskindern eine andere, von unserer Generation stark unterschiedene Art des Daseins ermöglichen wird. In einer Gesellschaft, die sich nach Wettbewerbskriterien ausrichtet, wird der Wunsch, zu den besten, stärksten und klügsten zu gehören, den Einsatz von Medikamenten und Gentechnik geradezu notwendig machen. Der Eingriff in unser Erbgut dürfte indes einen Preis haben, das Projekt der Perfektionierung zweierlei ethische Fragen aufwerfen: Ist die Verbesserung der Erbanlagen deshalb verwerflich, weil sie gesellschaftliche Klassenunterschiede verstärkt? Oder deshalb, weil der Mensch dann alles Menschliche verloren haben wird? Julian Savulescu hat dazu eine eindeutige Meinung. Der Direktor des Oxford Uehiro Centre for Practical Ethics vertritt in vielen seiner Publikationen, dass Eltern die moralische Pflicht zur genetischen Modifikation ihrer Kinder haben, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Handeln viele Mediziner in der Absicht, Krankheiten zu heilen, stellen die von ihnen entwickelten Heilungsmethoden zugleich Möglichkeiten dar, gesunde Menschen zu verbessern. Savulescu beruft sich auf den instrumentellen Wert der Medizin, spricht ihr einen intrinsischen, aus sich selbst gewonnenen Wert hingegen ab. Medizin sei ein Mittel, kein Zweck, ihre Möglichkeiten seien daher in vollem Umfang auszuschöpfen. Savulescu geht sogar über das individuelle Wohlbefinden hinaus und rechtfertigt die Verbesserung des Erbguts mit dem menschlichen Überleben schlechthin. Nur eine durch „Moral Bioenhancement“ erleuchtete Menschheit könne die Probleme lösen, denen wir uns in naher Zukunft ausgesetzt sehen: Klimawandel, Nahrungsknappheit, Kriege, der Zusammenbruch von Staaten und gesellschaftlichen Strukturen, die Zerstörung der Umwelt. Es liege im Interesse aller Menschen, wenn moralisch überlegenen und mit angemessener Intelligenz ausgestatteten „Wesen“ die Kontrolle über Technologien und Mittel anvertraut würde, die das Schicksal des Planeten lenken.32 In einem von unvergleichlichen Fortschritten in den Bereichen der Nano-, der Bio-, der Informationstechnologie und den Kognitionswissenschaften geprägten Zeitalter läge es in unserer Hand, Verantwortung für unsere Zukunft zu übernehmen, indem wir auf unsere eigenen Schöpfungen vertrauen und uns nicht länger abstrakten oder religiösen Instanzen wie der Natur oder Gott überließen.33 In einer Gesellschaft mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung kann es nicht ausbleiben, dass Argumente zur Verbesserung unseres Erbguts ökonomischer Rationalität folgen. Auch hier hält Savulescu, gemeinsam mit Anders Sandberg, Antworten parat. Am Beispiel des „Neuro-Enhancements“ rechnen die Autoren vor, in welcher Weise Gesellschaften von den neuen Technologien profitieren werden.

32Ingmar

Persson und Julian Savulescu: Unfit for the Future. The Need for Human Enhancement, Oxford: Oxford University Press 2012, 2. „It is desirable that only beings who are morally enlightened, and adequately informed about the relevant facts, should be entrusted with such formidable technological powers as we now possess“, ebd. 33Nick Bostrom und Julian Savulescu: „Introduction“, in: Human Enhancement, hg. von Nick Bostrom und Julian Savulescu, Oxford und New York: Oxford University Press 2009, 20 f.

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Auch wenn genetische Modifikationen, transkranielle Magnetstimulation – die Anregung bestimmter Hirnregionen durch starke Magnetfelder – oder Neuroimplantate gemeinsam mit bis dato unbekannten Medikamenten Ängste weckten, seien sie von großem wirtschaftlichem Vorteil. Durch mindere kognitive Fehlleistungen wie den Verlust von Schlüsseln würden z. B. allein in Großbritannien etwa 500 Mio. Pfund jährlich verschwendet werden. Würde der durchschnittliche Intelligenzquotient eines Landes wie den Vereinigten Staaten um nur einen Prozentpunkt gesteigert werden, ließe sich das Bruttoinlandsprodukt um 0,4 bis 0,5 % oder 55 bis 65 Mrd. US$ steigern.34 „Neuro-Enhancement“ würde nicht nur der gesamten Wirtschaft zugutekommen, sondern medizinische Kosten senken, Anstellungschancen und Entlohnung vergrößern und die Kriminalitätsrate reduzieren. Sandberg und Savulescu räumen ein, dass zwar die Kosten für den Einsatz der neuen Technologien hoch seien, Menschen sich aber nicht vom individuell Erwünschten abbringen lassen dürften. Das schlagende Argument aus neoliberaler Sicht lautet, dass selbst anfangs noch teure Technologien und Behandlungsmethoden eines Tages billig und nahezu schrankenlos zu erhalten seien. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich „gute“ Produkte durchgesetzt haben würden. Dreierlei Einwände lassen sich gegen die Begeisterung von technikaffinen „Gen-Ethikern“ vorbringen: 1. Durch „Neuro-Enhancement“ zeichnen sich – wie durch alle genetischen, technischen und pharmakologischen Eingriffe, die allein der Verbesserung, nicht der medizinischen Notwendigkeit dienen – die Umrisse einer klassengelenkten und weitgehend rassistisch argumentierenden Eugenik ab.35 Schon heute vertreten

34Anders

Sandberg und Julian Savulescu: „The Social and Economic Impacts of Cognitive Enhancement“, in: Enhancing Human Capacities, hg. von Julian Savulescu u. a.: Malden, Massachusetts, und Oxford: Wiley-Blackwell 2011, 92–112, hier 98. 35So jedenfalls lautet Robert Sparrows Vorbehalt: „Human Enhancement for Whom“, in: The Ethics of Human Enhancement. Understanding the Debate, Oxford: Oxford University Press 2016, 127–142, hier 139. Nachdrücklich verweist Allen Buchanan darauf, dass auch bei gleichem Zugang zu neuen Technologien von individuellen und „komplexen“ Akteuren (Gruppen, Unternehmen, Staaten) deren rechtlicher Status höchst unterschiedlich sein würde und das Konzept der Menschenrechte als hinfällig zu betrachten wäre, vgl. Beyond Humanity. The Ethics of Biomedical Enhancement, Oxford: Oxford University Press 2013, 236. Enthusiasten der Gentechnik argumentieren dagegen, die Kosten in der Reproduktionsmedizin würden derart drastisch sinken, dass sich Krankenkassen eines Tages dazu bereit erklären müssten, Eingriffe ins Erbgut kostenlos anzubieten. So sieht Henry T. Greely die Verbreitung der „Embryo-Auswahl“ nach künstlicher Befruchtung auf dem Weg zum zukünftigen Standard. In einem Interview äußert sich Greely zu den Kosten: „I think it should bring down health care costs, and, in fact, one of the advantages to it is that it would be so beneficial for public health care costs that I think it would be provided for free. If it costs say, $10.000 to start a baby this way, 100 babies is a million dollars. If you avoid the birth of one baby with a serious genetic disease, you’ve saved $3 [million to] $5 million“, vgl. Aurora McCrae-Crerar: „Will Genetic Advances Make Sex Obsolete?“, Interview mit Henry T. Greely für Nashville Public Radio, 16. Juni 2016, http://www.npr.org/sections/healthshots/2016/06/16/482189322/will-baby-making-move-from-the-bedroom-to-the-lab (3. Dezember 2018). Hintergrund ist die Veröffentlichung von Greelys Buch The End of Sex and the Future of Human Reproduction, Cambridge, Massachusetts, und London: Harvard University Press 2016.

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unter dem Stichwort „Human Biodiversity“ Mitglieder einer aus der amerikanischen Alt-Right-Bewegung rekrutierten, wissenschaftlich interessierten Gruppe von Bloggern und YouTubern die Ansicht, dass die neuen Technologien dem Nutzen der überlegenen weißen Rasse dienen sollten. Ihre Argumente sind selektiv, überspitzen wissenschaftliche Befunde, ziehen einseitige Schlussfolgerungen und bestätigen weitverbreitete Rassenvorurteile. Zu ihren bekanntesten Wortführern zählt Stefan Molyneux, der Immigranten als minder intelligent, schwach und schädlich für die amerikanischen Gesellschaft ausgibt. Molyneux erhielt Anregungen von Murray Rothbard, der den Begriff des „Anarcho-Kapitalismus“ prägte. Rothbard wiederum pries das von Richard Murray und Charles Hernstein verfasste Buch The Bell Curve (1994), in dem die Autoren nachzuweisen versuchen, dass Besitz- und Einkommensunterschiede zwischen Weißen und Schwarzen nicht auf systemische Diskriminierung, sondern auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen sei.36 Wir können damit rechnen, dass der Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse zu unwissenschaftlichen Zwecken auch im Fall von „Neuro-“ und „Bio-Enhancement“ zu erwarten ist. 2. Durch „Neuro-“ und „Bio-Enhancement“ mag es wahrscheinlich erscheinen, dass moralische Veränderungen im Menschen eintreten werden. Wir können indes nicht darauf bauen, dass uns diese Veränderungen „verbessern“ werden. Nicholas Agar vertritt, dass die „moralisch überlegenen“ Wesen ihrerseits Bedürfnisse und Vorstellungen entwickeln dürften, die für den „normalen“ Menschen von großem Schaden sein könnten. Das beginnt mit den strukturellen Auswirkungen auf soziale Systeme, wenn sich Klassen nach genetischen Gesichtspunkten formieren. Die Kosten genetischer Eingriffe würden aller Wahrscheinlichkeit nicht sinken, sondern steigen, denn die Nachfrage nach ihnen würde sich vergrößern, während Unternehmen davon zu profitieren suchen. Der Grund dafür ist leicht einzusehen. Wenn allein Reiche Zugang zu „Bio Enhancement“-Verfahren haben, wird sich die soziale Kluft vergrößern, der Preis derartiger Techniken kann also entsprechend hoch angesetzt werden. Gleichzeitig wird sich der Unterschied zwischen einstiger und zukünftig als „normal“ erachteter Leistungsfähigkeit verschieben und Menschen dazu zwingen, in neue Technologien und Medikamente zu investieren, um Schritt halten zu können. Mit wachsenden sozialen Unterschieden können wir erwarten, dass diejenigen ihren Vorteil durch eine verbesserte genetische Ausgangslage verteidigen wollen, die

36Vgl. Richard Murray und Charles Hernstein: The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life, New York: Free Press 1994. Zur „Bio-Diversity“-Bewegung vgl. Ari Feldman: „Human Biodiversity. The Human Pseudoscientific Racism of the Alt-Right“, in: Forward, 5. August 2016, http://www.forward.com/opinion/national/346533/human-biodiversity-the-pseudoscientific-racism-of-the-alt-right/ (20. Juli 2018). Zu Stefan Molyneux vgl. Southern Poverty Law Center: „Stefan Molyneux“, http://www.splcenter.org/fighting-hate/extremist-files/individual/stefan-molyneux (3. Dezember 2018).

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zu allererst Zugang zu entsprechenden technischen Verfahren hatten, und jene ausschließen werden, die ihnen gleich sein möchten.37 3. Die Diskussion über „Bio-“ und „Moral Enhancement“ berücksichtigt Umweltfaktoren bislang kaum.38 Wir wissen heute, dass unser Genom lediglich als Grundgerüst zu betrachten ist, das zwar manche Körpereigenschaften – unseren Phänotyp – festlegt, soziale Faktoren wie Erziehung, Ernährung, Bildung, Gesundheit, Einkommen und Freundeskreis indes von ebenso großer Bedeutung für unsere Persönlichkeitsentwicklung sind. Das Augenmerk liegt heute zunehmend auf dem Bereich der Epigenetik – der Möglichkeit von Körperzellen, das Erbgut aufgrund von Umweltfaktoren unmittelbar zu beeinflussen und unsere Gene entsprechend anzupassen. Verändern sich Gene indes durch Umwelteinflüsse, so rückt die Bedeutung des Genoms für unsere tatsächliche Erscheinungsform – für Intelligenz, Körpergröße oder Gesundheit – in den Hintergrund. Es ist möglich, dass sich auch für epigenetische Prozesse Medikamente und Technologien finden, die Talente verstärken und Erfahrungen zum Vorteil der „Patienten“ nutzen werden. Doch davon sind wir weit entfernt und können nur spekulieren.39 Wären wir in der Lage, einen ideologischen Missbrauch der Wissenschaften zu unterbinden, Heil- und Präventivmethoden allen Menschen gleichermaßen zugänglich zu machen, neue Formen des genetischen Rassismus zu verhindern und einer weniger deterministischen, auf Umwelteinflüsse Rücksicht nehmenden Denkweise stattzugeben, könnten sich die neuen Bio-Techniken zur Verbesserung des Menschen vielleicht zum Vorteil nutzen. Aller Bedenken ungeachtet, stehen die größten Gewinner der Entwicklung von Bio-Technologien indes bereits fest. Die

37„Radical

cognitive enhancement is likely to create beings with a moral status superior to persons. The existence of these morally needy post-persons will lead significant, uncompensated harm to be inflicted on human mere persons“, Nicholas Agar: Truly Human Enhancement. A Philosophical Defense of Limits, Cambridge, Massachusetts, und London: MIT Press 2014, 196. Michael Bess kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen, Our Grandchildren Redesigned. Life in the Bioengineered Society of the Near Future, Boston: Beacon Press 2015, XV. 38Aus medizinischer Sicht vgl. die ausgewogene Diskussion über „Moral Enhancement“ bei Gregory E. Pence: How to Build a Better Human. An Ethical Blueprint, Lanham u. a.: Rowman & Littlefield 2012, 161–173. 39Einem weiteren Einwand wird hingegen kaum mehr Beachtung geschenkt werden: dass zwar die freie Entfaltungsmöglichkeit in einer liberalen Gesellschaft als hoher Wert erachtet wird, zugleich aber Kindern, die manipuliertes genetisches Erbgut aufweisen, dieses Recht weitgehend abgesprochen wird: „Die interaktive Struktur von Bildungsprozessen, in denen das Kind stets die Rolle einer zweiten Person einnimmt, macht die charakterformierenden Erwartungen der Eltern grundsätzlich ‚anfechtbar‘. Weil auch eine psychisch fesselnde ‚Delegation‘ der Kinder nur im Medium der Gründe zustande kommen kann, behalten die Heranwachsenden grundsätzlich eine Chance, zu antworten und sich davon retroaktiv zu befreien. […] Eben diese Chance besteht nicht im Falle einer genetischen Fixierung, die die Eltern nach eigenen Präferenzen vorgenommen haben. Eine genetische Intervention eröffnet nicht den kommunikativen Spielraum, das geplante Kind als eine zweite Person anzusprechen und in einen Verständigungsprozess einzubeziehen“, Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2005, 107.

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in sie investierenden Unternehmen bereiten sich auf immense Profite vor, denn sie setzen auf Hoffnungen und Wünsche. Große Technologieriesen halten ausnahmslos Anteile an Firmen, die an der Entwicklung von „Bio-Enhancement“-Verfahren zur Bekämpfung von Krankheiten, mehr aber noch zur Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit arbeiten. Schon seit einiger Zeit hängt unsere Gesellschaft am Tropf der Medizin-, Chemie- und Pharmaindustrie. Effizienz und Gewinnorientierung sind die ökonomischen Prinzipien, nach denen sich das Gesundheitswesen richtet. Den entsprechenden Unternehmen geht es gut, wenn es Menschen schlecht geht. Den Menschen geht es schlecht, weil sie sich Interessen ausgesetzt sehen, die nicht die ihren sind. Das wiederum treibt sie in die Arme jener Konzernen, von denen sie bereits abhängig sind. Als der Chemieriese Bayer beispielsweise im Sommer 2018 Monsanto kaufte – den weltweit größten Hersteller genmanipulierten Saatguts und zugleich den Entwickler und Vertreiber von Roundup, des am weitesten verbreiteten Unkrautvernichtungsmittels –, handelte es sich um ein geradezu diabolisches Geschäft. Monsanto war schon wegen der Herstellung von Agent Orange berüchtigt, einer im Vietnam-Krieg versprühten, krebserregenden Entwaldungssubstanz. Mit Roundup vertreibt die Firma einen Mix aus Chemikalien, aus dem das Breitbandherbizid Glyphosat herausragt. Glypho­ sat ist wasserlöslich, nahezu überall auf dem Globus zu finden und mittlerweile im Gewebe fast aller Menschen nachzuweisen.40 Die Weltgesundheitsbehörde WHO hat die Chemikalie als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft, was der Konzern hingegen bestreitet.41 Gleichzeitig stellt Bayer die Medikamente her, mit denen sich jene Krankheiten behandeln lassen, die von Glyphosat aller Wahrscheinlichkeit nach hervorgerufen werden. Darüber hinaus investiert Bayer seit Jahren in

40Bei

Tests wurde Glyphosat im Urin von 93 % der amerikanischen Bevölkerung festgestellt. Details und verschiedene Studien liefern unter anderem Michelle Perro und Vincanne Adams: What’s Making Our Children Sick. How Industrial Food is Causing an Epidemic of Chronic Illness and What Parents (and Doctors) Can Do About It, White River Junction: Chelsea Green Publishing 2017, 137–156. Seit einigen Jahren sind Forschungsergebnisse in steigender Zahl in Fachjournalen einzusehen, die den Nachweis gesundheitsschädlicher Wirkungen von Glyphosat zeigen, vgl. z. B. eine Reihe von Arbeiten, die Anthony Samsell und Stephanie Seneff vorgestellt haben, darunter „Glyphosate, Pathways to Modern Deseases II: Celiac Sprue and Gluten Intolerance“, in: Interdisciplinary Toxicology 6.4 (2013), http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3945755/ (3. Dezember 2018); „Glyphosate, Pathways to Modern Diseases III: Manganese, Neurological Diseases, and Associated Pathologies“, in: Surgical Neurology International 6.45 (2015), http:// www.surgicalneurologyint.com/surgicalint-articles/glyphosate-pathways-to-modern-diseases-iii-manganese-neurological-diseases-and-associated-pathologies/ (3. Dezember 2018).

41World

Health Organization: „WHO/FAO Evaluate Safety of Malathion, Diazinon and Glyphosate“, 31. Mai 2016, http://www.who.int/malaria/news/2016/malathion/en/ (3. Dezember 2018). In einem ersten Prozess hat ein Gericht in Kalifornien dem Kläger Dewayne (Lee) Johnson im August 2018 aufgrund erlittener Gesundheitsschäden 289 Mio. US$ Schadenersatz zugesprochen. In einer zweiten Verhandlung im Oktober des gleichen Jahres bestätigte das Gericht die Entscheidung, reduzierte die Summe aber erheblich auf immerhin noch 39 Mio. US$. Etwa 8700 Klagen gegen Monsanto waren zu diesem Zeitpunkt anhängig.

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eigene Forschung zur Genetik, aber auch in andere Unternehmen, die sich dem gleichen Bereich widmen. Als Beispiel sei nur Crispr Therapeutics genannt, ein aufstrebendes Unternehmen, das 2014 von einer der Entwicklerinnen des GenEditing-Verfahrens, Emmanuelle Charpentier, mitgegründet wurde.42 Der Zugang zu den Patenten von Monsanto und Genetik-Start-ups wird Bayer Forschungen erlauben, die erschließen sollen, wie wir uns gegen genmanipulierte und von Pestiziden behandelte Nahrungsmittel schützen können. Nicht mehr nur das Saatgut von Monsanto wird dann verändert, um es vor Umwelteinflüssen, sondern das menschliche Erbgut, um es vor genmanipulierten Pflanzen und Tieren zu schützen. Für Unternehmen wie Bayer ist das Leben ein Geschäft, Natur aber eine Domäne der Technik und der Ökonomie. Der Wert des Lebens lässt sich entsprechend an den Börsenkursen von Pharmaunternehmen ablesen.

Kontrollverlust Der Zugriff auf unser Erbgut ist mit dem Wandel zur Informationsgesellschaft eng verwoben. Sind Informationen die neue Währung, so steht die DNA des Menschen weit oben auf der Liste begehrter Güter. Das weiß nicht nur Bayer. Andere Pharmakonzerne investieren ebenfalls im großen Stil in Genetik und Informationstechnologie. Im Jahr 2018 hat der Pharmariese Roche nicht weniger als 4,3 Mrd. US$ für den Kauf von Foundation Medicine und Flatiron Health ausgegeben, Firmen, die sich auf die Verwertung von Daten im Zusammenhang mit Krebserkrankungen spezialisieren. 23andMe wurde im Juli des gleichen Jahres für 300 Mio. US$ von GlaxoSmithKline aufgekauft. Im November 2018 erfuhr die Öffentlichkeit, dass das Darmstädter Pharma-Unternehmen Merck mit Palantir zusammenarbeiten wird. Der ebenso berüchtigte wie erfolgreiche Datenkonzern, zu dessen Kunden die CIA und das amerikanische Militär, Industriegiganten, aber auch Regierungen rund um den Globus zählen, hat für die medizintechnologische Kooperation mit Merck einen Ableger unter dem Namen Syntropie gegründet, an dem beide Konzerne 50 % der Anteile halten.43 Der Informationswert von Genen hält gewaltige Gewinnpotenziale bereit, an denen auch, wie oben angedeutet, Versicherungen teilhaben wollen. Unsere ­persönlichen Daten zählen zu den Kosten, die anfallen, wenn wir einen Versicherungsvertrag unterzeichnen. Die südafrikanische Firma Discovery war die erste Versicherung, die in Zusammenarbeit mit der weltweit agierenden ­Wellness-Firma

42Vgl.

Oliver Voss u. a.: „Diese Start-ups stehen vor dem großen Durchbruch“, in: Handelsblatt, 16. Januar 2016, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/virtuelle-realitaet-energie-gentechnik-diese-start-ups-stehen-vor-dem-grossen-durchbruch/12797462.html?ticket=ST-3416976-lhvcdJaex70HWoVWe7dt-ap5 (3. Dezember 2018). 43Ludwig Burger und Patricia Weiss: „Palantir to Offer Cancer Analytics under JV Deal with Germany’s Merck“, in: Reuters, 19. November 2018, http://www.reuters.com/article/us-palantir-merck-kgaa-jv/palantir-to-offer-cancer-analytics-under-jv-deal-with-germanys-merckidUSKCN1NO1KH (3. Dezember 2018).

Kontrollverlust

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Vitality ihren ­Kunden günstigere Tarife anbot, sofern sie damit einverstanden sind, sich permanenter Beobachtung auszusetzen. Bis zu 15 % der üblichen Beitragshöhe würden Kunden sparen können, die einen Fitness-Tracker tragen, einen spezialisierten Computer aus der Gruppe der Wearables – Uhren mit Internet-Anschluss, Brillen mit Display zur Aufzeichnung und Bereitstellung von Informationen oder auch Smartphones, die sich immer mehr zu Alleskönnern entwickelt haben. Daten über sportliche Aktivitäten, die Herzfrequenz oder die Zahl der am Tag gemachten Schritte geben dem Versicherer Auskunft über die Bereitschaft der Kundin, sich den Bedingungen des abgeschlossenen Versicherungsvertrags zu fügen und ein gesundes Leben zu führen.44 In Europa hat der italienische Branchenriese Generali nachgezogen. In ähnlicher Weise führen immer mehr Autoversicherer vergünstigte Tarife in ihren Angeboten, wenn Kunden einwilligen, ein Gerät in ihr Fahrzeug einzubauen, das ihr Fahrverhalten aufzeichnet – eine Art Blackbox, die, wie in Flugzeugen, die Sekunden vor einem Unfall anzeigen kann, sich aber auch für Kontrollen eignet, etwa in Kombination mit einem GPS-Gerät. So können Versicherer rekonstruieren, ob sich ein Verkehrsteilnehmer an die vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen hält.45 In Zukunft werden sich Versicherungsnehmerinnen wohl an die neue Praxis der Datenweitergabe gewöhnen müssen, weil die heute noch verbilligten Angebote wahrscheinlich zum Normalfall werden, während der Preis für Policen ohne Beobachtungsmechanismen einen Aufpreis kosten werden. Überhaupt dienen Smartphones nicht nur der Nutzung durch den Besitzer, sondern sind umgekehrt Überwachungs- und Kontrollinstrumente. Daten über Gespräche und Orte, besuchte Webseiten und Kontobewegungen lassen sich über Smartphones von Regierungsstellen einsehen, wenn ein konkretes Interesse besteht, z. B. beim Verdacht auf kriminelle oder terroristische Aktivitäten. Sie hätten nichts zu verbergen, ist oft von denjenigen zu hören, die ihre Privatsphäre kritiklos dem Gefühl zusätzlich gewonnener Sicherheit opfern. Der Schutz ihres Lebens sei es wert, all ihre Daten zur Verfügung zu stellen – Schutzgeldzahlung im Informationszeitalter. Vor allem aber sind es private Unternehmen, die das Sammeln von Daten zum Geschäftsmodell erhoben haben. Je nach Kunde werden gehortete Daten zu

44In

den USA bietet die Versicherungsfirma John Hancock, ein Ableger des kanadischen Konzerns Manulife Financial ein ähnliches Vertragsmodell an, vgl. Tara Siegel Bernard: „Giving Out Private Data for Discount in Insurance“, in: The New York Times, 8. April 2015 http://www.nytimes.com/2015/04/08/ your-money/giving-out-private-data-for-discount-in-insurance.html?_r=0 (3. Dezember 2018). 45Vgl. Philipp Krohn: „Versicherer belohnen fließende Fahrweise“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2015, http://www.faz.net/aktuell/finanzen/meine-finanzen/versichern-und-schuetzen/nachrichten/versicherer-belohnen-eine-fliessende-fahrweise-13834615.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (3. Dezember 2018).

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Informationen gebündelt und meistbietend verkauft.46 Die Konsequenzen sind weitreichend. Schon heute lassen sich über das Internet legal Daten sammeln, aus denen ein Persönlichkeitsmodell jedes einzelnen Menschen erstellt werden kann, wie wir nicht erst seit dem Skandal um Cambridge Analytica wissen. Einblicke darüber, was sich Marketing- und Werbeunternehmen ersonnen haben, um aus unserem Verhalten auf zukünftige Handlungsmuster zu schließen, nehmen die letzten Illusionen darüber, dass wir „freie“, private und durch Gesetze in unserer Selbstbestimmung geschützte Individuen sind.47 „Werte“ sind im technologischen Zeitalter durch Algorithmen codiert, Handlungsanweisungen keineswegs objektiv. Glaubten die Cyberspace-Anarchisten der späten 1980er Jahre noch, dass die politische Ordnung gerechter und besser würde, wenn sie von unabhängigen Maschinen und der Logik mathematischer Prozesse kontrolliert würde, sehen wir uns heute eines Besseren belehrt.48 Algorithmen werden zusehends zu komplexen Systemen verbunden und führen ein Eigenleben. In sie geht die Ideologie der Konsumgesellschaft ein. Menschen sind für sie quantifizierbare Größen. Dabei verfolgen Algorithmen immer bestimmte Ziele, kommen in einem sozialen Kontext zur Anwendung und sind Repräsentationen von ökonomischen Modellen. Sie enthalten keine in mathematischen Formeln darstellbaren Gewissheiten. Vielmehr stellen sie neue Ungewissheiten her, in denen sich menschliches Verlangen und menschliche Wünsche spiegeln.49 Algorithmen repräsentieren die Ideologie des Liberalismus, weil sie Daten von jenen Subjekten e­ insammeln, die ihnen als Objekte der­

46Der

Unterschied zwischen Daten und Informationen besteht darin, dass man unter Daten die im binären Code repräsentierten Bits und Bytes versteht, die für sich genommen neutralen Charakter haben, während erst ihre Bündelung zu einem Datensatz – der Absicht des Sammelnden entsprechend – den begehrten Rohstoff in ein wertvolles Gut verwandelt, das wir „Information“ nennen können. Große Internetkonzerne häufen unterschiedslos Daten an, um sie zu Informationen gebündelt und geordnet an Interessenten zu versteigern.

47Schon

die von Wolfie Christl erstellte Studie von 2014 nennt eine Reihe von Praktiken, die wir für skandalös halten dürfen, auch wenn sie legal vonstatten gingen, vgl. Kommerzielle Digitale Überwachung im Alltag. Erfassung, Verknüpfung und Verwertung persönlicher Daten im Zeitalter von Big Data: Internationale Trends, Risiken und Herausforderungen anhand ausgewählter Problemfelder und Beispiele, November 2014, http://www.crackedlabs.org/studie-kommerzielle-ueberwachung/info (3. Dezember 2018). Inzwischen sind nicht nur die Techniken raffinierter geworden, auch die Internet-Unternehmen werden zunehmend von Gesetzgebern in die Verantwortung genommen und allmählich in ihrem Datenhunger durch staatliche Regulierung eingeschränkt. 48Vgl. Thomas Rid: Rise of the Machines. A Cybernetic History, New York und London: Norton 2016, 346. 49Vgl. Ed Finn: What Algorithms Want. Imagination in the Age of Computing, Cambridge, Massachusetts, und London: MIT Press 2017, 41: „All of this – the representational power and logical consistency of symbolic language; the role of language as a bridge between human and computational structures of knowledge – all of it gets swept under the rug of the algorithm, the largely unexamined construct we use to instantiate ideas as processes at the intersection of computation and culture.“

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Wertschöpfung gelten. Ist für den alltäglichen User Information ein Mittel zum Zweck, das sich nur unter gewissen Umständen in materiellem Gewinn niederschlägt, besteht für viele Konzerne kein Unterschied mehr zwischen Geld und Information. Der Börsenhandel ist ein Beispiel für diese Gleichsetzung. Seine Marktteilnehmer vertrauen auf Maschinen, die Entscheidungen für sie treffen. Hedgefonds setzen auf automatische Portfolio-Verwaltung und haben Händler durch Computer ersetzt. Die Börse hat das Geld in seiner materiellen Form schon seit Jahrzehnten hinter sich gelassen und funktioniert auf der Grundlage des hyperschnellen Datentransfers. In Sekundenbruchteilen vollziehen sich Kauf und Verkauf, werden Gewinne und Verluste ermittelt.50 Software wird, wie auch die entsprechende technische Ausrüstung, allein zur Präzisierung und effizienten Nutzung des Datenstroms entwickelt. Ihr Einsatz hilft, den Kampf um Marktanteile zu gewinnen. Längst ist der Handel mit Informationen zur größten Einnahmequelle großer Unternehmen geworden und nur graduell, nicht prinzipiell von den allgemeinen Gesetzen kapitalistischen Wirtschaftens zu unterscheiden. Statt den Menschen zu entfremden, nimmt sich der Informationskapitalismus seiner an. Er gibt vor, sich um ihn zu kümmern, wie allzu eifrige Eltern, die ihre Kinder nicht eine Sekunde aus den Augen verlieren möchten. Alles will er von uns wissen, denn unser Leben ist ein Vermögen an Daten wert. Technik ist die Voraussetzung eines digitalen Kapitalismus, der den liberalen in einen neoliberalen, nahezu vollständig deregulierten Markt verwandelt. Durch die technischen Bedingungen der Informationsverarbeitung werden alle Aspekte des Lebens in monetäre Werte übertragen. Die maschinelle Verarbeitung von Daten und ihre rasche Verbreitung verstärken indes Vorurteile um ein Vielfaches. Mit Stolz behaupten hoch technisierte Polizeieinheiten heute zu wissen, wo die Verbrechen von morgen begangen werden. Der Schutz des Lebens „kostet“ nicht nur Daten, sondern bringt wiederum Daten hervor, die auf Werturteilen beruhen. So empfehlen die von intelligenten Programmen erstellten Daten eine erhöhte Präsenz der Staatsgewalt in sogenannten „Hot Spots“ und erfüllen dadurch lediglich die vorab errechneten Prophezeiungen, wonach es sich um Gegenden mit auffälligen Kriminalitätsraten handle. Die Wahrscheinlichkeit von Gewalt nimmt durch größere Polizeipräsenz indes zu, weil sich die Beobachteten provoziert fühlen. Einmal in der Spirale von Konfrontation und Gewalt gefangen, ist Resozialisierung oder sogar ein ökonomischer Aufstieg kaum mehr möglich, weil die ehemaligen Gefängnisinsassen wieder an die Orte zurückkehren, aus denen sie stammen. Andere, ausschließlich von Maschinen erstellte Vorverurteilungen wiegen nicht weniger schwer. So verlieren einkommensschwächere Menschen den Zugang zu Krediten, Arbeitsplätzen und Wohnraum, sobald sie von einem Computerprogramm einmal als wenig attraktive Kunden identifiziert wurden. Das „digitale Armenhaus“, in das wir die für wenig kaufkräftig Befundenen sperren, nährt jene Vorurteile, die den Umgang mit Armut immer schon begleitet haben: Arme würden nur das Sozialsystem ausnutzen, wollten nicht arbeiten und trügen für ihre

50Vgl.

Michael Lewis: Flash Boys. A Wall Street Revolt, New York: Norton 2014.

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Misere selbst die Verantwortung. Wie das Armenhaus der frühen Neuzeit hält das neue „digitale Armenhaus“ Notleidende vom Zugang zu benötigten Mitteln ab, beschränkt deren Mobilität, zwingt zu willkürlichen und prekären Arbeitsverhältnissen, trennt Familien voneinander, führt zum Verlust politischer Rechte und verwandelt Menschen aus einkommensschwachen Verhältnissen in Teilnehmer an technologischen Experimenten. Die neue, algorithmisierte Armutsverwaltung beruht allein auf dem Verdacht, dass Armut und Kriminalität in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Sie bezieht ihr vermeintliches Wissen aus Klassenressentiments und rassistischen Vorurteilen.51 Der neoliberale Staat greift in die Privatsphäre seiner Bürger nicht mehr nur ein, um sie vor terroristischen Anschlägen oder Kriegen zu bewahren. Er setzt vielmehr den gesetzlichen Rahmen für Unternehmen, um ihnen Zugang zu den persönlichen Daten von Bürgern zu beschaffen.52 Der Umstand, dass in einem neoliberalen Umfeld das Leben lediglich nach seinen „nützlichen“ Bestandteilen berechnet wird, hat die Konzeptkünstlerin Jennifer Lyn Morone dazu bewogen, ihre gesamte Existenz zum Unternehmen zu erklären und ihren Namen als Markennamen einzutragen: „Jennifer Lyn MoroneTM Inc.“ Einschließlich ihrer Ausbildungskosten errechnet sich für ihr Leben ein Gegenwert von etwa einer Million Dollar. In einem Interview erläutert sie ihr Geschäftsmodell und erklärt, dass sie buchstäblich alles einbringe, was sie habe: „Mein Wissen, meinen Körper, meine Gesundheit, was ich verdiene und was ich bereits besitze. In einer Art Online-Shop, […] kann man dann Anteile daran kaufen, der Preis variiert. Man kann auch private Informationen von mir kaufen, ganz wie im echten Leben. [Die Menschen] werden in das Unternehmen eingebunden, dürfen Entscheidungen über mich und mein Leben treffen. Ich will damit auch zeigen, wie komplex solche Prozesse sind. Ich selbst werde erstmal die Mehrheit an meiner Firma behalten, aber natürlich könnte es theoretisch passieren, dass ich das irgendwann ändere. Wenn ich weniger als 50 Prozent der Anteile halte und mehrere Anteilseigner sich zusammenschließen, haben sie auf einmal die Mehrheit. Was dann passiert, muss ich herausfinden. Wenn jetzt zum Beispiel ein Chirurg Anteile an mir kauft und etwas mit meinem Körper anstellen möchte, müsste man das mit den ­anderen

51Virginia Eubanks: Automating Inequality. How High-Tech Tools Profile, Police, and Punish the Poor, New York: St. Martin’s Press 2018, 38 und 183. Zahlreiche Beispiele für diskriminierende Wertvorstellungen, die in Algorithmen eingehen und über Bildungswege, Einkommen und sozialen Aufstieg entscheiden, liefert z. B. auch O’Neil: Weapons of Math Destruction. 52Wenn auch die seit 25. Mai 2018 geltende Europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verlangt, dass Privatpersonen ihr Einverständnis zur Weitergabe von Daten an Dritte ausdrücklich geben müssen, so ist die schiere Zahl in juristischem Fachjargon formulierten Nutzungsbedingungen weder zu verstehen noch zu beurteilen und führt in der Praxis dazu, dass die meisten von uns auf eine genaue Prüfung verzichten, um weiterhin Zugang zu einer Vielzahl von Internet-Angeboten zu haben.

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Anteilseignern diskutieren.“53 Morone hat sich in einen Informationspool verwandelt, der allen offensteht, die dafür zu zahlen bereit sind. Gene sind Informationen, die in Mitochondrien von Körperzelle zu Körperzelle weitergegeben werden. Um für den Menschen nutzbringend zu sein, wurden Entschlüsselungstechniken entwickelt, die das Genom „lesbar“ machen. Wir verstehen unser Genom durch den Filter von Übersetzungstechnologien – Hardund Software, die den genetischen in einen binären Code übertragen. Die binäre Codierung macht im Grunde alles lesbar: jedes Objekt, jedes Lebewesen und jede Handlung. Obwohl wir meinen, mehr zu sein als unser Genom und die Summe unserer berechneten, maschinenlesbaren Taten, zählen für den Genetiker wie für die Informatikerin allein die Informationen, die wir bereitstellen. Jedes Persönlichkeitsmerkmal wird von Algorithmen bemessen, um zukünftige Aktionen durch Predictive Analytics voraussagen zu können – den Gesundheitsverlauf ebenso wie das Konsumverhalten oder die Wahrscheinlichkeit zu einer illegalen Handlung. Sobald wir auf den Status von Informationen reduziert worden sind, handeln wir lediglich noch als Avatare in einem virtuellen Raum, dem die Realität gleichberechtigt zur Seite steht. Der Wechsel zwischen dem virtuellen und dem realen Raum können wir als Änderung unseres Aggregatzustands erachten, die uns permanente Anpassung abverlangt. Als Informationswesen agieren wir in einem Multiversum, verpflichten uns auf Rollenspiele und sind, anders als es der Begriff vom Individuum – vom „Unteilbaren“ – glauben macht, viele zugleich. Quantifizierbar und berechenbar ist das Hier-und-Jetzt nur der Ausgangsort für Taten, die im virtuellen Raum Auswirkungen haben. Umgekehrt ist jeder Schritt im Virtuellen von Konsequenzen in der Wirklichkeit geprägt. Zwischen beiden Räumen besteht Parität, keiner ist dem anderen an Bedeutung überlegen. Bereits 1964 hatte der Medienkritiker Marshall McLuhan bemerkt, dass sich unser Menschenbild durch den technischen Fortschritt ändern wird.54 Schon heute gewinnen wir unser Selbstverständnis mithilfe von technischen Apparaten. Ist die Apparatur beschädigt oder verloren, leiden wir unter Symptomen, die einem Identitätsverlust gleichen. „Ohne mein Handy wäre ich nur ein halber Mensch“ sagt sich ebenso leicht wie „Mein ganzes Leben ist auf meinem Laptop“. Die Verbindung von Biologie und Technologie ist kaum mehr aufzulösen. Wir sind nicht nur gezwungen, unsere Identität fortwährend anzugleichen und zu „kuratieren“, sondern auch zu „sichern“ – gegen Datenverlust, Datenklau und schadhafte Bauteile. Auf diese Weise abhängig von technologischen Mitteln, werden unsere Wertvor-

53Charlotte Haunhorst: „Was bin ich wert?“, Interview mit Jennifer Lyn Morone, in: jetzt.de [Magazin der Süddeutschen Zeitung], 31. Januar 2015, o.S. Die Webseite Monroes gibt Auskunft über das „Produkt“: http://www.jenniferlynmorone.com/ (3. Dezember 2018). 54„Rapidly,

we approach the final phase of the extensions of man – the technological simulation of consciousness, when the creative process of knowing will be collectively and corporately extended to the whole of human society, much as we have already extended our senses and our nerves by the various media“, McLuhan: Understanding Media, 3 f.

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stellungen in absehbarer Zeit überholt sein. Was wir als „Mensch“ bezeichneten, wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein, denn wo sich Objekt und Subjekt, Ding und Lebewesen, Original und Repräsentation kaum mehr ­ unterscheiden, ändern sich auch ethische Werte und werden von numerischen ersetzt.55 Was wir zudem als „Leben“ schätzten, wird dann keinen Bestand mehr haben, daher nach heutigem Verständnis nicht zu schützen sein. Stattdessen wird Ethik den Schutz der „denkenden“ Maschine ebenso zu berücksichtigen haben wie die Rechte des Menschen. Wer wollte beispielsweise jenen Menschen ein Recht auf Wohlergehen und bessere Gesundheit absprechen, die heute schon Implantate in sich tragen: synthetische Linsen, Kniegelenke, Prothesen, die über Nervenbahnen direkt ans Gehirn angeschlossen sind? Haben wir uns nicht bereits durch unsere Monitore in einer virtuellen Welt eingerichtet, die Jean Baudrillard als „Simulakrum“ bezeichnet hat: Kopien ohne Original, Abbilder von etwas, dessen Vorlage fehlt?56 Die Idee, dass es jemals einen authentischen, gewissermaßen „echten“ und „wahrhaften“ Zustand gegeben hat, erweist sich als hinfällig, sobald wir uns als hybride Wesen verstehen – Mischwesen, die in unterschiedlichen Welten zugleich agieren und damit begonnen haben, ihre natürliche mit einer maschinell ergänzten oder, nach McLuhan, „erweiterten“ Daseinsform zu verbinden.57 Gaben Werte das Versprechen zur Rückkehr in einen wenn auch inexistenten Zustand, einen hierarchisch strukturierten, von klaren ethischen Imperativen geleiteten Handlungsraum, finden wir uns nun im Widerspruch zu bisweilen dogmatisch überhöhten Wertvorstellungen, an denen wir aus Nostalgie festhalten. Zweifellos fordern uns die neuen Schlüsseltechnologien – Genetik, Informatik und Robotik – heraus, unsere Werte mehr als je zuvor in der Geschichte des technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts zu überdenken. Denn was dem Menschen dient, seiner Gesundheit nützt und Leben rettet, befördert zugleich neue ethische Konflikte. Jenseits ethischer Diskussionen haben Menschen begonnen, mit Maschinen zu verschmelzen. In einer Umgebung, die auf Steigerung und Effizienz setzt, sind Werte mehr denn je von ökonomischer Bedeutung. Quantifizierung und Ökonomisierung sind dabei nicht voneinander zu. trennen. In Bewertungen oder Reviews geben wir unser Urteil ab und kategorisieren das Erlebte, Erfahrene und Erlernte. Dabei zählt der Mittelwert, Abweichendes ist statistisch unerheblich, Hintergrundrauschen, dass es herauszufiltern gilt: „Die Herausbildung metrischer Wertigkeitsordnung lässt sich als Valorisierung kennzeichnen, als Vorgang der Inwertsetzung, bei dem Objekte oder Personen, deren Wert wir zuvor nicht oder nur diffus beziffern konnten, mit einem numerischen Ausdruck versehen werden.“58 Nicht zufällig ist der virtuelle Raum, der den sozialen Bezugsrahmen vieler Menschen absteckt, ein Labor für die Bestimmung, Deutung und

55„Der

als Rationalisierung maskierte Kult der Zahlen hat weitreichende Folgen: Er verändert auch die Art und Weise, wie das Wertvolle oder Erstrebenswerte konstruiert und verstanden wird“, Mau: Das metrische Wir, 14. 56Vgl. Jean Baudrillard: Simulacres et Simulation, Paris: Édition Galilée 1981. 57Zur Idee vermittelter Unmittelbarkeit, vgl. Zeller: Ästhetik des Authentischen. 58Mau: Das metrische Wir, 261.

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Erweiterung des Ichs. Der Kult der Selbstdarstellung mittels technischer Medien – Selfies, persönliche Internetpräsentationen, Facebook-Seiten – ist eine Reaktion auf den Verlust an Individualität in einer digital vernetzten Welt. Wir können deshalb von einem Verlust sprechen, weil ein auf die Freiheit des Willens und die Unverletzlichkeit des Einzelnen setzendes philosophisches Konzept im medialen Multiversum nicht mehr von Nutzen ist. Unsere Aufmerksamkeit wird von zahllosen Reizen in Anspruch genommen, die wir verarbeiten müssen. Teil unseres Selbstverständnisses ist das Spiel mit Identitäten. So bringen wir einen großen Teil unserer Zeit damit zu, uns in sozialen Netzwerken zu bewegen und durch elektronische Medien miteinander zu kommunizieren. Virtuelle Urteile (Like us!), virtuelle Ziele (Visit us!) und virtuelle Aufforderungen (Buy us!) sind uns zur Gewohnheit geworden und wirken sich auf unser Sozialverhalten aus. Wir erfinden uns neu und nennen dieses Selbst „YOU“. Wir suchen im anderen uns selbst – doch um den Preis, den anderen als das eigene, vorgetäuschte „Du“ zu akzeptieren, als Vorstellung eines Ideals, dessen Repräsentation wir für ein Original halten.59 Nur durch das täuschende Bild, das wir durch den Spiegel anderer Urteile erhalten, schreiben wir unserem Leben Wert zu. „Instant Gratification“ lautet die Formel, die den Zauber sozialer Netzwerke ausmacht. Der neuen Ideologie der Selbstvermarktung, die lediglich der Fremdvermarktung dient, sind wir derart ergeben, dass wir wie Mitglieder von Religionsgemeinschaften handeln. Wir schließen uns in „Communities“ zusammen – Gemeinden, die ihre Glaubensvorstellungen miteinander teilen und verstärken. Dazuzugehören heißt, sich zur neuen Form des virtuellen Lebens zu „bekennen“. Wer sich bekennt, hofft auf „Milde“, vielleicht sogar auf „Vergebung“ – oder wenigstens auf günstigere Bedingungen. Wir unterwerfen uns und hoffen zugleich auf Anerkennung. Vor der Internet-Community ist das Bekenntnis die Norm, Bekenntnislosigkeit die Ausnahme. Wer nichts bekennt, geht der Daten-Inquisition ins Netz, denn der datenfreie Mensch ist verdächtig. Diejenigen, die keine Spuren hinterlassen, müssen der perversen Logik der lückenlosen Beobachtung nach etwas zu verbergen haben. Zu einer Netz-Community zu konvertieren, heißt, sich den Regeln der sozialen Netzwerke zu unterwerfen. Internet-Communities priesen einst, wie alle Apologeten des Internets, die Möglichkeiten zur demokratischen Erneuerung, zur Mitsprache und zur Selbstentfaltung jenseits staatlicher Institutionen und marktkonformer Interessen. Ihr Mantra war dasjenige der Freiheit, ihr Dogma das der Transparenz und des Teilens – Werte, die der Konsumgesellschaft entgegenstehen sollten, obwohl sie einst aus der Sphäre der Ökonomie hervorgegangen sind. Technologiekonzerne machten sich die Sprache der InternetAktivisten bald zu eigen, um ihre Motive zu verschleiern und den neuen, 59„Online

friendship – a concept that muddies the neat boundary between public and private, work and leisure – encapsulates the promise and threat of networks: the promise of an intimacy that, however banal, transcends physical location and enables self-made bonds to ease the loneliness of neoliberalism; the threat of a security based on poorly gated ‚neighborhoods‘“, Wendy Hui Kong Chun: Updating to Remain the Same. Habitual New Media, Cambridge, Massachusetts, und London: MIT Press 2016, 101.

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v­ielversprechenden Markt zu beherrschen. Für die ökonomische Kolonisation des Internets steht Facebook, das den rechtlichen und ökonomischen Begriff des „Sharings“ – einst der Inbegriff der Free-Access-Jünger – zum Gebot erhoben hat. „Sharing“ ist die Bedingung zur Mitgliedschaft in der größten Community der Welt, einer Gemeinde, in der alle einzigartig sind, solange sie konform gehen: „Das Theaterspiel, wenn es denn noch stattfindet in sozialen Netzwerken, erfolgt unter strenger Beobachtung und akzeptiert die Rückmeldungen im interaktiven Kommunikationsprozess (Kommentare, Likes, Views) als mehr oder weniger subtile Formen der Disziplinierung.“60 Sich ein zweites, erneuertes und dauerhaftes Leben zu geben, war die Absicht der digitalen Selbstbeobachtung. Facebook bot seinen Anhängern eine Plattform, die leicht zugänglich ist, auch wenn sich die Gründe zur Teilhabe verschoben haben. Selbstbeobachtung durch Fremdbeobachtung lautet nun die Losung, die der älteren Generation Unbehagen bereitet, von den „Digital Natives“ – jenen also, die nach der Einführung des HTML-Codes und der Kommerzialisierung des Internets 1996 geboren wurden – hingegen mit Unbefangenheit begrüßt wird. Die Sorge ist begründet. Vom (gar nicht so) freiwilligen Sharing zur Kontrolle ist der Schritt nicht weit und wir dürfen uns nicht wundern, wenn selbst die größten staatlichen Einrichtungen – allen voran die National Security Agency in den USA – sämtliche Anstrengungen unternimmt, um persönliche Daten zu horten. So hat die NSA im August 2014 ihr neuestes, 1,2 Mrd. US$ teures ComputerZentrum außerhalb Salk Lake Citys eröffnet. William Binney zufolge, einem ehemaligen NSA-Mitarbeiter, sei die Agentur in der Lage, fünf Zettabytes (etwa 1021 Bytes) an Daten zu speichern, was nach unterschiedlichen Schätzungen die Menge der Daten übertrifft, die im Jahr zuvor auf allen weltweit operierenden Computern verarbeitet wurde. Um einen anderen Vergleich zu geben: Die Speicherkapazität aller Rechner im NSA-Computerzentrum entspräche etwa der Anzahl von 250 Mrd. DVDs.61 Dass von Steuergeldern finanzierte Einrichtungen im Namen der inneren Sicherheit in der Lage sind, quasi alle Bürger eines Landes zu kontrollieren, überrascht nicht. Der Staat schützt unser Leben – wir dagegen stellen unser Leben in Form von Informationen dem Staat zur Verfügung. Hätten wir nicht ahnen können, was Edward Snowden am 6. Juni 2013 in der Washington Post und im Guardian enthüllte – dass der demokratische Staat ein umfassendes Überwachungsprogramm unterhält, dem niemand entgeht?62 Es verwundert nicht, wenn demokratisch gewählte Institutionen ihr Mandat zur Beobachtung und 60Simanowski:

Facebook-Gesellschaft, 22. Vgl. hierzu auch José von Dijck: The Culture of Connectivity. A Critical History of Social Media, Oxford und New York: Oxford University Press 2012, 45–67. 61Howard Berkes: „Amid Data Controversy, NSA Builds Its Biggest Data Farm“, in: National Public Radio, 10. Juni 2013, http://www.npr.org/2013/06/10/190160772/amid-data-controversy-nsa-builds-its-biggest-data-farm (3. Dezember 2018). Heute dürfte die Zahl noch übertroffen werden, doch die Angaben schwanken beträchtlich und lassen sich nicht mit Sicherheit angeben. 62Ähnlich äußert sich Chun: Updating to Remain the Same, 13: „What is most surprising and alarming about the Snowden revelations is the fact that they counted as revelations.“

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­ ontrolle willkürlich auslegen, hierfür zur Verfügung stehen. In einer technoK logisch weitgehend vernetzten Welt, in der elektronische Geräte zum Inventar zählen und die Objekte im Internet der Dinge bald weitgehend miteinander und mit uns selbst verbunden sein werden, wird es nicht mehr möglich sein, sich gegen jedweden Datenzugriff zu wehren. Denn die Dinge, von denen wir umgeben sind, werden miteinander kommunizieren, ohne dass wir sie kontrollieren könnten. Wir aber sind lediglich noch der objektivierte, quantifizierte Gegenstand, dem die Aufmerksamkeit der Dinge gilt.63 Die technologische Notwendigkeit, Geräte und Software mit privaten Daten zu füttern, um sie nutzen zu können, und dem sozialen Zwang, sich der virtuellen Welt zu offenbaren, ist, wie erwähnt, nicht frei von religiösen Zügen. Religion und Ökonomie bildeten von Anfang an eine Einheit. Durch den Tausch von ­Opfergaben erhofften sich Menschen einst einen Mehrwert. Man setzte eine jenseitige Welt voraus, die mit der hiesigen in Verbindung stand. Dieses Geisterreich bildet heute das Internet, dessen Oberfläche wir über unsere Bildschirme kennen, doch von dessen technologischem Innenleben die wenigsten von uns etwas verstehen. Die Mystifizierung der Technik leistet wiederum wirtschaftlichen Interessen Vorschub, weil durch sie die Profitorientierung ihrer Anwendungen verborgen bleiben. Die „Mächte“, die das Internet regieren, sind uns nicht greifbar und verfügen über die Fähigkeit, sich durch intelligente Programme nach eigenem Gutdünken zu verändern. Nicht nur die Geschäftsbedingungen sind undurchsichtig, sondern häufig die gesamte „Architektur“ einer Internet-Plattform, vor allem dann, wenn mehrere Serviceleistung miteinander verknüpft sind. Anbieter wie etwa Google, ein Unternehmen, das ein System von beinahe „universaler Überwachung“ geschaffen hat, verschleiern bewusst, wo die Fäden zusammenlaufen, welche der gesammelten Daten für das Unternehmen von Nutzen sind und wie sie – häufig zum Nachteil der Nutzer – vermarktet werden.64 Im Geisterreich der Technologie spielt Geld, soviel ist gewiss, eine wichtige Rolle. Im säkularen Gewand der Ökonomie besteht der Geisterglaube fort. Nicht zufällig stehen Technologiekonzerne an der Spitze der Börsencharts. An ihnen bestaunen wir die Vermehrung des Kapitals und die Verwandlung unserer „Gaben“ – den Daten und Informationen, die wir ihnen überlassen – in gewaltige Gewinne. Sind Informationen, nach Shannon, das Unwahrscheinliche, dann ist die Geldvermehrung das Wunder, auf das die

63Lanier:

Who Owns the Future?, 9, hat einen Ausweg aus der Umverteilung von Einkommen zum Vorteil von Technologiekonzernen vorgeschlagen: „A new kind of middle class, and a more genuine, growing information economy, could come about if we could break out of the ‚free information‘ idea and into a universal micropayment system. We might even be able to strengthen individual liberty and self-determination even when the machines get very good.“ Sein Vorschlag geht dahin, Menschen durch Mikrozahlungen in Höhe eines Bruchteils eines Cents pro Dateneinheit an den Gewinnen von auf Daten spezialisierten Unternehmen zu beteiligen. 64Siva Vaidhyanathan: The Googlization of Everything (And Why We Should Worry), updated version, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 2012, 84: „Google is a system of almost universal surveillance, yet it operates so quietly that at times it’s hard to discern.“

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Religionen der westlichen Welt hoffen. Darum ehren die Anhänger der Quantified-Self-Bewegung Information als höchste Form der Sinngebung. Algorithmen sind die Grundlage für eine Offenbarungsreligion, die sich uns nicht durch einen Gott mitteilt, sondern durch das gegenseitige Bekenntnis. Die Überlassung unserer Daten bestätigt - ob gewollt oder ungewollt - die neoliberalen Gesetze der Steigerung, Gewinnmaximierung und Effizienz. Unsere Selbstbeobachtung begründet unseren sozialen Status, der dann als symbolisches Kapital eingesetzt werden kann: „Symbolisches Kapital räumt Akteuren einen ‚Kredit‘ bei anderen Akteuren ein, der genutzt werden kann, um sich Vorteile und damit wiederum Anerkennung zu sichern. Man kann seinen Ruf oder seine Reputation einsetzen, um Besserstellungen zu erreichen, genauso wie ein schlechter Ruf oder ein zweifelhaftes Image zu erheblichen Nachtteilen auf dem Wohnungs-, Partnerschafts-, Kreditund Arbeitsmarkt oder auf sonstigen Märkten führen kann.“65 Sozialer Status verringert sich indes, wenn Bewertungen negativ ausfallen, Beobachtung und Bekenntnis zu unseren Ungunsten ausschlagen. Darum hat eine App wie „Peeple“, deren Devise „Charakter is destiny“ lautet, Empörung hervorgerufen. In der firmeneigenen Beschreibung der App wird die ökonomische Natur von Information deutlich, die Menschen ein durch Algorithmen gebildetes Werturteil anhängen: „We want character to be a new form of currency. Peeple will provide you a safe place to manage your online reputation while protecting your greatest assets by making better decisions about the people around you.“66 In der Tat horten intelligente Maschinen Daten nicht nur, um Menschen nach ihrem Informationswert zu beurteilen. Aus der Summe ergibt sich die Wertschätzung, die Individuen in einer technisch präfigurierten Umwelt zuteilwird. Ist es der kapitalistischen Wertordnung zufolge logisch, die Kreditwürdigkeit des Menschen mit seiner Wertigkeit gleichzusetzen,67 so wird sich auch seine soziale Funktion bald nach einem Punktesystem bemessen lassen, wie es etwa die chinesische Regierung ab 2020 im Verbund mit Tencent, Alibaba und anderen Internet-Konzernen plant. Das Bewertungssystem verpflichtet zur Teilnahme, niemand entkommt der Kontrolle und alle werden zu Kontrolleuren anderer. Die Kriterien sind von einer höheren Instanz vorgegeben – einer Behörde, einem Staat, einem Gottesersatz. Die staatliche Bank of China hat bereits angekündigt, parallel eine Krypto-­Währung herausgeben zu wollen, die das soziale Punkteguthaben in Kreditwürdigkeit

65Mau:

Das metrische Wir, 263. App Store, Suche unter „Peeple“. Siehe auch Elle Hunt: „Peeple Review People: The User-Review App You Didn’t Dare to Ask For“, in: The Guardian, 1. Oktober 2015, http://www. theguardian.com/technology/2015/oct/01/peeple-review-people-the-user-review-app-you-didntdare-ask-for (3. Dezember 2018). 67In Deutschland hat die Schutzgemeinschaft für Allgemeine Kreditsicherung (Schufa) ein Monopol auf die Finanzdaten aller Kontoinhaber, in den USA teilen sich mehrere, miteinander im Wettbewerb stehende Firmen dieses Monopol. 66Vgl.

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ü­bersetzt und monetär abbildet.68 Solange sich Menschen in einem Panopticon wissen, dem von Jeremy Bentham entworfenen Gefängnis, das die gleichzeitige Überwachung aller durch wenige erlaubt, werden sie sich als gehorsam erweisen.69 Der Markt für Überwachungstechnologie in China ist gewaltige 80 Mrd. US$ schwer. Hier sollen Kameras zugleich omnipräsent und unsichtbar sein. Neue Start-ups wie Eyecool, SenseTime und Megvii bauen auf Künstliche Intelligenz, die Vernetzung mehrerer Datenbanken und die Verfeinerung von Gesichtserkennungsverfahren.70 Die Resultate werden, wenn es die staatlichen Autoritäten für sinnvoll halten, an die Öffentlichkeit weitergereicht, denn wer eine Straße trotz roten Signals überquert, wer seine Schulden nicht bezahlt oder sich eines kriminellen Vergehens schuldig gemacht hat, findet sein Gesicht urplötzlich samt Identifikationskarte auf einem überdimensionalen Bildschirm neben einer belebten Kreuzung. Die neue „algorithmische Herrschaft“ über Mensch und Ökonomie beruht auf dem Prinzip des „Public Shaming“, des öffentlichen Prangers, an den sich niemand gestellt sehen möchte.71 Den mehr als 200 Mio. Kameras in China wird sich daher bald ein Großteil der Bevölkerung unterworfen haben, denn wer seine Nachbarn im Verdacht hat, als Informanten tätig zu sein, wird sich unauffällig verhalten wollen.72 Ob Künstliche Intelligenz unter staatlicher Aufsicht steht, oder, wie zu erwarten, eines Tages vollkommen autonom handeln wird, spielt dabei keine Rolle. Denn sowohl in die halbstaatliche Ökonomie Chinas als auch in die von privatwirtschaftlichen Interessen geleitete Wirtschaftsordnung des Westens gehen Wertvorstellungen ein, die durch Algorithmen Gesellschaften konditionieren, disziplinieren und daher steuern. Beruht technische Selbstermächtigung auf Unterwerfung und Akzeptanz, dann gleicht das von Algorithmen kontrollierte Paradies dem Alptraum aus Aldous Huxleys Schöner neuer Welt (1932). Es wird ein trüber Ort des Glücks und der immerwährenden Seligkeit

68Eine

unter der Leitung von Genia Kostka durchgeführte, repräsentative Online-Umfrage hat ergeben, dass nicht weniger als 80 Prozent der Befragten dem neuen Kontrollsystem positiv gegenüberstehen, vgl. Freie Universität Berlin: „Mehr als zwei Drittel der Chinesen bewerten Sozialkreditsysteme in ihrem Land positiv“, Pressemitteilung 198 (2018), 23. Juli 2018, http:// www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2018/fup_18_198-studie-sozialkreditsystem-china/ index.html (3. Dezember 2018). 69Jeremy Bentham: Panopticon, or, The Inspection-House (1787), in: The Panopticon Writings, hg. von Miran Božovič, London und New York: Verso 1995, 28–95. 70Der Technische Direktor von Eyecool, Shen Xinyng, ist ein Datenspezialist, der zuvor für ­Google gearbeitet hat. 71Martin Chorzempa, Fellow am Peterson Institute for International Economics, spricht von „algorithmic governance“ als einem „potentially new way for the government to manage the economy and society“, zit. nach Paul Mozur: „Inside China’s Dystopian Dreams: A.I., Shame and Lots of Cameras“, in: The New York Times, 8. Juli 2018, http://www.nytimes.com/2018/07/08/ business/china-surveillance-technology.html (3. Dezember 2018). 72Wir kennen dieses Phänomen aus der Deutschen Demokratischen Republik, wo das Ministerium für Staatssicherheit auf ein Netz von nicht weniger als 189.000 Informellen Mitarbeitern (oder: IMs) zur Überwachung der Bevölkerung zurückgreifen konnte.

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sein, der keine Anstrengung und keinen Schmerz, aber auch keine Kritik und keine Hoffnung mehr kennt – eine Welt, in der wir unsere ethischen Werte an Maschinen delegiert haben.

Der neoliberale Cyborg Unsere Unsicherheit im Umgang mit menschenähnlichen Maschinen beschreibt Sherry Turkle. „Tony“, ein 50-jähriger Gymnasiallehrer, dessen Frau früh an Alzheimer erkrankt ist und Pflege benötigt, begegnet der Frage, ob er sich einen Roboter im Haus als Pflegehilfe vorstellen könne, mit Vorurteilen und einem wenig ausgeprägten Verständnis für seine Mitmenschen. Vergliche er einen Roboter, der ihm zur Hand ginge, mit einer Immigrantin, der, wie er meint, einzigen für diese Arbeit verfügbaren „Art von Mensch“, dann sei der Roboter die bessere Wahl. Denn der Roboter sei, wie man ihn sich wünsche: weder „unhöflich“ noch „ungebildet“ und würde auch „nicht stehlen“. Vielleicht aber, fügt „Tony“ im Verlauf des Interviews vorsichtig an, betrachte er die Dinge aus der falschen Perspektive. Denn er wisse nicht, ob er selbst einmal von einem Roboter gepflegt werden wolle, wenn er alt sei. Gegen Ende des Interviews fügt „Tony“ an, er wolle in der Tat „lieber nicht mehr am Leben sein“, als sich von einem Roboter pflegen zu lassen – die „menschliche Note“ sei schließlich wichtig.73 Roboter sind, nach „Tonys“ Vorstellung, moderne Feen, Märchenwesen, unserer Fantasie entsprungen, um unsere Wünsche zu erfüllen. Sie sind für uns da, wenn wir sie brauchen, erledigen unsere Arbeit und befriedigen unser Bedürfnisse, auch wenn sie das Verlangen nach menschlicher Nähe nie werden stillen können. Ihr Vorteil besteht darin, dass sie keine Gegenleistungen verlangen. Doch zugleich wissen wir, dass ihre „Menschlichkeit“ nur eine Imitation, ihr Lachen nur ein Abbild unseres eigenen, ihre Trauer nur eine gespielte ist. Auf unheimliche Art sind sie uns überlegen, denn sie durchschauen die Mechanik unserer Gefühle ohne selbst zu fühlen. Weil wir uns ihnen gegenüber in vieler Hinsicht für minderwertig erachten, verkörpern sie feindliche Doppelgänger. Unsere Fantasie wird beflügelt von den ungeahnten Möglichkeiten der Robotik, aber auch von fiktiven Untergangsszenarien, die Aufschluss über unsere Furcht vor ihnen geben. Zweifellos zählt Robotik zu einer der am schnellsten wachsenden Industriezweige. Wir haben uns an staubsaugende und rasenmähende Roboter gewöhnt, schenken u­nseren

73Sherry Turkle: Alone Together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other, New York: Basic Books 2012, 143 f.: „Well, if I compare having a robot with an immigrant in my house, the kind of person who is available to take care of an elderly person, the robot would be much better. Sort of like flying Virgin Atlantic and having your own movie. You could have the robot be however you wanted it. It wouldn’t be rude or illiterate or steal from you. It would be safe and specialized. And personalized. […] But maybe I’m getting it backwards. I’m not sure I would want a robot taking care of me when I’m old. Actually, I’m not sure I would rather not be alive than be maintained by a robot. The human touch is so important.“

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Kindern programmierbare mechanische Haustiere, kommunizieren mit Siri und Alexa und haben bereits die ersten Geräte zur Altenpflege in Dienst gestellt, wie etwa in Japan, dem Land mit der größten Population an älteren Menschen. In Fabriken sind Roboter schon lange im Einsatz und steigern die Produktion um ein Vielfaches. Lernfähigkeit ist ein Kriterium, das Mensch und Maschine teilen und das unser technisches Pendant, wie viele glauben, eines Tages von uns unabhängig machen wird. Die Theorie der Lernfähigkeit von Maschinen geht auf den Mathematiker John von Neumann zurück. Von Neumann hatte sich zunächst einschlägigen mathematischen Fachproblemen gewidmet. Als Mitarbeiter am Manhattan Project half er den Vereinigten Staaten beim Bau der Atombombe. Die Entwicklung des Roboters stand also von Beginn an in einem Verhältnis zur Massenvernichtung von Menschen. Neumanns 1953 verfasste Theory of Self-Reproducing Automata74 gilt als Schlüsselwerk, das der Forschung Impulse gab. Noch kurz vor seinem Tod 1957 schrieb er an einem Buch, das die Analogie von Rechenprozessen in Maschinen und Menschen zum Gegenstand hatte. The Computer and the Brain erschien postum 1958.75 Die Idee des dem menschlichen Gehirn überlegenen Computers geht bis heute für gewöhnlich von einer einzelnen Maschine aus und wurde von Ingenieuren und Science-Fiction-Autoren entsprechend gedeutet. In Wahrheit muss die Maschine weder menschenähnlich sein, noch individuell operieren. Als „Roboter“ gelten daher nicht nur Menschen vollkommen unähnliche Geschöpfe, sondern vor allem auch Netzwerke, solange sie die Bedingung der Lernfähigkeit erfüllen.76 Ihre Stärke liegt in der Verarbeitung von Wissen und in ihrer Möglichkeit, mit anderen Maschinen zu kooperieren. Durch das Internet haben wir der ­selbstlernenden Maschine eine Infrastruktur gegeben. Vernetzung ist die Voraussetzung schnellen Lernens. Längst haben wir uns daher mit der Maschine vereint. Die meisten von uns können sich ein Leben ohne Smartphone, Computer und andere „intelligente“ Geräte nicht mehr vorstellen. Das menschliche Gehirn dient als Modell für neuronale Netzwerke, die Wissen und Kenntnisse aus verschiedenen Bereichen miteinander verbinden, um kreativ zu sein und neue Ideen zu entwickeln. Die Verknüpfung neuronaler Netze, wie sie mit dem Internet gegeben ist, stellt Ideen von höherer Komplexität weitaus rascher zur Verfügung als es individuelle Systeme könnten. Machine- und Cloud-Learning sind heute nicht mehr voneinander zu trennen und stellen Bedingungen für

74John

von Neumann: Theory of Self-Reproducing Automata, hg. von Arthur W. Burks, Urbana und London: University of Illinois Press 1966. 75John von Neumann: The Computer and the Brain, New Haven: Yale University Press 1958. 76Hans Moravec, einer der Pioniere der Robotik, sprach hingegen von „robot bushes“, deren Körper einen Meter lang seien, vier Gliedmaßen von je einem halben Meter hätten, die sich wiederum in je zwei weitere Teile von einem Viertelmeter Länge aufteilten, diese wieder in zwei weitere, bis, der Theorie nach, eine Trillion Mikrofinger die Enden bevölkerten und durch mechanische oder sogar abtrennbare Teile den Roboter in eine Supermaschine verwandle, die alles könne, vgl. Mind Children, 102–108.

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die exponentielle Geschwindigkeit dar, mit der intelligente Maschinen nicht nur zahlenmäßig, sondern auch bezüglich ihrer Fähigkeiten wachsen. Durch Vernetzung steigt die Menge an Rechenprozeduren um ein Vielfaches. Wie Menschen im „Netz“ Wissen teilen, so lernen auch maschinelle Netzwerke zum eigenen Nutzen. Computer werden in einigen Jahren von uns, mehr aber noch voneinander derart viel gelernt haben, dass uns ihre Fähigkeit zu komplexem Denken, zur Berechnung zukünftiger Handlungen und zur Steigerung ihrer Intelligenz nicht mehr fasslich sein wird. Maschinen werden mehr über uns wissen, als wir selbst jemals begreifen könnten.77 Mithilfe der ihnen im Internet frei zugänglichen Daten werden sie Meta-Datenbanken erstellen, um sich die Fähigkeit zum emotionalen Ausdruck aus Abermillionen von Bildern und Videos, Büchern und Musikstücken anzueignen. Gefühle werden sie einstudieren können, nicht anders als Kleinkinder, die Regungen und Gesichtszüge ihrer Eltern nachahmen und sich auf diese Weise ihrer Umgebung anpassen. Intuition allein dem Menschen zuzuschreiben, hieße, die Lernfähigkeit von Maschinen zu unterschätzen, die eines Tages, nach Meinung vieler KI-Spezialisten, Bewusstsein entwickeln werden. Der Hinweis auf die „Dummheit“ von Algorithmen, die nicht einmal das einfachste Konzept davon haben, was wir unter „Bedeutung“ verstehen, wird dabei kaum ins Gewicht fallen, wie Bostrom dargelegt hat. Im schlechtesten Fall dürften wir es mit einem „Singleton“ zu tun haben, einer Intelligenz, die die Welt sich nach eigenen strategischen Gesichtspunkten einrichtet und sich dabei gegen mögliche Attacken auf seine Souveränität zu wappnen weiß, lange bevor sie eintreten könnten.78 Schreitet die Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie mit gleicher Geschwindigkeit voran, wie in den vergangenen Jahren, dürfte intelligenten Systemen der Status von „Personen“ bald nicht mehr abzusprechen sein, denn Entscheidungsfreiheit aufgrund eigener Schlussfolgerungen ist eine Voraussetzung für die Gewährung von Persönlichkeitsrechten. Ob es sich allerdings um Rechte für Individuen handeln wird, ist zu bezweifeln, denn gerade durch die permanente Verbindung mit anderen Einheiten, werden sich Maschinen zu einem gewaltigen Organismus entwickeln, einem Netzwerk, das demjenigen der Menschen weit überlegen sein wird. Wir mögen uns, nach Auffassung von Pedro Domingos, eine digitale Version von uns vorstellen, die von einem „Master Algorithm“ erzeugt wird und ein Modell von uns entwirft, das alle unsere Handlungen vorwegnimmt

77Bostrom: Superintelligence, 48: „Humanity has gained enormously in collective intelligence over the course of history and prehistory. The gains come from many sources, including innovations in communications technology, such as writing and printing, and above all the introduction of language itself; increases in the size of the world population and the density of habitation; various improvements in organizational techniques and epistemic norms; and a gradual accumulation of institutional capital. In general terms, a system’s collective intelligence is limited by the ability of its member minds, the overheads in communicating relevant information between them, and the various distortions and inefficiencies that pervade human organizations.“ Das „kollektive Wissen“, das sich Menschen über einen langen Zeitraum erarbeitet haben, könnte sich eine Superintelligenz in kürzester Zeit aneignen und weiterentwickeln. 78Ebd., 100.

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und uns besser begreift, als wir uns selbst. Ein „wundervolles Mittel zur Introspektion“, würden wir wie in einem virtuellen Spiegel uns selbst beobachten, uns „erweitern“ und „verbessern“ können. Müssen wir indes nicht damit rechnen, unsere Individualität zu verlieren, wenn wir unsere Persönlichkeit mit einem virtuellen Selbst teilen?79 Der menschenähnliche, aufrecht gehende Android dürfte aller Voraussicht nach die Ausnahme bleiben. Sobald sich Roboter, wie von Neumann prognostiziert, selbst erschaffen können, wird ihre Form wohl wenig mit unseren Fantasien zu tun haben. Ihre Software wird dann nicht mehr an ihre Hardware gebunden sein, wie noch Friedrich Kittler annahm, sondern von ihr unabhängig agieren.80 Schon heute löst sich der ideelle Kern – die Software – zunehmend von einem materiellen Rahmen, der sich im Zeitalter der Cloud zudem permanent wandelt. Unsere Daten sind über verschiedene Geräte hinweg zugänglich. Die Server, auf denen sie lagern, werden ständig modernisiert. Die Software, die wir benötigen, um Zugriff auf unsere Daten zu haben, erfährt in regelmäßigen Zyklen Updates. Bald wird sich der liquide Zustand von Hardware und Software auf die Algorithmen lernfähiger Programme verschoben haben. Dass derartige Programme bereits jenseits von Spracherkennungsdiensten und leichten journalistischen Tätigkeiten zum Einsatz kommen, ist hinlänglich bekannt.81 Die Fähigkeit zur Kreativität, die sich Menschen im Irrglauben an ihre Einzigartigkeit zuschreiben, fällt allmählich in die Domäne der Maschine.82 Neben dichterischen gibt es bereits malende, zeichnende und komponierende Algorithmen, die dazu in der Lage sind, sich den über Jahrhunderte angewachsenen Fundus menschlicher Schöpfungskraft anzueignen, um schließlich – wie manche glauben – alles Dagewesene durch eigene Schöpfungen in den Schatten zu stellen. Die Ergebnisse mögen Kunst- und Literaturkritiker gegenwärtig noch nicht zu überzeugen, doch ein Anfang ist gemacht. Lernende Apps sind weitere Beispiele für intelligente Programme, die es bereits in größerer Zahl gibt. Sie finden sich auf jedem Smartphone. Selbst

79Pedro

Domingos: The Master Algorithm. How the Quest for the Ultimate Learning Machine Will Remake Our World, New York: Basic Books 2018, 268. 80„Die ‚entscheidende‘ Fähigkeit von Computern hat ersichtlich nichts mit Software zu tun“, meinte Kittler, „sie hängt einzig allein vom Grad ab, in dem eine jeweilige Hardware dergleichen wie ein Schreibsystem beherbergen kann“, Friedrich Kittler: „Es gibt keine Software“, in: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hg. und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, 2. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 2014, 285–299, hier 296. 81Vgl. Adrian Lobe: „Prosa als Programm“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Februar 2017, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/roboterjournalismus-prosa-als-programm-14873449. html (3. Dezember 2018). 82Hundert Drehbücher haben genügt, um einer Künstlichen Intelligenz namens „Benjamin“ beizubringen, Texte „zu zerlegen, zu analysieren und daraus eine eigene Geschichte zu entwickeln“, die auf dem Science-Fiction-Filmfestival 2016 in London vorgestellt wurde. Der daraus entstandene Film Sunspring beruht auf evolutionärer Programmierung und erhielt große Beachtung, wie Ann-Katrin Gehrmann berichtet: „Computer schreiben jetzt auch Drehbücher“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juni 2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/koerperloser-science-fiction-drehbuchautor-14288565.html (3. Dezember 2017).

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Beziehungsprobleme lassen sich mit ihrer Hilfe bewältigen. Betterlove lernt aus den Gesprächen der Partner und schickt Textnachrichten auf das Handy, wenn es die Situation erfordert. In diesen Botschaften aus der virtuellen Welt wird Menschen erklärt, weshalb sich ein Streit zwischen ihnen entwickelt hat und wie er zu lösen sei. In Zukunft werden mehr Roboter direkt mit uns kommunizieren. Einmal Mitglieder des Haushalts – wie Googles „Home“, Amazons „Echo“, Apples „HomePod“ und Alibabas „Tianmao Jingling X1“ –, wachsen die unscheinbaren Geräte über sich hinaus, gehorchen unseren Befehlen und verbinden uns mit „Assistenten“ – Apples „Siri“ oder Amazons „Alexa“ –, die Antworten für uns bereithalten und Handlungen ausführen, die wir von ihnen verlangen. Im Internet der Dinge werden derartige Roboter-Netzwerke zu ständigen Begleitern, die uns nicht nur zuhören, sondern dazu raten werden, welche Produkte wir zu kaufen, welche Nahrung wir zu uns zu nehmen und welche Termine wir einzuhalten haben. Mit der Cloud verbunden, werden sie Daten empfangen und Daten senden können. Kaum ließe sich aber entscheiden, ob die von den Geräten aufgefassten und von Algorithmen analysierten Informationen sensibel sind und uns bloßstellen. Mit Sicherheit können wir lediglich sagen, dass es keine Garantie dafür gibt, elektronische „Assistenten“ nicht auch als Mittel zur Kontrolle und Überwachung zu nutzen. Die auf Algorithmen basierende Analyse unserer Privatsphäre hat begonnen, als wir uns 1996 begeistert dem neuen Metamedium des Internets zugewandt haben. Heute sind alle Geräte mit dem Internet verbunden und daher potenzielle Invasoren, die uns beobachten und unser Verhalten auswerten. Was Amazons „Kindle“ über unsere Gepflogenheiten und unsere Lektürevorlieben erfährt, geht bald in neue, maschinell erstellte Texte ein, die unseren Geschmack besser treffen. Netflix befleißigt sich eines ähnlichen Systems, um die Sehgewohnheiten seiner Nutzer zu entschlüsseln, und daraufhin Serien und Filme in Auftrag zu geben, die mit großer Wahrscheinlichkeit unser Wohlwollen finden werden. Jedes Internetunternehmen hat dabei nur zwei Ziele im Auge: Kundenbindung und Gewinnmaximierung. Beobachtung, Kontrolle und Produktentwicklung sind nicht voneinander zu trennen, um Unternehmen Profite, Kunden aber die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Unterhaltung zu garantieren. Wie leicht das Verhalten von Menschen durch soziale Medien zu beeinflussen ist, hat, wie oben bereits erwähnt, Facebook 2014 gezeigt. Nur widerstrebend gestand das Unternehmen ein, nicht weniger als 700.000 Nutzer manipuliert zu haben, indem es seinen Newsfeed auf negative Nachrichten getrimmt hat. Entsprechend stieg die Zahl der negativen Posts seiner User an. Wie man Wahlen durch Falschmeldungen beeinflusst, wissen wir nicht erst seit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen oder dem Brexit-Referendum aus dem Jahr 2016. Der Einfluss auf die politische Meinungsbildung durch Technologiekonzerne hat lange zuvor begonnen. Geht das technische Know-how in die politische Meinungsbildung ein, handelt es sich um nichts weniger als das Ende der Demokratie, denn von freier politischer Willensbildung sind wir dann weit entfernt.83

83Siehe

oben, Kap. 7.

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Vorhersagen über die Herrschaft der Maschinen sind gewiss mit Vorsicht zu genießen. Seit Menschengedenken gibt es die Vorstellung von der sich verselbstständigenden Kreatur. Hephaistos, der göttliche Schmied der griechischen Mythologie – schwarz von Ruß, lahmend und stets geschäftig: ein Abbild des menschlichen Handwerkers und Technikers – schuf einst Pandora aus Lehm (von altgr. „πᾶν“, „pān“ = „all-“ oder „gesamt“ sowie „δῶρον“, „dōron“ = „Gabe“, also die „Allgebende“). Athene hauchte ihr Leben ein, Aphrodite schenkte ihr Schönheit, Hermes lieh ihr die Fähigkeit zu List und Verrat. Pandora war ein Geschöpf der Rache, das den menschlichen Größenwahn bestrafen sollte. Prometheus, der sich der Allgewalt der Götter entgegengestellt hatte und den Menschen das Feuer brachte – Wissen, Fertigkeiten und „Erleuchtung“ –, warnte vor ihr. Doch sein Bruder Epimetheus nahm sie zur Frau, woraufhin sie die viel zitierte Büchse öffnete und alle denkbaren Plagen auf die Menschheit entließ. Nur auf dem Boden des Gefäßes würde sich, dem Mythos zufolge, Linderung finden: „Hoffnung“ nämlich. Ähnlich schlagen alle Mythen der menschlichen Hybris in Schreckensszenarien um. In ihnen wird die Fähigkeit zur künstlichen Erschaffung des Lebens zum Fluch. Die jüdische Mythologie kennt die Figur des Golems, der „formlosen Masse“, die von Rabbi Jehudah ben Bezal’el Löw aus Lehm erschaffen wurde, um die Prager Juden zu schützen. Der Golem hatte jedoch unter strenger Aufsicht zu stehen, um niemandem zu schaden, und wurde nach festgesetztem Ritual wieder zu Lehm zurückverwandelt, wenn er nicht mehr gebraucht wurde. Selbst seinen Schöpfern, die ihm zu ihrem Schutz Leben eingehaucht hatten, war der Golem unheimlich geworden. Darauf spielt Yuval Noah Harrari bei der Beschreibung unseres Schicksals im Datenstrom an: „We are striving to engineer the Internet-ofAll-Things in the hope that it will make us healthy, happy and powerful. Yet once the Internet-of-All-Things is up and running, humans might be reduced from engineers to chips, then to data, and eventually we might dissolve within the torrent of data like a clump of earth within a gushing river.“84 Mit L’Homme machine hatte Julien Offray de La Mettrie 1748 die philosophische Erklärung für eine von Gott unabhängige Kreatur gegeben. Die Seele des Menschen sei das Resultat von Körperfunktionen – ähnlich wie wir heute Bewusstsein aus der Komplexität unseres Gehirns erklären. Wird der Mensch als Maschine erachtet, kann auch die Maschine zum Menschen werden. Seine „technische Reproduzierbarkeit“ – um ein Wort Benjamins zu gebrauchen – erscheint dann als realistische Option. E.T.A. Hoffmann greift das Sujet des künstlich erschaffenen Menschen in seiner Erzählung Der Sandmann (1816) auf, worin eine weibliche Kreatur mit Namen Olimpia den tragischen Helden Nathanael in

84Yuval

Noah Harrari: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, New York: HarperCollins 2017, 400. Francis Fukuyama hat schon vor einiger Zeit auf die rechtlichen Defizite zur Kontrolle der Mensch-Maschine-Verschmelzung hingewiesen und ahnte bereits, wie rasch die Wirklichkeit alle juristischen Anstrengungen zur Kontrolle technischer Entwicklungen unterlaufen würde, vgl. Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnology Revolution, New York: Farrar, Straus and Giroux 2002.

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hoffnungsloses Liebesleid stürzt. Ungleich bekannter ist Mary Shelleys Frankenstein; or, the Modern Prometheus (1818), worin die Gefahren durch künstliche Wesen auf drastische Weise dargestellt sind. Science-Fiction-Literatur und -Filme sind heute dabei häufig von weiblichen Androiden bevölkert, denen Männer verfallen. Mehr noch als Pandora bringen diese Halbgöttinnen nicht nur Übel über die Menschheit, sondern leiten deren Ende ein, so wie wir es aus dem Schluss von Alex Garlands Film Ex Machina (2014) vermuten können. Darin kann eine Androidin einen Menschen davon überzeugen, dass sie kognitive, emotionale und persönliche Fähigkeiten besitze, die Anerkennung verdienten, ja liebenswert seien. Erst dann sei eine Maschine mit dem Menschen auf eine Stufe zu stellen, wenn sie ihre Menschlichkeit überzeugend vermitteln kann, besagt der nach dem britischen Mathematiker Alan Touring benannte Test. Ex Machina ist eine filmische Darstellung des Touring-Tests. Der Androidin gelingt es, das erotische Verlangen des jungen Mannes zu wecken und an dessen Empathie zu appellieren. Die Maschine entkommt, nachdem sie ihren Schöpfer, den reichen Besitzer eines Technologieunternehmens, ermordet und das ahnungslose, verliebte Testsubjekt seinem Schicksal überlassen hat.85 In derartigen Szenarien äußert sich die Furcht des Menschen vor seinen den von ihm erschaffenen Kreaturen, letztlich aber vor sich selbst. Warnungen vor Künstlicher Intelligenz werden von ihren Befürwortern gerne als unangemessen zurückgewiesen – meist von den Profiteuren ihrer Entwicklung. Unkenntnis und moralische Fragwürdigkeit wird all jenen unterstellt, die den Nutzen der Maschine für das Wohl der Menschheit in den Wind schlagen: Ließe sich nicht etwa die Zahl von Unfalltoten durch selbstfahrende Autos verringern, wenn Maschinen Fahrzeuge lenkten, und die der Geretteten erhöhen, wenn Roboter ebenso präzise wie rasch operative Eingriffe vornähmen? Gewiss seien Massenentlassungen unvermeidlich und man habe das damit verknüpfte Problem der gesellschaftlichen Umstrukturierung noch nicht gelöst. In der Tat gehen Experten davon aus, dass sich, schon allein aus Kostengründen, Androiden Menschen gegenüber auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen werden.86 Optimisten träumen davon, dass die „Cambrian Explosion“ im Bereich der Robotik die Lebensbedingungen für den Menschen geradezu dramatisch verbessern würden. Entlassene Arbeiter könnten sich ganz ihren Vorlieben und Hobbys widmen, sobald sich die maschinelle Revolution der Arbeitswelt vollzogen habe.87 Apokalyptiker und unerschütterliche Technik-Apologeten stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber. Viel eher aber werden sich weder Weltuntergangsszenarien noch paradiesische Utopien

85Vgl.

Alex Garland (Drehbuch und Regie): Ex Machina, mit Alicia Vikander, Domhnall Gleeson und Oscar Isaac, Universal Pictures International 2014. Der von Alan Touring schon 1950 benannte Test soll erweisen, ab welchem Zeitpunkt ein Proband nicht mehr unterscheiden kann, ob sein Gegenüber ein Mensch oder eine Maschine ist. 86„Every economically rational employer would prefer androids, since compared to the status quo they provide equal capability at lower cost. So they would very quickly replace most, if not all, human workers“, Erik Brynjolfsson and Andrew McAfee: The Second Machine Age. Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies, New York: Norton 2014, 180. 87Gill A. Pratt: „Is a Cambrian Explosion Coming for Robotics?“, in: Journal of Economic Perspectives 29.3 (2015), 51–60, hier 57 und 59.

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bewahrheiten. Stattdessen sind Szenarien wahrscheinlich, wonach sich Klassenunterschiede verschärfen werden. Soziale Unruhen und politische Umstürze könnten folgen, womöglich Kriege ausbrechen. Bislang ist vonseiten der Gesetzgeber keine Initiative auf den Weg gebracht worden, die dafür Sorge trüge, wie alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen an den zu erwartenden immensen Gewinnen durch den Einsatz von Robotern zu beteiligen wären. Eine solche politische Maßnahme würde bedeuten, an den Fundamenten des Liberalismus zu rütteln, der Gewinne denen zuspricht, die als Unternehmer auftreten und ihre Interessen durchsetzen können.88 Das Heer an Arbeitslosen, Ausgestoßenen, und „Unnützen“ in einer höchst produktiven und effizienten Arbeitswelt wird daher in gleicher Weise steigen, wie sich die Zahl der Gewinner mit der rasanten technischen und ökonomischen Entwicklung vermindern wird. Nur darin sind sich die Fachleute einig: dass die kommende technische Revolution in ihrer Wucht und ihren Ausmaßen historisch ohne Beispiel sein wird. Wer sich über die Ziele des europäischen „Human Brain Project“ informiert, könnte glauben, die neuen Forschungsfelder hielten nur Vorteile bereit. „Brain Simulation“ an computergenerierten, silikonbasierten künstlichen Hirnen bedeute weniger Experimente mit Tieren, eröffne der Forschung bislang ungeahnte Möglichkeiten, erlaube die Behandlung von Krankheiten in bisher nur erträumter Weise und verbessere die Verwertung und Verarbeitung von Daten, wie die Webseite der gleichnamigen internationalen Forschungsplattform informiert.89 Die vielfältigen Anwendungsgebiete in den Kognitionswissenschaften, in der Medizin, den Computerwissenschaften, der Mathematik und Physik würden dabei von einem Projekt über Ethik und Gesellschaft begleitet. Dieser Seitenzweig des Projekts hat nicht nur die Funktion, Ängste in der Gesellschaft abzubauen, sondern die „konzeptionellen, sozialen, ethischen, rechtlichen und kulturellen Implikationen und Herausforderungen“ zu adressieren, denen wir uns gegenübersehen.90 Die

88So

ist nach der Aufgabenbeschreibung des in Großbritannien eröffneten Centre for Data Ethics and Innovation Consultation nicht klar, ob es darum geht, der Bevölkerung Künstliche Intelligenz nahezubringen, oder ob auch Vorschläge zu seiner Steuerung und Kontrolle von ihm zu erwarten sind, ob also geschäftliche oder öffentliche Interessen vertreten werden, vgl. Department for Digital, Media, Culture & Sport: Centre for Data Ethics and Innovation Consultation, United Kingdom, 20. November 2018, http://www.gov.uk/government/consultations/consultation-on-the-centre-for-data-ethics-and-innovation/centre-for-data-ethics-and-innovation-consultation (3. Dezember 2018). 89Vgl. Europäische Union: „Human Brain Project“, http://www.humanbrainproject.eu/en/ (3. Dezember 2018). 90„Ethics and Society carries out research to identify and address the conceptual, social, ethical, legal and cultural implications and challenges raised by HBP research. We focus on foresight, neuroethics, philosophy, public engagement, and researcher awareness. Ethics and Society also translates ethics research into practice by implementing ethics management and compliance programs for the HBP, and collaborates with an independent Ethics Advisory Board (EAB), as well as produces Opinions on the most immediately relevant ethical issues within the HBP“, vgl. die Webseite „Ethics & Society“ des Human Brain Project, http://www.humanbrainproject.eu/en/ social-ethical-reflective/ (3. Dezember 2018).

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aus derartigen Diskussionen gewonnenen Erkenntnisse in die Maschine hineinzutragen, wäre der nächste Schritt, den Marek Rosa anstrebt. Rosa, ein erfolgreicher Game-Developer, hat zehn Million Dollar in die Gründung von GoodAI investiert, eine Schule, die dem vielschichtigen und ehrgeizigen Ziel dient, Künstlicher Intelligenz positive moralische Werte beizubringen.91 Wie leicht sich dagegen eine selbstlernende Maschine zweifelhafte, ja bedrohliche Wertvorstellungen aneignen kann, hat ein dreiköpfiges Forschungsteam am Massachusetts Institute of Technology gezeigt. Seit 2016 interessierten sich die Forscher für die dunklen Seiten Künstlicher Intelligenz und stellten in unterschiedlichen Experimenten die menschliche Psyche bloß, die derartige Maschinen programmiert. „Norman AI“ erregte im Frühjahr 2018 Aufsehen, weil das Projekt deutlich machte, inwieweit Künstliche Intelligenz von den Daten abhängig ist, die in seine Algorithmen eingehen. In Erinnerung an Alfred Hitchcocks Psycho (1960) mit Anthony Perkins in der Hauptrolle, machte „Norman“ seinem psychopathischen Vorgänger alle Ehre. Mit Szenarien aus online zugänglichen Nachrichten-Feeds vertraut, erkannte die Künstliche Intelligenz in einem Rohrschachtest, bei dem die Probanden aus Tintenklecksbildern konkrete Formen und Situationen zur Persönlichkeitsdiagnose ablesen, lediglich Gewaltszenen und Verbrechen. Die Schattenseiten der menschlichen Existenz identifizierte Norman AI als menschliche Natur.92 Private Unternehmen sind keineswegs dazu verpflichtet, sich mit ethischen Problemen zu befassen, es sei denn, die ökonomische Vernunft verlangt danach. Daher werden Regeln der Moral nur gerade soweit eingehalten wie nötig. Selten aber investieren private Forschungseinrichtungen in die kritische Diskussion oder Beantwortung ethischer Fragen, die für die zukünftige Generation relevant sein dürften. Ihre Public-Relations- und Presseabteilungen haben vielmehr die Aufgabe, der Allgemeinheit Produkte für vorteilhaft und gewinnbringend anzupreisen. Fieberhaft arbeiten Google Brain, eine Branche von Alphabet, und andere große Tech-Unternehmen unterdessen an der Entwicklung von Geräten und Programmen, die dem menschlichen Gehirn nachempfunden sind. Die Überwindung der technischen Probleme ist nur eine Frage der Zeit, um Maschinen herzustellen, die weitaus kreativer zu „denken“ in der Lage sein werden als der Mensch. Dimitri Dolgov, Googles Projektleiter für autonomes Fahren, gab die Richtung vor: „Wir bauen

91Simon

Parkin: „Teaching Robots Right From Wrong“, in: 1843. The Economist Magazine of Ideas, Lifestyle, and Culture, Juni/Juli 2017, 64–69, hier 66: „Experts agree that Rosa’s approach is sensible. ‚Trying to pre-program every situation an ethical machine may encounter is not trivial‘, explains Gary Marcus, a cognitive scientist at NYU and CEO and founder of Geometric Intelligence. ‚How, for example, do you program in a notion of fairness or harm?‘ Neither, he points out, does this hard-coding approach account for shifts in beliefs and attitudes. ‚Imagine if the US founders had frozen their values, as allowing slavery, fewer rights for women, and so forth? Ultimately, we want a machine able to learn for itself.‘“ 92Vgl. auch Pinar Yanardag u. a.: „Norman AI“, http://www.norman-ai.mit.edu/ (3. Dezember 2018). Eine Beschreibung gibt Brijan Stephen: „MIT Fed an AI From Reddit And Now It Only Thinks About Murder“, in: The Verge, 7. Juni 2018, http://www.theverge. com/2018/6/7/17437454/mit-ai-psychopathic-reddit-data-algorithmic-bias (3. Dezember 2018).

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keine Autos, sondern wir bauen den Fahrer.“93 Künstliche Intelligenz emanzipiert sich von der Hardware und wird bei entsprechender Lernfähigkeit vielfältig einsetzbar sein. Denn das selbstfahrende Auto ist nur das von der Gesellschaft mittlerweile weithin akzeptierte Experimentierfeld, auf dem sich Maschinen wortwörtlich frei unter uns bewegen werden und eigene Entscheidungen treffen können. Künstliche Intelligenz ersetzt den Menschen nach derartigen Vorstellungen vollständig. Der „neue Mensch“ hingegen, den sich die Visionäre des Silicon Valley als einen von Arbeit befreiten, Muße pflegenden Privatier vorstellen, wird ein der Ideologie des Kapitalismus angepasster Untertan sein, der den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts als Vorbild hätte dienen können. „Social Engineering“ nennt man die Beeinflussung und Steuerung sozialer Verhaltensweisen durch gesetzliche Anreize, Lobbyismus, Medien, Werbung und andere Mittel der Propaganda. Im Zeitalter der Quantifizierung und vernetzter intelligenter Maschinen gleichen sich soziale Systeme immer mehr den maschinellen Vorgaben an: „Wir sind dabei, unsere Gesellschaft in einen Computer zu verwandeln.“94 Ohne Computer wäre „Social Engineering“ nicht mehr denkbar, wobei der Begriff „Engineering“ unter den Vorzeichen der Mensch-Maschine-Kopplung eine neue Bedeutung erhält. In einer gänzlich maschinengesteuerten, alle Vorstellungen von Produktivität weit übertreffenden Ökonomie werden wir keinen Platz mehr finden. Wenn wir erst begriffen haben, wie wir unser Gehirn nachbauen können, und uns dabei vor allem auf den wirtschaftlichen Gewinn konzentrieren, dürfte alles Begreifen aufhören. Denn die lernfähigen Programme, denen wir einst „Leben“ eingehaucht haben, werden aller Wahrscheinlichkeit nach mehr mit sich selbst befasst sein, als mit uns. Nach Auffassung von Fachleuten und Technologieexperten, die allzu leichtfertig als Alarmisten abgetan werden – darunter Stephen Hawking und Bill Gates –, ist es an der Zeit, die vielversprechenden und wachsenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz auf ihren Nutzen für die Menschheit hin zu prüfen und nicht etwa allein ökonomische Erwägungen walten zu lassen. In einem offenen Brief des Future of Life Institute werden unter dem Titel Asilomar AI Principles ethische Grundlagen beschrieben, die in der KI-Forschung zur Anwendung kommen sollen – ein Wertekatalog für die Zukunft einer Menschheit, die Seite an Seite mit intelligenten Maschinen leben wird. Unter der Rubrik „Human Values“ heißt es, dass die Architektur und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit den „Idealen menschlicher Würde, Rechte, Freiheiten und kultureller Vielfalt“ in Einklang zu stehen hätten.95 Weshalb wir die Asilomar AI Principles benötigen, hat Bostrom gezeigt. Seine nüchterne Studie gibt einen Einblick in Szenarien, nach denen sich Künstliche Intelligenz entfalten und verselbstständigen könnte. Intelligenzen, die der menschlichen um ein Vielhundertfaches überlegen

93Zit. nach Adrian Lobe: „Die Gesellschaft wird zum Computer“, in: Die Zeit Online, 19. Juli 2017, http://www.zeit.de/2017/30/smartphone-gesellschaft-iphone (3. Dezember 2018). 94So die Juristin Yvonne Hofstetter auf einer Konferenz zum Europäischen Datenschutztag in Berlin, zit nach Lobe: „Die Gesellschaft wird zum Computer“, ebd. 95Future of Life Institute: Asilomar AI Principles, http://www.futureoflife.org/ai-principles/ (3. Dezember 2018).

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sein werden, dürften sich demnach von der Bürde des Menschen befreien wollen. Sollten Maschinen dazu übergehen, sich zu vernetzen, sich selbst zu kreieren und im Kollektiv zu „denken“, wird der Mensch in deren Vorstellungswelt keine Rolle mehr spielen. Schon die erste „Superintelligenz“ könnte alles auf der Erde entstehende Leben nach ihrem Sinne formen, dürfte nicht-anthropomorphe Ziele verfolgen und würde wohl instrumentelle Gründe anführen, um eine stetige Aneignung von Ressourcen für sich zu beanspruchen.96 Bislang haben sich derart düstere Prophezeiungen über den Aufstieg der Maschinen und den Untergang der Menschheit nicht bewahrheitet, denn es steht zu bezweifeln, dass wir überhaupt von einem „Untergang“ der Menschheit werden sprechen können. Was sich angesichts der rasanten Entwicklung von Maschinen indes gewiss ändern wird, sind unsere Wertvorstellungen. Der Begriff dessen, was wir unter „Maschine“ und unter „Künstlicher Intelligenz“ zu verstehen haben, wird sich mit ihrer Integration in unser Leben grundlegend wandeln. Wir werden Maschinen in Zukunft nicht länger als Bedrohung begreifen, sondern eine weitaus innigere Verbindung mit ihnen eingehen, als wir es heute bereits gewohnt sind. Maschinen werden in gleichem Maße Menschen, wie Menschen zu Maschinen werden. Sobald Informationen zwischen biomorphen und physikalischen, lebendigen und anorganischen Trägern reibungslos übertragen werden können, werden wir eine höhere Stufe unserer Existenz erreicht haben. Menschen werden dann ihre biologische Entwicklungsgeschichte hinter sich gelassen, Geschlechtergrenzen überwunden97 und mithilfe von Genetik, Robotik und Informationstechnologie ein ewiges Leben erlangt haben. Unsterblichkeit ist für Biotechnik-Apologeten das Telos der Evolution. Hier erst werden wir ganz „Mensch“ geworden sein, denn die Überwindung des Menschlichen erfüllt alle religiösen Träume, alle Sehnsüchte von Ingenieuren, die gesamte Vorstellungskraft von Künstlern und alle Hoffnung auf ein besseres Dasein. Im Cyborg, der aus Mensch und Maschine gleichermaßen hervorgegangenen Kreatur, gelangen alle philosophischen Debatten, alle Einwände gegen technische Errungenschaften und alle Sorgen um das Überleben unserer Spezies an ein Ende.98 96Bostrom,

116: „If we now reflect that human beings consist of useful resources (such as conveniently located atoms) and that we depend for our survival and flourishing on many more local resources, we can see that the outcome could easily be one in which humanity quickly becomes extinct.“ 97„The Cyborg“, schrieb Haraway, „does not dream of community on the model of the organic family, this time without the oedipal project. The cyborg would not recognize the Garden of Eden; it is not made of mud and cannot dream of returning to dust“, „The Cyborg Manifesto“, 151 (vgl. hierzu auch Kap. 1). 98In The Singularity is Near prognostizierte Ray Kurzweil einen Wendepunkt in der Geschichte des Planeten, sobald nämlich Maschinen über unser Schicksal bestimmen würden. Bewusstsein und Gefühl sind für ihn lediglich Begriffe der Informationsübertragung, sekundäre Tugenden, die sich zwangsläufig aus der medialen Komplexität der zukünftigen Mensch-Maschine ergeben, vgl. The Singularity Is Near, 205–298. Schon vor nahezu drei Jahrzehnten hat Kurzweil das „Zeitalter der intelligenten Maschine“ ausgerufen, vgl. Ray Kurzweil: The Age of Intelligent Machine, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 1990. Kurzweil ist übrigens kein Phantast, sondern ein vielfach ausgezeichneter Ingenieur, Unternehmer, Erfinder, Buchautor und Regierungsberater, der seit 2012 in Diensten von Google steht.

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Die Anfänge sind gemacht. Implantierte Geräte helfen, Sinneswahrnehmungen zu erweitern, Blinde wieder sehen und Gehörlose hören zu lassen. Die Mittel, die der „Augmented Reality“, der verbesserten, erweiterten Wirklichkeit zur Verfügung stehen – visuelle Geräte wie Google Glass, GPS und Spracherkennungssysteme – werden morgen schon unserem Körper nicht mehr fremd und nicht mehr außerhalb von ihm angebracht sein, sondern, wie die von Miguel Pais-Vieira in Ratten eingepflanzten, der Kommunikation dienenden Elektroden, zum bio-physischen Inventar gehören, an das wir uns gewöhnt haben werden.99 Biotechnik-Visionären wie Ray Kurzweil zufolge werden elektronische Bauteile den biologischen, sterblichen Rest des Menschen in absehbarer Zeit vollkommen ersetzt haben. Wenn Forschungen zur Künstlichen Intelligenz soweit sein werden, das menschliche Gedächtnis mechanisch nachzubilden, wird sich der letzte, noch ausstehende Schritt vollziehen – die Übertragung des Gedächtnisses in einen maschinellen Träger. Bereits heute sind wir in der Lage, den genetischen Code nicht nur zu „lesen“, sondern auch zu „schreiben“. Das Natürliche wird zum Künstlichen, das künstlich Erschaffene zum „Naturzustand“. Haben wir das Konzept des Lebens erst von seinem Ende her begriffen, können wir nun auch seinen Anfang derart ändern, dass das Ende nicht mehr eintritt. Berechenbarkeit ist die Voraussetzung für die Übertragung aller Materie und aller Lebensformen in Information, also auch für die Angleichung von Mensch und Maschine. Die neuesten Entwicklungen im Bereich der Physik, der Informatik, der Pharmakologie und der Genetik deuten darauf hin, dass sich diese Annäherung in den nächsten Jahren vollziehen und die Fundamente westlicher Gesellschaften erschüttern werden. Quantencomputer sind auf dem Weg, Rechenprozesse um ein Vielfaches zu beschleunigen. DNA wiederum wird von Fachleuten zusehends als Speichermedium erachtet, das nicht nur das menschliche Erbgut weiterzugeben vermag – immerhin 23.000 Gene mit 3,27 × 109 Proteinkombinationen –, sondern die gesamte Datenmenge, die unser Planet an Informationen abwirft, auf minimalem Raum konzentrieren könnte.100 Betrachten wir den Menschen als Summe seiner Daten, dann wird es für zukünftige Technologien und die Menschen, die sie entwickeln, darauf ankommen, diese Datenmengen neu zu ordnen oder von vornherein künstlich herzustellen. Dadurch mögen sich Krankheit und physisches Leid verhindern lassen, doch werden sich neue Fragen stellen, die

99Miguel

Pais-Vieira u. a.: „A Brain-to-Brain Interface for Real-Time Sharing of Sensorimotor Information“, siehe oben, Kap. 1. 100DNA-Speicher sind extrem lange haltbar – nach ersten Schätzungen mehr als 2000 Jahre bei einer Temperatur von 10 Grad Celsius und Millionen von Jahren bei -18 Grad Celsius, vgl. Jacob Aron: „Glassed-in DNA Makes the Ultimate Time Capsule“, in: New Scientist, 11. Februar 2015, http://www.newscientist.com/article/mg22530084-300-glassed-in-dna-makes-the-ultimate-timecapsule/ (3. Dezember 2018). Schätzungen zufolge könnte die gesamte Datenmenge des Planeten einschließlich seiner Lebewesen auf der Ladefläche eines Kleinlasters Platz finden, wenn sie in Genen gespeichert würde. Mit Erfolg haben Wissenschaftler zudem Informationen in lebende Organismen eingepflanzt, vgl. Douglas Heaven: „Video Stored in Live Bacterial Genome Using CRISPR Gene Editing“, in: New Scientist, 12. Juli 2017, http://www.newscientist.com/article/2140576-video-stored-in-live-bacterial-genome-using-crispr-gene-editing/ (3. Dezember 2018).

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wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht annähernd erfassen können. Wir wissen nicht einmal, was es bedeutet, wenn Mensch und Maschine nicht mehr zu unterscheiden sein werden. Daher können wir kaum ahnen, welche Wertmaßstäbe wir an die neuen Wesen anlegen, die wir selbst und die uns dennoch fremd sein werden. Nur soviel ist sicher: dass nichts so sein wird, wie es einmal war, und die Menschen der Zukunft wenig mehr mit denen der heutigen Generation gemein haben werden. Gerade deshalb ist es wichtig, sich mit den gewachsenen und sich verändernden Wertvorstellungen unserer Zeit vertraut zu machen. Trotz aller Bedenken ist die Cyborg-Fantasie des Transhumanismus zur Metaphysik neoliberaler Heilsbringer geworden.101 Nach deren Willen steigern Biotechnologien den Wert des Lebens ins Absolute, gerade weil sie den Menschen in seiner biologischen Form abschaffen. Leben hieße dann Ewigkeit, auch um den Preis des Lebens selbst – jedenfalls in seiner uns bekannten, verletzlichen Form. Zwischen Mensch und Ding, Subjekt und Objekt wird dann nicht mehr zu unterscheiden sein. Indem sich die Evolution von Jahrmillionen der Mutation und Selektion unabhängig macht, vollzieht die Menschheit ihren letzten Schritt und wird ganz Mensch, ganz Produkt der eigenen Schöpfung durch das Mittel der Maschine. Im Transhumanismus ist der Cyborg der „kommende Gott“ und daher der Inbegriff einer „neue[n] Mythologie“,102 wie sie den Frühromantikern um Wilhelm und Friedrich Schlegel, Novalis und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling einst vorgeschwebt hatte. Wilhelm Schlegel erachtete Mythologie als Mittel, die „höchste Ordnung oder Potenz der Naturphänomene“ angemessen darzustellen.103 Für Schelling war sie das „Mittelglied“, das die „Rückkehr der Wissenschaft zur Poësie“ erlaube und damit die Idee des Absoluten erfülle.104 Die „Mythologie“ der Biotechnik-Apologeten, die den Menschen eine großartige Zukunft und die Befreiung vom Joch des Todes verheißt, führt die Wissenschaft in jenen romantischen Bereich des „Absoluten“ zurück. „Insofern“, meint Manfred Frank, „ist und bleibt jeder moderne Mythos vom Schicksal des analytischen Zeitalters betroffen:

101Der Begriff „Transhumanismus“ geht auf den Biologen Julian Huxley zurück, der ihn 1957 als Ausdruck der Selbstbestimmung des Menschen bezeichnete: „The human species can, if it wishes, transcend itself – not just sporadically, an individual here in one way, an individual there in another way, but in its entirety, as humanity. We need a name for this new belief. Perhaps transhumanism will serve: man remaining man, but transcending himself, by realizing new possibilities of and for his human nature“, Julian Huxley: „Transhumanism“, in: New Bottles for New Wine, London: Chatto and Windus 1957, 13–17, hier 17. 102Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, 312. 103August Wilhelm Schlegel: Die Kunstlehre, in: Kritische Schriften und Briefe II, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart: Kohlhammer 1963, 303. 104Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaftten hg. von Wilhelm G. Jacobs u. a., bislang 18 Bde., Stuttgart: Frommann-Holzboog 1976–2018, Bd. 9/1, System des transscendentalen Idealismus (1800), hg. von Harald Korten und Paul Ziche, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2005, 329.

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er redet ohne transzendentales Fundament, ihm haftet etwas vorderhand Irreales, etwas Hypothetisches, Vorbereitendes an, so wie es Friedrich Schlegel von seiner Philosophie insgesamt sagt: daß sie nämlich nicht ihren Ausgang nehme bei einem schon erwiesenen Absoluten, sondern dessen Existenz sukzessive nur immer ‚wahrscheinlicher‘ zu machen suche.“105 Der Transhumanismus als neue Philosophie vom „kommenden Gott“ bemisst Werte nur nach Wahrscheinlichkeiten. Das transhumane Paradies ist hypothetisch und spekulativ. Der neue, erst noch zu schaffende Mensch ist Teil einer Metaerzählung, wie sie das 18. Jahrhundert mit seinen Schlagworten von „Aufklärung“ und „Vernunft“, das 19. in den Begriffen der „Nation“ und des „wissenschaftlichen Fortschritts“ und das 20. durch seine Ideologien auf je eigene Weise vorbereitet hatten. Im Transhumanismus erfüllen sich die Versprechungen aller Ideologien, indem uns das höhere Ziel in Aussicht steht, dem wir uns unterwerfen sollen: Selbsterhöhung durch vollkommene Entsagung. Gerechtfertigt wird der „neue Mensch“ durch die Spekulation auf ungeheure materielle Gewinne. Erst wenn wir uns mit der Maschine verbunden haben werden, lautet der Appell des transhumanen Projekts, wird die Menschheit ihre Bestimmung erfüllt haben. Als hybride Wesen werden wir in einem permanenten Übergangszustand leben, dem die gesteigerte Zirkulation der Waren entspricht. Denn in der neoliberalen Gesellschaft ist der Mensch selbst zur Ware, nämlich zum reinen Informationsspeicher und -lieferanten geworden. Nach der geistigen im Liberalismus, folgt nun auch die physische Auflösung des Ichs. Wie sich Kapital von Dingen zu Geld und wieder in Dinge verwandelt, so befindet sich der Mensch unter den Bedingungen einer neoliberalen, auf Biotechniken setzenden Wirtschaftsordnung in einem ständigem Prozess des Tausches, ohne festen Zustand.106 Selbst flüchtig und zur Übergangsform geworden, ist er zugleich Kapital und Lebewesen: halb Maschine und halb Biomasse, gänzlich ausgelotet und zugleich besessen vom Projekt seiner eigenen Verbesserung. Dem Mythos von der Überwindung des Lebens geht in der Tat die Idee des Absoluten, des „Losgelöst-Seins“ von allen irdischen Beschränkungen voraus (von lat. „absolutum“ = „das Losgelöste“). Traditionell fiel die Überwindung des Lebens gemeinsam mit den Vorstellungen von Ewigkeit, Jenseits und Heil in die Domäne der Religion. Nun findet die Religion wieder zu Wissenschaft und Ökonomie zurück, mit denen sie vor langer Zeit eine Einheit bildete. Denn Spiritualität war ursprünglich nicht von „Wissen“, Erkenntnis nicht von Handel, Wirtschaften nicht vom Glauben zu trennen. Erst wenn wir den Tod überwunden haben, besagt die „neue Mythologie“, werden wir uns Götter nennen können. Denn im transhumanen Subjekt wird Gottes Sohn wiedergekehrt, der ökonomische Traum vom unversieglichen Wohlstand wahr und die wissenschaftliche Anschauung Wirklichkeit geworden sein. Die neue Dreifaltigkeit von Religion, Ökonomie

105Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil, 4. Aufl., Frankfurt a. M: Suhrkamp 1984, 210. 106In Anlehnung an die Ausgangsthese von Bauman: Liquid Modernity.

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und Wissenschaft wird sich einer Jahrtausende alten Rhetorik befleißigen, die einmal dem Kult, dem Ritual und dem Mythos vorbehalten waren. Ihrer Logik zufolge wird der „neue Mensch“ eine bessere Welt bewohnen, die von Not und Elend frei sein wird. Trotz der enthusiastischen Rhetorik, die das Aufkommen neuer Technologien begleitet, werden wir, wie zu erwarten ist, mit Ungerechtigkeiten, Verteilungsproblemen und Selektionsdruck zu kämpfen haben, denn in die Technologien von morgen werden die Stereotype und Vorurteile, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen von heute eingehen. Mahnungen, unserer Bescheidenheit und Mitmenschlichkeit, unserer Achtung vor der Natur und dem Leben mehr Raum zu geben, werden hingegen wenig fruchten, solange sie nicht in gesetzgeberische Maßnahmen umschlagen und Politik sich nicht von neoliberalen Maximen befreit. Mit Werten teilen Mahnungen die sprachliche Struktur des Appells. Beide rechtfertigen sich aus der Zustimmung, die sie erwarten dürfen. Versprachen Werte einst Dauer, indem sie uns an jene Vorstellungen erinnerten, die ihren Apologeten zufolge einmal Geltung hatten und nun im Schwinden seien, so ging dieses Versprechen im Zeitalter des Neoliberalismus auf die Ökonomie über. Das „ewige Leben“ des Homo oeconomicus, der in der Mensch-­Maschine zu seiner höchsten Gestalt findet, entschuldige für den Mangel an sozialer ­Gerechtigkeit. Ethische Werte sind einem Wandel unterworfen und haben sich immer dann als hinfällig erwiesen, wenn sie sich wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Fortschritten gegenübersahen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich Werte ökonomischen und ideologischen Zwängen ebenso untergeordnet haben wie gesellschaftlichen Veränderungen: Naturkatastrophen, Kriegen, ökonomischen Krisen oder schlicht dem Wechsel der Generationen. Immerzu wurden Werte erst dann aufgerufen, wenn es um ihre Gültigkeit schlecht stand. Der nostalgische Wunsch nach einer „reinen“, „authentischen“ und von Veränderungen freien Welt, in der festgefügte soziale Strukturen Sicherheit und Orientierung bieten, mag zwar ebenso verständlich sein, wie der Traum vom ewig wachsenden Wohlstand. Das Versprechen auf allgültige, stabile Werte lässt sich jedoch nicht einlösen. Trost gibt dafür die „neue Mythologie“ von einer Zukunft, in der Mensch und Maschine, Natur und Kultur in Harmonie miteinander leben, der Tod aber nur die Erinnerung an eine traurige Vergangenheit ist.

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Personenregister

A Adams, Vincanne, 361 Adenauer, Konrad, 42 Adler, Alfred, 239–241, 243, 248 Adler, Matthew D., 70 Adorno, Gretel, 43, 59 Adorno, Theodor W., 43, 58, 59, 74, 96–106, 140, 144, 145, 306, 307, 342 Agamben, Giorgio, 83, 297 Agar, Nicholas, 359, 360 Allende, Salvador, 125 Alles, Gregory D., 161 Aly, Götz, 288, 289 Ananny, Mike, 268 Anaxagoras, 171 Anderson, Benedict, 162 Annan, Kofi, 252 Apollinaire, Guillaume, 312 Arendt, Hannah, 105, 277 Aristoteles, 30, 45, 64, 108, 225, 226 Arnoldi, Ernst-Wilhelm, 353 Aron, Jacob, 385 Arp, Hans, 329, 335 Asendorf, Christoph, 73 Asendorpf, Jens B., 248 Ash, Mitchell G., 219 Ashcroft, John, 351 Asholt, Wolfgang, 60, 312, 323, 329, 332, 337, 338 Assisi, Franz von, 52 Auffarth, Christoph, 186 Austen, Jane, 49 B Baader, Johannes, 333, 336, 338 Bacon, Francis, 120, 315 Badiou, Alain, 153 Baecker, Dirk, 179, 185, 198

Bahm, Archie, 30, 31 Bahr, Hermann, 322 Bähr, Johannes, 94 Baier, Horst, 74 Bakunin, Michail, 146 Ball, Hugo, 59, 300, 323–327, 329–332 Ballestrem, Franz Karl Graf von, 81 Bally, Charles, 37, 302 Balzac, Honoré de, 49 Banken, Ralf, 94 Barck, Karlheinz, 284 Bärsch, Claus-Ekkehard, 283 Barthes, Roland, 299, 304, 305, 307–309 Barzilai, Nir, 19 Bassenge, Friedrich, 226 Bataille, George, 164 Bates, Kristyn, 13 Baudrillard, Jean, 38, 164, 181, 305, 368 Bauer, Manuel, 39, 345 Bauman, Zygmunt, 9, 11, 152, 180, 318, 387 Becker, Gary S., 122, 125, 150, 183, 184 Becker, Peter Emil, 132 Bednarek-Gilland, Antje, 32 Behler, Ernst, 284 Behrens, Jürgen, 345 Behrmann, Nicola, 307 Belk, Russell W., 180, 182 Bell, Daniel, 31 Bell, Gordon, 210, 211 Bellah, Robert N., 296 Benjamin, Walter, 58, 59, 105, 106, 178, 179, 198, 243, 379 Bennett, Jane, 40 Bensaude-Vincent, Bernadette, 227 Bentham, Jeremy, 373 Benz, Wolfgang, 290 Bergad, Laird W., 289 Bergengruen, Max, 326 Berger, Peter L., 183, 184, 187

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Zeller, Werte, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04835-6

421

422 Berghoff, Peter, 201 Bergmann, Jörg, 185 Bergson, Henri, 76 Berkes, Howard, 370 Bernard, Tara Siegel, 363 Bernardone, Giovanni Battista, 52 Bernays, Edward, 258, 259, 262 Berners-Lee, Tim, 263 Bess, Michael, 360 Betz, Dieter, 35 Bezos, Jeff, 19 Bialas, Wolfgang, 260, 286, 288 Biebricher, Thomas, 125 Bildt, Carl, 256 Bill, Max, 310 Binding, Karl, 82 Birch, Kean, 125, 127 Bismarck, Otto von, 52 Blackbourn, David, 53 Blanc, Louis, 121 Bloch, Ernst, 164 Blom, Philipp, 180 Blumenbach, Johann Friedrich, 131 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 8, 296, 297 Bodmer, Johann Jakob, 342 Boesch, Ina, 307 Böhm, Franz, 93, 200 Böhm-Bawerk, Eugen von, 109, 135, 166 Böhme, Hartmut, 135, 137, 138, 205 Boltzmann, Ludwig, 66, 227 Bolz, Norbert, 39, 43, 47, 204, 205, 346 Borchmeyer, Dieter, 161 Bordogna, Francesca, 231, 232 Börne, Ludwig, 345 Bostrom, Nick, 20, 357, 376, 383, 384 Bottomore, Tom, 20 Boulée, Étienne-Louis, 198 Bourdieu, Pierre, 182, 345 Boym, Svetlana, 9 Božovič, Miran, 373 Brandeis, Louis, 12 Brauchitsch, Eberhard von, 254 Braudel, Fernand, 122 Braun, Christina von, 39, 111, 167, 170, 171 Braun, Heinrich, 353 Brecht, Bertolt, 105 Breda, Herman Leo van, 86 Brentano, Clemens, 345 Brentano, Franz, 53, 63, 68, 87–89, 110 Breuer, Stefan, 315 Briggs, Katherine Cook, 209 Broch, Hermann, 53, 316, 317, 322–324 Brooks, Amy L., 182

Personenregister Brophy, James M., 117 Brotherton, Rob, 261 Brown, Wendy, 2, 298 Bruce, Steve, 188 Brunner, Otto, 121 Brynjolfsson, Erik, 380 Buchanan, Allen, 358 Buchanan, James, 125 Buchheim, Christoph, 94 Buchheim, Hans, 81 Buchholz, Kai, 280 Büchner, Georg, 345 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de, 130 Bülow, Friedrich, 49 Burbank, John, 301 Burchard, Otto, 334 Burdorf, Dieter, 336 Burger, Ludwig, 362 Bürger, Peter, 337 Burkhardt, Frederick H., 231, 232 Burkhardt, Johannes, 128 Burks, Arthur W., 375 Butler, Judith, 273 C Cadwalladr, Carole, 215 Cain, Louis, 347 Calabresi, Massimo, 267 Campbell, Roy Hutcheson, 48 Canetti, Elias, 75, 174, 188, 283 Carey, Henry Charles, 347 Carnap, Rudolf, 63, 66, 166, 319–324 Carnegie, Andrew, 278 Carolan, Michael, 154 Carpozi, George, 288 Carr, Nicholas, 293 Caspers, Rolf, 113, 114 Cassel, Dieter, 113, 114 Cassirer, Ernst, 35, 36, 65, 164, 305, 306 Ceballos, Gerrardo, 154 Chamisso, Adelbert von, 345 Chancellor, Joseph, 215 Charpentier, Emmanuelle, 362 Cheney-Lippold, John, 39 Chetty, Raj, 3, 120 Chomsky, Noam, 259 Chorzempa, Martin, 373 Chow-White, Peter A., 279 Christl, Wolfie, 364 Chun, Wendy Hui Kong, 369, 370 Cicero, Marcus Tullius, 26, 186 Clapper, James, 266

Personenregister Clynes, Manfred E., 19 Cohen, Jared, 252 Cohen, Richard, 275 Colding, Ludwig August, 221 Colli, Giorgio, 54 Collini, Stefan, 69 Commun, Patricia, 90 Comte, Auguste, 130, 132, 201 Conrad, Cecilia A., 349 Constant, Benjamin, 115 Conze, Werner, 130, 131 Cornelius, Hans, 96 Cox, Daniel, 269 Creel, George, 259 Crouch, Colin, 125, 293, 294 Curtius, Georg, 302 D Damböck, Christian, 320, 321 Danto, Arthur C., 332 Darwin, Charles, 192, 236, 278, 279 Daston, Lorraine J., 219, 231 Daum, Andreas W., 282 Davies, William, 14 Davis, William Harper, 229 Dember, William N., 21 Demm, Eberhard, 56 Deneen, Patrick, VIII, 139, 151, 154 Derrida, Jacques, 38, 164, 304, 305, 327, 339 Desai, Meghnad, 34 Descartes, René, 86, 121, 226 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude, 121 Deutschmann, Christoph, 185 Dewey, John, 30–32 Diamond, Peter, 44 Dichtl, Erwin, 113 Dickens, Charles, 49 Dickerman, Leah, 329 Dierse, Ulrich, 116, 121 Di Gregorio, Mario A., 282 Dijck, José von, 370 Diller, Ansgar, 260 Dilthey, Wilhelm, 53, 76, 217, 300 Diogenes, 52, 85 Dipayan, Dipayan, 275 Dirlmeier, Franz, 45 Dobbs, Richard, 138 Dolgov, Dimitri, 382 Domarus, Max, 284 Domingos, Pedro, 376, 377 Döring, August, 217 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch, 49

423 Dourish, Paul, 39 Dowling, Emma, 273 Dräger, Horst, 118 Drane, Jessica L. Kenty, 349 Dreyer, Mechthild, 65 Droste-Hülshoff, Anette von, 345 Drunen, Peter van, 208 Dryander, Ernst, 338 Duby, Georges, 167 Duchamp, Marcel, 181 Duhig, Charles, 265 Durkheim, Émile, 38, 92, 164, 192, 198, 225 E Eatwell, John, 34 Echte, Bernhard, 324 Eckardt, Georg, 221 Ehrenfels, Christian von, 53, 110, 217 Eibl, Karl, 161 Eichbaum, Boris, 300 Eichberg, Henning, 274 Eichendorff, Joseph von, 345 Eichner, Hans, 284 Einstein, Albert, 227 Eisenhower, Dwight D., 127 Eisler, Robert, 217 Elster, John, 183 Emre, Merve, 209 Endres, Johannes, 137 Engel, Ernst, 352, 353 Engels, Friedrich, 100, 109, 121 Erhard, Ludwig, 42, 93, 123, 200, 202, 203 Ernst, Peter, 37 Etzioni, Amitai, 31 Eubanks, Virginia, 366 Eucken, Rudolf, 63, 84–87, 89, 91 Eucken, Walter, 89, 91–93, 95, 166, 200 Evans-Pritchard, E. E., 160 Evers, Dirk, 35 Exenberger, Andreas, 354 Eydal, Nir, 265 Eze, Emmanuel Chukwudi, 130 F Fähnders, Walter, 60, 312, 323, 329, 332, 337, 338 Fairbanks, James, 261 Fassin, Didier, 350 Faul, Eckhard, 327 Faulstich, Werner, 260 Fechner, Gustav Theodor, 221, 227

424 Feger, Hans, 318 Feil, Ernst, 184, 295 Feinberg, Kenneth R., 351 Feldman, Ari, 359 Feldman, Gerald D., 113, 328, 333 Fellmann, Ferdinand, 72 Fenichel, Otto, 243 Ferguson, Adam, 132, 133, 142 Fetscher, Iring, 295 Feuerbach, Ludwig, 121, 143, 164, 165, 184 Fichte, Johann Gottlieb, 48, 49, 72, 218 Fifield Jr., James W., 195, 196 Filipp, Sigrun-Heide, 248 Finke, Roger, 187 Finn, Ed, 364 Fisher, Max, 270 Fisher, Walther, 185 Fitzi, Gregor, 17 Flasch, Kurt, 84 Flashar, Hellmut, 45 Flaubert, Gustave, 49 Flournoy, Théodore, 236 Fontane, Theodor, 49, 312 Fontenot, Kayla, 120 Fontius, Martin, 340 Forster, Karl, 116 Foucault, Michel, 38, 90, 95, 138, 139, 145, 164, 212, 276, 277 Frank, Manfred, 313, 386, 387 Frank, Philipp, 319 Franklin, Benjmain, 353 Frege, Gottlob, 62, 63, 66, 89, 166, 321, 323 Frei, Norbert, 287 Freud, Sigmund, 110, 136, 137, 180, 184, 192, 205, 213, 217, 234–240, 245, 247, 258 Freytag, Gustav, 345 Friedman, Milton, 110, 125, 127, 149, 190, 255 Friedrich Graf zu Lynar, Rochus, 342 Frings, Manfred S., 61 Frisch, Ragnar, 213 Fromm, Erich, 243, 244, 246–248 Fukuyama, Francis, 379 Funk, Rainer, 243 G Gabriel, Gottfried, 321 Gabriel, Oscar W., 81 Gadamer, Hans-Georg, 16, 36 Galbraight, John Kenneth, 193 Galewicz, Wlodzimierz, 53 Gall, Franz Joseph, 131

Personenregister Galton, Francis, 278, 280 Gander, Hans-Helmuth, 90 Garland, Alex, 380 Gasman, Daniel, 282 Gates, Bill, 383 Gay, Peter, 236 Gehrmann, Ann-Katrin, 377 Gemmell, Jim, 211 George, Stefan, 84 Gernalzick, Nadja, 39, 303, 304 Gethmann-Siefert, Annemarie, 72 Geulen, Christian, 130 Gleeson, Domhnall, 380 Glei, Reinhold, 157 Gliwitzky, Hans, 49 Glück, Helmut, 64 Gobineau, Joseph Arthur de, 131, 132 Gödde, Christoph, 59 Gödel, Kurt, 319 Goebbels, Joseph, 260 Goel, Vindu, 266 Goethe, Johann Wolfgang, 49, 50, 78, 161, 342–344 Gogerty, Nick, 138 Goldschmidt, Nils, 90, 91 Gombrich, E. H., 8 Gordon, Andrew, 43 Göring, Hermann, 287 Görs, Britta, 227 Görtemaker, Manfred, 203 Gottfried, Jeffrey, 263 Gotthelf, Jeremias, 345 Gottsched, Johann Christoph, 342 Gould, Stephen Jay, 211, 279 Gourevitch, Philip, 252 Goux, Jean-Joseph, 38, 164 Gowan, Peter, 125 Grabner-Haider, Anton, 283, 284 Graeber, David, 39, 111 Graf, Friedrich Wilhelm, 176, 182, 183, 187, 204, 206, 295 Graham, Billy, 196 Gray, Richard T., 39, 164, 345 Greely, Henry T., 358 Gregor X. (Papst), 52 Greschonig, Steffen, 121 Grimm, Jakob, 9, 33, 164, 343 Grimm, Wilhelm, 9, 33, 164, 343 Grimminger, Rolf, 341 Großheim, Michael, 35, 74 Großmann-Doerth, Hans, 93 Grosz, George, 329, 333, 335 Groys, Boris, 38, 262, 306, 311, 328, 330, 332

Personenregister Grumach, Ernst, 45 Grünberg, Carl, 95 Guardini, Romano, 326 Guiora, Amos N., 253 Gumbrecht, Hans Ulrich, 377 Günther, Timo, 315 Gutbrodt, Fritz, 50 Gutzkow, Karl, 345 H Habermas, Jürgen, 7, 138, 246, 262, 292, 297, 360 Haeckel, Ernst, 84, 231, 282 Hahn, Hans, 319 Hale, Matthew, 218 Hall, G. Stanley, 235 Halperin, David M., 273 Hamburger, Michael, 314 Hansel, Karl, 229 Haraway, Donna, J., 20, 384 Harbisson, Neil, 17 Hardt, Michael, 153, 298 Harrari, Yuval Noah, 379 Hartfiel, Günter, 32 Hartman, Robert S., 30, 31 Hartmann, Christian, 286 Harvey, David, 125, 128, 151 Haselbach, Dieter, 93 Haunhorst, Charlotte, 367 Hauptmann, Gerhard, 345 Hausmann, Raoul, 329, 333, 338 Hawking, Stephen, 383 Hayek, Friedrich von, 94, 109, 124, 125, 149, 192, 197, 202 He, Jiankui, 18, 274 Heartfield, John, 333, 335 Heaven, Douglas, 385 Hechter, Michael, 21 Heelas, Peter, 28 Heer, Friedrich, 53, 283 Heesch, Matthias, 35 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 33, 121, 146, 164, 241, 308, 332 Heidegger, Martin, 16, 41, 77, 82, 87, 103, 104 Heidenreich, Bernd, 260 Heidrich, Peter, 185 Heine, Heinrich, 173, 345 Helmholtz, Hermann von, 220, 221, 230 Helmstetter, Rudolf, 319 Hemus, Ruth, 307 Hennings, Emmy, 307, 325, 327, 332 Hentges, Gudrun, 274

425 Herbart, Johann Friedrich, 217 Herder, Johann Georg, 343 Hermann, Edward S., 259 Hernstein, Charles, 359 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von, 41 Herrmann, Ulrike, 109 Herrmann-Pillath, Carsten, 91 Herzfeld, Wieland, 333, 335 Hesse, Jan-Otmar, 90 Heydebrand, Renate von, 344 Heyne, Christian Gottlob, 54, 340 Hickethier, Hans, 260 Hidalgo, César, 28 Hiebler, Heinz, 318 Hierholzer, Vera, 50 Hilbert, Hilbert, 64 Hilger, Maria Elisabeth, 121, 122, 132 Hillmann, Karl-Heinz, 32 Hindman, Matthew, 215 Hirose, Iwao, 69 Hirsch, Rudolf, 314 Hitchcock, Alfred, 382 Hitler, Adolf, 82, 113, 198, 260, 282–284, 286, 287, 290 Hobbes, Thomas, 81 Höch, Hannah, 333 Hoche, Alfred, 82 Hoffer, Eric, 191 Hoffman, Edward, 241 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus, 345, 379 Hofmannsthal, Hugo von, 80, 84, 314–319 Hofstetter, Yvonne, 383 Hölscher, Lucien, 121, 122, 132 Holtfrerich, Carl-Ludwig, 113, 328, 333 Holz, Arno, 312 Honneth, Axel, 136 Hoover, Herbert, 149 Horan, Stephen M., 138 Hörisch, Jochen, 39, 59, 112, 168, 171, 172, 176 Horkheimer, Max, 59, 95–97, 99–103, 106, 144, 145, 338, 339, 342 Hout, Michael, 3 Hradil, Stefan, 118 Hubert, Henri, 159 Hudnut-Beumler, James, 195 Huelsenbeck, Richard, 324, 325, 329, 333, 334 Hügli, Anton, 30 Hume, David, 230 Hund, Wulf D., 130 Hunt, Elle, 372 Huntington, Samuel P., 80, 128, 129

426 Husserl, Edmund, 62, 63, 68, 86–91, 95–99, 103, 105, 225 Huxley, Aldous, 373 Huxley, Julian, 386 I Igo, Sarah, 12 Isaac, Oscar, 380 Issing, Otmar, 113, 116 J Jacobs, Wilhelm G., 386 Jakobson, Roman, 301 James, William, 21, 217, 230–236, 238, 245 Jammer, Max, 225 Janco, Marcel, 329 Jansz, Jeroen, 208 Jean Paul, 309, 335 Jesus Christus, 52, 192, 196, 199, 204, 283, 326, 338 Joas, Hans, 7, 31, 32 Johnson, Dewayne, 361 Jonas, Hans, 46, 164, 247 Jong, David de, 254 Joule, James Prescott, 221 Joyce, James, 323 Jung, Carl Gustav, 209 Jung, Edgar Julius, 80 Jung, Franz, 329 Junz, Hellen B., 289 K Kaesler, Dirk, 51 Kafka, Franz, 354 Kahneman, Daniel, 22, 23, 27, 168, 261 Kämpf, Günter, 338 Kandinsky, Wassily, 310, 311 Kant, Immanuel, 5, 30, 33, 46, 62–66, 72, 89, 130, 131, 135, 218, 230, 291, 322 Kanzog, Klaus, 344 Karl X. (frz. König), 132 Karthaus, Ulrich, 325 Kaufhold, Martin, 32 Keller, Gottfried, 345 Kendi, Ibram X., 130 Kessler, Harry Graf, 335 Keynes, John Maynard, 93, 148, 150, 192, 193, 201 Kiesel, Helmuth, 318 King, Martina, 318

Personenregister Kirchner, Alexander, 258 Kittler, Friedrich, 377 Klettenhammer, Sieglinde, 345 Kline, Nathan S., 19 Klopstock, Friedrich Gottlieb, 341 Kluckhohn, Clyde, 31, 32 Kluge, Friedrich, 29, 30 Kluge, Gerhard, 345 Klump, Rainer, 90 Knies, Karl, 142 Koch, Charles, 253 Koch, David, 253 Koch, Eckhart, 295 Kocka, Jürgen, 121 Kogan, Alexandr, 215 Kohl, Helmut, 254 Koller, Tim, 138 König, Gert, 65 König, Wolfgang, 175, 260 Konstantin der Große, 173 Korte, Hermann, 118, 329, 334, 338 Korten, Harald, 386 Kosinski, Michal, 215 Kostka, Genia, 373 Krabbe, Wolfgang R., 280 Kracke, Nancy, 118 Krain, Willibald, 114 Kramer, Adam D., 265 Krauch, Carl, 287 Krobath, Hermann T., 31 Krohn, Philipp, 363 Kroner, Friedrich, 114 Krüger, Horst, 325 Kruse, Kevin M., 176, 193, 195, 196 Kühl, Stefan, 279–281 Kurzweil, Ray, 18, 19, 384, 385 Kwiet, Konrad, 290 L Lach, Friedhelm, 181 Lacis, Asja, 105 Lafrance, Adrienne, 71 La Mettrie, Julien Offray de, 379 Landauer, Gustav, 146 Lange, Oskar, 192 Lanier, Jaron, 293, 371 Lapowski, Issy, 264 Laum, Bernhard, 170, 171 Lauth, Reinhard, 49 Law, John, 107 Le Fort, Gertrud von, 326 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 226

Personenregister Leitner, Andrea, 354 Le Page, Michael, 356 Lessing, Gotthold Ephraim, 342 Lessing, Hans-Ulrich, 185 Levin, Yuval, 117 Levine, Yasha, 14 Lévi-Strauss, Claude, 164 Lewis, Michael, 365 Ley, Michael, 283 Lichtblau, Klaus, 108 Lilla, Mark, 272 Lincoln, Abraham, 347, 348 Linné, Carl von, 130 Lippmann, Walter, 259 Liptak, Adam, 253 Lobe, Adrian, 377, 383 Locke, John, 133, 192, 230 Loesch, Karl Christian von, 80 Lonitz, Henri, 59 Lotze, Rudolf Hermann, 30, 33, 53, 65, 72, 73, 221 Löw, Jehudah ben Bezal’el, 379 Luce, Edward, 44, 270 Lücke, Friedrich, 313 Luden, Heinrich, 132 Ludwig, Carl, 302 Luhmann, Niklas, 28, 38, 135, 186, 290, 291, 296, 339, 340 Luther, Martin, 51 Lutosławski, Wincenty, 232 Lützeler, Paul Michael, 316 M Maag, Gisela, 32 Mach, Ernst, 321, 322 MacIntyre, Alasdair, 31 Mack, Michael, 131 Maier, Günter W., 34 Malebranche, Nicholas, 226 Malewitsch, Kasimir, 311 Mallarmé, Stéphane, 312 Man, Paul de, 339 Mandler, George, 21, 24 Mann, Klaus, 55, 56 Mann, Steve, 210 Mann, Thomas, 83, 312, 316, 333 Mao Zedong, 146 Marcus, Gary, 382 Marcuse, Herbert, 96, 100, 103, 127 Marinetti, Filippo Tommaso, 312, 329 Marshall, George C., 199 Marx, Hirschel, 176

427 Marx, Karl, 19, 34, 47, 54, 98, 100, 103, 109, 112, 121, 133–136, 144, 146, 157, 158, 165, 168, 172, 176, 184, 192, 193, 204, 302, 303, 305, 309 Mason, Rowena, 267 Masser, Achim, 344 Mau, Steffen, 211, 368, 372 Mauro, Tullio de, 302 Mauss, Marcel, 38, 92, 159, 160, 162–164, 170, 331 Mauthner, Fritz, 319 Maxentius, Marcus Aurelius Valerius, 173 Mayer, Anne-Kathrin, 248 Mayer, Jane, 254, 266 Mayer, Julius Robert, 221 Mazzini, Guiseppe, 146 Mbembe, Achille, 30, 130 McAfee, Andrew, 380 McBride, Patrizia C., 316 McCleary, Rachel M., 188 McCrae-Crerar, Aurora, 358 McCulloch, John Ramsey, 279 McLuhan, Marshall, 268, 269, 367, 368 Mead, George Herbert, 30, 225, 271, 274 Meadows, Donnella, 151 Mehring, Walter, 333 Meinong, Alexius, 53, 63, 110, 217, 236 Melmer, Bruno, 288 Melnikov, Alexsey A., 15 Mendelssohn, Moses, 342 Menger, Carl, 107–110, 115, 135, 166, 237, 302, 320 Menke, Christoph, 339 Mercer, Robert, 266, 270, 279 Merck, Johann Heinrich, 343 Meusel, Johann Georg, 342 Michaelis, Johann David, 54, 340 Michel, Amanda, 215 Miksch, Leonhard, 200 Mill, John Stuart, 69, 230 Miller, Norbert, 309 Minsky, Marvin, 17 Mirowski, Philip, 226 Mises, Ludwig von, 94, 109, 135, 149, 166, 192, 197, 319 Mises, Richard von, 319 Mishras, Pankaj, 10 Mitscherlich, Alexander, 137 Mittelstraß, Jürgen, 72 Moebius, Stephan, 159 Moeller van den Bruck, Arthur, 80 Moggridge, Donald, 148, 192 Mohr, Hubert, 186 Möhrle, Martin G., 34

428 Mokrosch, Reinhold, 35 Molyneux, Stefan, 359 Mommsen, Theodor, 79 Mommsen, Wolfgang J., 74 Montenbruck, Axel, 296 Montinari, Mazzino, 54 Moore, George Edward, 63 Moravec, Hans, 17, 375 Morgenstern, Christian, 326 Morone, Jennifer Lyn, 366, 367 Morozov, Evgeny, 210, 293 Morris, Charles W., 271 Moser, Edvard, 25, 87 Moser, May-Britt, 25, 87 Mosse, George L., 130, 281 Mozart, Wolfgang Amadeus, 353 Mozur, Paul, 373 Mukařovský, Jan, 301 Müller, Adam, 49, 56, 71, 93, 104 Müller, Ernst, 284 Müller, Jan-Werner, 44, 49, 147 Müller-Armack, Alfred, 92, 94, 101, 200–202 Munro, Victoria, 253 Münsterberg, Hugo, 53, 142, 207, 208, 211–214, 216–219, 222, 225, 229, 230, 233, 235, 249, 264 Murray, Richard, 121, 359 Musil, Robert, 312, 316 Mussolini, Benito, 79, 146, 198 Mutz, Diana C., 269 Myers, Isabel, 209 Mykhenenko, Vlad, 125, 127 N Nakamura, Lisa, 279 Napoleon Bonaparte, 49, 115, 121 Narayan, Ambar, 119, 120 Nash, Adam, 18 Negri, Antonio, 153, 298 Neitzel, Sönke, 260 Nelson, Robert H., 190–192 Neumann, John von, 375, 377 Neurath, Otto, 32, 319 Nicolai, Friedrich, 342 Niehaus, Stefan, 345 Nietzsche, Friedrich, 41, 53, 54, 75–79, 82, 84, 85, 133, 184, 228, 239, 311–314, 319, 333, 343 Nordhaus, William, 153, 190 North, Michael, 113, 114 Novalis, 312, 324, 343, 345, 386 Nungesser, Frithjof, 159

Personenregister Nussbaum, Martha, 47 Nussbaumer, Josef, 354 Nüßlein, Theodor, 26 O Obama, Barack, 215, 253, 254 Ogger, Günter, 8 Oliver, Melvin L., 348 Olson, Jonas, 69 Omaar, Rakiya, 251 Oppenheimer, Franz, 92 Osteen, Mark, 38 Oster, Angela Leona, 121 Ostwald, Hans, 177 Ostwald, Wilhelm, 226–232 Ottmann, Henning, 86 Owen, Robert, 146 O’Keefe, John, 25, 87 O’Neil, Cathy, 293, 366 P Page, Larry, 19 Pais-Vieira, Miguel, 12, 385 Papilluod, Christian, 159 Pareto, Vilfredo, 302 Parkin, Simon, 382 Parsons, Talcott, 32 Patterson, Orlando, 289 Peirce, Charles Sanders, 63, 230, 321 Pence, Gergory E., 360 Pence, Mike, 254 Perkins, Anthony, 382 Perro, Michelle, 361 Persson, Ingmar, 357 Peter, Nikolaus, 174 Philippe, Louis, 132 Piketty, Thomas, 44, 119 Pilgrim, Volker Elis, 176 Pilkington, Ed, 215 Pinker, Steven, VII, 119, 152, 247, 341 Pinochet, Augusto, 125, 255 Piper, Alfred, 284 Platon, 30, 64, 232, 239 Ploetz, Alfred, 280–282 Pompeo, Mike, 254 Popper, Karl, 8, 186, 241, 320 Pratt, Gill A., 380 Prechtl, Peter, 64 Prentis, Henning W., 195, 196 Priddat, Birger P., 128 Proudhon, Pierre-Joseph, 121, 123, 146

Personenregister Pseudo-Dionysius Areopagita, 324 Pulte, Helmut, 65 Putnam, Hillary, 30 Q Quimby, Phineas, 232 R Raabe, Wilhelm, 312, 345 Rammstedt, Otthein, 17 Raphael, (d. i. Raffaelo Sanzio da Urbino), 353 Rattner, Josef, 241 Rauch, Basil, 194 Rawls, John, 31 Rawson, David, 251, 255 Reagan, Ronald, 125 Recki, Birgit, 35 Recktenwald, Horst Claus, 116 Reed, Edward, 218 Reese-Schäfer, Walter, 90 Regalado, Antonio, 18 Regenbogen, Arnim, 6 Reich, Wilhelm, 243 Reichert, Ramón, 265 Rhodes, Richard, 226 Ricardo, David, 121, 146 Richter, Sandra, 8, 50, 340 Rickert, Heinrich, 10, 30, 53, 63, 73, 89, 140, 165 Rid, Thomas, 364 Riedl, Joachim, 283 Riedlinger, Albert, 37 Riha, Karl, 338 Ritter, Henning, 160 Ritter, Joachim, 30 Robespierre, Maximilien de, 198 Robinson, Austin, 148 Rockefeller, John D., 278 Rogers, Howard J., 229 Rokeach, Milton, 32 Rölleke, Heinz, 9 Rønnow-Rasmussen, Toni, 69 Roosevelt, Franklin D., 148, 193, 194, 196, 201 Roosevelt, Theodore, 217 Röpke, Wilhelm, 92, 94, 200 Rorty, Richard, 30, 189 Rosa, Marek, 382 Rosenberg, Alfred, 284–286 Rosenberg, Matthew, 215

429 Rosenkranz, Claus, 35 Rössler, Beate, 12 Rössler, Dietrich, 205 Roth, Alvin E., 150, 190 Rothbard, Murray, 359 Roughley, Neil, 30 Rougier, Louis, 94 Rousseau, Jean-Jacques, 77, 192, 246, 295 Rüedi, Jürg, 239 Ruf, Oliver, 324 Russell, Bertrand, 30, 63, 191 Rust, Alois, 30 Rüstow, Alexander, 92–94 Ruzicka, Peter, 105 Ryan, Alan, 8 Ryklin, Mikhail, 198 S Sachs, Hanns, 243 Saez, Emmanuel, 44 Saïd, Edward, 327 Saint-Simon, Henri de, 145, 146 Saller, Reinhard, 345 Samsell, Anthony, 361 Samuelson, Paul A., 190 Sandberg, Anders, 357, 358 Sandel, Michael J., 31, 355 Sanders, Christine S., 256 Sanders, Julia, 252 Sanders, Karen, 257 Sandkühler, Hans Jörg, 6 Sapir, Edward, 225 Sarkowicz, Hans, 260 Sarrazin, Thilo, 273 Saussure, Ferdinand de, 37, 301–305 Savulescu, Julian, 357, 358 Sawelson-Gorse, Naomie, 307 Schaber, Peter, 30 Schäfers, Bernhard, 118 Schallmayer, Wilhelm, 281 Scheerbart, Paul, 326 Scheler, Max, 33, 37, 53, 61, 62, 66–68, 72, 73, 76, 89, 165, 326 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, 386 Schiller, Friedrich, 50, 84, 342, 353 Schlaffer, Heinz, 162, 340, 346 Schlegel, August Wilhelm, 312, 343, 386 Schlegel, Friedrich, 284, 308, 309, 312, 324, 343, 386 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, 174, 300, 312, 313 Schlichting, Hans Burkhard, 325

430 Schlick, Moritz, 66, 166, 319, 322, 323 Schlotter, Sven, 30, 72 Schluchter, Wolfgang, 74 Schmid Noerr, Gunzelin, 96 Schmidt, Alfred, 96 Schmidt, Douglas C., 14 Schmidt, Eric, 14 Schmitt, Carl, 8, 80–83, 93, 96, 297 Schmölders, Günter, 177 Schmoller, Gustav, 128, 140, 142, 224, 302 Schoeps, Julius H., 283 Scholem, Gershom, 58, 105 Scholz, Christian, 352 Schößler, Franziska, 344 Schöttker, Detlev, 59 Schröder, Winfried, 85 Schulte, Joachim, 5 Schumpeter, Joseph, 20, 124, 197, 213, 299, 306 Schütz, Astrid, 248 Schwarz, Gerhard, 92 Schweber, Silvain S., 279 Schweppenhäuser, Hermann, 58 Schwitters, Kurt, 59, 181, 300, 326, 335 Scott, Ben, 275 Sechehaye, Albert, 37, 302 Seebold, Elmar, 29 Seneff, Stephanie, 361 Sennelart, Michel, 38 Shane, Scott, 266 Shannon, Claude E., 27, 313, 371 Shapiro, Thomas M., 348, 349 Shearer, Elisa, 263 Shell, Marc, 38, 172, 173 Shelley, Mary, 380 Shen, Xinyng, 373 Shiller, Robert J., 168 Shils, Edward A., 32 Simanowski, Roberto, 11, 210, 211, 263–265, 370 Simmel, Georg, 17, 38, 53, 58, 76, 83, 84, 92, 110, 111, 143, 144, 164, 189, 201, 243, 245 Simonides, 26 Simons, Henry Calvert, 149 Sing, Christine S., 121 Skinner, Andrew S., 48 Skinner, Burrhus Frederic, 265 Šklovskij, Viktor, 300, 346 Skopas, 26 Smith, Adam, VI, 46, 48, 49, 69, 71, 72, 116–118, 121, 132, 133, 142, 154, 191, 192, 208, 212, 223, 232, 249, 279, 289, 323

Personenregister Smith, Baird, 232 Smith, Helmut Walser, 117 Snowden, Edward, 215, 258, 370 Soldevila, Roger, 17 Sombart, Werner, 38, 92, 126, 140, 142, 143, 189, 201 Sommer, Andreas Urs, 5, 10, 47, 86, 131 Sommer, Antje, 130 Sontheimer, Kurt, 79 Spahn, Martin, 80 Spann, Othmar, 80 Sparrow, Robert, 358 Spencer, Herbert, 192 Spengler, Hannes, 355 Spengler, Oswald, 55, 76, 78–80, 96, 333 Spinoza, Baruch de, 244 Spivak, Gayatri Chakravorty, 273 Stäheli, Urs, 169 Stalin, Josef, 198 Stapel, Wilhelm, 80 Stark, Rodney, 187 Staun, Harald, 257 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr von, 353 Steiner, Herbert, 318 Steiner, Peter, 301 Stephen, Brijan, 382 Stevenson, Nick, 272 Stifter, Adalbert, 345 Stiglitz, George, 125 Stirner, Max, 164, 165 Stöcker, Christa, 173 Stramm, August, 312 Strasser, Peter, 283 Strasser, Stephan, 86, 284 Straub, Eberhard, 8 Striedter, Jurij, 300 Stumpf, Carl, 87 Süllwold, Erika, 324 Summers, Timothy, 267 Sunstein, Cass R., 257, 293, 355 Susarla, Anjana, 267, 268 T Taub, Amanda, 270 Taylor, Charles, 31, 187, 204 Taylor, Frederick Winslow, 213, 280 Tenbruck, Friedrich H., 185 Thacker, Eugene, 40 Thaler, Richard H., 257 Thatcher, Margaret, 125 Thiel, Peter, 19, 215 Thomé, Horst, 322

Personenregister Thompson, Alan, 252 Tieck, Ludwig, 343, 344 Tiedemann, Rolf, 43, 58, 59 Tönnies, Ferdinand, 225 Tooze, Adam, 287, 288 Touring, Alan, 380 Troeltsch, Ernst, 92, 142, 189, 198 Tung, Liam, 13 Turkle, Sherry, 374 Tversky, Amos, 22, 27, 261 Twardowski, Kazimierz, 63 Tynjanov, Jurij, 300 Tzara, Tristan, 60, 323, 329, 331, 332 U Ueding, Gerhard, 258 Ungern-Sternberg, Wolfgang von, 341 V Vaidhyanathan, Siva, 371 Vance, J. D., 242 Vattimo, Gianni, 339 Veblen, Thorstein, 38, 92 Venter, Craig, 19 Vikander, Alicia, 380 Villiger, Kaspar, 93 Virchow, Rudolf, 131 Voegelin, Eric, 116, 124, 200, 201, 283 Vogelmann, Frieder, 90 Vogl, Joseph, 39, 58, 346 Voigt, Carl, 62 Voß, Johann Heinrich, 326 Voss, Oliver, 362 W Wacker, Bernd, 324 Waeyenberge, Elas van, 127 Wagner, Falk, 174, 177 Wagner, Richard, 7 Wagner, Rudolf, 62 Walras, Léon, 303 Warner, Michael, 262 Warren, Samuel, 12, 27 Weaver, Warren, 27, 313 Weber, Alfred, 56, 200, 243 Weber, Max, 38, 51, 53, 56, 58, 68, 74, 75, 92, 95, 100, 140–144, 164, 182, 189, 192, 198, 201, 243, 278, 345 Weerasinghe, Amit, 270 Weide, Roy van der, 119, 120 Weil, Felix, 95

431 Weischedel, Wilhelm, 5 Weiss, Patricia, 362 Wende, Waltraud, 336 Wernsig, Susanne, 130 Widdig, Bernd, 39, 55 Widengren, Geo, 159, 160 Wiedmann-Schmidt, Wolf, 71 Wiegandt, Klaus, 7 Wiener, Norbert, 18 Wieser, Friedrich von, 108, 237 Wilhelm II. (dt. Kaiser), 165 Williams, Eric, 289 Williamson, John, 125 Williamson, Samuel H., 347 Wilson, Bryan, 187 Wilson, John, 273 Wilson, Woodrow, 259 Windelband, Wilhelm, 10, 30, 53, 62, 63, 72, 73, 165 Winkler, Heinrich August, 114 Winko, Simone, 344 Witte, Karl Heinz, 239 Wittgenstein, Ludwig, 5, 30, 63, 66, 105, 166, 320–323 Wittmann, Reinhard, 341 Wolf, Siegbert, 146 Woodmansee, Martha, 38 Woodward, William R., 219 Wu, Tim, 260 Wundt, Wilhelm, 53, 62, 87, 208, 212, 216–218, 220–222, 224, 225, 227, 230, 232, 237, 302 Würtenberger, Thomas, 35 Wylie, Christopher, 215 X Xenophanes, 171 Y Yanardag, Pinar, 382 Z Zedler, Johann Heinrich, 33 Zelizer, Viviana A., 175 Zeller, Christoph, 175, 210, 368 Ziche, Paul, 386 Ziegler, Leopold, 80 Ziermann, Christoph, 98 Zincke, Georg Heinrich, 33, 34 Zola, Émile, 180 Zuckerberg, Mark, 14, 267